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German Pages 370 Year 2022
Christian Volkholz Freideutsch
Ordnungssysteme
Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael
Band 59
Christian Volkholz
Freideutsch
Programm und Praxis einer kulturellen Avantgarde in Deutschland im 20. Jahrhundert
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Projektes Do 294/25-1.
Gefördert durch
(zugleich phil. Diss. Universität Tübingen 2021)
ISBN 978-3-11-078338-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078366-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078372-8 ISSN 2190-1813 Library of Congress Control Number: 2022935584 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort und Dank Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, mit der ich von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen im Dezember 2021 promoviert wurde. Mit den Freideutschen nimmt sich diese Studie einer einflussreichen kulturellen Elite aus dem Kontext der bürgerlichen Jugendbewegung an, die in Deutschland von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er und 70er Jahre Einfluss auf Kultur, Bildungswesen und (Sozial-)Politik ausübte. Sie untersucht Ordnungsideen und sozialkulturelle Praxis der Freideutschen im spätwilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Damit trägt sie nicht nur zur Erweiterung der Forschungsperspektive auf die bürgerliche Jugendbewegung bei, sondern leistet auch einen Beitrag zur Geschichte der Avantgarden in Deutschland im 20. Jahrhundert. Diese Untersuchung war zunächst anders konzipiert. Am Anfang stand die Idee einer biographie intellectuelle über einen der bekanntesten und einflussreichsten Protagonisten der bürgerlichen Jugendbewegung, den freideutschen Mediziner, Publizisten und Volkshochschulgründer Knud Ahlborn (1888–1977). Diese Einzelstudie ließ sich ohne Recherchen zu einer bisher fehlenden Ideengeschichte der Freideutschen nicht verwirklichen, diese Geschichte wurde dann ein eigenständiges Thema, um die zentralen Charakteristika freideutscher Ordnungsideen und Praxis herauszuarbeiten. Die im Rahmen dieser Studie erarbeitete Typologie des freideutschen Denkkollektivs soll helfen, jugendbewegte Biografien und Wirkungskreise Freideutscher besser verstehen und in der deutschen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts verorten zu können. Das von Beginn bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich aktive freideutsche Akteurskollektiv erlebte zwei Weltkriege, zwei Inflationen und – die deutsche Wiedervereinigung mitgezählt – vier fundamentale Staatsumwälzungen mit drei unterschiedlichen ordnungspolitischen Rahmen. Die jungen Menschen, die Eingang des Jahrhunderts in eigens gegründeten Selbstbildungsgemeinschaften zusammenfanden und sich schon bald als Freideutsche bezeichneten und verstanden, bildeten eine Generationseinheit benachbarter Jahrgangskohorten innerhalb desselben Generationszusammenhangs. Es waren zumeist Studierende und junge Akademiker, die nach gesellschaftlicher Veränderung strebten und sich im Hinblick auf die Herausforderungen und Chancen des 20. Jahrhunderts als Avantgarde intellektuell und praktisch an einer Erneuerung der bürgerlichen Kultur beteiligen wollten. Ihre gemeinsame Mission verband sie miteinander, nicht selten für ihr ganzes Leben.
https://doi.org/10.1515/9783110783667-001
VI | Vorwort und Danksagung Aus Gründen des besseren Leseflusses wird das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist und in den historischen Zusammenhang passt. Nicht nur fordert ein solches Dissertationsvorhaben einen langen Atem, sondern es braucht auch beständige Anregung, Austausch und Dialog. So hat eine Doktorarbeit immer mehrere akademische Lehrer, die ich in den Tübinger Professoren Anselm Doering-Manteuffel, Ewald Frie und Ulrich Herrmann fand. Professor Doering-Manteuffel ermutigte mich als Magister zur Promotion und stellte noch kurz vor seiner Emeritierung (2016) einen Förderantrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die mein Vorhaben bis Ende 2019 finanzierte. Der DFG danke ich für die großzügige und unkomplizierte Förderung meines Projekts und meiner Archivreisen. Professor Frie danke ich sehr für sein Vertrauen und die Bereitschaft, die Mitbetreuung meines Dissertationsprojekts zu übernehmen, insbesondere aber für sein fortwährendes und teilnehmendes Interesse an meiner Arbeit sowie für seine kritische und anregende Begleitung. Professor Ulrich Herrmann bot mir die fachliche Mitbetreuung meines Projekts an. Über die Jahre ist er mir zu einem vertrauten hilfreichen Gesprächspartner geworden. Für seine jahrelange Horizonterweiterung, seine ständige Hilfs- und Lesebereitschaft sowie seine kritischen Gedanken und Korrekturen bin ich ihm zu größtem Dank verpflichtet, ebenso für die unkomplizierte Verlagerung von Unterlagen seines Privatarchivs in mein Arbeitszimmer. Ohne ihn wäre diese Arbeit eine andere geworden. Mein Dank richtet sich auch an das Oberseminar des Seminars für Zeitgeschichte, dessen intellektuelle Flughöhe unter der Leitung von Professor Doering-Manteuffel und seinem Nachfolger Professor Jan Eckel stets anregend war. Gedankt sei in diesem Zuge auch den Mitarbeiterinnen des Sekretariats am Seminar für Zeitgeschichte, Frau Christine Schlauch und Frau Anne Schönwald, die mich in technischen und organisatorischen Fragen stets unterstützten. Frau Dr. Susanne Rappe-Weber, Frau Elke Hack und Frau Birgit Richter im Archiv der deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein danke ich für ihre große Hilfsbereitschaft und die immer angenehme Zusammenarbeit. Mein Dank gilt ebenso Hartmut Schiller, der die Sylter Volkshochschule Akademie am Meer (Klappholttal) bis Herbst 2018 leitete und mir den Zugang zum dortigen Privatarchiv ermöglichte. Dankbar bin ich auch der Familie Ahlborn, insbesondere Knud Ahlborns Kindern Ute Haas (†), Thorwald Ahlborn und Uwe Ahlborn, die mir in langen Gesprächen einen lebendigen Eindruck davon vermittelt haben, was die freideutsche Lebenspraxis ausmachte. Dem Verlag De Gruyter und den Herausgebern danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Buchreihe „Ordnungssysteme“.
Vorwort und Danksagung
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Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, die mich während meiner Promotion uneingeschränkt unterstützt hat. Ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Antonia Buroh, ohne deren mannigfaltige Unterstützung und kritische Zusammenarbeit, aber auch Geduld und Vertrauen diese Arbeit kaum verwirklichbar gewesen wäre. Tübingen, im April 2022
Christian Volkholz
Inhalt Vorwort und Dank | V Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag | 1
Teil I: Sozialkulturelle Formierung der Freideutschen in der Generationslagerung der bürgerlichen Jugendbewegung im Wilhelminischen Deutschland von 1888 bis 1914 1
Gesellschaftliche und politische Voraussetzungen freideutscher Gestaltungspraxis | 41
2
Freideutscher Entwicklungshorizont: Die Bildung bürgerlicher Jugendkulturen | 48
3
Die Freideutschen als intellektuell-akademische Richtung der bürgerlichen Jugendbewegung | 55
Teil II: Freideutsche bürgerliche Jugendkulturen und ihre Publizistik als Wegsuche nach kultureller und politischer Erneuerung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik 1
Der Hamburger Wanderverein (1905) | 63
2
Die Zeitschrift Der Wanderer (1906–1916/17) | 73
3
Die Akademische Freischar Göttingen (1907) | 82
4
Die Deutsche Akademische Freischar (1908/09) | 97
5
Der Freideutsche Jugendtag 1913 | 113
6
Der Sera-Kreis Jena (1909–1914) | 129
7
Die Zeitschrift Freideutsche Jugend (1914/15–1922) | 141
8
Die Zeitschrift Junge Menschen (1920–1927) | 157
9
Das Freideutsche Jugendlager Klappholttal auf Sylt (1919) | 172
10
Facetten politischen freideutschen Engagements in den politischen Umbrüchen vom Kaiserreich zur Republik | 188
X | Inhalt
Teil III: Typologie und Charakteristik der kreisbezogenen Praxis des freideutschen Denkkollektivs 1
Einführung in die Typologie | 213
2
Bildende Geselligkeit | 218
3
Verantwortungsintelligenz | 232
4
Kulturentwicklung – Medium und Motor von Erneuerung und Fortschritt | 245
5
Lebensreform – der Neue Mensch | 252
6
Avantgarde | 265
7
Resümee | 276
Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert 1
Freideutsche Kreise als Verständigungs- und Orientierungsangebote in den Transformationsprozessen und ordnungspolitischen Brüchen des 20. Jahrhunderts | 280
2
Die freideutschen Kreise nach dem Zweiten Weltkrieg: von der Verantwortungs- zur Erinnerungsgemeinschaft | 296
Abkürzungen | 315
Quellen und Literatur | 317 1 Archivalische Quellen | 317 2 Zeitschriftenbeiträge/-ausgaben | 321 3 Zeitgenössisches Schrifttum | 325 4 Quellennachdrucke und Beiträge in Quelleneditionen | 327 5 Literatur | 328 Personenregister | 349
Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen und Akteurskonstellationen intellektuell und praktisch mit der Frage, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen sollte und wie diese zu verwirklichen sein würde. Da Zukunft als geschichtliche Kategorie aus gesellschaftlicher Perspektive immer einen pluralistischen Ansatz darstellt, existierten von ihr dementsprechend viele Entwürfe, die von einem breiten politischen und sozialkulturellen Spektrum bürgerlicher Teilhabe und Gestaltungspraxis getragen wurden und sich anschaulich an der vielfältigen Praxis moderner Avantgarden manifestierten. Diese Entwürfe beinhalteten letztlich auch Entscheidungen darüber, welche politisch-soziale Ordnung, welches Verhältnis von Staat und Bürger und schließlich welcher Typ Bürger angestrebt wurde. In diesem Zusammenhang begegnen uns die Freideutschen: zum einen als Entwickler eines modernen Akademiker- und Staatsbu ¨ rgertypus, der für gesellschaftliche Führungsaufgaben prädestiniert sein sollte, zum andern als Vordenker und Gestalter einer künftigen Gesellschaftsordnung. Als klassischer Typus einer akademisch geprägten Suchbewegung prägten die Freideutschen seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts die studentische Phase der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Ausgangspunkt, Kern und Motor der Freideutschen waren zeit- und veränderungssensible männliche Studierende, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts an den deutschen Universitäten die Freischarbewegung initiierten und sich innerhalb dieser zu einer Denk- und Verantwortungsgemeinschaft formierten. Da staatliche Erziehungsinstitutionen, Universitäten und Politik den Studierenden kaum Wegweisung für die gesellschaftlichen Zukunftsöffnungen und Herausforderungen des beginnenden Jahrhunderts bereithielten, begannen sie, eigenständig nach zukunftsweisenden Formen der Selbsterziehung und -bildung zu suchen. In kritischer Distanz zu tradierten Kultur- und Organisationsformen der spätwilhelminischen Gesellschaft und überzeugt von den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des neuen Jahrhunderts erprobten sie innerhalb ihrer selbsterzieherisch angelegten Gemeinschaften, wie sich individuelle Erziehung, Geselligkeit, politische Meinungsbildung und soziales Miteinander produktiv verbinden und gestalten ließ. Dabei bildeten Ideen wie Selbstbestimmung, gesellschaftliche Mitgestaltung und -verantwortung ihre zentralen Denk- und Handlungskategorien. Worauf die Freideutschen Eingang des zurückliegenden Jahrhunderts mehr oder weniger bewusst reagierten, war nichts anderes als das klassische Moderhttps://doi.org/10.1515/9783110783667-002
2 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag nisierungsdilemma1: die Spannung zwischen freigesetztem gesellschaftlichen Wandel und gewachsenen Traditionen, Lebensordnungen und Denkmustern, deren Aushandlung in der Zukunft über die Modernisierungsfähigkeit der Gesellschaft entscheiden sollte. Ausgehend vom Befund eines nicht mehr zeitgemäß erscheinenden Akademikertypus fragten sie sich, wie individuelle Erziehung und studentische Geselligkeit in der Zukunft verändert werden müssten, um als Gesellschaft mit den Herausforderungen und Chancen des 20. Jahrhunderts verantwortungsvoll umgehen zu können. Als sozialpraktisch denkende Verantwortungsgemeinschaft griffen die Freideutschen die pluralistisch-demokratischen Effekte und Tendenzen der Modernisierung auf und arbeiteten insbesondere auf pädagogischem Weg daran, die Problemstellungen der modernen Gesellschaft zum Nutzen des Einzelnen und der Gesellschaft aufzulösen. Getragen und verwirklicht werden sollte diese Idee von einem neuen Akademiker- und Bürgertypus, den die Freideutschen zunächst in ihren eigenen Gemeinschaften in Form einer kulturellen Führungselite entwickeln und dann sozial multiplizieren wollten. Ihre Grundidee war Gesellschaftsreform durch Selbstreform. Zur Verwirklichung ihrer kultur- und sozialreformerischen Ziele bildeten sie angelehnt an die Frühformen ihrer studentischen Praxis nach und nach ein deutschlandweites Geflecht kleinerer und größerer Verständigungs- und Arbeitskreise aus. Diese stellten im Kleinen gemeinschaftliche Versuche künftiger gesellschaftlicher Organisation dar. Staatlichen Jugendpflegeprogrammen und Massenorganisationen sowie normierter Schul- und Universitätsausbildung setzten die bewusst klein gehaltenen freideutschen Kreise die Idee der gemeinschaftlichen Selbstbildung und des selbstaufklärenden Ichs entgegen. In der freideutschen Idee der Selbstreform angelegt war von Anfang an die Suche nach neuen Formen und Ordnungsparametern des gesellschaftlichen Zusammenlebens und gesellschaftlicher Verständigung. Bis weit ins 20. Jahrhundert definiert sich die Bürgerliche Moderne gerade dadurch, dass niemand genau zu prognostizieren wusste, wohin die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen führen würden.2 Weithin vorherrschend war das Grundgefühl, dass die menschliche Geschichte auf irgendeinen Punkt der kulturell-sozialen Zuspitzung bzw. politischer oder religiöser Erfüllung zulief, der jedoch für die Zeitgenossen weder fass- noch beschreibbar war. Genau darin, in dem Versuch, die Moderne zu gestalten und ihr eine Richtung
1 Dazu Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986, S. 44–59, zuerst veröffentlicht in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte (1979), H. 30, S. 292–303. 2 Christian Marx/Morten Reitmayer (Hrsg.): Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Festschrift für Lutz Raphael zum 65. Geburtstag, Göttingen 2020.
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zu geben, in dem Versuch, die Entwicklungen ihrer Zeit konstruktiv auf eine zukünftige Gesellschaftsordnung hin zu denken und zu lenken, bilden die Freideutschen eine Avantgarde. Keinesfalls sollte deswegen der utopisch-idealistische Gehalt der sozialkulturellen Praxis der Freideutschen verkannt werden. Schließlich lässt sich die Selbstorganisation freideutscher bürgerlicher Jugendkulturen als Denk- und Verantwortungskollektiv nur vollständig verstehen, wenn man die utopischen Anteile der Modernisierung ernst nimmt. Ihre Suche nach einem neuen Ethos, nach zukunftsweisenden Erziehungs-, Kooperationsund Beteiligungsformen sowie Identitätskonzepten ist Ausdruck einer um 1900 wachsenden gesellschaftlichen Teilhabe, einer gesteigerten Selbstbeobachtung und -thematisierung sozialer Gruppen und Milieus. Die Freideutschen waren Ausgestalter dieser neu entstehenden Aktionspotentiale und sendeten ihrerseits handlungsleitende Ideen in ihr Sozialmilieu aus. Ihre Vorstellungen von Freiheit, Autonomie, Erziehung und persönlicher Verantwortung waren ein formender Bestandteil innerhalb bildungsbürgerlicher Selbstvergewisserungsund Aushandlungspraxen seit der Jahrhundertwende, der nicht zuletzt auch von der umfangreichen freideutschen Publizistik vor und nach 1918 beeinflusst wurde. Die Freideutschen verkörperten jenen fortschrittlich denkenden und zur Zukunft hin aufgeschlossenen Teil des Bürgertums, der die Modernisierung von Gesellschaft und Politik grundsätzlich bejahte. Ihre lebens- und kulturreformerischen Bestrebungen sind Ausdruck einer tendenziell liberalen Werteorientierung und stehen im größeren Entwicklungszusammenhang jugendkultureller und zivilgesellschaftlicher Emanzipations- und Partizipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert. Zur gleichen Zeit verbreiteten sich überall in Europa Ideen, die als Antwort auf die politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der Modernisierung verstärkt auf Volk, Rasse und Gemeinschaft setzten, statt auf die Autonomie des Individuums. Kontrastiert wurden die emanzipativen und tendenziell auf Demokratisierung zielenden Bestrebungen der Freideutschen von einer 1914 auslaufenden ersten Globalisierungswelle, die in Deutschland intellektuell und sozial weitgehend unvermittelt geblieben war, sowie von nationalen Sicherungsbemühungen vor den Herausforderungen von Globalisierung und Internationalisierung, weiterhin von einem zutiefst gespaltenen und stark staatsorientierten Bildungsbürgertum, in dem Modernitätsfeindschaft und Kulturpessimismus sehr ausgeprägt waren. Einen weiteren Gegensatz bildeten die illiberal, nationalistisch und häufig antisemitisch eingestellten Burschenschaften und Studentenverbindungen, die häufig zwischen 25 und 50 Prozent der Studenten für sich gewinnen konnten und einen gänzlich anderen Akademikertypus als die Freideutschen prägten. Das pluralistische Denken der Freideutschen traf vor 1918 auf
4 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag einen in der Bevölkerung und bei den konservativen Führungseliten weit verbreiteten Unwillen, die zunehmende Verschränkung der Welt anzuerkennen und Konflikten kooperativ zu begegnen. Die Freideutschen selbst sahen die Lösung der gesellschaftlichen Probleme nicht vereinfacht in einem ideologischen Gesamtentwurf, wie dies die vielfach jahrgangsgleichen späteren NS-Führungseliten in ihrem radikalen sozialtechnologischen Ordnungsdenken taten, sondern in der qualitativen Selbstreformierung des Individuums. Die eigentliche Weiterentwicklung, der eigentliche Fortschritt sollte im Innern des Menschen vollzogen werden. Auch die nach 1918 aufkommende Bündische Jugend unterschied sich nicht nur alters- und organisationsmäßig von den Freideutschen, sondern auch durch ihre mehr oder weniger offen radikale Opposition zur liberal-demokratischen Ordnung der Republik. Im spätwilhelminischen Kaiserreich sozialisiert, waren die Freideutschen, wie die bürgerliche Jugendbewegung insgesamt, beeinflusst von der Kulturkritik ihrer Zeit, die sich hauptsächlich auf die negativen Folgen der Industrialisierung für Mensch und Natur bezog. Im Unterschied zu den zahlreichen kulturpessimistischen, zivilisationskritischen oder offen modernisierungsfeindlichen Strömungen und Gruppierungen um 1900 und den mitunter eskapistischen Praktiken innerhalb der Lebensreformbewegung folgten die Freideutschen jedoch einem positiven Modernebegriff und entwickelten gesellschaftlich konstruktive Ideen und Praktiken. Sie strebten nach sinnvoller gesellschaftlicher Beteiligung. Als erklärte Selbstbildungsgemeinschaft, deren Anspruch es war, sich auf der Höhe der technisch-wissenschaftlichen und politisch-sozialen Entwicklungen der Zeit zu bewegen, thematisierten die Freideutschen ein pädagogisches Thema, das sich inhaltlich und praktisch auf die Zukunft der Gesellschaft und deren Entwicklung bezog. Ausdruck dessen war ihre Idee des „zukünftigen Menschheitsbaus“3, wie die Freideutschen ihr Kernanliegen umschrieben.
Fragestellungen Die systematische Analyse der Entstehung leitender Ordnungsvorstellungen und sozialkultureller Praxen der Freideutschen ist ein Desiderat der Geschichtsforschung. Auch im Zusammenhang der Geschichte moderner Avantgarden in Deutschland im 20. Jahrhundert finden die Freideutschen als eigenständige Suchbewegung im Rahmen des Modernisierungsgeschehens keine Erwähnung. Es existiert bislang keine Untersuchung, die die praktischen, programmatischen und organisatorischen Verstetigungen der freideutschen bürgerlichen Jugendkulturen sowie die mit diesen verbundene avantgardistische sozialkulturelle 3 Knud Ahlborn: Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, Werther b. Bielefeld 1923, S. 35.
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Praxis im Zeitraum von der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik systematisch nachverfolgt.4 Weitgehend ist unbekannt, wie und nach welchen kulturellen, sozialen, ethisch-moralischen und politischen Leitvorstellungen die lebens-, kultur- und sozialreformerisch orientierten Freideutschen die Gesellschaft gestalten und entwickeln wollten. Auch das Thema des Politischen in der freideutschen Publizistik und Praxis vor und nach 1918/19 ist bisher wenig beleuchtet. Die vorliegende Studie versteht die Freideutschen als eine im 20. Jahrhundert sozial- und kulturgeschichtlich bedeutende Elite mit avantgardistischer Geselligkeitspraxis.5 Sie liefert neue Erkenntnisse über den mobilisierenden, handlungsleitenden, mentalitäts- und milieuprägenden sowie typenbildenden Einfluss ihrer kultur- und sozialreformerischen Ideen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung, sowie über ihre darüber hinausgehende sozialkulturelle Prägekraft und Wirkungskontinuität in den höchst unterschiedlichen politischkulturellen Zusammenhängen Deutschlands im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung geht der Frage nach, wie die technisch-industrielle und gesellschaftliche Modernisierung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik das Programm und die Praxis der Freideutschen sowie ihre Formierung als kulturelle Avantgarde beeinflusste und inwieweit sie Gegenstand ihrer sozialkulturellen Praxis war. Gefragt wird nach den sozial- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen sowie der Entstehung freideutscher Ordnungsvorstellungen und der damit verbundenen kulturellen Erneuerungspraxis der Freideutschen im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Analysiert werden intellektuelle und praktische Auseinandersetzungen mit den sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen der Modernisierung in den zwei sehr unterschiedlichen ordnungspolitischen Rahmen von Kaiserreich und Republik und die Auswirkungen auf freideutsche Ideenbildung und Handlungskonzeptionen. Gefragt wird, inwieweit Ideen und Praxen zur Ausbildung einer für die Freideutschen kennzeichnenden Gedankenwelt führten, die sie vor dem Hintergrund des Modernisierungsgeschehens als Avantgarde ausweisen. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, ob sich in Bezug auf die Freideutschen typenbildende Prägungen sowie handlungssteuernde Ideen und sozialkulturelle Praxen beobachten lassen. Es geht um Indizien für eine sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als freideutsch verstehende kulturelle Elite mit eigenständiger sozialer Praxis. 4 Ansätze bei Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920, Köln 1988, sowie Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Sie`cle Jena, Göttingen 2003. 5 Frank-Michael Kuhlemann/Michael Schäfer (Hrsg.): Kreise, Bünde, Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, sowie Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.): Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000.
6 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag Damit geht diese Studie auch der Frage nach, welche gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten sich den Freideutschen im wechselvoll verlaufenden Modernisierungsgeschehen auftaten, und wie sie diese in der Praxis nutzten, um ihr Programm und ihren Gesellschaftsentwurf zu entwickeln und zu verwirklichen. Dabei geht es zum einen um die von den Normen der Mehrheitsgesellschaft abweichenden freideutschen Subjektivierungs-, Gemeinschafts- und Beteiligungsformen, zum andern um Ideenbildungen sowie informelle und organisierte Vernetzungs- und Kommunikationsstrategien der Freideutschen und die damit verbundenen publizistischen und organisatorischen Verstetigungsformen. Gefragt wird nach den von den Freideutschen im Spannungsfeld von Selbst-, Gemeinschafts- und Gesellschaftsreform entwickelten Lösungen und Ideen für eine von ihnen angestrebte Modernisierung, sowie nach ihren Aushandlungen, Anpassungen und Subjektivierungskonzepten in Einklang mit der bzw. in Widerspruch zur westlich geprägten Liberalisierung und Demokratisierung.6 In diesem Zusammenhang wird vor allem nach der Entstehung neuer sozialer Handlungsräume und -modelle sowie nach der Entwicklung neuer Subjektivierungs- und Geselligkeitsformen innerhalb des freideutschen Milieus gefragt, die langfristig zur Entwicklung von Subjektivierungs-, Partizipations- und Handlungsstrukturen im Sinne einer modernen Bürger- und Sozialkultur nach 1945 beigetragen haben. Gesucht werden Ansätze und Entwicklungen einer neuen Bürger- und Sozialkultur sowie bürgerschaftlicher Individualisierungs- und Beteiligungsformen innerhalb der freideutschen bürgerlichen Jugendkulturen. Gerade im Hinblick auf die Geselligkeits-, Beteiligungs- und Bildungsformen der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre und der Neuen Sozialen Bewegungen7 in den 1970er/80er Jahren verspricht die von den Freideutschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geprägte Subjekt- und Gemeinschaftskultur Erkenntnisse für die Avantgarde-, Gesellschafts-, Kultur- und Ideengeschichte8
6 Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 7 Cordia Baumann/Sebastian Gehrig (Hrsg.): Linksalternatives Milieu und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2011; Felicitas Thiel: „Neue“ soziale Bewegungen und pädagogischer Enthusiasmus. Pädagogische Impulse der Jugend- und Lebensreformbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Pädagogik. 45 (1999), H. 6, S. 867–884; Alexa Mohl: Die neuen sozialen Bewegungen. Eine Formanalyse ihrer emanzipatorischen Praxis, Frankfurt/M./New York 1992; Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1986. 8 Zur deutschen Ideengeschichte Anselm Doering-Manteuffel: Konturen von Ordnung. Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert, hgg. von Julia Angster u. a., Berlin/Boston 2019.
Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag
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Deutschlands im 20. Jahrhundert und hier insbesondere für Forschungen, die nach der Entwicklung gesellschaftlicher Handlungsfelder und bürgerlicher Subjektivierungs- und Individualisierungsformen fragen.9 Der Frage- und Analysehorizont dieser Untersuchung ist eingebettet in ein akteursbezogenes Modernisierungstheorem, das im Hinblick auf die kritische Auseinandersetzung unterschiedlicher sozialer Akteure mit der Modernisierung nach alternativen Modernevorstellungen bzw. Wegen in die Moderne fragt.10 Dadurch sind die einzelnen Fragestellungen zum einen in eine rahmende kulturund sozialgeschichtliche Erzählstruktur eingebunden, zum andern ermöglichen sie, das Modernisierungsgeschehen auf der Ebene des historischen Akteurs zu veranschaulichen. Was in Deutschland „die Moderne“ heißt und wie über sie gedacht wurde, lässt sich an den Freideutschen besonders gut zeigen. Sie sind zugleich abbildende Indikatoren und einflussgebende Faktoren der Modernisierung und haben sie maßgeblich mitgeprägt. Gefragt wird nach den signifikanten sozialkulturellen, habituellen, mentalen und politisch-historischen Prägungen, die die Freideutschen über das Wilhelminische Kaiserreich, die Zäsur des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik hinaus als genuin mit der Modernisierung verbundene Avantgarde sichtbar macht. Auf diese Weise lässt sich anhand der Freideutschen das Wechselspiel ideeller, politischer, kultureller und sozialer Veränderungsprozesse im Zusammenhang mit der Modernisierung und dem Wandel gesellschaftlicher Ordnungssysteme im 20. Jahrhundert darstellen.
Forschungsansatz Diese Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zur Geschichte der Avantgarden in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sie steht im Zusammenhang einer neuen Ideengeschichte, die für die europäischen Gesellschaften der Neuzeit nach den prägenden Geistes- und Kulturströmungen fragt.11 Ihr Ansatz orientiert sich an 9 Anregungen für diese These bei Jürgen Reulecke: Die Kollision der Zukünfte in der deutschen Jugendbewegung 1968, in: Lucian Hölscher (Hrsg.), Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt/M., New York 2017, S. 143–158, sowie bei Thiel, „Neue“ soziale Bewegungen und pädagogischer Enthusiasmus. 10 So vor allem Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999, bes. S. 117–162; Ders.: Modernisierungskrise und Aufbruch. Zum historischen Kontext der Lebensreform, in: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid (Hrsg.), Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900, Bielefeld 2016, S. 27–42; Ders.: Lebensreform als Reaktion auf den technisch-zivilisatorischen Prozeß, in: Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 71–73. 11 Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine
8 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag Strukturen des Denkens, an sozialen und kulturellen Sprach-, Symbol- und Bedeutungssystemen sowie handlungssteuernden Ideen und Ordnungsvorstellungen, die Mentalitäten und Einstellungen sinnstiftend strukturieren und so die sozialkulturellen Praxen sowie politischen Diskurse innerhalb von Gesellschaften prägen.12 Verfolgt wird der Ansatz einer Gesellschaftsgeschichte handlungsleitender Ideen13, der die Analyse von Ideen und Ordnungskonzepten beinhaltet, die im sozialen, kulturellen und politischen Geschehen prägende Wirkung entfalten. Dieser bezieht sich nicht nur auf konkrete Ordnungsentwürfe und die von ihnen ausgehenden gesellschaftlichen Praxen, sondern fragt auch nach individuellen und kollektiven Selbstvergewisserungs- und Aushandlungspraxen, die der Entwicklung von Ordnungsentwürfen und sozialem Handeln strukturierend vorausgehen. Im Sinne einer praxeologischen Geschichtswissenschaft14 werden soziale Akteure als phänomenologisch und soziologisch diskursive Schnittstellen behandelt, die Aufschluss über Ideenreservoirs und Handlungsorientierungen sozialer Milieus geben. In Bezug auf die eng mit dem theoretisch-methodischen Ansatz verknüpfte Leitkategorie der Avantgarde schließt diese Untersuchung vor allem an semantische und diskursanalytische Überlegungen der Avantgarde-Geschichtsschreibung bzw. -theorie an.15 Vor dem Hintergrund des hier zugrundeliegenden modernisierungstheoretischen Ansatzes wird davon ausgegangen, dass es sich erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 11–27; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Ideengeschichte, Stuttgart 2010. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte dient die Buchreihe „Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit“, hgg. von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Florian Meinel. 12 Grundlegend George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft [1934]. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 2020. 13 Anselm Doering-Manteuffel: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), H. 3, S. 321–348; Pierre Rosanvallon: Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen. Antrittsvorlesung am Colle`ge de France, 28. März 2002, in: Mittelweg 36 20 (2011), H. 6, S. 43–66. 14 Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 22 (2007), H. 3, S. 43–65; Ders.: Zeithistorisches zur praxeologischen Geschichtswissenschaft, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln 2015, S. 50–61. 15 Walter Fähnders: Projekt Avantgarde. Avantgardebegriff und avantgardistischer Künstler, Manifeste und avantgardistische Arbeit, Bielefeld 2019; Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.): Das Jahrhundert der Avantgarden, München 2004; Clemens Albrecht (Hrsg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg 2004; Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): „Die Ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997. Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1992.
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bei der Zuschreibung Avantgarde um eine eng mit der Entwicklung der Moderne verknüpfte historisch verortete Kategorie handelt, die auf ein besonderes Verhältnis zum Zeitgeschehen sowie zur politisch-sozialen und technischen Moderne verweist. In diesem Sinne deutet die Untersuchung Avantgarden als originären Ausdruck von Moderne, als breit gefächerte Artikulationen der bürgerlichen Kultur in Reaktion auf die gesellschaftlichen Transformationen, Herausforderungen und Potentiale der Modernisierung, woraus sich eine Komplementärstruktur, ein kausaler Zusammenhang zwischen Aufkommen und Wirken moderner Avantgarden und der Modernisierung ergibt. Dem Gedanken des Projektcharakters moderner Avantgarden folgend,16 erscheinen Ordnungsdenken und -entwürfe sowie Praxen bürgerlicher Avantgarden als normativ strukturierende Größen der Modernisierung. Danach handelt es sich bei den Freideutschen nicht nur um einen prägenden Vertreter der bürgerlichen Jugendbewegung, sondern eben auch um eine eigenständige kulturelle Elite mit avantgardistischer Praxis, die die Modernisierung in Deutschland programmatisch und praktisch mitvollzog und über ihr Milieu hinaus beeinflusste und prägte. Um die Freideutschen als kulturelle Avantgarde empirisch fassen zu können, macht die Untersuchung Anleihen bei Karl Mannheims wissenssoziologischer Denkfigur der „freischwebenden Intelligenz“.17 Ergänzt wird der Zugriff durch ältere Ansätze der Wissenschaftstheorie, wie sie Ludwik Fleck mit seiner wissenssoziologischen Denkstilanalyse geprägt hat.18 Im Hinblick auf die besondere funktionale Position und Bedeutung der Freideutschen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung legt die Untersuchung fünf zentrale Strukturparameter zu Grunde, anhand derer charakteristische Ordnungsideen und sozialkulturelle Praxis fassbar gemacht werden sollen: 1. Ausprägung eines charakteristischen Denkstils sowie einer entsprechenden sozialkulturellen Praxis, 2. zielgerichtete Gründung von Schüler,– Studierenden16 Walter Fähnders: Projekt Avantgarde. Avantgardebegriff und avantgardistischer Künstler, Manifeste und avantgardistische Arbeit, Bielefeld 2019; Ders.: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung, Amsterdam 2000, S. 69–96. 17 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929; Ders.: Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, in: Jahrbuch für Soziologie. Eine internationale Sammlung 2 (1926), S. 424–440; Ders.: Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), H. 3, S. 577–652. Ferner Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim: intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1994. 18 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], hgg. von Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 1980; Ders.: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hgg. von Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2011.
10 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag und Erwachsenengemeinschaften, 3. Entwicklung eigener Publikationsorgane, 4. Entwicklung einer eigenen Kontakt- und Verständigungskultur, 5. Gründung eigener Bildungsinstitutionen. Dafür analysiert die Untersuchung exemplarische wie gleichsam prägende Manifestationsorte freideutscher Ideen und Praxen, also Orte, an denen sich diese in besonders anschaulicher Weise zeigen. Bei diesen Orten handelt es sich um für ihre Entwicklung entscheidende Schnittstellen, an denen es regelmäßig zu kommunikativem und intellektuellem Austausch, programmatischen und praktischen Verdichtungen sowie sozialem Handeln kommt. Es geht um für das freideutsche Akteurskollektiv konstitutive und typenbildende Konstellationen, in denen es in irgendeiner Weise zu Verstetigungen des Freideutschtums kommt, also zu Prozessen, die zur Ausbildung dauerhafter Strukturen und Denkstile führen. Die Studie fragt nach ideenbildenden Denkbewegungen und Interaktionen, verstanden als Formen kommunikativen Handelns, die ihrerseits wiederum soziales Handeln strukturieren.19 Der Blick richtet sich dabei auf bestimmte Systematiken im Denken und Handeln, die sich an wiederkehrenden Ideen und Verhaltensformen abbilden, die bestimmte normative Denk- und Handlungsmuster in ihrer Entwicklung sichtbar machen. Im Fall der Freideutschen manifestieren sich solche Systematiken im Umkreis eines primär von der studentischen Praxis geprägten Milieus, in Arbeitskreisen und -gemeinschaften, in Diskussionsforen und Zeitschriften, bei Arbeitstreffen und Konventen, aber auch in Diskussionspapieren, Denkschriften und Programmen, bezogen auf konkretes soziales Handeln und Zeitgeschehen. Diese Kondensate bzw. verdichteten Formen freideutscher Ordnungsvorstellungen und Praxen bündeln sich an den gewählten Manifestationsorten. Ihre Verknüpfung soll Aufschluss über Entwicklung und experimentellen Charakter der lebens-, sozial- und kulturreformerischen Ideen und Praxen der Freideutschen geben. Die einzelnen Stationen (Teil II) sind mit Blick auf die Typologie (Teil III) und die Leitfrage nach Programm und Praxis inhaltlich und formal so gegliedert, dass wiederkehrende Merkmale besser wiederauffindbar sind, auch wenn sich die inhaltliche Trennung nicht immer strikt einhalten lässt. Dies hängt damit zusammen, dass die Übergänge zwischen Programm und Praxis insbesondere bei den untersuchten Zeitschriften oftmals fließend sind und die Verständigung über programmatische Fragen zur normalen Gruppenpraxis der Freideutschen gehörte. Programm war meist beides: Idee und Praxis, und beides beeinflusste sich wechselseitig. 19 Zum Zusammenhang zwischen Kommunikation und Praxis in der modernen Gesellschaft Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981.
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Die letzte der Stationen weicht zwingend vom Schema ab, weil es hier darum geht, schlaglichartig den von der Forschung bislang wenig beleuchteten Aspekt freideutscher Politik allgemein zu erfassen und die in den vorangehenden Kapiteln herausgearbeiteten politischen Aspekte in einen gemeinsamen Zusammenhang einzuordnen. Grundlegend für die Entwicklung und das Verständnis des typologischen Teils ist Max Webers wissenschaftstheoretisches Programm, das dieser in seinen frühen methodologischen Schriften entworfen hat, und hier insbesondere die Abhandlung „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904),20 in der er das heuristische Instrument des „Idealtypus“ skizziert. Leitend ist die Idee der Ordnung der historisch-sozialkulturellen Wirklichkeit in Form von Begriffssystemen.
Materialbasis Den Quellenschwerpunkt bilden Satzungen und Programme, Archivalien zu Organisation, Mitgliedern und Aktivitätsspektrum im Archiv der deutschen Jugendbewegung sowie die untersuchten Zeitschriften selbst: eine Fülle von internen Diskussionspapieren, Sitzungsprotokollen, Rundschreiben und Strategiepapieren sowie informelle, nicht-institutionalisierte Gesprächszusammenhänge, vor allem in Form von Briefwechseln und Denkpapieren. Hinzu kommt eine Vielzahl an Grauer Literatur und Verlagsschriften sowie Beiträge in den einschlägigen freideutschen Verlags- und Publikationsformaten, besonders Veröffentlichungen der mit den Freideutschen assoziierten Verlage Adolf Saal, Eugen Diederichs, Wanderer und Fackelreiter. Die freideutschen Zeitschriften artikulieren in verdichteter Form politisch-ökonomische, soziale und kulturelle Ordnungsvorstellungen, Diskurse und weltanschaulich-intellektuelle Einflüsse der Freideutschen und helfen, ihre charakteristischen Ideen und Praxen herauszufiltern sowie programmatische Aneignungs- und Vermittlungsformen offenzulegen. Weiterhin wird auf verwandte Nachlässe zurückgegriffen, die nicht nur über den jeweiligen Nachlassgeber, sondern auch detailreich Informationen zu programmatischen Grundsatzdiskussionen der Freideutschen liefern. In der Gesamtschau geben die genannten Materialien Aufschluss über die Entwicklung und die Kernelemente von Programm und Praxis der Freideutschen.
20 Max Weber: Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in: Ders., Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, hgg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 1964, S. 186–262.
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Die Anfänge der freideutschen Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich und ihre zeitgenössischen Besonderheiten Das in Deutschland einflussreiche Akteurskollektiv der Freideutschen ordnet sich in das heterogene Phänomen der bürgerlichen Jugendbewegung21 ein, die sich über mehrere Phasen, durch eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen und sich wandelnde Ideale und Weltanschauungsbezüge zeitlich von etwa Mitte der 1890er Jahre bis 1933 erstreckt. Innerhalb der studentischen sowie lebens-, kultur- und schulreformerischen und reformpädagogischen Gruppen dieser Bewegung erfolgte die Formierung der Freideutschen. Die Ursprünge der freideutschen Idee liegen in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründeten reformstudentisch orientierten akademischen Freischaren: im 1905 gegründeten Hamburger Wanderverein – eine lebens- und kulturreformerisch orientierte Selbstbildungsgemeinschaft höherer Schüler – und der 1907 gegründeten Akademischen Freischar Göttingen, von der ausgehend die kulturelle Praxis des Hamburger Wandervereins zur freideutschen Idee weiterentwickelt wurde. Die Freischaren waren im traditionell konservativen studentischen Milieu der Universitäten ein Sammelbecken für Angehörige der bürgerlichen Jugendbewegung, insbesondere für die studierenden Mitglieder der nach Vorbild des Hamburger Wandervereins gegründeten Wandervereine. An den 19 Universitäten Deutschlands, an denen um 1900 rund 50.000 meist männliche Studierende aus dem Besitz- oder Bildungsbürgertum eingeschrieben waren, dienten die akademischen Freischaren und älteren Freistudentenschaften dem lebens- und kulturreformerisch sowie reformstudentisch eingestellten Teil der bürgerlichen Jugend, der häufig in den Gemeinschaften des Wandervogels oder den gymnasialen Wandervereinen sozialisiert worden war, als Alternative zur kulturellen Praxis des korporierten Verbindungsstudententumes. Ihren Gemeinschaften konnten sich nicht nur männliche, sondern – im Unterschied zu den traditionellen Korporationen – auch studierende und nichtstudierende gleichaltrige Frauen anschließen, die keiner traditionellen Studentenverbindung angehören konnten, sich jedoch sozial oder hochschulpolitisch engagieren wollten. Dies war für die damalige Zeit alles andere als selbstverständlich. Bis 1908 wurden Frauen in vielen Bundesstaaten nur im Einzelfall zu den Institutionen der höheren Bildung wie Universitäten und Akademien zugelassen. Noch im März 1891 hatte der Reichstag gegen die Öffnung der Universitäten für Frauen gestimmt.22 Konnten Frauen in den meisten europäischen Län21 Ulrich Herrmann: Jugendbewegung, in: Lothar Böhnisch/Hans Gängler/Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Handbuch Jugendverbände. Eine Ortsbestimmung der Jugendverbandsarbeit in Analysen und Selbstdarstellungen, Weinheim/München 1991, S. 32–41. 22 Vgl. Angelika Schaser: Die „undankbaren“ Studentinnen. Studierende Frauen in der Weimarer Republik, in: Günther Schulz (Hrsg.), Frauen auf dem Weg zur Elite, München 2000, S. 97–116, S. 101–102.
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dern bereits seit den 1870er/80er Jahren studieren, wurden Studentinnen in Baden erst 1899/1900, in Bayern 1903, in Württemberg 1904, in Sachsen 1906 und in Thüringen und Preußen schließlich 1908 zur Immatrikulation zugelassen.23 Als sich Anfang 1907 die erste Freischar gründete, war weder das Frauenstudium institutionalisiert, noch standen die studentischen Verbindungen der Mitgliedschaft von Frauen offen. Mit dem Hamburger Wanderverein hatten spätere Freischarmitglieder bereits 1905 einen auf Selbstbildung ausgelegten Kreis ins Leben gerufen, der weitere Gründungen nach sich zog und sich unterschiedslos an die höhere Schuljugend, an Mädchen wie an Jungen wandte. Zur gleichen Zeit liefen in den Gemeinschaften des Wandervogels kontroverse Debatten über das Mädchenwandern, das als unerwünschte potentielle Erotisierung im Verhältnis der Geschlechter durchweg abgelehnt wurde. Zwar war in den meisten Wandervogel-Gruppen nur eine Minderheit von der Ungleichheit der Geschlechter und einer ernsthaften Bedrohung des männlich geprägten Wandervogelstils durch das Mädchenwandern überzeugt, Vorbehalte gegen die Koedukation bestanden aber auf breiter Front. Viele Gruppen taten sich schwer damit, den Begriff der „Jugend“ auch auf das weibliche Geschlecht auszudehnen.24 Bis 1910 entwickelte sich das Mädchenwandern nur schleppend und blieb vor allem ein Phänomen lokaler Initiativen und Mädchenwandergruppen. Zu einer im Wandervogel strukturell bedeutsamen Größe wurden Mädchen erst ab 1911/12.25 Was lässt sich daraus ersehen? Im politisch-sozialkulturellen Kontext der Jahre ab 1905 waren Schülerinnen bei den städtisch-gymnasialen Jugendwandergruppen und Studentinnen bei den Freischaren eigentlich noch nicht zu erwarten, auch wenn die weibliche Jugend in der bürgerlichen Jugendbewegung eine ebenso lange wie einflussreiche Geschichte wie die männliche Jugend hat.26 Im Gegensatz zum gymnasialen Wandervogel und erst recht zu den studentischen Burschenschaften hatten die freideutschen Gemeinschaften keine männerbündische Prägung. Die akademischen Freischaren standen Studentinnen
23 Vgl. Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in den akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996, S. 75–80. 24 Vgl. Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927, S. 66–68. 25 Vgl. Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 71. 26 Sabine Andresen: Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend, Neuwied 1997; Irmgard Klönne: „Ich spring’ in diesem Ringe“. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung, Pfaffenweiler 1990; Magdalena Musial: Jugendbewegung und Emanzipation der Frau. Ein Beitrag zur Rolle der weiblichen Jugend in der Jugendbewegung bis 1933, Diss., Essen 1982; Elisabeth Busse-Wilson: Die Frau und die Jugendbewegung. Ein Beitrag zur weiblichen Charakterologie und zur Kritik des Antifeminismus (1920), hgg. von Irmgard Klönne, Münster 1988.
14 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag von Beginn an offen. Bedingt durch die jeweilige Hochschulordnung, gehörten diese anfänglich oft nur zum erweiterten Kreis der Freischaren, wurden als Gäste oder Freischarfreunde geführt; nach der Zulassung von Frauen zum Studium und spätestens mit Grundsatzbeschluss der Freischaren 1911 konnten diese dann ordentliche Freischarmitglieder werden. Ihre vergleichsweise frühe Öffnung für weibliche Studierende macht die Freischaren im zeitlichen und universitären Kontext besonders, zumal dies auch in den reformierten Freistudentenschaften zunächst keinesfalls die Regel war. Wenn sich die weibliche Zahl der Freischarmitglieder trotzdem verhältnismäßig gering ausnimmt, hängt dies schlicht mit der Tatsache zusammen, dass die Freischaren ihre Hauptwirkungsphase vor dem Ersten Weltkrieg hatten, weibliche Studierende jedoch bis 1914 an den deutschen Universitäten immer noch stark unterrepräsentiert waren. Der Krieg selbst wirkte sich naturgemäß negativ auf Bestand, Entwicklung und Zusammenhang der Freischaren aus, was auch die Wahlmöglichkeiten von jugendbewegten und engagementwilligen Studienanfängerinnen und Studentinnen einschränkte. Zum Sommersemester 1914 waren lediglich 6,6 Prozent aller Immatrikulierten Frauen, wobei die Tendenz steigend war und, nur kurz durch die Inflation unterbrochen, durchgehend bis 1932 anhielt. Zum Wintersemester 1931/32 war der Frauenanteil unter den Studierenden bereits auf 18,8 Prozent gestiegen.27 Die Bünde, die sich im Rahmen des Freideutschen Jugendtags 1913 zur Freideutschen Jugend und zur sogenannten „Meißnerformel“ bekannten, hatten – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Stoßrichtungen und Einzelzielsetzungen – vor allem die Emanzipation der Jugend im Sinn, wobei die Anforderungen an die weiblichen und männlichen Jugendlichen gleich hoch waren.28 Die universalistische Idee von einer Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft war grundsätzlich geschlechterunabhängig.29 Die grundsätzlich demokratische und gleichberechtigte freideutsche Gruppenpraxis (zur Erinnerung: das Frauenwahlrecht wurde erst im November 1918 eingeführt) und die geschlechtliche Offenheit ihrer Kreise (besonders anschaulich wird dies am Sera-Kreis) lag auf Höhe der Zeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung.30 Indem die Freischaren die Zugehörigkeit von Frauen zur akademischen bzw. Bildungselite früher als andere anerkannten und Frauen ihre hochschulweiten Strukturen zugänglich machten, beförderten sie damit als 27 Vgl. Michael H. Kater: Krisis des Frauenstudiums in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 59 (1972), H. 2, S. 207–255, hier S. 208. 28 Vgl. Musial, Jugendbewegung und Emanzipation der Frau, darin zur Freideutschen Jugend S. 71–73. 29 Zum Frauenbild und zur Rolle der Frau in der Freideutschen Jugend Klönne, „Ich spring’ in diesem Ringe“, S. 108–129. 30 Dazu allgemein Christina Klausmann: Die bürgerliche Frauenbewegung im Kaiserreich – eine Elite?, in: Günther Schulz (Hrsg.), Frauen auf dem Weg zur Elite, München 2000, S. 61–77.
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Nebeneffekt nicht nur den vergleichsweise neuen Typus der akademisch gebildeten Frau, sondern unterstützen auch die Herausbildung einer weiblichen akademischen Elite. Obwohl die studentische Gruppenpraxis der Freideutschen zur Entwicklung neuer Beziehungsmuster zwischen den Geschlechtern beitrug und eine gleichberechtigte Arbeitsbeziehung vorherrschte, kann diese nicht getrennt von den männlich dominierten Strukturen ihrer Zeit betrachtet werden. Analog zu gesellschaftlichen Debatten wurde die Geschlechterfrage und die Frage der Koedukation immer wieder auch in den Zeitschriften der Freideutschen thematisiert,31 nicht immer taten sich männliche Freideutsche dabei durch besonders fortschrittliche Positionen hervor.32 Auch in der bürgerlichen Jugendbewegung insgesamt lassen sich antifeministische Bilder und Ideen ausmachen.33 Programm und Praxis der Freischaren erweiterten die reformstudentischen Bestrebungen an den Universitäten entscheidend, wurde das Reformstudententum doch bis dahin nur von den nichtkorporierten Freistudentenschaften repräsentiert, die sich bereits seit den 1890er Jahren an den Universitäten organisierten, zum Teil auch angeregt durch die Wandervogelbewegung. Ideen und kulturelle Praxis der akademischen Freischaren und Freistudentenschaften waren kulturreformerische Impulse bzw. Selbsterneuerungsversuche innerhalb des Bürgertums vor dem Hintergrund der technisch-industriellen und sozialkulturellen Modernisierung. Geprägt wurde die zweite, studentische Phase der bürgerlichen Jugendbewegung vor allem von den akademischen Freischaren, aus deren Angehörigen sich die spätere Funktionselite der Freideutschen zusammensetzte. Die Freideutschen speisten sich vor allem aus zwei Jahrgangskohorten.34 Die zahlenmäßig größte entstammte der Vorkriegsjugendbewegung und umfasste die Jahrgänge der mittleren 1880er und 1890er Jahre. Die zweite Gruppe, die sich der freideutschen Idee erst während oder nach dem Ersten Weltkrieg anschloss, bildeten Angehörige der Jahrgänge von 1900 bis etwa 1910. Der formierende Hauptteil der Freideutschen Bewegung wurde durchweg in der Vorkriegsjugendbewegung sozialisiert. Die aktiven Freideutschen bildeten eine Generationseinheit benachbarter Jahrgänge im Rahmen der größeren Generationslagerung der bürgerlichen Jugendbewegung. Diese Generationseinheit bestimmt sich dabei 31 S. u. S. 79, Anm. 60. 32 Exemplarisch Alfred Kurella (Hrsg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Beihefte zur Freideutschen Jugend, H. 1, Hamburg 1919. 33 Zur Kritik des Antifeminismus in der bürgerlichen Jugendbewegung Busse-Wilson, Die Frau und die Jugendbewegung. 34 Diese Jahrgangsgruppen nennt man auch „Generationen“, oder mit K. Mannheim „Generationseinheiten“. Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hgg. von Kurt H. Wolff, Berlin 1964, S. 509–565.
16 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag nicht nur theoretisch als Kohorte benachbarter Jahrgänge, sondern vor allem im sozialkulturellen, mentalen und ideellen Sinne. Gemeint sind die Erfahrungen, die sie teilten, ihre Empfänglichkeit für dieselben handlungs- und ideenleitenden zeithistorischen Einwirkungen und Veränderungen, ihre vergleichbare sozialkulturelle Prägung, die sie trotz unterschiedlicher individueller Entwicklungen, politischer Orientierungen und Einflüsse zu einer Generationseinheit von relativer Homogenität und sozialer Stabilität machte. In Bezug auf die Freideutschen meint Generationseinheit eine proaktive Gruppierung junger Menschen, die aufgrund gleich gelagerter Prägungen und Motivationen in ihrem Gemeinschaftsleben gemeinsame Werte und Aktionspotentiale entwickelte. Diese machte sich zu Beginn des Jahrhunderts zum Studium an die Universitäten auf, wo sie sich unter dem Eindruck ihrer Erfahrungen in der bis dahin hauptsächlich vom Wandervogel geprägten bürgerlichen Jugendbewegung seit 1906 zunächst an den klassischen deutschen Universitäten in eigenen akademischen Gemeinschaften nichtkorporierter Studierender formierten. Die ihnen angehörenden jungen Menschen sahen sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor dieselbe Mission gestellt: Die Gestaltung der künftigen deutschen Gesellschaft. Namengebend für diese kulturelle Elite waren der Freideutsche Jugendtag von 191335 und das dort geschlossene Bündnis der Freideutschen Jugend. Zwar tauchte der Begriff „Freideutsch“ erstmals in diesem Zusammenhang auf und erhielt auch seine weitergehende organisatorische Verstetigung erst danach, aber seine historisch-kulturellen Wurzeln und seine inhaltliche Bestimmung reichen bis in die frühe Formierungsphase der Freideutschen zu Beginn des Jahrhunderts zurück. Wenn hier von den Freideutschen die Rede ist, bezieht sich das in erster Linie auf eine Selbstzuschreibung derer, die sich vor 1933 und nach 1945 ideell und identitär auf die Gruppierung der Freideutschen bezogen, sich selbst als Freideutsche definierten und sich im näheren oder erweiterten Umfeld freideutscher Kreise bewegten. Bei den Freideutschen hat man es zum einen mit den erklärten und aktiv für die freideutsche Idee engagierten Freideutschen zu tun, die über ihre jeweiligen Kreise hinweg den inneren Kern der freideutschen Bewegung und damit die freideutsche Funktionselite bildeten, zum andern mit größeren Kreisen von Sympathisanten, Assoziierten und Gesinnungszugehörigen, die sich mal mehr und mal weniger nah, aktiv oder unterstützend, phasenweise oder auch kontinuierlich, um den inneren Kreis bewegten und das soziale Reservoir der Freideutschen Bewegung bildeten. Die Mitgliederzahl der mit der Freideutschen Jugend assoziierten Gruppierungen betrug vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt etwa 35.000 Mitglieder, wobei davon etwa 26.000 allein auf den Wandervogel e.V. entfielen. Hauptträger der 35 S. u. S. 113–128; Winfried Mogge/Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988.
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Freideutschen Jugend waren aber vor allem die studentischen Gruppen mit insgesamt etwa 2.000 Angehörigen, allen voran die akademischen Freischaren. Im Ersten Weltkrieg verloren etwa 7.000 von annährend 12.000 Wandervogelführern ihr Leben. Auch die Todeszahl unter den aktiven und ehemaligen Freischärlern war beträchtlich. Anfang der 1920er Jahre zählten die freideutschen Kreise trotz Weltkrieg noch immer über 700 Mitglieder in über 300 Städten bzw. Stadtteilen, wobei die meisten in Großstädten wie Hamburg, Berlin und Köln existierten. Den Freideutschen zugehörig war zudem ein erweiterter Freundeskreis von etwa 260 namhaften Professoren und Promovierten, die den akademischen Eliten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Pädagogik entstammten.36
Studentische Prägung und neue Geselligkeitskultur als Voraussetzung für das Wirken als kulturelle Avantgarde Die Entwicklung der freideutschen Bewegung verläuft entlang der Biografien ihrer Angehörigen, die – entsprechend ihres Alters und Ausbildungsfortschritts – von den jugendbewegt-lebensreformerisch orientierten Schülerwander- oder Wandervogel-Gemeinschaften in studentische Formate überwechselten, die ihnen die Forstsetzung ihrer Interessen ermöglichten. Die Herkunft der Freideutschen aus dem studentischen Milieu und ihre Grundgestalt als akademisch geprägte Suchbewegung bringt Besonderheiten mit sich, die in der Binnen- und Repräsentationsstruktur studentischer Verbindungen begründet liegen und damals wie heute charakteristisch für das studentische Gemeinschaftsleben sind. Wer sich mit den typenbildenden freideutschen Kerngemeinschaften und organisatorischen Verstetigungsformen befasst, die die sozialkulturelle und programmatische Formierungs- und Erprobungsphase der Freideutschen in der wilhelminischen Kaiserzeit und der Weimarer Republik prägten, sieht sich mit den Eigenheiten und kulturellen Mustern akademischer Kreise und studentisch geprägter Gruppenpraxis konfrontiert. Es ist typisch für studentische Gemeinschaften bzw. Verbindungen, dass diese hochschulpolitisch und organisatorisch von ihren An- und Wortführern vertreten werden und über sie kommunizieren, was zur Folge hat, dass vor allem diese Personenkreise es sind, die die äußere Kommunikation und Darstellung prägen und die öffentliche Wahrnehmung auf sich ziehen, während der größte Teil der Studentenschaft einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt bleibt. Auch organisieren sich studentische Gruppierungen üblicherweise in überregionalen Strukturen, durch entsprechend vernetzte und verzweigte Verbindungen und Verbände, die ihren Angehörigen eine Fortsetzung ihrer Verbindungstätigkeit an einem anderen Universitätsstandort gewährleisten. Sie funktionieren nach 36 Anschriftenverzeichnis freideutscher Freunde, 1929/21 (AdJb N 123/4); Ortsregister zum Anschriftenverzeichnis von Mitgliedern der Freideutschen Kreise, 1920/21 (AdJb N 123/4).
18 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag außen nach dem Sprecherprinzip, weil sie intern keine Hierarchie ausprägen. Zu beobachten ist, dass die studentischen Führer ihren Einfluss und ihre Deutungshoheit unter ihren Kommilitonen meist auch außerhalb des studentischen Lebens behalten. Akademisch geprägte Freundeskreise bleiben in der Regel stark an der studentischen Gruppenpraxis orientiert und behalten – dem kulturellen Muster folgend – eingeübte Repräsentations- und Arbeitsschemata bei. Mitbestimmung, Mitdiskussion und Mitarbeit finden primär innerhalb der eigenen Gruppe bzw. der erweiterten Gesinnungsgemeinschaft und nicht in der Öffentlichkeit statt; die Gruppe wird nach außen nur von einigen wenigen Wortführern vertreten. Eine Analyse von Programm und Praxis der Freideutschen hat in erster Linie mit Personen, Zeugnissen und Äußerungen der Funktionselite zu tun und muss zumeist auf Inhalte zurückgreifen, die durch deren Wort- und Anführer vermittelt werden, obgleich diese Inhalte in aller Regel das Ergebnis von Gruppenaushandlungen sind. Die Formen studentischer Praxis wirkten in hohem Maße typenbildend für das freideutsche Gemeinschaftsleben. Des Weiteren kultivierte sich in den akademisch geprägten freideutschen Gemeinschaften eine besondere verantwortungsethische und sozialpraktische Einstellung, die die Tendenzen der kulturellen Reformbewegungen und deren grundkritische Haltung gegenüber bestimmten Kulturmustern, Lebensformen und Tradierungen des wilhelminischen Bürgertums aufnahm. Diese lässt sich auch an den Führungsstrukturen innerhalb der freideutschen Gemeinschaften ablesen, die auf dem Prinzip der Selbstauslese beruhten. Ihre spezielle kulturelle, stark moralisch fundierte Praxis verhinderte auch im Späteren ein geschlossenes Patronagesystem bzw. Nachwuchs-ElitenSystem, wie es etwa bei den akademischen Altherrenschaften der Korporationen bis heute zu finden ist. Insofern war Führung bei den Freideutschen stark an die persönliche Verantwortungsbereitschaft im Sinne einer sozialen Verantwortung und starken moralischen Verpflichtung gegenüber der Gruppe gebunden. Die Rezeption der Freideutschen ist stark von einer elitezentrierten Perspektive geprägt, von jenen freideutschen An- und Wortführern, die durch ihre historische Sichtbarkeit und ihre zeitgenössische Deutungshoheit ein spezielles Bild der Freideutschen vermitteln. Gleichwohl sind diese für den Typus Freideutsch charakteristisch und spiegeln Denkweisen und Einstellungen innerhalb des freideutschen Milieus wider. Bei aller generationellen und weltanschaulichen Diversität des freideutschen Milieus fällt die Differenz zwischen innerem Führungskreis und erweitertem Gesinnungskreis bei den Freideutschen im Vergleich zu anderen kulturellen Eliten ihrer Zeit gering aus. Dies deswegen, weil diese primär durch ihr freideutsches Programm, ihre gemeinsame sozialkulturelle Prägung und ihr aktives, auf persönlichen Beziehungen beruhendes Gemeinschaftsleben in sich überlagernden Freundes- und Arbeitskreisen verbunden waren und sich als kulturelle Avantgarde primär nicht über
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bürgerliche Hierarchien und Organisationsstrukturen definierten. Maßgeblich waren vielmehr die freideutsche Idee und die damit verbundene Praxis. Als primär ideell und informell verbundene Selbstbildungs- und Gesinnungsgemeinschaften agierten die freideutschen Kreise primär ohne Absicht auf Aktion nach außen sowie ohne einheitliche weltanschauliche Praxis und Organisationsstrukturen. Bei den Freideutschen als Gesamtbewegung handelt es sich also weder um eine altermäßig homogene noch um eine über ihre inneren Kreise hinaus personell beständige und bis in ihre äußeren Kreise überschaubare Gruppierung. Dafür agierten die Freideutschen über einen kulturgeschichtlich zu wechselvollen und politisch zu zerrissenen Zeitraum. Auch waren Programm und Gemeinschaftsleben der Freideutschen zu offen strukturiert, als dass sich daraus die studentischen Verbindungsstrukturen hätten herausbilden können. Freideutsch steht in dieser Hinsicht für die ganze Dynamik und Prozesshaftigkeit einer Akteurskonstellation, die sich primär mit den Mitteln der Mentaliäts- und Kulturgeschichte abbilden lässt, keineswegs aber zu einer rein an äußeren Faktoren und Zahlen, Folgen und Erfolgen orientierten Geschichte der Freideutschen führen kann, wie sie etwa für bestimmte soziale, vor allem aber politische Bewegungen des 20. Jahrhunderts geschrieben werden kann. Freideutsche Kreise speisten sich aus einem aktiven inneren Kern, bestehend aus kleineren Kreisen konstant agierender Akteure sowie größeren Kreisen an unterstützenden Gesinnungsträgern. Sie waren durch ihre sozialkulturelle und mentale Prägung in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, durch ihr gemeinsames Programm sowie ihre besondere Organisationsform, dem Kreis, miteinander verbunden. Im Zusammenhang mit den vielfältigen Aktivitäten der Freideutschen kann stets nur von kleineren bis größeren Kreisen die Rede sein, die durch persönliche Beziehungen miteinander in produktivem und kommunikativem Austausch stehen konnten, aber nicht mussten. Grundsätzlich verbunden waren sie durch die in der freideutschen Idee enthaltenen bildungsbürgerlichen Werthaltungen, Ideale und Geselligkeitspräferenzen.
Die freideutsche Generationseinheit Die Verortungspraxen der Freideutschen sind zugleich als „Faktoren und Indikatoren geschichtlicher Bewegung“37 im weiten Experimentierfeld, im „Laboratorium der Moderne“38 anzusehen. Ihre Praxen blieben nicht hinter dem wach37 Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. XIV. 38 Uwe Puschner/Katja Wimmer/Christina Stange-Fayos (Hrsg.): Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Reich/Laboratoire de la modernite´. Circulation des ide´es a` l’e`re wilhelminienne, Frankfurt/M. 2014.
20 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag senden Modernitäts- und Fortschrittsbewusstsein39 ihrer Epoche zurück, wie dies bei vielen antimodernistischen und kulturpessimistischen Strömungen der Fall war, sondern sollten im Sinne der Kulturstaatsidee der Freideutschen proaktiv zur Entwicklung bzw. (Um-)Gestaltung der Gesellschaft beitragen. Mit ihrer besonderen Praxis formten die Freideutschen im 20. Jahrhundert eine eigene historische Linie aus, entlang derer sie sich sozial vermittelnd mit den Steuerungsmöglichkeiten, Potentialen und Herausforderungen der Moderne auseinandersetzten. Dabei gehört es zur Eigenart der Freideutschen, dass sie im Zeitraum ihrer Konstituierung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bis zu ihrem demografischen Ende in den 1960er und 1970er Jahren bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts gleich mehrere Altersgenerationen umfasste und anzog.40 Die erhebliche Binnendifferenzierung und das breit gefächerte weltanschauliche Spektrum der vorzugsweise in kleineren und größeren Freundes- und Arbeitskreisen assoziierten Freideutschen lassen es nicht zu, eine durchgängige gesellschaftliche Zielvorstellung für die gesamte Freideutsche Bewegung festzulegen. Ihr politisches Spektrum reichte von national bis international und liberal, oszillierte in der politisch, historisch und sozial spannungsreichen und gewaltvollen erste Hälfte des 20. Jahrhunderts phasenweise nicht selten zwischen linken und rechten Positionen, und war mit dementsprechend unterschiedlichen bzw. wechselnden Ideen und politisch-kulturellen Zielsetzungen verbunden. Zwar gehörten etwa die Ideen von der Notwendigkeit einer ethisch-moralischen Rückbindung der Politik und der politischen Gesinnung sowie von der Überwindung der kapitalistischen Mechanisierung und des Materialismus – als integrale Bestandteile der Kulturstaatsidee – zu den Grundüberzeugungen der Freideutschen, jedoch ließen sich diese – zumindest vorübergehend – ebenso mit sozialistischen und linksliberalen wie mit völkischen Positionen verbinden. Die antikapitalistische Grundorientierung der Freideutschen reichte so von sozialistischer Konsum- und Staatskritik bis hin zu völkisch-nationalistischer Ableh-
39 Dazu Reinhart Koselleckt: Fortschritt, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351–423. 40 Gerhard Ziemer/Hans Wolf (Hrsg.): Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961; Heinrich Ulrich Seidel: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert, Witzenhausen 1996; Jürgen Reulecke: Der Historiker als ,Ombudsmann‘? Eine Begegnung mit dem Freideutschen Kreis: jugendbewegt geprägt!, in: Barbara Stambolis (Hrsg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 85–102. Ferner Knud Ahlborn: Kurze Chronik der Freideutschen Jugendbewegung. 1913–1953 zu ihrem 40. Jahrestag, Bad Godesberg 1953.
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nung eines auf westlichem Rationalismus fußenden deutschen Liberalismus und Parlamentarismus.41 Das Programm der Freideutschen verband die unterschiedlichsten weltanschaulichen und politischen Positionen, die im extremen Fall – im Umfeld der Novemberrevolution 1918/19 – von kommunistisch bis völkisch reichten. Leitend war die Idee der Kulturreform, der Vereinigung neuer geistiger und schöpferischer Kräfte innerhalb der Jugend, die Ausgangspunkt für eine grundlegende kulturelle und geistige Erneuerung Deutschlands sein sollte. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg glaubten die Freideutschen, dass mit dieser Zäsur die Zeit für eine allgemeine und grundlegende gesellschaftliche Veränderung gekommen sei. Sie hoffen, dass sich mit den politischen Umwälzungen auch die kulturellen und moralischen Wertvorstellungen erneuern ließen und ihren Teil zur Neugestaltung von Kultur und Gesellschaft beitragen zu können. Auch wenn zeitgeschichtliche und politische Zäsuren wie der Erste Weltkrieg, die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg die Wirkungsmöglichkeiten und -potentiale sowie die organisatorischen Verstetigungsbemühungen der Freideutschen auf struktureller und individueller Ebene alles andere als begünstigten, entfalteten die Freideutschen insbesondere auf dem Gebiet der Wissenschaft sowie der Jugend- und Erwachsenenbildung einige Prägekraft, die umso deutlicher wird, wirft man einen Blick auf die proportional zur Größe des freideutschen Milieus relativ hohe Zahl an prominenten Intellektuellen, Pädagogen und Kulturschaffenden freideutscher Prägung im 20. Jahrhundert. Über die gemeinsame Erfahrungssignatur des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Monarchie hinaus verband sie ihre prägende Sozialisation als Freideutsche und ihre gemeinsame Suche nach neuen gesellschaftlichen Grundlagen zu einer Generationseinheit. Für sie alle stellten sich Anfang des 20. Jahrhunderts dieselben drängenden Fragen – die Soziale Frage war eine davon –, und sie alle begannen ihre berufliche Laufbahn alters- und weltkriegsbedingt in der ersten deutschen Republik. In Folge der politischen Umwälzungen ging es nun nicht mehr um eine Reform der wilhelminischen Gesellschaft, sondern um die Ausgestaltung der revolutionären Gesellschaft nach 1918. Die historische Antrittssituation der Freideutschen war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ohnedies waren die politischen und wirtschaftlichen Krisen, die schleppende Parlamentarisierung oder die Kolonialpolitik des Kaiserreichs weder vor noch nach dem Ersten Weltkrieg Themen der bürgerlichen Jugendbewegung und der Freideutschen. Im Hinblick auf die im Krieg gewachsene gesellschaftliche Polarisierung und Ideologisierung sowie im Hinblick auf die neue politische und außenpolitische Ordnung standen 41 Vgl. die Beobachtungen des Theologen und Publizisten Max Maurenbrecher, in: Hübinger, Eugen Diederichs’ Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur, S. 268–269. (Protokoll im Anhang).
22 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag die Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg vor völlig anderen Herausforderungen und Fragen, denen sie in der Weimarer Republik insbesondere im Rahmen ihrer Denkkollektive und auf dem Feld der Sozial- und Kulturpolitik entgegen arbeiteten. Zu den bekanntesten Freideutschen bzw. freideutsch geprägten Personen gehörten Rudolf Carnap (1891–1970), Hauptvertreter des Logischen Empirismus des Wiener Kreises; der Pädagoge und Kulturpolitiker Adolf Reichwein (1898–1944); der Universalhistoriker und Wirtschaftspolitiker Alexander Rüstow (1885–1963), einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft; der Wirtschafts- und Sozialtheoretiker Eduard Heimann (1889–1967); der Nationalökonom Adolf Löwe (1893–1995); der Wirtschaftshistoriker und Soziologe Hans Raupach (1903–1997); die Historiker Theodor Schieder (1908–1984) und Günther Franz (1902–1992); der Universitätspädagoge und Erwachsenenbildner Wilhelm Flitner (1889–1990); die Pädagogin Elisabeth Blochmann (1892–1972); der marxistische Historiker Karl Bittel (1892–1969); der Soziologe und Historiker Hans Freyer (1887–1969); der Kunstlehrer und Diplomat Otto Abetz (1903–1958), von 1940 bis 1944 Botschafter Deutschlands im besetzten Frankreich; der Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps (1909–1980); der Pädagoge Erich Weniger (1894–1961); der Marxismus-Theoretiker und Jurist Karl Korsch (1886–1961); der Literaturwissenschaftler Julius Frankenberger (1888–1943); der Kunstkritiker und Fotograf Franz Roh (1890–1965); der Schriftsteller Kurt Held (1897–1959); der Literat und Kulturfunktionär Carl Rothe (1900–1970); der kommunistische Politiker und Publizist Alexander Schwab (1887–1943); die Malerin Helene Czapski-Holzman (1891–1968); die Naturwissenschaftlerin Martha Hörmann (1888–1971); die Soziologin Charlotte Lütkens (1896–1967); der Dramatiker, Übersetzer und Regisseur Hans Rothe (1894–1977); der sozialdemokratische Publizist und Lyriker Walther G. Oschilewski (1904–1987); der Erziehungswissenschaftler und Erwachsenenbildner Fritz Borinski (1903–1988); der Reformpädagoge Karl Wilker (1885–1980); der Arzt, Volkshochschulleiter und Umweltschützer Knud Ahlborn (1888–1977); der Reformpädagoge Walter Fränzel (1889–1968); die Erwachsenenbildner Fritz und Edith Klatt (1888–1945)/ 1895–1971); die Reformpädagogen Max und Gertrud Bondy (1892–1951/ 1889–1977) sowie Bondys Bruder, der Sozialpsychologe Curt Bondy (1894–1972); der Reformpädagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892–1953); der Unternehmer Alfred C. Toepfer (1894–1993); der Pädagoge und Philosoph Wolfgang Kroug (1890–1973); der englische Kulturpolitiker Rolf Gardiner (1902–1971); der Rechtswissenschaftler und Anwalt Kurt Vermehren (1885–1962); der Erziehungswissenschaftler und Reformpädagoge Karl Seidelmann (1899–1979); der SPD-Politiker und Staatsrechtler Carlo Schmid (1896–1979); die Politiker Helmut Lemke (1907–1990) und Adolf Grimme (1889–1963); der Diplomat und SPD-Politiker Gerhard Lütkens (1893–1955); der sozialdemokratische Bildungs- und Kul-
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turpolitiker Kurt Löwenstein (1885–1939); der Jurist, Journalist und SPD-Politiker Herbert Weichmann (1896–1983), von 1965 bis 1971 Erster Bürgermeister Hamburgs; der Politikwissenschaftler Arnold Bergstraesser (1896–1964); der Schriftsteller und Publizist Kurt Hiller (1885–1972); der Psychotherapeut und Autor Hans Kollwitz (1892–1972; der Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld (1895–1952), Träger des Ehrentitels „Gerechter unter den Völkern“; der Theologe Wilhelm Stählin (1883–1975); der Schriftsteller und Dichter Hans Heyck (1891–1975); der Eugeniker und marxistische Sexualpädagoge Max Hodann (1894–1946); der Schriftsteller und SED-Kulturfunktionär Alfred Kurella (1895–1975); der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892–1940) und die Historikerin und feministische Theoretikerin Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974).42
Freideutsche Wegsuche Als klassischer Typus einer akademisch geprägten Suchbewegung setzten sich die Freideutschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise mit den Potentialen und Herausforderungen der Modernisierung in Deutschland auseinander und waren zugleich ein Teil derselben. Ihre charakteristischen sozialkulturellen Praxen waren geprägt von der Suche nach neuen sozialen, kulturellen, geistigen und politisch-ökonomischen Ordnungsmaßstäben im Hinblick auf eine sozial zunehmend verflüssigte und brüchig werdende gesellschaftliche Ordnung.43 Sie stehen für die weit über ihr Sozialmilieu hinaus verbreitete Tendenz moderner Suchbewegungen, überkommene Lebensordnungen und Sozialstrukturen durch neue soziale Gemeinschafts- und Lebensformen sowie politisch-kulturelle Ordnungsstrukturen zu ersetzen. Gerade innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung, die sich durch ihre vielfältigen ästhetischen und kulturellen Praxen auszeichnete, war man intensiv damit beschäftigt, neue kulturelle, ethisch-moralische und humane Grundlagen für das Deutschland und zum Teil auch für die Globalgesellschaft des 20. Jahrhunderts zu entwickeln und 42 Kurzbiografien Freideutscher finden sich in: Werner Kindt (Hrsg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963, S. 557–582; Ders. (Hrsg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968, S. 1039–1071; Ders. (Hrsg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften, Düsseldorf/Köln 1974, S. 1753–1807; Hinrich Jantzen, Namen und Werke, 5 Bde., Frankfurt/M. 1972–1982; Peter Dudek: Leitbild: Kamerad und Helfer. Sozialpädagogische Bewegung in der Weimarer Republik am Beispiel der „Gilde Soziale Arbeit“, Frankfurt/M. 1988, S. 226–236. Zahlreiche biografische Annotationen außerdem in: Ders.: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte „Berliner Kreis“ im Kontext des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2021, u. Ders.: „Vom Schulmeister zum Menschen“. Max Tepp – ein jugendbewegter Reformpädagoge, Schriftsteller und Verleger, Bad Heilbrunn 2014. 43 Ewald Frie/Mischa Meier: Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Tübingen 2014.
24 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag so am Aufbau der kommenden Gesellschaft mitzuwirken. Von ausgeprägtem gesellschaftlichen Verantwortungs- und Gestaltungsdenken zeugen dabei die Aktivitäten der Freideutschen. Als künftige Akteure suchten sie mit ihren kulturund sozialreformerischen Ideen Anschluss an die Reformbewegungen der Gegenwart auf Gebieten des geistigen und kulturellen Lebens. Um den sozialkulturellen Wandel aktiv mitgestalten zu können, arbeiteten sie in ihren Reihen mit Nachdruck an der Entwicklung gesellschaftsrelevanter intellektueller und praktischer Gestaltungspotentiale. Mit ihren Ideen sowie ihrer sozialkulturellen Praxis prägten die Freideutschen entscheidend die zweite, studentische Phase der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Gemäß ihrem Ursprung als akademisch geprägte Suchbewegung formierten sich die Freideutschen im Modernisierungsgeschehen als kulturelle und ethischmoralische Avantgarde,44 die bis in die Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre als Teil der deutschen kultur- und bildungspolitischen Eliten agierte. Ihre Ideen und Praxen fanden nicht nur Eingang in die bürgerliche Jugend- und Lebensreformbewegung, sondern beeinflussten darüber hinaus auch die Felder der Jugend- und Erwachsenenbildung, der Pädagogik, der Kultur- und Schulpolitik sowie der Politik. Die gesellschaftlichen Erneuerungsbestrebungen der Freideutschen spiegeln zentrale Bewusstseinslagen und sozialpsychologische Vergewisserungsdynamiken sowie neue Orientierungen in privaten Lebensstilen und kulturell-sittlichen Normvorstellungen innerhalb des gebildeten Bürgertums während des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert wider. Vor dem Hintergrund der Modernisierung entwickelten sie eigenständige handlungsleitende Subjektivierungsformen und Sozialpraktiken, die über ihr bürgerlich-liberales Sozialmilieu hinaus gesellschaftlich wirksam wurden. Analog zum bildungsbürgerlichen „Renaissancismus“45 der Jahrhundertwende ging es ihnen darum, eine neue Gesellschaftsordnung zu denken und diese im Hinblick auf die größtmöglichste soziale und kulturelle Fortschrittlichkeit sowie politische und soziale Stabilität erzieherisch vorzubereiten und mitzuentwickeln.
44 Winfried Mogge: „Lebenserneuerung durch den Geist der Jugend“. Die Jugendbewegung zwischen Avantgarde und Reaktion, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, München 2001, S. 92–104; Karl Braun/Felix Linzner/John KhairiTaraki (Hrsg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“, Göttingen 2017. 45 Thomas Althaus/Markus Fauser (Hrsg.): Der Renaissancismus-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme, Bielefeld 2017; Helmut Koopmann/Frank Baron (Hrsg.): Die Wiederkehr der Renaissance im 19. und 20. Jahrhundert – The Revival of the Renaissance in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Münster 2013.
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Das freideutsche Programm: Selbstbildung– Elitenbildung – Volksbildung – Gesellschaftsbildung Ausgehend von kulturidealistischen und lebensreformerischen Motiven entwickelten die Freideutschen Lösungen für Problemstellungen, die im Zusammenhang mit der Modernisierung und des davon ausgehenden sozialökonomischen Wandels aufkamen. In ihren Kreisen und innerhalb ihres Sozialmilieus bildeten sie alternative Gemeinschafts- und Subjektivierungsformen aus, die mit konkreten kulturellen Leitvorstellungen und politisch-sozialökonomischen Gesellschaftsentwürfen verbunden waren. Ihr Ziel des „zukünftigen Menschheitsbaus“46 machte es aus ihrer Sicht erforderlich, zunächst die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft kritisch zu überprüfen. Gesucht wurden zukunftsfähige Lebens-, Geselligkeits- und Erziehungsformen, die die kulturelle und soziale Entwicklung Deutschlands positiv beeinflussen konnten und den An- und Herausforderungen der modernen Gesellschaft gewachsen waren. In ihren Gemeinschaften entwickelten sie ein gemeinwohlorientiertes Selbstbildungsprogramm, das auf die Entwicklung eines freideutsch geprägten „Menschentypus“47 zielte, aus dem sich die künftige gesellschaftliche Führungselite bilden sollte. Im vertrauten Rahmen ihrer Kreise entwickelten und erprobten sie Ideen und Geselligkeitsformen, die die Gesellschaft von morgen positiv beeinflussen sollten. Anders als die kulturpessimistischen und eskapistischen Strömungen der wilhelminischen Zeit, die darauf abzielten, die Dynamik des sozialen Wandels48 an- bzw. aufzuhalten oder gar zu ignorieren versuchten, suchten die Freideutschen keinen Ausweg aus der Gesellschaft oder beabsichtigten etwa, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung ohne adäquaten Gesellschaftsentwurf zu beseitigen. Sie stellten vielmehr die Gesellschaft und die ihr zugrunde liegenden Normen und Werte grundlegend in Frage und versuchten, ihren Gegenentwurf in neuen bzw. alternativen sozialen und kulturellen Zusammenhängen und Kategorien zu denken. Als negativ wahrgenommene Entwicklungen der bürgerlich-industriekapitalistischen Gesellschaft sollten nicht auf revolutionärem, sondern auf evolutionärem Wege verändert und überwunden werden. Die aus ihrer Sicht wichtigste Voraussetzung dafür war das Prinzip der gemeinschaftlichen Selbstbildung. Als Generationseinheit teilte man die Wahrnehmung, im Hinblick auf den gesell46 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35. 47 Knud Ahlborn im Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung von Pfingsten 1917, in: Gangolf Hübinger: Eugen Diederichs’ Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur. (Anhang: Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung von Pfingsten 1917), in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 259–274, hier S. 272. 48 Ewald Frie/Thomas Kohl/Mischa Meier (Hrsg.): Dynamics of Social Change and Perceptions of Threat, Tübingen 2019.
26 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag schaftlichen und kulturellen Wandel von den staatlichen Lehr- und Erziehungsinstitutionen kaum auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu werden. Die Konsequenz daraus war, dass diese jungen Menschen sich ihr eigenes akademisches und außeruniversitäres Selbstbildungsprogramm schufen. Durch ihre Selbstbildungs- und Gemeinschaftskultur wollten die Freideutschen ein eigenes kulturelles und soziales Leben entfalten und vermitteln und als Vorbild für eine ganze Gesellschaft einen freideutschen Menschen hervorbringen, der die soziale Grundlage für eine neue gesellschaftlich-kulturelle Ordnung bilden sollte. Dafür mussten sich die Freideutschen als Avantgarde geistig und praktisch anders aufstellen als das traditionelle Studententum und die traditionelle bürgerliche Kultur. Für die Freideutschen lag es auf der Hand, dass die Verwirklichung eines alternativen Gesellschaftsmodells unter den geltenden sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen nicht zu realisieren war, wollte man im Ergebnis eine andere Gesellschaft als die bestehende formen. Erforderlich war aus ihrer Sicht eine grundlegende soziale, kulturelle und sittliche Neuorientierung des Menschen und davon ausgehend die Bildung einer neuen „kulturfähigen Schicht“49 bzw. geistig-moralischen Führungselite innerhalb der bildungsbürgerlichen Jugend, die Träger der zukünftigen Gesellschaftsordnung sein sollte. Ihr stark lebensreformerisch geprägtes Selbstbildungsmodell zielte darauf, keimzellenhaft einen neuen von Moralität und sozialem Verantwortungsgefühl geprägten Menschentypus hervorzubringen, der das gesamte Volk, insbesondere aber die Führungseliten durchdringen und so von innen heraus langfristig zur Gesamterneuerung der Gesellschaft und der Kultur beitragen sollte. Der Kulturstaatsidee folgend, sollten Staat und Staatsform nach Möglichkeit ganz im Dienst dieser Ziele stehen. Deswegen folgten die Freideutschen – ihrem Selbstverständnis nach weltanschaulich undogmatisch und vorurteilsfrei – primär Ideen und nicht Parteien, zunächst einmal unabhängig davon, wie diese parteipolitisch rückgebunden waren, solange sie sich nur für eine Reform des Menschen und davon ausgehend der Kultur, für den Aufbau einer im Kern „volklichen Existenz“50 im Sinne der Kulturstaatsidee zu eignen schienen und eine sozial und politisch befriedete Gesellschaft verhießen. Dabei hoben sich freideutsche Begrifflichkeiten wie Volk oder Volksgemeinschaft aufgrund ihres selbstund kulturreformerischen Impetus inhaltlich deutlich von den Ideen des völkischen Nationalismus ab.51 49 Max Bondy: Freideutsche Politik, in: Wilhelm Ehmer (Hrsg.), Hofgeismar. Ein politischer Versuch in der Jugendbewegung 1920, Jena 1921, S. 25–32, hier S. 26. 50 Wilhelm Flitner: Neue Wege der Erziehung und Volksbildung (1928), in: Gesammelte Schriften, hgg. von Karl Erlinghagen/Andreas Flitner/Ulrich Herrmann, Bd. 4, Die pädagogische Bewegung, Paderborn 1987, S. 170–231, hier S. 186. 51 Zur Idee der Volksgemeinschaft bei den Freideutschen und ihren Spezifika s.u. S. 258–260.
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Soziale Kreise als prägende Organisations- und Arbeitsform der Freideutschen Nähert man sich aus soziologischer und kulturgeschichtlicher Perspektive dem von den Freideutschen geprägten Geselligkeits- und Organisationstypus Kreis, wird deutlich, dass es sich dabei um eine für Deutschland im 20. Jahrhundert spezifische Sozial- und Milieuform handelt.52 Als Grundtypus bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation,53 der spezifische mentalitäre Prägungen und Präferenzen für bestimmte Kulturtechniken bildungsbürgerlicher Schichten im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert offenlegt, fügen sich Kreise in den breiten Entstehungs- und Wirkungsrahmen moderner Intellektuellenassoziation ein, wie er sich etwa auch in den sozialen Figurationen54 von Bund oder Netzwerk widerspiegelt. Vergemeinschaftungsmodelle dieser Art erfüllten eine wichtige gesellschaftliche Funktion für die politische und kulturelle Selbstverständigung der deutschen Gesellschaft vom späten Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik.55 Sie stehen für ein neues Prinzip der Vergesellschaftung, bei dem ganz unterschiedliche Ziele, Intentionen und Akteure zum Tragen kamen.56 Die Umbruchphase der Modernisierung war seit der Hochindustrialisierung von unterschiedlichen ethisch-moralischen, ästhetisch-künstlerischen, bildungs- und kulturpolitischen sowie sozial- und lebensreformerischen Programmatiken und Praxen neu auftretender Verständigungs- und Gemeinschaftsformate geprägt. Insofern ist das breite Spektrum intellektueller, kulturpolitischer und künstlerischer Gemeinschaften sowie ihre Wirkungskontinuität im 20. Jahrhundert ein Indiz für die Selbstmobilisierung gesellschaftlicher Kräfte, als einem zentralen Vorgang von Modernisierung. Begreift man die moderne Industriegesellschaft immer auch als Produkt ihrer Selbstmobilisierung bzw. als Resultat der Differenzierung und Dekorporierung der herkömmlichen Ordnungen und Gemeinschaften,57 bilden 52 Kuhlemann/Schäfer, Kreise, Bünde, Intellektuellen-Netzwerke; Faber/Holste, Kreise – Gruppen – Bünde. 53 Manfred Hettling: Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999. 54 Norbert Elias: Figuration, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1986, S. 88–91; Ders.: Was ist Soziologie?, München 1970, S. 139–145; Ders.: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied/Berlin 1969. 55 Vgl. Kuhlemann/Schäfer: Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Forschungskontexte, Fragestellungen, Perspektiven, in: Dies., Kreise, Bünde, Intellektuellen-Netzwerke, S. 7–30, hier S. 7. 56 Vgl. Friedrich H. Tenbruck/Wilhelm A. Ruopp: Modernisierung – Vergesellschaftung – Gruppenbildung – Vereinswesen, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialen, Opladen 1983, S. 65–74, hier S. 71. 57 Vgl. ebd., S. 72.
28 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag Kreise darin elementare (Sub-)Strukturen gesellschaftlicher Verständigung und Mobilität. In diesem Sinne sind Kreise und Kreisgeflechte als soziale Reaktionen auf strukturelle Herausforderungen und gesellschaftliche Widersprüche zu verstehen.58 In diesen Laboratorien der Moderne entstanden Ideen, Kommunikationskompetenz und Expertise, soziale und kulturelle Normen und politische Leitbilder wurden dort verhandelt. (So im Kronberger und im Seeheimer Kreis, früher im Ettlinger und im Königsteiner Kreis, oder auch der Bergedorfer Gesprächskreis.) Als spezifisch moderne Gruppenformen vollziehen und spiegeln Kreise soziale, kulturelle und politische Aushandlungen von Problemlagen. Die Freideutschen begegnen vor diesem Hintergrund als exemplarischer Repräsentant bildungsbürgerlicher Kreise und Intellektuellenassoziationen im 20. Jahrhundert. Während in weiten Teilen des bürgerlichen und proletarischen Milieus vor allem die Organisationsform Verein vorherrschend ist, sind Kreise primär ein Phänomen intellektueller Milieus, die sich angesichts der sich fundamental wandelnden Orientierungsmuster der modernen Industriegesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts mit vielfältigen Statusunsicherheiten und politisch-kulturellen Deutungskämpfen um die Vormachtstellung im Staat konfrontiert sahen. In diesem Sinne spiegelt die beschleunigte Differenzierung bürgerlicher Vergemeinschaftungsmodelle und Gruppenzusammenschlüsse Ende des 19. Jahrhunderts, deren Ausdruck die vielfältige Gründung von Vereinen, Parteien, Verbänden, Orden, Geheimgesellschaften, Logen oder eben Kreisen war, die wachsende soziale Differenzierung der modernen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert wider. Kreise erscheinen als Orte gemeinschaftlicher Selbstvergewisserung und Aushandlung bildungsbürgerlicher Schichten. Die Tatsache, dass sich die Freideutschen in kleinen und größeren Kreisen organisierten, spiegelt einen konkreten Gestaltungs- und Selbstbildungsimpetus sowie soziale und kommunikative Präferenzen wider. Insofern ist die Gruppenstruktur Kreis Resultat und Strukturmerkmal der speziellen Aushandlungspraxis der Freideutschen und weist sie als privilegierte Trägergruppe von Bildung und damit verbundener sozialer Möglichkeiten aus. Als Sozial- und Milieuform verweist Kreis auf die originäre bildungsbürgerliche Sozialisation der Freideutschen, die auf räumlicher Ebene – lokal, regional und überregional – überwiegend in Kreisen oder kreisähnlichen Strukturen organisiert waren. Zugleich verweist diese spezifische Gemeinschafts- und Organisationsform auf die für bildungsbürgerliche Milieus typische Präferenz für informelle Zusammenschlüsse und niedrige Organisationsgrade, die die Intellektuellensoziologie herausgearbeitet hat.59 Das bedeutet nicht, dass innerhalb des freideutschen Milieus nicht 58 Vgl. Tenbruck/Ruopp, Modernisierung Vergesellschaftung Gruppenbildung Vereinswesen, S. 68. 59 Vgl. Alfred von Martin: Mensch und Gesellschaft heute, Frankfurt/M. 1965, S. 184–239; Wolf-
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auf äußere Organisationsformen mit spezifischen Rechtsfolgen wie Vereine oder Bünde zurückgegriffen wurde bzw. diese Formate als Mittel der Wahl ausgeschlossen waren. Entscheidend für die soziale Praxis der Freideutschen war jedoch das Binnenleben ihrer Gemeinschaften, das für die Organisationsform Kreis konstitutiv war. Ausschlaggebend waren die aktive Gemeinschaftskultur, die Pflege freundschaftlicher Bindungen und Beziehungsnetze, wiederkehrende Geselligkeitspraktiken und Rituale, die mit spezifischen Wert- und Gemeinschaftsvorstellungen sowie Denkstilen einhergingen. Die freideutschen Kreise entstanden in erster Linie nicht formal, sondern sie ergaben sich aus vorhandenen Beziehungsgeflechten, dem Prinzip gemeinschaftlicher Selbstbildung und der Bevorzugung bestimmter Geselligkeitsformen, die an die studentische Praxis der Freischaren angelehnt war. Die freideutschen Kreise basierten auf den relationalen, intellektuellen und sozialen Verbindungen ihrer Mitglieder, aus denen sich milieu- und mentalitätsbedingt soziale Kreisgeflechte, Kreiszugehörigkeiten, Kreiseigenschaften und Kreisstrukturen ergaben. Wo sich die sozialen, mentalen und kulturellen Lebensformen und Intentionen der Freideutschen verschränkten, entwickelten sich Kreise. Theoretisch gefasst wurde diese moderne Form der sozialen und intellektuellen Assoziation zeitgenössisch von Georg Simmel, dessen Anfang der 1890er entwickeltes Konzept „sozialer Kreise“ den freideutschen Typus Kreis theoretisch fundiert und gleichsam historisch validiert.60 Simmels Theorie sozialer Kreise eignet sich nicht nur wegen ihres direkten zeitlichen Bezugs zur Entstehung von Kreisen und Kreisgeflechten in der Gesellschaft der Jahrhundertwende, sondern auch aufgrund ihrer konzeptionellen Offenheit, die sie netzwerktheoretisch vielfältig anschlussfähig macht. Diese theoretische Rückbindung trägt der besonderen freideutschen Gemeinschafts- und Organisationspraxis Rechnung und ermöglicht die Nachverfolgung freideutscher Geselligkeits- und Habitusformen über unterschiedlichste freideutsche Organisationsformate, Institutionalisierungen sowie Wirkungsfelder und Zeithorizonte hinweg. Sie erlaubt es, die vielfältige kulturelle Praxis der Freideutschen in übergreifende zeitliche und soziale Funktionszusammenhänge einzuordnen. Simmel entwickelte seine Soziologie vor dem Hintergrund der sozialen Dynamiken und funktionalen Differenzierung der Modernisierung Anfang des gang Eßbach: Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur, in: Faber/Holste, Kreise – Gruppen – Bünde, S. 23–33. 60 Zum Kreis-Begriff bei Georg Simmel Ders.: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: Ders., Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 2, Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie [1892], hgg. von Otthein Ramstedt, Frankfurt/M. 1989, S. 109–295; Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, hgg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992, S. 456–511.
30 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag 20. Jahrhunderts.61 Im Hinblick auf die zu beobachtenden neu auftretenden sozialen Wechselwirkungen und Interaktionsformen sowie Austausch- und Diffusionsprozesse legte er den Begriff der „Gesellschaft“ als „Summe jener Beziehungsformen“ aus, in denen das einzelne Individuum steht.62 In soziologischer Hinsicht reduzierte er damit das Individuum darauf, lediglich „der Ort“ zu sein, „an dem sich soziale Fäden verknüpfen“.63 Simmel arbeitet einen spezifisch modernen Menschentypus heraus. Dabei geht er von der Annahme aus, dass der Mensch als Sozialwesen einer Vielzahl miteinander verschränkter „sozialer Kreise“ angehört, sich also jedes Individuum in einem spezifischen Zusammenhang sozialer Gebilde, im Schnittpunkt bzw. Kreuzungspunkt einer Vielzahl sozialer Gruppen wiederfindet, verstanden als sich gegenseitig überlagernde „soziale Kreise“.64 Insofern hängt das Phänomen sozialer Kreise für Simmel originär mit der Entstehung der modernen Industrie- und Massengesellschaft zusammen. Damit unterscheidet sich die Organisationsform Kreis deutlich von der französischen Salonkultur des 17./18. Jahrhunderts, die es in Form musikalisch-literarischer Salons um 1900 auch noch gab.65 Unter einem sozialen Kreis versteht Simmel das Eingebundensein eines Individuums in ein bestimmtes soziales Gebilde bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei sind die Zugehörigkeiten eines Individuums zunächst willkürlich, durch die zufällige Umgebung der Geburt bestimmt und damit unabhängig von der Individualität eines Individuums.66 Im Hinblick auf die fortschreitende soziale Differenzierung und Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft geht Simmel davon aus, dass die Herausbildung von Individualität zunehmend von der Vielfalt sozialer Kreise bzw. der Zunahme der Zugehörigkeiten zu sozialen Beziehungskreisen bestimmt wird. Insofern entsteht Individualität für Simmel durch die jeweils unterschiedlich ausfallende Kombinatorik der Kreuzung sozialer Kreise. Dahinter steht die Annahme, dass jedes Individu-
61 Klaus Lichtblau: Zur Aktualität von Georg Simmel. Einführung in sein Werk, Wiesbaden 2019; Claudius Härpfer: Georg Simmel und die Entstehung der Soziologie in Deutschland. Eine netzwerksoziologische Studie, Wiesbaden 2014; Heinz-Jürgen Dahme: Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen u. Materialien, Frankfurt/M. 1984. 62 Simmels Ansatz ist ähnlich der Beziehungssoziologie Leopold von Wieses. Ders.: Beziehungssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1959, S. 66–81. 63 Simmel, Soziologie, S. 14, 23. 64 Simmel verwendet die Bezeichnungen „Kreise“ „kleine Kreise“ etc. oft äquivalent bzw. synonym zu „Gruppe“. Vgl. ebd., S. 63–159, 464–466. 65 Hartwig Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons, Berlin 1997; Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart 1993. 66 Vgl. Simmel, Soziologie, S. 456–458, 464–465.
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um in Wechselwirkung zu anderen Individuen lebt, Wesen und Verhalten eines Individuums also maßgeblich durch die Beziehungen bestimmt werden, die es zu anderen Individuen unterhält. Die dabei entstehenden interpersonellen Wechselwirkungen sieht Simmel als Grundlage für die Bildung sozialer Gruppen an. Danach bilden die Gruppen, denen ein Individuum sich anschließt bzw. angehört, ein spezifisches Koordinatensystem, wobei das Individuum durch jede „neu hinzukommende“ Gruppe „genauer und unzweideutiger“ zugleich bestimmt wird, da dieses durch diese neuen Relationen jeweils zusätzliche Eigenschaften erhält.67 Simmel versteht jede Persönlichkeit als Kreuzungspunkt unzähliger sozialer Fäden, als das Ergebnis verschiedenster Beziehungskreise sowie Adaptions- und Anpassungsleistungen.68 Damit sieht er die individuelle Persönlichkeitsbildung in hohem Maße durch seine Gruppenexistenz, durch seine innerlichen und äußerlichen Verbindungen mit sozialen Gruppen bestimmt.69 Zugleich betont Simmel, dass das Spezifische jedes Individuums, die Eigenart der Persönlichkeit, durch die Kombination der Kreise gewahrt wird, insofern, als sich das Individuum zwar jeweils an die einzelnen sozialen Kreise „hingibt“, sich jedoch gleichzeitig durch die individuelle Kreuzung der sozialen Kreise profiliert und individualisiert.70 Es sind also nicht allein die Zugehörigkeiten oder Mitgliedschaften eines Individuums, die zu dessen Individualisierung beitragen. Für genauso entscheidend hält Simmel die individuelle Persönlichkeitslagerung, vor deren Folie die Normen, Diskurslinien und Orientierungsangebote der unterschiedlichen Beziehungskreise spezifisch ausgehandelt werden. Ein Kreis, der sich um etwas schließt – sei es als geometrische oder als soziale Figur – umschließt bestimmte Elemente und Inhalte, bildet also eine Grenze aus, die das Kreisinnere räumlich von der Kreisumgebung abgrenzt. Bei Simmel entspricht dies dem Rahmen der sozialen Gruppe, der den „Existenzraum“ der Gruppe definiert und nach außen absteckt und diese „als eine auch innerlich zusammengehörige“71 charakterisiert. Ein Kreis bildet im Hinblick auf seine soziale Umgebung eine relativ geschlossene Einheit – z.B. bezogen auf seine Ideen oder sein Verhalten –, in der mehrere Individuen miteinander in enger Wechselwirkung stehen, sich also wechselseitig beeinflussen und auf diese Weise gruppendynamisch bestimmte Bewusstseinsprozesse, Ideen und Sozialprak-
67 Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 240, sowie: Simmel, Soziologie, S. 466. Dazu auch Härpfer, Georg Simmel und die Entstehung der Soziologie in Deutschland, S. 19–49. 68 Vgl. Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 173–174, 241. 69 Vgl. Simmel, Soziologie, S. 77. 70 Ebd., S. 467. Vgl. auch Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 244. 71 Simmel, Soziologie, S. 694.
32 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag tiken prägen.72 Die Verdichtung von Wechselwirkungen und deren spezifische Dynamiken führen somit auch zu einer bestimmten inneren und äußeren Form und Struktur. Im Fall freideutscher Gruppenpraxis war dies die soziale Form des Kreises. Kreise sind strukturell offener und integrativer als verwandte Gruppenformate wie etwa Bund oder Verein. Vergleichbar ist die Organisationsform Kreis nur mit der Form der „Bündigung“, die von Jugendbewegten vor und nach dem Ersten Weltkrieg immer dann geschaffen wurde, wenn nicht die Absicht bestand, einen förmlichen Bund zu gründen.73 Im Gegensatz zu Kreisen haben Vereine festgefügte Organisationsstrukturen, Normierungen und Hierarchien.74 Während ordentliche Mitglieder eines Vereins in erster Linie formal und nur nachgeordnet persönlich miteinander verbunden sind, ihre Beziehung also erst durch die Vereinszugehörigkeit zu Stande kommt, werden Kreise primär durch Beziehungssysteme ins Leben gerufen, geprägt und aufrechterhalten. Die Verbindung ihrer Mitglieder ist also nicht zufällig oder basiert auf bloßer Zugehörigkeit, sondern Kreise bilden sich um bereits existierende Beziehungsgefüge aus. Sie beruhen konstitutiv auf persönlichen zwischenmenschlichen bzw. gegenseitigen freundschaftlichen Bindungen, die durch regelmäßige Beziehungsaufnahme sowie durch regelmäßige kleinere bis größere Gruppentreffen gepflegt, verdichtet und fundamentiert werden sowie durch die Verfolgung rational gesetzter Gruppenziele zusätzliche Verbindlichkeit erhalten können.75 Beziehungen von Person zu Person gehören damit konstitutiv zum „Lebensprinzip“ von Kreisen.76 Bei ihnen handelt es sich in erster Linie um beziehungs- und freundschaftsbasierte Kreise Gleichgesinnter, die bevorzugt auf informeller Ebene agieren und zunächst einmal auf sich selbst bezogen sind, bevor sie aus ihrem Gemeinschaftsleben heraus äußere Ziele entwickeln. Es sind kulturell und sozial aktive und produktive Gemeinschaften, die sich immer wieder neu durchmischen und zusammensetzen, wenngleich die meisten sich – wie dies etwa für den sich um Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel seit 1919 auf Sylt formierenden freideutschen Kreis gilt – um einen konstanten personellen Kern gruppieren, der das charismatische Zentrum dieser Kreise bildet. Deren innere Dynamik sorgt dafür, dass sich ihr Gleichgewicht stetig verändert und auch ihr Mittelpunkt sich verschieben kann. Aufgrund ihrer informellen Form müssen sich Kreise beständig 72 Vgl. Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 129–130. 73 Zum Begriff u. Vorgang der „Bündigung“ Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte. 1918–1933, Göttingen 2015, S. 270–272. 74 Vgl. Simmel, Soziologie, S. 72–74. 75 Vgl. dazu Friedrich H. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), H. 3, S. 431–456, bes. S. 432–436. Ferner Simmel, Soziologie, S. 401–402. 76 Simmel, Soziologie, S. 401.
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neu austarieren. Zumal – wie bei den Freideutschen der Fall – die Mitglieder eines Kreises mehr als einem Kreis zu- bzw. angehörig sein und durch ihre mehrfachen Zugehörigkeiten interpersonelle und inhaltliche Wechselwirkungen zwischen einzelnen Kreisen erzeugen können. Jeder Kreis überschneidet sich durch seine Angehörigen an einer oder mehreren Stellen mit anderen Kreisen, die wieder Überschneidungen mit weiteren Nebenkreisen aufweisen. Auf diese Weise ist ein Kreis direkt und auch indirekt mit zahlreichen kleineren oder größeren Kreisen verbunden. In diesen sozialen Überscheidungsräumen ergeben sich neue soziale Beziehungen sowie Informations- und Kontaktketten, die Verbindungen zu weiteren und auch weiter entfernten Kreisen ermöglichen. Nicht nur die einzelnen Kreise selbst, auch die Kreise untereinander sind von sozialen Beziehungen und freundschaftlichem Austausch geprägt. Bei Kreisen im Vordergrund stehen Gedankenaustausch, Vergewisserung und Verständigung in kulturellen, politischen und sozialen Fragen sowie ein regelmäßiges Gemeinschaftsleben und die soziale Beziehung und Freundschaft der Kreisangehörigen. Persönliche religiöse bzw. konfessionelle sowie parteiund gesellschaftspolitische Präferenzen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Bindung der Kreismitglieder basiert allein auf dem gemeinsamen Bekenntnis zum Freideutschtum und wird auf emotionaler Ebene durch persönliche Beziehungen und Freundschaften stabilisiert. Entsprechend ihrer Anlage funktionierten die freideutschen Kreise nach modernen demokratischen Grundsätzen, insofern das Gemeinschaftsleben nicht hierarchisch, sondern auf kommunikativer Aushandlung und Dialog aufgebaut war und niemand aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen Nachteile zu befürchten hatte.77 Kreise möchten durch ihre soziale Praxis und ihren geringen bzw. offenen Organisationsgrad immer auch den Unterschied zu staatlich und gesellschaftlich etablierten Organisationsstrukturen sowie die Unabhängigkeit von traditionellen bürgerlichen Hierarchien und Normen verdeutlichen. Dem Grundcharakter nach handelt es sich bei Kreisen weder um interessengeleitete Zweckgemeinschaften zur Erreichung äußerer gesellschaftlicher Ziele, noch um Kampfbünde mit politischer Agenda, sondern in erster Linie um charismatisch-emotionale Bindungsgemeinschaften mit ähnlich gelagerter Mentalitäts- und Interessenssphäre, um „Lebensbünde“78, die primär durch ein Netz persönlicher Beziehungen aufrechterhalten werden und deren Zweck zuvorderst nach innen gerichtet
77 Vgl. Entschließung zur Lage in den Freideutschen Kreisen Deutschlands, F.A. Fischer, Mitglied des Freid. Kreises Hamburg 1948 (AdJb N 14/136), S. 1. 78 Theodor Wilhelm: Der geschichtliche Ort der deutschen Jugendbewegung, in: Was war das – die Jugendbewegung? Drei Antworten von Theodor Wilhelm, Wilhelm Flitner und Hans Raupach, hgg. vom Gemeinschaftswerk Dokumentation der Jugendbewegung, Düsseldorf/Köln 1980, S. 5–27, hier S. 9.
34 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag ist. Die Bezeichnung „Lebensbund“ bezieht sich nicht nur auf die Dauer, sondern auch auf die Intensität und das identifikatorische Potential der Bindungen. Kreise dienen in erster Linie dem Selbstzweck, dem freien Gedankenaustausch, der gegenseitigen Weiterbildung und Freundschaftspflege, zunächst ohne Absicht auf Aktion nach außen. Aufgrund des informellen Charakters von Kreisen spielen sich Normen in ihnen zumeist gruppendynamisch-historisch ein und werden nicht formal festgehalten. In der Regel sind so zustande gekommene Gruppennormen dann impliziter Bestandteil von Kreisen, mehr latent als formal. Auch normative Veränderungen sind zumeist nur im praktischen Gruppenprozess beobachtbar.79 Als emotionalisierte Gruppen-, Gesinnungs- und Geselligkeitsform üben Kreise spezifische Sozialisationswirkungen auf ihre Mitglieder aus. In der Hinsicht, dass der unmittelbare und freundschaftsbasierte Grundcharakter der Sozialform Kreis bzw. die ihn prägenden persönlichen Beziehungen ihre Mitglieder potentiell umfassender beeinflussen, als stärker hierarchisierte, organisierte oder aufgrund ihrer Mitgliederzahl vergleichsweise anonym strukturierte Gruppenformate.80 Neben der tiefgehenden sozialen Bindung ihrer Mitglieder, die relativ konstant auf eine bestimmte Kerngruppe bezogen ist, charakterisieren sich die Kreise der Freideutschen in erster Linie durch die Unmittelbarkeit und Ungezwungenheit der Kontakte, durch die Häufigkeit der gemeinschaftlichen Aktivität, durch die relative Konstanz und Stabilität der Beziehungen, durch die überschaubare Organisation in Kerngemeinschaften, durch ein breites selbsterzieherisches Betätigungsspektrum sowie durch ausgeprägtes soziales Verantwortungs- und Gestaltungsbewusstsein. In dieser Hinsicht weisen die freideutschen Kreise den Charakter vitaler Primärgruppen auf. Der beträchtliche persönliche Stellenwert, den die freideutschen Kreise für ihre einzelnen Mitglieder hatten, stellt diese als klassischen Typus „der modernen nichtfamiliären Primärgruppe“81 heraus. Die auffällige Sozial- und Milieuform Kreis rückt ein spezifisches Verständnis von Organisation in den Blick. Als originär bildungsbürgerliche bzw. akademische Gesinnungsgemeinschaft betont die formal und hierarchisch offen konzipierte Geselligkeitsform des Kreises eine grundsätzliche strukturelle Distanz gegenüber dem Organisations- und Regulationsprinzip der modernen Gesellschaft bzw. gegenüber den Organisationsprinzipien juristischer Vereinigungen im Sinne bürgerlichen Rechts. Die Intellektuellensoziologie hat die Grundskepsis intellektueller bzw. gebildeter Schichten gegenüber allem Organisatorischen als 79 Vgl. Hartmann Tyrell: Zwischen Interaktion und Organisation. Gruppe als Systemtyp, in: Neidhardt, Gruppensoziologie, S. 75–87, hier S. 80. 80 Vgl. Friedhelm Neidhardt: Themen und Thesen zur Gruppensoziologie, in: Ders., Gruppensoziologie, S. 12–34. 81 Wilhelm, Der geschichtliche Ort der deutschen Jugendbewegung, S. 11.
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milieuspezifisches Charakteristikum gefasst und festgestellt, dass kleine Gruppen und Zirkel die präferierte soziale Gemeinschafts- und Gesellungsform intellektueller Milieus sind. Der liberale Späthumanist und Soziologe Alfred von Martin war der Auffassung, dass es unter Intellektuellen „selten zu mehr als ganz freien Formen loser Treffen zu Begegnung und Meinungsaustausch“ kommt,82 dass es also so etwas wie die „,typische‘ Intellektuellenorganisation“83 schlichtweg nicht gibt, weil Organisation über ein bestimmtes nützliches Maß hinaus grundsätzlich untypisch ist für Intellektuelle. Diesbezüglich weisen moderne intellektuelle Gesellungsformen wie Kreis oftmals eine Skepsis gegenüber rationalistisch-mechanistischen Strukturen sowie starren Organisationsformen und Hierarchien bis hin zu staatlichen Institutionen auf. In der Vernachlässigung der Rationalität und des Organisatorischen begründet sich auch die Präferenz lebendiger Primärgruppen für das Konzept von Führer und Gefolgschaft bzw. für charismatische Führungspersönlichkeiten.84 Aus der Institutionenskepsis bzw. der Ablehnung staatlich-gesellschaftlicher Hierarchien erwächst zum Teil auch der Impuls, in den eigenen Reihen neue nicht vom rationalistisch-mechanistischen Weltbild geprägte Führungseliten zu kultivieren, also einen völlig neuen Bürger- und Menschentypus auszubilden. Aufgrund ihres informellen Charakters kennen Kreise kaum eine Differenzierung von Rollen und Personal. Zwar entwickeln sie gruppenhistorisch typische Ansätze, mitunter auch deutlichere Ausprägungen von Rollendifferenzierung – hierarchisch, arbeitsteilig und bezogen auf die Gruppenkommunikation –, jedoch steht und fällt eine solche Rollendifferenzierung mit den Akteuren, die sie intellektuell und praktisch prägen.85 Kreise sind daher von wechselnden Rollenverteilungen geprägt, wobei bestimmte Funktionsrollen bisweilen auch unbesetzt bleiben bzw. mit der Zeit auch wieder ganz wegfallen können, da zumindest in formaler Hinsicht kein Zwang zur Besetzung besteht. Ausscheidendes Personal wird nicht in jedem Fall ersetzt bzw. kann nicht immer ersetzt werden, dies gilt insbesondere für charismatische Führungsmitglieder eines Kreises, deren soziale Bindungskräfte sich nicht einfach organisatorisch kompensieren lassen. In ihrer akademisch geprägten Gemeinschaftsordnung und -praxis wichen die freideutschen Kreise bewusst von gängigen bürgerlichen Institutionalisierungs- und Organisationsformen wie Verein, Partei oder auch Interessenverband ab und organisierten sich abseits einschlägiger staatlich getragener Großorganisationen. Dies hatte nicht nur mit milieuspezifischen Präferenzen für bestimm-
82 Martin, Mensch und Gesellschaft heute, S. 205. 83 Richard Faber/Christine Holste: Vorwort, in: Dies., Kreise – Gruppen – Bünde, S. 7–22, hier S. 7. 84 Vgl. Wilhelm, Der geschichtliche Ort der deutschen Jugendbewegung, S. 11. 85 Vgl. Tyrell, Zwischen Interaktion und Organisation, S. 80.
36 | Die Freideutschen: das 20. Jahrhundert als Gestaltungsauftrag ten Geselligkeitsformen zu tun, sondern dahinter stand auch die Überzeugung, als kulturelle Avantgarde größeren gesellschaftlichen Einfluss entwickeln bzw. größere Veränderung herbeiführen zu können, als politische Parteien oder Interessenverbände dies mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Entscheidungswegen vermochten, zumal keine politische Partei für sich in Anspruch nehmen konnte, mit ihrem Programm gesellschaftlichen Konsens herstellen zu können. Eben weil man sich selbst als Avantgarde betrachtete, für die es bis auf wenige Anknüpfungspunkte zur national-liberalen Studentenbewegung des Vormärz keine historische Vorlage gab, organisierte man sich nicht in einer Partei oder staatlichen Verbänden, sondern in Gesprächs- und Arbeitskreisen, in denen politische Mechanismen und Hierarchiedenken keine Geltung hatten. Wesentlich für die freideutschen Kreise war ihre undogmatische innere Verfasstheit. Zusammengehalten wurden ihre Angehörigen primär durch ihr gemeinsames Programm: Freideutsch. Dies zeigte sich insbesondere auch vor dem Hintergrund der Politisierungsphase der Freideutschen im und nach dem Ersten Weltkrieg. Trotz der politischen Lagerbildung in konkurrierende politische Flügel blieben die Freideutschen durch ihr Bekenntnis zum Freideutschtum ideell miteinander verbunden und suchten nach Gemeinsamkeiten und verbindenden Elementen. Freideutsch-Sein war mit einem bestimmten Zugehörigkeitsgefühl, einem gemeinschaftsstiftenden Selbstverständnis verbunden, das einer mentalitär und programmatisch in sich geschlossenen Eigenlogik folgte, die durch die Selbstinterpretation als Avantgarde und von der Leitidee eines zukünftigen deutschen Kulturstaates auf Grundlage des freideutschen Selbstbildungsprogramms bestimmt war. Aus den mentalitär-kulturellen Merkmalen freideutscher Kreise leitet sich nicht nur das spezifisch Bildungsbürgerliche der Freideutschen ab, sondern aus ihnen ergibt sich auch der Umstand, dass sich Entwicklung und gesellschaftlicher Einfluss der Freideutschen kaum hinreichend anhand einer klassischen Institutionengeschichte nachvollziehen und abbilden lässt, zumindest dann, wenn unter einer Institution ein organisiertes und öffentlich anerkanntes Regelsystem verstanden wird. Konsolidierung, Strukturierung und Verstetigung der Freideutschen geschah durch größere und kleinere Arbeitskreise, übergreifende Konvente und Gemeinschaftsbündnisse, eine Vielzahl von Zeitschriften und andere Kommunikationsformate sowie durch die Entwicklung eigener Bildungs- und Erziehungsformen und -institutionen – jeweils verstanden als Prozesse, deren regelmäßige Praxis und Wiederholung zur Herausbildung dauerhafter Strukturen, Kulturtechniken und Gruppennormen führten. Aus sozialpsychologischer Perspektive stellen die freideutschen Kreise zum einen einen identitäts- und sinnstiftenden sowie sozial stabilisierenden Parallelprozess zu den Transformationsvorgängen und Pluralisierungstendenzen der
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Modernisierung dar sowie zu den damit einhergehenden Eindeutigkeitsverlusten, Unübersichtlichkeitssteigerungen und Orientierungserschwernissen. Zum andern waren sie ein verlässlicher Interaktions-, Aktions-, Experimentier-, Übungs- und sozialpsychologischer Vergewisserungsraum, der die nötige Gruppenstabilität für einen konstruktiven Umgang mit den Potentialen und Herausforderungen geliefert und gegen bestimmte radikale Homogenitätsbestrebungen und politische Ideen geschützt hat. Der stützende Gruppeneffekt der freideutschen Kreise war die Voraussetzung für die Entstehung eines spezifischen Eliteund Gestaltungsbewusstseins innerhalb der freideutschen Gruppierung und entscheidend für die Kultivierung der Idee der Erziehung einer kulturellen Führungselite. Die überschaubare Größe der Kreise war zudem entscheidend für die Entwicklung einer produktiven Soziabilität und Kommunikation unter den Freideutschen und mithin für die Ausprägung ihres charakteristischen Denkstils. Schließlich können sich Denkkollektive wie Freideutschen nur unter bestimmten sozialen und organisatorischen Voraussetzungen herausbilden, wesentlich hierfür sind Regelmäßigkeit der Zusammenkünfte, zeitliche Beständigkeit und ein offener Denk- und Dialograum. Nicht von ungefähr entwickeln sich Ideen, Denkstile und kulturelle Praxis von Avantgarden in der Regel in kleinen operativen Zellen – man denke an den Wiener Kreis des Neopositivismus in den 1920er und 30er Jahren –, so wie es sich auch bei Ideengebern und Avantgarden in der Regel immer um Minderheiten handelt, die nur deswegen als Herausragende erkennbar sind. Vor dem Hintergrund umfassender gesellschaftlicher Veränderungen hatten die freideutschen Kreise stabilisierende Funktion. Sie dienten der wechselseitigen sozialen Vergewisserung, Bestätigung und Ergänzung. Gruppenzusammenhalt und -identität, personelle Überschaubarkeit und das enge Beziehungsgeflecht ihrer Kreise kompensierten, ein Stück weit, soziale Differenzierung und glichen innere wie äußere Verhaltensunsicherheiten aus. Indem sie die Grundprinzipien von Selbstbildung und Freundschaft für sich verbindlich machten, wirkten sie Vermassungs- und Entpersonalisierungstendenzen der modernen Gesellschaft entgegen. Die freideutschen Kreise bilden damit den klassischen Typus einer modernen Verständigungs- und Orientierungsgemeinschaft im 20. Jahrhundert. Primäres Ziel freideutschen Gemeinschafslebens war die individuelle Förderung und Bildung in dauerhaften Selbstbildungsgemeinschaften, eine an die An- und Herausforderungen sowie Gestaltungsmöglichkeiten der Modernisierung angepasste zukunftsgerichtete Lebens-, Bildungs- und Gemeinschaftspraxis; sodann die Suche nach tragfähigen kulturell-sozialen Normen und Werten sowie politisch-ökonomischen Ordnungsprinzipien; schließlich die Kultivierung einer handlungsfähigen und sozial wie ethisch-moralisch verantwortungsbewussten kulturellen Bildungs- und Führungselite, die im Sinne des Gemeinwohls und der (inter-)kulturellen Verständigung handeln sollte.
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Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen in der Generationslagerung der bürgerlichen Jugendbewegung im Wilhelminischen Deutschland von 1888 bis 1914
1 Gesellschaftliche und politische Voraussetzungen freideutscher Gestaltungspraxis Der durch den raschen industriellen Aufschwung der 1870er/80er Jahre beschleunigte innergesellschaftliche Wandel kollidierte in Deutschland nach dem Ende der liberalen Ära (1867–1877) mit einer zunehmend auf Bewahrung ausgerichteten politischen Ordnung. Bismarcks konservative Wende 1878 nahm dem politischen Liberalismus die Chance, eine gestaltende Kraft im Parteienspektrum zu werden. Diese richtete sich gegen das Bestreben der Liberalen, die Parlamentarisierung der Reichsverfassung durchzusetzen und die Kontrolle der Reichsregierung durch die Reichstagsparteien zu gewährleisten.1 Der rasanten sozialökonomischen und technischen Modernisierung stand die Behauptungskraft gesellschaftlicher und politischer Traditionsmächte gegenüber, die insbesondere in Preußen die demokratische Entwicklung blockierten. Das deutsche Staatsmodell hatte sich seit der Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 als ein im europäischen Vergleich einzigartiger Dualismus aus einerseits moderner Industrienation und andererseits konstitutioneller Monarchie mit krypto-absolutistischer Verfassung und einer im Verhältnis unterentwickelten parlamentarischen Kultur entwickelt.2 Das militärisch-politische System des Deutschen Kaiserreichs und die gesellschaftlich-kulturellen wie auch die ökonomischen Entwicklungen mit ihrer eigenen Dynamik passten nicht zueinander und erzeugten erhebliche Krisenherde3 und Spannungen. Mithin waren die Liberalisierungs-, Demokratisierungs- und Pluralisierungstendenzen der Modernisierung und die damit einhergehenden sozialkulturellen und normativen Verschiebungen nicht durch eine an diese Entwicklungen angepasste politische Ordnung abgefedert. Zwar entwickelte sich der Reichstag als Forum gesellschaftlicher Verständigung bis 1914 zu einem wichtigen Verfassungsorgan und war nicht mehr das anfängliche demokratische Feigenblatt. Trotzdem hatte das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft im Kaiserreich klare Grenzen. Die entstehende allerdings autokratisch gedeckelte Zivilgesellschaft war mit der einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie von heute nicht vergleichbar. Auch der damalige 1 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Konjunkturen von Liberalismus im 20. Jahrhundert. Das deutsche Beispiel, in: Marx/Reitmayer, Die offene Moderne – Gesellschaften im 20. Jahrhundert, S. 173–188, hier S. 174. 2 Vgl. Dieter Langewiesche: Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeption und Ergebnisse, in: Ders. (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 79, Göttingen 1988, S. 11–19. 3 Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozialund Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970. https://doi.org/10.1515/9783110783667-003
42 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 Föderalismus war keine Stütze der Demokratie. Die monarchische Föderalordnung sollte zuvorderst die einzelnen Monarchien vor dem Parlamentarismus schützen. Insbesondere finanz- und kulturpolitische Fragen wurden nicht im Reichstag, sondern in den Landtagen entschieden, wieder andere Fragen in den Kommunen. Nicht von ungefähr war die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 historisches Vorbild für die Weimarer Reichsverfassung und nicht die Föderalverfassung von 1871. Bürgerliche Herrschaft im Sinne politischer Entscheidungsgewalt blieb bis zum großen Demokratisierungsschub, der mit der Revolution von 1918/19 und der Weimarer Republik kam, ein Wunschtraum. Zwar wurde im Kaiserreich das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Männer eingeführt, was damals ausgesprochen fortschrittlich war – parlamentarische Monarchien wie Belgien oder Großbritannien kannten dies nicht –, das demokratische Wahlrecht wurde allerdings durch ein Parlament ohne entscheidende Kontroll- und Entscheidungsfunktionen konterkariert. Zudem gab es erhebliche Unterschiede zwischen National- und Landeswahlen. Das Wahlrecht zu den Landesparlamenten war überall undemokratischer als das des Reichstags, ganz besonders im größten Teilstaat Preußen mit seinem öffentlichen und indirekten Dreiklassenwahlrecht, das bis 1918 Bestand hatte. Die Gesellschaft des Kaiserreichs lernte ein Stück weit praktische Demokratie bei nationalen Wahlen, aber gleichzeitig sorgten landesstaatliche und kommunale Politikebenen dafür, dass Demokratisierungs- und Politisierungsprozesse ins Leere liefen und alte Politikmuster erhalten blieben. Die stetige Zunahme der Wählerschaft und der Wahlbeteiligung ging im Kaiserreich nicht mit einer Ausdehnung der parlamentarischen Befugnisse einher. Die durch die Hochindustrialisierung bestimmte Wilhelminische Epoche seit 1888 war geprägt von diesen Widersprüchen, die sich im Spannungsfeld zwischen politischem Autoritarismus, kulturellem Konservatismus und Liberalisierung konstellierten.4 In seiner Zuspitzung auf den Gegensatz von Kaiser und Bürger war der Wilhelmismus Ausdruck eines umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs.5 Zweifellos war das Kaiserreich ausgestattet mit liberalen und demokratischen Potentialen, beherrscht war es aber von einer politischen Ordnung und den Interessen alter Machteliten, die den Durchbruch zu einer parlamentarischen Demokratie bis zum Schluss verhinderten. Auch wenn es die Erzählung des Kaiserreichs also kompliziert macht: wirtschaftlich-soziale und technische Evolution und eine tendenziell demokratisierende Massenpolitisierung waren offenkundig auch ohne weiterreichende politische Modernisierung möglich.
4 Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2010, S. 655. 5 Vgl. dazu Rüdiger vom Bruch: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2005, S. 25–51.
1 Gesellschaftliche und politische Voraussetzungen
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Dass es in einem Staat, der die staatliche Exekutive grundsätzlich über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung stellte, auch Demokratisierungserfolge gab und sich die bürgerliche Gesellschaft in manchen Gesellschaftsbereichen verwirklichte, ist kein Widerspruch. Das Kaiserreich war beides: einerseits das Gehäuse für wirtschaftlichen Aufstieg und gesellschaftlich-kulturellen Wandel, andererseits Entwicklungshemmer parlamentarischer Demokratie. Die zunehmend industriekapitalistische Ausrichtung des Staates und die sukzessive Entwicklung einer kapitalistisch-industriegesellschaftlichen Lebensordnung in den Städten führten dort zu vermehrten Konfrontationen zwischen dem beamtisch geprägten Bildungsbürgertum und dem besitz- und kapitalgelenkten Wirtschaftsbürgertum, was zur Polarisierung des gesamten Bürgertums beitrug.6 Die zeitgenössischen Debatten über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften sowie die theoretische und funktionale Begründung der letzteren sind das deutlichste Indiz für diesen Transformationsprozess. Die Geisteswissenschaften beerbten Philosophie und Theologie und thematisieren ausdrücklich die Sinnkrise der Zeit und die neuen Orientierungsprobleme im Bereich des sozialen und politischen Handelns, aber auch der individuellen Lebensführung.7 Ungelöste soziale Fragen, Abstiegsängste und kulturelle Deutungskämpfe trafen zeitgleich auf das erhebliche Potential von wissenschaftlichem Fortschritt und technischer Innovation. Innerhalb des Bürgertums entstand dadurch ein spezielles Klima aus Gestaltungsoptimismus und Kulturpessimismus. Die Zeit um 1900 definiert sich in dieser Hinsicht als umfassende sozialkulturelle Neuorientierungs- und Übergangsphase, als Epochenschwelle, an der die Lebenseinstellungen, Werte, Hierarchien und Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts8 auf die sich neu auftuenden technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Freiräume der beginnenden industriekapitalistischen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts trafen. Als das 20. Jahrhundert anbrach, befanden sich nahezu alle sozialen Felder des Kaiserreichs in Bewegung und versetzten sich gegenseitig in Schwingung. Das anbrechende Jahrhundert wurde gleichermaßen als Her-
6 Jürgen Kocka: Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl, 3. Bde., Bd. 1, Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–75; Ders. (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl, 3. Bde., Bd. 2, Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995; Ulrich Engel hardt: „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986, S. 147–178, hier S. 149–15. 7 Dazu Ulrich Herrmann: Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, in: Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 147–178. 8 Manfred Hettling: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
44 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 ausforderung und Chance wahrgenommen. Bei allen partiellen Überforderungserscheinungen bedeutete die Öffnung der Gesellschaft in erster Linie ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten und individueller Freiheit. Der Begriff „Zukunft“ war in aller Munde und etablierte sich zur mobilisierenden Chiffre und Projektionsfläche vielgestaltiger humanistischer, sozialer und kultureller Gestaltungshoffnungen unterschiedlicher Gruppierungen und Gesellschaftsteile.9 Dies war der gesellschaftliche Nährboden, auf dem sich Ende des 19. Jahrhunderts Sezessionen wie die Jugend- und Lebensreformbewegungen10 und Avantgarden wie die Freideutschen entwickelten. Mit dem Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik hatten sich im Kaiserreich die Schwerpunkte sozialen Ansehens und gesellschaftlicher Macht verlagert. Traditionelle Interpretationsmuster der Weltdeutung und Lebensführung wurden durch neue ersetzt und mit ihnen auch die Führungseliten. Techniker und Ingenieure, Unternehmer und Kaufleute, Mathematiker, Naturforscher und Ärzte traten an die Stelle der Philologen und Historiker, der Theologen und Juristen. Theoretisch konkurrierten die Deutungsangebote von Georg W. F. Hegel, Leopold von Ranke, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt mit den Erkenntnissen und der Empirie von Charles Darwin, Ernst Haeckel, Hans Virchow und Hermann von Helmholtz.11 Als aufsteigende Funktionselite identifizierte sich das Wirtschaftsbürgertum größtenteils problemlos mit der industriekapitalistischen Ausrichtung des Staates, schickte seine Söhne nach Möglichkeit zum Wirtschafts- und Technikstudium an die Universitäten und Technischen Hochschulen und orientierte sich bevorzugt an der staatlichen Autorität sowie an nationalistisch-imperialistischen Ideen. Das Bildungsbürgertum hingegen konnte sich den neuen Maximen nur schlecht anpassen, artikulierte die Verschiebung des normativen Ordnungsrahmens als fundamentale Wertekrise und meldete vermehrt Widerstand an gegen die kapitalistischen Werte und einen davon getragenen Fortschritt, obwohl dessen Betätigungsfelder von öffentlichen Geldern und Steuermehreinnahmen finanziert wurden und es selbst in hohem Maße vom Wirtschaftswachstum profitierte. Bei allem Unmut über die zunehmende industriekapitalistische Ausrichtung des Staates und dem damit verbundenen Verlust an politisch-kultureller Deutungsmacht schuf letztlich der autoritäre Schutzmantel des wirtschaftlich pro-
9 Ute Frevert: Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000. Ferner Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/M. 1999. 10 Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. 11 Vgl. Herrmann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, S. 149.
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sperierenden Kaiserreichs und die gesellschaftliche Neuorganisation von Arbeit und Wertschöpfung jene politische Stabilität und sozialen Freiräume, die dem Bildungsbürgertum strukturell seine gesellschafts- und kulturkritische sowie lebensreformerische Praxis ermöglichte. Erst der grundlegende technisch-soziale und ökonomische Wandel der Gesellschaft, die Expansion des ökonomischindustriellen Systems und die dadurch für das Bildungsbürgertum entstehenden Freiräume ließen viele Forderungen der europäischen Aufklärung realisierbar erscheinen. Die primär vom Bildungsbürgertum getragene bürgerliche Jugendund Lebensreformbewegung wurde letztlich erst durch das ökonomische System und die Prosperität des wilhelminischen Kaiserreiches ermöglicht. Umgekehrt wirkten ihre breit gefächerten kulturkritischen bzw. -reformerischen Praxen auch auf das politisch-ökonomische System zurück. Die Jugend-, Alternativ- und Subkulturen bewegten sich grundsätzlich nur in denjenigen Spiel- und Freiräumen, die ihnen die dominante Erwachsenenkultur bzw. bürgerliche Mehrheitsgesellschaft ermöglichte und überließ. Der Ausbau des Bildungssystems, die Entwicklung der Arbeitsschutzbestimmungen sowie der allgemeine Produktivitätsfortschritt entlastete die bildungsbürgerliche Jugend und deren Elternhäuser von materiellen Zwängen, wodurch dieser neue soziale und kulturelle Freiräume entstanden, in die sie gestaltend vorstoßen konnte.12 Während die Jugendlichen der Arbeiterklasse, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Arbeiterjugendbewegung zu engagieren begannen, früh in den Arbeitsprozess integriert wurden, hatte die in der bürgerlichen Jugendbewegung engagierte Jugend weitgehend das Privileg, ihre Jugendzeit als „pädagogisches Moratorium“13 zu erleben und profitierte – in der Mehrzahl frei von materiellem Druck und infolge der höheren Schulbildung – von einer verlängerten Adoleszenz- und Ausbildungsphase auf den Gymnasien und Universitäten. Sehr oft mit Unterstützung ihrer Eltern, nutzte die bildungsbürgerliche Jugend die sich im Kaiserreich eröffnenden Freiräume, um ihre Autonomiebestrebungen mehr oder weniger expressiv zu verfolgen. Zeitgleich meldete der Staat, nicht zuletzt bedingt durch das Anwachsen der bürgerlichen Jugendbewegung und der Arbeiterjugendbewegung, wachsendes Interesse an einer Betreuung der Jugend außerhalb von Familie und Schule an und unterminierte damit zusätzlich das Selbstverständnis der bildungsbürgerlichen Eliten.
12 Vgl. Klaus Plake: Reformpädagogik. Wissenssoziologie eines Paradigmenwechsels, Münster/ New York 1991, S. 210–212, 221–222. 13 Jürgen Zinnecker: Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, in: Dietrich Benner/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext (Zeitschrift für Pädagogik; Beiheft 42), Weinheim 2000, S. 36–68.
46 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 Auch die beiden großen christlichen Kirchen verfügten jeweils über eigene Jugendorganisationen, die allerdings nicht für alle Jugendlichen attraktiv waren. Die wachsende soziale und politische Anerkennung der neuen ökonomischen Eliten sowie ein sich stärker im Bildungsbereich engagierender Staat lösten vielfältige Statusunsicherheiten bei den bildungsbürgerlichen Eliten aus, die ihre kulturelle Hegemonie zu verteidigen suchten und ihre soziale Position neu bestimmen mussten. Das Bildungsbürgertum bezog sein Selbstbewusstsein mehrheitlich aus der Ablehnung der neuen Werte und ihrer Repräsentanten und aus dem Wertebestand der klassischen Bildung und erstrebte eine Zukunft, in der dieses bildungsbürgerliche Ethos geltend gemacht werden konnte.14 Es flüchtete sich in die Überhöhung traditioneller bildungsbürgerlicher Werte und strebte in nicht geringem Maße völkischen Ideen15, vielmehr jedoch der mit dem deutschen Idealismus verbundenen und später zu Teilen in der Staatszielbestimmung der Weimarer Republik verwirklichten Idee eines deutschen Kulturstaates16 nach; Kultur, Bildung und Kulturvolk wurden als die natürlichen Substanzen des Politischen begriffen. Damit einher ging eine für die deutsche Denktradition charakteristische Trennung zwischen Kultur und Politik bzw. analog diejenige von Geist und Macht, die das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums bis ins 20. Jahrhundert prägte. Die Sphäre der Kultur entwickelte sich zum bevorzugten Wirkungsfeld bildungsbürgerlicher Kreise. Der Kulturbegriff wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von den bildungsbürgerlichen Eliten vermehrt politisch interpretiert und um Sphäre der Kulturpolitik erweitert, trafen doch in dem Begriff das Zweckfreie und Kreative der Kultur und das Regelhafte und Interessengeleitete
14 Vgl. Nori Möding: Die Angst des Bürgers vor der Masse. Zur politischen Verführbarkeit des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Berlin 1984, S. 177. 15 Thomas Vordermayer: Bildungsbürgertum und völkische Ideologie. Konstitution und gesellschaftliche Tiefenwirkung eines Netzwerks völkischer Autoren (1919–1959), Berlin 2015; Wolfgang Bialas: Politischer Humanismus und „verspätete Nation“. Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus, Göttingen 2010; Rüdiger vom Bruch: Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich – Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Bd. 4, Stuttgart 1989, S. 146–179; Klaus von See: Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt/M. 1975. 16 Rüdiger vom Bruch: Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: Rüdiger vom Bruch/Gangolf Hübinger/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Stuttgart 1989, S. 63–101.
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der Politik aufeinander.17 Die traditionellen Vorbehalte des Bildungsbürgertums gegen alles Politische blieben trotzdem ein Faktor, der bewirkte, dass bildungsbürgerliche Eliten ihren kulturellen Auftrag zwar als politisch verstanden, Politik aber in der Regel nur indirekt mit den Mitteln der Kultur betrieben. Sie sahen es als ihre Aufgabe und Verantwortung an, die sozialen Folgen von Technik und Industrie sowie die Folgewirkungen der Naturbeherrschung und -ausbeutung ethisch zu reflektieren und die Entwicklungen im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Sie rangen nicht nur um ihr Verhältnis zu den Natur- und Technikwissenschaften, sondern suchten auch nach Orientierungspunkten und neuen Aufgaben(-gebieten) innerhalb einer wachsenden technisch-wissenschaftlichen Zivilisation.
17 Vgl. Gerd Dietrich: Rolle und Entwicklung der Kultur, in: Clemens Burrichter/Detlef Nakath/ Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Ein Handbuch, Berlin 2006, S. 1001–1048, hier S. 1001.
2 Freideutscher Entwicklungshorizont: Die Bildung bürgerlicher Jugendkulturen Vor dem Hintergrund des von der Industrialisierung ausgelösten bildungsbürgerlichen Kultur- und Wertekampfes erhielten die klassische Bildung und damit auch die Bildungsträger und die Adressaten von Bildung – humanistische Gymnasien, Schuljugend und Studierendenschaft, in geringerem Maße auch die Arbeiterjugend – einen völlig neuen Stellenwert und wurden im Sinne des bildungsbürgerlichen Kultur- Wertekampfes funktionalisiert.18 Nationale und kulturelle Hoffnungen projizierte das erwachsene Bildungsbürgertum auf die junge Generation, die als Träger zukünftiger Entwicklungen sozial aufgewertet wurde. In dieser Hinsicht war die zu verzeichnende Konjunktur von Jugend innerhalb des bildungsbürgerlichen Milieus eine direkte Folge des sozialen Wandels, sowie ferner eine Reaktion auf die zeitgleich auch politisch einsetzende Auseinandersetzung mit der Jugend des Kaiserreichs und der entstehenden staatlich organisierten Jugendpflege. Das Konkurrieren um die Jugend und damit um die Deutungshoheit und mithin die Zukunft wurde noch dadurch verschärft, dass sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts abzeichnete, dass die (humanistischen) Gymnasien, ihr bisheriges Monopol allein die Zugangsberechtigungen zum Universitätsstudium verleihen zu können, angesichts der neu entstandenen konkurrierenden Schulformen auf Dauer nicht würden halten können. Die Vertreter der humanistischen Gymnasien verteidigten den ihrer Meinung nach einzigartigen Bildungsauftrag ihrer Schulen, die freie menschliche Bildung, jedoch hatten die Kritiker der humanistischen Gymnasialbildung langfristig die wirksameren Argumente auf ihrer Seite. Kaum von der Hand weisen ließ sich deren Kritik, dass die elitäre Gymnasialbildung an den Erfordernissen und Bedürfnissen der Massen, einer sich wandelnden und stetig weiter differenzierenden Gesellschaft vorbei ging. Das Wirtschaftsbürgertum wollte seine Kinder nicht auf die humanistischen Gymnasien schicken. Im Bildungsbürgertum beklagte man dagegen einen allgemeinen Verfall der Bildung durch instrumentelles Nutzendenken, Wertewandel und durch die Popularisierung und Trivialisierung von Bildungsinhalten. Der diese Diskrepanz widerspiegelnde Schulkampf dauerte von 1859 bis 1900 und endete schließlich mit der Gleichstellung der Berechtigungen aller drei höheren Schulen (Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule).19 Das Schul- und Hochschulwesen erlebte einen rasanten Ausbau. 18 Vgl. Jürgen Reulecke: Utopische Erwartungen an die Jugendbewegung 1900–1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 199–218. 19 Vgl. Herrmann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, S. 149–151. https://doi.org/10.1515/9783110783667-004
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Kritik an Inhalt und System von Bildung hatte sich nicht nur bei den neu entstandenen wirtschaftlichen Eliten geregt, sondern auch in den Reihen des Bildungsbürgertums selbst. Nietzsche, Paul de Lagarde und etliche Reformpädagogen, unter anderem auch Gustav Wyneken, entfalteten eigene Formen der Bildungskritik und wandten sich gegen die „Lernschule, die bildungsbürgerliche ,Bildung‘ als äußerlicher Politur“20. Auf ihre eigene Weise strebten sie nach neuen pädagogischen Denkformen sowie Erziehungs- und Menschenbildern. Was mit Nietzsches Bildungskritik begann, führte zur Entstehung von Reformbewegungen innerhalb des Bildungswesens und um 1900 zum Aufkommen der Reformpädagogik. In den Blickpunkt gerieten immer stärker auch vernachlässigte Gebiete wie Mädchen- und Frauenbildung, Erwachsenenbildung, Vorschulerziehung und Sozialpädagogik und außerschulische Jugendbildung/-fürsorge.21 Allgemein lässt sich für die Hochindustrialisierungszeit in Deutschland eine gesteigerte öffentliche Sensibilität für das Thema Jugend feststellen, wobei Jugend als problematische Lebensphase von Erwachsenenseite und auch von der Jugend selbst zunehmend stärker thematisiert wurde.22 Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 setzte im Kaiserreich eine breit angelegte staatliche Kampagne um die männliche Jugend ein. Diese hatte das Ziel, die Jugend durch eine entsprechend gesteuerte Jugendpolitik – dazu gehörte vor allem die Förderung des Breiten- und Massensports und der kommunalen Jugendpflege sowie der Pfadfinderei und der Jugendwehren – vor dem wachsenden Einfluss der Sozialdemokratischen Partei zu schützen und ihr, auch durch entsprechenden Schulunterricht, eine staatstragende Gesinnung zu vermitteln. Mit der staatlichen Erziehungsförderung, die die „Kontrolllücke“23 zwischen Schule und Militärdienst bzw. Arbeitswelt schließen helfen sollte, ging auch eine konsequente und letztlich sehr erfolgreiche „mentalitäre Militarisierung“24 der männlichen Jugend einher, die zur massenhaften Kriegsfreiwilligkeit junger Arbeiter, Gymnasiasten und Studenten – unter ihnen auch viele Wandervögel und Freideutsche – bei Beginn des Ersten Weltkriegs beitrug. 20 Herrmann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, S. 163–164. 21 Vgl. ebd., S. 170. 22 Vgl. Ulrich Herrmann: Jugendzeit – Umbruchzeit. Jugendkrisen im Spiegel der deutschen Gesellschaftsgeschichte und Gesellschaftskrisen im Spiegel der deutschen Jugendgeschichte, in: Wolfgang Edelstein/Dietmar Sturzbecher (Hrsg.), Jugend in der Krise. Ohnmacht der Institutionen, Potsdam 1996, S. 41–53, hier S. 42. 23 Detlev Peukert/Richard Münchmeier: Historische Entwicklungsstrukturen und Grundprobleme der Deutschen Jugendhilfe, in: Sachverständigenkommission 8. Jugendbericht (Hrsg.), Jugendhilfe – Historischer Rückblick und neuere Entwicklungen. Materialien zum 8. Jugendbericht, Bd. 1, Weinheim 1990, S. 1–49, hier S. 8. 24 Ulrich Herrmann: Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, in: Baumgartner/ Wedemeyer-Kolwe, Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege, S. 61–69, hier S. 61.
50 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 Der Eingriff des Staates in die Erziehung – eine traditionelle Domäne des Bildungsbürgertums – forderte die bildungsbürgerlichen Eliten in ihrem Selbstverständnis heraus. Diese reagierten darauf, indem sie versuchten, durch die Förderung der Jugend und die gezielte Unterstützung jugendlicher und studentischer Emanzipationsbestrebungen ihren Einfluss und ihre Deutungshoheit im Erziehungsbereich zu erhalten bzw. auszubauen. In Frage kamen vor allem alternative Erziehungs-, Bildungs- und Vergemeinschaftungskonzepte, wie sie auch die Lebensreformbewegung, die Reformpädagogik und der Wandervogel aufbrachten. Deren Ideen standen nicht nur im Kontrast zur staatlich organisierten Jugendpflege, sondern waren auch auf anderen sozialen Feldern beheimatet, weswegen ihnen das Bildungsbürgertum, das innerhalb des staatlich festgefügten Erziehungssystems nach geeigneten sozialen und kulturellen Räumen zum Ausagieren alternativer Erziehungsansätze und Gemeinschaftsformen suchte, sehr aufgeschlossen gegenüberstand und mit der verstärkten Förderung einer sich bereits im (bildungs-)bürgerlichen Milieu formierenden, aus dem Wandervogel hervorgehenden Jugendbewegung begann. Konträr dazu stand das Bestreben des Staates, die Möglichkeiten jugendlicher Selbstbestimmung und die Verfügungsgewalt der Eltern einzuschränken. Die zunehmend wichtiger werdende funktionale Rolle für den Aufstieg des Kaiserreichs zur industriellen Großmacht machte die Jugend nicht nur im restriktiven, sondern auch im positiven Sinne zum Adressaten staatlicher Jugendpolitik. Im Gegensatz dazu erwuchs bei den Gymnasiasten und Studierenden bürgerlich-liberaler Herkunft, die sich nicht durch die staatliche Jugendpflege hatten vereinnahmen lassen und sich vor dem Ersten Weltkrieg alternativ in den Gemeinschaften der bürgerlichen Jugendbewegung zusammenfanden, der Anspruch, ihre Jugendzeit selbstverantwortlich zu gestalten, wenngleich innerhalb der Grenzen ihres Sozial- und Kulturmilieus.25 Der Sonderglaube der bildungsbürgerlichen Eltern- und Großelterngeneration an die Veränderungskraft der Jugend führte nicht nur zu einer Aufwertung der „jungen Generation“ und der Jugendzeit als eigenständige lebensgeschichtliche Entwicklungsphase, sondern ließ innerhalb der bildungsbürgerlichen Jugend auch ein besonderes Elite-, Verantwortungs- und Sendungsbewusstsein erwachsen, das dem Erwachsenenkult um die junge Generation und der wahrgenommenen Bedeutung ihres kulturellen Auftrags entsprach.26 In diesem Klima entwickelten sich verstärkt proaktive Selbstinszenierungen und authentische
25 Vgl. Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, S. 62. 26 Vgl. Frank Trommler: Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz (Hrsg.), „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1987, S. 14–49, hier S. 17. Ferner Thomas Nipperdey: Jugend und Politik um 1900, in: Walter Rüegg (Hrsg.), Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt/M. 1974, S. 87–114.
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Selbstthematisierungen von Jugend, die vielfach mit ganz eigenen Zukunftsentwürfen, -deutungen und -erwartungen verbunden waren und sich durch ihr hohes Maß an Gestaltungsbereitschaft von lediglich reaktiven oder destruktiven Inszenierungen und Protestformen von Jugend unterschieden. Bestärkt von der den Kultur- und Wertekampf beschwörenden Eltern- und Erziehergeneration wuchs in der bildungsbürgerlichen Jugend das Gefühl heran, sich im Interesse ihrer eigenen Zukunft von etablierten, jedoch für obsolet angesehenen Konventionen und Erziehungsformen befreien und stattdessen selbst finden zu müssen. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich letztlich im Geist des deutschen Idealismus formulierte Postulate wie das der Freiheit, der Selbstbestimmung und der „inneren Wahrhaftigkeit“ verstehen, wie sie in der auf dem Freideutschen Jugendtag 1913 entstandenen Meißner-Formel27 zum Ausdruck kamen. Zwar war eine solche Autonomieforderung der Jugend für sich genommen nichts Neues, neu war allerdings, dass diese von der bürgerlichen Jugendbewegung erstmals generationsspezifisch gewendet wurde. Wie viele erwachsene Bildungsbürger waren auch die Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung und insbesondere die Freideutschen der Auffassung, dass die tragenden Erziehungsinstitutionen der Zeit in eine Sackgasse geraten waren und keine zeitgemäßen Erziehungsziele mehr formulieren konnten, die angesichts der zukünftigen sozialen, politischen und globalen Herausforderungen sowie mit Blick auf die kulturellen Neuordnungspläne des Bildungsbürgertums Bestand hatten. Ein exemplarisches Dokument der Sinn- und Wegsuche der Freideutschen vor dem Ersten Weltkrieg stellt in diesem Zusammenhang Arnold Bergstraessers „Rückblick auf die Generation von 1914“28 dar. Hier wies er daraufhin, dass die wilhelminische Kultur und speziell die Universitäten im Hinblick auf gesellschaftlichen Entwicklungen und die drängenden Fragen der Zeit zu keiner anschlussfähigen „Gegenwartsdeutung“ im Stande gewesen wären, die bei der studentischen Jugend zu einer „hinreichend gesicherten Urteilsbildung“ hätte führen können. Dieser Eindruck war ausschlaggebend für die mentale Desintegration der Freideutschen im wilhelminischen Bürgertum und gleichsam der Anlass, für die Initiierung ihres selbstständigen universitären und außeruniversitären Selbstbildungsprogramms. Es ging um die „Selbsterziehung freier Menschen“, um die geistige und praktische Ausbildung „verantwortlicher Zeitgenos-
27 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 52. Zur Meißner-Formel s. u. S. 125–128. 28 Arnold Bergstraesser: Rückblick auf die Generation von 1914, in: Robert Tillmanns (Hrsg.), Ordnung als Ziel. Beiträge zur Zeitgeschichte. Freundesgabe zum 60. Geburtstag von Dr. Dr. hc. van Aubel, Stuttgart 1954, S. 7–19. Die nachfolgenden Zitate finden sich ebd. Auszugsweise auch editiert in: Werner Kindt (Hrsg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968, S. 634–639.
52 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 sen“, die fähig sein sollten, die sozialen und politischen Gegensätze der Zeit mit ihrer Persönlichkeit und ihren geistigen Voraussetzungen zu überbrücken. Das Selbstbildungsprogramm der Freideutschen sollte geistig anregende, kontemplative, aber auch ganz praktische Räume eröffnen. Es sollte ethisch und moralisch „beteiligte“ Zeitgenossen, „mitverantwortliche Staatsbürger“ hervorbringen, die sich durch Authentizität, Weltoffenheit, Liberalität und verantwortliches Handeln in der Gesellschaft auszeichneten. Bergstraessers Reflexionen deckten sich weitgehend mit Hermann Hesses 1919 veröffentlichter zeitkritischen Denkschrift „Zarathustras Wiederkehr“29, in der dieser sich unter dem Eindruck der Spartakistenaufstände der Novemberrevolution von 1918 anonym an die deutsche Jugend wandte und sich gegen den politischen Radikalismus von rechts und links und für einen sich selbst reformierenden, tatbereiten Menschen stark machte. Trotz aller unbeantworteten Zukunftsfragen blieben politische Provokationen und Konfrontationen seitens der bildungsbürgerlichen Jugend zum größten Teil aus. Sie suchte weniger die Rebellion, als vielmehr die Unterstützung von Schule und Politik sowie die intellektuelle und persönliche Nähe zu führenden Pädagogen und Kulturschaffenden.30 Die bürgerliche Jugendbewegung war keine antibürgerliche „Jugendprotest-Bewegung“ und keine Sezession von den Elternhäusern, sondern eine „Selbstentwicklungs- und Selbstfindungs-Bewegung“,31 die sich sozialkulturell und kulturgeschichtlich in den Zusammenhang der im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland vermehrt aufkommenden Lebensreformbewegungen und kulturellen Avantgarden einordnen lässt. Ihre Autonomiebestrebungen standen in relativer Distanz zu den kulturellen Normen der Mehrheitsgesellschaft. Gleichwohl fanden sich die bildungsbürgerliche Jugend und die Freideutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem generationsspezifischen Spannungsfeld zwischen Funktionalisierung, Repression und Selbstbestimmung wieder. Verbunden ist es mit dem Versuch der Jugend, in neue kulturelle Freiräume vorzustoßen und das Generationenverhältnis neu zu bestimmen und auszuhandeln. Komplementär dazu erfuhr die Jugend als gesellschaftliche Gruppe und als Lebensphase eine erhebliche gesellschaftliche Auf-
29 Hermann Hesse: Zarathustras Wiederkehr (1919), in: Volker Michels (Hrsg.), Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 10: Gedenkblätter, Betrachtungen, Frankfurt/M. 1987, S. 466–497. Hesses Reflexionen wurden auszugsweise auch in freideutschen Zeitschriften abgedruckt: Ders.: Worte an die deutsche Jugend, in: Junge Menschen 2 (1921), H. 4, S. 50. Ders.: Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die Deutsche Jugend von einem Deutschen, in: Freideutsche Jugend. Monatsschrift für das junge Deutschland 5 (1919), H. 4, S. 147–153. 30 Vgl. Plake, Reformpädagogik, Reformpädagogik, S. 209. 31 Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, S. 64.
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wertung.32 Sie trat als aktives Handlungssubjekt, „als eigenständig-eigensinnig produktive, neue, in die Zukunft weisende normengenerierende Lebensform“33 in Erscheinung und strukturierte sich als Protest-, Oppositions-, Widerstandsund zugleich auch als Innovationspotential, das mit vielfältigen sozialen Erwartungen sowie Selbstinterpretationen gekoppelt war und im Hinblick auf die intergenerationellen Verhältnisse für bestimmte gesellschaftliche Gruppen innerhalb eines Generationszusammenhangs integrativ wirken wollte, um so ein notwendiges Maß an Veränderungspotential und sozialer Bindung zu erzeugen und selbst gesellschaftliche Veränderung zu initiieren. Als Schlagwort und als Ausdruck eines Lebensgefühls prägte der Begriff der „Jugendkultur“ vor dem Ersten Weltkrieg die Diskussion um eine kulturelle Neuordnung.34 Hierbei ging es nicht nur um die Entfaltung jugendgemäßen Lebens, sondern, wie im Fall der Freideutschen, genauso auch um die Entwicklung zukunftsgemäßer Lebens- und Geselligkeitsformen sowie Führungseliten im Hinblick auf eine angestrebte kulturelle Erneuerung. Der Jugendkult der Jahrhundertwende überspielte alle sozialen Differenzierungen, ökonomischen Vereinnahmungen, unterschiedlichen Lebensformen und Generationsschicksale der wilhelminischen Jugend und suggerierte die Illusion, die Reform der Gesellschaft könne ausgerechnet von der jungen Generation ausgehen und getragen werden, was dazu führte, dass sie in besonderer Weise von Pädagogen und Intellektuellen protegiert wurde.35 Deren öffentliches Wirken und Bekanntheitsgrad sorgte schließlich auch dafür, dass die Belange der Jugend verstärkt Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs fanden. Die Verbindung von bürgerlicher Jugendbewegung und Reformpädagogik protegierte eine wachsende Jugendkultur und schuf damit auch einen gänzlich neuen Begriff von „Jugend“,36 wobei die verschiedenen Ausprägungen der Lebensphase und der Lebensform Jugend damals wie heute gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen darstellen, da die politisch-kulturelle Verständigung darüber, was Jugend ist, vom sozialen Entwicklungsstand, dem politischen System und den Diskursen einer Gesellschaft abhängen.37 Fest steht: „Die“ Jugend als einheitliche soziale Gruppe gab es nicht. 32 Dazu Barbara Stambolis: Mythos Jugend – Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach/Ts. 2003; Koebner/Janz, „Mit uns zieht die neue Zeit“; Walter Rüegg (Hrsg.): Kulturkritik und Jugendkult, Frankfurt/M. 1974. 33 Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, S. 67. 34 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 215–217. 35 Vgl. Ulrich Linse: Das „natürliche“ Leben: Die Lebensreform, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien 1998, S. 435–458, hier S. 436. 36 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 165. 37 Vgl. Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen, S. 62.
54 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 Allgemein und umso mehr im zeitlichen Umfeld der Jahrhundertwende, bezieht sich der Jugendbegriff nicht auf ganze Altersgruppen oder Jahrgangskohorten, sondern zumeist nur auf bestimmte kleine, aber in ihrer Zeit deutungsmächtige oder gesellschaftlich stärker hervortretende bzw. beachtete Gruppierungen oder Generationseinheiten. In den Reihen der bürgerlichen Jugendbewegung sind es insbesondere die Generationseinheiten der Wandervögel und Freideutschen, die die Wahrnehmung von Jugend Anfang des 20. Jahrhunderts prägten. Sowohl die bürgerliche Jugendbewegung als auch die zeitgleich aufkommende Arbeiterjugendbewegung – beide speisten sich aus der städtischen Jugend – formten in ihrer Zeit bestimmte öffentliche Wahrnehmungen von Jugend. Mit ihren Ideen und Praxen brachten sie zum einen ein besonderes Zusammengehörigkeits- bzw. Lebensgefühl zum Ausdruck, das unterschiedliche Geburtsjahrgänge zu einem Generationszusammenhang verband, zum andern ein politisch-kritisches Potential, das vielfältige Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik hervorrief. Als historisch wahrnehmbare, weil gesellschaftlich, kulturell und politisch aktive Generationseinheit prägten die Freideutschen die zeitgenössische Wahrnehmung von Jugend. Nicht zuletzt wegen der teilweise öffentlich sichtbar gemachten Praxis der Freideutschen in Verbindung mit den Ideen einer neuen Jugendkultur erschien die bürgerliche Jugendbewegung insgesamt im politischen und öffentlichen Diskurs der Zeit vielfach als Hauptrepräsentant der Jugend. Manche Freiräume, deren Erkämpfung die bürgerliche Jugendbewegung für sich reklamierte, lagen nicht nur in der Logik der Systementwicklung,38 sondern verdankten sich einer breiten Unterstützung von intellektuellen Führern sowie praktischen und ideellen Förderern aus den Reihen der bildungsbürgerlichen Eliten, die im Bereich der Kultur, der Universitäten und Schulen sowie der allgemeinen Pädagogik und Reformpädagogik wirkten. Dies verweist auf die enge Verflechtung des liberalen Bürgertums mit der bürgerlichen Jugendbewegung um 1900. Dieser Zusammenhang zeigt sich an ihren vielfältigen, bis zum Ersten Weltkrieg durchgängig beobachtbaren Bezügen zu den pädagogischen Eliten und zur Reformpädagogik.
38 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 212.
3 Die Freideutschen als intellektuell-akademische Richtung der bürgerlichen Jugendbewegung Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerungszahl von 1914 etwa 65 Millionen39 war die zahlenmäßige Größe der bürgerlichen Jugendbewegung gering. 20 Prozent der Bevölkerung waren zwischen sechs und fünfzehn, lediglich zehn Prozent zwischen 15 und 20 Jahren alt. Die größte Altersgruppe war die der 20– bis 25-Jährigen mit etwa 36 Prozent.40 Nimmt man an, dass das Hauptreservoir der bürgerlichen Jugendbewegung die Altersgruppe der 15– bis 20-Jährigen war, so waren von ca. 6,5 Millionen Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich weniger als ein Prozent in jugendbewegten Gruppen organisiert.41 Im Vergleich dazu hatten staatliche oder halbstaatliche Jugendorganisationen, die von verschiedenen religiösen oder politischen Kreisen unterstützt wurden, insgesamt annähernd zwei Millionen Mitglieder.42 Was im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als bürgerliche oder auch Deutsche Jugendbewegung Eingang in die Historiografie finden sollte, geht im Kern zurück auf die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland formierende Wandervogelbewegung43, die 1896 vor dem Hintergrund der Hochindustrialisierungsphase und des massiven Städtewachstums ihren Ausgang am humanistischen Gymnasium der Gemeinde Steglitz bei Berlin nahm. Dort organisierte der junge Stenographie-Lehrer Hermann Hoffmann regelmäßig Wanderausflüge für seine Klassen, ein Konzept das dessen ehemaligen Schüler Karl Fischer (1881–1941) 1901 zur Gründung eines Wandervereins für Jugendliche – den
39 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung gestern, heute und morgen, Mainz 1985, S. 39. 40 Vgl. ebd., S. 59. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1911, sind aber auch für das Jahr 1914 demografisch repräsentativ. 41 Vgl. Waldemar Gurian: Die deutsche Jugendbewegung, Habelschwerdt 1924, S. 86. Die Hochrechnung geht für das Jahr 1914 von 60.000 jugendbewegten Männern und Frauen aus. Die Schätzung beläuft sich auf die Gesamtzahl der Personen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung, bezieht also sowohl Jugendliche als auch Erwachsene ein. 42 Vgl. George Rosen: The Revolt of Youth. Some Historical Comparisons, in: Joseph Zubin/ Alfred M. Freedman (Hrsg.), The psychopathology of adolescence. The proceedings of the fiftyninth annual meeting of the american psychopathological association, held in New York City, february,1969, New York 1970, S. 1–14, hier S. 9. 43 Zur Wandervogelbewegung Ulrich Herrmann (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit …“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim/München 2006; Gerhard Ille/Günter Köhler: Der Wandervogel. Es begann in Steglitz, Berlin 1987; Otto Neuloh/Wilhelm Zilius: Die Wandervögel. Eine empirisch-soziologische Untersuchung der frühen deutschen Jugendbewegung, Göttingen 1982; Ulrich Aufmuth: Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, Göttingen 1979; Ziemer/Wolf, Wandervogel und Freideutsche Jugend. https://doi.org/10.1515/9783110783667-005
56 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten e.V. – anregte, hauptsächlich bestehend aus Schülern und Studierenden mit bildungsbürgerlichem Hintergrund.44 In der Folge kam es zunächst in Deutschland, später auch in Österreich zu weiteren Zusammenschlüssen von Wandervögeln. Zumeist im städtischen bzw. großstädtischen Schulumfeld entstanden diverse mit dem Wandervogel assoziierte Wander- und Fahrtengruppen, nicht selten auch angeleitet von Lehrern oder ehemaligen Schülern, die sich zu außerschulischen Aktivitäten zusammenfanden und dabei eine gemeinsame Gruppenpraxis ausprägten, die vor allem auf die anthropologischen Grundkonstanten von Mensch und Natur rekurrierten. Angezogen von den Idealen der Romantik und des deutschen Idealismus entwickelten die Wandervögel naturnahe Lebenskonzepte durchsetzt mit deutschtümelnden, folkloristischen, völkischen, antizivilisatorischen und antiintellektualistischen Elementen, und versuchten, sich durch konstitutive Eigenschaften wie materielle Anspruchslosigkeit, körperliche Ausdauer und Gesundheit sowie Kameradschaft von den autoritären Strukturen des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds abzugrenzen.45 Der Glaube, dass der von Industrialisierung und Kapitalismus negativ beeinträchtigte moderne Mensch geheilt werden könnte, wenn dieser zu neuen Formen menschlicher Gemeinschaft in Harmonie mit der Natur finden würde, war weit verbreitet und wurde insbesondere von der Eltern- und Großelterngeneration an die Jugend herangetragen.46 Die durchaus verbreitete „Wahrnehmung einer zerrissenen Zeit“ führte dazu, dass der Wandervogel sowie die bürgerliche Jugendbewegung insgesamt „im wesentlichen in der Innenwelt der kleinen vertrauten Menschengruppe“ agierte, wo man in der Gemeinschaft das vorfand, „was der bedrohliche Alltag nicht bieten konnte“.47 Aus diesen Zusammenhängen erklären sich auch die antirationalistischen, antikapitalistischen und völkischen Tendenzen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung.48
44 Vgl. Günther Ehrental: Die freie Jugendbewegung bis 1928, in: Karl Seidelmann (Hrsg.), Die deutsche Jugendbewegung, Bad Heilbrunn/Obb. 1966, S. 7–16, hier S. 7. 45 Vgl. Heinz S. Rosenbusch: Die deutsche Jugendbewegung in ihren pädagogischen Formen und Wirkungen, Frankfurt/M. 1973, S. 28. 46 Vgl. Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung, in: Klaus Vondung (Hrsg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 138–152, hier S. 138–140. 47 Reulecke, Im Schatten der Meißnerformel, S. 31. 48 Uwe Puschner: Völkische Bewegung und Jugendbewegung, in: Gideon Botsch/Josef Haverkamp (Hrsg.), Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom „Freideutschen Jugendtag“ bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2014, S. 9–28; Arno Klönne: Jugendbewegung und Faschismus. Zusammenhänge und Konflikte, in: Günther Franz/Hans Wolf/Gerhard Ziemer (Hrsg.): Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 12, Schwalbach/Ts. 1980, S. 23–34.
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Entsprechend ihrem bildungsbürgerlichen Entstehungshintergrund, handelte es sich bei der bürgerlichen Jugendbewegung von Anfang an um eine stark autoritätenbezogene Bewegung.49 Die ihr angehörenden Jugendlichen und Jugendgruppen suchten sich in aller Regel „ältere“ intellektuelle Stichwortgeber und Förderer, „die ihre geistige Richtung klären und ihrem Selbstverständnis aufhelfen sollten“.50 Die allgemeine Distanz der bürgerlichen Jugendbewegung gegenüber staatlichen Fürsorge- und Jugendpflegeprogrammen hatte insofern weniger mit der Ablehnung staatlicher Autorität als solcher zu tun, als vielmehr mit der allgemeinen Distanzierung vom gesellschaftlich-kulturellen Wertesystem, als dessen Repräsentant der Staat wahrgenommen wurde. Da die bürgerliche Jugendbewegung ein städtisches Phänomen war und deren Angehörige fast ausschließlich in urbanen Zentren sozialisiert waren und keine ländliche Prägung erfahren hatten, bezog sich deren Erfahrungsraum – positiv wie negativ – hauptsächlich auf die moderne Stadt- und Industriekultur sowie städtische Infrastrukturen. Die Tatsache, dass innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung so gut wie keine negativen Erfahrungen mit einem Leben auf dem Land vorhanden waren, insbesondere mit bäuerlicher Armut und ländlicher Infrastruktur, trug dazu bei, dass ländliches und naturnahes Leben, gerade im Kontrast zum urbanen Alltag51, in ihren Reihen positiv besetzt war. Vor der Folie dieser urban kultivierten Sozial- und Agrarromantik erschien die Natur als ursprüngliches zivilisatorisches Idyll und wurde als sozialer und kultureller Zufluchtsort schlechthin imaginiert. Nur so konnte der bürgerlichen Jugendbewegung die Natur als Metapher für kulturelle Reinheit und zivilisatorische Gesundheit gelten. Gerade in dieser Hinsicht erscheinen die Umwälzungen in der bürgerlichen Raum- und Sozialstruktur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als konstituierendes Element der bürgerlichen Jugendbewegung, die, an der modernen Zivilisation Anstoß nehmend, ihr Heil in der Natur und der moralisch integren Einfachheit suchte. Mit dem Anwachsen der Wandervogelbewegung, die sich innerhalb nur weniger Jahre über den ganzen deutschsprachigen Raum ausbreitete, kam es innerhalb dieser zu abweichenden Leitvorstellungen und Schwerpunktsetzungen, die zu Abspaltungen und Neugründungen führten. In den miteinander kon49 Zur entwicklungsspezifischen Autoritätsbezogenheit der Jugend Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969, S. 139–148. 50 Hans Bohnenkamp: Jugendbewegung und Schulreform, in: Elisabeth Korn (Hrsg.), Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf/Köln 1963, S. 34–52, hier S. 44. 51 Zu den Entwicklungsspezifika von Großstadtkindern Martha Muchow/Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes [1935], Neuausgabe, hgg. von Jürgen Zinnecker, Weinheim 1998.
58 | Teil I: Die sozialkulturelle Formierung der Freideutschen von 1888 bis 1914 kurrierenden Wandervogel-Vereinigungen waren über zwei Jahrzehnte große Teile der bürgerlichen Jugend organisiert. Insbesondere die Angehörigen von Freischaren und Freistudentenschaften waren oftmals im Wandervogel sozialisiert worden.52 Dabei wiesen die diversen Wandervogel-Zellen mehr oder weniger die gleiche Alters- und Sozialstruktur auf. Die Wandervögel stammten fast ausnahmslos aus Elternhäusern mit bildungsbürgerlichem Hintergrund.53 Der Wandervogel, der auch Impulsgeber für die Lebensreform- und Freikörperkulturbewegung sowie die Reformpädagogik war, markiert strukturell den Beginn der bürgerlichen Jugendbewegung. Der zweite wichtige Entwicklungsstrang der bürgerlichen Jugendbewegung, der zugleich die Entwicklungslinie der Freideutschen bildet, ist der 1909 gegründete Bund Deutscher Wanderer (BDW)54, ein reichsweites Bündnis jugendautonomer Wandervereinigungen. Dessen Ursprung lag im 1905 gegründeten Hamburger Wanderverein (HWV)55, wo die Geschichte der Freideutschen ihren Anfang nahm, und von dem ausgehend sich auch in zahlreichen anderen Städten entsprechende Wandervereine gründeten.56 In den Reihen der Wandervögel und der Wandervereine, aber auch in Landerziehungsheimen formierte sich ein Großteil der Angehörigen der studentischen Freischarbewegung. Ausgehend von der Akademischen Freischar Göttingen57 fassten die Freischaren als lebensreformerische und reformstudentische Alternativen zu den traditionellen Studentenverbindungen und ihrer fest verankerten Mensur- und Kommerskultur seit Anfang 1907 an den deutschen Universitäten Fuß. Anknüpfend an die kulturelle Praxis des HWV bildete sich in ihnen Personal und Programm der Freideutschen heraus. Ihre Ideen gaben der bürgerlichen Jugendbewegung eine stärkere intellektuell-akademische Ausrichtung und beeinflussten insbesondere deren studentische Gemeinschaften. Die Freideutschen waren hauptsächlich im lebens- und kulturreformerisch eingestellten studentischen Milieu verhaftet, wo die freideutsche Idee auf fruchtbaren Boden fiel.58 Die akademischen Freischaren bildeten nach und nach ein 52 Vgl. Paul Natorp: Hoffnungen und Gefahren unserer Jugendbewegung. Vortrag gehalten bei der Hauptversammlung der Comenius-Gesellschaft zu Berlin am 6. Dez. 1913, Tat-Flugschriften, 36 (1920), Jena 1914, S. 9 f. 53 Vgl. Bohnenkamp, Jugendbewegung und Schulreform, S. 34. 54 S. u. S. 72. 55 S. u. S. 63–72. 56 Grundlegend August Messer: Die freideutsche Jugendbewegung. Ihr Verlauf von 1913 bis 1923, Langensalza 1924. 57 S. u. S. 82–96. 58 Dazu Wilhelm Flitner: Freideutsche Studenten in Jena 1909–1914 (aus: Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Festschrift zur 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner von 1963), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 477–481, sowie: Ders.: Die junge Generation im Volke, Berlin 1928.
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universitätsübergreifendes Beziehungsgeflecht aus, das vor allem von informellem und personellem Austausch, Freundschaften und persönlichen Beziehungen lebte, und aus dem schließlich 1908 der Dachverband Bund Deutscher Akademischer Freischaren (BDAF) hervorging, der dann 1909 zur Deutschen Akademischen Freischar (DAF)59 wurde. 1913 initiierten und veranstalteten die in der DAF organsierten Freischaren den Freideutschen Jugendtag60, in dessen Zuge auch die später so genannte Meißner-Formel entstand und die symbolische Gründung der Freideutschen Jugend vollzogen wurde – das bis in die Weimarer Republik prägendste Bündnis lebens- und schulreformerischer sowie reformstudentischer und -pädagogischer Gruppierungen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung. Der Freideutsche Jugendtag ist das Resultat der Formierung der studentischen Avantgarde innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, deren studentische Phase maßgeblich von der kulturellen Praxis der akademischen Freischaren geprägt wurde.
59 S. u. S. 97–112. 60 S. u. S. 113–128.
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Teil II: Freideutsche bürgerliche Jugendkulturen und ihre Publizistik als Wegsuche nach kultureller und politischer Erneuerung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Weimarer Republik
1 Der Hamburger Wanderverein (1905) Ohne den Hamburger Wanderverein (HWV), in Details fast unbekannt, und seine beiden zentralen Figuren Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, die hier zum ersten Mal als historische Akteure in Erscheinung treten, ist die spätere Freischarbewegung und mithin die Freideutsche Bewegung nicht denkbar. Goebel war maßgeblich daran beteiligt, die Idee des HWV im nordwestdeutschen Raum zu verbreiten und wurde Vorsitzender des BDW, in dessen Gemeinschaften sich ein großer Teil des späteren Freischar-Personals sammelte. Ahlborn avancierte vor dem Ersten Weltkrieg zum führenden Kopf der Freischarbewegung und war bis 1918 eine ihrer zentralen Führungsfiguren. Beide verband eine lebenslange Freundschaft und Arbeitsbeziehung, die sich vor allem aus der Zusammenarbeit rund um das 1919 von Ahlborn gegründete Freideutsche Jugendlager Klappholttal ergab. Im HWV wurden Grundelemente des Freideutschtums entwickelt, so die Idee der gemeinschaftlichen Selbstbildung, das Ziel einer Kulturreform und die leitende sozialkulturelle Praxis der Freideutschen. Auch die Anfänge freideutscher Publizistik liegen hier. Es handelte sich um eine einzigartige Akteurskonstellation gestaltungswilliger und sozialkulturell vergleichbar geprägter junger Menschen. Entscheidend waren ihre städtisch-gymnasiale Prägung und ihre gleichlautende Motivation, alternative Formen der Geselligkeit zu entwickeln.
1.1 Gründung Im Jahre 1905 gründeten die Unterprimaner Knud Ahlborn, Hans Harbeck, Kurt Elvers, Albert Wagner, Hans Beit sowie zwei gleichaltrige, ebenfalls bildungsbürgerlich geprägte Hamburger Kaufleute am Hamburger Realgymnasium des Johanneums den Hamburger Wanderverein (HWV), eine weitgehend autonome Selbsterziehungsgemeinschaft für die höheren Schüler Hamburgs und die gebildete großstädtische Jugend.1 Das Realgymnasium war seit 1876 Teil des ältesten humanistischen Gymnasiums in Hamburg, das bereits 1529 als Gelehrtenschule gegründet wurde. Der HWV, dem sich im Verlaufe des Jahres 1906 auch Ferdinand Goebel und Walter Serno anschlossen, resultierte aus einer Abspaltung der seit 1877 am Realgymnasium bestehenden Primaner-Vereinigung Formica2 1 Knud Ahlborn: „Wanderer“ und „Freischar“ (1933), in: Ziemer/Wolf, Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 179–186, hier S. 179–181; Knud Ahlborn: Skizze zu einem Lebenslauf, 31.8.1962 (AdJb N 2/1); Knud Ahlborn: Kurze Angaben über meinen Lebenslauf, 12.3.1963 (AdJb N 2/1); Ferdinand Goebel: Ansprache am 75. Geburtstag Knud Ahlborns, 14. März 1963, in: Erich R. Andersen (Hrsg.): Volkshochschule im Dünensand. Ahlborn. Familienspuren, Berlin 2009, S. 133–146, hier S. 134. 2 Zur Formica Franz Romanus: Festschrift zum 50 Jähr. Stiftungsfest des Primanervereins „Formica“, Hamburg 1927. https://doi.org/10.1515/9783110783667-006
64 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 (lat. die Ameise), die in den Zusammenhang der im 19. Jahrhundert an deutschen Schulen und Universitäten entstehenden wissenschaftlich-literarisch orientierten Vereine gehört.3 Zweck der Formica war es, durch „Vorträge, Vorlesungen, Mitteilungen und Deklamation jeder Art“, durch gemeinschaftliches Lesen und Debattieren sowie musikalische Darbietungen anregend auf seine Mitglieder zu wirken.4 Die Sezessionsbestrebungen in den Reihen der Formica, die zur Gründung des HVW führten, resultierten aus der Konfrontation zwischen den lebensreformerisch orientierten Neu-Formicanern um Ahlborn und Harbeck und den älteren sowie ehemaligen, zumeist studierten Primanern der Formica, die stark von den Geselligkeitsformen des traditionellen studentischen Verbindungslebens beeinflusst waren. Der reformorientierte Kreis um Ahlborn und Harbeck hatte im Sinn, die in dem Primanerverein vorherrschende studentisch beeinflusste Trink- und Kneipenpraxis „den übrigen gesunden und vernünftigen Vereinsbestrebungen anzupassen“.5 Dagegen formierten sich vor allem die korporierten Alt-Formicaner, die die gesellige Praxis des Vereins beibehalten wollten und die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Wandervogel- und Lebensreformbewegung, in deren Reihen eine Vielzahl konkurrierender Ideen und Freizeitalternativen für die gymnasiale und studentische Jugend entstanden, kritisch betrachteten. Für die Ablösung der Unterprimaner von der Formica, die schon kurz nach Beginn des neuen Schuljahres am 21. September 1905 zur Gründung der alternativen Primanervereinigung HWV geführt hatte,6 war letztlich weniger das kulturelle Programm der Formica ausschlaggebend, als vielmehr deren gesellige Praxis, die der lebens- und kulturreformerischen Motivik sowie den Autonomiebestrebungen der Jungprimaner in wichtigen Punkten entgegenstand. Da zwei seiner Gründungsmitglieder Kaufleute waren, konnte der HWV von Anfang an als eingetragener Verein im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches operieren, was den Vorteil hatte, dass dieser anders als die Formica nicht der Schulaufsicht unterstand und so der Kontrolle der Oberschulbehörde entzogen war.7 Die Mitgliedschaft im HWV war nicht nur Primanern vorbehalten, sondern richtete sich
3 Dirk Hempel: Literarische Vereine in Dresden. Kulturelle Praxis und politische Orientierung des Bürgertums im 19. Jahrhundert, Tübingen 2008, S. 44. 4 Romanus, Festschrift zum 50 Jähr. Stiftungsfest des Primanervereins „Formica“, S. 10. 5 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 179. 6 Knud Ahlborn: Ziele und Aufgaben des Hamburger Wander-Vereins, in: Der Wanderer. Monatsschrift für Jugendsinn und Wanderlust, hgg. vom Hamburger Wanderverein 1 (1906), H. 6, S. 2–4, hier S. 2. Ferner Walter Serno: o. T. (Umschau), in: Der Wanderer 2 (1907), H. 7, S. 166. 7 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 179; Knud Ahlborn: Die Idee des Hamburger Wandervereins, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 1, S. 3–5; Walter Serno: Der Bund Deutscher Wanderer – ein Stück Jugendbewegungsgeschichte, Leipzig 1924, S. 1–2.
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entsprechend seiner Zielsetzungen an die gesamte Jugend Hamburgs und Umgebung.8 Aufgrund seiner breiten Öffnung für verschiedene Alters- und Interessensgruppen fanden sich in der jugendautonom und lebensreformerisch eingestellten Selbstbildungsgemeinschaft auch zahlreiche jüngere Kaufleute, Studierende und Lehrer als Vereinsmitglieder.9
1.2 Programm Seine vornehmliche Aufgabe erblickte der HWV darin, die Hamburger Jugend von für unproduktiv und für nicht mehr zeitgemäß gehaltenen bürgerlichen Lebensund Erziehungsformen abzugrenzen. Während große Teile der deutschen Jugend Anfang des 20. Jahrhunderts noch unter dem autoritären Einfluss von Schule und Elternhaus standen, wollte der HWV seinen Angehörigen größere Entwicklungsmöglichkeiten und -freiräume verschaffen.10 Im Gegensatz zur Formica und anderen vom HWV so bezeichneten spezialisierten Fachvereinen wollte die Selbstbildungsgemeinschaft primär der persönlichen Entwicklung seiner Mitglieder dienen und sich durch vielseitige Interessenvertretung einer breiteren Schülerschaft öffnen,11 obwohl der Wander-Gedanke zunächst das Hauptmotiv der Gründung gewesen war. In der ersten Gründungssatzung von 1905 heißt es: Zweck des Vereins ist die Veranstaltung von Ausflügen in die Umgebung Hamburgs zur körperlichen Kräftigung und zur Hebung des Interesses für die Natur; und von geselligen Veranstaltungen, zur Anbahnung eines ungezwungenen Verkehrs sowie zur gegenseitigen Unterstützung und Belehrung.12
Gemäß dem hier anklingenden Prinzip der Selbstbildung wurde das Wandern nicht als bloße Möglichkeit der Freizeitgestaltung angesehen, sondern auf höherer gesellschaftlicher Ebene von Anfang an als natürlicher Ausgangspunkt, als Grundprinzip kultureller Erneuerung gedacht. Die bildungsbürgerlich geprägte Idee eines deutschen Kulturstaats unter der Führung einer neuen geistig-moralischen Elite war Bestandteil der kulturellen Praxis des HWV. Dafür strebte der Verein mittelfristig eine Reform der „gesellschaftlichen Jugendkultur“ und eine „Umgestaltung der Lebensführung der großstädtischen Jugend“ an, die erklärter
8 Satzung des HWV, in: Walter Serno (Hrsg.): Der Hamburger Wander-Verein. Ein Wegweiser zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Jugendkultur, Hamburg 1908, S. 23–28. 9 Knud Ahlborn: Die Jugendbewegung (Vortrag), in: Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, N.F., Sonderrdruck (1917), H. 13, S. 156–172, hier S. 160; Ahlborn, Skizze zu einem Lebenslauf (AdJb N 2/1), S. 1. 10 Vgl. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 179. 11 Vgl. Ahlborn, Die Idee des Hamburger Wandervereins, S. 3. 12 Knud Ahlborn (Hrsg.): Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914. Zum Bundestag der D.A.F. 1931. Im Text unverändert nachgedruckt zum Meißner-Tag 1963, o. O. 1963, S. 5–6.
66 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Träger der Volksentwicklungspläne des HWV war.13 Ziel war es, aus der „Schaffenskraft der jungen Generation“ ein von Grund auf „neues Deutschland“, eine junge geistige und moralische Führungselite aufzubauen.14 Anregung für diese Idee fanden die Angehörigen des HWV dabei in der elitären Gesellschaftstheorie des schottischen Historikers Thomas Carlyle,15 dessen geistesaristokratischer Kulturbegriff und pietistisches Arbeitsethos das gesellschaftliche Verantwortungs- und Gestaltungsdenken sowie das Avantgardebewusstsein der Mitglieder des HWV prägte. Seinen kulturreformerischen Bestrebungen entgegen, stand nach Auffassung des HWV das an das Verbindungsstudententum angelehnte „Kneipenleben der höheren Schuljugend“, in dem Ahlborn „die Wurzel für eigene Erschlaffung und die Vorbereitung zu einem ungesunden und eines werdenden Führertums unwürdigen Lebens auf den Universitäten“ sah.16 Deren Defizite sah man vor allem im Verhältnis zur Natur und im musisch-künstlerischen Bereich.17 In der „Lösung des Erziehungsproblems“ erblickte der HWV eine drängende „Kulturaufgabe von allerhöchster Bedeutung“. Der HWV nahm die gängigen Formen von Schule als pädagogisch und inhaltlich unzureichend wahr, sowohl als Erziehungsinstrument als auch als „Vorbereitungsanstalt für das spätere Leben“.18 Den wahrgenommenen Mängeln der Schulerziehung sollte durch die Reform und Ergänzung bestehender Institutionen und durch neu entwickelte Erziehungskonzepte abgeholfen werden. Diesbezüglich wies der HWV von Beginn an einen starken Bezug zur Reformpädagogik sowie zur Landerziehungsheim- und Volksbildungsbewegung auf. Seine relative Entwicklungsfreiheit verdankte der HWV nicht zuletzt dem liberalen und weltoffenen Klima Hamburgs, wo „Elternhaus und Schule in keinster Weise [be-]hinderten, was an Schaffenskraft in der jungen Generation zur Entfaltung drängte“. Das rege kulturelle Leben und die moderne Stadtentwicklung bot „der heranwachsenden Generation […] ihre Segnungen in reicher Fülle […]“ dar. Der HWV betrachtete sich denn auch nicht als „romantische Fluchtreaktion“, sondern verstand seine „wohldurchdachte und zweckbewußte“ kulturelle Praxis als gestalterischen Teil der Moderne.19 „Ziel13 Ahlborn, Die Idee des Hamburger Wandervereins, S. 3, sowie: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, hier S. 5. 14 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181; Ahlborn, Die Idee des Hamburger Wandervereins, S. 5. 15 Vgl. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181. 16 Knud Ahlborn: Lebenslauf (von Mai 1934), in: Andersen, Volkshochschule im Dünensand, S. 106–128, hier S. 108. 17 Vgl. Jakob Loewenberg: Was unsern Großstadtkindern fehlt (Naturanschauung und Kunst), in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 58–68. 18 Knud Ahlborn: Das Erziehungsproblem. Ein Aufruf zur Mitarbeit, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 9, S. 221. 19 Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 5.
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klarheit“ und eine „kulturoptimistische Grundstimmung waren dem HWV von vornherein eigen, und viele junge Talente, die aus den verschiedensten höheren Schulen Hamburgs herstammten, kamen in ihm zur Auswirkung.“20 Mit seinem anspruchsvollen Programm wollte sich der HWV von anderen Jugend- und Schulvereinen sowie gängigen bürgerlichen und studentischen Geselligkeitsformen und -formaten abheben.21 Dessen Grundpfeiler waren eine gesundheitlich und körperlich förderliche und naturnahe Lebensweise sowie eine adäquate geistig-moralische Erziehung.
1.3 Praxis Praxis und Ideen des HWV waren Ausdruck einer auf kulturelle und soziale Neuordnung zielenden Agenda, die die sich bietenden technischen und sozialen Entwicklungschancen des 20. Jahrhunderts positiv einbezog. Auf Höhe der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen der Zeit, suchten die Mitglieder des HWV ihre kultur- und sozialreformerischen Ideen für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu verbreiten und umzusetzen.22 Durch sein Selbstbildungsprogramm wollte der HWV der gebildeten großstädtischen Jugend „erstrebenswerte Ziele“ schaffen und „alle wertvollen Anlagen und Kräfte seiner Mitglieder zur Entfaltung und wechselseitigen Förderung bringen“.23 Anspruch war es, diese „neue Art werterfüllten Gemeinschaftslebens zum Allgemeingut des deutschen Volkes“ zu machen und die Zukunft Deutschlands aktiv mitzugestalten.24 Durch seine breite inhaltliche Öffnung erstrebte der HWV gegenüber bestehenden Jugend- und Schülergruppen sowie staatlichen Jugendpflegeverbänden eine größere soziale Reichweite. Sein Gemeinschaftsleben basierte auf einem konsequenten Wechsel von „Experiment und Kritik“, der „alle im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens seiner Mitglieder liegenden Interessen“ fördern sollte. Verknüpft mit den aus der Romantik abgeleiteten bildungsidealistischen Kernelementen der Wanderschaft und der unmittelbaren Naturerfahrung sollten sämtliche Einrichtungen und Veranstaltungen des HWV der „körperlichen, geistigen und sittlichen Ertüchtigung“, der „universellen Ausbildung“ seiner Mitglieder dienen.25
20 Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 5. 21 Vgl. Ahlborn, Die Jugendbewegung, S. 160. 22 Vgl. Ahlborn, Ziele und Aufgaben des Hamburger-Wandervereins, S. 4. 23 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 180; Vgl. auch Satzung des HWV, in: Serno, Der Hamburger Wander-Verein, S. 23. 24 Ahlborn, Die Jugendbewegung, S. 160. 25 Ebd., S. 161.
68 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Zur Verwirklichung dieses Vorhabens bildete der HWV mehrere, in regem Austausch stehende Arbeitsgemeinschaften, die die Mitglieder auf verschiedenen geistigen und praktischen Tätigkeitsgebieten fördern sollten, wobei es diesen möglich war, gleichzeitig mehreren Arbeitsgemeinschaften anzugehören. Bei den monatlichen Vereinssitzungen waren freiwillige Fachvorträge einzelner Arbeitskreise oder Mitglieder obligatorisch, sodass letztlich alle Mitglieder von der inhaltlichen Arbeit in den verschiedenen Arbeitskreisen profitierten. Neben wissenschaftlichen und musischen Vorträgen legte man außerdem großen Wert auf Gedichtrezitationen sowie auf die Pflege deutschen Liedguts und gemeinsamen Gesang.26 Es gab Arbeitskreise für Chor- und Kammermusik, künstlerische Fotografie, Theateraufführungen, naturwissenschaftliche Sammlungen, Rhetorik sowie einen Lektüre- und Lesekreis und einen von Harbeck geleiteten Kurs für literarisches Schreiben, der seit April 1906 die vereinseigene Zeitschrift Der Wanderer herausgab. Zudem existierte ein eigener heimatkundlich und lokalgeschichtlich orientierter Wanderausschuss, der die Planung und Organisation von Naturwanderungen und Studien-Fernreisen sowie von Fabrik- und Betriebsbesichtigungen übernahm, von denen sich der HWV für seine Mitglieder unmittelbare sozialwissenschaftliche und -politische Erkenntnisse im Hinblick auf die Soziale Frage erhoffte. Die regelmäßigen Exkursionen sollten den Mitgliedern zum einen die deutsche Kulturlandschaft näherbringen, zum andern der historischen und kulturgeschichtlichen Weiterbildung dienen und den technischen Fortschritt aus nächster Nähe erlebbar machen.27 Gegenüber modernen künstlerisch-ästhetischen Strömungen sowie Wissensbeständen und religiös-spirituellen Lehren anderer Kulturen war der HWV liberal und weltoffen eingestellt. Man befasste sich grundsätzlich mit allen Fragen der Weltanschauung und Religion sowie den sozialen, kulturellen und politischen Fragen der Zeit. Das stark an den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft orientierte Vortrags- und Diskussionsprogramm des Vereins spiegelte nicht nur den enormen technischen und wissenschaftlichen Fortschritt der Jahre um die Jahrhundertwende, sondern auch das rege Interesse seiner Mitglieder an den modernen Entwicklungen wider.28 In der selbstbildenden Praxis des HWV kam der Natur eine zentrale Rolle zu. Die Hinwendung zur Natur verstand man als notwendigen Rekurs auf die unverfälschten Lebenszusammenhänge der Zivilisation, als Ausgangspunkt für eine adäquate Bildung der deutschen Jugend und davon ausgehend für eine umfassende kulturelle Erneuerung der Gesellschaft. Man ging bewusst zurück zu den
26 Vgl. Ahlborn, Ziele und Aufgaben des Hamburger-Wandervereins, S. 4. 27 Vgl. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181; Ahlborn, Die Jugendbewegung, S. 160. 28 Für einen Eindruck über die Themenvielfalt Romanus, Festschrift zum 50 Jähr. Stiftungsfest des Primanervereins „Formica“, S. 23–24.
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Grundlagen der modernen Gesellschaft. Nur durch diesen Zwischenschritt betrachtete man sich in der Lage, einen zukunftstauglichen und den Herausforderungen der Zeit gewachsenen Menschentypus sowie eine tragfähige, alle sozialen, kulturellen und politischen Spannungen ausgleichende kulturell-soziale Ordnung zu entwickeln – gereinigt von allen kritisch betrachteten Aspekten der wilhelminischen Kultur. Die Natur war funktional in die lebens- und kulturreformerische Programmatik und Praxis des HWV eingebettet, insofern man diese nicht nur passiv als Kulturraum, sondern gleichsam auch als Kraftquelle individuellen und gesellschaftlichen Fortschritts begriff.29 Das Wandern selbst verstand man im HWV als „Schule zur Selbstüberwindung“, als körperlich-geistiger Akt der Selbstermächtigung und Emanzipation von „höchstem erzieherischem Wert“. Die Mitglieder des HWV waren der strikten Überzeugung, dass das Wandern „von allen Lebensformen die ursprünglichste, natürlichste und gesundeste“ war.30 In diesem Denksystem bildete die Natur den natürlichen Gegenpol zu den Normierungen sowie den bürokratischen Planungsund Organisationstrukturen der wilhelminischen Gesellschaft, deren Kultur die Jugend aus Sicht des HWV in ihrer Entwicklung hemmte. Der archaischen Verbindung aus körperlicher Ertüchtigung und beruhigender Naturumgebung schrieb man dabei kathartische sowie körper- und charakterbildende Wirkung zu.31 Im umfassenden Sinne sollte das Wandern der gegenseitigen positiven Einflussnahme und Erziehung dienen.32 Angelehnt an das wiederkehrende Motiv des klassischen Bildungsromans begriffen die Mitglieder des HWV das Wandern als geradezu idealtypische Aktivität der individuellen Selbstfindung und Entwicklung sowie für eine Erneuerung der kulturellen Kräfte. Der HWV war der Überzeugung, dass wenn es der Wunsch eines jeden Deutschen ist, die Deutsche Jugend sittlich frei, kraftvoll und von hohen lebensfähigen Idealen getragen, an ihrer eigenen Erhebung arbeiten zu sehen, dann ist unser Wandern der Sport der Zukunft, der vor allen anderen zur Zeit betriebenen Sporten entschieden den Vorzug verdient.33
Anders als in vielen Gemeinschaften des Wandervogels, in denen das Wandern Selbstzweck war, wies der HWV dem Wandern eine entscheidende gesellschaftliche Funktion zu, insofern die dadurch gesteigerte geistige und körperliche Aktivierung sowie dessen charakter- und gemeinschaftsbildende Kräfte der Erziehung einer zukünftigen gesellschaftlichen Führungselite und davon ausgehend
29 Vgl. Knud Ahlborn: Das Wandern, in: Der Wanderer 1 (1907), H. 11, S. 2–4, hier S. 3. 30 Ebd., S. 2. 31 Vgl. Ahlborn, Ziele und Aufgaben des Hamburger Wander-Vereins, S. 2–3. 32 Vgl. Ahlborn, Das Wandern, S. 3–4. 33 Emil Leitner: Unser Wandern, in: Walter Serno, Der Hamburger Wander-Verein, S. 11–22, hier S. 17.
70 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 der kulturellen Erneuerung der Gesellschaft dienen sollte. Im Gegensatz zum Wandervogel waren die Angehörigen des HWV bereits praktisch auf der Suche nach Lösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit und entwickelten einen eigenen Gestaltungshorizont. Die Intention, mithilfe des Wanderns in den eigenen Reihen einen reiferen Menschentypus ausbilden zu können, weist auf einen ausgeprägten praktischen Rationalismus sowie kulturell-sozialen Verantwortungssinn innerhalb des HWV hin, der strategisch auf eine Neuordnung der Gesellschaft bezogen war. Beim HWV besaß das Wandern im doppelten Sinne des Wortes den Charakter einer Weltanschauung, als praktisches Erlebnis im ganz wörtlichen Sinne und als Programm in einem größeren kulturell-sozialen Zusammenhang. Natur- und Wandererlebnisse gehörten zwar zur gängigen Praxis des Wandervereins, diese sollten aber vor allem das Bewusstsein für die eigene Lebensumwelt und die realen Problemstellungen der Zeit bilden, Schwerpunkt war die Beschäftigung mit sozialen, naturwissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen und historischen Themen. Neben einem eigenen Wanderausschuss gründete der HWV auch einen Ausschuss für Heideforschung, der von Goebel geleitet wurde und schon zu Beginn etwa 20 Mitglieder umfasste.34 Darüber hinaus gab es einen ständigen Ausschuss für Kriegsspiele, den sogenannten „Manöver-Ausschuss“, der für die Veranstaltung von paramilitärischen Geländespielen in der näheren Umgebung Hamburgs verantwortlich war und von Ahlborn geleitet wurde.35 Beide Aktivitäten hatten direkte erzieherische Funktion. Neben der Bewegung an der frischen Luft sah man den praktischen Wert der Geländespiele im Verbrauch „überschüssiger Körperkraft“, die auf diese Weise in gesunde und freie Bahnen kanalisiert werden sollte. Dagegen befand man andere Sportarten wie Rudern, Schwimmen oder Fechten für zu „einseitig“, zu „unnatürlich, zu „geistlos“ oder für zu vorbereitungsintensiv. Primäres Ziel der körperlichen Aktivitäten des HWV war es, „die Auswüchse vieler Jugendspiele und die Uebertreibung gewisser Kraftleistungen zu bekämpfen und an ihre Stelle ein Spiel zu setzen, das edel, frei und deutsch“ war.36 Durch den regelmäßigen Gruppensport und die Geländespiele sollten unter den Mitgliedern Führungsstärke, Verantwortungsbewusstsein, Selbstdisziplin und Kameradschaft gefördert werden. Seine primäre Aufgabe sah der Manöverausschuss denn auch in der „Heranbildung von Führern“. Die Manöver sollten
34 Ferdinand Goebel: Erinnerungen an die Gründung und das Wirken des Bundes Deutscher Wanderer, in: Ziemer/Wolf, Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 186–194, hier S. 186. 35 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 180–181. Ferner Serno, Der Hamburger WanderVerein, S. 29–30. 36 Walter Serno: Die Manöver des Hamburger Wandervereins, in: Serno, Der Hamburger Wander-Verein, S. 7–10, sowie Ders.: Die Kriegsspiele des Hamburger Wandervereins, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 7, S. 163–166.
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nicht nur die individuelle Charakterbildung fördern, sondern auch der Freundschafts- und Gemeinschaftsbildung dienen und damit ein Stück „deutschen Rittertums und deutscher Ritterlichkeit“ wiederaufleben lassen.37 Dafür stellte der Verein „hohe moralische Anforderungen“ an seine Mitglieder, von denen der „strenge Wille zu seelischer und geistiger Selbsterziehung“ verlangt wurde.38 Da die Manöver aus Sicht des HWV an die Gruppenleiter und an die übrigen Gruppenmitglieder höchste geistige und körperliche Anforderungen stellten, versprach man sich davon einen wertvollen Beitrag zur persönlichen Erziehung. Insbesondere ging es um die Schulung selbstverantwortlichen Denkens und Handelns sowie darum zu lernen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Was hier im Kleinen eingeübt wurde, war nichts anderes als gesellschaftliches Verantwortungsdenken, Handeln und Denken im Sinne des Gemeinwohls. Das gemeinschaftliche Selbstbildungsprogramm des HWV beruhte zum einen auf physischen Elementen und Herausforderungen, zum andern auf dem interaktiven Wissens- und Erfahrungsaustausch seiner Mitglieder. Letztlich zielte die gesamte Praxis des HWV auf die Erziehung zukünftiger Führungspersönlichkeiten, die Einfluss auf Kultur und Gesellschaft und Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen nehmen sollten. Durch sein striktes Nikotin- und Alkoholverbot löste sich der HWV von den beanstandeten Geselligkeitsformen der wilhelminischen Mehrheitsgesellschaft und entwickelte ein elitäres Selbstverständnis, nach dem die eigene Gemeinschaft als „Anfangspunkt einer zukunftsgestaltenden Bewegung“39 galt. Im HWV war man der Auffassung: Was die heranwachsende Jugend in diesen Gesellschaftskreisen lernt und treibt, darf nicht das Ideal unserer Zeit bleiben. Unendliche Mengen von Energie und Jugendkraft werden dort unnütz verbraucht. Zu Gunsten einer flachen gesellschaftlichen Bildung wird die Entwicklung des Charakters und der Persönlichkeit unterdrückt.40
Auf der einen Seite begrüßten die Vereinsmitglieder die aus wissenschaftlicher und technologischer Sicht fortschrittlichen Entwicklungen der modernen Industriegesellschaft, auf der anderen setzten sie sich kritisch mit bestimmten Entwicklungen auseinander, z.B. mit Naturentfremdung und -zerstörung, Alkoholismus und Arbeitslosigkeit. Kritisch stand man auch den antimodernistischen und kulturpessimistischen Strömungen der Zeit gegenüber, die aus Sicht des HWV keinen Beitrag zum kulturellen Fortschritt der Gesellschaft leisteten. Im Gegensatz dazu wollten sich die Mitglieder des HWV konstruktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen. Der HWV erstrebte eine Synthese aus kultureller 37 38 39 40
Knud Ahlborn: Die Treue, in: Der Wanderer 1 (1907), H. 11, S. 10–13. Leitner, Unser Wandern, S. 17. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181. Ahlborn, Die Idee des Hamburger Wandervereins, S. 3.
72 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Tradition und Fortschritt. Letztlich diente dessen gesamtes Aktivitätsspektrum dazu, die persönliche Entwicklung seiner Mitglieder auf allen Ebenen zu fördern und in der Gemeinschaft Ideen und Praktiken für die angestrebte kulturelle Neuordnung der Gesellschaft zu entwickeln. Es ging darum, geeignete Lösungen und geeignetes Personal für die gesellschaftlichen Herausforderungen der Modernisierung zu finden, um so die Weichen für die Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert zu stellen. Das sozial integrative Konzept sowie die vielfältigen Interessenangebote des HWV ließ den Verein bis Ende 1906 auf annähernd 100 Mitglieder anwachsen.41 Nicht zuletzt durch Mitglieder, die Hamburg aus privaten oder beruflichen Gründen verließen oder es zum Studium in die Universitätsstädte zog, wurde die Idee des Wandervereins im norddeutschen Raum weiterverbreitet. Insbesondere Goebel arbeitete mit Nachdruck an der Verbreitung der Idee der Wandervereine. Noch im Jahr 1906 gründete das HWV-Mitglied Adolfo Bundies einen entsprechenden Wanderverein in Altona. Im selben Jahr gründete auch der Primaner Helmut Jansen, Sohn eines Gymnasialdirektors, zusammen mit etwa 25 anderen Mitschülern einen Wanderverein in Bremen. Dem vorausgegangen war ein vor Primanern gehaltener Werbevortrag Ahlborns in der Aula eines Bremer Gymnasiums. Die soziale Mobilität und die Beziehungsgeflechte der Mitglieder der Wandervereine ließen in der Folge auch in anderen Städten weitere Wandervereine entstehen. 1909 folgten Gründungen in Hannover (durch Hermann Kölln) und Berlin (durch Goebel). Unter den Gründungen waren auch Frauenwanderbünde. Assoziierte Bünde entstanden auch in einer Reihe nordwestdeutscher Klein- und Mittelstädte, vielfach zurückzuführen auf die Initiative Goebels.42 Auf einem Gründungsthing am 20. Juni 1909 schlossen sich alle bestehenden Wandergruppen unter der Führung Goebels auf dem Wilseder Berg in der Lüneburger Heide zum Bund Deutscher Wandervereine zusammen, der bereits Mitte 1913 4.000 Mitglieder in 140 Ortsgruppen zählte.43 Wie der HWV sollte auch der BDW kein Selbstzweck, sondern „Mittel zum Zweck“44 sein und die Verständigung und Weiterentwicklung der angeschlossenen Vereine nach den „festgelegten ,Ideen‘“45 des HWV gewährleisten.
41 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181. 42 Ebd. 43 Ernst Gaebel: Fünfundzwanzig Jahre Bund Deutscher Wanderer, Wittenberg 1930; Serno, Der Bund Deutscher Wanderer. 44 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 181. 45 Walter Serno: Bund Deutscher Wandervereine. Bericht, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 4, S. 126–128, hier S. 126. Ferner Goebel, Erinnerungen an die Gründung und das Wirken des Bundes Deutscher Wanderer, S. 187–191.
2 Die Zeitschrift Der Wanderer (1906–1916/17) Die vom Hamburger Wanderverein 1906 gegründete Monatsschrift für Lebensund Kulturreform stellt das erste publizistische Organ der beginnenden Freideutschen Bewegung dar. Bis zur Gründung der Zeitschrift Freideutsche Jugend (1914) war sie das zentrale Publikationsorgan der im BDW vereinigten Wandervereine sowie zunächst auch der Freischaren. Der Wanderer bildet somit für die Anfänge der freideutschen Idee ein wichtiges Medium der Diskussion, der Selbstvergewisserung und der gedanklichen Verdichtung. Ordnungsideen und kulturelle Praxis werden hier in ihrer Entstehung und Entwicklung sichtbar. Zusammen mit den nachfolgend noch untersuchten Zeitschriften Freideutsche Jugend und Junge Menschen gehörte der Wanderer zu den mit Abstand wichtigsten Verständigungsformaten der Freideutschen. Zwar erschienen im Wanderer unter anderem auch Beiträge von Angehörigen der Freistudentenschaften, diese hatten allerdings, etwa mit den von der Freiburger Freien Studentenschaft geführten Studentischen Monatsheften vom Oberrhein ihre eigenen Organe. Der Wanderer wurde kriegsbedingt 1916/17 eingestellt und dann 1924 unter anderen gesellschaftlichen und personellen Vorzeichen weitergeführt. Die Zeitschrift dokumentiert, dass in der vom BDW und den Freischaren geprägten freideutschen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg bereits vor Gründung der Freideutschen Jugend und der gleichnamigen Zeitschrift Publizistik und Politik sichtbar zu machen ist.
2.1 Gründung Das Konzept des HWV beruhte auf einer ambitionierten Mischung aus Theorie und Praxis. Seit April 1906 gab der HWV monatlich die vereinseigene Zeitschrift Der Wanderer heraus.46 Diese erschien bis März 1907 zunächst unter der Redaktionsleitung von Hans Harbeck, seit dem 2. Jahrgang unter der Führung von Walter Serno, der in diesem Zuge den Wanderer-Verlag gründete. Als Herausgeber fungierte in der Anfangszeit der HWV, später der BDW, der diese im Eigenverlag und seit 1914/15 im Freideutschen Jugendverlag Adolf Saal publizierte. Das Vereinsorgan sollte der praktischen Verbreitung der Idee des HWV dienen, „aufklärend und anregend auf die Jugend wirken“ und dessen Bestrebungen einem breiteren Publikum bekannt machen. In der lebens- und kulturreformerisch sowie reformpädagogisch ausgerichteten Zeitschrift manifestierten sich
46 Thomas Dietzel/Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertorium, Bd. 4, München u. a. 1988, S. 1262–1263., Eintrag 3112, Der Wanderer. Die einzelnen Ausgaben finden sich im AdJb unter der Signatur AdJb Z 100/2528. https://doi.org/10.1515/9783110783667-007
74 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 alle „Gedanken, Wünsche und Ziele“ des HWV.47 Der Expansionsgedanke spielte dabei von Anfang an eine zentrale Rolle: Eine der vornehmsten Einrichtungen unseres Vereins ist der „Wanderer“, der […] vom Verein herausgegeben und von Mitgliedern geschrieben wird. Er bietet dem Wander-Verein die Möglichkeit, sich literarisch und wissenschaftlich zu betätigen, die Gedanken einzelner Mitglieder zum Gemeingut aller zu machen und die Ideen, die in unserem Kreis gepflegt werden, auch Fernerstehenden zu vermitteln. […]. Allmählich wird hier fast mühelos ein Material gesammelt, das einst für viele einen großen Wert erhalten wird.48
Die Redaktion der Zeitschrift ging ursprünglich aus dem Arbeitskreis für literarisches Schreiben hervor, zu deren Mitgliedern neben Harbeck und Knud Ahlborn unter anderem Ferdinand Goebel, Kurt Elvers und Otto de Campo zählten. Der Redaktionskreis erweiterte und veränderte sich beständig, zumal dessen Angehörige nach dem Ende der Gymnasial- und dem Beginn der Studienzeit bzw. mit dem Berufseinstieg meist dezentral kooperieren mussten. Prägende Mitarbeiter, unter anderem Ahlborn und Goebel, hatten Hamburg zum Wintersemester 1906/07 verlassen, um ihr Universitätsstudium aufzunehmen. Zudem vergrößerte sich der Kreis der beitragenden Autoren durch neugegründete Wandervereine stetig. Innerhalb der Redaktion gab es mehrere Unterausschüsse, die den einzelnen Themengebieten der Zeitschrift entsprachen. Unter anderem für geographisch-geologische Forschungen, Botanik und Heimatkunde im Umkreis von Hamburg bzw. im nordwestdeutschen Raum, z.B. zur wissenschaftlichen Erforschung der Lüneburger Heide49, oder auch für die inhaltliche und wissenschaftliche Vorbereitung der Wanderungen und Exkursionen, die für den Wanderer rezensiert werden sollten. Ahlborn berichtete z.B. in den ersten zwei Jahrgängen in mehreren Teilen über eine Fischdampferfahrt ins Skagerrak und über eine Reise nach Norwegen sowie auch über Exkursionen zur Halbinsel Eiderstedt, in das südliche Wendland und den Harz, während Goebel vor allem naturwissenschaftliche Beiträge über die Entstehung der Lüneburger Heide einbrachte.50 Von der ersten Ausgabe des 2. Jahrgangs 1907/08 an trug der Wanderer deswegen den programmatischen Untertitel „Monatsschrift für Jugendsinn und Wanderlust“, mit dem Zusatz „Organ für Heideforschung“ (bzw. zwischenzeitlich auch „Archiv für Heideforschung“). Mit der stärker werdenden kulturreformerischen Ausrichtung der Zeitschrift entfiel der doch sehr fach-
47 Ahlborn, Die Idee des Hamburger Wandervereins, S. 5. 48 Ahlborn, Ziele und Aufgaben, S. 4. 49 Ferdinand Goebel: Aufgaben und Ziele des Ausschusses zur Erforschung der Lüneburger Heide, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 1, S. 18–19. 50 Exemplarisch Knud Ahlborn: Durch die südliche Heide und das Wendland, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 7, S. 6–9; Ferdinand Goebel: Die Entstehung der Lüneburger Heide, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 69–71.
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spezifische Zusatztitel jedoch schon nach einem Jahr wieder, sodass zu Beginn des 3. Jahrgangs 1908/09 nur noch Titel und Untertitel auf dem ZeitschriftenTitel auftauchten. Neben den unternommenen Ausflügen präsentierte die Zeitschrift die Arbeitsergebnisse aller Ausschüsse und Arbeitsgruppen, unabhängig davon, ob das Material eher wissenschaftlicher, politisch-kultureller oder praktischer Natur war. Die Zeitschrift beinhaltete Beiträge rund um das Wandern, Wanderberichte und -tipps, Naturschilderungen und geologisch-botanische Exkurse sowie eine Vielzahl Abhandlungen und Essays zu diversen pädagogischen, politisch-kulturellen, philosophischen, künstlerischen und religiös-spirituellen Fragen. Zudem wurden Gastbeiträge und Buchauszüge bekannter Autoren und Wissenschaftler in die Hefte aufgenommen. Diese waren meist auf dem Gebiet der Erziehung, der Reformpädagogik sowie der Natur- und Kulturwissenschaften zuhause. Obligatorisch war auch der Abdruck von Gedichten und Prosa, meist mit starken impressionistischen bzw. naturromantischen sowie sozialkritischen Bezügen. Das anfänglich in seiner Motivik der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung nahestehende neoromantische Werk Hermann Hesses wurde ebenso rezipiert, wie das vom Transzendentalismus und der Mystik beeinflusste Werk des amerikanischen Schriftstellers Ralph Waldo Emerson und die naturalistischen bzw. symbolistischen Arbeiten des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen. Darüber hinaus fanden sich in jeder Ausgabe Bücherrezensionen zu aktuellen Werken aus den Bereichen Pädagogik, Wanderkultur, Religion, Kunst und Belletristik, wofür sich die Redaktion regelmäßig Rezensionsexemplare einschlägiger deutscher Verlage zusenden ließ. Wichtig war der Redaktion der inhaltliche Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen, zur neuesten Literatur, gesellschaftlichen Debatten, aber auch zu den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik. Im Zuge der Wanderverein-Neugründungen bekam die Zeitschrift immer mehr Relevanz als milieubezogenes Diskussions- und Meinungsforum. Für Leserbriefe und Eingaben von Wanderverein-Mitgliedern wurde daher seit dem dritten Heft des 5. Jahrgangs die Rubrik „Meinungsaustausch“ eingeführt. Die Seitenzahl der Zeitschrift belief sich auf etwa fünfundzwanzig bis dreißig Seiten. Ein Zeitschriftenjahrgang bestand aus insgesamt zwölf Monatsheften (zum Teil auch als Doppelausgaben).
2.2 Programm Nachdem vor allem die ersten zwei Zeitschriftenjahrgänge noch relativ starke inhaltliche Bezüge zur Wanderthematik aufwiesen, vor allem durch die zahlreichen Reise- und Wanderreportagen, zeichnete sich seit Ende 1906 eine thematische Verschiebung der Zeitschrift ab. Beeinflusst von den politisierenden Pro-
76 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 zessen studentischer Praxis rückten kultur- und hochschulpolitische sowie reformpädagogische und volkserzieherische Themen inhaltlich in den Vordergrund. Thematisch waren die Konfliktlinien zur kulturellen Praxis des traditionellen Verbindungsstudententumes bereits durch die lebens- und kulturreformerische Agenda des HWV gezogen, der in der höheren Schuljugend einen neuen akademischen Typus heranzuziehen suchte. Dementsprechend wurde alles gesundheitsschädigende sowie individuell, kulturell und sozial unproduktive und verantwortungslose Verhalten abgelehnt, wie es exemplarisch in der Trink- und Feierkultur sowie der Mensur- und Duellpraxis des traditionellen Verbindungswesens gesehen wurde. Auf den Universitäten angekommen, sollte die höhere Schuljugend einen gänzlich neuen Akademikertypus und davon ausgehend eine neue kulturelle und moralische Führungselite entwickeln und prägen, die die studentische Praxis und langfristig Gesellschaft und Kultur von innen heraus reformieren sollte. Dem Konzept der gemeinschaftlichen Selbstbildung und der Erziehungsfrage maß die Zeitschrift große Bedeutung bei. Themen wie die Reform der Jugendkultur und -erziehung, allgemeine Erziehungsprobleme, konkrete ästhetischkulturelle, soziale und moralische Erziehungsinhalte, -ideale und -werte sowie die Erziehung der Großstadtjugend fanden seit dem 2. Jahrgang verstärkt Eingang die Zeitschrift. Zur Erziehungsfrage bezog die Schriftleitung im Dezemberheft 1907 Stellung: Daß dieser Frage zur Zeit an allen Orten besonderes Interesse entgegengebracht wird, begründet sich in der Kulturentwicklungsstufe unseres Volkes. Lange verschont von innerem Unglück und knechtenden Kriegen, sammeln sich seine Kräfte zum Kampfe gegen den Widerstand der Trägheitsgesetzte des Geistes. Jeder fühlt den Anfang einer neuen Epoche, es beginnt ein Ringen nach den vielen unverwirklichten Wünschen der Besten aller Zeiten und nach neuen Idealen. Sie zu verwirklichen, fehlte es bisher an Energie und Ehrlichkeit. Darin muß unsere Zeit Wandel schaffen! Wir haben die Aufgabe und die Verantwortung, „unsere Zeit auszulaufen“, aufwärts zu streben, um denen, die nach uns kommen, bessere Verhältnisse zu schaffen, als wir sie vorfanden. Das gilt vor allem von der Jugenderziehung.51
Für das Vorhaben einer Reformierung der Jugenderziehung wollte der stark von gesellschaftlichem Verantwortungsdenken geleitete Wanderer geeignete praktische Ideale entwickeln, an denen sich künftige Jugendgenerationen orientieren konnten. In der Maiausgabe der Zeitschrift schrieb Goebel 1909 dazu: Es ist eine klar erkannte und in unseren Tagen immer und immer wieder betonte Zeitforderung, daß unser deutsches Volk sich neue innere Werte, Ideale schaffen muß. Ja, dieser Forderung des „Hinauf zum Idealismus“ wird so häufig Ausdruck verliehen, daß zu 51 Ahlborn, Das Erziehungsproblem, S. 221. Das Zitat lässt eine deutliche Nähe zu T. Carlyles Aphorismus: „Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen.“ erkennen. Ähnlich auch der Brief von Ahlborn an Helmuth Tormin, Sylt, 2.1.1947 (AdJb N 2/65).
2 Die Zeitschrift Der Wanderer (1906–1916/17)
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befürchten ist, sie könnte zur hohlen Phrase werden, zum Schlagworte ohne jede innere Kraft, sich praktisch umzusetzen. Aber gerade auf dieses praktische Umsetzen kommt es an. Was nutzen uns alle noch so herrlichen Ideale, wenn sie sich eben nicht umsetzen lassen, wenn sie auf dem Papier stehen und nicht in dem Innern der Menschen. Wollen wir wahrhaften Idealismus wecken und pflegen, müssen wir zunächst praktische Ideale schaffen, die sich mit unwiderstehlicher Gewalt, fast suggestiv, in dem Innern der Menschen festsetzen, praktische Ideale, die durch die in ihnen wohnende Wucht die Menschen zur Begeisterung, ja selbst zum Fanatismus mit sich zu reißen imstande sind. Ist dann erst einmal durch ein, zwei, mehrere praktische Ideale der Boden vorbereitet, dann mögen jene hohen Ideale Fuß fassen, die heute noch teilweise unverstanden sind, ja bespottet und belacht im Winkel liegen.52
Die praktischen Ideale einer zukünftigen Gesellschaftsordnung konnten nach Goebel zwar durchaus nicht nur von der Wanderer- oder der verwandten Freischarbewegung entwickelt und vermittelt werden, unter keinen Umständen aber von den politischen Parteien und den staatlichen Erziehungsinstitutionen. Dahinter stand die Überzeugung, dass eine Integration aller Bevölkerungsteile in eine nationale Staatsbürgergesellschaft nicht auf politischer, sondern letztlich nur auf kultureller Grundlage gelingen konnte. Im Hinblick auf das gesamtgesellschaftliche Entwicklungspotential hielt Goebel die praktischen Ideale der Wanderer- und Freischarbewegung für weitaus vielversprechender als die Angebote von Schulen und Parteien, die primär auf die Reproduktion der wilhelminischen Gesellschaft in ihrer traditionellen Form und damit auf den Erhalt der geltenden Ordnung ausgelegt waren. Parteien waren aus Sicht der Redaktion des Wanderers zu dogmatisch und standen im Verdacht, die soziale und politische Spaltung der Gesellschaft noch zusätzlich zu befeuern. Die anzustrebenden praktischen Ideale ergaben sich für den HWV und sein Organ einerseits negativ aus dem „Kampf gegen die Unsitten in der Lebensführung“ der Jugend, andererseits positiv aus der „Schaffung einer harmonischen […], echt deutschen Ausbildung von Körper und Geist“.53 Auch Ahlborn vertrat im Wanderer die Auffassung, dass eine moderne und zukunftsgerichtete Jugenderziehung einzig durch die „Vermeidung der Parteipolitik und ihrer Dogmen“ erzielt werden könne. Solange die Schule ihren Erziehungsauftrag nicht vollumfänglich wahrnehmen würde, der nach Dafürhalten Ahlborns darin bestand, das „Volk zur richtigen, vernunftgemäßen Ausnützung seiner politischen Rechte“ zu erziehen und „von der Herrschaft der Phrasen auf politischem Gebiete“ zu befreien, käme es nach Ahlborn insbesondere der Wanderer- und Freischarbewegung zu, die Erziehung des Volkes in die Hand zu nehmen.54
52 Ferdinand Goebel: Praktische Ideale, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 1, S. 1–3, hier S. 1. 53 Ebd., S. 2. 54 Knud Ahlborn: Politische Ausbildungskurse, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 9, S. 299.
78 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Dem zentralen Impuls der selbstbildenden Jugenderziehung folgend, setzte sich die Zeitschrift nicht nur mit pädagogischen und kulturpolitischen Fragen auseinander, sondern befasste sich auch mit anderen kulturhebenden Thematiken. Insbesondere die zeitgenössisch populäre Evolutionslehre Darwins wurde ausführlich erörtert. Beachtung fand in diesem Zusammenhang auch das Forschungsfeld der „Rassenhygiene“, das um die Jahrhundertwende allgemein gesellschaftliche Konjunktur hatte.55 Das Ziel der Auffrischung der gesellschaftlichen Kräfte beinhaltete auch Themen wie Heimatschutz und -pflege, Bodenreform und gesunde Lebensführung.56 Insbesondere die Alkoholfrage wurde immer wieder aufgegriffen, wobei der Wanderer gemäß seiner lebensreformerischen Rückbindung eine entschieden alkoholgegnerische Position vertrat.57 Die Zeitschriftenbeiträge wiesen in diesen Punkten deutliche Bezüge zu völkischem Gedankengut auf und markieren im Umfeld der Zeitschrift zumindest eine Disposition für die völkische Ideologie, auch wenn der Volks- und Kulturbegriff der Freideutschen generell in einem anderen Begründungszusammenhang stand. Auf der Suche nach geeigneten praktischen Idealen für die Erziehung der Jugend griff man auch auf Ideen und Autoren des deutschen Idealismus zurück.58 Das elitäre Anliegen einer neuen geistig-moralischen Führungselite, die die Gesellschaft von innen heraus verändern sollte, drückte sich auch in der Rezeption der Schriften Carlyles aus, dessen Werke im HWV sehr populär waren.59 Die im Wanderer verbreiteten Ideen spiegelten das gesteigerte Gestaltungs- und Verantwortungsbewusstsein der Mitglieder der selbsterzieherischen Wandervereine wider.
55 Ferdinand Goebel: Deszendenztheorie und Menschheit, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 9, S. 17–20; Ders.: Charles Robert Darwin. Eine deszendenztheoretische Zeitbetrachtung, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 11, S. 553–555; Alfred Ploetz: Über die Ziele der Internationalen Gesellschaft für Rassen-Hygiene, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 9, S. 274–278; Alfred Ploetz: Über die Ziele der Internationalen Gesellschaft für RassenHygiene II., in: Der Wanderer 4 (1910), H. 10, S. 320–322; Wilhelm Schallmayer: Rassedienst, in: Der Wanderer 6 (1912), H. 10, S. 271–277. 56 Paul Schultze-Naumburg: Aufgaben des Heimatschutzes, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 5/6, S. 159–161; Ders.: Aufgaben des Heimatschutzes, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 7, S. 205–207; L. Maß: Ländliche Wohlfahrtsund Heimatpflege, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 9, S. 237–239; Enno Narten: Wie können wir Heimatschutz treiben?, in: Der Wanderer 8 (1913), H. 2/3, S. 40–41.; Ferdinand Goebel: Bodenreform, in: Der Wanderer 5 (1910), H. 3, S. 71–74; Johannes Lubahn: Grundzüge der Bodenreform, in: Der Wanderer 6 (1912), H. 12, S. 335–337. 57 Ferdinand Goebel: Alkoholgegnerbewegung und Alkoholkapital, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 6, S. 150–156; Hans Gieschen: Alkohol im Felde, in: Der Wanderer 9 (1915), H. 11/12, S. 177–182. 58 Otto Braun: Vom deutschen Idealismus, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 10, S. 301–305; Theowart Christ: Von der Schönheit und dem Leben, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 12, S. 362–367. 59 August Hallermeyer: Thomas Carlyle, in: Der Wanderer 5 (1910), H. 8, S. 241–244; Ders.: Thomas Carlyle II., in: Der Wanderer 5 (1911), H. 10, S. 318–322.
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Das volkserzieherisch orientierte Programm der Zeitschrift korrespondierte auf gesellschaftspolitischer Ebene eng mit der Sozialen Frage, insofern, als sozialer Konsens und politischer Interessensausgleich – die Überwindung trennender Klassenschranken – als Grundvoraussetzungen für die kulturelle Erneuerung Deutschlands angesehen wurden. Insofern wurde alles, was dem Ziel einer sozial und politisch geeinten Volksgemeinschaft aus Sicht der Zeitschrift entgegenstand, kritisch betrachtet. Ihr Interesse an der Sozialen Frage beruhte primär nicht auf Faktoren wie sozialer Identifikation und inhaltlicher Solidarisierung, wobei das machtpolitische Interesse der Freideutschen an einer Führung der proletarischen Jugendbewegung im Hinblick auf eine Kulturreform stetig größer und 1918/19 offenkundig wurde, sondern zielte instrumentell auf den Aufbau eines deutschen Kulturstaats. Der Gleichberechtigung von Männern und Frauen kam dabei ebenso viel Bedeutung zu wie der sozialen Lage der Arbeiterklasse,60 wenngleich die soziale Emanzipation der Frau mit größeren Erwartungen verbunden war als die Entwicklung des Proletariats, zu dem der akademisch geprägte Wanderer wenig Bezug hatte. Den kulturerneuernden Suchbewegungen der Zeitschrift entsprachen nicht zuletzt auch Beiträge, die sich mit heidnischer Naturreligion und germanischen Kultfesten wie der Sonnenwende befassten. Schließlich bedeutete die Erneuerung der Kultur auch die Ablösung von traditionellen religiösen Systemen und Werten, weswegen sich die Zeitschrift verstärkt spirituellen Lehren sowie fernöstlichen Philosophien und Glaubensrichtungen öffnete, unter anderem dem bengalischen Universalgelehrten und Dichter Rabindranath Tagore, der als hinduistischer Kultur-, Bildungs- und Sozialreformer gleich in mehrfacher Hinsicht interessant war.61
2.3 Praxis Bis Ostern 1910 wurde die Zeitschrift vom HWV herausgegeben, bevor diese dann im Mai zur Bundeszeitschrift des Mitte 1909 gegründeten BDW umfunktioniert wurde. Die von Walter Serno geleitete Zeitschrift wurde zugleich auch zum Bundesorgan des Deutschen Bundes für Jungwanderungen, einer der größten Organisationen der Wandervogelbewegung. 60 Zur sozialen und zur Geschlechterfrage Ferdinand Goebel: Erziehungsfragen, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 2, S. 42–44.; Ders.: Soziale Briefe I., in: Der Wanderer 4 (1909), H. 2, S. 40–42; Ders.: Soziale Briefe II., in: Der Wanderer 4 (1909), H. 3, S. 79–81; Frieda Radel: Der Hamburger Frauenwanderbund, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 2, S. 37–39; Dies.: Das Frauenleben und seine Entwicklung, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 8, S. 232–234; August Hallermeyer: Grundlagen und Ziele der modernen Frauenbewegung, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 11, S. 360–362. 61 Amalie Keller: Rabindranath Tagore, in: Der Wanderer 9 (1914), H. 1, S. 12–13. In den 1920er Jahren traf Tagore auf einer seiner Deutschlandreisen u. a. auch mit dem freideutschen Pädagogen Gustav Wyneken zusammen.
80 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Vom 6. Jahrgang 1911/12 an übernahmen Arthur Kracke, Vorsitzender des Leipziger Wandervereins, und Hermann Heine aus München die Schriftleitung der Zeitschrift, wobei Heine seine Mitarbeit nach etwa der Hälfte der Ausgaben wieder beendete. Im April 1911 war die Zeitschrift zusätzlich Vereinsorgan des Deutschen Pfadfinderbundes geworden. Vom 7. Jahrgang 1912/13 an wurde die Zeitschrift dann vom bundeseigenen Verlag veröffentlicht, dem Verlag des Bundes Deutscher Wandervereine mit Sitz in Berlin-Charlottenburg; die Schriftleitung übernahm für ein Jahr der Berliner Richard Wolter. Die Berliner Redaktion für den darauffolgenden 8. Jahrgang ging zunächst an Ernst Gaebel, bevor dieser Mitte des Jahres von Christian Schneehagen abgelöst wurde. Der 8. Zeitschriftenjahrgang der Periode 1913/14 war maßgeblich vom Freideutschen Jugendtag 1913 und der Gründung der Freideutschen Jugend geprägt. Dementsprechend war das Programm des Wanderers von da an auch begrifflich freideutsch geprägt. Die einzelnen Ausgaben druckten unter anderem die Festansprachen vom Hohen Meißner ab und thematisierten die Ziele und Entwicklungen der Freideutschen Jugend. Die Hefte befassten sich auch mit der staatlichen Jugendpflege und der vom Pädagogen Gustav Wyneken 1913 ausgerufenen Jugendkulturbewegung62, wobei sich dessen teilweise radikale erziehungsreformerische Vorstöße mit den kulturreformerischen Bestrebungen der Freideutschen vermengte. Die politischen Debatten und die inneren Auseinandersetzungen innerhalb der Freideutschen Jugend beschäftigten die Zeitschrift bis ins Frühjahr 1914. Der 9. Jahrgang stand ganz im Zeichen des Beginns des Ersten Weltkriegs. Von April 1914 bis zum vorläufigen Ende der Zeitschrift 1916/17 erschien die Zeitschrift im Freideutschen Jugendverlag Adolf Saal mit Sitz in Hamburg. Herausgeber war weiterhin der BDW. Zunächst steuerte Christian Schneehagen die Ausgabenplanung noch von Gießen; nachdem er aber zum Jahreswechsel 1914/15 als Leutnant der Reserve zum Militärdienst eingezogen worden war, übernahm der Verleger Adolf Saal selbst die Redaktion der Zeitschrift. Schneehagen fiel 1918 im Alter von 27 Jahren an der Westfront. In der Zeitschrift veröffentlichte Texte und Gedichte appellierten immer wieder an vermeintlich deutsche Tugenden wie Tapferkeit, Pflichtgefühl und Heldenmut. Das Kriegsgeschehen wurde als heroische Chance der Persönlichkeits-
62 Gustav Wyneken: Schule und Jugendkultur, Jena 1913. Die Jugendkulturbewegung bildete sich seit 1913 in Deutschland und Österreich heraus. Ihre Mitglieder kamen in erster Linie aus der großstädtischen Oberschüler- und Studentenschaft mit Schwerpunkten in Wien, Berlin, Jena, Freiburg, Breslau und München, wobei sich ihr besonders jüdische Gymnasiasten und Studenten zugehörig fühlten. Als Ort der „Jugendkultur“, in Abgrenzung zur Wandervogelbewegung und zu den reformpädagogischen Landerziehungsheimen nach Hermann Lietz, ersann Wyneken die von ihm initiierten Freien Schulgemeinden.
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entwicklung und der kulturellen Katharsis betrachtet.63 Der Erste Weltkrieg wurde literarisch funktionalisiert, indem man auf dessen erzieherischen und charakterbildenden Nutzen abhob und ihn zum Kulturkampf Deutschlands umdeutete. Als positiv wurde auch die nationale Solidarisierung der Kriegsgesellschaft wahrgenommen, von der sich die Zeitschrift die Überwindung der Klassengesellschaft versprach. Deren Ende galt der Zeitschrift als Voraussetzung für die kulturelle Erneuerung Deutschlands. Nach ihren Vorstellungen sollte der Krieg helfen, politische Spaltungen zu überwinden und so zum inneren Wachstum des deutschen Volkes beitragen. Im Oktoberheft von 1914 hieß es: Das, was nach diesem Kriege nottut, ist eine planmäßige Vertiefung und Vollendung unseres Deutschtums. Siegen wir, so fällt uns die Pflicht zu, den Stempel deutschen Wesens der ganzen Welt adelnd aufzudrücken, und um das zu können, müssen wir dieses Wesen in uns selbst ganz rein ausgebildet und dargestellt haben. Unterliegen wir aber, dann bedürfen wir unseres gesteigerten und gefestigten Deutschtums erst recht, denn dann müssen wir aus ihm die Kraft gewinnen, das nächste Mal den Sieg zu erringen.64
Im Wanderer bildete sich eine für die Freideutschen kennzeichnende politische Praxis ab: man fühlte sich primär politischen Strömungen, nicht aber Parteien zugehörig. Nach dem Ersten Weltkrieg waren dies vor allem der Demokratische und der Religiöse Sozialismus. Auf diese Weise ließen sich programmatische Elemente verschiedener politischer Richtungen aneignen und adaptieren, ohne sich dem Verdacht politischer Dogmatik auszusetzen. Der 11. Jahrgang der Periode 1916/17 war bis zur Wiederauflage der Zeitschrift im März 1924 der vorerst letzte Jahreszyklus. Insofern blieb diese in erster Linie mit der freideutsch geprägten studentischen Phase der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg verknüpft. Analog zur Freideutschen Jugend nannte sich die Neuauflage im Untertitel „Monatsschrift für freideutsches Leben“.
63 Zu diesem allgemeinen Phänomen in der bürgerlichen Jugendbewegung Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. 64 Hans Gieschen: Unsere Pflicht, in: Der Wanderer 9 (1914), H. 6, S. 122.
3 Die Akademische Freischar Göttingen (1907) Die Gründung der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen65 markiert den biografischen Übertritt der im HWV und anderen norddeutschen Wandervereinen organisierten Gymnasiasten an die Universität im Wintersemester 1906/07. Hier suchten sie nach entsprechenden studentischen Äquivalenten zu ihrer sozialkulturellen Praxis, fanden aber mit den primär bildungs- und hochschulreformerisch eingestellten Freistudentenschaften inhaltlich und organisatorisch keine direkt anschlussfähigen Formate, weswegen sie ihre eigene Verbindung gründeten. Die inhaltliche und personelle Kontinuität bestand vor allem in Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel. Der Eintritt dieser Akteurskonstellation in die Universität bestimmte die weitere Geschichte der Freideutschen. Die Göttinger Freischar war die erste von vielen. Ihre Satzung und ihr Programm wurde für die Freischarbewegung prägend.
3.1 Gründung Am 19. Februar 1907 gründeten die Erstsemester Ahlborn (Hamburg), Hans Harbeck (Hamburg), Ernst Jokuff (Hamburg), Jules C. A. Schröder (Bremen), Jürgen Fehling (Lübeck), Kurt Vermehren (Lübeck), Otto Richters (Stade) und Franz von Karp (Riga) an der Universität Göttingen die Deutsche Akademische Freischar Göttingen.66 Ahlborns Freund Goebel stieß vermutlich erst im darauffolgenden Wintersemester dazu. Alle waren sie zuvor Mitglieder norddeutscher Wandervereine oder hatten persönliche Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern unterhalten. Eingeschrieben hatten sie sich an der Medizinischen, der Juristischen und Philosophischen Fakultät. Im Kern stellte die Freischar das studentische Pendant zum HWV dar, für dessen sozialkulturelle Praxis es an den deutschen Universitäten zu diesem Zeitpunkt noch keine Entsprechung gab. Der Medizinstudent Ahlborn war der festen Überzeugung, dass „ein Geist“, wie er im HWV gepflegt wurde, das „Ansehen der studentischen Verbindungen wieder aufrichten“ würde und das Vorbild des HWV berufen sei, „die grundlegende Idee des Zukunftsverbindung zu werden“.67 Zunächst schlossen sich Ahlborn und der Student der Philosophie und Kunstgeschichte Harbeck, die sich seit der gemeinsamen Zeit im HWV und der Arbeit am Wanderer freundschaftlich verbunden waren, zu Beginn des Winter-
65 Dokumente/Quellen zur Freischar Göttingen in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 389–395. 66 Gründungserklärung und Satzung der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom 19.2.1907 (AdJb A 101/1–11). 67 Knud Ahlborn: Die gegenwärtigen akademischen Verbindungen und ihre Fortentwicklung, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 9, S. 2–6, hier S. 6. https://doi.org/10.1515/9783110783667-008
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semesters 1906/1907 einer farbentragenden Turnerschaft an, freilich mit dem Ziel, diese nach dem Vorbild des HWV „von innen her umzugestalten und den eigenen Lebensbedürfnissen anzupassen“.68 Beeinflusst von den Reformimpulsen der beiden Hamburger Wanderer hatte sich deren studentischer Führer anfangs durchaus sehr aufgeschlossen gegenüber der Idee gezeigt, das Angebot der Korporation nach Art des Selbstbildungsprogramms des HWV zu erweitern und auszugestalten. Dabei spielte offensichtlich die Überlegung eine Rolle, dass es der HWV trotz seiner programmatischen Namensgebung geschafft hatte, neben seinem Hauptbetätigungszweck einen universalen Bildungsanspruch zu formulieren, der neben dem körperlichen Aspekt gleichermaßen auch den geistigen berücksichtigte und den Verein für breitere Interessensschichten attraktiv machte.69 Abgesehen von den Reformen, die der Führer der Göttinger Turnerschaft den neu aufgenommenen Mitgliedern wohl bereitwillig in Aussicht stellte, erhoffte man sich auf Seiten der aufgeschlossenen Jungturnerschaft durch die partielle Adaption des Konzepts, die auf eine inhaltliche Verbreiterung des eigenen Angebots zielte, ganz offenbar auch langfristig größeren Zulauf unter den Studierenden, zumal im Hinblick auf den traditionell an den Universitäten herrschenden Konkurrenzkampf studentischer Verbindungen.70 Nachdem schnell klar wurde, dass die Reformpläne der Korporation am massiven Widerstand der konservativen und finanziell sehr einflussreichen Altturnerschaft scheitern würden, und damit auch der Versuch der reformorientierten Erstsemester um Ahlborn und Harbeck, an etablierte studentische Organisationsstrukturen und Ressourcen anzuknüpfen, beschlossen diese beiden zum Ende des Wintersemesters 1906/1907, eine eigene Korporation zu gründen. Diskutiert wurde zuvor auch die Möglichkeit eines Eintritts in die Freie Studentenschaft, jedoch stieß man sich an deren Anspruch einer Alleinvertretung aller Nichtkorporierten und an deren großem Organisationsapparat, der nach Auffassung der Erstsemester dem im HWV kultivierten Gemeinschafts- und Freundschaftsprinzip widersprach.71 Um der erzieherischen Verantwortung gegenüber den studierenden Mitgliedern norddeutscher Wandervereine im Hinblick auf die Idee der Selbstbildung gerecht zu werden und strategisch einen festen Platz im studentischen Universitätsbetrieb zu haben, hatten Ahlborn und Harbeck zunächst eine farbentragende Verbindung mit dem Namen Akademischer Wanderverein (AWV) im Sinn, des-
68 Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 6. 69 Vgl. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 182. 70 Zur Rekrutierungs- und Werbepraxis studentischer Verbindungen Ahlborn, Die gegenwärtigen akademischen Verbindungen und ihre Fortentwicklung, S. 2. 71 Vgl. Knud Ahlborn: Freischarchronik. Die Entwicklung der Freischar in ihren ersten Semestern. Typoskript von 1911 (AdJb A 101/50).
84 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sen Mitglieder als programmatische Referenz bei festlichen Anlässen die Farben des BDW, Schwarz-Blau-Gold, tragen sollten.72 Die Korporation sollte die Erziehungsziele des HWV nun auch innerhalb der Universität weiterverfolgen und die in den Wandervereinen auf Weg gebrachte Erziehung der Jungerwachsenen verantwortlich fortführen.73 Zwar wies die zunächst angestrebte äußere Form und die von Ahlborn provisorisch ausgearbeitete Verfassung des AWV durchaus eine Nähe zur kulturellen Praxis traditioneller Verbindungen auf, was angesichts des neuen studentischen Umfelds auf einen habituellen Anpassungsdruck schließen lässt, grundsätzlich aber sollte der AWV eine „politisch und religiös tendenzlose Verbindung“ sein, was der Idee des HWV entsprach.74 Auf Grundlage ihrer Gründungsbestrebungen gelang es Ahlborn und Harbeck, bereits aus der Zusammenarbeit mit anderen norddeutschen Wandervereinen freundschaftlich verbundene ältere Kommilitonen aus Lübeck, Bremen, Hamburg und Riga für die geplante Studentengruppierung zu interessieren.75 Gemeinsam entschied man, den AWV zu einem reformstudentischen „Kampfbund“ umzuformen, der vor allem den traditionellen studentischen Korps Widerpart bieten und gleichsam eine Alternative zu diesen sein sollte. Vor der endgültigen Gründung der Verbindung und unter dem Einfluss ihrer Kommilitonen überdachten Ahlborn und Harbeck deren programmatische Ausrichtung noch einmal grundsätzlich und änderten schließlich nicht nur deren Namen in „Die Freischar“, sondern gaben der Vereinigung auch eine eindeutige reformstudentische Ausrichtung. Die neue Verbindung entschloss sich, ihren „Kampfcharakter“ und ihre „bewusste Vortruppstellung“ auf akademischem Boden auch in ihrem Namen zum Ausdruck zu bringen.76
3.2 Programm Der Name der Verbindung rekurrierte nicht von ungefähr bewusst auf die Freischaren der Befreiungskriege zwischen 1813 und 1815, auf jene „Vorkämpferschar“, die „dereinst aus Not, Schande und innerer Finsternis den Ausweg in eine lebenswertere Zukunft“ für das deutsche Volk erkämpft hatte. Der gewählte Verbindungsname spiegelte das kulturelle Programm der Freischar wider. Unter den drei Worten Deutsche – Akademische – Freischar verstand Ahlborn „drei große Aufgaben, Verpflichtungen und Verantwortungen!“77 In ihrer Gründungsurkunde vom Februar 1907, die bei der konstituierenden Versammlung in Ahl-
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Vgl. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 182–183. Vgl. Ahlborn, Freischarchronik, S. 6–7. Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 6. Ebd. Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 183. Ebd.
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borns Wohnung von insgesamt acht Gründungsmitgliedern unterzeichnet wurde,78 bezeichnete sich die Akademische Freischar Göttingen denn auch als „Kampfbund zur Reform des Deutschen Studententums“79 inmitten des als „Mittelalter und finstere Reaktion“80 empfundenen traditionellen studentischen Milieus. Die Mitglieder der Freischar strebten eine rasche Ausbreitung der Freischaridee an allen deutschen Universitäten an. Von Verbindungsfarben sah man vorerst ab, um sich so zusätzlich auch von den christlichen sowie anderen nichtschlagenden Verbindungen abzusetzen. Unmittelbar vor der Gründung hatten Ahlborn und sein Kommilitone Fehling dem Göttinger Universitätsrektor die provisorischen Satzungen der Freischar übersandt, deren Gründung noch für das laufende Semester beabsichtigt war. In dem Anschreiben war die Rede von „Schäden“, an denen „das heutige akademische Verbindungswesen“ kranken würde. Die Freischar würde antreten, den Beweis dafür zu erbringen, dass ein „Brechen mit den altüberlieferten gesellschaftlichen Studenteneinrichtungen“ und eine „neue Organisation der Studenten auf moderner Basis mit rein geistigen Zuchtmitteln und den idealen Forderungen des Tages kein Verlust, sondern eine hoffnungsreiche und gesunde Reform“ des studentischen Lebens bedeuten würde. Gleichsam erbat die Freischar die vorläufige Erlaubnis zur Gründung des Vereins und die Genehmigung zur Veröffentlichung eines Flugblatts sowie zur Veranstaltung einer öffentlichen Studentenversammlung. Die in der Satzung formulierten Ziele unterschieden sich inhaltlich, abgesehen von den zu berücksichtigenden studentischen Formalien, letztlich kaum von der Programmatik des HWV. Die ersten zwei Satzungspunkte lauteten: § 1. Zweck des Vereins ist der freie Zusammenschluss von Studenten, geeint in Freundschaft und in vorurteilsloser Gesinnung zur Förderung der modernen Geistesströmungen innerhalb des deutschen Studententums durch freien Meinungsaustausch und gegenseitige persönliche Erziehung. § 2. „Die Freischar“ veranstaltet neben geselligen Zusammenkünften Wanderungen und Reisen zu Studienzwecken, zum Zwecke körperlicher und geistiger Zucht, zur Kräftigung selbstständigen Urteils und zur Nährung freudigen Tatendranges.81
78 Ahlborn, Freischarchronik, S. 8–9. Die Namen der Gründungsmitglieder finden sich in Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 6. Bedingt durch den Studienortwechsel mehrerer Mitglieder änderte sich die ursprüngliche Zusammensetzung der Freischar schon im Verlauf des Jahres 1907. Eine Fotografie aus der zweiten Jahreshälfte zeigt 9 Freischarmitglieder: Ahlborn, Harbeck, Jokuff, von Karp, Ernst Demelius, Karl Isaak, Theodor Wilhelm Danzel, Robert Lemmberg und Ernst Eichhorn. Siehe Gruppenaufnahme der Mitglieder der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen von 1907 (AdJb F 4/29). 79 Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 6. 80 Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 183. 81 Schreiben des Vorstandes der Göttinger Freischar an den Rektor der Universität Göttingen vom 12.2.1907 (UAG Akte XG 2693/58). Das zugehörige Anschreiben findet sich ebd.
86 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Die weiteren vier Satzungspunkte betrafen unter anderem die Aufnahmepraxis und studentische Ehrangelegenheiten. Grundsätzlich sollte jeder „unbescholtene“ Student nach einstimmigem Beschluss der Freischarmitglieder aufgenommen werden und zur „Schlichtung aller Ehrenhändel“ halbjährlich ein Ehrenrat tagen. Während das Rektorat gegen die Gründung und den Satzungsentwurf sowie gegen die geplante öffentliche Studentenversammlung offenbar nichts einzuwenden hatte, verlangte die Universitätsleitung von der Freischar, den Wortlaut des Flugblatts noch einmal zu überarbeiten, wohl, weil diese die darin enthaltenen Attacken gegen das traditionelle Verbindungsstudententum für zu harsch befand. Die überarbeitete und genehmigte neue Version des studentischen Flugblatts wurde schließlich einen Tag nach Gründung der Freischar in den Instituten der Universität sowie in sämtlichen Schaufensterläden der Hauptgeschäftsstraße Göttingens ausgehängt und lud für denselben Abend Anhänger und Gegner zur freien Aussprache in ein Göttinger Cafe´.82 Der Text des Flugblatts lautete: Studentisches Flugblatt I. Das deutsche Studententum bewegt sich in unzeitgemäßen Formen. An seine Spitze haben sich Organisationen gestellt, die in einem Kult von Traditionen aufgehe. Sie können nimmermehr als Führer der Studentenschaft anerkannt werden. II. Zu keiner Zeit hat es an Männern gefehlt, die diese Herrschaft als Tyrannei empfanden. Aber die wiederholten Reformbestrebungen haben nie das erstrebte Ziel erreicht. Es fehlte ihnen bei aller Wucht an Planmäßigkeit und innerer Kraft, um die Indolenz der Massen zu besiegen, die Besten in den Dienst ihrer Sache zu zwingen und in ruhigem Wirken ihren Gegnern die durch Jahrzehnte behauptete Macht zu entwinden. III. Es gibt nur eine wahre akademische Freiheit: Gewährleistung eigentümlicher, kraftvoller Entwicklung des akademischen Bürgers. Wird sie auf jener Seite verbürgt? Erziehung ist Freimachen des Besten im Menschen. Erzieherisch wollen auch die Verbindungen wirken. Zurücktreten des Einzelwillens hinter die Tradition ist ihre erste Forderung. Verkehrszwang, unbedingte Satisfaktion, Trinkzwang und Fechtzwang sind ihre Zuchtmittel. Das Produkt ist ein Typus. IV. Das sind nicht unsere berufenen Führer. Sie sind in ihren Traditionen erstarrt: Sie haben es nicht verstanden, das Erbe ihrer Väter für die Gegenwart nutzbar zu machen. Wir fordern, daß die akademische Jugend die besten Gedanken unserer Tage spiegelt und ihnen begeistert kräftiges Leben verleiht! V. Von der Finkenschaftsbewegung [gemeint sind die Freistudentenschaften] scheidet uns der Weg, auf dem wir zu marschieren gedenken. Ihr [alleiniges] Vertretungsprinzip ist eine Anmaßung. Das Bild, das ihre Versammlungen bieten, ist eine Karikatur dieses Prinzipes. Zur Durchsetzung neuer Ideen auf Majoritäten warten zu wollen, ist hoffnungslos. VI. Ein festgeschlossener Kreis durch Gesinnung und Auftreten für unsere Ideen werbender Persönlichkeiten erscheint uns einzig imstande, in zäher Arbeit unser studentisches Leben neu zu formen. 82 Vgl. Vermerk auf Schreiben v. 12.2.1907, sowie Vermerk auf Schreiben an den Rektor der Universität vom 16.2.1907 (UAG Akte XG 2693/58). Dazu auch Ahlborn, Freischarchronik, S. 7–8, sowie Ahlborn, „Wanderer“ und „Freischar“, S. 183.
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Wir vertrauen, daß unter unserem Banner sich die Besten der deutschen Studenten scharen werden. Wir können nicht glauben, daß die Streiter fehlen sollten, wo es gilt: geistige Freiheit und unsere Ehre!83
In ihrem Flugblatt distanzierte sich die Freischar von allen für unzeitgemäß befundenen Formen studentischen Verbindungslebens sowie vom allgemein proklamierten Führungsanspruch der Freien Studentenschaften. Da das Programm der Freischar in studentischen Kreisen durchaus polarisierte, herrschte auf der abendlichen Versammlung großer Andrang. Sie wurde denn auch von einer scharfen Kontroverse zwischen der Freischar und Vertretern mehrerer Göttinger Korps bestimmt. Die anwesende Zuhörerschaft und die Lokalpresse erlebten das Geschehen als deutliche Niederlage für die Korps, die auf der Veranstaltung in die Defensive geraten waren, wenngleich sich die Freischar dem Vorwurf ausgesetzt sah, ihre Gegner zu kritisieren, zugleich aber eine konstruktive Zusammenarbeit abzulehnen, zumal ohne selbst über ein konkretes Programm zu verfügen.84 In der Tat hatte die Freischar das Angebot der Vertreter der Burschenschaften und der Freien Studentenschaft ausgeschlagen, in den Kreis der Bundesgenossen aufgenommen zu werden und betonte ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und selbstständiger Entwicklung. Unter dem 1. Vorsitzenden Ahlborn, dem 2. Vorsitzenden Jules C.A. Schröder sowie dem Schriftführer Ernst Jokuff nutzte die Freischar die Folgezeit dazu, ihre Programmatik näher auszuarbeiten, um so das reformstudentische Profil ihrer Verbindung zu schärfen. Wohl vor allem auf Betreiben Ahlborns und Harbecks näherte sich die Freischar in ihren Grundsätzen noch deutlicher als zuvor den Erziehungszielen des HWV an, wie ein von der Freischar entworfenes Programm schließen lässt, das sich zu Beginn des Sommersemesters 1907 an den Schwarzen Brettern der Universität wiederfand und bereits einen Eindruck von der sozialen Praxis und künftigen kulturellen Agenda der Freischar vermittelte: 1. Freier Zusammenschluß von Studenten zur Anbahnung dauernder Freundschaft auf der Grundlage der Gedankenfreiheit und vorurteilslosen Gesinnung. 2. Entwicklung einer frohen und ungezwungenen Geselligkeit, gegenseitige persönliche Erziehung, Unterstützung und Belehrung. 3. Einschränkung des Duells, Bekämpfung der veralteten studentischen Erziehungsmittel der Mensur und [des] Kneipkomments. 4. Austausch wissenschaftlicher und politischer Anschauungen; Behandlung künstlerischer und religiöser Fragen; Übung der freien Rede.
83 Der Abdruck des Flugblatts findet sich in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 7. Original: Studentisches Flugblatt der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen von 1907 (AdJb A 101/2–4). 84 Artikel im Göttinger Tageblatt v. 22.2.1907 zur studentischen Versammlung vom 20.2.1907 (UAG Akte XG 2693/58).
88 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 5. Förderung des Verständnisses für die moderne Entwicklung des deutschen Studententums in Wort und Schrift. 6. Kräftigung selbstständigen Urteils und frischen Unternehmungsgeistes durch Wandern und Reisen. Die Freischar fordert von ihren Mitgliedern Selbstzucht, Selbstbeherrschung und moralisches Verantwortlichkeitsgefühl. Bei Schlichtung von Ehrenhändeln zwischen Mitgliedern der Freischar und anderen Studenten ordnen sich die Freischärler nur dem Spruche ihres eigenen Ehrenrates unter. Ordentliches Mitglied kann jeder an der Georgia-Augusta immatrikulierte Student werden.85
Abgesehen von den studentenpolitischen Zielen einer Modernisierung und Reformierung der studentischen Lebens- und Erziehungspraxis und davon ausgehend des deutschen Studententumes im Allgemeinen, bezog sich das Programm im Wesentlichen auf die schon im HWV verfolgten Eckpunkte Selbstbildung, Geselligkeit, Freundschaft und soziale Verantwortung. Das Programm diente zum einen der Selbstverständigung der Freischar, zum andern markierte es eine erste sichtbare Standortbestimmung im studentischen Milieu und sollte die praktische reformstudentische und kulturreformerische Stoßrichtung vorgeben. In der Folgezeit baute die Freischar ihre Programmatik weiter aus und erarbeitete entsprechende Satzungen und Schriften, die sie an der Universität in Umlauf brachte. Im Prolog des Flugblatts „Studentische Reform“, das eine ausführliche Version der allgemeinen Grundsätze der Freischar enthielt und im Verlaufe des Sommersemesters 1907 an alle Neuimmatrikulierten versandt wurde, hieß es: Als letztes Glied einer Kette von Bewegungen und Versuchen, das studentische Leben in neue Bahnen zu lenken, tritt uns die in Göttingen gegründete Freischar entgegen. Sie will das wirklich ehrwürdige Alte, das im Studententum an vielen Stellen zerstreut vorhanden ist, vereinigen mit dem praktischen Neuen. So soll die studentische Verbindung entstehen, die die Forderung einer gegen die jetzt führenden Gruppen der Studentenschaft gerichteten Kritik erfüllt: Anpassung an die modernen Lebensanschauungen. […]. Ein großer Teil der zur zukünftigen Führerschaft bestimmten Jugend wird durch diese Vereine zu einem Typus verarbeitet, einer Welt ausgeliefert, die über die Zeiten und Zustände hinausgewachsen ist, in denen dieser Typus herrschen durfte. Darin liegt eine Gefahr für den Kulturfortschritt unserer Nation, denn ein in alten Vorurteilen befangenes, veräußerlichtes Geschlecht ist nicht imstande, ein Volk zur Zufriedenheit zu führen, das instinktiv mit allen Kräften einem Zustande der Verinnerlichung zustrebt.86
Von Interesse ist dabei weniger die bereits zum Selbstverständnis des HWV gehörende Frontstellung gegen die kulturelle Praxis der traditionellen Studentenver-
85 Aushang Allgemeine Grundsätze der Freischar o. J. (UAG Akte XG 2693/58). 86 Flugblatt des Bundes Deutscher Akademischer Freischaren vom April 1908 mit dem Titel: „Studentische Reform“ (AdJb A 101/2–7). Das Flugblatt ist auch vollständig abgedruckt in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 8.
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bindungen, als vielmehr die weitergehende Profilierung der Freischar als kulturelle und ethisch-moralische Avantgarde. Danach ging es ihr nicht einfach nur um eine partielle Modernisierung des studentischen Verbindungslebens, sondern um die Erziehung und Kultivierung eines gänzlich neuen, auf der Höhe der Zeit agierenden Akademikertypus. In einer programmatischen Grundsatzerklärung Ahlborns von 1908 hieß es zu den Motiven der Freischar werbend: Kommt zu uns! Helft uns die Fesseln der alten Traditionen brechen, die das Selbstbewußtsein der deutschen Studentenschaft schänden! Wir bieten Euch nicht Geld noch Konnexionen, aber Freundschaft fürs Leben und innere Freiheit, die wertvollste Bedingung für die Selbsterziehung zur persönlichen Tüchtigkeit.87
Das ausgeprägte kulturell-soziale Verantwortungsbewusstsein der Freischar manifestierte sich dabei in ihrer Sorge um Qualität und Eignung der zukünftigen akademischen bzw. gesellschaftlichen Führungseliten und damit um den kulturellen Fortschritt der Nation. Nur vor dem Anspruch einer umfassenden kulturellen Erneuerung verstehen sich ihre Vorbehalte gegenüber dem traditionellen Verbindungsstudententum, deren akademischen Phänotyp die Freischar angesichts des technologischen und gesellschaftlichen Fortschritts sowie der damit verbundenen Möglichkeiten und Herausforderungen für nicht mehr handlungskompetent befand. In Anbetracht dessen stellte es sich die Freischar Göttingen zur Aufgabe, unter „bewußter Übung aller Kräfte des Körpers, des Geistes und des Charakters“ eine „volks- und verantwortungsbewußte akademische Führerschaft“ heranzubilden, wobei dabei alles vermieden werden sollte, was die „körperliche und sittliche Widerstandskraft“ vermindern konnte.88 Der Zweck der Freischar war folgender: Die Freischar ist ein Sammelpunkt und eine Erziehungsgemeinschaft solcher Studenten, die sich auf der Universität neben ihrem Studium und später im Berufsleben in den Dienst des Gemeinwohles stellen wollen. Sie schreibt ihren Mitgliedern auf politischem und religiösem Gebiete keine abgeschlossene Überzeugung vor und keine bestimmte Richtung der Betätigung innerhalb ihrer Organisation. Sie will den Einzelnen zu selbstständiger Urteilsund Willensbildung und zu möglichst vollkommenen Leistungen innerhalb seiner individuellen Veranlagung anspornen.89
Die Freischar wollte eine Musterverbindung sein, an deren Beispiel sich die deutsche Verbindungslandschaft in der Zukunft orientieren sollte. Sie beruhte auf der Idee, dass die „studierende Jugend berufen sei, die besten Gedanken der Gegen-
87 Knud Ahlborn: Aus der Freischarbewegung, in: Der Wanderer 3 (1908), H. 5, S. 154–155, hier S. 155. 88 Ahlborn, Lebenslauf, S. 109. 89 Auszug aus den Satzungen der Freischar Göttingen, zitiert nach: Ebd., S. 109–110, hier S. 109.
90 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 wart zu spiegeln, […] und diesen „zu Verwirklichung und kräftigem Leben verhelfen müsse“.90 Von ihren Mitgliedern forderte die Freischar verantwortliches Handeln für sich, die Gruppe und das Gemeinwohl. Dafür versprach sie ihren Mitgliedern im Gegenzug „vorurteilslose Gesinnung“, „Gedankenfreiheit“, „ungezwungene Geselligkeit“, „gegenseitige persönliche Erziehung, Unterstützung und Belehrung“, anregenden Austausch „wissenschaftlicher und politischer Anschauungen“, rhetorische Schulung sowie Bildung in künstlerischen und religiösen Fragen.91 Unabhängig von einzelnen Inhalten stand die Freischar auf dem Standpunkt, dass sich die geistige Entwicklung ihrer Gemeinschaft letztlich nicht in Satzungen festhalten ließ, sondern in erster Linie von ihren Mitgliedern gelebt werden müsse, die den Geist der Freischar durch ihre Lebensführung inner- und außerhalb der Gemeinschaft wirksam werden lassen sollten. Das Selbstbildungsprogramm der Freischar sollte die besten geistigen, charakterlichen und praktischen Anlagen jedes Einzelnen zur Entfaltung bringen, wobei sie eine gesunde, natürliche Lebensführung und anregende Geselligkeit dafür als Voraussetzung ansah. Lebensreformerische Tugend galt der Freischar als Voraussetzung für die Kultivierung einen zukunftstauglichen und tatkräftigen Akademikertypus, den sie in ihren Reihen ausbilden wollte. Die in der Freischar gesammelten Erfahrungen, die entwickelten Ideen und nicht zuletzt das „langsame organische Wachsen“ sollten dazu beitragen, die Freischar perspektivisch zu einer führenden studentischen Reformbewegung zu machen.92 Bereits 1908 sah Ahlborn in der Freischar „die ersten geistigen Führer“ des deutschen Volkes hervorragen, die die Freischar perspektivisch zum „Sieg“ über den rückständigen kulturellen Habitus der traditionellen Verbindungen führen und so die grundlegende Erneuerung der Gesellschaft einleiten sollte.93
3.3 Praxis Im Hinblick auf ihre originäre Praxis verstand sich die Freischar als Vorstufe einer neuen studentischen Kultur, die „zum Segen des akademischen Lebens“ bald an die Stelle traditioneller Studentenverbindungen treten würde. Man war
90 Die Deutsche Akademische Freischar. (UAG Akte XG 2693/58). 91 Flugblatt „Studentische Reform“, in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung, S. 8–11, hier S. 9–10. Ferner Knud Ahlborn: Studentische Reform, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 54–57. 92 Knud Ahlborn, Vortrag, gehalten am 20. Februar 1908 am ersten Stiftungsfest der Freischar, S. 3–4 (AdJb A 101/18). 93 Knud Ahlborn: Zur Freischarbewegung, in: Der Wanderer 3 (1908), H. 6, S. 193–196, hier S. 196.
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sich bewusst, dass eine solche Reform, bei der die Jugend um ihre „höchsten Ideale“ ringe, von „weittragender Wirkung auf die zukünftige Entwicklung“ des Staates sein würde.94 Die angestrebte Neuordnung der studentischen Lebens- und Gemeinschaftspraxis und die Erziehung eines neuen Akademikertypus sollten auf lange Sicht den Fortschritt der Nation gewährleisten und die Grundlage für einen modernen Kulturstaat legen. Der hierarchisch-autoritären Erziehung traditioneller Studentenverbindungen und ihrer für unproduktiv und ungesund befundenen Gemeinschaftspraxis setzte die Freischar auf praktischer Ebene das Konzept der gemeinschaftlichen Selbstbildung entgegen, das die klassische Trennung zwischen Lehrer und Schüler aufheben und die Entwicklung und Interessen des Einzelnen fördern sollte.95 Als ihr „bestes Erziehungsmittel“ verstand die Freischar ihr akademisches Gemeinschaftsleben und die beim Wandern und Reisen gesammelten praktischen und ideellen Erfahrungen. Außerdem forderte sie von ihren Mitgliedern „Selbstzucht, Selbstbeherrschung und moralisches Verantwortlichkeitsgefühl“96. Intellektueller Habitus sowie sozialkulturelle Praxis der Freischar zielte auf die Kultivierung einer akademischen Führungselite, die von einem neuen Ethos sowie einem neuen sozialpraktischen Impetus geleitet sein sollte. Dazu suchte die Freischar ihren Organisationsgrad möglichst gering zu halten und durch organische Teilung übergroße Zahlen zu vermeiden.97 Im Mittelpunkt sollten persönliche Beziehungen, gemeinsame Arbeit und gegenseitige Erziehung stehen. Die Bevorzugung von organisatorisch informell und persönlich gehaltenen, möglichst homogenen Kleingruppen war dem Ziel geschuldet, für den Einzelnen bestmöglichste Entwicklungsvoraussetzungen zu schaffen. Im Sinne der Gruppendynamik sollte einem übermäßigen Anwachsen der Gruppe entgegengewirkt werden. Als optimale Gruppengröße strebte man eine Gemeinschaft von etwa fünfzehn Mitgliedern an. Dadurch sollten die innere Homogenität und das freundschaftliche Zusammenwachsen der Gruppe sowie deren Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit nach außen gewährleistet werden. Sofern die Anzahl der Gruppenmitglieder signifikant größer ausfiel, sollte durch organische Teilung eine neue Freischar entstehen. Da die Mitgliederzahl jedoch insbesondere in der Anfangsphase stark variierte, zu Beginn des Wintersemesters 1907/08 etwa kehrten von den ursprünglichen acht Mitgliedern nur drei wieder nach Göttingen zurück, bestand meist kaum Anlass zur Teilung.98
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Ahlborn, Die gegenwärtigen akademischen Verbindungen und ihre Fortentwicklung, S. 6. Vgl. Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 8, sowie Ahlborn, Freischarchronik, S. 10–12. Ahlborn, Freischarchronik, S. 20.
92 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Durch die Öffentlichkeitsarbeit und die seit 1907 zahlreich an der Universität in Umlauf gebrachten Flugblätter und Aushänge konnten allein im Wintersemester 1907/08 immerhin sieben Studierende als ordentliche Mitglieder sowie zusätzlich ein höhersemestriger Student als ständiger „Verkehrsgast“ für die Verbindung gewonnen werden.99 Die Zahl der ordentlichen Verbindungsmitglieder pendelte sich allerdings schon ein paar Semester später auf zehn bis fünfzehn Mitglieder ein. 1912 gehörten der Göttinger Freischar 14 ordentliche Mitglieder an, hinzu kamen zahlreiche Altfreischärler, auswärtige und außerordentliche Mitglieder sowie Freischarfreunde.100 Wie schon der HWV, begriff auch die Freischar Natur als einen Ort kultureller Neuschöpfung und Identität sowie individueller Autonomie und Gestaltungsfreiheit. Insofern hatte die von der Freischar gepflegte Wanderpraxis und das sich darin widerspiegelnde Denkmuster von Nationalnatur und Naturnation eine signifikante identitätspolitische Dimension.101 Im Verlaufe der weiteren Entwicklung der akademischen Freischaren an den deutschen Universitäten trat der Wandergedanke allerdings bald in den Hintergrund. Zwar galt das Wandern insbesondere in der Formierungsphase der Freischaren seit 1907/08 noch immer als wertvolles Erbe der Wanderbünde und der Wandervogelzeit, jedoch rückten praktische Aufgaben wie die Modernisierung des Verbindungsstudententumes und die Frage der Erziehung immer stärker in den Vordergrund. In der kulturidealistisch bzw. -reformerisch orientierten Phase der bürgerlichen Jugendbewegung, die von der Erneuerungspraxis und -programmatik der Freischaren geprägt war und mit dem Freideutschen Jugendtag 1913 ihren Höhepunkt erreichte, genoss das Wandern zwar nach wie vor identifikatorischen Stellenwert, doch lösten sich im Hinblick auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der technischen und gesellschaftlichen Modernisierung insbesondere die akademischen Freischaren von der ideologischen Mystifikation des Wanderns ab und wandten sich konkreten gesellschaftlichen Reformvorhaben zu.102 Zwar war der lebensreformerisch geprägte Natur- und Wandergedanke für das Erziehungsbild der Freischar zentral, im stärker politisch akzentuierten akademisch-intel-
99 Ahlborn, Freischarchronik, S. 21. Für Aushänge der Freischar s. Knud Ahlborn/Ferdinand Goebel, Werbeflyer der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom WS 1908/09 u. SS 1909 (AdJb A 101/2–8). 100 Mitgliederliste der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom 13.12.1912 (UAG Akte XG 2693/58). 101 Johannes Zechner: Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Darmstadt 2016; Ders.: From Poetry to Politics. The Romantic Roots of the „German Forest“, in: William Beinart/Karen Middleton/Simon Pooley (Hrsg.), Wild Things. Nature and the Social Imagination, Cambridge 2013, S. 185–210. 102 Vgl. Rosenbusch, Die deutsche Jugendbewegung in ihren pädagogischen Formen und Wirkungen, S. 116.
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lektuellen Umfeld der Universität gewannen jedoch kultur- und sozialreformerische Fragen an Relevanz. Die Idee der Lebens- und der Selbstreform, die sich anfänglich primär auf eine Modernisierung des studentischen Gemeinschaftslebens bezog, verdichtete sich in der zunehmend sozialpraktisch denkenden Freischar nach und nach zur Idee einer umfassenden Gesellschaftsreform, die vom Glauben an die besondere intellektuell-moralische Befähigung und soziale Verantwortung der eigenen Gruppe genährt wurde. In der Freischar und mit den Freischärlern heranreifende gesellschaftskritische lebens-, sozial- und kulturreformerische Ideen wurden zunehmend auf die Lebensrealität der wilhelminischen Gesellschaft bezogen. Analog zum persönlichen Reifeprozess der Freischärler, die sich auf ihren künftigen Berufseintritt und den Aufbau ihrer bürgerlichen Existenz vorbereiteten, gewannen Fragen der zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung für Programm und Praxis der Freischar an Bedeutung. Bereits in ihrem Flugblatt „Studentische Reform“ aus dem Sommer 1907, das mit der Formel: „Nicht die Zeit schleppe Euch, tragt Ihr sie vorwärts!“ schloss, begriff sich die Freischar als Avantgarde und Initial einer deutschlandweiten „Freischarbewegung“, die sich schon in naher Zukunft an den deutschen Universitäten und Hochschulen ausbreiten sollte, um zum einen „der Herrschaft der Korps die Wage zu halten“, zum andern die flächendeckende Erziehung eines neuen Akademikertypus einzuleiten, der die kulturelle Erneuerung der Gesellschaft verantworten sollte.103 Obwohl sich die Programmatik der Freischar primär an den traditionellen studentischen Geselligkeitsformen und einem damit negativ in Verbindung gebrachten Akademikertypus abarbeitete und sich entlang dieser Thematik entwickelte, zielte diese im Kern auf eine umfassende „staatsbürgerliche Erziehung“ und entsprach damit dem kulturell-sozialen Verantwortungsdenken der Freischärler. Die kultur- und sozialreformerische Agenda der Freischar war insofern mit der politischen Sphäre verknüpft, als ihre Mitglieder die Bedeutung der Politik als gesellschaftliches Steuerungsinstrument erkannten.104 Der Göttinger Freischärler Otto Nahnsen schrieb im Dezember 1913: Mir scheint, daß die Freischar, wenn sie eine systematische staatsbürgerliche Erziehung an ihren Mitgliedern leistet, damit die soziale Arbeit leistet, zu der sie ihrer Natur nach am ehesten fähig und berufen ist, indem sie Menschen erzieht, die sich über die grundlegenden Fragen der societas, das Staatslebens klar zu werden suchen, die auch über die wichtigsten Fragen der aktuellen Politik Bescheid wissen, und die deshalb am ehesten fähig
103 Flugblatt „Studentische Reform“, S. 11. 104 Vgl. Otto Nahnsen: Staatsbürgerliche Erziehung in der Freischar (aus: Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar, H. 5, Dezember 1913), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 434–435, hier S. 434.
94 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sind, ihren politischen Einfluß in der Weise geltend zu machen, in der er der Volksgemeinschaft zum größtmöglichen Nutzen gereicht […]. Erziehung ihrer Mitglieder in dieser Beziehung ist für die Freischar Erfüllung ihrer sozialen Tendenz.105
Die Freischar legte großen Wert auf die gesellschaftspolitische Bildung ihrer Mitglieder, ein Herausstellungsmerkmal, mit dem sie auch unter der Studentenschaft warb.106 Zu diesem Zweck baute die Freischar unter anderem eine umfangreiche Leihbibliothek mit zeitgenössischer Literatur aus allen Gebieten der Wissenschaft, des Sozialen, der Kunst, der Religion und der Philosophie auf. Daneben abonnierte man semesterweise diverse Tageszeitungen und Zeitschriften. Die regelmäßige Zeitungslektüre sollte den Mitgliedern einen Überblick über aktuelle politische und zeitgeschichtliche Themen geben und bei diesen ein Bewusstsein für die Faktoren politisch-historischer Entwicklung wecken. Auf den regelmäßig stattfindenden Diskussions- und Ausspracheabenden der Freischar verhandelte man insbesondere auch Fragen der philosophischen Staatslehre und des aktuellen politischen Geschehens.107 Wichtig für die Weiterbildung waren ferner auch solche Zeitungen, die über akademische Angelegenheiten informierten und die Entwicklungen der Hochschulpolitik betrafen. Um die gegenseitige Erziehung im Alltag zu fördern, richtete man zudem auch eine „Zeitschriftenschau“ ein, die täglich im Anschluss an den gemeinsamen Mittagstisch stattfand und bei der die einzelnen Mitglieder abwechselnd über den Inhalt aktueller Artikel zu berichten hatten.108 Daneben richtete die Freischar ein eigenes Archiv ein, das nicht nur Material über die Freischarbewegung selbst, sondern auch umfangreiches Bildmaterial sammeln sollte. Mit ihrem umfassenden Bildungsangebot wollte die Freischar die fachliche Ausbildung der Universitäten in jeder Weise ergänzen.109 Durch die Veranstaltung öffentlicher Vorträge und Studentenversammlungen wollte die Freischar nicht nur für ihre Agenda werben und neue Mitglieder ansprechen, sondern auch das Bewusstsein der akademischen Öffentlichkeit für die sozialen Probleme der Zeit wecken. Die Zuhörerschaft sollte auf den Versammlungen über die gegenwärtigen Missstände des Studententumes aufgeklärt und so das „schlummernde Gewissen der Öffentlichkeit und der akademischen Jugend“ wachgerüttelt werden.110
105 Nahnsen, Staatsbürgerliche Erziehung in der Freischar, S. 435. 106 Vgl. Flugblatt der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen mit dem Titel: „Die Deutsche Akademische Freischar.“ Göttingen o. J. (UAG Akte XG 2693/58). 107 Vgl. Nahnsen, Staatsbürgerliche Erziehung in der Freischar, S. 434. 108 Vgl. Ahlborn, Freischarchronik, S. 22–23, 24–26. 109 Vgl. Knud Ahlborn: Die deutsche akademische Freischar, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 5./6., S. 156–158, hier S. 157. 110 Ebd. Vgl. auch Flugblatt „Die Deutsche Akademische Freischar.“ Göttingen o. J. (UAG Akte XG 2693/58).
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Für die Freischar war die Erziehungsfrage mit der Aufgabe verbunden, innerhalb der eigenen Reihen ein neues Ethos zu entwickeln. Die Freischar wollte ihren Angehörigen Zeit und Möglichkeit geben, alle wesentlichen Fragen des aktuellen Zeitgeschehens unter Zurverfügungstellung bestmöglichster Bildungsmaterialien in ihrer Komplexität ergründen zu können. Die Freischar war der Ansicht, dass die Gegenwart ohne gründliche politische und wissenschaftliche Bildung unverständlich blieb und ohne Vorbildung nicht mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen war. Sie wollte nicht nur die Bildungsbereiche Politik und Wissenschaft abdecken, sondern auch die religiöse und weltanschauliche Bildung ihrer Mitglieder sicherstellen. Politik, Wissenschaft und Religion waren die drei Säulen der Freischar-Erziehung.111 Generell erstrebte die Freischar mit dem Konzept der gemeinschaftlichen Selbsterziehung zur „Heranbildung eines weitblickenden, den Zeitgeist und das Volksleben verstehenden Geschlechts“ beizutragen, das imstande und bereit sei, „der Volksgemeinschaft im Sinne der Entwicklung zu dienen“.112 Nach der Überzeugung Ahlborns wurde dies durch die besondere „akademische Freiheit“ innerhalb der Freischar ermöglicht, die sich aus ihrer vergleichsweise „edlen Form der Geselligkeit“ sowie ihrer praktizierten „Lehr- und Lernfreiheit“ ergab. Die persönliche Entwicklung ihrer Mitglieder wurde nach Auffassung der Freischar weder durch unproduktive und zeitraubende Gemeinschaftsrituale behindert, noch durch antiindividualistische „Instinkte der traditionellen Herdengesinnung“ manipuliert, wie man sie mit dem traditionellen Studententum assoziierte.113 Die Freischaren und ihre Mitglieder sollten sich schließlich gesellschaftlich überall dort in Stellung bringen, „wo über die Zukunft entschieden“ würde.114 Da die Agenda der Freischar auf eine umfassende Reformierung des deutschen Studententumes zielte, war ihre sozialkulturelle Praxis von vornherein mit einem ausgeprägten Expansions- und Verbreitungsdenken verknüpft. Um ihre ambitionierten reformstudentischen und kulturreformerischen Zielsetzungen zu erreichen, intendierten die Mitglieder der Freischar von Beginn an, den Freischar-Gedanken strategisch auch an andere Universitäten zu exportieren. Dies sollte, wie schon im Fall der städtisch-gymnasialen Jugendwanderbünde, in der Hauptsache durch personellen Austausch, den gezielten (Studien-)Ortwechsel von Mitgliedern und den Aufbau einer hochschulweiten Freischarbewegung mit netzwerkähnlichen Strukturen erfolgen. Zumindest so lange die Zahl der deutschlandweiten Freischaren noch geringer war, verfolgte die Freischar damit eine Doppelstrategie, indem sie gezielt auch Beziehungen zu anderen Verbin-
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Vgl. Ahlborn, Zur Freischarbewegung, S. 196. Ahlborn, Die deutsche akademische Freischar, S. 157. Ahlborn, Zur Freischarbewegung, S. 194–195. Ahlborn, Die deutsche akademische Freischar, S. 158.
96 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 dungen suchte, die als Multiplikator fungieren und der Freischaridee größere Reichweite und Bekanntheit verschaffen sollten. Vor diesem Hintergrund schloss man 1907 ein Bündnis mit dem in Berlin ansässigen Akademischen Freibund, der sich die Verbreitung liberaler Ideen innerhalb der Studentenschaft zur Aufgabe gemacht hatte und sich als parteipolitisch unabhängig verstand, freilich mit der Hoffnung, perspektivisch dessen programmatische Anpassung an die Ziele der Freischar erreichen zu können. Beziehungen unterhielt die Freischar auch zu dem ebenfalls in Berlin wirkenden studentischen Bund Ethos, der sich innerhalb der Studentenschaft für eine Reform der sexuellen Lebensführung engagierte und eine rigidere Sexualmoral im Sinne einer studentischen Keuschheitsbewegung proklamierte, wobei sich der Bund bald nach 1908 aufgrund mangelnder Beteiligung auflöste.115 Im Wintersemester 1908/09 rief die Freischar in Kooperation mit der Freien Studentenschaft Göttingen und der Schwarzburgbund Burschenschaft Germania an der Universität Göttingen den schon länger angestrebten „Allgemeinen Studentischen Ehrenrat“ ins Leben. Dieser war fortan für die Regelung sämtlicher studentischer Ehrenangelegenheiten aller angeschossenen Verbindungen zuständig und folgte dabei entsprechend ausgearbeiteten Satzungen. Durch seine gerichtsähnliche Arbeit sollten alle studentischen Ehrenangelegenheiten sozusagen am grünen Tisch geklärt werden und den traditionellen Verbindungen so die Basis ihrer Satisfaktionspraxis entzogen werden.116 Der in Göttingen installierte Ehrenrat war deutschlandweit die erste Gründung dieser Art. Zu Beginn des Sommersemesters 1909 beteiligte sich mehr als die Hälfte der Studentenschaft an der Wahl des studentischen Ehrenrates und verschaffte der Freischar so zusätzliche Unterstützung.117 Motiviert von der Idee weiterer Freischar-Gründungen, waren bereits zum Wintersemester 1907/08 fünf der ursprünglich acht Freischarmitglieder an andere Universitäten gewechselt, um dort die Gründung lokaler Freischaren anzuregen. Bis zum Frühjahr 1908 entwickelten sich so befreundete Freischaren in München (Freischar München I), Berlin und Kiel sowie erste Freischarzellen in Leipzig und Freiburg (der Freischar Freiburg gehörten später unter anderem Rudolf Carnap und Walter Benjamin an). Bis 1912 existierten in München bereits zwei Freischaren, ebenso in Jena. Da die Fluktuation unter den Freischärlern universitäts- bzw. fachwechselbedingt recht groß war, gehörten viele von ihnen in ihrer Studienzeit mehreren Freischaren an. Das Personal der Freischaren bildete später den Kern der Freideutschen Bewegung (auch nach 1945) und prägte die studentische Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg. 115 Ahlborn, Freischarchronik, S. 17–18, 29–32. 116 Zur Konstituierung und Satzung des Ehrenrats Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 17–19. 117 Ebd., S. 19.
4 Die Deutsche Akademische Freischar (1908/09) Die Deutsche Akademische Freischar118 war die erste große organisierte Verstetigung der Freideutschen und Hauptrepräsentant der freideutschen studentischen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg. Der von Ahlborn bis 1918 geleitete Bund deutscher akademischer Freischaren war maßgeblich für die weitere programmatische Entwicklung der freideutschen Idee und der Freischaren verantwortlich, Hauptorganisator des Freideutschen Jugendtags 1913 und Initiator der Freideutschen Jugend, dem größten Bündnis der Vorkriegsjugendbewegung. Mit der Zeitschrift Der Deutsche Student (1908–1909), dem Wochenbericht der Deutschen Akademischen Freischar (1909–1910) und dem seit 1910 erscheinenden Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar entwickelte der Bund weitere wichtige Medien freideutscher Publizistik, außerdem fungierte er als Herausgeber zahlreicher freideutscher Schriften.
4.1 Gründung Um die Entwicklung der Freischaren besser koordinieren zu können, beschlossen die vier Gründungs-Freischaren Göttingen, München, Berlin und Kiel im April 1908 auf ihrem ersten Bundestag in Hamburg die informelle Gründung eines überregionalen Bundes, dem Bund Deutscher Akademischer Freischaren (BDAF), der schließlich im April 1909 mit Beschluss des zweiten Hamburger Bundestages offiziell unter dem endgültigen Namen Deutsche Akademische Freischar (DAF) gegründet wurde.119 Als Urzelle der hochschulweiten studentischen Freischarbewegung vor dem Ersten Weltkrieg beeinflusste die Freischar Göttingen, die mit ihrer kulturellen Praxis von vornherein über sie selbst hinausweisende gesellschaftliche Ziele verfolgte, die programmatische Entwicklung der DAF entscheidend. Nicht von ungefähr orientierten sich das Programm des BDAF und dann der DAF unter dem Bundesvorsitzenden Ahlborn an den allgemeinen Grundsätzen und Zielsetzungen der Freischar. Auch das organisatorische Zentrum der DAF, das sich um den Bundesvorsitzenden bildete, lag aufgrund personeller und organisatorischer Überschneidungen anfänglich in Göttingen. Hier erfolgte im Mai 1909 die Eintragung ins Vereinsregister. Daneben hatten auch die offiziellen
118 Grundlegend Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914; Dokumente/Quellen zur DAF in Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 393–394, 437–468. 119 Protokoll des Bundestages zu Hamburg vom 2.–4. April 1908, S. 1 (AdJb A 101/8); Protokoll des Bundestages in Hamburg vom 27.12.1908–2.1.1909, 6. Sitzung, S. 1 (AdJb A 101/8); Deutsche Akademische Freischar: Wochenbericht der DAF vom 17.5.–13.6.1909, S. 11; Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8); Satzung der DAF vom 2.4.1909 (AdJb A 101/1–7). https://doi.org/10.1515/9783110783667-009
98 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Organe der DAF, Arbeitsausschuss und Bundesvorstand, ihren Sitz zunächst in Göttingen, bevor diese 1911 zusammen mit dem Bundesarchiv der DAF aus organisatorischen Gründen und analog zum Studienortwechsel Ahlborns nach München verlagert wurden. Auch die Idee deutschlandweiter Selbstbildungs- und Erziehungsgemeinschaften, wie sie die DAF seit 1909 repräsentierte, ging auf die ambitionierten kultur- und sozialreformerischen Bestrebungen der Freischar zurück und war seit 1907 praktischer Bestandteil der Freischarkultur.120
4.2 Programm Mit dem Auftaktprogramm der DAF wurden die ursprünglich in der Göttinger Freischar kultivierten Grundsätze für alle Freischaren zur Leitlinie, wobei die einzelnen Ortsgruppen – ganz im Sinne der Freischarlogik – ihre Geschäftsordnung selbst festlegten. Da die Prinzipien der erzieherischen Freiheit und der Gruppenautonomie in der historischen Entwicklung der auf Selbstbildung angelegten Freischaren traditionell ein hohes Gut waren, waren die Satzungen der DAF für die einzelnen Ortsgruppen und Mitglieder zwar nicht bindend, jedoch hatten Satzungen und Satzungsänderungen der Ortsgruppen den grundsätzlichen Anforderungen der Freischar-Idee zu genügen und mussten den Gremien der DAF sowie allen Freischaren zur Kenntnis gebracht werden. Bei gravierenden Abweichungen hatte die DAF ein Vetorecht. Die Grundsätze der DAF und die von der Gründungsfreischar Göttingen geprägte Organisationsstruktur wurden in der Praxis von den meisten Freischaren mehr oder weniger eins zu eins übernommen, auch weil deren Gründung dadurch vielfach erleichtert und beschleunigt werden konnte.121 Eine für alle Freischaren verbindliche Satzung existierte zwar nicht, aber die Satzungen bestimmter einflussreicher Freischaren, insbesondere die der Freischaren Göttingen und München, nahmen innerhalb der Freischarbewegung mit der Zeit Vorbildcharakter an. Nach dem Willen des Freischarbundes sollten die bewährten Prinzipien Freundschaft, Geselligkeit und Selbstbildung im Zentrum der Freischarpraxis stehen. Der Freischarbund sah den Hauptzweck der Freischaren in der freien Entwicklung der Persönlichkeit, der rhetorischen Schulung, der Pflege von Freundschaft und ungezwungener Geselligkeit sowie in der gegenseitigen Erziehung, Unterstützung und Belehrung. Undogmatisch und unabhängig von parteipolitischen Interessen sollte die kulturelle Praxis der Freischaren das Ver120 Der Begriff der Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft selbst taucht innerhalb der Freischarbewegung erst ab 1910 systematisch auf. Vgl. Bundestagsbeschlüsse von dauernder Bedeutung 1908–1912, Beschluss vom 4. Bundestag, Hamburg April 1910 (AdJb A 101/8–13), S. 2. 121 Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8).
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ständnis ihrer Mitglieder für die deutsche Geschichte sowie den wissenschaftlichen und politischen Meinungsaustausch über alle Fragen des gesellschaftlichen Lebens fördern. Darüber hinaus sollten die geistige Regsamkeit und der Unternehmungsgeist der Freischar-Mitglieder durch regelmäßige Wanderungen und Reisen stimuliert werden. Durch öffentliches Auftreten und studentenpolitische Informationsarbeit sollten die Freischaren „veraltete studentische Erziehungsmittel“ wie Duell, Bestimmungsmensur und Kneipkomment zurückdrängen und so die moderne Entwicklung des deutschen Studententumes voranbringen.122 Zur Gründung des Freischarbundes und mit Blick auf die traditionellen Verbindungen bemerkte der Bundesvorsitzende Ahlborn in der Maiausgabe der Zeitschrift Der Wanderer 1908: Heute ist diesen Verbindungen, vor allem den Corps, zum ersten Male ein starker Gegner entstanden, der ihre Schwächen kennt und ihr Treiben aufdeckt. Das ist der „Bund der deutschen akademischen Freischaren“. Er leitet den großen Freiheitskampf ein, der zu einer Umgestaltung des alten Verbindungslebens in zeitgemäßem Sinne oder zu seiner Vernichtung führen muss. Da heißt es vor allem für die schulentwachsende Jugend, sich beizeiten zu rüsten und den Blick zu schärfen. Mutige Kämpfer gilt es zu stellen, wie die alten Burschen es waren, deren Ideale die heutige Burschenschaft, der Väter unwürdig, vergessen hat.123
Erklärtes Ziel war eine reichsweite Freischarbewegung, die das studentische Leben von innen heraus umgestalten und so eine zukunftstaugliche akademische Elite entwickeln sollte, die den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und den damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen gewachsen war. Im Hinblick auf die ambitionierte Verbreitungsstrategie der Freischaren erwartete Ahlborn für das Jahr 1908 neben dem Ausbau der bereits existierenden Freischaren Kiel, Berlin, Göttingen und München weitere Freischar-Neugründungen für Freiburg, Dresden, Stuttgart, Marburg und Hannover.124 Bis Mitte 1909 konstatierte er neben Gründungsgruppen in Leipzig und Freiburg ein wachsendes Reservoir zahlreicher Anhänger an deutschen Universitäten. In der Folge entwickelten sich an mehreren deutschen Universitäten weitere Freischarzellen und Kontaktgruppen, die zum Ausbau eines deutschlandweiten Informationsnetzes
122 Auszug aus dem Programm des Bundes Deutscher Akademischer Freischaren, 1908, (AdJb A 101/1–2). 123 Ahlborn, Aus der Freischarbewegung, S. 154. 124 Vgl. ebd., S. 155.
100 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 zwischen den Freischaren beitrugen.125 Daneben konnte die DAF auch eine ganze Reihe freier Mitglieder gewinnen.126 Um seiner Agenda öffentlich Nachdruck zu verleihen, hatte der BDAF kurz nach seiner Gründung das programmatische Flugblatt „Studentische Reform“ veröffentlicht, das nicht nur an den Titel, sondern auch fast eins zu eins an den Inhalt eines bereits 1907 von der Freischar Göttingen in Umlauf gebrachten Flugblatts anschloss und so eine bewusste historische Linie zu den Ideenbeständen der ersten Freischar zog. Im Mittelpunkt des Programms standen nach wie vor das Konzept der Selbstbildung und die Forderung einer Modernisierung des Studententumes. Hatten die Göttinger Freischärler 1907 noch der Hoffnung einer deutschlandweiten Freischarbewegung Ausdruck gegeben, konstatierte man ein Jahr später schon selbstbewusst deren Existenz und gab als nächstes Ziel die Einigung der gesamten deutschen Studentenschaft aus. Voraussetzung dafür sollte die „Veredelung des Verbindungswesens“ und die „Beseitigung seiner Auswüchse“ sein.127 Auf dem Gründungsbundestag des Bundes war auch der Beschluss zur Herausgabe der Zeitschrift Der Deutsche Student ergangen, zu deren Herausgabe mit dem Schwert-Verlag zunächst ein eigener Verlag gegründet wurde, bevor diese seit dem dritten Heft in Walter Sernos Wanderer-Verlag erschien.128 Die Zeitschrift mit dem Untertitel „Blätter für ein modernes Studententum“ erschien erstmals zu Beginn des Sommersemesters 1908. Die Schriftleitung übernahmen Ferdinand Goebel, mittlerweile Vorsitzender der Freischar Berlin, und der Göttinger Freischärler Peter Friedrich Gleitz. Die Zeitschrift sollte die Leitideen der Freischaren ins Bewusstsein einer breiteren akademischen Öffentlichkeit rücken und als studentisch-akademisches Diskussionsforum dienen. Dazu wandte sie sich an die gesamte deutsche Studierendenschaft sowie an kulturreformerisch eingestellte Vertreter der kulturellen Eliten, insbesondere die Lehrer- und Professorenschaft. Kernanliegen der Zeitschrift war die kulturell fruchtbare Weiterentwicklung des deutschen Studententumes, die Anpassung der studentischen Praxis an das moderne Leben und die Anforderungen der Zeit. Anregung und Förderung erhoffte man sich von fortschrittlich denkenden Professoren und Kulturschaffenden.129 125 Exemplarisch dazu Charlotte Lütkens (Hrsg.): Die ersten fünf Semester der Freischar zu Freiburg. S.-S. 1911 – S.-S. 1913, Freiburg 1914. 126 Ahlborn, Die deutsche akademische Freischar, S. 156–157. 127 Flugblatt des Bundes Deutscher Akademischer Freischaren vom April 1908 mit dem Titel: „Studentische Reform“ (AdJb A 101/2–7), S. 4. Das Flugblatt findet sich auch in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung, S. 12–15. 128 Protokoll des Bundestages zu Hamburg vom 2.–4. April 1908 (AdJb A 101/8), S. 1–2. 129 Vgl. Ferdinand Goebel: Zum Geleit, in: Der Deutsche Student. Blätter für ein modernes Studententum 1 (1908), H. 1, S. 2–3, hier S. 2, sowie die Eröffnungserklärung „Was wir wollen!“ des
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Die Zeitschrift behandelte die aktuellen sozialen, kulturellen, religiösen, künstlerischen und auch politischen Fragen der Zeit und rückte insbesondere das Konzept der Selbstbildung in den Mittelpunkt.130 Tatsächlich konnte die Zeitschrift eine Reihe Professoren und Künstler für die Mitarbeit gewinnen. Für die Erstausgabe stand der Reformpädagoge und Mentor des Steglitzer Wandervogel e.V. Ludwig Gurlitt Pate, der in der Zeitschrift immer wieder Stellung zu verschiedenen Fragen der Erziehung nahm und die Arbeit der Freischaren aktiv öffentlich unterstütze.131 Um die Verbreitung der Zeitschrift auf solide Füße zu stellen, akquirierte insbesondere Goebel zahlreiche Inserenten und Abonnenten aus den Bereichen Hochschule, Kultur und Buchhandel. In der Erstausgabe lieferte der Bund der Freischaren auch ein weltanschauliches Bekenntnis, das den Titel „Was wir wollen!“132 trug und als Leitbild der Freischarbewegung fungieren sollte. Wiedergegeben wurde ein Zitat aus Carlyles „Beiträge zum Evangelium der Arbeit“ (1851), das den sozialpraktischen Ansatz und die Zukunftsgerichtetheit der Freischaren sowie die historische Chance zu gesellschaftlicher Veränderung betonte. Aus finanziellen Gründen wurde die Zeitschrift Ende des Sommersemesters 1908 nach nur vier Ausgaben hochverschuldet wieder eingestellt.133 Intern gab der Freischarbund seit Januar 1909 den Wochenbericht der Deutschen Akademischen Freischar heraus, der von April/Mai 1910 an als Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar weitergeführt und jedem Mitglied zugänglich gemacht bzw. zugesandt wurde.134 Bis diese von Mai 1913 an gedruckt erschienen, wurden die Freischarberichte hektografisch verbreitet. Die Berichte richteten sich ausschließlich an Angehörige der Freischaren und versammelten neben Bundesberichten und Meldungen aus den einzelnen Freischargruppen informative Aufsätze zu verschiedenen Themengebieten. Die Idee einer weiteren Freischar-Zeitung ließ sich allerdings vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund fehlender Organisationsstrukturen und immer wieder auftretender Bundes Deutscher Akademischer Freischaren, in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 15–16, hier S. 15. 130 Knud Ahlborn: Die Selbsterziehung auf der Universität, 1. Teil, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 2, S. 20–25, sowie: Ders.: Die Selbsterziehung auf der Universität, 2. Teil, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 3, S. 44–52. 131 Ludwig Gurlitt: Patenrede, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 1, S. 3–5; Ders.: Zeitbild, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 3, S. 52–55; Ders.: Kommilitonen!, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 4, S. 69–73. 132 Eröffnungserklärung „Was wir wollen!“, in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 15–16, hier S. 16. Der Textauszug Carlyles findet sich in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 1, S. 1. 133 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Januar 1912, S. 17–20, sowie Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom April/Mai 1916, S. 3. 134 Die Wochenberichte und Monatsberichte der DAF von 1909–1914 finden sich in AdJb A 101/11).
102 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Koordinierungsschwierigkeiten zwischen den einzelnen Freischaren nicht mehr verwirklichen.135 Auf ihrem 2. Bundestag im Dezember 1908 bezog die DAF prinzipielle Stellung zu ihren Erziehungsgrundsätzen. Großes Gewicht legte sie auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem eigenen Körper. Sie bekannte sich zu den Zielen der Abstinenzbewegung und erklärte ihre grundsätzliche Gegnerschaft zur studentischen Mensur. Hinsichtlich ihrer sittlich-moralischen Stellung zur Frage der sexuellen Abstinenz verwies die DAF auf die in den Freischaren geltenden Prinzipien Überzeugungstreue und Verantwortlichkeitsgefühl.136 Zu Beginn des Sommersemesters 1909 veröffentlichte die DAF Auszüge aus ihrem Programm, die von den einzelnen Freischaren an den Schwarzen Brettern der Universitäten Kiel, Berlin, Göttingen und München ausgehängt wurden und für eine lokale Mitgliedschaft in den jeweiligen Freischaren warben. Inhaltlich knüpfte es vollständig an das Programm der Freischar Göttingen und das Auftaktprogramm des BDAF von 1908 an. Herausgestellt wurden nach wie vor der eigene Kampf gegen veraltete studentische Erziehungsmittel und das Konzept der Selbstbildung, zu dem selbstverständlich auch das Wandern gehörte. Von potentiellen Mitgliedern forderten die Freischaren zuvorderst „Überzeugungstreue“ und „Verantwortlichkeitsgefühl für die hohen Pflichten“ ein, die dem modernen Studententum auferlegt seien.137 Als Verwaltungsorgane installierte die DAF den „Freischartag“ sowie einen Arbeitsausschuss und einen Bundesvorstand. Zu ihrem obersten gesetzgebenden Gremium bestimmte sie den „Freischartag“ bzw. „Bundestag“, der als Äquivalent zur ordentlichen Mitgliederversammlung fungierte. Dieser setzte sich aus dem Bundesvorstand sowie jeweils drei Abgeordneten der einzelnen Freischaren zusammen. Der „Freischartag“ hatte das Recht, Satzungsänderungen zu beschließen und die DAF nötigenfalls aufzulösen, während dem Vorstand lediglich Vorsitz und Geschäftsleitung der Konvente oblagen. Als besondere Einrichtungen installierte die DAF ein allgemeines studentisches Ehrengericht, ein Presseamt sowie ein Archiv, ein Verlagsamt und ein Statistisches Amt.138 Die
135 Vgl. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom März 1914. 136 Vgl. Bundestagsbeschlüsse von dauernder Bedeutung 1908–1912, 2. Bundestag, Dezember 1908 (AdJb A 101/8–13), S. 1. 137 Flugblätter der Deutschen Akademischen Freischar aus dem SS 1909 (AdJb A 101/2–2), hier das Flugblatt „Aus dem Programm der Freischar“. Auch abgedruckt in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 19–20. 138 Zu den Organen der DAF s. Endfassung der Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar (E.V.) (AdJb A 101/1), S. 1–14; Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 22–26; Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8); Endgültige Fassung der Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar von 1911 (AdJb A 101/1–6).
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Hauptverantwortung bei der Mitgliederauswahl trugen die jeweiligen Ortsgruppen.139 Nach der Vorstellung Ahlborns, der den Bundesvorsitz von 1909 bis 1918 innehatte, sollte die DAF der Knotenpunkt sein, an dem die auf einzelne Persönlichkeiten und Ortsgruppen zerstreuten „gesunden Gedanken der Gegenwart“ gebündelt würden. Gleichzeitig sollten in den einzelnen Freischaren „Brennpunkte geistigen Lebens entstehen“, Orte, an denen den eigenen Mitgliedern die wertvollsten „Gegenwartsgedanken“ und Werte zugänglich gemacht würden.140 Während man in der DAF der Auffassung war, dass die Universitäten in Bezug auf die Studentenschaft primär auf die Wissensvermittlung ausgerichtet seien, sollten die in der DAF assoziierten Freischaren, entsprechend dem Konzept der Selbstbildung und ergänzend zur Universitätslehre, in erster Linie der Persönlichkeits- und Charakterbildung der Studierenden dienen. In einer der zahlreichen Flug- und Werbeschriften der DAF hieß es: Das Ziel der Freischar-Erziehung ist nicht die Durchdringung des Einzelnen mit einer dogmatisch festgelegten Weltanschauung, oder gar die Hinführung zu einer bestimmten parteipolitischen oder konfessionellen Gesinnung, sondern lediglich eine Befreiung der Persönlichkeit von allem ihr Wesensfremden, eine Eindämmung minderwertiger, eine Stärkung wertvoller, eigener Kräfte.141
Die DAF sah sich in der geistigen Nachfolge der nationalpolitischen Urburschenschaften und der deutschen Turnerschaften im Stile Friedrich Ludwig Jahns sowie der Jenaer „Gesellschaft der freien Männer“, ein von den Philosophien Fichtes und Carl Leonhard Reinholds beeinflusster Studentenbund. Man sei aus „demselben Geiste geboren“, der schon Fichte, Carlyle und Paul de Lagarde beseelte habe. Gelenkt vom „ungebrochenen Glauben der Jugend“ wollte sich die DAF „für die uralten, lange vor der Aufklärungszeit geborenen Ideale des Wahren, Guten und Schönen“ einsetzen. Überzeugt davon, auf diese Weise „dem Volksganzen“ am besten dienen zu können, legte die DAF ihr Hauptaugenmerk dabei auf die deutschen Studierendenschaft.142 In dem Bewusstsein, dass die akademischen Schichten stets die Führungseliten der Gesellschaft stellten und die
139 Bundestagsbeschlüsse von dauernder Bedeutung 1908–1912, 2. Bundestag im Dezember 1908, sowie 3. Bundestag im April 1909 (AdJb A 101/8–13); Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8); „Freischar-Satzungen“ (München), in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 24. 140 Ahlborn, Die deutsche akademische Freischar, S. 156–157. 141 Erwin Quintus: Die Deutsche Akademische Freischar (zuerst erschienen unter dem Titel: „Über die Deutsche Akademische Freischar“, in: Freischarschriften, H. 1, Dezember 1913), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 437–439, hier S. 437. Für Werbe- und Flugschriften der DAF von 1909–1914 s. AdJb A 101/2. 142 Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 437–438.
104 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 wichtigsten Positionen in Kultur, Wirtschaft und Politik besetzten, betrachtete man diese als prädestinierte künftige kulturelle Elite. Auch in diesem übergeordneten nationalpolitischen Sinne begriff sich die DAF als Erziehungsgemeinschaft. Wie schon die Göttinger Freischar stellte auch das überregionale Bündnis der DAF einen Zusammenhang zwischen sozialer bzw. nationaler Verantwortung und den von ihr proklamierten Erziehungszielen her. Für ihr Bildungskonzept und die damit entwickelte akademische Elite beanspruchte die DAF eine tragende gesellschaftliche Rolle. Der akademisch-kulturellen Elite, die die Freischarbewegung hervorbringen sollte, sprach die DAF ein erhebliches Verantwortungspotential für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Deutschlands zu. Ihre besondere soziale und kulturelle Verantwortung sah die DAF in ihrer historischen Tradition angelegt: Sie [die DAF] ist sich ihrer Abstammung von der neudeutschen Jugendwanderbewegung freudig bewußt. Die selbstverständlichen Forderungen an junge Menschen: Frische, Natürlichkeit, Einfachheit, Kameradschaftlichkeit, Liebe zu Heimat und Volk, diese Wandervogeltugenden sollen auch die des Freischärlers sein. Hinzu aber kommt, was den Freischärler entsprechend seinem höheren Alter und der anders gearteten Umwelt (die akademische Freiheit gegenüber dem Zwang der Schule) vom Wandervogel unterscheidet. Die Freischar pflegt bewußt: Selbstzucht, Willenskräftigung, Unterdrückung von Launen und Sichgehenlassen. Sie will dem alten noblesse oblige neue Geltung verschaffen und dem deutschen Studenten ein klares Bewußtsein seiner besonders verantwortlichen Stellung seinem Volke gegenüber geben.143
Im Sinne des elitären Grundsatzes noblesse oblige betrachtete sich die DAF als großangelegtes Erziehungsbündnis, in dessen Reihen die zukünftige intellektuell-moralische Elite Deutschlands, ein „freidenkendes, willensstarkes Geschlecht von Führern“ kultiviert werden sollte.144 Ihr erklärtes Ziel war es, eine Gemeinschaft zu erschaffen, in der sich die Elite der deutschen akademischen Jugend zu „ernster Arbeit“ zusammenfinden sollte. Schließlich sollte mithilfe der ihr angeschlossenen Freischaren „eine freideutsche Jugenderhebung“ herbeigeführt werden, die dem deutschen Volke „zum Segen“ gereiche sollte.145 Damit war der künftige biografische und praktische Übertritt der freideutsch gesinnten Akademiker in die gesellschaftlichen Führungseliten gemeint. Leiten sollte sie gesellschaftlicher Verantwortungssinn und Tatkraft. Das auf dem vierten Bundestag der DAF im März 1911 verabschiedete Programm ließ grundsätzlich eine stärkere Akzentuierung des volkserzieherischen und sozialpraktischen Gedankens erkennen. Die DAF definierte sich als „Sammelpunkt“ all jener Studierenden, die sich neben ihrem Studium und später im
143 Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 438. 144 Ahlborn, Die Selbsterziehung auf der Universität, 2. Teil, S. 45. 145 Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 439.
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Berufsleben in den Dienst des Gemeinwohls stellen wollten. Als Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft erstrebte die DAF die „Vereinigung solcher Bildungsmittel und Erziehungselemente“, die Schule, Ausbildung und Berufsstudium ihrer Auffassung nach nicht gewähren konnten. Erklärtes Erziehungsziel der DAF war es, den Einzelnen zu „selbstständiger Urteils- und Willensbildung und zu möglichst vollkommenen Leistungen innerhalb seiner individuellen Veranlagung“ anzuspornen.146 Das Programm der DAF deutet auf hohe, für die Zeit der Jahrhundertwende geradezu moderne erzieherische Standards innerhalb der Freischarbewegung hin, die in vielen Punkten modernen Erziehungs- bzw. Subjektivierungskonzepten vorgriff. Der sozialkulturellen Praxis der Freischaren eignete eine besondere Qualität, die auf eine vergleichsweise frühe Öffnung des Erziehungsbegriffs sowie auf sich vor dem Hintergrund des Anwachsens ideologischer Massenbewegungen zeitgleich entwickelnde zivilgesellschaftliche Subjektivierungs- und Individualisierungsformen verweist. Auch wenn es zwischen einzelnen Freischaren immer wieder Differenzen gab, waren sich die in der DAF assoziierten Freischaren doch einer gemeinsamen Grundrichtung und Gesinnung bewusst: sie verband ihr Selbstbildungs- und Geselligkeitsprinzip sowie die Überzeugung, gesellschaftsrelevante Lebensformen und Ziele zu teilen.147
4.3 Praxis Konkret setzte sich die DAF für die Schaffung allgemeiner studentischer Arbeitsausschüsse und Ehrengerichte an allen deutschen Universitäten sowie für die Verbesserung des Studentenrechts ein. Daneben bezog man Stellung gegen die Kommers- und Trinkkultur, die Mensur und die beschränkte Standesauffassung des traditionellen Studententumes.148 Abgesehen von der hochschulpolitischen Verbandsarbeit sollten diese Ziele durch die praktische Erziehung der einzelnen Freischaren erreicht werden, deren Richtlinien die DAF vorgab. Diese orientierten sich im Wesentlichen an der selbsterzieherischen Praxis der Freischar Göttingen. Nach den Vorgaben der DAF sollten sich die Freischärler, neben der Beschäftigung mit philosophischen, soziologischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Themen, vor allem mit zeitgenössischen Frage- und Problemstel-
146 Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8). Vgl. auch das mit „Die Deutsche Akademischer Freischar“ überschriebene Programm der DAF in: Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 21. 147 Vgl. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Mai 1913, S. 1–2. 148 Vgl. Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 439.
106 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 lungen der modernen Gesellschaft auseinandersetzen, insbesondere mit der Alkohol-, Mensur- sowie der Sexualitäts- und Geschlechterfrage. Um die spezielle Lern-, Beziehungs- und Erziehungsumgebung der Freischargruppen zu erhalten, womit man gleichzeitig auch einen Kontrapunkt zum „Massenproblem“ moderner Gesellschaften setzen wollte,149 machte es die DAF für alle Freischaren zur Regel, sich ab einer Gruppengröße von zwanzig Personen zu teilen. Darüber hinaus sollten die Freischaren ihren Mitgliedern Möglichkeiten aufzeigen, innerhalb der Gesellschaft praktische soziale Arbeit zu leisten. Über die Mitarbeit an Jugendwanderbünden, Jugendfürsorge-Gerichten und ArbeiterUnterrichtskursen sowie durch Engagements im Siedlerbund oder der Abstinenzbewegung sollten Berufsperspektiven eröffnet und das soziale Verantwortungsdenken der Freischarmitglieder gestärkt werden. Nicht zuletzt durch die lebensreformerische Praxis der Freischaren wollte die DAF eine „Veredelung“ des Menschen erreichen. Die DAF war davon überzeugt, dass das „Kennenlernen des eigenen Landes und Volkes“, die „Liebe zur Natur und zum deutschen Land“ sowie eine „reine und vom Alkohol freie Geselligkeit“ zu „tieferer Vaterlandsliebe“ bei ihren Mitgliedern führen würde.150 Die sozialund kulturreformerisch angelegten Erziehungsideen der Freischaren wiesen diesbezüglich über das studentische Milieu hinaus und zielten allgemein auf eine kulturelle Neuordnung der Gesellschaft. Die DAF sah in ihrem sozialpraktischen Ansatz einige Anknüpfungspunkte zu den in den Freistudentenschaften seit 1901 entwickelten und vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich sehr verbreiteten Format der studentischen Volksbzw. Arbeiter-Unterrichtskurse151, die sich konfessions- und seit 1909/10 auch geschlechterübergreifend vorzugsweise an Angehörige der Arbeiterschicht wandten und zur Elementar- und Allgemeinbildung bildungsfernerer Schichten beitragen sollten. Anders als in den sozialistischen Arbeiter-Unterrichtskursen, die primär zur Bildung eines solidarischen Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse beitragen sollten, ging es den Freistudentenschaften mehr um die allgemeine Hebung des Bildungsniveaus innerhalb der Arbeiter- und Angestelltenkreise, nicht zuletzt
149 Vgl. Ahlborn, Die Selbsterziehung der Universität, 2. Teil, S. 46, 50. 150 Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 438–439. 151 Bernhard Schoßig (Hrsg.): Die studentischen Arbeiter-Unterrichtskurse in Deutschland, Bad Heilbrunn/Obb. 1987; Ders.: Die akademischen Arbeiter-Unterrichtskurse in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in München, München 1985; Peter von Rüden (Hrsg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 1848–1918, Frankfurt/M. 1979; Dieter Langewiesche/Klaus Schönhoven: Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), S. 135–204.
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auch durch die Einrichtung von „Lesehallen“.152 Da die staatlichen Volksbildungsangebote im wilhelminischen Deutschland den Bereich der Elementarfächer nur unzureichend abdeckten, bezog sich die Zielsetzung der DAF und der ihr angeschlossenen Freischaren, angepasst an die Bildungsbedürfnisse der Arbeiterschicht, primär auf die Erteilung von Unterricht in elementaren Kulturtechniken und Elementarfächern wie Rechnen, Schreiben und Lesen;153 dabei wurde das Unterrichtsangebot im Laufe der Zeit um Fächer wie Fremdsprachen, Geographie, Naturkunde, Literatur, Kunstgeschichte und kaufmännische Kurse erweitert.154 Seit 1909 organisierte die Göttinger Freischar die „Studentischen Volksunterrichtskurse“ mit, die 1907 von Studierenden der Göttinger Freien Studentenschaft ins Leben gerufen worden waren. Diese sollten zur Elementarbildung der Arbeiterschaft beitragen und richteten sich ausdrücklich an ehemalige Volksschüler, die nur ungenügenden Elementarunterricht erhalten hatten.155 Das Bildungsangebot der Kurse orientierte sich dabei gezielt an den praktischen Interessen und Bildungsbedürfnissen von Handwerkern, Arbeitern und Angestellten. Im Sinne eines Antiklassismus lehnte die Freischar rein intellektualistische Bildungsarbeit ab. An den Kursen nahmen in der Regel 70 bis 100 Teilnehmer an jeweils vier (Sommer) bis zwölf Kursen (Winter) teil, wobei die einzelnen Kurse im Schnitt 24 bis 32 Belegungen hatten. Die mehrteiligen Kursreihen behandelten in Vorträgen und Diskussionen Themen wie Schulpolitik, Parteiengeschichte, Liberalismus, Klerikalismus, Sozialismus, Monarchie, Demokratie, Nationalismus, Internationalismus, Verfassungsgeschichte und Wahlrecht, die Arbeiter-, Wohnungs- und Frauenfrage, die Soziale Frage sowie Völkerrechts- und Friedensfragen.156
152 Die „Lesehallenfrage“ gehörte seit 1905 zum Arbeitsprogramm der Göttinger Freistudenten. Dazu Ludolf Fiefel: Die Lesehalle, in: Göttinger akademische Wochenschau. Organ für die Interessen des studentischen Lebens, hgg. vom Ausschuß der Göttinger Freien Studentenschaft 9 (1913/14), H. 4, S. 29–31. 153 Vgl. Bernhard Schoßig: Die studentischen Arbeiter-Unterrichtskurse – Geschichte und Bedeutung einer Volksbildungsbewegung in Deutschland zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Bernhard Schoßig (Hrsg.), Die studentischen Arbeiter-Unterrichtskurse in Deutschland, Bad Heilbrunn/Obb. 1987, S. 11–24, hier S. 13–15. 154 Vgl. Bernhard Schoßig: Die Akademischen Arbeiter-Unterrichtskurse in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in München. Eine historisch-pädagogische Studie zur Frühgeschichte der Volkshochschule, München 1985, S. 293. 155 Vgl. Günter Blümel/Wolfgang Natonek: „Das edle Bestreben, der breiten Masse zu nützen“. Beiträge zur Geschichte der Volkshochschule Göttingen, darin das Kap.: Die Studentischen Volksunterrichtskurse in Göttingen, Göttingen 2013, S. 36–42, hier S. 36–37. 156 Vgl. ebd., S. 37. Zu Praxis und Zielen der Volksunterrichtskurse ferner Johannes Felde: Studentische Volksunterrichtskurse, in: Göttinger freistudentische Wochenschau. Organ für die Interessen des studentischen Lebens, hgg. vom Ausschuß der Göttinger Freien Studentenschaft 3 (1908), H. 35, S. 1–2.
108 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Mithilfe dieser Kurse hoffte man auf Seiten der DAF, der politischen Unmündigkeit und ideologischen Verhärtung breiterer Volksschichten entgegenzuwirken und Impulse für den Ausgleich zwischen den polarisierenden Ideen von Kapitalismus und Sozialismus, den Gegensatz von Arbeit und Kapital geben zu können. Da die staatlichen Schulen diese Aufgabe nach Dafürhalten der DAF nur unzureichend wahrnahmen, erblickte man in den gemeinsamen Unterrichtsund Ausbildungskursen von Freistudentenschaften und Freischaren, die unter anderem in München, Göttingen, Augsburg und Hamburg veranstaltet wurden, eine wichtige Erscheinung der modernen Zeit.157 Die in den Kursen verwirklichte Idee der praktischen Volksbildungsarbeit sollte nicht nur der Weiterbildung vor allem bildungsfernerer Bevölkerungsschichten, sondern auch der besseren Verständigung zwischen völkischen, nationalistischen und sozialistischen Positionen innerhalb der Gesellschaft dienen. Ferner ging es um eine Demokratisierung der Bildungschancen. Die von den Freischaren beanspruchte gesellschaftlich-kulturelle Führungsposition verlangte aus Sicht des Bundesvorsitzenden Ahlborn eine gründliche Kenntnis des Volkes und der sozialen Probleme. Das Kennenlernen anderer Volksschichten und Lebenswirklichkeiten durch persönliche Begegnungen, Gespräche oder Stadtviertel- und Fabrikbesichtigungen betrachteten die Freischaren als Voraussetzung für die künftige Übernahme gesellschaftlicher Führungsaufgaben. Im Unterschied zu vielen traditionellen Verbindungen und auch zu den Freistudentenschaften wandten sich die Freischaren, ihren demokratischen Prinzipien folgend, auch an Studierende aller Fakultäten und Fächer, um „Kasten- und Fachdünkel“158 und damit sozialer Klassenbildung entgegenzuwirken, während es sich bei den Freistudentenschaften oft um sogenannte „Fachvereine“, also studienfachbezogene Verbindungen handelte. Wenn sich die in der DAF zusammengeschlossenen Freischaren um die praktische Volksbildungsarbeit bemühten, so entsprach dies den Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt aufkommenden sozialethischen Impulsen sozial privilegierter Führungsschichten und gebildeter Kreise, die sich angesichts wachsender sozialer Missstände zur sozialen Arbeit, zum Dienst an der Gesellschaft, verpflichtet fühlten, und deren Ideen von der sozialpraktisch denkenden Freischarbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wurden. Die von Freischaren und Freistudentenschaften getragenen Unterrichtskurse für insbesondere die Arbeiterschicht bildeten bis zum Ersten Weltkrieg eine institutionell und pädagogischkonzeptionell eigenständige Volksbildungsbewegung, die, seit 1907 zu einer breiteren Bewegung anwachsend, auf ihrem Höhepunkt 1910/11 an 24 Veranstaltungsorten in ganz Deutschland insgesamt 479 Lehrkurse mit rund 10.000 Teil157 Vgl. Ahlborn, Politische Ausbildungskurse, S. 299. 158 Ahlborn, Die Selbsterziehung der Universität, Teil, S. 46, 50.
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nehmern durchführte. Die weitere Entwicklung der Akademischen ArbeiterUnterrichtskurse, deren Attraktivität in ihrem situations-, erwachsenen- und arbeitergerechten methodisch-didaktischen Konzept begründet lag,159 wurde durch den Ersten Weltkrieg verhindert, sodass die Geschichte der Unterrichtskurse als eigenständiger, überregionaler und breiter Volksbildungsbewegung 1914 schon wieder endete; durch Gruppierungen wie die Freischaren kam es während und nach dem Krieg vereinzelt zu Fortführungen der Arbeiter-Unterrichtskurse.160 Die kulturelle Praxis der Freischaren, die sich nach 1918 auf unterschiedliche Weise in die deutsche Volkshochschulbewegung der Weimarer Zeit integrierte, entsprach bereits in vielem dem Konzept moderner (Abend-)Volkshochschulen, was die akademischen Arbeiter-Unterrichtskurse als Vorläufermodell der deutschen Volkshochschulen ausweist.161 Fortschrittlich zeigte sich die DAF auch in der Geschlechterfrage. Frauen gehörten als Gäste oder Freischarfreunde schon länger zum erweiterten Kreis vieler Freischaren, wurden aber offiziell nicht als Mitglieder geführt. Im Rahmen ihres 4. Bundestags im März 1911 beschloss die DAF schließlich die formale Aufnahme weiblicher Mitglieder. Der Beschluss trug einer Praxis Rechnung, die bei den meisten Freischaren längst üblich geworden war. Die auch formale Öffnung für Frauen wurde allerdings anfänglich nicht von jeder Freischar mit der gleichen Konsequenz umgesetzt, sodass es Freischaren gab, die vollberechtigte weibliche Mitglieder hatten, und solche, in denen für Frauen nach wie vor nur das Gastrecht galt.162 Auch für Nichtakademiker wurde die Mitarbeit in den Freischaren geöffnet.163 Die zeitlich verzögerte formale Öffnung der Freischaren für Frauen war mit ein Grund, warum nach dem Ersten Weltkrieg weniger Frauen als Männer bei den Freideutschen vorzufinden waren. Das übergeordnete Erziehungsziel der DAF eines modernen und zukunftstauglichen Akademikertypus als Kern einer neuen kulturellen Führungselite, von der die kulturelle, soziale und moralische Erneuerung der Gesellschaft ausgehen sollte, war zunächst mehr ein erzieherisches als ein sozial- und kulturreformerisches Ziel, zumindest solange, bis die Freischarbewegung zahlenmäßig größere soziale Bedeutung und Reichweite erlangt hatte. Die kultur- und sozialreformerischen Pläne der DAF setzten jahrelange Erziehungsarbeit der Frei159 Vgl. Schoßig, Die Akademischen Arbeiter-Unterrichtskurse in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in München, S. 293. 160 Vgl. ebd., S. 292. 161 Vgl. ebd., sowie: Ders., Die studentischen Arbeiter-Unterrichtskurse, S. 20–21. 162 Vgl. Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 21. 163 Vgl. Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 439, sowie: Satzungen der Deutschen Akademischen Frei schar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (AdJb A 101/1–8); Protokoll des Abgeordnetentages der Deutschen Akademischen Freischar in München am 4. und 6. März 1911 (AdJb A 101/1–5).
110 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 scharen voraus. Innenliegende erzieherische Ziele wie das der Persönlichkeitsbildung waren naturgemäß nicht messbar und wurden von den Freischaren unabhängig von ihrer organisatorischen Entwicklung verfolgt. Grundsätzlich standen die Erziehungs- und Geselligkeitsideale der Freischaren sowie das Credo organischen Wachstums über den langfristigen Zielen der DAF. Die Organisationsarbeit der DAF war ein Spiegelbild der Prinzipien, Geselligkeitsformen und Erziehungsgrundsätze der Freischaren, deren Grundcharakter und besondere Gemeinschafts- und Organisationform einer Entwicklung zur Massenorganisation strukturell entgegenstand. Im Oktober 1915 existierten Freischaren in Kiel, Danzig, Berlin (2), Leipzig, Jena (2), Bonn, Münster, Göttingen, Gießen, Marburg (3), Darmstadt (2), Heidelberg, München (3), Tübingen, Freiburg und Straßburg, Basel, Bern und Zürich, wobei die DAF intern zwischen ordentlichen und nicht ordentlichen Freischaren sowie Gründungsfreischaren, also bereits gegründeten, aber offiziell noch nicht aufgenommen Freischaren, unterschied. Hatten sich 1911 zwischenzeitlich noch mehrere Freischaren aufgrund von Mitgliedermangel und internen Problemen auflösen müssen, war es von 1913 an systematisch zur Neugründung von Freischaren und damit zum Anwachsen der Freischarbewegung gekommen. Die gestiegene Nachfrage hing unter anderem mit geburtenstarken Wandervogeljahrgängen zusammen, die 1913 vom Gymnasium auf die Universität wechselten.164 War die Zahl der deutschlandweiten Freischarmitglieder seit Gründung der Freischar Göttingen 1907 bis Ostern 1909 von 8 auf 30 angewachsen,165 umfasste die DAF im Februar 1912 schon 86 Freischärler166, nachdem die Mitgliederzahl 1911 längere Zeit stagniert hatte und zwischenzeitlich sogar zurückgegangen war.167 Bis Ende des Jahres 1912 stieg die Mitgliederzahl auf 137 Männer und Frauen.168 Wenige Monate vor dem Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 zählten die Freischaren insgesamt 227 Mitglieder, wobei allein durch die Aufnahme der Gruppe Freiland München 61 neue Mitglieder hinzugekommen waren.169 Vor Kriegsausbruch 1914 konnten die Freischaren weitere Zuwächse verzeichnen.170 Die für jede Freischar geführten Mitgliedslisten setzten 164 Vgl. Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, S. 74. 165 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Januar 1912, S. 20. 166 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Februar 1912, S. 42. 167 Mitgliederverzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar. Stand vom 16. Dezember 1911 (AdJb A 101/3–1). 168 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Dezember 1912, S. 42, sowie: Mitglieder-Verzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar Mai 1913 (AdJb A 101/3–2). 169 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Mai 1913, S. 38. 170 Mitglieder-Verzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar hgg. im Februar 1914 (AdJb A 101/3–3).
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sich aus ordentlichen, außerordentlichen und auswärtigen Mitgliedern zusammen, hinzu kamen noch „Bundesunmittelbare Freunde“, „Altfreischärler“ und „Freischarfreunde“. Ein vom Nachrichtenamt der DAF im Dezember 1914 herausgegebenes Anschriftenverzeichnis nennt insgesamt 390 Freischarangehörige im Deutschen Reich und der Schweiz, die mittel- oder unmittelbar am Kriegsgeschehen teilhatten. Davon standen 287 Männer im Felde – 15 Freischärler waren bereits an der Front gefallen –, die übrigen wurden im Sanitätsdienst an der Heimatfront eingesetzt, darunter auch 61 weibliche Freischarmitglieder.171 Bevor der Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg mit den Kriegserklärungen an Russland und Frankreich vom 1. und. 3. August 1914 die Sammlungsbewegungen der Freischaren jäh unterbrach, sandte die DAF von ihrem Bundestag in Jena ein bereits am 28. Juli in Reaktion auf die Nachricht von der drohenden Kriegsgefahr vorgefasstes Telegramm an die Reichsregierung. Zwar ist dessen Wortlaut ist nicht mehr zweifelsfrei rekonstruierbar,172 allerdings erinnerte der Bundesvorsitzende Ahlborn, der das Telegramm auf dem Bundestag angeregt und redigiert hatte, zehn Jahre später den ungefähren Inhalt: Der Sinn war eine sorgfältig begründete Kundgebung gegen den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte im allgemeinen und gegen den bevorstehenden Krieg im besonderen; ferner dann eine lebhafte Beschwörung an den „Friedenskaiser“, den Krieg im letzten Augenblicke mit allen nur irgend möglichen Mitteln zu bannen; […]. Falls bei ehrlichsten und ernstesten Bemühungen, den Konflikt auf friedlichem Wege beizulegen, Deutschlands Unversehrtheit nicht erreicht werden kann, falls also der Notwehrcharakter des Krieges unbedingt feststeht, wird auch die Akademische Freischar wie alle andere deutsche Jugend sich bis zum letzten Mann für die Verteidigung des Vaterlandes zur Verfügung stellen.173
Der Inhalt des Telegramms war letztlich symptomatisch für die Grundhaltung der Freischaren, die einerseits selbsterzieherischen und pazifistisch-humanistischen Idealen nachstrebten, die in Richtung Völkerverständigung, Kulturaustausch und kulturelle Vielfalt wiesen und sich damit auffallend vom Militarismus und Kulturchauvinismus des Kaiserreichs abgrenzten. Andererseits kultivierten sie ein primär über den Kulturbegriff hergeleitetes nationalpatriotisches und kulturelles Verantwortungsbewusstsein, das, zwar anders motiviert und auf anderen Wegen, aber ähnlich ausgeprägt wie in konservativ-nationalistischen Kreisen, die deutsche Kultur schützen und den kulturellen Fortschritt sichern wollte. 171 Deutsche Akademische Freischar. Nachrichtenamt. Anschriften-Verzeichnis Dezember 1914 (AdJb A 101/3–4a). 172 Zu Entstehung und Inhalt des Telegramms Ahlborn, Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914, S. 28; Brief von Knud Ahlborn an Werner Kindt vom 2.6.1967 (AdJb N 14/157); Brief von Knud Ahlborn an Hans Wolf vom 21.1.1966 (AdJb N 2/166); Brief von Knud Ahlborn an Hans Wolf vom 28.4.1964 (AdJb N 2/166). 173 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 3–4.
112 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Daneben darf nicht überraschen, dass sich die akademischen Freischaren trotz ihrer fortschrittlichen Ideen und ihres liberal-demokratisch geordneten Gemeinschaftslebens immer auch am Denken der kulturellen Eliten orientierten. Etliche der Unterzeichner des Manifests „Aufruf ,An die Kulturwelt‘“174 vom Oktober 1914, in dem führende Intellektuelle des Kaiserreichs eine deutsche Kriegsschuld bestritten, waren intellektuelle Leitfiguren innerhalb der Freischaren. Unter diesen Voraussetzungen meldeten sich bei der allgemeinen Mobilmachung des Kaiserreiches viele Freideutsche und Wandervögel als Kriegsfreiwillige. Fast die Hälfte der zwischen Anfang und Ende des Krieges eingezogenen Freideutschen fiel, insgesamt verzeichnete die bürgerliche Jugendbewegung etwa siebentausend Kriegstote.
174 Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf ,An die Kulturwelt!’. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996.
5 Der Freideutsche Jugendtag 1913 Der Freideutsche Jugendtag175 hatte zentrale Bedeutung für die Gruppenidentität sowie die weitere Selbstverständigung und organisatorische Verstetigung der Freideutschen. Er stellt den öffentlichen Höhepunkt der kulturreformerischen Aktivitäten der DAF und der Freischaren vor dem Ersten Weltkrieg dar. Als primär erinnerungspolitischer Referenzpunkt fügt er sich zwar nicht eins zu eins in das akteurszentrierte Bild der Wegsucher, sticht aber dennoch als wichtige Wegmarke freideutscher Programmatik heraus. Deren Zustandekommen gab Programm und Praxis der Freideutschen nicht nur einen organisatorischen Überbau, sondern auch einen zeitgenössischen und zugleich historischen Referenzrahmen. Da der Freideutsche Jugendtag hinlänglich erforscht und dokumentiert ist,176 wird er hier im Hinblick auf sein Resultat resümiert: die Konstituierung der Freideutschen Jugend.
5.1 Planung Mit dem Freideutschen Jugendtag am 11. und 12. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner bei Kassel, im Rahmen dessen sich die versammelten reformstudentischen, reformpädagogischen, schulreformerischen und lebensreformerischen Gemeinschaften sowie Wandervogelbünde auf Initiative der studentischen Freischaren in einem symbolischen Gründungsakt zur Freideutschen Jugend zusammenschlossen, erreichten die Freideutschen den Höhepunkt ihrer Vorkriegsentwicklung und schufen damit zugleich das prägendste Narrativ ihrer weiteren Entwicklung und Selbsthistorisierung. Nach dem Wartburgfest von 1817, in dessen Tradition die Vertreter der Freideutschen Jugend den Jugendtag von 1913 sahen – die Überzeugung war, dass jeder politischen Revolution eine geistige vorangehen musste und diese in Deutschland stets von der Jugend ausgegangen sei –,177 war der Freideutsche Jugendtag die erste große Zusammenkunft einer sich emanzipierenden deutschen Jugend. Die Veranstaltung, an der zwischen 2000 bis 3000 größtenteils junge Menschen, in der Mehrzahl höhere Schüler und Studierende, aus ganz
175 Dokumente/Quellen zur Freideutschen Jugend in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 521–637. Dokumente/Quellen zum Freideutschen Jugendtag 1913 ebd., S. 484–521. 176 Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke (Hrsg.): 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen 2015. Grundlegend Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913. 177 Als Referenzereignis wurde das Wartburgfest in den Festansprachen und in der Presse mehrfach aufgegriffen. Vgl. Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 283, 296, 324, 329, 333–335, 337–339. https://doi.org/10.1515/9783110783667-010
114 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Deutschland teilnahmen, stellte bis in die frühe Bundesrepublik das wichtigste Referenzereignis der Freideutschen, aber auch der bürgerlichen Jugendbewegung und ihrer ideellen Nachfolgegemeinschaften insgesamt dar. Ungeachtet dessen, dass speziell die akademischen Freischaren und die städtisch-gymnasialen Jugendwanderbünde durch ihre jeweiligen Dachverbände DAF und BDW bereits vor 1913 untereinander relativ gut vernetzt waren, erhielten die bestehenden Kontakte und das Selbstverständnis der einzelnen Gruppierungen durch die gemeinsame Großveranstaltung und mehr noch durch die Vereinigung unter der Selbstbezeichnung Freideutsch eine neue Qualität, vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Konstituierung der Freideutschen Jugend war nicht der eigentliche Anlass des Freideutschen Jugendtages und wurde von den organisierenden reformstudentischen Kreisen im Vorfeld der Veranstaltung auch nicht konkret geplant, sondern war als Initiativbündnis letztlich das Resultat der Eigendynamik, die die Veranstaltung im Verlauf des Festwochenendes annahm, wobei die Idee eines Zusammenschlusses bereits rudimentär in der Vorbereitungsphase bestanden hatte. Offiziell vorgesehen war zunächst nur die Veranstaltung einer eigenständigen – was die kulturelle Praxis anbetraf – alternativen Jahrhundertfeier lebens-, erziehungs- und kulturreformerisch eingestellter Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung anlässlich der geplanten Nationalfeierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig in Verbindung mit dem 25-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II., die inszenatorisch in der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals gipfelten. Mit der Alternativveranstaltung beabsichtigten die organisierenden Freischarangehörigen, der fortschrittlichen Jugend Deutschlands eine Stimme zu geben. Diese sollte sich vor allem von der Trink- und Festkommerskultur des traditionellen Studententumes absetzen, die die einladenden Bünde und Gruppen gesellschafts- und kulturkritisch mit einer reaktionären, kulturell rückständigen bürgerlichen Kultur assoziierten. Die studentische Avantgarde wollte sich von der kulturellen Praxis des zeitgenössischen Verbindungswesens distanzieren, das sich aus ihrer Sicht nur noch in kulturell sinnentleerten und sozial destruktiven Geselligkeitsformen verlor und seine ursprüngliche, durch die Urburschenschaften der Befreiungskriege geprägte gesellschaftlich-kulturelle Vorbild- und Führungsrolle eingebüßt hatte. Die für 1913 anlässlich der Jahrhundertfeier geplanten Trink- und Vergnügungsprogramme der traditionellen Studentenverbindungen, die sogenannten „Kaiserkommerse“, boten den studentischen Reformgruppen insofern Gelegenheit zu einer Gegenveranstaltung und darüber hinaus zum Ausbau ihrer Beziehungen. Auf der einen Seite verortete man die Rückwärtsgewandtheit der wilhelminischen Kultur – für die Freischaren exemplarisch verkörpert vom Geist und kulturellen Habitus der traditionellen Studentenverbindungen –, auf der
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anderen Seite die Vorwärtsgewandtheit einer neuen zukunftsgerichteten und gestaltungsbereiten Generation Studierender. Die Gegenveranstaltung sollte zur Demonstration der „Gestaltungskräfte“ der „neuen Jugend“ werden.178
5.2 Programm Das Vorhaben einer Gegenkundgebung der reformerisch eingestellten Jugend wurde von nahezu allen reformstudentischen Verbindungen begrüßt. Das positive Echo im studentischen Umfeld regte die DAF dazu an, die Idee einer gemeinsamen Gedenkfeier zu konkretisieren. Im Mai 1913 versandte die DAF von ihrem Sitz in München aus ein von den Freischärlern Ahlborn, Georg Bonne und Christian Schneehagen verfasstes Rundschreiben an etwa zweihundert Adressaten aus den Wandervogel-Bünden, dem BDW, dem Dürerbund, der Akademischen Vereinigung, dem Deutschen Vortruppbund, dem Deutschen Bund abstinenter Studenten (DBaSt), der Germania Bund abstinenter Schüler – ein 1902 von Schülern aus Nürnberg und Haubinda gegründeter Schülerbund –, den Deutschen Landerziehungsheimen, den Freien Schulgemeinden und verwandten Bewegungen sowie an führende Persönlichkeiten des akademischen und kulturellen Lebens.179 Darin rief die DAF dazu auf, das Vorhaben einer „Freiheitsfeier der deutschen Jugend“ zu unterstützen und Vertreter für einen gemeinsamen Planungsausschuss zu benennen, der Anfang Juli 1913 zu einer ersten Vorbesprechung in Jena zusammenkommen sollte. Der Aufruf verwies auf den Anspruch der DAF, innerhalb der künftigen Gesellschaft eine aktive Gestaltungs- und Verantwortungsrolle einnehmen zu wollen. Am Pfingstwochenende des 5. und 6. Juli 1913 kamen die Delegierten von insgesamt elf lebensreformerischen, reformpädagogischen und reformstudentischen Gruppierungen – darunter neben der DAF und dem BDW, der DBaSt, die Akademischen Vereinigungen Marburg und Jena, der Sera-Kreis, Wynekens Freie Schulgemeinde Wickersdorf sowie zwei Wandervogel-Verbände – in Jena zur vorbereitenden Besprechung der angestrebten alternativen Jahrhundertfeier zusammen.180 Auf der Tagesordnung stand zum einen die inhaltliche Diskussion
178 Knud Ahlborn: Wie es zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner kam, in: Ziemer/Wolf, Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 441–447, hier S. 441. 179 Deutsche Akademische Freischar: Aufruf zu einer Freiheitsfeier der deutschen Jugend (München, Mai 1913), abgedruckt in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 429, Auch abgedruckt in: Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar, H. 2 vom Juni 1913. Entwurf in AdJb A 2/104–1. 180 Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (AdJb N 2/16). Das Protokoll findet sich auch in AdJb A 2/101–76, sowie AdJb A 2/104–1. Ferner in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 484–486.
116 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 über die grundlegende Idee und programmatische Ausrichtung der Veranstaltung, den Namen und den Veranstaltungsort, Zeitpunkt und Dauer sowie über das Festprogramm und die Festspiele. Zum andern ging es um die Klärung formaler, finanzieller und organisatorischer Fragen wie etwa die Verteilung der Ämter und Aufgaben. Bereits am Abend vorher war ein kleinerer Delegiertenkreis um Ahlborn, hauptsächlich Mitglieder der DAF, zu einer ersten Vorbesprechung zusammengekommen, wobei dabei vor allem über den Zweck des Festes kontrovers diskutiert wurde.181 Fest stand, dass die „geistigen Führer der älteren Generation“ zu Worte kommen sollten.182 Am Ende einigten sich die anwesenden Vertreter auf Bruno Lemke, der in Marburg der Akademischen Vereinigung und der Akademischen Freischar angehörte, den evangelischen Theologen und linksliberalen Politiker Gottfried Traub, den Reformpädagogen und Begründer der Freien Schulgemeinden Gustav Wyneken, den Dichter und Kunstwart-Gründer Ferdinand Avenarius183, ein Neffe Richard Wagners, sowie auf den 25-jährigen DAF-Vorsitzenden Ahlborn, der im Namen des Veranstaltungskomitees neben Lemke als Vertreter der jungen Generation sprechen sollte.184 Auf Antrag der DAF wurde außerdem entschieden, einen Ausschuss von Förderern des Freideutschen Jugendtages zu wählen, der ausnahmslos aus öffentlich angesehenen und der Bewegung nahestehenden Persönlichkeiten bestehen sollte. Als Förderer wurden von Seiten der DAF unter anderem vorgeschlagen: Avenarius, Paul Rohrbach, Traub, der Reformpädagoge und Begründer der Arbeitsschule Georg Kerschensteiner, Friedrich Naumann, Karl Lamprecht, der österreichisch-deutsche Mediziner sowie Sozial- und Rassehygieniker Max von Gruber, Wyneken, der zweite Bürgermeister von Berlin Georg Reicke, der Jurist und Schriftsteller Hermann Popert, der Arzt und Rasseforscher Alfred Ploetz sowie der österreichische Arzt, Anthropologe und Ethnograph Felix von Luschan. Das Festspielamt übertrug man dem renommierten Musikpädagogen und Hochschulprofessur Waldemar von Baußnern, Mitglied im Jenenser Sera-Kreis und entscheidend für die künstlerisch-musikalische Entwicklung des Kreises. Das Druckamt übernahm das Sera-Mitglied Rudolf Carnap, das Presseamt SeraMitglied Julius Frankenberger, das Festschriftamt Arthur Kracke – Mitglied der 181 Vgl. Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (AdJb N 2/16), S. 1. 182 Ahlborn, Wie es zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner kam, S. 442. 183 Gerhard Kratzsch: Ferdinand Avenarius und die Bewegung für eine ethische Kultur, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 97–102; Ders.: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969. 184 Vgl. Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (AdJb N 2/16) S. 4–6.
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Freischar München und des BDW –, der sich aufgrund seiner Erfahrung als Redakteur der Zeitschrift Der Wanderer für das Amt anbot. Die Gesamtleitung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit übernahm der Jenaer Verleger und Sera-KreisMentor Eugen Diederichs, der das geplante Großereignis medial bewerben, vermarkten und die deutsche Presse während der Veranstaltung betreuen sollte. Diederichs verfügte über ausgezeichnete Verbindungen zur Presse und stand in engem Kontakt mit allen Strömungen der Lebensreform, Kulturkritik und Erwachsenenbildung. Angenommen wurde auch der von der DAF eingebrachte Vorschlag, die Veranstaltung „Freideutscher Jugendtag 1913 – Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner am 11. und 12. Oktober“ zu nennen, womit auch die Eigenbezeichnung „Freideutsch“ gefunden war.185 Diese nahm Bezug auf Fichtes Erläuterungen von „frei“ und „deutsch“, die dieser 1807/08 unter dem Eindruck der napoleonischen Herrschaft in seinen „Reden an die deutsche Nation“ im Zusammenhang von Philosophie, Erziehung und Staatskunst vorgetragen hatte.186 „Frei“ wollte man auf Seiten der DAF in einem ganz praktischen Sinne verstanden wissen, nämlich als Handlungsanleitung für die freideutschen Gemeinschaften, die sich im Sinne des in den Freischaren erprobten Selbstbildungsprinzips frei von „äußeren Bindungen und von innerem Gewissenszwang“ halten sollten.187 Damit steuerte die DAF vor allem gegen Parteien und weltanschaulich geschlossene Zweckverbände, hinter denen größere Organisationsapparate standen, die sich strukturell vom Unmittelbarkeits- und Geselligkeitsprinzip der Freischaren unterschieden. Die Gesamtleitung des Freideutschen Jugendtags setzte sich aus den Vertretern der vier größten Bünde zusammen (DAF, DBaSt, Deutscher Vortruppbund und Wandervogel), wobei die praktische Organisation letztlich nahezu vollständig der DAF überlassen wurde.188 Angelehnt an die Eigenbezeichnung Freideutsch erhielt die Arbeitsgruppe intern den Namen „Freideutsche Jugend“.189 Das Grundkonzept für die programmatische Ausrichtung des Freideutschen Jugendtags ging vor allem auf den Marburger Studenten Bruno Lemke und den DAF-Bundesführer Ahlborn zurück, die den eigens innerhalb der Arbeitsgruppe 185 Vgl. Friedrich Schlünz: Zum Kampf um den Namen Freideutsche Jugend, in: Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 8, S. 275–276; Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar, H. 3, Juli 1913, S. 3; Brief von Knud Ahlborn an Friedrich Wilhelm Fulda, o. O., o. J. (AdJb N 2/57), sowie Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 389, Anm. 25. 186 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Fichtes Reden an die deutsche Nation, hgg. von Arthur Liebert, Berlin 1912. Hier bes. S. 124–125, 128. 187 Schlünz, Zum Kampf um den Namen Freideutsche Jugend, S. 275. 188 Vgl. Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (AdJb N 2/16), S. 6, 7–8. 189 Vgl. Gustav Mittelstraß/Christian Schneehagen (Hrsg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Gottfried Traub. Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913, S. 8; Ahlborn, Wie es zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner kam, S. 441.
118 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 eingerichteten Programmausschuss – bestehend aus Mitgliedern der DAF und der Akademischen Vereinigung Marburg – mit ihren Ideen entscheidend prägten. Einigkeit herrschte darüber, dass es sich in Anbetracht der beabsichtigten integrativen Wirkung des Freideutschen Jugendtags bei dem zu formulierenden Programm um keine „dogmatische Festlegung“ handeln konnte. Vielmehr ging es dem Programmausschuss um „die Herausarbeitung der gemeinsamen wesentlichen Züge“ der teilnehmenden Gruppierungen und „die Formulierung von Richtlinien für die praktische Arbeit an der Vervollkommnung“ dieser Gruppierungen, sowie ferner um „die Aufstellung kulturpolitischer Zielpunkte für die Arbeit an der inneren Erneuerung des deutschen Volkes“.190 In erster Linie sollte das Fest dem gegenseitigen Kennenlernen dienen bzw. die Kooperation zwischen den vertretenen Bünden vertiefen. Im Idealfall sollte es die Entstehung einer lebens-, kultur- und erziehungsreformerischen Sammelbewegung bewirken, die geschlossen auf die kulturelle Neuordnung Deutschlands hinarbeiten sollte. Alle an der Vorbereitung des Freideutschen Jugendtags beteiligten Gruppierungen waren sich über das Ziel einer möglichst großen Mobilisierung und Bündelung jugendbewegter, lebensreformerischer, reformstudentischer, schulreformerischer und reformpädagogischer Gruppierungen einig. Die Einladung sollte „alle Glieder der gesamten deutschen Jugendbewegung“ ansprechen. Die geplante Zusammenkunft auf dem Freideutschen Jugendtag sollte „alle Bundesschranken“ vergessen machen und die einzelnen Gruppierungen „zu gemeinsamer Zukunftstat im Dienste“ des deutschen Volkes und „damit auch der Menschheit“ zusammenschließen.191 Im Vorfeld der Veranstaltung wurde deutlich, dass die Reformgruppen, insbesondere die akademischen Gemeinschaften, große Ambitionen hegten, was ihren künftigen gesellschaftlichen Einfluss anging. Nicht von ungefähr konzipierten die Verantwortlichen die Veranstaltung als „Ersten“ von weiteren angedachten Freideutschen Jugendtagen.192 Darüber hinaus bot die Veranstaltung allen Gruppierungen die Möglichkeit, sich einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren und Werbung für sich und ihre Ziele zu machen. Vor allem die kulturpolitisch ambitionierte DAF erkannte in der Veranstaltung das Potential, über die bereits assoziierten Kreise hinaus weitere Bekanntheit zu erlangen und in Politik und Kultur für das freideutsche Programm zu werben:
190 Ahlborn, Wie es zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner kam, S. 442. 191 Ebd., S. 441. 192 Vgl. Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (AdJb N 2/16), S. 8.
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Was keine Flugblätter, Versammlungen, Proteste usw. bisher vermochten, durch den „Freideutschen Gedanken“ und seine zielbewußte Verwirklichung geben wir der Freischar die Stellung, die ihr im Rahmen der Jugendbewegungen und Reformbestrebungen zukommt. Die große Arbeit, die in dieser Zeit von unseren daran beteiligten Mitgliedern zu leisten ist, wird für die Freischar und die „Freideutsche Jugend“ reiche Früchte tragen!193
Bereits im Vorfeld des Freideutschen Jugendtags, Anfang Oktober 1913, erschien die offizielle Festschrift194 zum Freideutschen Jugendtag im Eugen Diederichs Verlag mit einer Startauflage von knapp 5000 Exemplaren.195 Diederichs steuerte nicht nur einen eigenen Beitrag zur Festschrift bei, sondern formulierte auch einen ersten offiziell gewordenen Einladungstext zum Freideutschen Jugendtag, der in die Festschrift aufgenommen wurde.196 Darin heißt es: wir fühlen auch, daß frische Kräfte sich in unserem Volke regen, die zu innerlicher nationaler Erneuerung drängen. Vaterländische Erinnerungsfeste werden 1913 in großer Zahl gefeiert, aber noch fehlt das Fest der Jugend, die, der Gegenwart zugewandt, im Gelöbnis der Tat die wahre Vaterlandsliebe bekunden will. […]. Und wieder geht heute durch sie [die Jugend] ein starkes Ahnen, ein festes Wollen des Kommenden. Ihr Selbst frei zu entwickeln, um es dann dem Dienst der Allgemeinheit zu widmen, ist die höchste vaterländische Aufgabe der Jugend. Allem geschraubten und gezwungenen Wesen stellen wir Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit, Echtheit, Geradheit gegenüber; aller Engherzigkeit das ernste, freie Gefühl der Verantwortlichkeit! Statt des Strebertums aufrechte Überzeugungstreue! Statt der Blasiertheit Jugendfreude und Empfänglichkeit; Ausbildung des Körpers und strenge Selbstzucht statt der Vergeudung der Jugendkraft! Wir blicken auf die Jugend der verwandten germanischen Länder, auf die Skandinavier, auf England, selbst auf Amerika. Ohne die Eigenart vornehmlich unseres akademischen Lebens aufgeben zu wollen, sehen wir in manchen seiner Formen Enge und geschichtliche Überlebtheit. Vor allen Dingen hassen wir den unfruchtbaren Patriotismus, der nun in Worten und Gefühlen schwelgt, der sich – oft auf Kosten der historischen Wahrheit – rückwärts begeistert, und nicht daran denkt, sich neue Ziele zu stecken. Alle, für die das „Vorwärts“ unseres Blücher gilt, mögen uns die Hand reichen! Im Oktober, auf dem Hohen Meißner bei Bebra wollen wir freideutsche Jugend uns verbrüdern zu gemeinsamer Arbeit! Heil deutsches Volk und Vaterland! Heil deutsche Jugend und Freiheit!197 193 Knud Ahlborn, in: Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Juli/August 1913, S. 6. 194 Die Festschrift findet sich vollständig abgedruckt in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 77–255. 195 In den Folgejahren wurden von der Festschrift weitere 4405, bis 1930 nochmals rund 5000 Exemplare verkauft. Die Verkaufserlöse waren vor allem zur Deckung des Defizites des Meißnerfestes gedacht. Dazu Erich Viehöfer: Der Verleger als Organisator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1988, S. 195, 295, 305. 196 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 85 (3), und S. 142–144 (60–62). In Klammern die Seitenzahlen der Originalfestschrift. 197 Zusammenschluß der Jugend zu einem freideutschen Jugendtag!, Verfasser Eugen Diederichs, 1913 (AdJb N 2/15). Das als „Der erste Aufruf“ deklarierte Ankündigungsschreiben findet sich auch in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 85.
120 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Der offizielle Einladungstext, der von Wyneken verfasst worden war, hob das aktive Mitgestaltungsrecht der Jugend in kulturellen Fragen heraus: Die unterzeichneten [sic!] Verbände haben, jeder von seiner Seite her, den Versuch gemacht, den neuen Ernst der Jugend in Arbeit und Tat umzusetzen; sei es, daß sie den Befreiungskampf gegen den Alkohol aufnahmen, sei es, daß sie eine Veredelung der Geselligkeit oder eine Neugestaltung der akademischen Lebensformen versuchten, sei es, daß sie der städtischen Jugend das freie Wandern und damit ein inniges Verhältnis zur Natur und Volkstum wiedergaben und ihr einen eigenen Lebensstil schufen, sei es, daß sie den Typus einer neuen Schule als des Heims und Ursprungs einer neugearteten Jugend ausgestalteten. […]. Uns allen schwebt als gemeinsames Ziel vor die Erarbeitung neuer Lebensformen, zunächst fur die deutsche Jugend.198
5.3 Praxis Zu den fünfzehn offiziell einladenden Gruppierungen gehörten letztlich fünf im engeren Sinne der bürgerlichen Jugendbewegung an und wiesen eine entsprechende Altersstruktur auf (BDW, Wandervogel e.V., Jung-Wandervogel, Österreichischer Wandervogel, Bund abstinenter Schüler Germania), sechs repräsentierten im weitesten Sinne die reformstudentische Jugend (DAF, Sera-Kreis, DBaSt, AV Marburg, AV Jena, Burschenschaft Vandalia Jena), drei Gruppen stammten aus dem Umfeld der Schulreformer (Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Bund für Freie Schulgemeinden e.V., Landschulheim am Solling) und eine weitere zählte zu den lebensreformerischen Bünden (Deutscher Vortruppbund). Neben diesen nutzte auch der Bund Deutscher Landerziehungsheime, der Dürerbund und der Bund Deutscher Volkserzieher die Festschrift, um ihre jeweiligen Organisationen und Programme einem breiteren Publikum vorzustellen. Der Sera-Kreis, vertreten durch 12 jüngere Sera-Mitglieder und Eugen Diederichs, bekam überdies die Gelegenheit zur zweimaligen Aufführung von Goethes klassischem Drama Iphigenie auf Tauris.199 In der Festschrift folgten nach den Selbstbeschreibungen der einladenden bzw. teilnehmenden Bünde und Gruppen insgesamt 32 „Freundesworte“200 namhafter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die der Jugend- und Lebensreformbewegung nahestanden. Im Vorfeld hatte die DAF ihre Mitglieder aufgefordert, Adress- und Namenslisten in Frage kommender Hochschullehrer, Kulturschaffender und Politiker einzusenden und entsprach damit dem von Diederichs entwickelten Plan, im Hauptteil der Festschrift „die bedeutendsten
198 Einladungsschreiben Wynekens, in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner, S. 68–69. 199 Vgl. Mogge/Reulecke, Hoher Meißner, S. 47. 200 Die „Freundesworte“ finden sich in der Festschrift auf S. 131–251 (49–169).
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Führer des neuzeitlichen deutschen Geisteslebens“ in „Ansprachen, mit Wünschen und Hoffnungen an die deutsche Jugend“ zu Worte kommen zu lassen.201 Einige der Angeschriebenen reagierten zwar nicht, wie erbeten, mit Beiträgen zur Festschrift, unterstützen aber wohlwollend den Plan eines Freideutschen Jugendtags und übermittelten Grußnoten.202 So unter anderem der Dramatiker Gerhart Hauptmann (1862–1946), die Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und spätere linksliberale Politikerin Gertrud Bäumer (1873–1954), der Historiker Walter Goetz (1867–1958), der Sozial- und Kulturhistoriker Karl Lamprecht (1856–1915), der Schweizer Psychiater, Sozialreformer und Abstinenzler Auguste Forel (1841–1931), der Politiker Friedrich Naumann, der Rechtswissenschaftler Franz von Liszt (1851–1919), der Völkerrechtler, Pazifist und liberale Politiker Walter Schücking (1875–1935), der Mediävist und Volkskundler Friedrich von der Leyen (1873–1966) und der Jugendschriftsteller und Satiriker Johannes Trojan (1837–1915). Die Verfasser der „Freundesworte“ gehörten den Geburtsjahrgängen von 1848 bis 1879 an, was Aufschluss über den generellen Stellenwert älterer Bildungsbürgergenerationen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung und über die geistigen Vorbilder der zwischen 1885 und 1890 geborenen Wortführer der jugendbewegt-studentischen Gemeinschaften gibt. In der Mehrzahl handelte es sich bei den Beiträgern um wissenschaftlich renommierte Hochschullehrer, zu Wort meldeten sich aber auch populäre Politiker, Reformpädagogen, Journalisten und Künstler der Vorkriegszeit. Darunter der (Militär-)Historiker und liberalkonservative Politiker Hans Delbrück (1848–1929), der Dramaturg und neuromantisch-humanistische Schriftsteller Herbert Eulenberg (1876–1949), der Kunsthistoriker und Maler Fritz Burger (1877–1916), der jüdische Nationalökonom und Wirtschaftsjournalist Arthur Feiler (1879–1942), der Mediziner, Biologe und Eugeniker Max von Gruber, der Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (1850–1938), aktiv in der Heimatschutzbewegung und Denkmalpflege, der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855–1931), der sozialrevolutionäre Arbeiterschriftsteller und Verleger Karl Henckell (1864–1929), der freireligiöse Philosoph und Psychologe Friedrich Jodl (1849–1914) – Förderer naturalistischer Ethik und Volksbildung –, der Marburger Neukantianer Paul Natorp (1854–1924), der Berliner Philosoph Friedrich Kuntze (1881–1929), der Philosoph und Literaturhistoriker Eugen Kühnemann (1868–1946), der Kulturphilosoph Ludwig Klages (1872–1956), der Schriftsteller und Psychologe Carl Picht (1889–?), der Althistoriker Robert von Pöhlmann (1852–1914), der liberale Sozialpolitiker und Schriftsteller Heinz Potthoff (1875–1945), – als einzige Frau – die Lehrerin und (völki201 Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Dezember 1913, H. 3, S. 6. 202 Vgl. das Vorwort des Herausgebers Arthur Kracke zur Festschrift, in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 83–84.
122 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sche) Jugendschriftstellerin Gertrud Prellwitz (1869–1942), der linksliberale Journalist und SPD-Politiker Ulrich Rauscher (1884–1930), der Nationalökonom Alfred Weber (1868–1958), der gesellschaftskritische Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift Simplicissimus Ludwig Thoma (1867–1921), der Neukantianer, Staatstheoretiker und spätere liberale Sozialist Leonard Nelson (1882–1927) sowie der Philosoph und Psychologe Walter Schmied-Kowarzik (1885–1958), der persönlich am Freideutschen Jugendtag teilnahm. Der Freideutsche Jugendtag rief eine Vielzahl von Angehörigen der kulturellintellektuellen Elite des Kaiserreichs auf den Plan. Hier war es vor allem das Bildungsbürgertum, das sich von der bürgerlichen Jugendbewegung und speziell ihren studentischen Gemeinschaften eine „idealistisch-konservative kulturelle Erneuerung“203 erhoffte, die mittelfristig zur Reprofilierung des gesamten Bildungsbürgertums führen sollte. Nachdem die erste der insgesamt fünf im Veranstaltungsverlauf stattfindenden Festreden bereits am 10. Oktober auf der vorangehenden Delegiertentagung auf dem Hanstein erfolgt war – neben den Vertretern der fünfzehn einladenden Bünde trafen sich hier auch die Abordnungen verwandter Gruppen aus dem Spektrum der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung, insgesamt etwa 500 Führer und Vertreter204 –, die allen anwesenden Gruppen die Möglichkeit geben sollte, sich über ihre Einzelbestrebungen zu äußern und sich gegenseitig besser kennenzulernen, wurde der darauffolgende erste offizielle Veranstaltungstag durch die feierliche Abschlussrede Ahlborns beendet.205 Hierin beteuerte Ahlborn, die Freideutsche Jugend feiere das Fest der „Gegenwart zugewandt“ und „im Gelöbnis der Tat“, um damit ihre Liebe zum Vaterland zu bekunden. Anstatt sich in „eine Partei hineindrängen“ und auf „ein bestimmtes Parteiprogramm“ festlegen zu lassen, habe die Freideutsche Jugend mit der im Laufe des Samstagvormittags gemeinschaftlich verabschiedeten „Meißnerformel“ eindeutig ihren Willen zur Einheit, Selbstverantwortlichkeit und Unabhängigkeit sowie ihr „Streben nach Wahrhaftigkeit“ bekundet. Im Sinne des Ziels der Freischaren einer homogenen Volksgemeinschaft und der Überwindung des „gehässigen Parteienkampfes“ durch einen „dritten Weg“ zwischen der politischen Rechten und Linken warb Ahlborn für die Idee der Freideut-
203 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 73. 204 Anwesenheitsliste der Delegiertentagung auf dem Hanstein vom 10.10.1913 (AdJb N 2/16); Georges Barbizon: Bericht über den ersten Freideutschen Jugendtag, in: Der Anfang. Zeitschrift der Jugend, hgg. von Georges Barbizon/Siegfried Bernfeld 1 (NF 1913), H. 7, S. 193–197, hier S. 193. 205 Im Folgenden zitiert aus der Festschrift in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 289–292 (29–32).
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schen Jugend und damit für die ideelle und organisatorische Einigung der anwesenden Bünde. Ahlborn wies auf die Verantwortung der Freideutschen Jugend hin, die sie gegenüber ihren „tausenden und hunderttausenden“ Mitmenschen hätte, die täglich „entseelter Arbeit“ und „entseelendem Genuß“ zum Opfer fallen würden und deren Kräfte der „Selbstprüfung und der Selbsthilfe“ zusätzlich durch die „unheilvollen Suggestionen machtlüsterner Fanatiker“ gelähmt würden. Damit formulierte er nicht nur das elitäre Selbstverständnis der Freideutschen, das vor allem die akademische Jugend für sich verinnerlicht hatte, sondern zugleich deren kultur- und sozialreformerischen Impetus. In jedem Fall hob er die kulturelle, soziale und moralische Verantwortungsrolle der Freideutschen hervor, denen nach seiner Auffassung eine besondere Verantwortung für „Wohl“, „Heil“ und Befreiung des deutschen Volkes zukam. Der Freideutsche Jugendtag war für ihn ein „Gelöbnis zu bestimmter äußerer Tat“, wobei der größte Dienst, den die Freideutschen ihrem Vaterland erweisen könnten, sei, „selbst möglichst tüchtig zu werden“, sich „wahrhaftig und getreu“ gegen sich selbst und gegen ihre Mitmenschen zu verhalten. Im Zentrum der Argumentation Ahlborns stand die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung, die sich für ihn aus dem Bildungsgrad, der sittlichen-moralischen Erziehung, den sozialpraktischen Erfahrungen und den potentiellen Einflussmöglichkeiten der Freideutschen ergab. Er forderte die versammelte Jugend konkret zu „innerer Toleranz“ auf, „die auch den Gegner unserer eigenen Anschauung, einfach weil er ein Wahrheitssuchender ist, anerkennt und ehrt“. Wie proaktiv und gestaltungsbewusst die Freideutschen ihre gesellschaftliche Rolle interpretierten, wurde noch einmal am Ende von Ahlborns Rede deutlich, als dieser alle Freideutschen dazu aufrief, gleich nach dem Meißnerfest wieder an die Arbeit zu gehen, um „alle Stände und Berufe mit freideutschem Geiste zu erfüllen“, was letztlich dem „Wohl und Heile“ Deutschlands dienen sollte. Damit legte Ahlborn auch offen, dass das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft für die Mehrheit der Freideutschen nicht primär eine politische Utopie war, sondern eine konkrete kulturell-soziale Zielvorstellung. Was in der marxistischen Ideologie über die sukzessive Entmachtung der adeligen Eliten und der Bourgeoisie von statten gehen sollte, wollten die Freideutschen mehrheitlich über den gesellschaftlichen Ausgleich zwischen der politischen Linken und Rechten, die Einigung der Volksgemeinschaft erreichen, die Ahlborn als Voraussetzung für die angestrebte kulturelle Erneuerung ansah. Die Aufgabe der Freideutschen sah er in der Vermittlung gemeinsamer kultureller Werte, Ideen und Ziele. Die Lösung zur Überwindung der sozialen, kulturellen und politischen Grundkonflikte der Zeit erblickte er in der Förderung eines gemeinsamen Kulturwillens, einer Volksgemeinschaft auf kultureller Grundlage, die alle politischen, sozialen, ethnischen und räumlichen Grenzen überwinden sollte. Das von
124 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Ahlborn in seiner Rede vorgestellte Programm zielte im Kern auf gesellschaftlichen Konsens, der für ihn mit der praktischen Forderung nach Selbsterziehung und parteipolitischer Unabhängigkeit verbunden war. Auch Gustav Wyneken betonte in seiner Festansprache die gesellschaftliche Verantwortungsrolle der Freideutschen. Er bezog sich dabei auf innenpolitische und innerkulturelle „Fragen und Aufgaben“ des öffentlichen Lebens, womit er vor allem die Überwindung von Klassengegensätzen und politischen Polarisierung meinte. In Anbetracht der großen gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen sollten sich die Freideutschen „um jenes Überganges willen für die Menschheit“ als würdig erweisen und tätig an der Gestaltung der Gesellschaft der Zukunft mitwirken. Im Sinne der Entwicklung einer auf kultureller Grundlage entwickelten Volksgemeinschaft mahnte Wyneken die Jugend dazu, „keine voreiligen Bindungen“ einzugehen, womit er vor allem Zweckverbände und politische Parteien ansprach. Er hielt es für „eine Verschwendung heiligster Kraft an zu geringe Aufgaben“, wenn sich die Jugend in diesen Zeiten auf „einzelne Sonderbestrebungen festlegen lassen würde. Vor dem Hintergrund des Parteienkampfes im Kaiserreich und der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft beschwor Wyneken weltanschauliche Neutralität als einzigen Weg, sozialen Frieden herzustellen, erschien ihm parteipolitische Unabhängigkeit als Grundvoraussetzung für die zukünftige Einigung und Entwicklung der Volksgemeinschaft. Er hielt die Jugend an, „über die Grenzen des Staatsinteresses und des völkischen Selbsterhaltungstriebes“ hinauszudenken. Die Freideutsche Jugend sah er in einem heiligen „Krieg“ für den „Geist“ und die Zukunft Deutschlands begriffen, der im Idealfall „die ganze Menschheit“ weiterführen sollte.206 Ferdinand Avenarius, der älteste Redner, verwies in der Schlussrede auf die Möglichkeit der Entstehung einer groß angelegten freideutschen Bewegung und forderte den Brückenschlag zu den staatlich geförderten Jugendpflege- und Jugendwehrorganisationen und zur Arbeiterjugendbewegung, zu der insbesondere die studentischen Freischaren, etwa durch die eingerichteten ArbeiterUnterrichtskurse, schon erste Verbindungen geknüpft hatten. Am Ende seiner Rede rief er den Freideutschen ihre angestrebte gesellschaftliche Verantwortungsrolle ins Gedächtnis. Nur durch konsequente „Selbstzucht“ und „Wahrhaftigkeit“ sei zur Freiheit zu gelangen. Alle Freideutschen sollten sich „mitverantwortlich“ für die Entwicklung des Volkes und des Gemeinwohls fühlen.207 Avenarius schloss, indem er die Freideutschen und ihre kulturellen Anlagen als Ausgangspunkt einer werdenden Volksgemeinschaft und damit der kulturellen Erneuerung pries: 206 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 293–301 (33–41). 207 Ebd., S. 302–306 (42–46).
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Der Stundenschlag der Geschichte hat euch zu einer herrlichen Aufgabe gerufen: Ihr seid begnadet, eurem Volke nützen zu dürfen. Der Körper gesund, daß er stark in Arbeit und Kampf sei, die Seele gefüllt von all dem Reichtum der Welt, den offene Augen und Ohren eintrinken, die Kraft bereit, dem Brüdern zu helfen, so könnt ihr die Kernschar werden eines neuen Geschlechts. Ihr könnt es werden, werdet es!208
Was mögliche Ergebnisse des Freideutschen Jugendtags anging, wurde im Verlauf des Festwochenendes, auf maßgebliche Initiative der drei Freischärler Ahlborn, Gustav Franke und Erwin Ritter von Hattingberg, in Absprache mit Avenarius und Wyneken,209 eine Einigungsresolution auf den Weg gebracht, später als „Meißnerformel“ bekannt geworden.210 Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.211
Neben der Idee der Selbstbildung waren es vor allem lebensreformerische Grundsätze, die die teilnehmenden Gruppen miteinander verbanden. Die Erklärung sollte die lebensreformerische Praxis freideutschen Gemeinschaftslebens veranschaulichen und diese gegen als unproduktiv erachtete Kulturformen der wilhelminischen Gesellschaft abgrenzen. Die Betonung eigen- und mitverantwortlicher sowie gemeinschaftlicher Lebensgestaltung und Bildung sowie besonderer Lebenshaltungsregeln spiegelt das lebens- und kulturreformerisch motivierte Abgrenzungsbedürfnis gegenüber bestimmten Verhaltens- und Denkweisen der wilhelminischen Mehrheitsgesellschaft und das Avantgardebewusstsein der Freideutschen wider. Die Meißner-Formel betonte das Prinzip der Selbstbildung und -bestimmung sowie die individuelle Verantwortung für die Gemeinschaft, das Gemeinwohl und die Entwicklung der Kultur. Auf individueller Ebene verantwortlich zu handeln, bedeutete für die Freischaren, im Inter-
208 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 305–306 (45–46). 209 Vgl. Ahlborn, Wie es zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner kam; Brief von Knud Ahlborn an Wilhelm Friedrich Rumpf vom 26.3.1953 (AdJb N 2/63); Brief von Erwin Ritter von Hattingberg an Otto Steckhan vom 13.1.1964 (AdJb N 35/1668); Hinrich Jantzen: Jugendkultur und Jugendbewegung. Studie zur Stellung und Bedeutung Gustav Wynekens innerhalb der Jugendbewegung, Frankfurt/M. 1963, S. 23; Barbizon, Bericht über den ersten Freideutschen Jugendtag, S. 195. Ferner Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 51–53, sowie Einführungstext von G. Mittelstraß, S. 271–272 (11–12); Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/M. 1935, S. 16, sowie Friedrich Wilhelm Foerster: Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel, Zürich/Leipzig 1923, S. 92–94. 210 Vgl. Knud Ahlborn: Die freideutsche Jugendbewegung, München 1917, S. 7, 13–14. 211 Die Meißner-Formel in ihrer ausführlichen Form wird zitiert nach Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 52 bzw. S. 272–273 (12–13).
126 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 esse der Gemeinschaft und des Gemeinwohls zu handeln, die eigenen Interessen und Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Zwar wurde fürs Erste nicht konkret, was „eigene Bestimmung“, „eigene Verantwortung und „innere Freiheit“ bedeuten sollten, aber eben deshalb entwickelte die Einigungsformel auch eine derart integrative Wirkung. Sie ermöglichte es, dass sich die teilnehmenden Bünde und Gruppen am letzten Veranstaltungstag zum Verband Freideutsche Jugend zusammenschließen konnten, worauf insbesondere die Vertreter der akademischen Freischaren hingearbeitet hatten. Blickt man voraus auf das vielfältige und anhaltende kultur- und sozialpolitische Engagement Freideutscher und insbesondere ehemaliger Freischarmitglieder z.B. in der Jugend- und Erwachsenenbildung nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wird deutlich, dass das Bekenntnis vom Hohen Meißner im Grunde sehr präzise aussagte, worum es den Freideutschen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts gehen sollte: „Freiheit und Verantwortung“212. Als kulturelle Elite ging es ihnen darum, in geistig freien und freien gemeinschaftlichen Konstellationen Verantwortung zu lernen und zu übernehmen, respektvoll und tolerant miteinander umzugehen, um in der Folge andere an ihrer Idee der gesellschaftlichen Mitverantwortung und -gestaltung (Freiheit und Verantwortung) partizipieren zu lassen. Nicht ohne Grund war die Jugend- und Erwachsenenbildung das mit Abstand größte Betätigungsfeld der Freideutschen. Als die Freideutschen sich 1913 als Freideutsche Jugend konstituierten war dies natürlich noch nicht absehbar, aber Programm und Praxis der Freischaren und nicht zuletzt die MeißnerFormel wiesen bereits in diese Richtung. An die Spitze des Verbandes der Freideutschen Jugend wurde ein dreiköpfiges Gremium aus ausschließlich DAF-Mitgliedern gewählt, das den Hauptausschuss der Freideutschen Jugend bildete.213 Zusätzlich sollte sich ein Ausschuss aus Vertretern aller angeschlossenen Verbände konstituieren, die zwischen Hauptausschuss und Einzelverbänden vermitteln sollten, ein inhaltlich arbeitender Arbeitsausschuss sowie ein „Freideutscher Jugendrat“, der aus älteren Führern oder Freunden der Freideutschen Jugend bestehen und wie ein Ältestenrat beratend zur Seite stehen sollte.214 Die zu schaffenden Gremien, deren Statuten und Institutionalisierung vom Hauptausschuss bis zum darauffolgenden Vertretertag in Marburg im März 1914 vorbreitet und danach weiter ausgearbeitet
212 Führungskreis des Freideutschen Konvents (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung. Die Herbsttagung 1948 des Freideutsches Kreises auf der Jugendburg Ludwigstein (Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe vom Januar 1949), Lüdenscheid 1949. 213 Rundschreiben der Freideutschen Jugend an die leitenden Stellen der angeschlossenen und befreundeten Verbände vom 16.2.1914 (AdJb A 2/104–2). 214 Rundschreiben an die der Freideutschen Jugend angeschlossenen Verbände, o. Datum (AdJb A 2/104–2).
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wurden,215 sollten der schrittweisen programmatischen Vereinheitlichung der Freideutschen Jugend und ihrer weitergehenden organisatorischen Verstetigung dienen sowie die inhaltliche Integration neu aufgenommener Gemeinschaften sicherstellen. Im Sinne der Meißner-Formel gelobte die Freideutsche Jugend nur solche Ziele aufzustellen, die der Jugend entsprächen und lehnte es darüber hinaus ab, die Jugend „in den Dienst eines Parteigedankens wirtschaftlicher, politischer oder konfessioneller Natur zu stellen“. Vielmehr wollte sie sich darauf beschränken, nur der selbstständigen Entwicklung der Jugend zu dienen, in der „Erkenntnis, dass nur von einer freigewachsenen Jugend später fest umgrenzte Aufgaben selbstständig angegriffen werden können“.216 Zwar changierte die Freideutsche Jugend bis zu ihrer allmählichen Auflösung zu Beginn der 1920er Jahre zwischen einem Verband mit festen Satzungen und einem informellen Zusammenschluss einzelner Gruppierungen mit wechselndem Personal und mitunter auch wechselnder Programmatik, weitgehender Konsens blieb jedoch die Idee der Selbstbildung. Obwohl am Ende des Freideutschen Jugendtags kein konkretes Programm stand – das konnte es aufgrund der Unterschiedlichkeit der vertretenen Gruppierungen und der Kürze der Programmberatungen gar nicht geben –, war die Veranstaltung wegweisend für die weitere programmatische und organisatorische Entwicklung der Freideutschen nach 1913 sowie für deren gesellschaftliche Praxis nach 1918. Gleich zu Beginn des Jahres 1914 folgte der erste offizielle Vertretertag der Freideutschen Jugend in Marburg. Dieser sollte den Auftakt für die weitergehende organisatorische Verstetigung der Freideutschen Jugend bilden, der Beginn des Ersten Weltkriegs verhinderte jedoch zunächst weitere Planungen und Zusammenkünfte. Als Medium des Zusammenbleibens brachte man die Zeitschrift Freideutsche Jugend auf den Weg, bevor es auf dem Göttinger Vertretertag der Freideutschen Jugend 1916 zu einer provisorischen Reorganisation mit abschließender Satzung kam.217 Weitere Verkehrstreffen der Freideutschen Jugend waren der Westdeutsche Jugendtag auf der Loreley (1917), die Freideutsche Woche im Landschulheim am Solling (Herbst 1917), die Nürnberger Führertagung (1918) und zuletzt die Jenaer Tagung (1919) und die Hofgeismarer Tagung
215 Programm und Satzungen der Freideutschen Jugend. Entwurf der vom Marburger Vertretertag eingesetzten Satzungskommission, 1914 (AdJb N 2/29); Gründungsdokument der Freideutschen Jugend, 1914 (AdJb N 2/28), sowie Verfassung der „Freideutschen Jugend“, 1914 (AdJb N 2/29). 216 Verfassung der „Freideutschen Jugend“, 1914 (AdJb N 2/29), S. 1. 217 Bruno Lemke: Satzung und Programm der Freideutschen Jugend auf der Göttinger Vertretertagung (zuerst erschienen in: Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 7), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 587–588.
128 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 (1920)218, auf denen sich die kriegs- und revolutionsbedingte politische Spaltung der Freideutschen manifestierte. Das Initialerlebnis des Freideutschen Jugendtags und die Meißner-Formel waren die wesentlichen Anknüpfungspunkte für die Selbstbetrachtung und die weiteren Aktivitäten der Freideutschen nach 1918 und 1945. Nach den humanitären und gesellschaftlichen Verheerungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs bot der humanistische, Autonomie und Selbstbildung in den Vordergrund stellende Kern der Meißner-Formel den Freideutschen immer wieder eine Grundlage, auf der sich ihr Gemeinschaftsleben und ihr gesellschaftliches Fortwirken begründen ließ. Davon zeugen nicht zuletzt die Meißnertreffen von 1923, 1953, 1963 und 1968, die in ideeller und in praktischer Hinsicht an den ersten Freideutschen Jugendtag von 1913 anschlossen.
218 S. u. S. 199–202.
6 Der Sera-Kreis Jena (1909–1914) Der Sera-Kreis219 stellt eine Besonderheit in der freideutschen Akteurskonstellation vor dem Ersten Weltkrieg dar. Zwar hat der Kreis selbst zur Sinnbestimmung des Meißner-Festes nichts beitragen wollen (wie er selbst ironisch in der Meißner-Festschrift anmerkte), seine freideutsche Praxis ist jedoch für die freideutsche Idee paradigmatisch220, gehörten ihm doch unter anderem später prominent gewordene Freischärler wie Rudolf Carnap und Wilhelm Flitner an,221 die auch nach dem Ersten Weltkrieg im Sinne der freideutschen Idee weiterwirkten.222
6.1 Gründung Der Sera-Kreis, ein „Kreis von Freunden auf der Suche nach Alternativen“223 zu überkommenen Geselligkeitsformen und Erziehungsbildern innerhalb der Gesellschaft, der Kultur und der Universität, formierte sich seit Juni 1908 als relativ loser Zusammenschluss von primär nichtinkorporierten, überwiegend männlichen Studierenden der Jenaer Freien Studentenschaft – zumeist ehemalige Wandervögel und Jugendbewegte – sowie jungen Jenaer Dozenten, Schriftstellern und Künstlern um den seinerzeit bedeutenden Kulturverleger und Initiator des Kreises Eugen Diederichs (1867–1930)224. Seit November 1912 war der Kreis
219 Dokumente/Quellen zum Sera-Kreis in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 469–483. Ferner Tim Köhler: Sera-Kreis, in: Klaus-Peter Horn u. a. (Hrsg.), Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Bad Heilbrunn 2012, S. 187; Heinrich G. Brügmann: Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis. Untersuchung eines Modells von Jugendleben und Geist der MeißnerGeneration vor 1914, Frankfurt/M. 1965. 220 Die kulturelle Praxis des Kreises wurde andernorts hinreichend dargestellt. Zuletzt Ulrich Herrmann: Wilhelm Flitner. 1889–1990. Pädagoge und Philosoph an der Universität Hamburg. Bildungstheoretiker und Politikberater. Kulturphilosoph und Goethe-Forscher, Bad Heilbrunn 2020, S. 19–25; Werner, Moderne in der Provinz, S. 275–307; Justus H. Ulbricht: Feste der Jugend und der Kunst. Eugen Diederichs und der Sera-Kreis, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 419–424. 221 Zur lebenslangen Verbindung von Carnap und Flitner Meike G. Werner: Freundschaft \ Briefe \ Sera-Kreis. Rudolf Carnap und Wilhelm Flitner. Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen, in: Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen, S. 105–131. 222 Zu Carnaps freideutschen Aktivitäten nach dem Ersten Weltkrieg s. u. S. 191–193, 204–206; zu denen Flitners s. u. S. 204–206, 210. Ferner vgl. Herrmann, Wilhelm Flitner, S. 96–97. Flitners dort referierte Rede zur Verfassungsfeier des Hamburger Senats 1931 ist ganz von freideutschem Gedankengut über Volk, Staat und bürgerliche politische Bildung bestimmt. 223 Meike G. Werner: Jugend im Feuer. August 1914 im Serakreis, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2014), H. 8, S. 19–34, hier S. 25. 224 Justus H. Ulbricht/Meike Werner (Hrsg.): Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999. Zu Diederichs auch die Vorrede https://doi.org/10.1515/9783110783667-011
130 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 personell und ideell zusätzlich an die dortige Akademische Freischar (Freischar Jena I) rückgebunden, auch für deren Angehörige Diederichs mit dem Sera-Kreis einen ständigen und exklusiven Überbau anbot. Beide Gruppen – Freistudentenschaft und Freischar – können in dieser Zeit nicht ohne den prägenden Einfluss des Sera-Kreises gedacht werden. Zu den bekanntesten Mitgliedern des Kreises zählten der in Jena zur Schule gegangene Philosoph Rudolf Carnap, später Mitglied des Wiener Kreises, der künftige Universitätspädagoge Wilhelm Flitner, der Soziologe, Historiker und Philosoph Hans Freyer – in der Weimarer Republik Vertreter der „Konservativen Revolution“ –, der marxistische Philosoph Karl Korsch, der Literaturwissenschaftler Julius Frankenberger, der Schriftsteller Kurt Held, der Philologe Walter Fränzel – ein Schüler des Historikers Karl Lamprecht und später bekannter Waldorf-Pädagoge – und die Historikerin und feministische Theoretikerin Elisabeth Busse-Wilson. Die erste Formierung des Sera-Kreises wurde von der Konstituierung der Jenaer Freien Studentenschaft im Mai 1908 beeinflusst,225 zu deren Gründungsversammlung über 200 Studierende erschienen waren und auf deren Zusammenschluss der 41-jährige Diederichs durch öffentliche Proklamationen und Werbemaßnahmen der Freistudentenschaft sowie entsprechende Hinweise aus seinem Jenaer Umfeld aufmerksam geworden war.226 Die Bildung der lokalen Freistudentenschaft hatte der von jugendlichem Wandervogelleben und naturromantischer Folklore begeisterte Diederichs kurzerhand zum Anlass genommen, deren Mitglieder 1908 zur gemeinsamen Sonnenwendfeier auf einer bewaldeten Bergkuppe im Jenaer Umland einzuladen. Schon seit 1904 hatte der den Motiven und Ausdrucksformen der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung nahestehende Diederichs immer wieder Versuche unternommen, mit seinen künstlerisch-inszenatorischen Ideen Anschluss an die traditionellen Sonnenwendfeierlichkeiten der korporierten Jenaer Studentenschaft zu finden, jedoch rasch wieder Abstand vor deren konservativer studentischer Praxis genommen. Stattdessen suchte Diederichs nach neuen, pantheistisch inspirierten künstlerischen Ausdrucksformen und veranstaltete von 1905 an eigene Sonnenwendfeiern, zu denen er Freunde und Bekannte einlud. Bei der vom Wandervogel geprägten Freistudentenschaft trafen Diederichs Vorstellungen auch insofern auf Interesse, als ihre Angehörigen nicht viel mit den traditionell von der Jenaer Studierendenschaft veranstalten MittsommerRüdiger Robert Beers mit dem Titel: Eugen Diederichs 1867–1967, in: Eugen Diederichs: Selbstzeugnisse und Briefe bedeutender Zeit genossen, hgg. von Ulf Diederichs, Düsseldorf 1967. 225 Zur Jenaer Freistudentenschaft Werner, Moderne in der Provinz, S. 238–275. 226 Einladungsschreiben des Ausschusses zur Gründung einer Freistudentenschaft an die Professorenschaft zur Gründungsversammlung vom 13. Mai 1908 in Jena (UAJ, Bestand C, Nr. 1086, Bl. 14–5). Zum Gründungsaufruf der Jenaer Freistudentenschaft s. Flugblatt „Burschen heraus!“, Jena 13. Mai 1908 (UAJ, Bestand C, Nr. 1086, Bl. 14–5).
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festen anfangen konnten, sah die Freistudentenschaft ihre Hauptaufgabe doch darin, „von dem in traditionellen Formen erstarrten Verbindungswesen abzurücken“227 und stattdessen die Studierenden zu stärkerer Eigeninitiative zu ermuntern. Zu den gemeinsamen Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende 1908, bei der schwedische und deutsche Volkstänze, mittelalterliche Reigen sowie empfindsam-biedermeierliche Idyllen und Laienspiele aufgeführt wurden,228 lud Diederichs neben den Freistudenten auch die schwedische Reformpädagogin und Verlagsautorin Ellen Key, eine Abordnung Wickersdorfer Schüler – Diederichs unterhielt seit 1906 Beziehungen zu Freien Schulgemeinde Wickersdorf und deren Leiter Gustav Wyneken und verlegte ihre Schriften –, Dozenten der Universität Jena sowie Künstler aus Weimar, Berlin und Leipzig ein. Die Veranstaltung auf dem „heiligen Berg“229, die durch die Beteiligung der Freistudentenschaft deutlich verjüngt wurde, geriet rückblickend nicht nur zum Initialereignis des Sera-Kreises, sondern wurde fortan auch zu dessen alljährlicher Tradition und kulturellen Signatur. Die feste Gruppierung des Sera-Kreises, als dessen „spiritus rector und Choreograph“230 sich Diederichs hervortat, erfolgte schließlich zur Sonnenwendfeier 1909.231
6.2 Programm Kulturelle Ordnungsvorstellungen und soziale Praxis des Sera-Kreises lagen im Schnittpunkt zwischen den hochschulpolitischen und bildungsreformerischen Zielen der Freistudentenschaft und den kulturellen Erneuerungsbestrebungen Diederichs’, der sich als Mentor einer kommenden kulturelle Elite begriff und mithilfe des Sera-Kreises innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung eine neue Fest- und Geselligkeitskultur im deutschen Volk entwickeln wollte. Zu diesem Zweck erdachte Diederichs den Kreis von vornherein als Begegnungsstätte von Studentinnen und Studenten, die in gleichberechtigtem Spiel, Tanz, Gespräch und Theater neue Geselligkeitsformen und Beziehungsmuster entwickeln sollten.232 227 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 44. 228 Sera-Kreis (Hrsg.): Gedächtnisfeier zur Friedenssonnenwende auf dem Hohen Leeden 1919 (Privatdruck des Sera-Kreises zum Gedächtnis an Karl Brügmann, Hans Kremers u. a.), Jena 1919, S. 1. Dazu auch Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 41–43, sowie ferner: Eugen Diederichs: Gedächtnisrede (aus „Friedenssonnenwende 1919“. Almanach des Serakreises, Jena 1919), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 481–483. 229 Sera-Kreis, Gedächtnisfeier zur Friedenssonnenwende auf dem Hohen Leeden 1919, S. 1. 230 Werner, Moderne in der Provinz, S. 275. 231 Dazu Martha Hörmann: Kurzchronik, in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 469–471, hier S. 469. Ferner Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, S. 127–128. 232 Vgl. Musial, Jugendbewegung und Emanzipation der Frau, S. 71–72.
132 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Gemeinschaftsleben und kulturelle Agenda des Kreises waren untrennbar mit der Person Diederichs verbunden, dessen verlegerisches Programm sich in der gesamten bürgerlichen Jugendbewegung breiter Rezeption erfreute. Diederichs, der seit 1907 Mitglied des Deutschen Werkbundes, seit 1910 Mitglied des Wandervogels Deutscher Bund war, stand in einer Reihe mit erfolgreichen Kulturverlegern wie Samuel Fischer, Kurt Wolff, Georg Müller, Ernst Rowohlt und Anton Kippenberg. Indem er das Verlagsprogramm für die Reformpädagogik, die Volkshochschul-, Landerziehungsheim- und Siedlungsbewegung, für Freikörperkultur, Gymnastik und Tanz, Kleiderreform, Kunstgewerbe, Bodenreform sowie die Ideen des Dürerbundes und Deutschen Werkbundes öffnete, baute er seinen Verlag zum zentralen Träger der deutschen Reformbewegungen aus.233 Außerdem war der Verlag religiösem, theosophischem, esoterischem, mystischem, gnostischem und antirationalistischem Gedankengut geöffnet, wodurch dieser mit seinem spirituell-transzendentalen und religiösen Programm zu so etwas wie dem „Branchenführer“ für die „vagierende Religiosität“ der „Außerkirchlichen“ und der neureligiösen Strömungen im Kaiserreich wurde.234 Der Verlag gab zudem etliche Buchserien, Flugblattreihen und Periodika heraus, unter anderem das jugendbewegte Monatsblatt Der Aufbruch (1915), die Kulturzeitschrift Die Tat (seit 1912), die Jahrbücher des Deutschen Werkbundes (seit 1912) sowie seit 1908 Jahresberichte, Jahrbücher und Vierteljahrsschriften der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Das Verlagsprogramm orientierte sich stark am Programm der Zeitschrift Der Kunstwart (1887) und des kulturpolitischen Dürerbundes (1902) – beides Projekte des mit Diederichs befreundeten Dichters und Freideutschen Ferdinand Avenarius.235 Als Chronist der Freideutschen Jugend verlegte Diederichs freideutsch geprägte Autoren wie Hans Blüher, Eduard Heimann, Ernst Joe¨l, Elisabeth Busse-Wilson, Max Hodann, Fritz Klatt, Walther Koch236, Wilhelm Stählin, Wilhelm Flitner und Gustav Wyneken.237 Während der Diederichs Verlag das theoretische Fundament für die kulturelle Erneuerung Deutschlands legen sollte, sollte im Sera-Kreis ganz praktisch das Personal der Zukunft erwachsen. Dafür bot Diederichs den Angehörigen des
233 Viehöfer, Der Verleger als Organisator. 234 Justus H. Ulbricht: Massenfern und klassenlos oder: „Wir brauchen eine Brüderschaft im Geiste, die schweigend wirkt“. Die Organisation der Gebildeten im Geiste des Eugen Diederichs Verlags, in: Faber/Holste, Kreise – Gruppen – Bünde, S. 385–401, hier S. 391. Ferner Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, bes. S. 143–153. 235 Vgl. Ulbricht, Massenfern und klassenlos, S. 389. 236 Zusammen mit dem jüdischen Politikwissenschaftler Adolf Grabowsky (1880–1969) veröffentlichte W. Koch 1920 die Schrift: Die freideutsche Jugendbewegung. Ursprung und Zukunft, Gotha 1920. 237 Ulf Diederichs: Eugen Diederichs und sein Verlag. Bibliographie und Buchgeschichte 1896 bis 1931, Göttingen 2014, S. 342–348, sowie die Bibliografie des Verlags S. 15–309.
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Kreises gleichermaßen Orientierung, Inspiration und Protektion und ließ sie von seinen vielfältigen Verbindungen in die deutsche Kulturszene profitieren. Immerhin konnten über Diederichs und seine Frau Helene Voigt-Diederichs Persönlichkeiten wie Carl Spitteler, Hermann Hesse, Gustav Wyneken und Fritz Brüggemann zu Vorträgen in der Freistudentenschaft und im Sera-Kreis gewonnen werden.238 In diesem erblickte Diederichs das Potential für eine zukünftige kulturelle Führungselite, mit der die kulturelle Erneuerung Deutschlands eingeleitet werden sollte. Insofern sollte der Kreis nicht nur Gemeinschaft, sondern Mittel zur kulturellen Umgestaltung sein.239 In der Reform der Fest- und Geselligkeitskultur sah Diederichs einen entscheidenden Ansatzpunkt zur kulturellen Erneuerung Deutschlands. Der Sera-Kreis begriff sich als studentische Elite und teilte mit den Freischaren und den Freistudentenschaften die Vorbehalte gegen Komment, Mensur und Trinksitten der traditionellen Verbindungen. Ein wichtiges Ziel auf dem Weg zur kulturellen Erneuerung war daher die Kultivierung eines neuen akademischen Selbstverständnisses und Habitus’, die Ausprägung eines neuen Akademikertypus, orientiert an der Idee des kulturellen Fortschritts und gebunden an die liberal bildungsbürgerlichen Traditionen. Analog zur Freistudentenschaft240 suchte man programmatisch Anschluss an das frühbürgerliche Hochschulideal Humboldts, Fichtes und Schleiermachers sowie die antike Philosophie und rekurrierte mit Aristoteles’ Ethik auf Werte wie Gemeinschaft, Freundschaft, Freiwilligkeit und ebenbürtige Bildung. Im Vordergrund standen Gemeinschaft, Freundschaft, persönliche Entwicklung und schöpferisch-künstlerischer Prozess. 1912 beschrieb das Sera-Mitglied Hans Kremers die unterschiedlichen Profile von Sera-Kreis und Freistudentenschaft so: Die Freistudentenschaft ist ganz modern: Organisation, Politik, Betrieb, Aufklärung, sozialer Ausgleich, Massenwirkung, Parlament im Kleinen, Strömungen der Gegenwart, durchaus ein Abbild der Gewerkschaften, Genossenschaften, Parteien. Der Serageselligkeit ist ganz romantisch: bewußte Ablehnung jeder Organisation, völliges Absehen von den Verhältnissen, Zwecken und „Problemen“ des gewöhnlichen Daseins, entschieden aristokratische Haltung (Auswahl der Geeigneten, nicht Beglückung der Masse), Ideal des nicht Gemachten, sondern Entstandenen, ja des Improvisierten; zwangloser, frei spielender Verkehr von Freunden, Farbigkeit, Ausgelassenheit und poetischer Glanz; Volkslied, Lyrik und Gitarre.241
238 Vgl. Werner, Moderne in der Provinz, S. 293–294. 239 Vgl. Köhler, Sera-Kreis, S. 187. 240 Zu Motiven und Orientierungen der Freistudentenschaften vgl. Hans Ulrich Wipf: Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896–1918, Schwalbach/Ts. 2004, S. 170–174. 241 Hans Kremers: Freischarchronik, Manuskript vom 22.5.1914, abgeschrieben von Martha Hörmann (Archiv der SUB, Sig. 18: NWEF).
134 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Der Einfluss des Sera-Kreises innerhalb der freistudentisch-jugendbewegten Kreise und den Freischaren war erheblich. Dessen Kerngruppe umfasste im gesamten Zeitraum seines Bestehens von 1908/09 bis 1914 etwa 50 bis 60 und insgesamt etwa 100 Personen,242 ungefähr gleichmäßig auf beide Geschlechter verteilt.243 Darunter, neben Rudolf Carnap und dem späteren Pädagogikprofessor und Goetheforscher Wilhelm Flitner, der Jurist und Philosoph Karl Korsch, Elisabeth Busse-Wilson, der Kunstkritiker und Fotograf Franz Roh, Kurt Held, der Soziologe Hans Freyer, die Malerin Helene Czapski-Holzman, der Reformpädagoge Walter Fränzel, die Naturwissenschaftlerin Martha Hörmann und der Publizist Alexander Schwab.244 Im Sommer 1914 stieß auch der spätere Dramatiker und Regisseur Hans Rothe zu dem Kreis.245 Nicht nur die AV Marburg, sondern auch die AV Jena sowie die spätere Freideutsche Jugend wurden maßgeblich von den Mitgliedern und den Ideen des Sera-Kreises geprägt. Zwar war der Kreis weniger auf Expansion angelegt als die Freischaren, „Ideen über jugendbewegte Zellenbildungen mit lebensreformerischen Zielsetzungen, wie sie innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung seit 1916 diskutiert wurden“,246 zirkulierten aber auch im Sera-Kreis.
6.3 Praxis Für den Sera-Kreis charakteristisch sind seine strukturelle Verbindung verschiedener Personenkreise aus dem studentischen/bildungsbürgerlichen Milieu und seine besondere künstlerisch-folkloristische Gruppenpraxis. Dessen Angehörige fungierten als Bindeglieder zwischen Freistudentenschaft, Freischar sowie der Künstler- und Gelehrtenszene Jenas. Zahlreiche Mitglieder, allen voran Flitner und Karl Brügmann, die sich dem Kreis um die Jahreswende 1909/10 anschlossen, Karl Korsch, Walter Fränzel, Julius Frankenberger und Wolfgang Kroug hatten mit der Freistudentenschaft und dem Sera-Kreis zwei Betätigungsfelder. Da die studentischen Angehörigen des Kreises zumeist aus der Freistudentenschaft oder der Freischar herstammten bzw. rege Verbindungen zu diesen unterhielten, teilte der Kreis auch deren bildungs- und kulturreformerische
242 Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 66. 243 Vgl. Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 49. 244 Wilhelm Flitner: Erinnerungen 1889–1945. Gesammelte Schriften, Bd. 11, Paderborn 1987, S. 125–167. 245 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 55. 246 Werner, Meike G.: Freideutsche Jugend und Politik. Rudolf Carnaps Politische Rundbriefe 1918, in: Friedrich Wilhelm Graf/Edith Hanke/Barbara Picht (Hrsg.), Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven, Tübingen 2015, S. 465–486, hier S. 472–473.
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Ziele247 und entwickelte eine vergleichbare Geselligkeitskultur, wenngleich er eine ganz eigene ästhetische Praxis verfolgte. Im Zentrum des Gemeinschaftslebens des Kreises stand in deutlicher Abgrenzung vom traditionellen Universitätsbetrieb und den traditionellen Verbindungen das Konzept der gemeinschaftlichen Selbstbildung. Verwirklicht wurde dieses Alternativprogramm vor allem durch selbstorganisierte Lese-, Vortrags- und Diskussionsabende, mit denen man Anschluss an die Fragen und Probleme der Gegenwart suchte, ausgedehnte gemeinsame Wanderungen sowie kreative Fest-, Tanz- und Theateraufführungen in der Natur oder auch auf öffentlichen Plätzen Jenas und Umgebung. Angelehnt an die Lebensform der Wandervögel pflegte der Sera-Kreis unter dem prägenden Einfluss Diederichs’ eine Geselligkeitspraxis, die im Gegensatz zur Fest- und Kommerskultur der traditionellen Studentenverbindungen sowie auch zu volkstümlichen und folkloristischen Konsum- und Unterhaltungsformaten wie Volksfesten, Bierzelten und Festumzügen stand. Die besondere Geselligkeitspraxis des Kreises, der ein kultisch geprägtes Naturempfinden zugrunde lag, drückte sich in Volkstänzen, Laienspielen, Gedichtrezitationen, Märchenlesungen, einheitlicher Festbekleidung, gemeinsamen Ritualen und Festen, Vagantenfahrten – Ausflüge in mittelalterlichen Schauben und Baretten im Stile der fahrenden Scholaren –, Tanz-, Sing- und Leseabenden sowie Wanderungen aus. Auch die Körperästhetik spielte bei den Tanzdarbietungen eine Rolle.248 Insbesondere die Lied- und Gesangskultur wurde gegenüber der künstlerisch eher unambitionierten Wandervogel-Praxis musikalisch weiterentwickelt.249 Im Sinne einer Reform des Lebens gehörten Tanz, Theater und Musik zum festen Repertoire des Sera-Kreises.250 Das Gemeinschaftserlebnis selbst hatte innerhalb des Kreises einen hohen Stellenwert, da diesem persönlichkeits- und gesellschaftsbildende Wirkung zugeschrieben wurde, insofern dadurch bestehende Kulturformen verändert und neue Möglichkeiten und Lebensformen gefunden werden konnten. Wie auch die Freischaren wählte der Sera-Kreis keine bürgerlich institutionalisierte Organisationsform. Der Kreis war „kein Bund, kein Verein, sondern eine Gemeinschaft, die von dem Lebensgefühl, das sich in ihr entwickelte“,
247 Zu den Zielen der Freistudentischen Bewegung Wilhelm Rein: Freistudentenschaft, in: Gerhard Anschütz (Hrsg.), Handbuch der Politik, 5 Bde., Bd. 5, Berlin/Leipzig 1920/22, S. 491–495. 248 Vgl. Flitner, Freideutsche Studenten in Jena 1909–1914, S. 479. 249 Vgl. Hörmann, Kurzchronik, S. 469. 250 Dazu Jutta Boehe-Selle: Feste des Lebens und der Kunst. Die Reformbewegung und das Theater, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 325–328; Hedwig Müller: Tanz der Natur. Lebensreform und Tanz, in: Ebd., S. 329–334; Joachim Fontaine: „… ja, die rechte Musik muß veredeln.“ Zu Beziehungen zwischen Lebensreform und Musik, in: Ebd., S. 335–342.
136 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 zusammengehalten wurde.251 Bei dem Kreis handelte es sich in erster Linie um eine musische Erlebnis- und Verständigungsgemeinschaft, deren Verbindung sich aus dem künstlerischen Impetus und der Gestaltung jugendlichen Lebens heraus ergab. Er besaß keine Statuten, führte keine Mitgliederkartei und nötigte seine Mitglieder auch nicht zur Teilnahme an gemeinsamen oder öffentlichen Veranstaltungen. Statt auf Statuten gründete das Zusammengehörigkeitsgefühl des Kreises auf dem verbindenden Erlebnis von Freundschaft und Geselligkeit, Fest- und Theaterveranstaltungen sowie auf Gesprächs- und Lesekreisen, in denen die Kreismitglieder über neue Formen der Geselligkeit, Literatur, Musik, Studium und persönliche Zukunftsentwürfe, aber auch über Fragen der Kultur, der Pädagogik und des aktuellen Zeitgeschehens debattierten.252 Auch die Hierarchie des Kreises war nicht allein auf die Figur Diederichs ausgerichtet, sondern auch Mitglieder selbst hatten innerhalb des Kreises Einflussund Gestaltungsmöglichkeiten. Der Kreis selbst bestimmte aus sich heraus stets einen studentischen Sprecher bzw. Anführer, der den Kreis mit seiner Person zu prägen vermochte.253 Zwischen 1910 und 1911 beeinflusste Karl Brügmann die Geschicke des Kreises. In den Jahren 1911 bis 1912 prägte vor allem Hans Kremers den Sera-Kreis, in den Jahren 1913 und 1914 war es Carnap.254 Außer den drei Anführern zählten noch Walter Fränzel, Hans Freyer und Wilhelm Flitner zum inneren Zirkel.255 Zur geselligen Eigenart des Kreises bemerkte das Sera-KreisMitglied Brügmann 1914: Will man das Allgemeinste von unserem Kreise andeuten, so kann man vielleicht sagen: unsere Art ist eine vorzüglich studentische, organisationslose Ausprägung der gegenwärtigen [Jugend-]Bewegung. […] Wir sind eine Schar von Freunden, oder vielmehr ein Kreis von einzelnen Freundesgruppen und doch ein Ganzes.256
Die Interessen der Sera-Mitglieder gingen weit über deren jeweilige Studienfächer hinaus und galten insbesondere dem Gebiet der Erwachsenenbildung und der modernen Erziehung, gerade auch im Zusammenhang mit der dem Kreis nahestehenden Landerziehungsheimbewegung um Hermann Lietz und der befreundeten Freien Schulgemeinde Wickersdorf, bei der die Mitglieder Freyer, Frankenberger und Kremers während und nach ihrer Studienzeit zeitweilig als
251 Eugen Diederichs: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hgg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, Jena 1936, S. 171. Vgl. auch Sera-Kreis, Gedächtnisfeier zur Friedenssonnenwende auf dem Hohen Leeden 1919, S. 3. 252 Vgl. Werner, Jugend im Feuer, S. 26. 253 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 54. 254 Hörmann, Kurzchronik, S. 470. 255 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 54. 256 Karl Brügmann: Leipziger Gespräche (aus: Sonnenwendbriefe, Jena 1914), in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 472–477, hier S. 476–477.
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Lehrer praktizierten.257 Auch sonst kreisten die Ideen vor allem der studentischen Mitglieder des Sera-Kreises seit 1911/12 zunehmend um die Heranbildung eines neuen Menschentypus auf pädagogischem Weg. Dabei galt Wynekens Freie Schulgemeinde Wickersdorf in vielerlei Hinsicht als vorbildlich.258 In diesem Zusammenhang kam auch der prägende Einfluss des seit 1907 an der Universität Jena als Privatdozent lehrenden Pädagogen, Philosophen und Dilthey-Schülers Herman Nohl zum Tragen, dessen pädagogisch-philosophische Ideenwelt vor allem die spätere Arbeit Flitners – Nohl war Flitners Doktorvater–, aber auch Fränzels, Frankenbergers, Hörmanns und Kremers beeinflusste.259 Flitner und Fränzel waren nach dem Ersten Weltkrieg beide in der Volkshochschule Thüringen bzw. der Volkshochschule Jena aktiv, zu deren Mitbegründern Nohl 1919 gehörte.260 Nohl lenkte die reformpädagogisch interessierten Mitglieder des Kreises auf das noch junge Berufsfeld der Volksbildung hin, profitierte allerdings auch selbst vom gedanklichen Austausch mit dem Kreis. Seine Schrift „Vom deutschen Ideal der Geselligkeit“261 entstand vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit dem Sera-Kreis.262 Die politische Einstellung der Mitglieder vor dem Ersten Weltkrieg war tendenziell linksliberal, wobei sich viele Mitglieder in dessen Verlauf sozialistisch orientierten. Gesellschaftlich bewegten sich die zum Großteil dem Bildungsbürgertum entstammenden Sera-Kreis-Mitglieder zumeist in den ihnen vertrauten bürgerlichen Kreisen, bisweilen suchte der Kreis aber auch Kontakt zur Landbevölkerung, die Arbeiterschaft der Zeiss-Werke hatte sie in der Stadt täglich vor Augen. Verbindung zu höheren Adelskreisen und zur monarchistischen Obrigkeit bestand dagegen nicht.263 Carnap charakterisierte die grundsätzliche politische Haltung der Sera-Kreis-Mitglieder rückblickend wie folgt: Wir besaßen allgemeine Ideale, zu denen eine gerechte, harmonische und rationale Organisation innerhalb und zwischen den Nationen gehörte. Wir sahen, daß die bestehende politische und wirtschaftliche Organisation mit diesen Idealen nicht in Einklang stand, noch weniger das übliche Verfahren, Konflikte zwischen Nationen durch Kriege zu lösen. 257 Hörmann, Kurzchronik, S. 470–471. 258 Vgl. Werner, Jugend im Feuer, S. 26. 259 Vgl. Werner, Freundschaft, S. 108–110. Ferner Flitner, Erinnerungen 1889–1945, Bd. 11, S. 118–125. 260 Meike G. Werner: Volkshochschule als Jugendbewegung für Erwachsene. Die beiden ersten Geschäftsführer der Volkshochschule Thüringen und der Volkshochschule Jena – Wilhelm Flitner und Walter Fränzel, in: Volkshochschule der Stadt Jena (Hrsg.), 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena. Grußworte. Zur Geschichte der Volkshochschule Jena und Thüringen. Erinnerungen, Rudolstadt 1994, S. 63–83. 261 Herman Nohl: Vom deutschen Ideal der Geselligkeit. Dem Andenken Karls Brügmanns gewidmet (1915), in: Pädagogische und politische Aufsätze, Jena 1919, S. 121–134. 262 Vgl. Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 56, 124–126. 263 Vgl. ebd., S. 109.
138 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 So war die allgemeine Richtung unseres politischen Denkens pazifistisch, antimilitaristisch, antimonarchistisch, und vielleicht auch sozialistisch.264
Der Sphäre der Politik und den Parteien standen die Angehörigen des Sera-Kreises generell skeptisch gegenüber, da man aus dem Blickwinkel einer kulturellen Avantgarde politisch-rationalen Steuerungsmöglichkeiten und Kategorien keinen sonderlich hohen Stellenwert zuerkannte. Nicht die Politik, sondern die Kultur war Ansatzpunkt des Denkens und der sozialen Praxis des Sera-Kreises. Wenn Carnap und andere Mitglieder des Kreises allerdings phasenweise, insbesondere aber zum Ende des Ersten Weltkriegs, Orientierung im linken Lager der bürgerlichen Jugendbewegung suchten – damit verbinden sich insbesondere die Namen von Alfred Kurella, Karl Bittel und – als Stichwortgeber – der Schriftsteller und kommunistische Anarchopazifist Gustav Landauer (1870–1919) –, entsprach das jedoch durchaus den politischen Neigungen der Sera- und Freischarfreunde seit ihren Studienjahren.265 Der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 leitete das Ende des Sera-Kreises ein. Wie viele andere Deutsche wähnten sich auch die meisten Mitglieder des Kreises anfänglich in einem Verteidigungskrieg. Sofern sie nicht schon zum Kriegsdienst eingezogen waren, meldeten sich alle kriegstauglichen Mitglieder des Kreises freiwillig.266 Erst vor dem Hintergrund steigender Gefallenenzahlen, des Kriegstodes von etwa 19 Kreismitgliedern267 und der Zuspitzung der allgemeinen Weltlage infolge der dramatisch sich verschlechternden Nahrungsmittelversorgung, der Russischen Revolution und des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten 1917 rückten Kriegs- und Zukunftsfragen kritisch in den Vordergrund. Entsprechend dem Sera-Kreis-Grundprinzip der gemeinschaftlichen Willensbildung diskutierten die verbliebenen Mitglieder, allen voran Carnap und Flitner, vermehrt politische und weltanschauliche Fragen, konkret Möglichkeiten der praktischen Umsetzung ihrer Ideen sowie der gesellschaftlichen Einflussnahme durch die Gründung jugendbewegter Zellen mit primär lebensreformerischen und erzieherischen Zielsetzungen.268 Angestrebt wurden spezielle freideutsch-bündisch geprägte, der Parteipolitik explizit fernstehende Erziehungs- und Tatgemeinschaften bzw. Arbeits- und
264 Rudolf Carnap: Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, S. 15. Dazu auch Carnaps gleichlautende Ausführungen in seiner intellektuellen Autobiografie von 1963. Rudolf Carnap: Intellectual Autobiography, in: Paul Arthur Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Rudolf Carnap, London 1963, S. 1–84, hier S. 9. 265 Vgl. Werner, Freideutsche Jugend und Politik, S. 474. 266 Ebd., S. 472. 267 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 49. 268 Vgl. Werner, Freideutsche Jugend und Politik, S. 472–474.
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Lebensgemeinschaften mit gesellschaftsbildendem Erziehungsauftrag.269 Für Teile des Sera-Kreises wurden in diesem Zusammenhang angesichts der Kriegsentwicklung zunehmend auch sozialistische und kommunistische Ideen wichtig, maßgeblich beeinflusst vom linken Flügel der Freideutschen. Flitner sprach sich vor diesem Hintergrund in seinen „Thesen, an Carnap“270 vom Juli 1917 für ein allgemein größeres gesellschaftliches, erzieherisches und (kultur-)politisches Engagement der älteren Freischärler, Freistudenten und Freideutschen im Rahmen gemeinschaftlich agierender Bünde aus, wobei er den Entwurf einer freideutsch-bündisch geprägten Arbeits-, Lebens- und Erziehungsgemeinschaft bereits im Februar 1917 lieferte, als er die Gründung eines Protestantenklosters anregte.271 Auch wenn diese Bestrebungen trotz anfänglicher Zustimmung unter den Angehörigen des Sera-Kreises keine greifbaren Ergebnisse hervorbrachten, wurde doch der grundsätzliche Wille seiner Mitglieder offenbar, aus den vorbereitenden jugendbewegten Erziehungsgemeinschaften – eine von ihnen war der Sera-Kreis – und den eigenen Freundeskreisen herauszutreten und sich im öffentlichen Leben für die Ideale der Freideutschen zu engagieren.272 Der Mikrokosmos des Sera-Kreises spiegelte insofern die starken innergesellschaftlichen Politisierungs- und Radikalisierungstendenzen seit spätestens 1917 wider. Während Hans Freyer und einige andere ehemalige Mitglieder sich in den 1920er Jahren dem Nationalsozialismus annäherten, gehörte Karl Korsch 1918 zu den Mitbegründern eines Arbeiter- und Soldatenrats in Thüringen und trat zunächst der USPD und dann – ebenso wie der Publizist Alexander Schwab – der KPD bei. Auch Carnap schloss sich im August 1918 der USPD an und folgte damit dem Aufruf des marxistisch orientierten DAF-Mitglieds Karl Bittel an die Freideutschen, sich öffentlich politisch zu engagieren. Überdies schloss sich Carnap Ende 1918 in Berlin einem demokratisch-sozialistisch orientierten Kreis freideutscher Intellektueller an, dem unter anderem auch Karl Bittel, Eduard Heimann, Karl August Wittfogel, Arnold Bergstraesser und Knud Ahlborn angehörten. Der Kreis veröffentlichte im November 1918 einen bemerkenswerten Aufruf 273, der
269 Vgl. Werner, Freideutsche Jugend und Politik, S. 473. 270 Wilhelm Flitner: Thesen, an Carnap (1917), in Ders.: Gesammelte Schriften, hgg. von Ulrich Herrmann/Karl Erlinghagen, Bd. 12/1, Nachlese. Biographisches. Erwachsenenbildung und Volkshochschule. Pädagogische Positionen und Impulse. Würdigungen. Nachkriegszeit. Philosophische Reflexionen und Kulturphilosophie, Paderborn 2014, S. 19–22. Carnaps eigene „politische Rundbriefe“ werden behandelt in: Werner, Freideutsche Jugend und Politik. 271 Vgl. Werner, Freundschaft \ Briefe \ Sera-Kreis, S. 122. 272 Vgl. Werner, Freideutsche Jugend und Politik, S. 485. 273 Aufruf „An die Freideutsche Jugend“, Dezember 1918 (AdJb N 2/29). Abgedruckt in Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 614–617. Faksimile in: Herrmann, Wilhelm Flitner. 1889–1990, S. 24–25. Dazu ausführlich s. u. S. 191–193.
140 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sich für Demokratie, Sozialismus und Völkerfrieden positionierte. Carnap zählte außerdem auch kurzzeitig zum Mitarbeiterkreis der von Bittel herausgegebenen Politischen Rundbriefe. Ein erheblicher Teil der Angehörigen des Sera-Kreises erblickte am Ende des Weltkrieges im Sozialismus die geeignete politische Möglichkeit und Ordnung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erneuern und die kulturelle Neuordnung des Staates einzuleiten. Obwohl viele Sera-Mitglieder wie Carnap, Flitner und Schwab nach dem Ersten Weltkrieg öffentlich in Erscheinung traten, sich politisch engagierten und in der Weimarer Republik ihre Wirkungsfelder begründeten, schloss man nicht mehr an die Gemeinschaft und kulturelle Praxis des Sera-Kreises an. Auch wenn der Zusammenhang des Kreises durch eine vom Sera-Mitglied Martha Hörmann koordinierte Feldpostzentrale während des Krieges rudimentär gewahrt werden konnte, war etwa ein Fünftel der Gesamtmitglieder und damit fast die Hälfte aller männlichen Mitglieder im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen, sodass ein Wiederaufleben des Kreises nach Kriegsende auch von dieser Seite her nicht mehr angestrebt wurde.274 Zwar führte eine von Eugen Diederichs Ende 1919 zusammengestellte Anschriftenliste ehemaliger Mitglieder des Sera-Kreises insgesamt 74 Namen, darunter 26 Männer und 48 Frauen,275 jedoch waren diese mittlerweile sämtlich dem Jugendalter entwachsen und primär mit ihrem privaten und beruflichen Weiterkommen befasst, sodass ein Wiederanknüpfen an die Motive, das Lebensgefühl und den originär gewachsenen Gemeinschaftsgeist des Kreises nicht mehr möglich war.
274 Vgl. Hörmann, Kurzchronik, S. 471. 275 Brügmann, Karl Brügmann und der Freideutsche Sera-Kreis, S. 49.
7 Die Zeitschrift Freideutsche Jugend (1914/15–1922) Die von Ende 1914 bis Ende 1922 erschienene Monatsschrift276 war das mit Abstand einflussreichste Organ der Freideutschen. Ihr kam eine wichtige Funktion bei der Selbstverständigung und programmatischen Aushandlung der Freideutschen Jugend zu, umso mehr vor dem Hintergrund ihrer politischen Spaltung seit Ende 1917 in drei Flügel. Im Spannungsfeld von Erstem Weltkrieg, Revolution und demokratischer Neuordnung begegneten sich in der Zeitschrift Vertreter des linken Flügels, die mit den Ideen des Sozialismus und der sozialistischen Arbeiterbewegung sympathisierten, Vertreter des rechten Flügels, der das Spektrum von völkisch Gesinnten bis national und sozial eingestellten Jungdeutschen abdeckte, und Vertreter der Mitte, die sich aus demokratisch-sozialistischen, bürgerlich-republikanischen und humanistisch-menschheitlichen Positionen speiste. Innerhalb der Freideutschen Bewegung allgemein als Bildungsund Vermittlungsmedium respektiert, begleitete und unterstützte die Zeitschrift die seit dem Meißnertag 1913 wiederholten Versuche der Freideutschen, ihre heterogene Bewegung zusammenzuhalten und versuchte, ihr mit ihren Inhalten eine politisch wie gesellschaftliche gangbare Richtung zu weisen. Besondere Bedeutung kommt der Zeitschrift nicht nur wegen ihres hohen Stellenwerts innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung und für die Freideutschen zu, sondern auch deswegen, weil sie in einer Zeit der Ideologisierung der politischen Orientierungen und der gesellschaftlichen Spaltung eine politisch und sozial vermittelnde Rolle einnahm. Dabei entfaltete sie ein zeitgenössisch kaum vergleichbares intellektuelles und gesellschaftspolitisches Potential, das nach 1918/19 in Richtung demokratische Republik und politischer Neuanfang wies.
7.1 Gründung Schon vor Kriegsbeginn gab es innerhalb der Freideutschen Jugend Bestrebungen, eine gemeinsame Zeitschrift zu entwickeln, die als Diskussionsforum der angeschlossenen Gruppen fungieren, der regelmäßigen Mitgliederinformation sowie der programmatischen Fundierung und Weiterentwicklung der freideutschen Idee dienen sollte. Die ersten Planungen dazu gingen auf Bruno Lemke und Ferdinand Avenarius zurück.277 Auch mit dem Jenaer Verleger Eugen Diede276 Zur Zeitschrift Dietzel/Hügel, Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945, Bd. 2, S. 438, Eintrag 1022. Ferner Malte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923, Göttingen 2016, S. 105–110. 277 Vgl. Bruno Lemke: Zum Geleit, in: Freideutsche Jugend 7 (1921), H. 1, S. 4–8. https://doi.org/10.1515/9783110783667-012
142 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 richs wurde über die Möglichkeit der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift verhandelt.278 Konkret vorangetrieben und verwirklicht wurde das Vorhaben einer übergreifenden Verbandszeitschrift jedoch erst von einer der stetig größer werdenden freideutschen Ortsgruppen, der Hamburger Freideutschen Jugend, die die Zeitschrift in den ersten Kriegsmonaten in Eigeninitiative plante und bis 1916 organisatorisch trug. Der Vorstoß der Hamburger Ortsgruppe hatte seinen Ursprung nicht zufällig außerhalb des Dachverbandes der Freideutschen Jugend und war insofern charakteristisch für die soziale Praxis und den geringen Organisationsgrad der Freideutschen, deren Gruppenleben nicht zentral vom Verband der Freideutschen Jugend gelenkt und reguliert wurde, sodass die Dynamik der Bewegung institutionellen Fixierungen meist vorauslief. Die Reorganisation des Verbandes Freideutsche Jugend erfolgte erst anderthalb Jahre nach Gründung der Zeitschrift auf dem Göttinger Vertretertag zu Pfingsten 1916. Eine Verbindung der Zeitschrift zum Hauptausschuss der Freideutschen Jugend bestand nur in der Person Ahlborns, der dem Hamburger Ortsverband sowie dem Dachverband DAF vorstand und den Verleger Adolf Saal im Namen der Hamburger Freideutschen Jugend mit der Herausgabe der Zeitschrift beauftragt bzw. diese nach dessen Einberufung zum Kriegsdienst im Frühjahr 1915 selbst übernommen hatte.279 Der junge Hamburger Buchhändler und Mitherausgeber der Freideutschen Jugend Adolf Saal (1886–1969)280, seit 1910 Mitglied im BDW, hatte sich bereits im Vorfeld des Freideutschen Jugendtags 1913 mit der Gründung des Hamburger Freideutschen Jugendverlags Adolf Saal in freideutschen Kreisen einen Namen gemacht. Aufgrund seiner guten Vernetzung innerhalb der jugendbewegt-lebensreformerischen Kreise gelang es Saal neben der Monatsschrift Freideutsche Jugend auch andere Zeitschriften der Bewegung für sein Verlagsprogramm zu gewinnen, so die Zeitschriften Der Leib, Der Mensch, Die Wende und zweitweise auch Der Wanderer. Neben den Zeitschriften erschienen im Freideutschen Jugendverlag281 auch sämtliche Publikationen des Verbandes Freideutsche
278 Vgl. Erich Viehöfer: Hoffnungen auf die „neue Jugend“. Eugen Diederichs und die deutsche Jugendbewegung, in: Franz/Wolf/Ziemer, Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 15, Schwalbach/Ts. 1984/85, S. 261–286, hier S. 275. Ferner Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg Revolution und Krise, Münster 1991, S. 91–92. 279 Vgl. Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20, S. 91–92; Knud Ahlborn: Die Aufgaben unserer Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 1, S. 4–8, hier S. 4. 280 Saals Kurzbiographie in: Kindt, Die Wandervogelzeit, S. 1065–1066. 281 Zum Freideutschen Jugendverlag Adolf Saal s. Winfried Mogge: „Ihr Wandervögel in der Luft…“. Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009, S. 110–111, sowie Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913, S. 257–258. Ferner „Das Schrifttum der Freideutschen Jugend“, 1919 (AdJb A 2/104–8).
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Jugend sowie Veröffentlichungen ihrer wichtigsten Wortführer. Der Schwerpunkt des Verlags, dessen Verlagssignet aus einem fackelschwingenden Jüngling auf einem Ross sitzend bestand, lag auf Veröffentlichungen aus den publikationsund diskussionsfreudigen, politisch sehr unterschiedlich eingestellten Kreisen der Freideutschen Jugend. Daneben wartete der Verlag mit Publikationen aus den Bereichen Lebensreform und Freikörperkultur auf und bemühte sich verlegerisch um die auf das musikalische Erbe der Wandervogelbünde zurückgehende Jugendmusikbewegung sowie die proletarische Jugendbewegung. Dominiert wurde das Verlagsprogramm von zumeist freideutsch geprägten (Reform-)Pädagogen wie Gustav Wyneken, Fritz Klatt, Martin Luserke, Curt Bondy, Friedrich Schlünz, Max Tepp und Kurt Zeidler (einige dieser Personen gehörten nach dem Ersten Weltkrieg zum reformpädagogischen Wendekreis282 radikaler Schulreformer sowie zur Gilde „Soziale Arbeit“283). Saal selbst verstand sich als ein Sprecher der jungen Generation. Die erste Ausgabe der Monatsschrift erschien schließlich im Dezember 1914 im Freideutschen Jugendverlag Adolf Saal unter dem Titel Freideutsche Jugend, wobei sich die Zeitschrift seit Mitte 1917 im Untertitel selbstbewusst „Eine Monatsschrift für das junge Deutschland“ bzw. seit Mitte 1922 „Eine Monatsschrift aus dem Geiste der Jugend“ nannte.
7.2 Programm Die lebens- und kulturreformerisch orientierte Zeitschrift sollte als ein alle Richtungen der Freideutschen Bewegung verbindendes bzw. des Verbandes der Freideutschen Jugend gemeinsames, überparteiisches Diskussions- und Ausspracheforum fungieren. Wesentlichen Anstoß zur Gründung gab der Beginn des Ersten Weltkriegs, der für die freideutschen Verstetigungsbemühungen nach 1913 einen tiefen Einschnitt für die freundschaftsbasierte Gruppenpraxis der Bewegung bedeutete. Die Idee, innerhalb der Freideutschen Jugend eine gruppenübergreifende und regelmäßige Nachrichtenvermittlung aufzubauen, erschien den Zeitschriftenmachern durch den Krieg umso akuter.284 In einem programmatischen Editorial zur ersten Ausgabe, die auch als Weihnachtsgruß an alle kriegsteilnehmenden Freideutschen gedacht war, betonten die Herausgeber die Notwendigkeit einer alle freideutschen Verbände zusammenfassenden Zeitschrift als Grundlage des Informationsaustausches: Der Freideutsche Jugendverlag Adolf Saal ist nicht zu verwechseln mit dem 1914 ebenfalls in Hamburg von Saal gegründeten Verlag Adolf Saal. 282 S. u. S. 243–244. 283 S. u. S. 206–210. 284 Vgl. Schriftleitung Freideutsche Jugend: [Editorial I], in: Freideutsche Jugend 1 (1914/15), H. 1, o. S.
144 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Unseren Freunden im Felde ist es nicht möglich, alle die einzelnen Sonderzeitschriften der verschiedenen freideutschen Verbände auch im Felde zu lesen, da soll die „Freideutsche Jugend“ sie neben ihrer eigenen Bundeszeitschrift über die Vorgänge bei den befreundeten Verbänden und die Gesamtarbeit in unserer Bewegung unterrichten.285
Die Zeitschrift sollte als verbindendes Glied zwischen den Freideutschen in der Heimat und im Feld fungieren und damit der Vermittlung der Aussprache dienen und den Dialog der freideutschen Gemeinschaft auch zu Kriegszeiten aufrechterhalten, wie ein gegenüber der ersten Ausgabe leicht modifiziertes Editorial der Herausgeber in der zweiten Heftnummer ankündigte.286 Die ersten Ausgaben gingen in zahlreichen Exemplaren ins Feld.287 Zwar hatte der Kriegsbeginn im August 1914 letztlich den Ausschlag für eine beschleunigte Gründung der Zeitschrift gegeben, jedoch wurde sie von vornherein als langfristiges Projekt konzipiert. Sie sollte „auf Grund ihrer Vermittlung einer freien und furchtlosen Aussprache“ in der Freideutschen Jugend über den Krieg hinaus die Aufgabe haben, die „gemeinsamen Grundideale“ der Freideutschen „immer klarer zum Ausdruck zu bringen“.288 Vorrangig sollte die Zeitschrift als gemeinsames Publikationsorgan der in der Freideutschen Jugend assoziierten Verbände fungieren und in dieser Funktion allen Freideutschen Informationen über die dort stattfindenden Ereignisse und Diskussionen zugänglich machen. Auf diese Weise sollte nicht zuletzt auch Vielfalt und Vitalität der freideutschen Bewegung abgebildet werden. Durch den alle Verbände der Freideutschen Jugend integrierenden Ansatz erhoffte die Schriftleitung, die Zeitschrift zu einem zuverlässigen Nachrichtenblatt und Diskussionsforum ausbauen zu können.289 In der Tat waren Information und Diskussion bis zu ihrer Auflösung Ende 1922 die zentralen Elemente. Letztlich sollte sie weniger dem Abbau von Unterschieden zwischen den einzelnen Verbänden dienen – immerhin besaßen die Prinzipien der Gruppenunabhängigkeit und des Meinungspluralismus innerhalb der freideutschen Kreise einen hohen Stellenwert –, als vielmehr der programmatischen Verdichtung der freideutschen Idee und davon ausgehend dem Ausbau der Freideutschen Bewegung. Man hoffte, mit der Zeitschrift auch über die freideutschen Kreise hinaus eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Diese sollte nicht nur die Verständigung über Ziele und Gemeinsamkeiten der Bewegung befördern, sondern erklärtes Ziel war es, der Gesamtheit des deutschen Volkes nach und nach immer deutlicher
285 Schriftleitung Freideutsche Jugend, [Editorial I]. 286 Vgl. Schriftleitung Freideutsche Jugend: [Editorial II], in: Freideutsche Jugend 1 (1915), H. 2, o. S. 287 Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20, S. 91–92. 288 Schriftleitung Freideutsche Jugend, [Editorial II]. 289 Vgl. Ahlborn, Die Aufgaben unserer Zeitschrift, S. 7–8.
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den Ernst freideutscher Lebensart und deren „Bedeutung für das deutsche Volkstum“290 vor Augen zu führen. Diese selbstgestellte Aufgabe wurde angesichts der kriegsbedingten Politisierung und zunehmenden Spaltung sowohl der Gesellschaft als auch der Freideutschen – erst recht während der Revolution 1918/19 – umso elementarer und war der Grund dafür, weswegen die Zeitschrift von Beginn an eine politisch und sozial vermittelnde Rolle anstrebte. Insofern wies ihr Anspruch von vornherein über die bürgerliche Jugendbewegung hinaus auf eine umfassende Reform von Kultur und Gesellschaft – auch in Bezug auf die politische Kultur. Der mit der Zeitschrift transportierte kultur- und sozialreformerische Anspruch wurde inhaltlich mit dem unter den Freideutschen allgemein anerkannten Leitbild der Volksgemeinschaft verknüpft, zu deren geistiger Führung man sich auf freideutscher Seite berufen sah. Dieses wurde umso wichtiger, nachdem sich die Freideutsche Jugend seit Ende 1917 politisch zu spalten begonnen hatte. Der vieldeutige Begriff der „Volksgemeinschaft“ ließ sich mit sozialistischen sowie mit demokratischen und völkischen Ideen verbinden. Zudem korrespondierte er mit dem Universalismus der freideutschen Idee, deren Grundprinzipien Autonomie, Selbstbildung, Gemeinschaft und Erneuerung in freideutschen Kreisen Konsens waren. In der Zeit des Ersten Weltkriegs, in den Revolutionsjahren 1918/19 sowie in den ersten Jahren der Weimarer Republik erfüllte die Zeitschrift die Funktion eines integrierenden, flügelübergreifenden Bildungs- und Diskussionsforums, das der Selbstvergewisserung in weltanschaulichen, politischen und kulturellen Fragen und dem inneren Zusammenhalt der Freideutschen Bewegung diente. Als Adolf Saal im Mai 1915 zum Kriegsdienst eingezogen wurde, übernahm der inzwischen promovierte Mediziner Knud Ahlborn die redaktionelle Hauptarbeit an der Zeitschrift und fungierte anstelle von Saal als Mitherausgeber.291 Er sah seine sowie die Hauptaufgabe der Zeitschrift darin, die stark durch den Weltkrieg beeinträchtigte „geistige Gemeinschaft der Freideutschen“292 wiederherzustellen. Mit Blick auf die allgemeine Entwicklung der Zeitschrift hielt Ahlborn in seinem programmatischen Artikel von 1916 selbstkritisch fest:
290 Schriftleitung Freideutsche Jugend, [Editorial II]. 291 Ahlborn, Die Aufgaben unserer Zeitschrift, S. 4. Saal fungierte bis zu H. 5 (1. Jg.) als Mitherausgeber, Ahlborn übernahm von H. 6. an die Funktion des (Mit-)Herausgebers und blieb dies bis zum Ende des 6. Jgs. 1920. Von Beginn des 7. bis Ende des 8. Jgs. war Bruno Lemke verantwortlicher Herausgeber. Adolf Saal bekleidete im Zeitraum von 1918 bis 1920 noch einmal über längere Zeit die Position des Hauptredakteurs (H. 3 (1918) bis H. 3 (1919), sowie H. 1 bis H. 5/6 (1920). 292 Ebd.
146 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Weder ist die „Freideutsche Jugend“ bereits ein getreuer Spiegel des geistigen Lebens der Freideutschen, noch erschließt sie den Jungen die von der älteren Generation erworbenen Werte in dem Maße, wie es im Interesse einer wirklich gründlichen, geistig-sittlichen Durchbildung unserer Jugend erforderlich wäre. Nicht einmal ist sie ein wirklich zuverlässiges Nachrichtenblatt, das allen Freideutschen Kunde gibt von den Ereignissen innerhalb und außerhalb unseres Kreises, die ihre Aufmerksamkeit verdienen. Auf allen Gebieten ist unsere Zeitschrift noch in den Anfängen.293
Im Kern ging es der Zeitschrift darum, im diskursiven Rahmen der Gemeinschaft aller Freideutschen ein neues Wertesystem zu finden und zu entwickeln, von dem letztlich nicht nur die Angehörigen der Freideutschen Jugend, sondern auch die übrige Gesellschaft profitieren sollte. Im Mittelpunkt des Austausches standen selbst entwickelte und „selbsterlebte geistig-sittliche, religiöse und künstlerische“ Inhalte.294 Die Zeitschrift war jedoch von Beginn an nicht nur als freideutsches Verständigungsmedium konzipiert, sondern sie war als theoretische Ergänzung und Multiplikator der kulturellen Praxis der Freideutschen gedacht. Thematisch sollte sie nicht nur einen Beitrag zur Kulturarbeit, sondern auch zur politischen Aufklärung und Meinungsbildung leisten. Strebten die freideutschen Gemeinschaften nach neuen, der individuellen Entwicklung und dem Gemeinwohl zu Gute kommenden Persönlichkeitswerten und Geselligkeitsformen, sollte auch die Zeitschrift ihren Teil zur gesellschaftlichen Verständigung und Veränderung beitragen. Der Freideutsche Friedrich Schlünz beschrieb den Dualismus aus freideutscher Gemeinschafts- und Publikationsarbeit so: Die lebendige Bewegung vollzieht sich in der Befreiung des einzelnen unter uns, in seinem Emporwachsen zu seinem Wesen, in seinem Wachsen zu Gemeinschaften, zu einem neuen Staatswesen, das erst in den Anfängen politisch gewollt wird. Die Zeitschrift ist nur Hilfsmittel dazu, bringt Erkenntnisse, versucht Letztes auszusprechen.295
7.3 Praxis Wie es die Freideutsche Jugend schon 1914 auf der Marburger Tagung zum Ausdruck gebracht hatte, um Politik und Öffentlichkeit im Hinblick auf das von Wyneken formulierte Ziel einer neuen Jugendkultur und das Prinzip der Selbstbildung zu beruhigen, sollte dabei explizit auf tradierte Wertbestände der älteren Generation zurückgegriffen werden. Dazu gedachte die Zeitschrift inhaltlich an Werte und Ideenbestände anzuknüpfen, die in den Kreisen der Freideutschen Jugend traditionell besondere Beachtung fanden und emblematisch mit bestimmten Geistesgrößen und Werken in Verbindung gebracht wurden. Neben Dichtern und Denkern wie Goethe, Lessing, Hebbel, Kant, Fichte und Lagarde wollte die Zeit-
293 Ahlborn, Die Aufgaben unserer Zeitschrift, S. 4. 294 Ebd., S. 6. 295 Zitiert nach Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 162.
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schrift inhaltlich unter anderem an in der Gegenwart einflussreiche „Lehrer und Führer der Jugend“296 wie den Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954), den Lyriker und Schriftsteller Karl Henckell (1864–1929), den evangelischen Theologen August Wilhelm Hunzinger (1871–1920), den Pädagogen Georg Kerschensteiner (1854–1932), den stark mit Erziehungsfragen und Generationskonflikten beschäftigten Literaturwissenschaftler Herman Anders Krüger (1871–1945), den Philosophen und Literaturwissenschaftler Eugen Kühnemann (1888–1946) sowie an die in der bürgerlichen Jugendbewegung populären Figuren Paul Natorp, Ferdinand Avenarius und Ludwig Klages anknüpfen. Die Redaktion war bemüht, für erzieherisch wertvoll erachtete Autoren für die Zeitschrift zu gewinnen, sodass es im Idealfall im Rahmen der Zeitschrift zu einem „lebendigen Gedankenaustausch“ und Wertetransfer zwischen den Autoren und der Freideutschen Jugend kommen konnte, und damit schließlich jene Werte, die „sonst für ewig in Büchern vergraben“ wären, dem „Strome des Lebens“ zugeführt würden.297 Im Vergleich zu den Zeitschriften der Wandervogelbünde war das Niveau der veröffentlichten Texte intellektuell wesentlich anspruchsvoller, insbesondere deswegen, weil die Autoren der Freideutschen Jugend überwiegend aus dem akademisch-studentischen Milieu kamen und für ein vorwiegend studentisches bzw. akademisches Publikum schrieben. Vom 1. Jahrgang 1914/15 bis zum vorletzten Jahrgang 1921 veröffentlichten in der Zeitschrift insgesamt etwa 110 Autoren und Gastautoren sowie mindestens drei Autorinnen.298 In diesem Zeitraum veröffentlichte die Zeitschrift 133 Aufsätze, die sich mit grundsätzlichen Fragen der Politik, der sozialen Lage, der Siedlungsbewegung, des Kriegsentwicklung sowie pädagogischen und religiösen Fragen auseinandersetzten. Eine ganze Reihe von Aufsätzen beschäftigte sich außerdem mit dem „Wesen und Sinn der Freideutschen Bewegung“. Auch die vom völkischen Flügel aufgebrachte sogenannte „Judenfrage“, die „Deutschtum“ und „Judentum“ antisemitisch-rassistisch gegenüberstellte, wurde in der Zeitschrift kontrovers diskutiert.299 Insbesondere der rechte Flügel der Freideutschen Jugend um Frank Glatzel (1892–1958) und Dankwart Gerlach (1890–1979) argumentierte rassistisch-antisemitisch, obwohl die Redaktion generell um einen Ausgleich von völkischen, demokratischen und sozialistischen Positionen im Sinne der angestrebten Einheit der Freideutschen Bewegung bemüht war. Für die primär humanistisch-menschheitlich orientierte Mitte der Freideutschen Jugend stellte sich die „Judenfrage im Sinne des Antisemitismus“ nicht, sondern „nur eine Men-
296 Ahlborn, Die Aufgaben unserer Zeitschrift, S. 6. 297 Ebd. 298 Zur Mitarbeiterübersicht und Heftplanung einzelner Ausgaben s. AdJb N 2/45. 299 Zur Diskussion der „Judenfrage“ in der „Freideutschen Jugend“ vgl. Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 8/9, H. 10./11., sowie Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 1/2, 3, 4/5.
148 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 schenfrage“, wonach jeder, der seiner „inneren Überzeugungen und seinen Handlungen nach auf dem Boden der Meißnerformel“ stand,300 gleich welcher sozialen oder ethnischen Herkunft zur Freideutschen Jugend gehörte. Daneben griff die Zeitschrift kulturelle, philosophische und lebensreformerische Themen auf. 60 % der Artikel (insgesamt 80 Beiträge) entfielen auf den Bereich Politik, 10 % beschäftigten sich mit dem Gebiet der Pädagogik, 12 % mit der „Sinndeutung“ der freideutschen Bewegung, 11 % mit Fragen der Religion und 7 % mit anderweitigen kulturellen, philosophischen, weltanschaulichen und lebensreformerischen Fragen, wobei etwa 97 % der Artikel von männlichen Autoren verfasst wurden.301 Die mit Abstand meisten Artikel stammten von Freideutschen wie Knud Ahlborn (10), dem Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke (4), Friedrich von Ebbinghaus (4), dem marxistischen Eugeniker und Sexualpädagogen Max Hodann, dem Philosophen Meinhard Hasselblatt, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Eduard Heimann, von Bruno Lemke sowie den Pädagogen Walther Koch und Gustav Wyneken (jeweils 3). Weitere namhafte Autoren waren der freideutsche KPDler und spätere SED-Kulturfunktionär Alfred Kurella, der Dichter und Herausgeber Ferdinand Avenarius, die den Freideutschen nahestehenden Philosophen und Pädagogen August Messer, Friedrich Wilhelm Foerster und Paul Natorp, der Historiker, Mediävist und George-Kreis-Angehörige Ernst H. Kantorowicz, der Mediziner, Sozialhygieniker und spätere Präsident des Bundesgesundheitsamtes Wilhelm Hagen, die freideutschen Reformpädagogen Fritz Klatt und Max Bondy (Angehöriger der Freischar Freiburg und führendes Mitglied der DAF), der evangelische Theologe Otto Michel, der Arzt und Immunologe Hans Much, der volkskonservative Journalist und Kunstwart-Autor Hermann Ullmann, der freideutsche Musikpädagoge Fritz Jöde, der Theologe, Kulturphilosoph und Orientalist Paul de Lagarde und der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow.302 Damit gehörte ein Großteil der Autoren der Freideutschen Jugend den kulturellen und intellektuellen Eliten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik an, wobei vor allem die Autoren aus dem Bereich der Pädagogik und Reformpädagogik sowie der Jungen- und Erwachsenenbildung das Programm der Zeitschrift dominierten.
300 Brief von Knud Ahlborn an Dorothea Pulvermacher vom 20.10.1919 (AdJb N 2/42). 301 Grundlegende Aufsätze und Mitarbeiter der ’Freideutschen Jugend (1914–1921)’ (AdJb N 2/40). 302 Ebd.; „Themen, die auch heute noch aktuell sind, aus der Zeitschrift Freideutsche Jugend. Jahrgänge 1915 bis 1921.“ (AdJb N 2/40); Mitarbeiterverzeichnis für das Februarheft der „Freideutschen Jugend“ (AdJb N 2/45). Ferner Dietzel/Hügel, Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945, S. 438, Eintrag 1022.
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Die kriegsbedingt zunehmende Kritik an der Gesellschaft und der Politik des Kaiserreichs ließ allgemein eine deutliche Politisierung und Polarisierung innerhalb der Freideutschen Bewegung erkennen. Dies führte im Verlauf des Jahres 1917 zu ihrer Spaltung in einen linken und einen rechten Flügel sowie zur Entstehung einer humanistisch-menschheitlich bis demokratisch-sozialistisch orientierten Mitte, wobei viele Freideutsche zwischen sozialistischen, demokratischen und völkischen Positionen changierten. Die zunehmenden politischsozialen Spannungen hatten seit 1916 das grundsätzliche Bemühen der Freideutschen Jugend verstärkt, mit ihrer Arbeit sowohl zu einem Ausgleich der politischen Positionen innerhalb der Freideutschen Bewegung als auch der Gesellschaft beizutragen.303 Nachdem der Erste Weltkrieg und sein Ausgang für einen Großteil der Bevölkerung den Verlust bewährter Ordnungsmuster bedeutet hatte und die Idee einer grundlegenden Erneuerung stärker in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskussionen geriet, regte die Zeitschrift auf allen Ebenen des menschlichen Daseins und der Kultur zur Neuorientierung an. Mit ihren breit gefächerten Inhalten unterstrich sie ihr grundsätzliches Bestreben einer Erneuerung der Gesellschaft auf Ebene der Kultur, der Politik, der Pädagogik, der Schule, der Sprache, der Religion, der Geschlechterordnung und Sexualmoral304 sowie des Individuums. Es ging um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Nation, Staat, Kultur und Religion sowie auch um den gesellschaftlichen Ausgleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus.305 Der sozialen Spaltung stellte die Zeitschrift das Postulat klassenübergreifender Solidarität gegenüber und entsprach damit dem mehrheitlichen Impuls der Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg. Schon während des Krieges hatte die Zeitschrift ganz im Zeichen der Suche nach praktischen und geistigen Richtlinien für eine Neuordnung der Gesellschaft gestanden. Gesucht wurde nach „Sinnkriterien jenseits staatsphilosophischer Systeme, kapitalistischer Interessen und dekadent-bürgerlicher Lebensgewohnheiten“, wie Ahlborn im Mai 1917 in seiner Funktion als führender Vertreter der Freideutschen Jugend auf der ersten Lauensteiner Tagung306 referierte,307 die von
303 Vgl. exemplarisch Ottokar Brunzlow: Der soziale Ausgleich als Aufgabe der Freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 2., S. 40–44. 304 Alfred Kurella (Hrsg.): Die Geschlechterfrage der Jugend, Beihefte zur Freideutschen Jugend, H. 1, Hamburg 1919. 305 Exemplarisch Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 10. 306 Meike G. Werner (Hrsg.): Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg auf Burg Lauenstein, Marbacher Schriften NF, Bd. 18, Göttingen 2021. 307 Christian Volkholz: Knud Ahlborn. Eine neue geistige Elite für das 20. Jahrhundert, in: Ebd., S. 148–152; Editorischer Bericht der Vorträge der Lauensteiner Tagungen [30. Mai und 29. Oktober], in: Max Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918. Max Weber
150 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 der Idee eines überparteilichen Kulturparlaments der Gebildeten bestimmt war und die Freideutschen hoffen ließ, sich als kulturelle Führungselite und Kerngruppe des kulturreformerischen Flügels der bürgerlichen Jugendbewegung nach Kriegsende in entsprechender Weise beweisen zu können. Vor dem Hintergrund der politischen Neuausrichtung der Weimarer Republik bestimmten gesellschaftlich-kulturelle und politisch-ökonomische Neuordnungsvorstellungen die Diskussionen in der Freideutschen Jugend. Der Krieg, sein Ausgang und die Revolutionsvorgänge 1918/19 hatten bei vielen Freideutschen nicht nur Sympathien für die Idee des Sozialismus bzw. einen undogmatischen „Geist“-Kommunismus geweckt, sondern auch politische Gedankenspiele wie die „Sozial-Aristokratie“ oder Geistesaristokratie im Sinne Carlyles wieder aktuell werden lassen,308 die ihren Ursprung im frühen Entwicklungsstadium der Freideutschen Bewegung hatten. In der Freideutschen Jugend wurden von verschiedener (politischer) Seite immer wieder Fragen der staatlichen Konstruktion und Ordnung aufgeworfen. Ausführlich berichtete die Zeitschrift in diesem Zusammenhang auch über die Jenaer Führertagung der Freideutschen Jugend an Ostern 1919, auf der die Vertreter ihrer verschiedenen Flügel kontrovers über die grundsätzliche Stellung der Freideutschen Jugend zur Politik, über allgemeine Erziehungsfragen, die Neugestaltung der Schule und speziell den Aufbau freideutscher „Erziehung aus der werdenden Volksgemeinschaft“ sowie die Entwicklung eines neuen freideutschen Menschen- und Erziehertypus debattierte.309 In Vorträgen, Stellungnahmen und Aussprachen wurde die „Stellung der Politik im Ganzen des Einzellebens und des Volkslebens“ sowie das Verhältnis von Freideutschtum und politischer Arbeit erörtert, wurden die Folgen, Chancen und Risiken der sozialistischen „Revolution“ seit 1918 diskutiert,310 die politische Spaltung der Freideutschen Jugend analysiert und mit Blick auf die Zukunft der Freideutschen Bewegung nach den gemeinsamen Grundlagen sowie verbindenden Elementen freideutscher Gemeinschaft gefragt.311 Zur Jenaer Tagung brachte die Freideutsche Jugend ein eigenes Beiheft mit dem Titel „Krieg, Revolution und Freideutsche
Gesamtausgabe [MWG] 1/15, hgg. von Wolfgang J. Mommsen u. a., Tübingen 1984, S. 701–705, hier S. 703; 308 Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 4. 309 Siegfried Kawerau/Walter Fränzel: „Leitsätze für den Aufbau unserer Erziehung aus der werdenden Volksgemeinschaft“, April 1919 (AdJb N 2/29); Vgl. auch Wilhelm Hagen: „Jugend – Staat – Erziehung“, April 1919 (AdJb N 2/29). 310 Brief August Messers an den Führerrat der Freideutschen Jugend, in: Knud Ahlborn (Hrsg.): Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend. Die Reden und Ansprachen der Jenaer Tagung 1919, Beihefte zur Freideutschen Jugend, H. 2, Hamburg 1919, S. 30–31. 311 Vgl. den Vortrag Meinhard Hasselblatts, in: Ebd., S. 32–43.
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Jugend“312 heraus, das den Tagungsverlauf und die politisch-gesellschaftlichen Kontroversen nachzeichnete.313 Auf der Tagung war beinahe die gesamte freideutsche Führungselite anwesend, die sich aus Vertretern des linken und des rechten Flügels sowie der primär humanistisch-menschheitlich gesinnten Mitte zusammensetzte, wobei es auf allen Seiten dialogbereite und stärker dogmatisch denkende Kräfte gab. Teil nahmen unter anderem Knud Ahlborn, Bruno Lemke, Harald Schultz-Hencke, Friedrich Schlünz, Friedrich Vorwerk, Eugen Diederichs, Ferdinand Goebel, Wilhelm Hagen, Ernst Buske, Frank Glatzel, Ernst H. Kantorowicz, Wilhelm Flitner, Friedrich Muck-Lamberty, Alexander Schwab, Arnold Bergstraesser, Elisabeth BusseWilson, Karl Bittel, Martin Deckart, Ernst Foerster, Max Sidow und Meinhard Hasselblatt. Die täglichen Hauptverhandlungen des Führerrats wurden durch Sonderausschüsse ergänzt und strukturiert, die die Verhandlungen vor- bzw. nachbereiteten. Es gab einen Ausschuss zum „Siedlungswesen“, zur „Werkgenossenschaft“, zu „freideutschen Schulgründungen“, zu „Allgemeinen Schulfragen“, zu „Freideutschem Schrifttum“, zu „Freideutschen studentischen Gemeinschaften“ sowie zu innerfreideutschen Unterstützungsprogrammen wie der „Freideutschen Berufsberatung“ und der „Freideutschen Spar- und Darlehenskasse“.314 Wie sich aus dem Beiheft der Freideutschen Jugend herauslesen lässt, näherte sich der Führerrat auf der Tagung zwar allgemein der Idee einer verstärkten „Anteilnahme am politischen Leben“ an, „Tatgemeinschaft“ im Sinne einer politischen Partei sollte die freideutsche Bewegung aber nicht werden, vielmehr sollte sie „im Politischen ,Gesinnungsgemeinschaft‘ bleiben“315. Man fühlte sich politischen Strömungen zugehörig, nicht Parteien und ihrer Dogmatik, die für die freideutsche Idee keinen Gestaltungsraum mehr ließ. Der freideutsch gesinnte Pädagoge August Messer gab sich überzeugt, dass die Gemeinschaft der Freideutschen „eine neue und große politische Tat verwirklichen“ könne, zu der keine Partei im Stande wäre: sie kann bei ihren Zusammenkünften und in ihrer Zeitschrift den freideutsch gesinnten Vertretern der verschiedensten Parteien Anregung und Gelegenheit geben zu einer wirklich sachlichen, von gegenseitiger persönlicher Achtung veredelten Aussprache über politische und wirtschaftliche Fragen – einer Aussprache, bei der es nicht sowohl Ziel ist, über den Gegner zu triumphieren, sondern von ihm zu lernen – und wenn irgend möglich – mit ihm zur Verständigung zu gelangen.316
312 Ahlborn, Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend. 313 Zur Jenaer Tagung Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 8/9. Zur Spaltung der Freideutschen Jugend auf der Jenaer Tagung Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20, S. 112–125. 314 Ahlborn, Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend, S. 11. 315 Brief August Messers, in: Ebd., S. 30–31. 316 Ebd., S. 31.
152 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Messer wollte die Freideutsche Jugend und ihre Zeitschrift als Orte politischer und gesellschaftlicher Aushandlung verstanden wissen und wies den Freideutschen eine wichtige Rolle für die politisch-soziale Verständigung nach Kriegsende zu. Der einflussreiche Führerzirkel um Walter Hammer, Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel veröffentlichte während der Tagung eine aussagekräftige Stellungnahme, die die kulturelle Agenda der Freideutschen Jugend – unabhängig von politischen Fragen – auf den Punkt brachte: Als vornehmste Aufgabe der Freideutschen Jugend schwebt uns die Einführung ethischer Maßstäbe in die Politik und die Gestaltung eines neuen politischen Menschen vor, wiedergeboren rein aus dem Geiste der Jugend. Wir lehnen es ab, der Vätergeneration politische Gefolgschaft zu leisten, suchen vielmehr nach Grundlagen für eine eigene Freideutsche Kulturpartei […].Wir sind davon überzeugt, daß dem deutschen Volk mit der Umgestaltung seiner politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen allein nicht geholfen werden kann, wenn diese nicht von neuen Menschen mit jugendlichem Geist durchdrungen werden. Wir halten es für unsere Aufgabe, vorzugsweise durch das Beispiel unserer persönlichen Lebensführung im öffentlichen Leben zu wirken. So halten wir fest am Auslesegrundsatz und an unseren lebensreformerischen Forderungen, namentlich an unserer Alkohol- und Tabakgegnerschaft.317
Als Vertreter der humanistisch-menschheitlich und demokratisch-sozialistisch orientierten Mitte hatte Ahlborn die um politischen Ausgleich bemühte Agenda der Zeitschrift auch in die Beratungen des Führerrats hineingetragen und versucht, durch seine Argumentation sozialistische und völkische Positionen innerhalb der Freideutschen Jugend über Parteien, Schlagworte und dogmatische Grenzen hinaus miteinander zu versöhnen und neue Ziele zu definieren. In dem Jungdeutschen Frank Glatzel hatte er auf nationalkonservativ-völkischer Seite einen gleichgesinnten Mitstreiter, der sich um eine politische Aussprache der Freideutschen Jugend bemühte und die realpolitische Richtung des völkischen Flügels repräsentierte, während die Völkischen um Ernst Buske ideologisch weniger kompromissbereit waren.318 Vor allem die Vertreter der humanistisch-menschheitlich gesinnten Mitte sahen beim linken und beim rechten Flügel „die starken Gemeinsamkeiten in Voraussetzungen und Zielen“319. In einer von Ahlborns Reden hieß es:
317 Flugblatt „An die Jasagenden in der Freideutschen Jugend! Kundgebung anläßlich der Führerratstagung der Freideutschen Jugend.“, Jena, 17.4.1919 (AdJb N 2/29). 318 Vgl. Rundbrief von Frank Glatzel an u. a.K. Ahlborn, betreffend politische Aussprache der Freideutschen Jugend, Dezember 1919 (AdJb N 2/42). 319 Korrespondenz zwischen Knud Ahlborn und Normann Körber, 1919–1920 (AdJb N 2/42). Zum freideutsch geprägten Menschenbild Körbers Ders.: Das Bild vom Menschen in der Jugendbewegung und unsere Zeit, Berlin 1927, abgedruckt in: Kindt, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, S. 472–487.
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Die unerschütterliche und radikale, das heißt dem Übel an die Wurzel gehende Forderung, die wir stellen müssen, deren Banner wir aufpflanzen sollen, heißt „Menschlichkeit“, das Menschheitsreich der Brüderlichkeit und gegenseitigen Hilfe. Jene Nützlichkeitspolitik, die nach innen Liebe, nach außen Gewalt anwendete, jene doppelte Moral und innerliche Unehrlichkeit der alten bürgerlichen Politik, die in tiefer Ideenarmut und in materialistischem Unglauben wurzelte, müssen wir aus dem Herzen unseres Volkes herausreißen. Es ist dabei ganz selbstverständlich, dass dieser Kampf um geistige Werte von uns nicht mit ungeistigen Mitteln geführt werden darf. Sonst würde doch nur fortzeugend Böses geboren werden.320
Bezogen auf die Freideutsche Bewegung und das Ziel der Zeitschrift versuchte Ahlborn von parteipolitischen Fragen und Kontroversen abzukommen und stattdessen eine allgemeine Zielsetzung für alle Freideutschen unabhängig von parteipolitischen Präferenzen zu finden, die den Humanitätsgedanken und die gesellschaftliche Verpflichtung der Freideutschen Jugend gegenüber dem eigenen Volk in den Mittelpunkt rückte. Dazu erschien in der Freideutschen Jugend ein Vortrag Ahlborns, den dieser auf der Jenaer Tagung gehalten hatte und in dem es hieß: Für die über alle Tagespolitik und Gegensätzlichkeit hinausweisende Aufgabe der Freideutschen Jugend halte ich, diese geistige Welt für die Menschheit zu erschließen […]. Alle Leben und Geist vernichtenden Kämpfe […], alles Zusammenraffen von Mitteln um ihrer selbst willen (Anhäufung von Geld, Wissen, Macht usw.), alle Abgrenzungen von Klassen, Konfessionen usw., alles stumpfe Gegeneinanderstoßen von Gegensätzen sind Ablenkungen von dieser Aufgabe. Der Freideutschen ist allein verbindendes, aufbauendes Wirken, Überwindung von Gegensätzen durch Schaffung höherer Einheiten, gegenseitige Hilfe statt gegenseitigen Kampfes würdig, zugleich entschlossenes Zerreißen aller dogmatischen und materialistischen Fesseln, Aufhebung aller Bindungen, die das freie Herausquellen göttlichen Geistes in die Welt der Materie hinein hemmen.321
Angelehnt an die Meißner-Formel und bemüht, den „Stand“ der „geistigen Entwicklung“ der Freideutschen Jugend in einer Erklärung festzuhalten, brachte ein kleiner Kreis um Knud Ahlborn, Frank Glatzel und Bruno Lemke am vorletzten Tag eine im Laufe der Woche gemeinsam vorbereitete und ausformulierte Entschließung ein, die durch eine Fusion sozialistisch-völkischer Ideen und Vokabeln versuchte, das „innerlich Verbindende“ der Freideutschen Jugend in Form „eines dem Meißnerspruch ähnlichen Bekenntnisses“ herauszustellen und den Führerrat der Freideutschen Jugend so zu einer einmütigen Stellungnahme zu bewegen, was jedoch scheiterte.322 Das designierte „Bekenntnis der Freideutschen Jugend“, das während der Veranstaltung auch als Flugblatt323 verteilt wur320 Knud Ahlborn, in: Ders., Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend, S. 48. 321 Ebd., S. 23–24. 322 Ebd., S. 79. 323 Flugblatt „Vorschlag zu einer Entschließung von Knud Ahlborn und Frank Glatzel.“, Jena 1919 (Archiv der SUB Hamburg, Sig: 18: NWEF).
154 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 de, um den Kreis seiner Unterstützer auszuweiten, fand trotzdem den Weg in das Beiheft der Freideutschen Jugend und zeugt in verdichteter Form vom gesellschaftlichen Gestaltungs- und Einigungswillen der Freideutschen Jugend. Die vier Hauptforderungen lauteten: 1. Die Freideutsche Jugend will die Entfesselung der menschlichen Seele und die Entfaltung aller gemeinschaftsbildenden Kräfte. 2. Sie ringt um die Idee der Menschheitsreiches, der Brüderlichkeit und gegenseitigen Hilfe, das allen Volksgenossen und Völkern ein Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit ermöglicht. 3. Sie setzt sich ein für die restlose Beseitigung aller die Volksgemeinschaft trennenden Gesellschaftsschranken, Klassensonderrechte und Zwangsgewalten. 4. Sie erklärt sich, als Gesamtheit frei von parteipolitischer Festlegung, bereit, an dem Aufbau der neuen Volksgemeinschaft mitzuwirken, und solidarisch mit den gleichstrebenden Kräften der deutschen proletarischen und internationalen Jugendbewegung.324
Gegenüber dem Meißner-Programm mit seinen doch recht vagen Forderungen sollte mit dem neu geschaffenen Bekenntnis eine klare inhaltliche Zielsetzung verfolgt werden, gleichwohl das Bekenntnis Passagen aus der Meißner-Formel übernahm. Unter der „Entfesselung der menschlichen Seele“ verstanden die Verfasser die „Freiwerdung“ des Einzelnen „von allem Bedingten, allen Tagesnützlichkeiten, aller Trägheit und geistigen Unsauberkeit“ und forderten gleichsam ein „schrankenloses schöpferisches Gestalten aus der Welt der Idee […] in die Naturwelt hinein“. Die angestrebte „Entfaltung der gemeinschaftsbildenden Kräfte“ sollte denn auch mit dem unter dieser Maßgabe erzogenen „höheren Mensch“ beginnen, insofern die freideutsche Erziehung nicht nur zu individueller Selbstständigkeit und Führungskompetenz, sondern auch zu Gemeinschafts- und sozialem Verantwortungssinn erziehen und so der Gemeinschaft, auf gesellschaftlicher Ebene der „Volk-Bildung“, dienen sollte.325 Letztlich zielte das Bekenntnis der Freideutschen – gemäß der Kernidee „Volksbildung als VolkBildung“326 – auf die erzieherische Entwicklung und Kultivierung der besten Kräfte innerhalb der Kultur und der Gesellschaft ab, wobei die verbindende Idee, die Utopie einer aus der Kultur abgeleiteten Volksgemeinschaft war, die die sozialistische Erlösungsutopie der klassenlosen Gesellschaft mit völkischen Vorstellungen eines im weitesten Sinne kulturell homogenen Volkes zusammenbrachte. Mehr denn je suchte man in der Freideutschen Jugend nach 1918/19 nach einer vermittelnden gesamtfreideutschen Weltanschauung, die die unterschied324 Ahlborn, Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend, S. 79–82. Teile der am 18.4.1919 veröffentlichten Erklärung finden sich bereits in Ahlborns Tagungsrede vom 13.4.1919, S. 47–49. 325 Ebd., S. 80. 326 Justus H. Ulbricht: „Volksbildung als Volk-Bildung“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 1 (1993), S. 179–203.
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lichen politischen Flügel im Sinne des angestrebten Progresses der Freideutschen Bewegung und der auf höherer Ebene angestrebten klassenlosen Volksgemeinschaft miteinander versöhnen konnte.327 Inhaltlich befasste sie sich mit unterschiedlichen weltanschaulichen, kulturellen, künstlerischen sowie spirituellen und esoterischen Inhalten, die aus freideutscher Sicht potentiell anknüpfungsfähig für eine Neuordnung der Gesellschaft und der Kultur erschienen. Gesucht wurde eine Synthese aus Werten und Ideen, die die Spaltung der Freideutschen Jugend und die der Gesellschaft überwinden sollte. Nachdem die Freideutschen auf der Jenaer Führertagung 1919 hatten einsehen müssen, dass ein Neuaufbau der deutschen Gesellschaft allein durch ihre volkhafte Gesinnung und die demokratische Idee der Volksbildung kaum realistisch war, verlegte sich die Zeitschrift vor allem auf die Idee der Volksgemeinschaft und des Sozialismus. Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit waren diese Schlagworte für alle in der Freideutschen Bewegung vertretenen Richtungen anschlussfähig. Darüber hinaus knüpfte die Zeitschrift nicht primär an den politischen Sozialismus an, sondern entwickelte einen charakteristischen „Kultur-Sozialismus“328, der die idealistischen, humanistischen, humanitären, egalitaristischen und pazifistischen Elemente des utopischen Sozialismus aufgriff und mit den Ideen der Selbstbildung und der Lebensreform verband. Für diesen freideutschen „Kultur-Sozialismus“ sollte exemplarischer noch die 1919 gegründete Zeitschrift Junge Menschen stehen. Die Extreme von bürgerlichem Kapitalismus auf der einen und Kommunismus auf der anderen Seite stellten für das Redaktionsteam der Zeitschrift im Hinblick auf die angestrebte kulturelle Neuordnung und die Wiederherstellung des sozialen Friedens weder akzeptable Zukunftsorientierungen noch akzeptable Gesellschaftsordnungen dar. Beidem versuchte man auf Seiten der Zeitschrift durch eine fast schon überfordernde Vielfalt unterschiedlicher Ideologeme, Programme und Modelle entgegenzuwirken. In Anbetracht der konkurrierenden Strömungen innerhalb der Freideutschen Jugend hatte es die Zeitschrift trotz ihrer eingenommenen Vermittlerrolle nach 1918/19 immer schwerer, ihre bisherige integrierende Funktion zu wahren. Zwar vertrat sie nach wie vor den Anspruch, ein Organ überparteiischer Aussprache zu sein – noch im Frühjahr 1919 unterstrich die Redaktion diesen Anspruch durch die Aufnahme der „völkischen Vertrauensleute“329 Dankwart Gerlach und Frank Glatzel in den Kreis der
327 Vgl. Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 5/6. Zur internen Bewertung der politischen Spaltung der Freideutschen Jugend außerdem: „Von der Zukunft der ,Freideutschen Jugend’“, 1919, o. V. (AdJb N 123/19). 328 Robert L. Berendsohn: Lebenserneuerung und Sozialismus, in: Junge Menschen. Blatt der deutschen Jugend. Stimme des neuen Jugendwillens 3 (1922), H. 15/16, S. 198–200. 329 Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 4, S. 192.
156 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Schriftleiter – jedoch entwickelte insbesondere der rechte Flügel der Freideutschen immer größere Vorbehalte gegen die Zeitschrift.330 Analog zur fortschreitenden politischen Spaltung der Freideutschen Jugend, die sich auf der Jenaer Tagung 1919 bereits deutlich abgezeichnet und mit der Hofgeismarer Freideutschen Woche331 im Herbst 1920 ihren negativen Höhepunkt erreicht hatte – hier wurde nicht nur die tiefe Zerrissenheit der Freideutschen Bewegung, sondern auch die Gegensätze des linken Flügels der Freideutschen zur übrigen jungsozialistischen Bewegung deutlich –, verlor auch das Anliegen der Zeitschrift immer mehr an Fundament. Ihre Leitidee der Freideutschen Jugend als einer großen, einheitlichen Bewegung war angesichts ihrer definitiven politischen Spaltung Ende 1920 nicht mehr zu verwirklichen und konterkarierte insofern auch die Arbeit der Zeitschrift. Ende des 6. Jahrgangs war Knud Ahlborn, der die Zeitschrift größtenteils vermittelnd geführt hatte, als verantwortlicher Schriftleiter und Herausgeber zurückgetreten. Trotzdem blieb die stets auf den größtmöglichen Konsens bedachte Zeitschrift bis zur endgültigen politischen Spaltung der Freideutschen Jugend Ende 1922 das wichtigste flügelübergreifende Forum der Freideutschen Bewegung. Im letzten Jahrgang 1922 erschien die Freideutsche Jugend nur noch in unregelmäßigen Abständen, wobei die letzte Nummer der Zeitschrift bezeichnenderweise ein Vierteljahresheft war.332 Die durch die Hyperinflation ausgelöste Wirtschafts-, Währungs- und Systemkrise der Weimarer Republik 1922 zwang schließlich ökonomisch nicht nur zur Einstellung der Zeitschrift, sondern machte auch der politisch zwischen Liberalismus, Sozialismus und völkischem Nationalismus unentschiedenen Freideutschen Jugend endgültig den gar als Gesamtbewegung aus. Die Zeitschrift wurde schließlich am Ende des 8. Jahrgangs 1922 eingestellt. Mit der Einstellung der Zeitschrift, deren beträchtliche überregionale Resonanz bis zuletzt noch dem Einheitsgedanken der Freideutschen gedient hatte, brach eine wichtige Kommunikationsebene der Freideutschen Bewegung weg, nachdem mit der Jenaer Tagung 1919 schon die Organisation der Freideutschen Jugend weitgehend zum Erliegen gekommen war. Nach der Wirtschaftsund Währungskrise des Jahres 1923 versuchte der Jung-Wandervogel, Schriftsteller und Übersetzer Hermann Buddensieg (1893–1976) die Zeitschrift unter dem geänderten Titel Rufer zu Wende333 wieder aufleben zu lassen, jedoch wurde die kulturell-religiös orientierte, der protestantischen Neuwerk-Bewegung nahestehende Nachfolgezeitschrift schon nach zwei Jahren wieder eingestellt.
330 Vgl. Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20, S. 111. 331 S. u. S. 199–202. 332 Freideutsche Jugend 8 (1922), H. 10/12. 333 Der „Rufer zur Wende“ bezeichnete sich als „Neue Folge“ der Freideutschen Jugend und erschien zwischen April 1924 und dem Jahr 1926.
8 Die Zeitschrift Junge Menschen (1920–1927) Während die Zeitschrift Der Wanderer eines der zentralen Organe der Vorkriegsjugendbewegung war und die Freideutsche Jugend die bürgerliche Jugendbewegung publizistisch in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis in die Anfänge Weimarer Republik prägte, avancierte die Zeitschrift Junge Menschen334 in Deutschland zu einer der bedeutendsten und weltoffensten Jugendzeitschriften der Zwanziger Jahre. Zugleich handelt es sich bei ihr um das wichtigste Medium freideutscher politischer Publizistik in der Weimarer Republik. Der bei der Monatsschrift zusammenwirkende Freundes- und Mitarbeiterkreis um Hammer und Ahlborn war der geistig-intellektuelle Motor des demokratisch-sozialistisch und humanistisch-menschheitlich gestimmten Teils der Freideutschen, der auch noch nach der Zersplitterung der Freideutschen Jugend eine aktive gesellschaftliche Rolle spielte und für die linksliberal orientierte lebensreformerisch-humanistische Richtung der bürgerlichen Jugendbewegung insgesamt prägend war. Die von 1920 bis Ende 1927 erscheinende Zeitschrift spiegelt in verdichteter Form die Ordnungsideen jenes Teils der Freideutschen dar, der sich, von Krieg, Revolution und demokratischem Neuanfang geprägt, in der Weimarer Republik weiter um eine verantwortliche Rolle der Freideutschen in der Gesellschaft und sozialen Ausgleich bemühte.
8.1 Gründung Die Zeitschrift Junge Menschen wurde im Dezember 1919 vom Schriftsteller und Verleger Walter Hammer, mit bürgerlichem Namen Walter Hösterey (1888 bis 1966)335, Knud Ahlborn und Fritz Klatt gegründet, die erste Ausgabe erschien im Januar 1920. Zu dritt hatten sie im Vorfeld das Konzept der Zeitschrift entwickelt, die als überbündisches Sprachrohr der bürgerlichen Jugendbewegung fungieren sollte. Hammer, der mit seinem Schriftstellernamen auf den radikalen humanen und kulturellen Erneuerungsgestus Friedrichs Nietzsche rekurrierte,336 hatte sich
334 Dietzel/Hügel, Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945, Bd. 2, S. 634–635, Eintrag 1539; Lorenzen, Zwischen Wandern und Lesen, S. 113–117. Ferner Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick, Stuttgart 1976, S. 462; Hans-Joachim Eick: Geschichtsbewusstsein und Gegenwartsdeutung Jugendlicher in der Weimarer Republik im Spiegel der Zeitschrift „Junge Menschen“ (1920–1927). Darstellung und Interpretation quellenbezogener Kulturaspekte, Aachen 1994. 335 Zu Hammer Hinrich Jantzen: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1972, S. 107–114. 336 Vgl. Jürgen Kolk: Mit dem Symbol des Fackelreiters. Walter Hammer (1888–1966). Verleger der Jugendbewegung – Pionier der Widerstandsforschung, Berlin 2013, S. 27. Zu Hammers Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche Ders.: Nietzsche als Erzieher, Leipzig 1914. https://doi.org/10.1515/9783110783667-013
158 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 1908 dem Wandervogel angeschlossen und war wie Hans Paasche, Hermann Popert und Friedrich Muck-Lamberty längere Zeit aktives Mitglied im lebensreformerisch orientierten Deutschen Vortruppbund gewesen. Wie Ahlborn war Hammer 1914 zunächst von der Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges ausgegangen und hatte seit 1916 als Soldat an der Westfront gedient, ehe er gegen Kriegsende zu einer von der sozialistischen Idee beeinflussten pazifistisch-antimilitaristischen Haltung fand.337 Die revolutionären Ereignisse 1918/19 begrüßte Hammer. Nach dem Krieg und den Spaltungstendenzen der Freideutschen Jugend zum Trotz arbeitete er auf eine Reorganisation der Freideutschen hin und suchte nach neuen Möglichkeiten und Formen für das Freideutschtum. Um auf die Gestaltung der Gesellschaft Einfluss nehmen zu können, sollte die Freideutsche Bewegung wieder mit Leben erfüllt werden. Bevor er von 1919 an als Herausgeber der Monatsschrift Junge Menschen wirkte und als Zeitkritiker, Friedensaktivist und Lebensreformer „Planer einer neuen, von jugendlichem Geist genährten Humanitas“338 wurde, hatte Hammer bereits an verschiedenen, zumeist lebens- und kulturreformerisch geprägten Zeitschriften mitgearbeitet und seit 1906 immer wieder eigene Schriften zu politischen Fragen, zur Lebensreform und zum Pressewesen veröffentlicht. Hammers vor dem Ersten Weltkrieg bereits vorgebildete Weltanschauung war von der Positionssuche zwischen Sozialismus und Liberalismus, der Idee einer umfassenden Lebens- und Kulturreform sowie von einem ethisch fundierten Sozialismus geprägt.339 Die von Hammer und Ahlborn herausgegebene,340 thematisch breit angelegte und trotz aller offenen Sympathien für einen demokratisch und ethisch fundierten Sozialismus überbündisch und klassenübergreifend ausgerichtete Zeitschrift wurde im eigens gegründeten gleichnamigen Hamburger Verlag Junge Menschen verlegt, der im Dezember 1919 von den zwei Herausgebern sowie dem Pastor Julius Schönewolf und dem Hamburger Kaufmann Bernhard Hertling als GmbH gegründet wurde. Erklärtes Ziel des Verlags war die Herausgabe weiterer ähnlicher Zeitschriften sowie die Beteiligung an etwaigen jugendbewegten Projekten.
337 Vgl. Kolk, Mit dem Symbol des Fackelreiters, S. 42–62. 338 Walther G. Oschilewski: Stimme des neuen Jugendwillens, in: Walter-Hammer-Kreis/Erna HammerHösterey/Otto Piehl (Hrsg.), Junge Menschen. Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation der zwanziger Jahre. 1920–1927, Frankfurt/M. 1981, S. X–XIII, hier S. IX. 339 Vgl. Axel Flake/Heiko Schmidt: Jugendbewegung – Widerstand. Der linksbürgerliche Verleger und Publizist Walter Hammer (1888–1966), in: Die Vitrine. fachblatt für linke Bibliomanie (2003), H. 8, S. 8–48, hier S. 11. 340 Ahlborn und Hammer fungierten vom 1. Jg. 1920 bis Ende des 2. Jg. 1921 als Herausgeber der Zeitschrift, wobei Hammer deren Herausgabe noch einmal vom 5. Jg. 1924 bis Ende des 8. Jg. 1927 übernahm. Redakteure der Zeitschrift waren Hammer (1. Jg. 1920–4. Jg. 1923; 5. Jg. 1924, H. 7 und H. 9.; 6. Jg. 1925–8. Jg. 1927) und einmalig Fritz Klatt (1. Jg. 1920, H. 1).
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Die Verlags-GmbH, für die Ahlborn verantwortlich war, sollte kein kapitalistisches Unternehmen sein und Gewinne dementsprechend nur zur Unterstützung und zum Ausbau der Zeitschrift nutzen.341 Als Verlagssitz hatte Ahlborn in Hamburg Räumlichkeiten in einer früheren Mädchenschule angemietet, in denen er zusammen mit Hammer, dem promovierten Naturwissenschaftler Ernst Foerster und dem Hamburger Reeder Kurt Woermann (Angehöriger der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten religiössozialistischen Neuwerk-Bewegung) im Spätherbst 1918 das Freideutsche Haus gründete, das zum intellektuellen Zentrum der Freideutschen Jugend nach dem Ersten Weltkrieg wurde. Neben dem Verlag und dem Redaktionsbüro der Zeitschrift Junge Menschen war in dem Gebäude auch die Hauptgeschäftsstelle der Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Freideutschen Jugend e.V. und das Freideutsche Arbeitsamt untergebracht. Es handelte sich dabei um eine Berufsvermittlungs- und -beratungsstelle speziell für Freideutsche, die im Rahmen der ersten Freideutschen Woche auf dem Solling 1917 (27.9.– 4.10.1917) von Ahlborn, Wilhelm Hagen, Alfred Kurella und anderen Freideutschen unter Mitwirkung von Gustav Wyneken und Walter Fischer gegründet worden war.342 Im Freideutschen Haus hatte außerdem der von Ferdinand Goebel geführte Deutsche Volkshausbund e.V. – Ausschuß für freie Volkshochschulen seinen Sitz, außerdem die von Ahlborn, Woermann und Foerster im Spätherbst 1918 als Volkshochschule gegründete Hamburger Jugendhochschulgemeinde343, die nach der Idee ihrer Gründer als „Freideutsche Führerschule“ fungieren sollte.344 Hier entstand auch die Idee zum 1919 von Ahlborn auf Sylt gegründeten Freideutschen Jugendlager Klappholttal.345 1922 gründete Hammer, der mit seinem publizistischen Engagement zu den aktivsten Pazifisten der Weimarer Republik zählte und nach 1945 einer der Pioniere der Widerstandsforschung in Deutschland wurde, zusätzlich den 341 Vgl. Notarielle Gründungsurkunde des Verlags „Junge Menschen“, Hamburg, 18.12.1919 (AdJb N 2/45). 342 Dazu Entgültiger Entwurf der Stiftungsurkunde des Arbeitsamtes der Freideutschen Jugendbewegung, erarbeitet vom Verfassungsausschuss der Freideutschen Jugend im Rahmen der ersten „Freideutschen Woche“ auf dem Solling vom 27.9–4.10.1917, Hildburghausen 1917 (AdJb N 2/29), sowie AdJb N 35/1710. 343 Ernst Foerster: Die Hamburger Jugendhochschulgemeinde und der Volkshochschulgedanke, Hamburg 1919. 344 Vgl. Goebel, Ansprache am 75. Geburtstag Knud Ahlborns, S. 140; Ernst Foerster: Volkshochschule, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 1, S. 12–14; Ders., Die Hamburger Jugendhochschulgemeinde und der Volkshochschulgedanke. Zum Programm der „Freideutschen Führerschule“ s. Ahlborn, Lebenslauf, S. 120. 345 Vgl. Knud Ahlborn: Die Zeit von 1919–1927, in: Kai J. Friedrich/Michael Andritzky (Hrsg.): Klappholttal/Sylt 1919–1989. Geschichte und Geschichten. Kontinuität im Wandel, Giessen 1989, S. 51–57, hier S. 51. Vgl. auch Goebel, Ansprache am 75. Geburtstag Knud Ahlborns, S. 140.
160 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Fackelreiter-Verlag346. Von Mitte 1923 an erschien im Verlag Junge Menschen die ebenfalls überbündisch und überparteilich konzipierte Wochenzeitschrift Junge Gemeinde 347, die als Beilage der Monatsschrift Junge Menschen mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren startete und „gemeinnütziges“ Medium einer „jungen Generation“ sein wollte, um in der „entscheidungsvollen und verantwortungsreichen Notzeit“ des Volkes „mitgestaltenden Einfluß auf Gesetzgebung und Kulturarbeit“ zu nehmen.348 Sämtliche Jahrgänge trugen den Untertitel „Von Wille, Weg und Werk der jungen Generation“, wobei dieser später um den Nebentitel „Kampforgan der republikanischen Jugend“ (1925–1926) erweitert wurde. Ende 1926 ging sie in der Zeitschrift Junge Menschen auf und wurde als selbstständige Zeitschrift eingestellt.
8.2 Programm Neben den originär mit der Freideutschen Bewegung verbundenen Zeitschriften Der Wanderer und Freideutsche Jugend ist Junge Menschen das letzte der drei großen freideutschen Publikationsorgane. Die vielgelesene Monatszeitschrift verband humanistische, liberale und weltbürgerliche Gesinnung mit dem Aufruf zu allgemeiner Lebens- und Gesellschaftsreform. Nahegelegt wurden insbesondere Vegetarismus sowie die Abstinenz von Alkohol und Nikotin. Sie integrierte demokratische und sozialistische Positionen, ohne daraus jedoch ein eindeutiges politisches und weltanschauliches Programm zu entwickeln, was mit der Anspruchshaltung der Herausgeber zu tun hatte, ein überbündisches und überparteiliches Organ der bürgerlichen Jugendbewegung sein zu wollen, weswegen auch der Mitarbeiterstab aus Vertretern all ihrer Richtungen bestand.349 Nach der Idee ihrer Gründer sollte die Zeitschrift in einer Zeit umfassender gesellschaftlicher Umbrüche ihren Lesern politische und kulturelle Orientierungsangebote machen und bei der Suche nach anknüpfungsfähigen Werten und politischen Ideen helfen, die in der Zeitschrift zur Diskussion gestellt werden sollten. Die junge deutsche Republik sollte mit demokratisch, liberal und sozial eingestellten Lesern unterstützt werden, die ein neues Menschenideal verinnerlicht hatten und lebten. Das Blatt sollte in jeder Hinsicht aufklärerisch wirken.
346 Zum Verlag Kolk, Mit dem Symbol des Fackelreiters. 347 Dietzel/Hügel, Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945, Bd. 2, S. 633, Eintrag 1534, sowie S. 634–636, Eintrag 1539. 348 Programmatische Äußerung der Herausgeber, in: Junge Gemeinde. Von Wille, Weg und Werk der jungen Generation. Wochenblatt der wandernden Jugend 1 (1923), H. 1. 349 Vgl. Knud Ahlborn/Walter Hammer: Eine Bitte der Herausgeber, in: Junge Menschen 1 (1920), 2/3, S. 16. Vgl. außerdem Programmatische Erklärung der Herausgeber, Junge Menschen 1 (1920), H. 1, Umschlagseite 2
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Die Zeitschrift war stark an den Entwicklungen des Zeit- und Tagesgeschehens orientiert. Kulturelle Themen wie Bauhaus, Vegetarismus, Lebensreform, deutscher Idealismus und Moderne Kunst standen gleichberechtigt neben politischen Themen wie Staat, Demokratie, Sozialismus, Ökonomie und Völkerverständigung. Über allem aber stand das Ziel einer umfassenden Lebens- und Gesellschaftsreform, wobei sich diese wirtschaftlich primär entlang des Sozialismus, kulturell entlang liberal-demokratischer und politisch entlang einer von der Idee einer europäischen Friedens- und Völkerordnung getragenen demokratisch-sozialistischen Ordnung entfalten sollte. Anknüpfungspunkt war weniger der politische Sozialismus, als vielmehr eine Art „Kultur-Sozialismus“350, der sich rudimentär auch schon in der Freideutschen Jugend abgezeichnet hatte und die Idee der Selbstbildung und Lebensreform mit den humanistisch-egalitaristischen Kernelemente des utopischen Sozialismus verband. Wie es für die freideutsch geprägten Zeitschriften charakteristisch war, reklamierte auch die Monatsschrift Junge Menschen für sich, Forum, Sprachrohr und Einflussgeber der jungen Generation zu sein, womit die Herausgeber nach dem Ersten Weltkrieg an das freideutsche Narrativ der kulturell-moralischen Avantgarde anschlossen. Im Hinblick auf ihre weitreichenden kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerungspläne arbeiteten die Herausgeber mit ihrer Zeitschrift an einer Synthese aus freideutschem Individualismus und Idealismus sowie gestaltender gesellschaftlicher Teilhabe und Mitverantwortung. Die mit einer Auflage von 12.000 Exemplaren startende Zeitschrift sollte „ein lebendiger Spiegel aller Interessen und Stimmen der verschiedenen Richtungen der Jugend“351 sein, wie die Herausgeber in einem Ankündigungs- und Werbeschreiben an die Vorstände und Obmänner einschlägiger deutscher Jugendvereine,– verbände und -gemeinschaften vom Dezember 1919 proklamierten. Sie sollte ein breiter Sammelpunkt für die Jugend der Republik sein und für eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen den Jugendgruppen und -bünden sorgen. Damit wollte sie, wie schon die Freideutsche Jugend, ein lebendiges Diskussionsforum sein, das nicht nur den Dialog zwischen den einzelnen Gruppierungen der bürgerlichen Jugendbewegung und den unterschiedlichen politischen Richtungen innerhalb der Freideutschen Jugend, sondern auch deren Zusammenhalt förderte. Auch der linksorientierte Fritz Klatt, der Ahlborn und Hammer in der Planungsphase der Zeitschrift unterstützt hatte, bewarb die neue Zeitschrift im Vorfeld ihres Erscheinens intensiv. In der Dezemberausgabe der Freideutschen Jugend von 1919 schrieb Klatt:
350 Berendsohn, Lebenserneuerung und Sozialismus, S. 198–200. 351 Rundschreiben an die Vorstände und Obmänner deutscher Jugendvereine, -verbände und -gemeinschaften, verfasst von Knud Ahlborn und Walter Hammer, Hamburg, Dezember 1919 (AdJb N 2/45 u. AdJb N 2/39).
162 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Die Zeitschrift „Junge Menschen“ wendet sich „an Deutschlands Jugend“, und zwar an die jüngere Jugend von 14 bis 20 Jahren. Mit diesem Untertitel will ausgedrückt sein, daß sie sich an weiteste Kreise wendet. […]. Es ist möglich, daß hier einmal der Versuch der glückt, in tätiger Mitarbeit an diesem Blatt die jüngere Jugend zusammenzubringen mit älteren Menschen, die der Jugend zugewandt geblieben sind. Dabei wird auf der jugendlichen Seite die Losung heißen müssen: Offenheit im Erleben, lockere Haltung, leidenschaftlichen Sehnsucht nach dem Ziel. Bei den Aelteren wird die Losung heißen müssen: Unzweideutiges Bekenntnis zur Wahrheit, entschlossenen Haltung, Wissen um das Ziel.352
Klatt hatte während des Ersten Weltkriegs zusammen mit anderen Freideutschen bzw. deren Motiven nahestehender Persönlichkeiten wie Alfred Kurella, Walter Benjamin, Hans Blüher, Kurt Hiller, Karl Jerosch, Jaap Kool, Hans und Peter Kollwitz, den Brüdern Hans Koch(-Dieffenbach) (1897–1995) und Walther Koch (1887–1968) – Koch war während seiner Berliner Studienzeit Vorsitzender der Freien Berliner Studentenschaft –, Erich Krems (1898–1916), Alexander Rüstow sowie Ernst Joe¨l und Friedrich Bauermeister zum Berliner Kreis353, auch Westender Kreis genannt, gehört, der den linken Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung entscheidend formierte und prägte. Zum sozialen Umfeld der sich seit 1908 entwickelnden Freundschaftsgruppe zählten die Freideutsche Jugend, die Berliner Freie Studentenschaft und Teile der Arbeiterjugendbewegung, deren politische Nähe der Kreis ab 1916 suchte. Den gedanklichen Schwerpunkt des Kreises bildeten vor dem Ersten Weltkrieg die Idee einer Jugendkulturbewegung um ihren geistigen Mentor Gustav Wyneken, die diese fördernden Zeitschriften Der Anfang (seit 1913) und Der Aufbruch (seit 1915) sowie Wynekens Projekt Freier Schulgemeinden. Auf der Suche nach neuen Gemeinschafts- und Lebensformen behandelte die Zeitschrift aber auch Themen wie Religion, Erotik, Sexualität und Freundschaft, zudem bestand eine latente Faszination für den lebensreformerischen Siedlungsgedanken. Viele Angehörige des Westender Kreises zählten in der Zeit von 1914 bis 1922 zum regelmäßigen oder erweiterten Mitarbeiterkreis der Freideutschen Jugend. Die Freideutschen Joe¨l und Bauermeister hatten überdies Anfang 1915 gemeinsam mit anderen Studierenden den sozialistisch gesinnten Aufbruch-Kreis gegründet, der sich um die Redaktion der Zeitschrift Der Aufbruch bildete. Joe¨l war Herausgeber, Bauermeister Mitbegründer der Zeitschrift, an der auch Karl Bittel und Hans Blüher sowie unter anderem Gustav Landauer als ständige Mitarbeiter mitwirkten. Im August 1917 veranstaltete der Berliner Kreis die sogenannte „Westender Tagung“354, in deren Nachgang aus den Vorträgen von Bauermeister, Hans Koch und Kurella die für die sozialistisch und/oder kommunistisch orientierten Frei352 Fritz Klatt: Eine neue Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 12, Umschlagseite. 353 Dudek, Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. 354 Zur Westender-Tagung ebd., S. 191–206.
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deutschen die programmatische Schrift „Absage und Beginn“355 entstand, in der die linken Freideutschen zur Gründung kommunistischer Siedlungen aufriefen.356 Unter dem Eindruck der Münchener Novemberrevolution – zentrale Stichwortgeber des Kreises wie Gustav Wyneken und Gustav Landauer beeinflussten diese mit – gründeten die drei Kreismitglieder im Februar 1919 die kommunistische Siedlung Blankenburg357 bei Augsburg, wobei deren geistige Ursprünge in der städtischen Wohnkommune des Kreises in Berlin lagen, die Anfang 1916 von Klatt und Hans Koch ins Leben gerufen worden war. Die Kommune war Mitte 1918 aufgrund der politisch unsicheren Lage von Berlin nach Bayern übergesiedelt, um dort ihr von Gustav Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf und dem Psychoanalytiker Karl Landauer beeinflusstes Projekt zu verwirklichen, das allerdings nur bis Herbst 1920 Bestand hatte. Hier sollte das Ziel eines Zusammenschlusses der bürgerlichen Jugend mit der proletarischen aus dem Bürgertum und der Arbeiterklasse (und zwar männliche und weibliche Jugendliche!) zur Überwindung der Klassen- und Bildungsschranken unter der Idee eines neuen Menschen zu einer autonomen Lebensgemeinschaft als ein Beitrag zur Verwirklichung einer Jugendkultur im Sinne Wynekens verwirklicht werden.358 Aufgrund ihres Engagements in der Freideutschen Jugend waren einige Mitglieder des Berliner Kreises auch an der „Ersten Freideutschen Woche“ (vom 27.9. bis 3.10.1917 im Landschulheim am Solling bei Holzminden) und an der Freideutschen Woche im August 1918 in Tübingen359 beteiligt, auf der unter anderem Knud Ahlborn, Fritz Jöde, Arnold Bergstraesser, Gustav Wyneken und Alfred Kurella zugegen waren. Den Kreismitgliedern ging es um die zukünftige Ausrichtung der Freideutschen Jugend und den Ausbau der Beziehungen zu allen freideutschen Kreisen. Als Fritz Klatt, der gemeinsam mit seinem Freund Alfred Kurella kurz nach dem Ersten Weltkrieg ein freideutsches Wohnheim in München gegründet hat-
355 Friedrich Bauermeister/Hans Koch-Dieffenbach/Bernhard Ziegler: Absage und Beginn. Worte an die Kameraden, Leipzig 1918. Die Programmschrift repräsentiert vor allem die Ideen des linken Flügels der Freideutschen. 356 Vgl. Ulrike Koch: „Ich erfuhr es von Fritz Klatt“ – Käthe Kollwitz und Fritz Klatt, in: KätheKollwitz-Museum Berlin (Hrsg.), Käthe Kollwitz und ihre Freunde. Katalog zur Sonderausstellung anlässlich des 150. Geburtstages von Käthe Kollwitz, Berlin 2017, S. 65–74, hier S. 65; Reinhard Preuß: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919, Köln 1991, S. 263. Ferner Lazzarino del Grosso: Armut und Reichtum im Denken Gerhohs von Reichersberg, München 1973, S. 83. 357 Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie: Die ’kommunistische Siedlung Blankenburg’ bei Donauwörth 1919/20, München 1973. 358 Vgl. Dudek, Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft, S. 239. 359 Vgl. ebd., S. 182.
164 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 te,360 Ende 1919 zur Redaktion der Zeitschrift Junge Menschen stieß, brachte er nicht nur seine politisch-kulturelle Agenda, sondern auch sein weit verzweigtes persönliches Netzwerk und die guten Verbindungen zum sozialistisch-kommunistisch orientierten Flügel der Freideutschen in die Zusammenarbeit ein. Auch wenn Klatts politische Ideenwelt stärker vom theoretischen Marxismus geprägt war als bei Hammer und Ahlborn, deren eigene politische Grundpositionen sich irgendwo zwischen Sozialismus und Liberalismus ansiedelten, vereinte sie die Suche nach einem zeitgemäßen, ethisch und humanistisch begründeten Sozialismus, der die gescheiterte kapitalistisch-bürgerliche Wirtschaftsordnung ersetzen sollte. Dieser sollte Teil einer demokratisch-sozialistischen Grundordnung im Sinne einer aufgeklärten Volksgemeinschaft sein, die in der Lage war, die fähigsten Führer und Geisteseliten – dabei dachten die Freideutschen vor allem an sich selbst – zu ihren Vertretern zu wählen. Dahinter stand die Ansicht, dass die Frage der Kultur in einem modernen demokratisch legitimierten Sozialismus höchste Priorität haben müsste. Eine erneuerte sozialistische Wirtschaftsordnung hatte nach den Vorstellungen Hammers, Ahlborns und Klatts sowohl die Pflege und die Fortführung des deutschen Kulturbesitzes und der als wertvoll erachteten kulturellen Anlagen zu integrieren als auch sozialistische Grundideen wie die Enteignung des Kulturbesitzes bzw. der Kulturbesitzenden. Insofern sollten nicht einfach sozialistische Positionen übernommen werden, sondern in der Zeitschrift Junge Menschen wollte man im Fichteschen Sinne tätig darüber nachdenken, wie eine neue kulturelle und soziale Ordnung aussehen könnte. Gemäß den ambitionierten Zielsetzungen der Zeitschriftenredaktion hatte Klatt in der Dezemberausgabe der Freideutschen Jugend 1919 alle Freideutschen zur Mitarbeit an der neuen Zeitschrift aufgerufen, wobei dieser auch gezielt die Wandervögel und die jüngeren Jugendgemeinschaften ansprach. Von den älteren Freideutschen sprach Klatt insbesondere die Berufsgruppe der Lehrer und Erzieher an. Vor allem von letzteren erbat er sich im Namen der Redaktion Manuskripteinsendungen sowie Ratschläge für den Ausbau und die Verbreitung der Zeitschrift.361 Klatts Ziel war es, eine legitime Verbindung zwischen der Jugend der Weimarer Republik und der mittlerweile erwachsenen ersten Generation Freideutscher zu schaffen, stellte sich ja angesichts der Altersdiskrepanz und der unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten bzw. -phasen durchaus die Frage, inwieweit die ältere Generation Freideutscher noch für sich beanspruchen konnte, Vertreterin der Jugend zu sein. In seiner Argumentation erschienen die erwachsenen Freideutschen implizit als Erfüllungsgehilfen und Mentoren der Republik-Jugend, während sich die Jugend selbst als deren Protege´ fühlen sollte.
360 Vgl. Jantzen, Namen und Werke, Bd. 1, S. 175. 361 Vgl. Klatt, Eine neue Zeitschrift.
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Nachdem Klatt schon nach dem ersten Heft aus der Redaktion ausschied, um sich seinen privaten reformpädagogischen Projekten zu widmen, fanden Hammer und Ahlborn im angehenden Schriftsteller Werner Helwig (1905–1985), im Schriftsteller Kurt Held, im späteren Publizisten Erich Lüth (1902–1989), im Publizisten und Schriftsteller Hugo Sieker (1903–1979) und in Heinrich Steinbrinker (1901–1992) geeignete freideutsch gesinnte Mitarbeiter. Zum Mitarbeiterkreis der ersten Ausgabe zählten außerdem die Freideutschen Ernst Foerster, Luci Berger, der KPDler Friedrich Vorwerk, Erna Behne sowie der später bekannte Soziologe und Sinologe Karl August Wittfogel, wobei die meisten bereits an der Freideutschen Jugend mitgearbeitet hatten. Die Monatsschrift Junge Menschen war nicht nur auf eine stetige Vergrößerung des Leserkreises angelegt, sondern im Hinblick auf die beginnenden bürgerlichen Karrieren der älteren Freideutschen und Jugendbewegten im erzieherischen, reformpädagogischen und kulturellen Bereich auch auf die Erweiterung ihrer Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten. Angesichts der politischen Spaltungstendenzen der Freideutschen Bewegung wollte das Blatt darüber hinaus eine Brücke zwischen linken und rechten Positionen innerhalb der Bewegung schlagen, wie dies bis Ende 1922 auch die Freideutsche Jugend versuchte. Dafür spricht die große, überparteilich angelegte Themenbandbreite der Zeitschrift, durch die die Herausgeber kontinuierlich versuchten, zwischen den Interessen der bürgerlichen und der proletarischen Jugendbewegung zu vermitteln. Die Zeitschrift war von vornherein nicht nur für die intellektuelle Jugend, höhere Schüler, junge Lehrer, Studierende und Angestellte gedacht, sondern – entsprechend der sozialen Verpflichtung, die die Herausgeber gegenüber der Arbeiterklasse empfanden – auch für die heranwachsende proletarische Jugend.362 Die Zeitschrift spiegelte den Wunsch der Freideutschen nach politisch-sozialem Ausgleich wider, die sich durch ihre „Mittelstellung zwischen den ,ausbeutenden‘ und ausgebeuteten Klassen berufen und verpflichtet“ fühlten, für den „Neubau der Zukunft die wahren Werte beider Klassen zu bergen“,363 wie Ahlborn mit Bezug auf die Führertagung der Freideutschen Jugend in Hofgeismar im Oktober 1920 in der Monatsschrift schrieb. Damit schloss diese inhaltlich an das in Hofgeismar vom engeren Führungskreis der Freideutschen Jugend verabschiedete Programm an, in welchem sich der Verband als primär geistige Gemeinschaft definierte, deren geistiger Standort außerhalb der einander bekämpfenden Klassen von Proletariat und Bürgertum gelegen sei.364 In Übereinstimmung mit dem Hofgeismarer Programm verfolgte die Zeitschrift eine Synthese aus bürgerlichen und proletarischen Bewusstseinsinhalten, woraus 362 Vgl. Oschilewski, Stimme des neuen Jugendwillens, S. XI. 363 Knud Ahlborn: Hofgeismar, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 21, S. 226. 364 Vgl. Ehmer, Hofgeismar. Ausführlich zur Tagung s.u. S. 199–202.
166 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 schließlich ein gänzlich neuer „gesamtvölkischer“ Bewusstseinsinhalt erwachsen sollte, den die Herausgeber als Voraussetzung für eine neue gesellschaftliche und staatlichen Ordnung ansahen. Analog zum Beschluss der Freideutschen Jugend in Hofgeismar strebte die Zeitschrift „eine in gegenseitiger Hilfe“ geeinte, „klassenlose, organisch gegliederte Volksgemeinschaft“ an, „in der jeder einzelne Volksgenosse seine körperlichen und geistigen Anlagen zum Wohle der Gesamtheit und der Menschheit zur freien Entwicklung“ bringen konnte.365 Der überparteiliche und klassenübergreifende Anspruch, den die Zeitschrift stetig formulierte, drückte sich auch darin aus, dass Autoren wie Herausgeber mithilfe vieldeutiger Begriffe wie „Mensch“, „Geist“, „Leben“, „Volk“ und „Gemeinschaft“ versuchten, unterschiedlichste, zum Teil antagonistische Weltanschauungen und Ordnungsvorstellungen innerhalb und außerhalb der freideutschen Bewegung miteinander in Einklang zu bringen. In der Hauptsache ging es der Zeitschrift darum, freideutsche Ideen lebendig zu halten und dabei zu helfen, den sozialen und kulturellen Zusammenhang der bürgerlichen Jugendbewegung, insbesondere der Freideutschen, über den Ersten Weltkrieg hinaus zu wahren und den freideutschen Geist in die Weimarer Republik hinein zu transportieren. In Anbetracht der angespannten politisch-sozialen Lage Deutschlands wollte man der eigenen jugendbewegt-freideutschen Klientel sowie auch einer interessierten Öffentlichkeit weltanschaulich-kulturelle Orientierungs- und Lösungsangebote an die Hand geben. Den Idealen der Meißner-Formel verpflichtet und unabhängig von Parteien, Religionsgemeinschaften und Interessenverbänden, zielte der klassenübergreifende und kulturfördernde Ansatz der Zeitschrift im Kern auf eine Überwindung der sozialen und politischen Spaltung der Gesellschaft im Rahmen einer internationalen Völker- und Friedensordnung ab. Dahinter stand die Idee einer auf kultureller Grundlage entwickelten Volksgemeinschaft ohne trennende soziale und politische Schranken, deren Herbeiführung die beiden Herausgeber als Voraussetzung zur Verwirklichung der deutschen Kulturstaatsidee ansahen, die in der Weimarer Republik für viele Freideutsche noch einmal aktuell wurde. Angelehnt an die Kapitalismuskritik von Karl Marx, dessen Kommunismus die Vision einer gerechteren und besseren Welt enthielt, interpretierten die Herausgeber die bisherige Entwicklung der Menschheit bzw. der deutschen Gesellschaft primär als Auseinandersetzung von Klassen. Die bürgerlich-industriekapitalistische Gesellschaft sollte nach Auffassung der Zeitschriftenmacher jedoch nicht auf revolutionärem Wege, sondern auf evolutionärem, sprich auf erzieherischem
365 Knud Ahlborn: Die politische Einstellung der Freideutschen Jugend, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 21, S. 227. Der in der ersten Novemberausgabe 1920 abgedruckte Text enthält acht von Ahlborn in Hofgeismar eingebrachte und vom Verband der Freideutschen Jugend verabschiedete Thesen.
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Wege verändert und überwunden werden. Als sozialen Nährboden betrachtete man dabei das auf politische und soziale Gleichheit gerichtete Selbstbildungsprogramm der Freideutschen, deren hochstehende Prinzipien wie Gemeinschaft, Solidarität, Verantwortung, Freiheit, Weltoffenheit, Völkerverständigung und Gerechtigkeit die Zeitschrift repräsentieren wollte. In einer Vertretererklärung des die freideutsche Mitte repräsentierenden humanistisch-menschheitlichen Flügels vom März 1920 hieß es in Übereinstimmung mit dem Selbstverständnis der Zeitschrift: Die […] in der Freideutschen Jugend gesammelte Generation erstrebt eine wirkliche, alle Glieder und Stände umfassende Volksgemeinschaft, die sich als ebenbürtiges Glied der neu zu schaffenden Völkergemeinschaft einordnen soll. Sie betrachtet es als ihre eigene besondere Aufgabe, Bande menschlich-persönlicher Art zu allen Volksgenossen, in erster Linie zur proletarischen Jugend zu knüpfen, als Voraussetzung für die Errichtung der übergeordneten Einheit.366
Den Gedanken der Völkerverständigung, der die Agenda des humanistischmenschheitlich orientierten Teils der Freideutschen widerspiegelte, hielt die Zeitschrift Junge Menschen bis zum Ende ihres Erscheinens 1927 hoch. Die Kantsche Idee der Völkerverständigung und des Völkerbundes als Ausdruck „eines sittlich und nicht gewalttätig gerichteten Volkswillens“ war für die politische Ausrichtung der Zeitschrift zentral. Programm und Praxis des Organs sollten „wahre Völkergemeinschaft“ und „wahre Volksgemeinschaft“ fördern,367 wie Ahlborn mit der entsprechend zitierten Erklärung des von ihm und Hammer unterstützten Vertreterteils der Freideutschen Jugend in der Zeitschrift zum Ausdruck brachte. Die Monatsschrift stimmte mit dem in der Erklärung formulierten Ziel der grundsätzlichen Erneuerung der Gesellschaft nach Überwindung aller Gesellschaftsschranken und Klassensonderrechte überein. Zur Erreichung dieses Ziels beabsichtigte sie, ihrer Leserschaft kulturelle und politische Orientierung zu vermitteln und suchte dafür nach anknüpfungsfähigen kulturellen und moralischen Werten, primär im Anschluss an den bildungsbürgerlichen Wertekanon. Diese sollten dabei helfen, die von den Freideutschen erstrebte politische, soziale und kulturelle Einheit der Volksgemeinschaft zu verwirklichen und die kapitalistischbürgerliche Klassengesellschaft zu überwinden. Dafür gab die Zeitschrift ihrer Leserschaft vor allem „Ewigkeitswerte“368 an die Hand, die sich für die Herausgeber in Gedanken von Carlyle, Herder, Paul de Lagarde, Hölderlin, Walt Whitman, Emerson, Fontane, Heine, Fichte, Nietzsche, Schiller, Wieland, Lessing, Carl Spitteler, Goethe, Novalis, Tolstoi, Kant, Schleiermacher, des Neukantianers
366 Knud Ahlborn: Deutsche Jugendgemeinschaft, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 5/6, S. 43. 367 Vgl. ebd. 368 Vgl. die Beiträge „Ewigkeitswerte“, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 4, H. 5/6, H. 7, H. 8., H. 20.
168 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Friedrich Albert Lange und bisweilen auch des kommunistischen Anarchisten und Revolutionärs Peter Kropotkin sowie des sozialkritisch-pazifistischen Schriftstellers Leonhard Frank manifestierten. Damit war das Selbstbildungsprogramm aus deutschem Idealismus, Naturalismus, Romantik und amerikanischem Transzendentalismus deutlich umrissen. Ergänzt wurde das Programm mit Beiträgen zur Pädagogik bzw. Reformpädagogik, z.B. von Ellen Key, Gustav Wyneken und von den Pädagogen Walter Dahrendorf und Karl Seidelmann sowie mit lebensreformerischen und sozialhygienischen Texten, unter anderem des Hamburger Rassen- und Sozialhygienikers Georg Bonne. Vervollständigt wurde das umfassende Bildungsprogramm mit der Vorstellung unterschiedlicher religiöser, theosophischer und philosophischer Konzepte sowie durch lebensreformerische Kernthemen wie Vegetarismus, Abstinenz und Sexualaufklärung. Wie ausgeprägt der Wunsch der Herausgeber nach einer sozial und kulturell homogenen deutschen Volksgemeinschaft war, lässt ein im Zusammenhang der „Ewigkeitswerte“ veröffentlichter Beitrag Ahlborns erkennen: In unserer Zeit kämpfen, oft in ein und demselben Menschen, die verschiedensten Grundanschauungen miteinander: altgermanische-heidnische, christliche und buddhistische. Darum konnte bisher eine einheitliche geistige Volkskultur nicht errungen werden. Nichts ist so nötig, als zu den Quellen der Wahrheit hinabzusteigen.369
Gesucht wurde eine alle politischen, kulturellen und sozialen Divergenzen der Zeit aufhebende Synthese, die die Herausgeber als Voraussetzung einer neuen funktionierenden Gesellschaftsordnung und den Aufbau einer Volksgemeinschaft nach freideutscher Maßgabe ansahen. Dafür mussten zunächst alle politisch-ökonomischen und kulturell-sozialen Differenzen, die die kapitalistischbürgerliche Gesellschaft in den Krieg und ins Chaos der Nachkriegsgesellschaft geführt hatten, kulturell eingeebnet werden. Das programmatische Ziel der Zeitschrift entsprach in dieser Hinsicht einer nicht nur von den Freideutschen gehegten Sehnsucht nach sozialem Frieden, politischer Eindeutigkeit und kultureller Identität. Im praktischen Sinne sollte sie den Freideutschen helfen, „das Fundament der neuen Zeit“370 zu bauen. Gleichzeitig sollte sie dafür sorgen, dass die freideutsche Idee in der Öffentlichkeit präsent blieb und die Führungsbereitschaft der Freideutschen signalisieren.
369 Knud Ahlborn: Vom „Ich“ und vom „Selbst“, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 2/3, S. 2. 370 Ahlborn, Hofgeismar.
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8.3 Praxis Der freideutsche Selbstbildungsgedanke war elementarer Bestandteil der Programmatik der Zeitschrift Junge Menschen. Abgesehen von einer deutlich herauszulesenden demokratisch-sozialistischen Grundtendenz vermied die Zeitschrift bewusst jede politische Parteinahme und versammelte stattdessen unterschiedlichste Weltanschauungen und Ideen, wenngleich mit durchaus wertend gemeinter unterschiedlicher Häufigkeit und Nachdrücklichkeit. Schlussendlich ließ die Zeitschrift so sehr wohl Normen und Werte eines freideutschen Gesellschaftsideals demokratisch-sozialistischer Prägung erkennen. Generell bewegte sich die Zeitschrift im Spannungsfeld zwischen kultureller Tradition und kultureller Vieldeutigkeit. Heraus kam ein für die Zeitschrift charakteristisches programmatisches Spannungsverhältnis, das sich im Raum zwischen klassenloser Gesellschaft und Elitedenken, politischer Autonomie und Gestaltungsabsicht, christlichem Sozialismus bzw. sozialistischem Christentum und Atheismus, Anarchismus und Gemeinschaftsidylle, Republik und Geistesaristokratie, (wirtschaftlichem) Sozialismus und liberalen Kapitalismus, Pazifismus und radikaler Gesellschafts- und Lebensreform entfaltete.371 Auch theologische Diskussionen aus protestantischer und katholischer Sicht, ergänzt um die Frage nach der Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Kirche, bis hin zur Einführung in die dialektische Theologie Karl Barths und Friedrich Gogartens waren Ausdruck der intensiven Suchbewegungen der Zeitschrift. Insbesondere wollten die Herausgeber im Rahmen ihrer linksliberalen Kulturzeitschrift geeignete Ideen zur Lösung der Sozialen Frage diskutieren und finden. In Anlehnung an Rudolf Steiners „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ von 1919 wurde z.B. im ersten Erscheinungsjahr der Zeitschrift dessen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“ aufgegriffen, nach der auf Grundlage einer Neuinterpretation marxistischer Grundbegriffe wie Proletariat, Arbeitskraft, Ware, Kapital und Geld ein neues Gesellschaftsmodell entstehen und mit „Wirtschaft, Recht und Geistesleben“ drei selbstständige „Lebensgebiete“ geschaffen werden sollten.372 Wegen seiner inhaltlichen Bandbreite und modernen Ausrichtung zählte die Zeitschrift schon bald nach ihrem Erscheinen zu den meistgelesenen und bedeutendsten unabhängigen Jugendzeitschriften der 1920er Jahre und wurde über Deutschland hinaus bekannt.
371 Dazu auch Wolfgang Schuchart: Sozialismus und Pazifismus. Skizzen zum politischen Programm der Zeitschrift „Junge Menschen“, in: Franz/Wolf/ Ziemer, Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 17, Schwalbach/Ts. 1988–1992, S. 141–162. 372 Bernhard Behrens: Das Notwendigste, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 10/11, S. 110–111, hier S. 111.
170 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Vom zweiten Erscheinungsjahr an wurde das ursprüngliche Gliederungskonzept mehr und mehr von speziellen Themenheften abgelöst, die – gemäß dem Ziel größtmöglicher Anknüpfungsfähigkeit – ein weniger explizites, als vielmehr implizites (politisches) Programm verfolgten, ohne die ohnehin schon weitgefasste Programmatik der Zeitschrift in eine eindeutige Richtung weiterzuentwickeln und damit Gefahr zu laufen, Teile der freideutsch-jugendbewegt geprägten Leserschaft abzuhängen. Die Themenhefte befassten sich mit unterschiedlichsten Autoren, Politikern, Philosophen sowie Künstlern bzw. Künstlergruppen. In Einzelausgaben befasste sich die Zeitschrift unter anderem mit dem kommunistischen Revolutionär Peter Kropotkin und dem Philosophen und Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster. Neben Autoren des kommunistischen Anarchismus wie Kropotkin und der von ihm beeinflusste Gustav Landauer bekamen auch republikfreundliche Politiker wie Walter Rathenau in der Zeitschrift ein Forum. Daneben versammelte die Zeitschrift so unterschiedliche Autoren und Künstler wie Hermann Hesse, Hans Paasche, Hermann Löns, Otto Flake, die Arbeiterdichter Max Barthel, Karl Bröger, Gerrit Engelke und Heinrich Lersch sowie auch Ernst Toller und Romain Rolland, wobei diese nach Möglichkeit entweder selbst zu Wort kamen oder von Mitarbeitern der Zeitschrift in Beiträgen vorgestellt und ihrer Bedeutung gewürdigt wurden. Themenhefte zu Albrecht Dürer und Rembrandt standen gleichberechtigt neben Ausgaben zu Fidus, Heinrich Vogeler und Ernst Barlach. Der Jahrgang von 1925 befasste sich in zwei Ausgaben ausführlich mit den Positionen von Kurt Hiller und Theodor Lessing, während der darauffolgende Jahrgang mit jeweils eigenen Themenheften in die Philosophie des pädagogisch und politisch engagierten Philosophen Leonard Nelson sowie in das pazifistische Engagement Mahatma Gandhis einführte. Politisch-kulturell widmete sich die Zeitschrift genauso der Reformpädagogik, wie auch dem Reichsbanner oder der pazifistischen Paneuropa-Bewegung.373 Zu den Beiträgern der Zeitschrift gehörten arrivierte und werdende Pädagogen, Erziehungswissenschaftler, Universitätslehrer, Politiker, Gewerkschafter, hohe Regierungsbeamte, Juristen, Schriftsteller, Redakteure, Pfarrer, Ärzte, Buchhändler, Verleger, Schauspieler, Dramaturgen und Theaterleiter, von denen viele weithin Bekanntheit erlangten. Darunter waren unter anderem Ferdinand Avenarius, Hans Friedrich Blunck, Karl Bröger, Eugen Diederichs, Otto Flake, Kurt Hiller, Kurt Heynicke, Klaus, und Heinrich Mann, Paul Löbe, Hermann Claudius, Walter Dahrendorf, Fidus, Ferdinand Goebel, Alfons Paquet, Paul Natorp, August Messer, Karl Otto Paetel, Magnus Weidemann, Fritz Klatt, Käthe Kollwitz, Max Hodann, Bruno Schönlank, Ernst Toller, Fritz von Unruh, Carl Werckshagen,
373 Vgl. Schuchart, Sozialismus und Pazifismus, S. 143.
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Gustav Wyneken und Paul Zech.374 Ausgehandelt wurden die Positionen von Sozialismus, Liberalismus, Kommunismus, Kapitalismus, Anarchismus, Lebensreform, Individualismus, Kosmopolitismus, Idealismus, Vitalismus, Christentum, Anthroposophie sowie auch fernöstlicher Weisheitslehren und Religionen. Die inhaltliche Bandbreite bot dem Leserkreis der Zeitschrift eine anregende Vielfalt und zeugte von der inhaltlichen Suche nach dem „Menschen der Zukunft“, der sich für die Herausgeber durch Bildung, Authentizität, Weltoffenheit, Liberalität, ethisch-moralische Integrität und Gemeinsinn auszeichnete. Wie fortschrittlich die Zeitschrift war, zeigte sich nicht zuletzt auch in der Behandlung der Themen Sexualität und Erotik, denen die Zeitschrift im Juni und Juli 1927 zwei Sonderhefte widmete. Bis zur Einstellung der Zeitschrift Ende des 8. Jahrgangs 1927 verfolgte Walter Hammer beharrlich sein Ziel, mit seinem Verlagsprogramm und insbesondere der Zeitschrift Junge Menschen im Zusammenwirken mit den Freideutschen ein neues Menschenideal sowie eine kulturell, politisch und sozial geeinte Gesellschaft auf den Weg zu bringen.
374 Mitarbeiterauflistung der „Junge Menschen“ von 1920 bis 1927, in: Walter-Hammer-Kreis/ Erna HammerHösterey/Otto Piehl, Junge Menschen, S. 327–330.
9 Das Freideutsche Jugendlager Klappholttal auf Sylt (1919) Das von Knud Ahlborn 1919 auf Sylt gegründete und gemeinsam mit Ferdinand Goebel geführte Freideutsche Jugendlager Klappholttal375 stellt die institutionalisierte Form selbstbildnerischer freideutscher Volkbildungs- und Kulturentwicklungsideen im Rahmen einer privaten Jugend- und Erwachsenenbildungsstätte dar. Die ganzjährig tätige Selbstbildungsinstitution für Kinder, Jugendliche und Erwachsene war bis 1933, und dann wieder nach 1945, intellektuelles und geistiges Zentrum der Freideutschen und regelmäßiger Treffpunkt für ehemalige Angehörige der bürgerlichen Jugendbewegung. Darüber hinaus entwickelte sich Klappholttal schon in den 1920er Jahren zu einer Begegnungs- und Bildungsstätte der internationalen Friedens- und Jugendbewegung. Die hier in der ersten (1919 bis 1933) und in der zweiten gesellschaftlichen Wirkungsphase nach 1945 von Freideutschen verwirklichten und entwickelten Ideen strahlten in sämtliche freideutsche Kreise aus. Die charakteristische freideutsche Prägung der heutigen Volkshochschule blieb auch nach Ahlborns Tod 1977 erhalten.
9.1 Gründung Der Aufbau des als Heimvolkshochschule konzipierten Freideutschen Jugendlagers Klappholttal auf Sylt durch Knud Ahlborn im Herbst 1919 fällt in die Zeit der deutschlandweiten Volkbildungs- und Volkshochschulbewegung376 am Beginn der Weimarer Republik. In Klappholttal verbanden sich die kulturpolitischen Pläne des Staates von einem lebendigen Volksbildungswesen mit den kulturreformerisch orientierten Gemeinschafts- und Selbstbildungskonzepten der Freideutschen, die auf die Gründung eigener lebens- und kulturreformerisch ausgerichteter Erziehungs- und Bildungsstätten hinausliefen. Im selben Jahr wie Klappholttal eröffneten in Jena die vom Jenaer Privatdozenten für Pädagogik und Philosophie Herman Nohl zusammen mit dem Theologen Heinrich Weinel (1874–1936), dem Germanisten und Verlagsleiter Reinhard Buchwald (1884–1983)377 und dem Pädagogen Wilhelm Rein (1847–1929) gegrün375 Zu Klappholttal Bacher, Claus/Schiller, Hartmut (Hrsg.): 100 Jahre Klappholttal auf Sylt. 1919 bis 2019. Natur und Bildung in der Akademie am Meer, Husum 2019; Andersen, Volkshochschule im Dünensand; Friedrich/Andritzky, Klappholttal/Sylt 1919–1989; Jörg Wollenberg: 100 Jahre „Hoher Meißner“ – 95 Jahre Klappholttal. Monte Verita` des Nordens: Klappholttal und Knud Ahlborn, in: Gegenwind. Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern 26 (2013), H. 300, S. 10–14. 376 Bettina Irina Reimers: Volksbildungs- und Volkshochschulbewegung, in: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, S. 355–367. 377 Buchwald war bis 1919 Beirat und Leiter der Vertriebsabteilung im Eugen Diederichs-Verhttps://doi.org/10.1515/9783110783667-014
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dete Volkshochschule Jena und die Volkshochschule Thüringen, die von den ehemaligen Sera-Kreis-Mitgliedern Wilhelm Flitner und Walter Fränzel geleitet wurden.378 Zusammen mit seiner Frau Elise gründete Fränzel 1927 das Lichtschulheim Lüneburger Land, eine reformpädagogisch und lebensreformerisch orientierte Oberschule, wo beide bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1933 unterrichteten. 1921 gründeten die freideutschen Reformpädagogen Fritz und Edith Klatt in dem Ostsee-Fischerdorf Prerow ihr 1923 zum Volkshochschulheim umgewandeltes Kindererholungsheim. Max und Gertrud Bondy sowie Ernst Putz gründeten 1920 im unterfränkischen Bad Brückenau das Landerziehungsheim Freie Schul- und Werkgemeinschaft Sinntalhof. Die freideutsch geprägten Volkshochschulen betrachteten sich als Säulen des zukünftigen Gesellschaftsbaus in Zeiten gefährdeter kultureller Identität und zunehmender Politisierung und wollten durch ihre Arbeit die gesellschaftliche Stabilität und den kulturellen Wiederaufbau gewährleisten. Die praktische Idee des freideutschen Selbstbildungsprogramms war – analog zur Volksbildung –, Jugend und Erwachsenen die Gelegenheit zu lebenslanger Bildung zu geben, um auf diese Weise alle im Volk lagernden sozialen, geistigen und körperlichen Kräfte auszuschöpfen, die für eine Weiterentwicklung der Gesellschaft, des Gemeinwesens und des Staates notwendig waren. Mit dem Konzept der Volksbildung war zugleich auch die Idee der „Volk-Bildung“ verbunden, die Bildung des Volkes und zum Volke. „Volksbildung als Volk-Bildung“ – eine Formulierung Wilhelm Flitners – war das formelhafte Ziel,379 auf das nicht nur die Freideutschen, sondern auch die „Neue Richtung“380 der Erwachsenenbildung des Weimarer Staates und der Großteil der im Hohenrodter Bund381 vereinigten Pädagogen hinstrebten und sie zur Gründung lags. Von 1922 bis 1930 war er außerdem als Regierungsrat im Thüringischen Ministerium für Volksbildung (Weimar) tätig. Von 1927 bis 1933 war er Vorsitzender des Reichsverbandes Deutscher Volkshochschulen. Dazu Ulrich Herrmann: Die Gründer der Volkshochschule Thüringen und der Volkshochschule Jena – Wilhelm Rein, Heinrich Weinel, Herman Nohl, Reinhard Buchwald, in: Volkshochschule der Stadt Jena (Hrsg.), 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena. Grußworte. Zur Geschichte der Volkshochschule Jena und Thüringen. Erinnerungen, Rudolstadt 1994, S. 47–50. 378 Ebd., S. 31–62; Bettina Irina Reimers: Die neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Essen 2003. 379 Ulbricht, „Volksbildung als Volk-Bildung“. Zum Ursprung der Formulierung Ulrich Herrmann: „Die Herausgeber müssen sich äußern“. Die „Staatsumwälzung“ im Frühjahr 1933 und die Stellungnahmen von Eduard Spranger, Wilhelm Flitner und Hans Freyer in der Zeitschrift „Die Erziehung“. Mit einer Dokumentation, in: Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Nationalsozialismus, Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 22, Weinheim/Basel 1988, S. 281–325. 380 Reimers, Die neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933. 381 Fritz Laack: Das Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung. Hohenrodter Bund und Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung in der Weimarer Epoche, Bad Heilbrunn/Obb. 1984; Jürgen Henningsen: Der Hohenrodter Bund. Zur Erwachsenenbildung in der
174 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 von (Heim-)Volkshochschulen anregte. Dem Bund gehörten unter anderem die Freideutschen Wilhelm Flitner, Fritz Klatt, Fritz Laack, Erich Weniger und Hans Freyer an. Die Freideutschen waren integraler Bestandteil dieser Entwicklungen. Ihre Reorganisations- und Institutionalisierungsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg verknüpften sich mit den neuen kulturellen Gestaltungsmöglichkeiten des Staates, der in seiner Verfassung von 1919 die subsidiäre Förderung der Volksbildung festgeschrieben hatte. Als Kerngruppe der kulturreformerischen Richtung der bürgerlichen Jugendbewegung hatten sie vor dem Ersten Weltkrieg dazu beigetragen, in der großstädtischen Jugend ein neues Natur- und Körpergefühl zu verankern, das Geschlechterverhältnis neu zu gestalten, die Gegensätze zwischen Klassen und Völkern durch Austausch, Begegnung, Gespräch und einen umfassenden, interkulturellen Bildungsansatz zu überbrücken sowie neue Unterrichtsformen und Lernmodelle für ein modernes Schulwesen zu entwickeln. Nun wollten sie sich am kulturellen Wiederaufbau des Staates und am Aufbau einer sozial, kulturell und politisch geeinten Gesellschaft beteiligen. In Klappholttal kamen die freideutschen Volkserziehungs- und Kulturentwicklungspläne zu praktischer Anwendung. Das dort verwirklichte Selbstbildungsprogramm, zu dem eine stark an die Praxis der Freischaren angelegte Gemeinschaftskultur gehörte, verfolgte das Ziel, durch die individuelle Selbstreform zu einer Neubildung der Gesellschaft, den Aufbau einer „neudeutschen Volksgemeinschaft“382 beizutragen. Mit der Einrichtung einer zentralen Begegnungs- und Erholungsstätte für die Freideutsche Bewegung auf Sylt bemühte sich Ahlborn nicht nur um die Reorganisation der Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg,383 sondern schuf erstmalig auch eine freideutsche Bildungseinrichtung, konzipiert als Jugend- und Erwachsenenbildungsstätte, in der die kulturreformerischen Ideen der Freideutschen konkrete Gestalt annehmen konnten. Dem Mediziner Ahlborn bot Klappholttal nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur eine konkrete Tätigkeitsperspektive, sondern auch einen geschützten Experimentierraum. Hier ließen sich die seit der Jahrhundertwende von den Freideutschen entwickelten Erziehungsideen und Gemeinschaftsideale frei entfalten und die Suche der Jugend nach neuen „Sinnkriterien“, von der Ahlborn auf der Lauensteiner Kulturtagung 1917 gesprochen hatte,384 im Sinne freideutscher Erzie-
Weimarer Zeit, Heidelberg 1958. Die Mitglieder des Bundes wollten durch die Erwachsenenbildung die Einheit des Volkes erreichen. 382 Knud Ahlborn: Freideutsches Ferienlager auf Sylt, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 4, S. 149. 383 Vgl. Ahlborn, Die Zeit von 1919–1927, S. 52. 384 Editorischer Bericht der Rede Ahlborns, in: Weber, Zur Politik im Weltkrieg [MWG] 1/15, S. 703.
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hungs- und Bildungsziele beeinflussen. Ahlborn strebte durch die freideutsche Zellenbildung in Klappholttal den „zukünftigen Menschheitsbau“385 nach freideutscher Maßgabe im Hinblick auf den Aufbau eines deutschen Kulturstaates an, in diesem Sinne war Klappholttal als Begegnungs-, Tagungs-, Lern- und Diskussionsort der freideutschen Kreise gedacht. Das Gelände, auf dem Klappholttal errichtet wurde, hatte Ahlborn im Rahmen einer Dienstreise als Leiter des Hamburger Landesverbandes für Jugendpflege entdeckt, den er im Verlaufe des Jahres 1919 zum größeren Hamburger Jugendverband ausbaute. Finanzierungshilfe für den Grundstückskauf und die Errichtung des Lagers hatte Ahlborn aus der Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Freideutschen Jugend sowie aus freideutschen Kreisen rund um die DAF und den BDW erhalten.
9.2 Programm Nach der vollständigen Instand- und Inbetriebsetzung von ehemaligen Militärgebäuden eröffnete das Freideutsche Jugendlager Klappholttal zur Sommersaison 1920 zunächst unter dem provisorischen Namen „Freideutsches JugendFerienlager Sylt“ als Erholungsstätte für freideutsche Kriegsheimkehrer und Urlauber sowie für der Freideutschen Jugend nahestehende lebens- und kulturreformerische Kreise aus der bürgerlichen Jugendbewegung. Mit großer Euphorie stellte Ahlborn im April-Heft der Freideutschen Jugend erstmals den Zweck des Freideutschen Jugendlagers als Sammlungs-, Bildungs- und Kultivierungsstätte eines spezifisch freideutschen Menschentypus vor: Wir haben noch eine ganz große Hoffnung mit Klappholttal. Noch nie hatte die Freideutsche Jugend Gelegenheit, einmal längere Zeit, frei von Alltagssorgen, zum seelischen Sichfinden – seit dem Hohen Meißner. Immer kam man gerade bis zum Saume des Wesentlichen, dann musste man auseinander. Hier aber wird man den Alltag-Staub gänzlich abschütteln können, hier sich restlos auf die großen Aufgaben einstellen, die unserer Freideutschen Bewegung beim Aufbau der neudeutschen Volksgemeinschaft noch gestellt sind. Hier kann endlich eine Pflanzstätte für wahre Kultur aus dem Geiste der Jugend heraus entstehen. Auf, freideutsche Menschen, rüstet euch für diesen Sommer auf Sylt. Bringt alle eure guten Geister und die gleiche Liebe zur Gestaltung eines sinnvollen Lebens mit, die euch dort erwartet.386
Das Lager sollte innerhalb der Freideutschen Bewegung und übergeordnet für die Gesellschaft eine klare Funktion erfüllen, die an die kulturell begründete und insbesondere in den akademischen Freischaren gewachsene gesellschaftliche Verantwortungsethik der Freideutschen angelehnt war. Der freideutsche Selbst-
385 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35. 386 Ahlborn, Freideutsches Ferienlager auf Sylt, S. 149.
176 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 bildungsgedanke, den die Freischaren schon früh in einen gesellschaftlich-kulturellen Funktionszusammenhang gestellt hatten, sollte in Klappholttal verwirklicht, im Hinblick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen weiterentwickelt und das Lager zu einer freideutschen Mustersiedlung ausgebaut werden. Zum einen bot die natürliche räumliche Abgeschiedenheit auf der Insel Sylt, auf der das mitten in den Dünen eines Naturschutzgebietes gelegene Klappholttal eine eigene Insel bildete, einen freien und positiv besetzten Lebens- und Entwicklungsraum. Zum andern schuf Klappholttal einen intellektuell-kulturellen Lebens-, Bildungs- und Ordnungsrahmen, in dem selbstbestimmt, eigenverantwortlich und in Gemeinschaft eigene Normen, Werte und soziale Praktiken entwickelt, diskutiert und erprobt werden konnten. Durch Gymnastik und Volkstanz, eine Lebensweise im Einklang mit der Natur und die intellektuelle Auseinandersetzung mit philosophischen, künstlerischen und religiösen Fragen und Systemen sollte Klappholttal nicht nur der Entwicklung neuer Subjektivierungs- und Gemeinschaftsformen, sondern auch der Entwicklung neuer geistigkultureller und moralischer Orientierungen dienen, die die freideutsche Führungselite ausmachen sollten. Nicht nur in erziehungspraktischer, sondern auch in kultureller Hinsicht begriff Ahlborn Klappholttal als Zukunftsprojekt. Er war fest davon überzeugt, dass das in Klappholttal verwirklichte Programm mittelund langfristig nicht nur zur Entwicklung einer künftigen gesellschaftlichen Führungselite, sondern auch zur kulturellen, moralischen und gesellschaftlichen Erneuerung beitragen würde.387 Für die Nachkriegszeit sah Ahlborn ein weiteres Ziel Klappholttals darin, „den ehemals in den freideutschen Bünden und Organisationen zusammengehaltenen“, seit der Kriegs- und Revolutionszeit allerdings in alle Richtungen und „Winde zerstreuten Gliedern der freideutschen Bewegung“ und darüber hinaus all ihren Freunden – ganz im Stile der Geselligkeitspraxis der Freischaren – „wieder eine Möglichkeit intensiven geistigen Austausches und wechselseitiger seelischer Bereicherung zu geben“.388 Der kulturelle Wiederaufbau Deutschlands, um den sich die Freideutschen vor dem Hintergrund der politischen Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg sorgten, sollte in Klappholttal ohne Verzögerung und unabhängig von der politisch-wirtschaftlichen Entwicklung der Republik exemplarisch verwirklicht werden. Insofern stellte Klappholttal eine Experimentierstätte des gesellschaftlichen Neuaufbaus Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg dar.
387 Vgl. Knud Ahlborn: 50 Jahre Nordseeheim Klappholttal. Eine Chronik, in: Nordfriesland 45 (1969), H. 11, S. 155–163, hier S. 163. 388 Knud Ahlborn: Das Freideutsche Lager Klappholttal auf Sylt, in: Sonderabdruck aus Pädagogische Warte 33 (1926), H. 21, S. 1–4, hier S. 2.
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In seiner Programmschrift „Klappholttal. Die Idee eines Jugendlagers“389 von 1921, in der Ahlborn seine zentralen Ideen einer freideutschen Heimvolkshochschule entfaltet, stellte dieser heraus, dass es den Freideutschen in Klappholttal vor allem darum gehen müsse – und dabei zog er einen deutlichen Trennstrich zu den „Fluchtmotiven“ und zur introvertierten sozialen Praxis des Wandervogels –, „mit der Gegenwart und ihrer Kompliziertheit, mit ihren Kämpfen und ihren Zukunftsforderungen sich auseinanderzusetzen und innerlich fertig zu werden“. Als „eine von den wenigen sicht- und greifbaren Einrichtungen“, die sich im Nachkriegsdeutschland durchgesetzt hätten, sollte Klappholttal ein Ort der kulturellen, sozialen und politischen Aushandlung, der individuellen Selbstvergewisserung sowie der gemeinschaftlichen Verständigung sein. Die Idee des freideutschen Ferienlagers, das Ahlborn als „Frucht der Jugendbewegung“ betrachtete, stand für ihn in direktem Zusammenhang mit „der Idee der Jugendbewegung“, zumindest mit jenem Zweig, der nach seiner Ansicht den „aktiven, männlichen, aufbauenden Geist“ innerhalb der Jugendbewegung verkörperte,390 womit er explizit die freideutsche Entwicklungslinie, insbesondere den BDW und die DAF meinte.391 Nach der Vorstellung Ahlborns sollte Klappholttal eine freideutsche Bildungs- und Begegnungsstätte sowie ein Sammlungs- und Konzentrationspunkt freideutscher Ideen sein und an die „aufbauenden Zielsetzungen“392 der Freischaren vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen. In dem Lager, das im Sinne der Völkerverständigungsidee als Treffpunkt der deutschen und der europäischen Jugend fungieren sollte, sah er die äußeren Rahmenbedingungen geschaffen, um sich geistig auszutauschen und Lösungen für gesellschaftliche Problemstellungen zu entwickeln. In gemeinsamer Arbeit und Vermittlung sollte in Klappholttal die von den Freideutschen angestrebte Neuordnung der Gesellschaft vorbereitet und sich über praktische Wege und Ziele verständigt werden. Leitend sollte dabei die Verpflichtung gegenüber der gesamten Menschheit, dem eigenen Volk und dem Gemeinwohl sein.393 Die produktive Denk- und Arbeitsatmosphäre des Lagers sollte seine Gäste dazu einladen, über die vielfältigen gesellschaftlichen Probleme und Herausforderungen nach dem Ersten Weltkrieg und den Staat der Zukunft nachzudenken. Es richtete sich an all jene Personen und Kreise, die an die „Macht geistiger Kräfte“ glaubten, die „plumpen Mittel körperlicher Gewalttätigkeit als das erforderliche Neue hindernd“ erkannt hatten und aus der Erkenntnis ihrer „Verflochtenheit und Verpflichtung gegenüber der Volks- und
389 Knud Ahlborn: Klappholttal. Die Idee eines Jugendlagers, Hamburg 1921. 390 Ebd., S. 1. 391 Vgl. ebd., S. 2. 392 Ebd. 393 Vgl. ebd., S. 15–16.
178 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Menschheitsgemeinschaft das Gemeinwohl im Auge“ hatten. Bei aller Offenheit auch gegenüber der proletarischen Jugend betrachtete Ahlborn die Freideutschen dabei nach wie vor als zur „Führung vorausbestimmte Gruppe“.394 Im Mittelpunkt der Arbeit Klappholttals, das eine Stätte der „Menschenbildung aus dem Geist jugendlichen Gemeinschaftslebens“395 sein sollte, stand der den Freideutschen eigene sozialpraktische Impetus zu gesellschaftlicher Mitgestaltung und -verantwortung. Dieser Gestaltungsimpetus wurde in Klappholttal mit dem Geist der nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden internationalen Friedensbewegung verquickt, für die Klappholttal im deutschen Zusammenhang in den 1920er Jahren sowie auch nach 1945 eine zentrale Anlaufstelle war. Von hier wurde intensiv über eine neue Friedens- und Weltordnung nachgedacht.396 Der europäische Friedensgedanke im Sinne der frühsozialistischen Friedensidee, der auch dem Leitbild der Zeitschrift Junge Menschen entsprach, spiegelte die generelle politische Ausrichtung Klappholttals sowie des von Ahlborn in seiner programmatischen Schrift „Freideutsche Jugend und Menschheitsgedanke“397 sogenannten „menschheitlichen“ Flügels der Freideutschen wider. Dieser wurde nach dem Ersten Weltkrieg programmatisch maßgeblich von Walter Hammer, Ferdinand Goebel, Fritz Klatt und Ahlborn geprägt, die frühsozialistische Ideale mit dem christlichen Menschheitsgedanken zu einem eigenen Konzept vermischten, das die Interessen von Volk, Staat und Globalgesellschaft berücksichtigte. Der in Klappholttal geprägte menschheitliche Universalismus entsprach nach 1918 einem faktischen Universalismus zunehmender globaler wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtung und knüpfte im Sinne des aufgeklärt-menschheitlichen Universalismus Kants und Lessings normativ an einen Menschheitsbegriff an, der die Menschheit als ein einziges Beziehungsgeflecht verstand. Als Lagerleiter war Ahlborn davon überzeugt, dass der gesellschaftliche Neuaufbau nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Ersten Weltkrieg nur eingebettet in eine internationale Völker- und Friedensordnung gelingen konnte.398 Für diese Ziele sollte in Klappholttal das geeignete Zukunftspersonal entwickelt werden, für das Ahlborn in seinem Programm Merkmale einer idealty-
394 Ahlborn, Klappholttal, S. 15–16. 395 Ebd., S. 16. 396 Vgl. dazu Jörg Wollenberg: Bildung als antizivilisatorische Protestbewegung: Lebensreform und Jugendbewegung – die Volkshochschule Klappholttal auf Sylt 1918–1945, in: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 12 (2001), H. 1–4, S. 100–125; Walter Fabian/Kurt Lenz (Hrsg.): Die Friedensbewegung. Ein Handbuch der Weltfriedensströmungen der Gegenwart. Reprint des 1922 in Berlin erschienen Handbuchs mit einem aktuellen Vorwort von Walter Fabian, Köln 1985, S. 296–297. 397 Knud Ahlborn: Freideutsche Jugend und Menschheitsgedanke, 1920 (AdJb N 2/35). Auch abgedruckt in: Kindt, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, S. 193–197. 398 Vgl. ebd.
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pischen freideutschen Erziehung entwarf. Grundlegend für die kulturelle Praxis des Lagers waren nach wie vor die Idee der Selbstreform und der gemeinschaftlichen Selbstbildung, die Entwicklung neuer konstruktiver Formen von Geselligkeit zur gegenseitigen Weiter- und Charakterbildung, intellektuelle Gruppenarbeit in Form von Freundes-, Diskussions- und Arbeitskreisen, in denen die politischen, ökonomischen, philosophischen, sprachlichen und religiösen Grundlagen der Gesellschaft kritisch hinterfragt werden sollten, sowie die Auseinandersetzung mit den Weltreligionen und philosophisch-religiösen Weltanschauungslehren.399 Ahlborns Idee einer freideutschen Elite lässt nicht nur das Bestreben erkennen, Klappholttal zu einem Zentrum freideutschen Gemeinschaftslebens auszubauen, das Verständigung und Zusammenhalt der Freideutschen Bewegung fördern sollte, sondern auch zu einer für die Weimarer Zeit typischen Heimvolkshochschule, deren zentrale Gemeinschaftsaufgabe die konstruktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemstellungen und Aufgabengebieten der Zeit sowie die kritische Aufklärung mit dem Ziel der geistigen, kulturellen und sozialen Entfaltung der Besucher sein sollte.400 Klappholttal wurde deswegen als soziale Begegnungsstätte konzipiert, die nicht einseitig einer Gruppe, Partei oder Religionsgemeinschaft verbunden sein sollte, sondern – dem gesellschaftlichen Verantwortungsdenken der Freideutschen entsprechend – sämtlichen Gesellschaftsgruppen und Personenkreisen offenstand. Mit dem für Klappholttal entwickelten pädagogisch-weltanschaulichen Konzept einer freideutschen Bildungs- und Erholungsstätte wurde Klappholttal in den 1920er Jahren nicht nur zu einer vom Land geförderten Jugend- und Erwachsenenbildungsstätte, sondern Ahlborns Erziehungsideen wirkten sich auch innerhalb der Volks- und Volkshochschulbildung aus. Im Rahmen der ersten Lauensteiner Tagung im Mai 1917 hatte Ahlborn Kontakt zum bekannten Reformpädagogen Eduard Weitsch geknüpft, der 1920 die Heimvolkshochschule Dreißigacker gründete und sich in seinen Programmschriften „Was soll eine deutsche Volkshochschule sein und leisten?“ (1918) sowie „Zur Sozialisierung des Geistes“ (1919) mehrfach direkt auf die kulturreformerischen Ideen der Freideutschen bezog. Mit dem Gebot der praktischen Toleranz und mit seinem kulturelitären Konzept der Volksbildungsarbeit, das sich an die besten und fähigsten Kräfte der werktätigen Jugend richtete, schloss Weitsch an das pädagogisch-kulturelle Programm Klappholttals an.401
399 Vgl. dazu Ahlborn, Klappholttal, S. 3–8, 16. 400 Vgl. das Nachwort von Manfred Wedemeyer in: Knud Ahlborn: Klappholttal. Die Idee eines Jugendlagers (Hamburg 1921). Neuausgabe, hgg. von Manfred Wedemeyer, Westerland 1989, S. 20–21. 401 Vgl. Eduard Weitsch: Was soll eine deutsche Volkshochschule sein und leisten?, Jena 1918,
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9.3 Praxis Am Ende der ersten Sommersaison 1920 verzeichnete Klappholttal trotz erheblicher finanzieller und organisatorischer Schwierigkeiten ca. 800 Besucher im Alter von 17 bis 30 Jahren, die sich überwiegend aus Mitgliedern der Freideutschen Jugend sowie aus Gruppen und Kreisen verschiedener kultureller und politischer Ausrichtung zusammensetzten. Im Sinne der freideutschen Idee trafen kommunistisch, sozialistisch, demokratisch, menschheitlich und völkisch orientierte Personenkreise in Klappholttal aufeinander.402 Ahlborn gab im Herbst 1920 die Führung des Hamburger Jugendverbandes ab und siedelte mit Frau und Kindern nach Sylt über, um dort in Zusammenarbeit mit dem im November 1920 gegründeten Lager-Verwaltungsrat um Ferdinand Goebel die vollständige Leitung Klappholttals zu übernehmen und das Projekt voranzutreiben.403 Der als Verein gegründete siebenköpfige Verwaltungsrat bestand unter anderem aus Ahlborn, Alma de l’Aigle, Gerhard Fils sowie Goebel als Vorsitzendem. Während Ahlborn sich um das operative Tagesgeschäft kümmerte, lag die Gesamtleitung bei Goebel, der – mit nur kurzer Unterbrechung – bis in die 1970er Jahre Vorsitzender des Verwaltungsrats blieb und Klappholttal juristisch vertrat.404 Zu den ersten Mitarbeitern gehörten auch Fritz Westendorf, Geschäftsführer der Hamburger Freideutschen Arbeitsgemeinschaft, der auch Goebel angehörte, und der ehemalige Wandervogelführer Albert Pinks.405 Um die Aufnahmekapazitäten Klappholttals dauerhaft ausnutzen und das Projekt finanzieren zu können, wurde dem zunächst nur als freideutsches Feriendomizil konzipierten Lager Ende 1920 ein Kindererholungsheim angegliedert, das kommunalen, staatlichen wie privaten (Fürsorge-)Stellen Erholungsplätze anbot und – trotz anfänglicher Schwierigkeiten langfristige Kooperationspartner zu finden – zum wirtschaftlichen Standbein Klappholttals wurde. Ahlborn betätigte sich als Lagerarzt und unterhielt daneben bis 1962 eine eigene Praxis in seinem Wohnort Kampen, deren Einnahmen bei der Finanzierung Klappholttals halfen. bes. S. 7–9; Ders.: Zur Sozialisierung des Geistes. Grundlagen und Richtlinien für die deutsche Volkshochschule, Jena 1919, bes. S. 31–33. Ferner Josef Olbrich: Konzeption und Methodik der Erwachsenenbildung bei Eduard Weitsch, Stuttgart 1972, bes. S. 12; Ders.: Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der dt. Erwachsenenbildung, Berlin 1970. 402 Vgl. Goebel, Ansprache am 75. Geburtstag Knud Ahlborns, S. 140. 403 Vgl. Rundschreiben des Verwaltungsrates in Klappholttal, vertreten durch Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, mit dem Titel: „An die Syltfahrer des Jahres 1921“, 1921 (AdJb N 123/22). 404 Sachliche Richtigstellung Ferdinand Goebels zum Protokoll der Gründungsversammlung des Verwaltungsrats für das Jugendlager Klappholttal vom 13.7.1959 (AdJb N 2/68). 405 Ahlborn, Die Zeit von 1919–1927; Ahlborn, Lebenslauf, S. 121–123; Mitteilung an die Freideutsche Jugend und ihre Freunde in Sachen Klappholttal, 1920 (AdJb N 2/29); Chronik Klappholttal August 1919 bis Dezember 1922, Abschrift Knud Ahlborns vom 16.7.1959 (AdJb N 2/68).
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In den 1920er Jahren sah sich der Verwaltungsrat des Lagers vor der ständigen Herausforderung, aufgrund immer wieder auftretender Versorgungsengpässe und Finanzierungsschwierigkeiten neue Mittel und Wege der Kapitalakkumulation und Versorgung finden zu müssen, die Klappholttal eine Weiterexistenz – insbesondere in den Inflationsphasen der Weimarer Republik – ermöglichten. Dieses wurde vor allem durch den Aufbau eigener Wirtschaftsund Versorgungsbetriebe und die Gründung einer Werkgenossenschaft gewährleistet. Die pragmatischen Finanzierungs- und Belegungslösungen ermöglichten es, Klappholttal nach und nach zu der von Ahlborn erstrebten zentralen Begegnungsstätte der Freideutsche Bewegung auszubauen, an der vor allem in den Sommermonaten an den gesellschaftsreformerischen Plänen der Freideutschen gearbeitet wurde. Seit der Eröffnungssaison 1920 stellte das freideutsche Ferienlager seine Räumlichkeiten Gästen für Volkshochschulkurse, Ferienakademien, Tagungen und ähnliche Arbeitsformen zur Verfügung. In der Hochsommerzeit wurden in Klappholttal regelmäßig Arbeitsgemeinschaften und Kurse, sogenannte „Arbeitswochen“ oder auch „Freideutsche Wochen“, für die Angehörigen der Freideutschen Bewegung veranstaltet. Die Tagungen zielten darauf, den über ganz Deutschland verstreuten Freideutschen eine feste Anlaufstelle sowie ein Dialogund Austauschforum zu bieten, das räumlich in bewusster Distanz zum gesellschaftlichen Alltag und politisch-sozialen Problemlagen stand. Vor allem die Treffen im Sommer entwickelten sich zu richtunggebenden Großtagungen, auf denen Angehörige und Gruppen her der Freideutschen Bewegung die Probleme der Völkerverständigung, der Religion und Weltanschauung, der sozialen Neuordnung und der gesundheitsgemäßen Lebensführung durcharbeiteten. Die Entscheidung, Klappholttal zum geistig-kulturellen Zentrum der Freideutschen Bewegung auszubauen, folgte neben sozial- und gruppenpsychologischen auch starken symbolischen Motiven, da dessen dem politisch-gesellschaftlichen Alltag der Weimarer Republik entrückte Lage den Einritt in einen geschützten Dialograum bedeutete, dessen Verständigungsgebot sich auf räumlicher Ebene widerspiegelte. Insofern entsprachen Lage und Rahmen des Freideutschen Jugendlagers den Vermittlungsmotiven des humanistisch-menschheitlich orientierten Teils der Freideutschen, der anschaulich vom Klappholttaler Freundes-, Arbeits- und Gesinnungskreis repräsentiert wurde. Klappholttal sollte auch in dieser Hinsicht einen Neuanfang der Freideutschen Bewegung sein. Daneben fungierte das Lager als Kultivierungsstätte einer idealen freideutschen Lebensund Gemeinschaftspraxis, als Musterlager freideutscher Weltanschauungs-, Bildungs- und Erziehungsgrundsätze. Hier sollte die freideutsche Idee in Reinform zur Anwendung kommen und die Entwicklung eines freideutschen Menschentypus weitergeführt werden, der als exemplarisches Lebensmodell in die Freideutsche Bewegung und davon ausgehend in die Gesellschaft ausstrahlen sollte.
182 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Klappholttal war nicht nur das Zentrum freideutscher Reorganisations- und Konsolidierungsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, sondern etablierte sich langfristig als kulturell-sozialer Fixpunkt der freideutschen Kreise. Die Freideutschen hatten sich nach 1919/20 gespalten und waren eher informell und dezentral organisiert, verfügten grundsätzlich über keine festen Organisationsstrukturen und wurden so in erster Linie von einzelnen, mal mehr, mal weniger miteinander verbundenen, über ganz Deutschland verteilten Ortsgruppen getragen. Klappholttal fungierte als deren Verbindungsglied. Auf diese Weise wurde das Insellager zu einem der geistig-intellektuellen Zentren der Freideutschen in der Weimarer Republik. In konstruktivem Rahmen nahmen hier die weitreichenden kultur- und sozialreformerischen Pläne der Freideutschen konkrete Gestalt an. Hier formierten sie sich als kulturelle Führungselite und bereiteten sich geistig und intellektuell auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben vor. Die seit 1922 auch in Klappholttal stattfindenden Treffen des 1921 von Knud Ahlborn und dem inzwischen prominenten Alkoholgegner Ferdinand Goebel initiierten Freideutschen Bundes406 zielten zunächst einmal darauf, „die wesensverwandten, in der Weltanschauung und der allgemeinen kulturpolitischen Grundrichtung übereinstimmenden, aus der freideutschen Jugend-Bewegung herausgewachsenen reiferen Menschen in einer praktischen Arbeitsgemeinschaft“407 zu verbinden. Die vornehmliche Aufgabe des Bundes sollte darin liegen, die freideutsche Idee in konkreten kulturpolitischen Richtlinien zu fassen und diese in die Gesellschaft hinauszutragen.408 Der Bund, der nach eigenem Verständnis den geistig-intellektuellen Kern der Freideutschen Bewegung in der Tradition des Hohen Meißners bildete, sollte sich regelmäßig in Klappholttal einfinden, um an der Ausarbeitung klarer kulturpolitischer Richtlinien im Hinblick auf den angestrebten kulturellen Neuaufbau Deutschlands zu erarbeiten. Entsprechend der veränderten Altersstruktur der Freideutschen verstand sich der Bund nicht mehr als locker organisierter Zusammenschluss, wie es für die freideutschen Jugendkulturen vor dem Ersten Weltkrieg typisch gewesen war, sondern agierte als geschlossener Bund mit einer detailliert ausgearbeiteten Verfassung. Seine Mitglieder begriffen sich nicht mehr als Teil einer jugendlichen Selbstbildungsgemeinschaft, sondern – ihrem Alter angemessen – als Lebens- und Verständigungsgemeinschaft, auf der Suche nach einer klaren politischen Position und konkreten politischen Zielen.409
406 Zum Freideutschen Bund AdJb N 2/ 25–27, sowie die Satzungen des Freideutschen Bundes e.V. (AdJb N 2/ 25). 407 Der Freideutsche Bund und seine Verfassung (AdJb N 2/25). 408 Vgl. Aufruf von Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, Februar 1922 (AdJb N 2/26). 409 Weiterführend zum Freideutschen Bund s. u. S. 204–206.
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Der engere Kreis des Bundes um Ahlborn und Goebel bestand im Kern aus etwa 90 Personen, darunter hauptsächlich ehemalige Angehörige der Freideutschen Jugend und der Freischaren, unter anderem Rudolf Carnap, Wilhelm Flitner, Walter Fränzel, Gustav Franke, Walter Hammer, August Messer, Hermann Kölln, Meinhard Hasselblatt und Ernst Foerster.410 Zum erweiterten Kreis des Bundes gehörten die Mitglieder von 26 Einzelgruppen und -bünden, zu denen neben der DAF, dem BDW sowie dem Österreichischen Wandervogel und dem Alt-Wandervogel auch die protestantische Neuwerk-Bewegung, der Bund der Köngener, die Freie proletarische Jugend, die Freie aktivistische Jugend, die Freie anthroposophische Jugend, die Wehrlogen des deutschen Guttemplerordens sowie ferner diverse andere Gruppierungen aus dem Umfeld der Wanderund Pfadfinderbewegung und der sozialistischen bzw. proletarischen Jugendbewegung der Weimarer Republik gehörten.411 1921 organisierte Klappholttal ein internationales Jugendtreffen, das der Völkerverständigung innerhalb der Jugendgenerationen dienten sollte und in dieser Hinsicht das Bestreben des humanistisch-menschheitlichen Flügels um Ahlborn, Goebel, Klatt und Hammer widerspiegelte, das im Freideutschen Bund institutionalisiert und in dessen Programm systematisiert wurde. Von 1921 bis zu seiner Auflösung in der Inflationszeit 1924 fanden in Klappholttal außerdem in den Sommern mehrere Zusammenkünfte des Bundes im Rahmen Freideutscher Wochen statt, der dort konkrete kulturelle bzw. pädagogische, politische und wirtschaftliche Richtlinien zur Errichtung eines deutschen Kulturstaates unter der Prämisse einer gleichberechtigten und stabilen internationalen Völker- und Friedensordnung erarbeitete. Auf den Treffen debattierte man unter anderem über die religiösen Grundlagen, die pädagogische und politische Richtung sowie die kulturellen Handlungsmöglichkeiten des Bundes – z.B. auf dem Gebiet der Volkshochschulen und der Reformpädagogik. Neben Vorträgen namhafter Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich und (Reform-)Pädagogen wie Wilhelm Flitner und Otto Haase, die auf der Freideutschen Woche 1922 über ihre Arbeit in der Jenaer Volkshochschule bzw. in der Werk- und Tagesschule des Lietzschen Landerziehungsheims in Haubinda referierten, waren die einwöchigen Treffen in ein festes Morgen-, Nachmittags- und Abendprogramm unterteilt, zu dem neben der inhaltlichen Arbeit auch Wanderungen, Gedichtrezitationen – z.B. von Goethe und Fichte –, gymnastische Übungen, Tanz- und Liederabende, Theater- und Choraufführungen, Märchenstunden, musikalische Unterhaltung und gemeinsames Singen gehörten.412
410 Namensliste des engeren Kreises des Freideutschen Bundes (AdJb N 2/27). 411 Mitgliederliste der im Freideutschen Bund assoziierten Gruppen, 1923 (AdJb N 2/27). 412 Vgl. Vorläufiges Programm Freideutsche Woche Klappholttal 1922, Sylt 1922 (AdJb N 2/72).
184 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Die im Rahmen des Freideutschen Bundes in Klappholttal erdachte kulturelle, politische und wirtschaftliche Neuordnung folgte damit im Kern den Grundsätzen und Motiven freideutschen Gemeinschaftslebens, wie sie die Freideutschen seit Beginn des 20. Jahrhunderts als kulturelle Zielvorstellungen geprägt hatten. Der Bund verknüpfte kulturkritisch-antikapitalistische Motive mit sozialistischen Kernforderungen, wie sie vom linken Flügel der Freideutschen Bewegung, beeinflusst auch von der proletarischen Jugendbewegung, seit 1917 und insbesondere auch nach dem Ersten Weltkrieg vertreten wurden. Bei den Freideutschen lässt sich in der frühen Weimarer Republik eine aktive Verknüpfung von kulturellem und politischem Erneuerungsdenken zu einer konkreten kulturpolitischen Agenda im Hinblick auf das Ziel eines zu verwirklichenden deutschen Kulturstaats und einer alle Kulturstaaten verbindenden internationalen Friedensordnung feststellen, wobei die Freideutschen den werdenden deutschen Kulturstaat maßgeblich mitgestalten wollten. Die vom Bund entwickelten Ideen und Zukunftsentwürfe eines neu gegliederten Bildungswesens, einer neu geformten Jugendarbeit, einer neuen Volkswirtschaft, einer von kulturellen Zielen bestimmten Politik sowie nicht zuletzt einer neuen Kirche, sollten in dieser Hinsicht wegweisend sein und die kulturpolitische Profilierung der Freideutschen im aufzubauenden Weimarer Kulturstaat sichern.413 Bis zum Jahr 1926 verbrachten rund 4500 Jugendliche sowie etwa 2500 Kinder Erholungs- und Bildungsurlaub in Klappholttal. Die erwachsenen Gäste hielten sich in der Regel für zehn bis vierzehn Tage in Klappholttal auf, um sich bei einfacher Lebensweise und anspruchsvollen Programmangeboten zu erholen und am regen freideutschen Gemeinschaftsleben teilzunehmen, und – wenn der Wille dazu bestand – an der Ausarbeitung größerer gesellschaftlicher Ideen mitzuwirken. Seit 1921 organisierte das Nordseelager für seine Gäste außerdem zahlreiche Vorträge und Lehrgespräche mit freier Aussprache, die im Rahmen von Freideutschen Wochen, aber auch zu den Urlaubszeiten täglich bis wöchentlich stattfanden und wie Volkshochschulkurse funktionierten. Neben allgemein Orientierung gebenden Vorträgen über politische und historische Fragen namhafter Universitätsprofessoren aus dem Bereich der Geistes-, Kultur-, Rechts-, Religionsund Naturwissenschaften wurden in Klappholttal auch Vorträge zur Volkskunde, Geschichte und Geologie sowie der Flora und Fauna Sylts, des Wattenmeeres und der Strandlandschaft – verbunden mit Exkursionen, Bootsfahren und Fischzügen – sowie über gesundheitsgemäße Lebensführung, Grundprobleme der Biologie, Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers, Ernährung und die Sexual- und Alkoholfrage veranstaltet. Einen Großteil dieser Vorträge gestalteten
413 Vgl. Kulturpolitische Richtlinien des Freideutschen Bundes, überschrieben mit: „Der Freideutsche Bund“, 1922 (AdJb N 2/25), S. 5–6.
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Ferdinand Goebel und Knud Ahlborn selbst, immer wieder ergänzt durch wissenschaftliche Gastvorträge von Medizinern, Botanikern, Geologen und Volkskundlern verschiedener Universitäten, Lehranstalten und Institutionen. Fester Bestandteil des Bildungsprogramms waren auch östliche Philosophien wie der Daoismus, weil diese im Gegensatz zu den christlichen Religionen Europas den Vorteil hatten, nicht durch den Ersten Weltkrieg und die traditionelle bürgerliche Kultur belastet zu sein und sich deswegen für die Entwicklung neuer ethischmoralischer Grundlagen anboten. Körperkultur und körperliche Ertüchtigung nahmen in Klappholttal eine wichtige Stellung ein. Kontrolle, Training und Gesunderhaltung des Körpers galten als Voraussetzung für die Entwicklung einer neuen Lebenspraxis und den kulturellen Neuaufbau der Gesellschaft. Zur sozialen Praxis Klappholttals gehörte deswegen eine integrierte Freikörperkultur, die sich durch tägliche Gymnastik und sportliche Übungen sowie Wasser-, Wind- und Sonnenbäder auszeichnete. Nacktbäder in Wasser und Sonne gehörten in Klappholttal zur natürlichen Lebensgestaltung und prägten dessen äußeres Erscheinungsbild. Bewegungstherapie, Gymnastik und Freikörperkultur standen gleichberechtigt neben musischer Erziehung, Laienspiel und Gesellschaftstanz, Studienwochen für klassische und moderne Musik, sowie Vortragszyklen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Literatur, Heimatkunde, Naturwissenschaften und Pädagogik, die in der Sommersaison häufig den roten Faden für eigenständige Studien- bzw. Hochschulwochen bildeten. Daneben gab es auch künstlerische Veranstaltungswochen und Kurse, unter anderem Sing-, Laienspiel-, Sprach- und Körperschulungswochen, regelmäßige Gymnastik-, Volkstanz- und Gesellschaftstanzkurse sowie musikalische Gastspiele, Klavier- und Kammermusikaufführungen renommierter Musikwissenschaftler und Konzertmusiker. Zur zusätzlichen Unterstützung der kulturpolitischen Arbeit und des kulturellen Angebots in Klappholttal wurde im Sommer 1928 der Klappholttaler Bund gegründet.414 Bis zum Ende der Weimarer Republik fanden in Klappholttal regelmäßig Freideutsche Wochen mit jeweils unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten statt, die neben kulturellen und künstlerischen, vor allem kulturpolitischen Hintergrund hatten und von der tätigen Auseinandersetzung der Freideutschen mit der Idee eines deutschen Kulturstaats zeugten. Neben der generellen Frequentierung durch Angehörige freideutscher Kreise sowie durch Personen aus dem Kultur- und Bildungsbereich und der Vorkriegsjugendbewegung, prägten insbesondere die kulturpolitisch orientierten, nicht selten auf Eigeninitiative von Gästen ins Leben gerufenen freideutschen Arbeitsgemeinschaften die kulturelle Arbeit Klappholttals. Im Rahmen der freideutschen Arbeitswochen und -gemein-
414 Satzungen des Klappholttaler Bundes, 13.8.1928 (AdJb N 2/70).
186 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 schaften hielten renommierte Wissenschaftler regelmäßig Schlüsselvorträge über politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Themen. Gemeinsame Verständigungsbasis des freideutschen Selbstbildungsprogramms war die Weimarer Verfassung Die politische Toleranz, die zum Selbstverständnis der in Klappholttal engagierten Freideutschen gehörte, bedeutete vor dem Hintergrund des politisch aufstrebenden Nationalsozialismus seit Ende der 1920er Jahre auch eine Grundaufgeschlossenheit gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie, mit der man sich zu Beginn der 1930er Jahre in Klappholttal im Rahmen von Vorträgen über die NS-Bewegung beschäftigte, die anfangs primär als „sittliche Erneuerungsbewegung“415 verstanden wurde. Viele Freideutsche konnten sich vor allem mit der anfänglich sozialistischen Linie des Nationalsozialismus sowie dem Volksgemeinschaftsdenken der Nationalsozialisten identifizieren. Mit dem nationalsozialistischen Gestus einer kulturellen Erneuerungsbewegung verbanden sie Hoffnungen, die im Schnittpunkt mit den allgemeinen Zielen der bürgerlichen Jugendbewegung lagen. Daraus erklären sich die Bemühungen der durch Klappholttal verbundenen Freideutschen, das nationalsozialistische Volksgemeinschafts- und Erziehungsdenken konstruktiv mit dem eigenen Ziel vom Aufbau einer Volksgemeinschaft auf kultureller Grundlage zu verbinden. Die kulturelle Praxis Klappholttals war bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 grundsätzlicher Ausdruck aktiver gesellschaftlicher und politischer Teilnahme der Freideutschen sowie eines hohen Maßes gesellschaftlichen Problembewusstseins und Verantwortungssinns. Das Projekt einer freideutschen Jugend- und Erwachsenenbildungsstätte wurde mit Einschränkungen und Zugeständnissen an den NS-Staat auch nach 1933 weiterverfolgt. Die Lagerleitung um Ahlborn, der 1934 in die SA eingetreten war und in Klappholttal in SA-Uniform auftrat, unterhielt pragmatische Nähe zu den staatlichen Organisationen, die für die Gleichschaltung Klappholttals zuständig waren. Sie passte die Satzung Klappholttals bis zu dessen Beschlagnahmung durch das Militär 1939 mehrfach an, änderte noch 1933 den Namen des Verwaltungsrates – des Trägervereins von Klappholttal – von „Jugendlager“ in „Nordseelager“, um der nationalsozialistischen Erziehungs- und Gleichschaltungspolitik keine Angriffsfläche zu bieten und übernahm einige nationalsozialistische Rituale in seine Alltagspraxis, sodass die Koexistenz von Sonnengruß und Fahnenappel unter der Hakenkreuzflagge die NS-Zeit in Klappholttal symptomatisch widerspiegelt. Die 1934 erfolgte Eingliederung in den Reichsbund für Volkstum und Heimat (RVH) wurde gegenüber Großorganisationen wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) als vorteilhaft einge415 1932 hielt August Messer in Klappholttal einen Vortrag mit diesem Titel. Vgl. Die Hauptveranstaltungen des Nordseelagers Klappholttal seit 1921 (AdJb N 2/73).
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schätzt, da diese alle bündischen Gruppen im Zuge der Gleichschaltung entweder auflöste oder verbot und deren lokale Vertretung das Lager mehrfach zu übernehmen suchte. Durch die enge organisatorische Anbindung an den RVH konnte Klappholttal zunächst weiterhin von staatlichen Kinder- und Jugendversendeprogrammen profitieren und zudem in Teilen seine Autonomie wahren. Nach der Auflösung des RVH 1935 wurde die Gemeinnützigkeit Klappholttals und damit auch dessen existenzielle Grundlage durch die NSV zwar mehrfach in Frage gestellt, das Lager blieb jedoch – wenn auch unter veränderten Vorzeichen – weiter bestehen.416 Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte Klappholttal wieder an seine Tradition als Ort der internationalen Friedensbewegung und der europäischen Völkerverständigung an. Auch im Hinblick auf die in den 1970er und 1980er Jahren aufkommende westdeutsche Umweltschutzbewegung und die sich formierenden Neuen Sozialen Bewegungen zeigte sich der bereits in den 1920er Jahren ausgehend von Klappholttal verwirklichte Natur- und Landschaftsschutz auf Sylt überaus fortschrittlich. Hier hatte Ahlborn 1924 den Verein Naturschutz Sylt e.V. und 1935 das vom Verein eingerichtete Naturschutzgebiet „Kampener Vogelkoje“ gegründet. Trotz generationsbedingter Irritationen – Kniebundhosen und Zupfgeigenhansl auf der einen, Jeans, Rock ’n’ Roll, Coca Cola und Studentenbewegung auf der anderen Seite – blieb Klappholttal auch nach 1945 ein Ort der interkulturellen Verständigung und gemeinschaftlichen Bildung, wenn auch die direkten freideutschen Bezüge nach dem Tod Ahlborns 1977 zunehmend in den Hintergrund gerieten, wiewohl der kulturpolitische Impetus und die kulturelle Praxis der Freideutschen nachhaltig auf das pädagogische Konzept Klappholttals wirkte.417
416 Zur NS-Zeit in Klappholttal vgl. Bacher/Schiller, 100 Jahre Klappholttal auf Sylt, S. 164–166, sowie StA HH Sig. 361–2 VI 1608. 417 Zur Entwicklung und zum pädagogischen Angebot Klappholttals vor und nach 1945 Bacher/Schiller, 100 Jahre Klappholttal; Manfred Wedemeyer: 75 Jahre Klappholttal auf Sylt, in: Die Heimat 101 (1994), S. 202–204; Manfred Wedemeyer: Tradition und Wandel. 75 Jahre Akademie Klappholttal, in: Nordfriesland 106 (1994), S. 14–16; Kurt Meissner: 75 Jahre Volkshochschulen in Deutschland. 75 Jahre Klappholttal 1919–1994, Münsterdorf 1994, 75 Jahre Volkshochschulen in Deutschland; Manfred Wedemeyer/Heinrich Heise: Volkshochschule Klappholttal. Akademie am Meer auf Sylt. 60 Jahre. 1919–1979, Westerland 1979.
10 Facetten politischen freideutschen Engagements in den politischen Umbrüchen vom Kaiserreich zur Republik Spuren und Formen freideutscher Politik418 waren im Vorhergehenden vielfach zu beobachten. Die generelle Distanz der Freideutschen gegenüber politischen Parteien bzw. Organisationen darf eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre lebens-, kultur- und sozialreformerischen Bestrebungen in ihrer Zielsetzung von Beginn an und durchgängig eminent politisch waren. Zwar verstand sich die Freideutsche Jugend zu keinem Zeitpunkt als politische Partei, auch wenn es gerade um 1918/19 von verschiedener Seite Bestrebungen gab, ihr eine stärkere parteipolitische Ausrichtung zu geben. Trotzdem fassten die Freideutschen ihre gesellschaftliche Aufgabe sehr wohl als politisch auf. Nicht von ungefähr galt politische Bildung in ihren Gemeinschaften als Pflichtaufgabe, empfanden sich ihre Angehörigen doch als Träger und Führer der künftigen Gesellschaft. Sie war Ausdruck freideutscher Verantwortungsintelligenz und spiegelt die politischkulturelle Gestaltungsabsicht des freideutschen Denkkollektivs wider. Gesellschaftliches Verantwortungsdenken und das Thema des Politischen waren untrennbar miteinander verwoben. Eine besondere Zäsur für die Freideutsche Jugend und freideutsche Politik generell stellt der Erste Weltkrieg und mehr noch die Revolution von 1918/19 dar. Beide Ereignisse beförderten nicht nur die Politisierung und politische Spaltung der Freideutschen Jugend, die die historiografische Perspektive auf das Politische bei den Freideutschen oft verengt, sondern motivierten nach Kriegsende zahlreiche politische Äußerungen, Eigeninitiativen und Gruppenaktivitäten. Diese waren nicht nur Ausdruck des Konflikts unterschiedlicher politischer Orientierungen und Lager innerhalb der Freideutschen Jugend zum Ende des Ersten Weltkriegs, sondern sind zuallererst als eigenständige Versuche praktischer politischer Einflussnahme und Mitgestaltung im Sinne der freideutschen Idee anzusehen. Im Hinblick darauf werden im Folgenden exemplarische Orte und Wege freideutscher Politik – manche davon wurden bereits kurz angerissen – nach dem Ersten Weltkrieg genauer betrachtet. Dabei handelt es sich durchweg um Beispiele, die mit dem linken und linksliberalen Spektrum verknüpft sind, der prägenden Richtung der Freideutschen Bewegung.419 418 Dazu auch Reinhard Preuß: Freideutsche Jugend und Politik – Politische Orientierungen und Manifestationen innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung 1913–1918/19, in: Stiftung Jugendburg Ludwigstein/Archiv der deutschen Jugendbewegung (Hrsg.), Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 16/1986–87, Burg Ludwigstein 1989, S. 229–240. 419 Für einen Überblick Wolfgang R. Krabbe: Freideutsche Spuren in der frühen Parteijugend (1918–1923), in: Judith Baumgartner/Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hrsg.), Aufbrüche, Seitenpfade, https://doi.org/10.1515/9783110783667-015
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Flügelbildung nach dem Ersten Weltkrieg Nach Kriegsende 1918/19 gestaltete sich Situation und Perspektive der Freideutschen Jugend unübersichtlich. Versuche, die seit Ende 1917 in drei Flügel gespaltene Bewegung420 personell und inhaltlich zusammenzuhalten und ihr mit dem Leitbild der Volksgemeinschaft eine einheitliche Richtung zu geben, vermengten sich vor dem Hintergrund der Revolution 1918/19 mit hitzigen Debatten um die zukünftige gesellschaftliche Rolle der Freideutschen. Es stellte sich die grundsätzliche Frage ihrer politischen Positionierung, im Zuge dessen sie ihre bis dahin weitgehende politische Isolierung stärker reflektierten und im Hinblick auf höhere gesellschaftliche Ziele überdachten. Einen eindeutigen Standpunkt gab es dazu in den Reihen der Freideutschen nicht, nur unterschiedliche Haltungen. Deutlich vor Augen stand jedoch allen die Aufgabe der Ausgestaltung der revolutionären Gesellschaft nach 1918, welche die gesellschaftliche Antrittssituation der Freideutschen bestimmte. Dass mit dem Kriegsende der Zeitpunkt gekommen war, den „Ausbruch ins Volk“421 zu wagen, darüber bestand weitestgehend Einigkeit, uneins war man sich indes über die Art und Weise. 1918/19 lassen sich unter den Freideutschen im Wesentlichen drei zentrale Ideenstränge ausmachen: (1) Ein großer Teil wollte sich nach wie vor nicht parteipolitisch vereinnahmen lassen und stattdessen versuchen, die freideutsche Idee in die Parteien hineinzutragen; (2) eine größere Gruppe linker Freideutscher spielte mit dem konkreten Gedanken, in eine der Linksparteien einzutreten und forderte die Freideutschen zum Kollektiveintritt auf; (3) und eine Minderheit plädierte sogar dafür, eine eigene Partei zu gründen.422 Die Zahl derer, die parteipolitisches Engagement in der einen oder anderen Weise befürworteten, darf allerdings nicht zu hoch eingeschätzt werden und nahm Ende 1919 schon wieder ab.423 Dagegen hatte die Jenaer Führertagung zu Jahresanfang 1919 die politische Spaltung der Freideutschen Jugend in eine Linke, die von Sympathisanten der sozialistischen Arbeiterbewegung bis zu Linksradikalen reichte, eine national und sozial bis völkisch eingestellte Rechte sowie eine humanistisch-menschheitlich und/bis demokratisch-sozialistisch orientierte Mitte gezeigt. Der linke Flügel der Freideutschen, der auch der freideutschen Mitte zuneigte, zeigte sich fasziniert vom revolutionären Proletariat und sann in Teilen auf eine Kulturrevolution in Schule und Hochschule, die die linksradikalen Freideutschen im Zuge der proletarischen Revolution verwirklichen wollten. Ihre politiAbwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004, S. 21–29. 420 S. o. S. 141. 421 Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 179. 422 Vgl. Krabbe, Freideutsche Spuren in der frühen Parteijugend (1918–1923), S. 22. 423 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Die gescheiterte Zukunft der Ersten Republik. Jugendorganisationen bürgerlicher Parteien im Weimarer Staat (1918–1933), Wiesbaden 1995, S. 43–44.
190 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sche Isolation hofften sie durch eine Kooperation mit der proletarischen Bewegung aufheben zu können. Die politische Revolution als Sache des Proletariats sollte im bildungsbürgerlichen Sinne unter Kontrolle gebracht und mit einer Kulturrevolution verbunden werden. Der Kampf gegen überlebte Formen und Normen der wilhelminischen Kultur wurde zum Kampf gegen den Kapitalismus bzw. zur Jugendrevolution umgedeutet und mit dem Jugendavantgardismus der proletarischen Jugend verknüpft.424 Letztlich wurden die revolutionären Ansätze und Radikalisierungsformen der freideutschen Linken, die sich primär im Zeitraum von 1918 bis 1921 vollzogen von den linken Parteien absorbiert. Spätere politische Gestaltungsversuche, wie etwa der Freideutsche Bund, verliefen sich entweder bzw. fanden zu anderen Formen oder wurden, wie der SilvesterKreis425, infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eingestellt. Deutlich wurde 1918/19 und in den darauffolgenden Jahren, dass die Freideutschen trotz aller politischen Bemühungen und Ambitionen keiner politischen Klasse angehörten und auf dem Gebiet der politischen/wirtschaftlichen Revolution und der Machtpolitik keine eigenen Traditionen (wohl aber Ideen) hatten. Als kulturelle Elite waren sie struktureller Teil der wilhelminischen „Gebildeten-Revolte“426 und sind dies auch nach 1918 weitgehend geblieben. Ihre Ziele und Strukturen eigneten sich nicht zur politischen Revolution und fanden deswegen auch keinen nachhaltigen Anschluss an sie. Nicht von ungefähr hatten die Freideutschen vor dem Ersten Weltkrieg primär an einer umfassenden Kulturreform im Bereich des Bewusstseins, der Lebensformen, der Erziehung und der Bildung gearbeitet und danach bald wieder daran angeknüpft. Der Großteil war und blieb der grundsätzlichen Überzeugung, dass die Politik „dem Menschen nicht die Erfüllung seiner tiefsten Sehnsucht“427 bringen konnte. Trotzdem verstand man es in der Mehrzahl als „unerläßliche Pflicht“ jedes Freideutschen, „nach Maßgabe seiner Fähigkeiten an der Gestaltung des öffentlichen Lebens“ mitzuarbeiten, womit die Ebene der politischen Mitgestaltung und der Gang in die Parteien direkt angesprochen war. Parteizugehörigkeit als praktische Möglichkeit, „freideutsche Gedanken in das Volksleben hineinzutragen“, betrachteten viele Freideutsche als legitime Form der gesellschaftlichen Beteiligung, wie Knud Ahlborn im Rahmen eines Vortrags im Frühjahr 1920 festhielt.428 Parteipolitisches Engagement verstanden die Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg zwar als notwendiges Erfordernis der Zeit, das bevorzugte Mittel der Wahl waren Parteien für einen Großteil der Freideutschen aber nach wie vor 424 Vgl. Ulrich Linse: Entschiedene Jugend 1919–1921. Revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung, Frankfurt/M. 1981, S. 133–135. 425 S. u. S. 210. 426 Linse, Entschiedene Jugend, S. 133. 427 Meinhard Hasselblatt, in: Ahlborn, Krieg Revolution und Freideutsche Zukunft, S. 34. 428 Knud Ahlborn: Angehörige aller Parteien, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 4, S. 148.
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nicht. In der Monatsschrift Junge Menschen konstatierte Ahlborn 1920 mit Blick auf das politische, vor allem sozialistisch-kommunistische Engagement vieler Freideutscher seit Kriegsende: Die Freideutschen sind voller Begeisterung in die Politik gegangen. Sie sind von allen Bürgerlichen wohl diejenigen gewesen, die am radikalsten […] die Neuordnung der Welt nicht nur mit Worten, sondern auch durch taten erstrebt haben. Aber – sie machten, wo immer sie mit der Praxis der Parteien in Berührung kamen, die Bekanntschaft mit unjugendlichen und im letzten Grunde doch kompromißlerischen Methoden und Menschen. Es darf wohl ruhig gesagt werden, daß, wo Freideutsche noch in Parteien arbeiten, sie dies bewußt als einen inneren Kompromiß erachten, ein kleineres Übel.429
Nicht aktive Politik, aber eine aktive und zielgerichtete Politisierung war nach 1918/19 die Intention der Freideutschen. Damit konnten und wollten sie sich dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend nach 1919 nicht entziehen, ganz im Gegenteil, sondern mit der freideutschen Idee Anschluss an das politische Denken und das politisch-kritische Potential der Zeit finden. Das Besondere dabei war allerdings, dass sie dies im Rahmen ihrer Gesinnungs- und Verantwortungsgemeinschaft und ihrer Denkkollektive zu verwirklichen suchten. Politischen Anschluss fand man nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere an die Strömungen des Demokratischen, Religiösen und Christlichen Sozialismus, von denen beeinflusst sich zahlreiche Freideutsche nach 1945/49 erfolgreich an der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Neuordnung bzw. Reformierung Deutschlands beteiligten. Hinter ihnen lag ein längerer Weg freideutscher Politisierung, Politik und Politikformen, von denen nachfolgend einige exemplarisch aufgriffen werden sollen.
10.1 Der Aufruf „An die Freideutsche Jugend“ 1918 Ein bedeutendes Zeugnis freideutscher Politik ist der bereits oben erwähnte, durch die Ausrufung der Republik motivierte Aufruf „An die Freideutsche Jugend“430 vom sogenannten „Revolutionssonntag“, dem 10. November 1918. In diesem forderten zwanzig junge Freideutsche im „Geist der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, der Liebe“ die gesamte Freideutsche Jugend zu einer Entscheidung für Demokratie und Sozialismus, für eine europäische Friedens- und Völkerrechtsordnung, also gegen Nationalismus, Klassenhierarchien und -denken und die kapitalistische Wirtschaftsordnung auf. Der nach Kriegsende für kurze Zeit in Berlin zusammengekommenen demokratisch-sozialistischen Gruppe junger freideutscher Studenten und Intellektueller ging es um eine neue Gesell429 Ahlborn, Hofgeismar. 430 Aufruf „An die Freideutsche Jugend“, Dezember 1918 (AdJb N 2/29). Näheres auch bei Preuß, Verlorene Söhne des Bürgertums, S. 156–160.
192 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 schaftsordnung, einen Dritten Weg in Form einer klassenübergreifenden Volksgemeinschaft, in der Bürgertum und Proletariat miteinander versöhnt sein sollten. Die Entscheidung für einen demokratisch rückgebundenen Sozialismus begriffen sie als konsequente Fortsetzung, als politische Quintessenz der freideutschen Idee. Von den Freideutschen forderte der Aufruf politische Mitgestaltung: Die Stunde der Tat ist da. […]. Unser Volk ruft aus. Furchtbar hat ein vierjähriger Winter in ihm gehaust. Dann hat ein kurzer Sturm das Alte weggefegt. Jetzt sind die Tage des Frühlings. Weit aufgefurcht harrt der Boden der Saat. Wer zu geben hat, gebe jetzt! Weit aufgetan ist die Seele unseres Volkes, gutem wie bösem Samen. Nie bedurfte es mehr des Geistes und der Jugend. Es gilt eine Entscheidung. Wollen wir die neue politische und wirtschaftliche Lebensform des deutschen Volkes mitgestalten, so müssen wir Partei ergreifen im Streit der großen Ideen des Zeitalters.431
Verfasst und unterzeichnet wurde der Aufruf von Knud Ahlborn, Arnold Bergstraesser, Karl Bittel, Rudolf Carnap, Gerhard Fils, Meinhard Hasselblatt, dessen Frau Martha Paul-Hasselblatt, Eduard Heimann, Else Hibsch, Harald SchultzHencke, Hans Theberath, Helmut Tormin, Kurt Walder und Karl August Wittfogel. Fast alle arbeiteten auch an den von Oktober 1918 bis 1921 von Bittel wöchentlich herausgegebenen sozialistischen Politischen Rundbriefen mit.432 Der Großteil der Gruppe hatte zuvor schon zum Mitarbeiterkreis der Freideutschen Jugend gehört, und viele fanden sich wieder bei der Zeitschrift Junge Menschen zusammen. Dem Berliner Aufruf kommt gleich in mehrerlei Hinsicht besondere Bedeutung zu. Erstens findet sich innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung neben dem Freideutschen Bund kein vergleichbares Denkkollektiv, das annähernd an das intellektuelle Potential dieser 20 zumeist studierten oder sogar promovierten Freideutschen heranreichte.433 Aus Carnap, Heimann, Bergstraesser, Schultz-Hencke und Wittfogel wurden renommierte Wissenschaftler, der Publizist und promovierte Historiker Bittel wurde in den 20er Jahren Funktionär der Kommunistischen Partei in Deutschland und der UdSSR. Der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Heimann wurde bald nach dem Aufruf Geschäftsführer der vom Rat der Volksbeauftragten eingesetzten Sozialisierungskommission, ein Expertengremium, das eine mögliche Sozialisierung von Wirtschaft und Indus-
431 Aufruf „An die Freideutsche Jugend“, Dezember 1918 (AdJb N 2/29), S. 1. 432 Kurzbiografien einzelner Beteiligter finden sich in Günter C. Behrmann: Die „Generation von 1914“ an politischen Scheidewegen: Arnold Bergstraesser, die Freideutsche Jugend und die deutschen Studenten im Revolutionsjahr 1918/19, in: Günter C. Behrmann/Eberhard Schürmann/Helmut Willems (Hrsg.), Der Felsengärtner. Freundesgabe für Roland Eckert, Baunach 2017, S. 233–264, hier S. 240–242. 433 Vgl. Günter C. Behrmann: Arnold Bergstraesser, in: Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 103–124, hier S. 112.
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trie prüfen sollte. Zweitens handelt es sich nicht nur um ein wichtiges Zeugnis freideutscher Politik, sondern beweist auch die außerordentliche Integrationsfähigkeit der freideutschen Idee. In der Gruppe arbeiteten Kommunisten, Parteigänger der SPD und der USPD, revolutionäre Marxisten wie Bittel und Wittfogel, humanistisch-menschheitlich orientierte Sozialisten ohne Parteibindung und sozialistische Theoretiker wie Heimann unter dem Rubrum der freideutschen Idee zusammen. Drittens ragt die sozial und politisch verantwortungsbewusste Haltung dieser jungen freideutschen Intelligenz heraus, die in einer Phase extremer Politisierung und Ideologisierung den Versuch unternahm, Staat und Gesellschaft in konstruktive und friedliche Bahnen zu lenken.
10.2 Die Entschiedene Jugend (1919–1921) Die im Spätsommer 1919 in Jena gegründete linke Entschiedene Jugend434 war eine unmittelbare Folge der politischen Spaltung der Freideutschen Jugend auf der Jenaer Führertagung Ostern 1919 und ein Sammelbecken für kulturrevolutionär und/oder revolutionär motivierte linke Freideutsche, die weder in der Freideutschen Jugend – die sich als Gesamtbewegung der Revolution verweigerte – verbleiben noch den Jugendorganisationen von USPD und KPD beitreten wollten. Auf Grundlage der Idee eines Kampfes der Jugend für mehr Bildungsgerechtigkeit vereinigten sich in ihr mehrere Gruppen und Vertreter der radikalen bürgerlichen und sozialistischen Jugend, unter anderem die Jugend der Sprechsaal-Bewegung, sozialistische und internationale Studentengruppen, Gustav Wynekens Bund für freie Schulgemeinden, die sich seit 1913 um die Neugründung der Jugendzeitschrift Der Anfang und den Anfang-Kreis gruppierende Schülerbewegung um Wyneken, Georges Barbizon (i.e. Georg Gretor, Berlin) und Siegfried Bernfeld (Wien) sowie Wandervögel und Angehörige des linken Flügels der Freideutschen. Hinzu kam die von Wyneken nach der Jenaer Führertagung ins Leben gerufene „Jugendkulturbewegung“, die den revolutionären Klassenkampf des Proletariats unter ihre geistige Führung und damit unter die Kontrolle der bildungsbürgerlichen Eliten bringen wollte.435 Der Ursprung der Entschiedenen Jugend lag in Berlin, das bereits während des Krieges das Zentrum des linken Flügels der Freideutschen Jugend bildete. Zu den ihr angehörenden bzw. sie mitgestaltenden Freideutschen zählten Fritz Westendorf, Hermann Schüller, Alexander Schwab, Carl Werckshagen, Fritz 434 Linse, Entschiedene Jugend 1919–1921. 435 Vgl. ebd., S. 12, 54. Zur Jugendkulturbewegung: Ulrich Linse: Die Jugendkulturbewegung, in: Klaus Vondung (Hrsg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 119–137; Ulrich Herrmann: Die Jugendkulturbewegung. Der Kampf um die höhere Schule, in: Koebner/Janz, „Mit uns zieht die neue Zeit“, S. 224–244.
194 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Jöde, Bernhard und Hans Reichenbach. Karl Bittel gehörte der Entschiedenen Jugend zwar nicht an, nahm aber als linker intellektueller Vordenker mit Verbindung zur Kommunistischen Partei und Herausgeber der Politischen Rundbriefe erheblichen Einfluss auf ihren Kurs. Auch Alfred Kurella (Berliner Kreis) übte nach seiner Hinwendung zur Freien sozialistischen Jugend und zum Kommunismus großen Einfluss auf die Entschiedene Jugend aus, ohne ihr direkt anzugehören und forcierte ihren Eintritt in die KPD. Gleiches gilt für Karl August Wittfogel, der zweiter Vorsitzender des Berliner Sozialistischen Studentenrats und später der Sozialistischen Studentenpartei war. Große Nähe zur Entschiedenen Jugend hatten auch Arnold Bergstraesser, Harald Schultz-Hencke und Friedrich Schlünz. Alle genannten zählten entweder direkt zur Entschiedenen Jugend oder beeinflussten diese im erweiterten Umfeld. Bei der Entschiedenen Jugend handelt es sich um Deutschlands erste linke revolutionäre Schüler- und Studentenbewegung und um ein Beispiel für eine radikale bürgerliche Protestbewegung von entschieden linksbürgerlichen Studenten und Schülern, die die Kulturrevolution verwirklichen und mit ihren Ideen zur Reformierung von Schule und Hochschule eigene Ansätze und Akzente bürgerlicher Gegenkultur in die proletarische Revolution einbrachte.436 Dabei durchlief sie verschiedene Phasen mit wechselndem Führungspersonal und unterschiedlicher programmatischer Akzentuierung. Ihre Agenda verortete sich irgendwo zwischen Jugend- und Kulturrevolution, Jugendkultur, Klassenkampf und politischer Revolution, ließ sich aber nicht in einem Programm oder Satzungen festhalten. Obwohl sich die Entschiedene Jugend seit Mitte 1920 stärker parteipolitisch ausrichtete und bisweilen ein Bekenntnis zur Kommunistischen Partei gefordert wurde, war ihr geistigintellektueller Führungsanspruch durchgängig zu finden. Ihr Bestreben als überparteiliche revolutionäre Gemeinschaft war es, sich im Rahmen der politischen Revolution eine kulturelle Führungsrolle zu sichern. Durch die angestrebte Kulturrevolution suchte man, die eigene Vorherrschaft gegenüber dem vermeintlich siegreichen Proletariat abzusichern und die künftige Gesellschaftsordnung mitzugestalten. Insofern hoffte die Entschiedene Jugend, dass das Proletariat den geistigen Führungsanspruch der von ihr angestrebten Kulturrevolution akzeptieren würde. Sie verstand sich als notwendige bildungsbürgerliche Ergänzung zur proletarischen Revolution. Als unumgänglich wurde die Ersetzung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch eine sozialistische betrachtet. Die vorrevolutionäre Gesellschaft und ihr Bildungssystem sollten radikal reformiert werden.437 Angestrebt wurde eine grundlegende Neuordnung des Schul- und Bildungswesens, der Universitäten 436 Vgl. Linse, Entschiedene Jugend 1919–1921, S. 9. 437 Vgl. Friedrich Schlünz: Die Entfesselung der Seele. Absage an die vorrevolutionäre Gesellschaft und ihr Bildungswesen, Hamburg 1919.
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sowie der staatlichen Jugendprogramme und -organisationen. Bejaht wurde die Notwendigkeit eines Eingreifens der revolutionären Jugend „in den Kampf um die gründliche Neugestaltung von Staat und Gesellschaft“.438 Gefordert wurde das Ende der wilhelminischen Klassengesellschaft sowie der politischen und sozialen Fragmentierung, Sozialismus bzw. Kommunismus sollten die politischen Vehikel der angestrebten Kulturreform sein. Weil die Arbeiterparteien wenig Bereitschaft zur Kooperation zeigten und ihre Jugendorganisationen zur Parteidisziplin anhielten, mangelte es der kulturreformerisch bis -revolutionär orientierten Entschiedenen Jugend allerdings erheblich an politischem Einfluss. Nachdem es ihr trotz aller Ambitionen nicht gelungen war, eine tragende Rolle in der politischen Revolution zu spielen und diese langsam zum Erliegen kam, beschloss die Entschiedene Jugend im Oktober 1921 unter Einfluss der freideutschen kommunistischen Funktionäre Karl Bittel und Alfred Kurella ihre Selbstauflösung und den Übertritt zur KPD bzw. zur Kommunistischen Jugend Deutschlands.
10.3 Knud Ahlborn in der Revolutionszeit 1918/19 und sein politisches Denken in den 20er Jahren Exemplarisch für den Weg zahlreicher Freideutscher in die Politik ist der Werdegang Knud Ahlborns. Als dieser Ende 1919 mit dem Aufbau Klappholttals begann, lag eine längere politische Aushandlungsphase hinter ihm. Den Kriegsbeginn erlebte der Bundesführer der DAF und 1912 in München promovierte Bakteriologe zunächst als Institutsassistent in München, später als Arzt am Universitätsklinikum Hamburg. In den ersten Kriegsjahren zunächst nicht zum Militärdienst eingezogen, hatte Ahlborn seit dem Frühjahr 1917 freiwillig als Oberarzt und Seuchenschutzhygieniker an Ost- und Westfront gedient.439 Nicht zuletzt bedingt durch die Erfahrung des Krieges und die Rolle des deutschen nationalistischen Militarismus näherte er sich seit 1917 zunehmend einem ethischen Sozialismus an. Seine Erfahrungen hatten ihm die Notwendigkeit und Aktualität der von den Freideutschen schon vor dem Krieg angestrebten gesellschaftlichen Erneuerung noch einmal deutlich vor Augen geführt. An der Westfront von den Revolutionsvorgängen in der Heimat euphorisiert, schloss sich Ahlborn im November 1918 aus dem Felde kommend der Karlsruher USPD an und wirkte zusammen mit seinem Freischarfreund, dem Marxisten und KPD-Mitglied Karl Bittel, im Karlsruher
438 Carl Werckshagen: Chronik, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 5/6, S. 179. 439 Zu Ahlborns Biografie im Ersten Weltkrieg s. Ahlborn, Lebenslauf, S. 116–119.
196 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Arbeiter- und Soldatenrat.440 Für die links von den Mehrheitssozialdemokraten stehende USPD trat er auf mehreren öffentlichen Versammlungen im süddeutschen Raum auf und warb für die Ideen des Sozialismus.441 Ahlborn und seine erste Frau Marie Sophie Anna Weniger (1891–1987), eine in der Freischar Freiburg engagierte Lehramtsstudentin aus Eckernförde, zählten außerdem zum Verfasserkreis der von Bittel herausgegebenen Politischen Rundbriefe 442. Nicht nur im Zuge seines parteipolitischen Engagements, auch schon während des Krieges hatte Ahlborn mehrere öffentliche Vorträge gehalten, in denen er für die kulturreformerischen Ziele der Freideutschen warb. Der bekannteste in dieser Zeit war sicherlich sein Vortrag auf der von Eugen Diederichs organisierten ersten Lauensteiner Kulturtagung443, wo er als Bundesführer der DAF vor bedeutenden Vertretern der kulturellen und intellektuellen deutschen Elite über die Ideen der Freischaren für die kulturelle Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg referierte und für die Freideutsche Jugend und ihre Suche nach neuen kulturellen und moralischen Richtlinien warb.444 An den insgesamt drei Tagungen nahmen unter anderem der Soziologe Max Weber, der Ökonom Edgar Jaffe´, der Soziologe und Volkswirtschaftler Werner Sombart, der Historiker Friedrich Meinecke, der Pädagoge und Schriftsteller Ernst Krieck, der Journalist und Politiker Theodor Heuss, der Theologe Max Maurenbrecher, der freideutsche sozialistische Schriftsteller Alfred Kurella sowie der expressionistische Dichter Ernst Toller und die Dichterin und Frauenrechtlerin Berta Lask sowie Wortführer der Freideutschen Jugend. Die Tagung, deren Leitidee ein überparteiliches Kulturparlament der Gebildeten war und auf der ergebnisoffen über die Neuordnung Deutschlands diskutiert wurde, ließ die Freideutschen hoffen, sich nach Kriegsende als führendes kulturreformerisches Akteurskollektiv der studentischen Jugendbewegung beweisen zu können. In der Tat bescheinigte Max Weber, der sich im Rahmen der Tagung und auch an seiner Universität mit dem Programm der Freideutschen auseinandersetze, den Plänen der Freideutschen einiges Potential für die Bewältigung der künftigen Erziehungsaufgaben.445 440 Peter Brandt/Reinhard Rürup: Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19, Düsseldorf 1980, S. 125–181, 421–427; GLAK 69 ASR/1; GLAK 69 ASR/2; GLAK 456 F/134; GLAK 456 F/135. 441 Brandt/Rürup, Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19, S. 135; Knud Ahlborn: „Mein Eintritt in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (U.S.P.)“, in: Politische Rundbriefe, 14. Rundbrief, 13.12.1918 (AdJb N 48/7), sowie Korrespondenz zw. Dr. Schlichter u. Vorstand der DAF vom 28.1. u. 28.2.1919 (AdJb N 2/3). 442 Gesammelte Politische Rundbriefe im Nachlass Karl Bittels, AdJb N 48/6, sowie AdJb N 48/7. Ahlborns verfassten von 11/1918 bis 05/1919 zahlreiche Beiträge für die Rundbriefe. Zu den politischen Umtrieben der Gruppe um Bittel ferner GLAK 233/27755. 443 Werner, Ein Gipfel für Morgen. 444 Vgl. Volkholz, Eine neue geistige Elite für das 20. Jahrhundert. 445 Vgl. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 610–615, 647–649.
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Typisch für die freideutsche Idee eines politisch-sozialen Ausgleichs war auch das freideutsch-völkische Bekenntnis Ahlborns von 1918446, das für die humanistisch-menschheitlich bis sozialistisch-demokratisch eingestellte freideutsche Mitte exemplarisch war. Dabei handelte es sich um den Versuch, die unter den Freideutschen widerstreitende völkische und sozialistisch-kommunistische Richtung „für das hochgradig zivilisatorische Projekt der Volksentwicklungsarbeit“ – den Aufbau einer zukunftsfähigen Volksgemeinschaft jenseits trennender Klassenschranken – zu versöhnen und einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden.
10.4 Die Politischen Rundbriefe (1918–1921) von Karl Bittel Die Politischen Rundbriefe und ihr freideutscher Mitarbeiterkreis stellen ein weiteres markantes Zeugnis freideutscher Politik und Publizistik der Nachkriegszeit dar. Sie waren ein Forum für sozialistische und linksliberale freideutsche Ideen. Sie wollten in der politisch unübersichtlichen Übergangszeit Kenntnisse und Wissen vermitteln, aufklären und beraten sowie zu politischer Gesinnung erziehen und generell den politischen Ideen- und Gedankenaustausch frei von parteipolitischen und ökonomischen Interessen ermöglichen. Man glaubte, mit dem klassenüberschreitenden Modell des Sozialismus, den Ausweg aus dem bürgerlichen Kapitalismus gefunden zu haben. Der 20. Politische Rundbrief vom Januar 1919 veröffentlichte unter neuer Überschrift Auszüge des Aufrufes an die Freideutsche Jugend vom November 1918 und rief dazu auf, bei den anstehenden Reichstagswahlen sozialdemokratisch zu votieren und im Sinne der Freideutschen Bewegung demokratisch-sozialistische Erziehungsgemeinschaften zu gründen: Der Weg zur Volksgemeinschaft ist freigelegt. […]. Ihrer Jugend steht die Welt weit offen, ungeahnte Kraftströme werden wir von ihr empfangen, und eine Zeit freudigen entfalteten Menschentums wir anbrechen. Freideutsch, glaubt nicht den Lockungen aus bürgerlichen Kreisen, die euch weiß machen, dort wolle man Volksgemeinschaft, Freiheit und ein Reich des Geistes. Was jene meinen, ist immer nur die Gemeinschaft der „Bürger“, die Freiheit des „Bürgers“ und der beschränkte Geist des „Bürgers“. Unter neuen Bannern werben dort die alten Männer des gestrige, des zusammengebrochenen Zeitalters. Freunde und Freundinnen, macht euch klar, dass Sozialismus der folgerichtige Ausfluß eures Freideutschtums ist, gründet demokratisch-sozialistische Gruppen, arbeitet gegen alte Vorurteile, helft der Sache der Gerechtigkeit zum Sieg! Es gilt den Kampf gegen jede selbstsüchtige und verantwortungslose Gefährdung der Revolution, der jungen Freiheit, von rechts oder links, gegen den Geist der Überhebung und Ausbeutung und gegen den der Rache und der Wiedervergeltung.
446 Knud Ahlborn: Zu Dankwart Gerlachs völkischem Bekenntnis, in: Führerzeitung für die deutschen Wandervogelführer (10/111918), 40. Kriegsheft, S. 162–164.
198 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Uns leite der Geist der Brüderlichkeit! Sprengen wir die Schranken, die uns von unserem Volke trennen, lassen wir all unseren guten Willen in die große Gemeinschaft einströmen, auf dass das Erlebnis des Hohen Meißners, das Erlebnis der Freiheit, der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eines Tages Gemeingut der ganzen deutschen Jugend werde.447
Die Arbeit der freideutschen Freundeskreise und Selbstbildungsgemeinschaften sollte nun, da die Gelegenheit sich bot, in die Öffentlichkeit getragen und praktisch umgesetzt werden, um Gesellschaft und Kultur im Sinne der freideutschen Idee umzugestalten. Im 1. Politischen Rundbrief hieß es: „Die Jugend, eine freie deutsche Jugend, fühlt, was ihre Aufgabe und Pflicht heute ist: ihre besten Kräfte dem neugeborenen deutschen Volksstaate zu weihen.“448 In diesem Sinne sollte es für die demokratisch-sozialistisch orientierten Freideutschen um Rudolf Carnap, Karl Bittel und Knud Ahlborn „nicht Bürgertum, nicht Proletariat“, sondern „das ganze Deutschland“ sein.449 Im Modell der klassenlosen Volksgemeinschaft erblickte man schließlich das Gegenteil der gegenwärtigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Was die ökonomische Neuordnung des Staates anbetraf, forderte der Mitarbeiterkreis der Politischen Rundbriefe eine Orientierung am Sozialismus, während man in politischer Hinsicht, im Sinne einer vereinigten Volksgemeinschaft, eine demokratische Grundordnung vor Augen hatte. Angesichts der politischgesellschaftlichen Problemstellung vertrat man 1918/19 die Überzeugung, dass die Herrschaft der besten und geeignetsten Führer am zuverlässigsten in einer Demokratie mit sozialistischer Wirtschaftsordnung gewährleistet werden könnte. Die gemeinschaftsbildende Kraft von Sozialismus und Demokratie sollte die Basis für den Aufbau der deutschen Volksgemeinschaft sein. Aus ihrem Votum für eine demokratisch-sozialistisch verfasste Gesellschaftsordnung erwuchsen für den Mitarbeiterkreis der Politischen Rundbriefe um Bittel, Carnap und Ahlborn indes auch konkrete praktische Forderungen. In sozialer und politischer Hinsicht forderte man die freie Gedanken- und Meinungsäußerung, gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, die Schaffung einer Nationalversammlung, die Einheit des Deutschen Reiches, Arbeitnehmer- und Jugendschutz, eine staatliche Antidrogenpolitik, Demilitarisierung, die Förderung des Genossenschaftswesens, eine Wohnungsreform, die Verstaatlichung von Großgrundbesitz, eine Reformierung des Steuersystems sowie den sozialistischen Auf- und Umbau der Wirtschaft, in pädagogisch-bildungspolitischer Hinsicht die Gewährleistung der Lehr- und Lernfreiheit sowie die Einführung von Einheitsschulen. International
447 Aufruf „Freideutsche Jugend: Bürgertum oder Sozialismus? Jeder Freideutsche wähle sozialdemokratisch!“, in: 20. Politischer Rundbrief, 1.1.1919, S. 69–70 (AdJb N 48/7). 448 Karl Bittel, „An eine freie deutsche Jugend“, in: 1. Politischer Rundbrief, 5.10.1918, S. 1 (AdJb N 48/7). 449 Ebd.
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stellte man sich im Sinne einer pazifistischen Antikriegshaltung auf den Boden des Völkerbundes und bekannte sich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker.450 Mit dem Abebben der Revolution und der Gründung der Weimarer Republik verloren die Politischen Rundbriefe nach und ihren inhaltlichen Bezugspunkt. Auch der Mitarbeiterkreis hatte sich sehr ausgedünnt, und die meisten Freideutschen verfolgten ihre eigenen Projekte und Berufsziele. 1921 stellte Bittel, mittlerweile als Funktionär der Kommunistischen Partei tätig, die Politischen Rundbriefe ein. Ihre Fortsetzung fanden sie in der von Bittel herausgegebenen Süddeutschen Arbeiter-Zeitung, von Oktober 1921 bis 1935 Organ der KPD Deutschland in Württemberg.
10.5 Der „politische Versuch“ der Hofgeismarer Tagung 1920 und der politische Führungsanspruch der Freideutschen Im Sommer 1920 – vor dem Hintergrund des unbefriedigenden Ausgangs der Jenaer Tagung 1919 – hatten einige freideutsche Kreise Pläne für ein neuerliches Treffen und eine Aussprache angeregt. Ein solches Gesamttreffen war aber aufgrund ihrer politischen Spaltung praktisch nicht zu verwirklichen. Deshalb wurde in alternativem Rahmen zu einer Freideutschen Woche in Hofgeismar vom 26. September bis zum 2. Oktober 1920 eingeladen.451 Eine begrenzte Zahl von Teilnehmern sollte den Kern des freideutschen Dissenses, die Frage der Politisierung, der politischen Beteiligung sowie die Frage konkreter politischer Entscheidungen und eines möglichen politischen Programms diskutieren. Unabhängig von ihrem Ausgang ist die Tagung auch deswegen so bedeutsam, weil die Freideutschen hier so konkret wie nie zuvor ihren politischen Führungsanspruch formulierten und den dazugehörigen freideutschen Menschen- und Führungstypus, den der Großteil der Freideutschen verkörpern wollte, erstmals exakt benannten. Das Treffen war auf Initiative des Hamburger Freideutschen Arbeitsamtes und seiner Vertreter Harald Schultz-Hencke, Knud Ahlborn, Gerhard Fils und Wilhelm Ehmer zustande gekommen. Im Sinne der demokratischen und dezentralistischen Organisation der Freideutschen hatte man einen für die politischen Einstellungen in der Freideutschen Jugend repräsentativen Personenkreis von etwa zwanzig Freideutschen geladen, die ihrerseits weitere für geeignet gehaltene Teilnehmer benennen und mitbringen konnten. Die Tagungsleitung, die im Verlauf der Veranstaltung durch Max Bondy und Karl Bittel (KPD) erweitert wurde, hatten der Leiter des Arbeitsamtes Schultz-Hencke sowie Ehmer und Erich
450 Vgl. Aufruf „An die Freideutsche Jugend“, Dezember 1918 (AdJb N 2/29), S. 1–2. 451 Ehmer, Hofgeismar. Dazu auch Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20, S. 125–129.
200 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 Kaemisch inne, die Diskussionsleitung übernahm Ahlborn. Bis auf Bittel handelte es sich bei allen um (ehemalige) Angehörige der DAF. Die Grundüberlegung war, die „Tagung auf einer politischen Grundeinstellung und somit auf einem politischen Thema aufzubauen“, die politischen Differenzen in eine sachliche Auseinandersetzung münden zu lassen, die der gegenseitigen Annäherung dienen sollte. Auch mit Blick auf die nach wie vor politisch instabile junge deutsche Republik forderte die Einladung von den Teilnehmern eine „aktive Einstellung zur Politik und vorherige Beschäftigung mit dem Grundthema“.452 Themenschwerpunkt war die „Ostfrage“, d.h. die Beziehungen Westeuropas und insbesondere Deutschlands zu Russland, dessen neue Staatsform und kulturellen Probleme sowie die allgemeine Lage Osteuropas.453 Der Teilnehmerkreis deckte das gesamte politische Spektrum der Freideutschen ab. Der linke Flügel war vertreten durch Sympathisanten und Angehörige der USPD und der KPD der Hamburger nationalkommunistischen Richtung sowie durch den Anarchisten Ernst Friedrich; das rechte Lager repräsentierte Alma de l’Aigle vom nationalkonservativen Jungdeutschen Bund; die Mehrheit der Anwesenden gehörte der humanistisch-menschheitlich bis demokratischsozialistisch orientierten Mitte an. Auf der Tagung deutlich wurde die fortgeschrittene Polarisierung der Freideutschen. Sie resultierte insbesondere aus dem offensiven Auftreten der Kommunisten, die versuchten, die übrigen Freideutschen in den Diskussionen zu einer klaren Parteinahme zu bringen. Wie bei den Freideutschen üblich, wurde die Veranstaltungswoche von einem kulturellen Rahmenprogramm begleitet (Tanz- und Musikvorführungen, gemeinsames Singen, Vorträge), das die politischen Debatten abfedern und die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund stellten sollte. Der deutsch-russische Schriftsteller und Sozialphilosoph Karl Nötzel referierte über die politischsoziale Lage Russlands und dessen politisches System. Der deutsch-baltische Philosoph Hermann Graf Keyserling, Leiter einer „Schule der Weisheit“ in Darmstadt, bezog ebenfalls Position zu Russland, machte sich aber mit Blick auf Deutschland vor allem für einen kulturellen Neuaufbau, eine neue geistige und parteiübergreifend denkende Führungselite stark. Er appellierte an die Freideutschen, im Sinne des Ziels einer klassenlosen Gesellschaft und eines neuen Menschen über die Gegensätze, Ideologien und Programme der Zeit hinauszudenken und als „eine Generation freierer Menschen in intensivster Weise an sich selbst zu arbeiten“, um von der „höchst erreichten Kulturhöhe von gestern zu noch höherer hinaufzusteigen“. Der „Menschentypus“, den Keyserling potentiell in seinen Schülern und in den Freideutschen erblickte, sollte „die höchsten Ideale 452 Ehmer, Hofgeismar, S. 3. 453 Vgl. Arbeitsamt der Freideutschen Jugend: Mitteilungen des Arbeitsamtes der Freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 8/9, S. 3.
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der neuen Zeit in sich zur lebendigen Verkörperung“ bringen. In ihm sah er den „eigentlichen Zukunftsträger“ und die „Führerschaft von morgen“ verkörpert.454 Die freideutsche Pädagogin Alma de l’Aigle betonte in ihrer Rede die Notwendigkeit eines neuen Ethos’ und sprach über das neu erwachte Verantwortungsgefühl der Freideutschen, das über sich selbst hinaus dem Gemeinwohl verpflichtet wäre, von „Verantwortung nach innen und nach außen“ und von Politik als Form der „Lebensgestaltung“.455 Max Bondy, einer der führenden geistigen Köpfe der DAF und Vordenker der Freischar-Idee, entwickelte in seinen Reden Motive und Ziele einer praktischen undogmatischen freideutschen Politik und definierte einen freideutschen „Menschentypus“, der für die Suche der Freideutschen nach dem Neuen Menschen456 exemplarisch sein sollte. Er verknüpfte den Akademikertypus, den die Freideutschen über Jahre in ihren Kreisen entwickelt hatten und nun in der neuen Republik verkörpern sollten, auf der Tagung mit einem konkreten politischen Führungsanspruch. Politisches Ziel der Freideutschen musste Bondy und der Denkschrift von Harald Schultz-Hencke zufolge die „Überwindung der Parteien durch die Jugend“457, die Freideutsche Jugend sein; die „Herrschaft der Gerechtigkeit“ und damit die „Herrschaft einer Gruppe, einer Schicht, eines Typus, der sich mit innerer Selbstverständlichkeit“ – durch den „Glauben an die eigene Kulturfähigkeit“ – zum Herrschen berufen fühle und „der die konkreten Inhalte der Gerechtigkeit nach seinem Gewissen“ zu bestimmen in der Lage sei. Zu diesem „Typus“ gehörten seiner Auffassung nach die „besten Exemplare des Bürgertums“, „ein kleiner Teil der Arbeiterschaft […], vielleicht auch Teile des Adels“. Der Typus, den Bondy im Sinn hatte und den er durch die Zeitschrift Freideutsche Jugend transportiert sah, würde durch seinen Habitus und seine Führungseigenschaften, durch seine natürliche Autorität, seine ausgeglichene und ausgleichende Persönlichkeit, durch relative materielle Unabhängigkeit (im Gegensatz zu Arbeitern) und durch differenziertes Denken, Bildung und Toleranz aus der Masse herausstechen. Seine „Kulturfähigkeit“ beruhe ferner auf einem ausgeprägten „Empfinden für Bindungen“, bezogen auf Familie, Freundschaft, selbstgewählte Gemeinschaften, das eigene Volk und das Gemeinwohl, was ihn von der geistigen und/oder praktischen „Isoliertheit“ des „Großstädters“, „Bürgers“ und „Arbeiters“ unterscheide. Die primäre politische Aufgabe dieses freideutschen Typus bestehe darin, „alle Mittel“ anzuwenden, um durch Zusammenschluss und Sammlung „diejenige Fülle von Macht zu erreichen“, die es ihm ermöglichte, sich als „herrschende Schicht“ zu formieren und zu etablieren. Dies
454 455 456 457
Ansprache Graf Keyserlings in: Ehmer, Hofgeismar, S. 15–21, hier S. 19–20. Ansprache Alma de l’Aigles in: Ebd., S. 32–34, hier S. 32–33. Zur Idee vom Neuen Menschen s.u. S. 253–256. Harald Schultz-Hencke: Die Überwindung der Parteien durch die Jugend, Gotha 1921.
202 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 sollte im Idealfall nicht durch „allmähliche Durchdringung“ im pädagogischen Sinne – die Freideutschen hatten sich ja über viele Jahre in ihren Selbstbildungsgemeinschaften vorbereitet –, sondern so zeitnah wie möglich auf politischem Weg erfolgen. Sollte die natürliche Macht- und Einflussfülle der Freideutschen nicht ausreichen, um die Herrschaft zu erlangen, müsse man sich mit dem Bürgertum oder dem Proletariat verbinden, als notwendigem „Unterbau“ der Herrschaft des freideutschen Führungstypus. Mit Blick auf die Erfahrungen der Revolution müsse die politische wie pädagogische Aufgabe dann sein, den „Arbeiter neue Demut“ zu lehren, damit sich dieser von selbst wieder von seinem Herrschaftsanspruch zurückzöge.458 Bondy bekräftigte damit nicht nur den kulturellen, sondern auch den politischen Führungsanspruch der Freideutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht von ungefähr an einer zielgerichteten Politisierung arbeiteten und machtpolitische Ziele zu verfolgen begannen. Die Tagung, die sich in erregten Debatten um die materialistische Geschichtsauffassung und die Russische Revolution, in Stellungnahmen der Kommunisten und entsprechenden Gegenerklärungen der Mehrheit der Freideutschen, zu der auch Vertreter der Entschiedenen Jugend zählten, und einem kurzzeitigen Ausschluss der Kommunisten um Karl Bittel verlor, vertiefte die bestehenden Differenzen letztlich nur noch und schuf schier unüberbrückbare Gegensätze. Zwar war ein direktes Zerwürfnis noch auf der Tagung verhindert worden, es zeigte sich jedoch, dass die Freideutsche Jugend vor dem Hintergrund der politischen Lage und ihrer Polarisierung kaum noch zu einer gemeinsamen Aussprache in der Lage war. Was sich auf der Jenaer Tagung angedeutet hatte, wurde in Hofgeismar zur Tatsache. Als Gesamtbewegung löste sich die Freideutschen Jugend nach Hofgeismar auf, wobei die Freischaren als ihr Hauptträger fortbestanden.
10.6 „Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung“ (1923) Beeinflusst vom gedanklichen Austausch im Freideutschen Bund und dem Programm der Zeitschrift Junge Menschen, die beide für einen demokratischen Sozialismus humanistisch-menschheitlicher Prägung eintraten, veröffentlichte Knud Ahlborn 1923 seine politische Denkschrift „Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung“459. Bemerkenswert ist sie deswegen, weil Ahlborn darin konkrete Pläne der Freideutschen für eine politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Neuordnung der Gesellschaft vorstellt. Die sechsundvierzigseitige 458 Zusammenfassende Rede „Freideutsche Politik“ von Max Bondy, in: Ehmer, Hofgeismar, S. 25–32, hier S. 25–29. 459 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung.
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Schrift erschien in der von Walter Hammer herausgegebenen Schriftenreihe „Junge Republik“, die nicht nur zur politischen Meinungs-, sondern auch zur demokratischen Bewusstseinsbildung beitragen sollte. Als Quintessenz freideutscher Selbstbildungspraxis entwickelte Ahlborn hierin das freideutsche Bekenntnis zur Idee eines reiferen und höheren Menschentums. „Zwischenvölkische Verständigung“, „neue Schule“, „Hochschulerneuerung“, „Planwirtschaft“, „Bodenreform“, „Genossenschaftsgestaltung“, „Aufbau des Volksstaates und des Völkerbundes“ sowie „bedingtes Eigentumsrecht“ waren die Schlagworte der von den Freideutschen angestrebten neuen kulturellen, staatlichen und ökonomischen Ordnung. Auf Grundlage der Weimarer Verfassung sollte die parlamentarische Regierungsform durch einen organischen Volksstaat ersetzt werden, der auf örtlichen Gau- und Reichsführerräten mit unterschiedlichen Kompetenzen aufbauen sollte. Kirchen lehnte man als politische Faktoren ab. Religiöse Freiheit und Umgestaltung waren hier die Stichworte. Im Sinne der lebensreformerischen Grundsätze sollte der Staat seine Bürger vor „volksvergiftenden“ Genussmitteln schützen. Die Gemeinschaft des Volkes und der Völker sollte durch ein neues ethisch-moralisches Handlungsmodell geprägt werden, durch einen sozialpraktischen christlichen Humanismus. Auf dieser Grundlage sollten Selbstentfaltung und -bildung den Boden für den „zukünftigen Menschheitsbau“460 bereiten. Schule verstanden die Freideutschen als Erziehungsgemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern. Ihr kam im freideutschen Gesellschaftsentwurf zentrale Bedeutung zu, da hier die Wertmaßstäbe ethischmoralischen Denkens und praktischen Handelns vermittelt werden sollten. Gewissensfreiheit, Eigenverantwortung, Nonkonformität und umfassende Bildung sollten die Entwicklung der Volks- und Völkergemeinschaft fördern. An den deutschen Universitäten sollten verpflichtend Erziehungsgemeinschaften nach dem Vorbild der akademischen Freischaren geschaffen werden. In den Gründungsjahren der Weimarer Republik stellte das freideutsche Bekenntnis ein beachtliches intellektuelles Zeugnis freideutscher Verantwortungsintelligenz dar. Zwar sollte die Republik nach Vorstellung des freideutschen Denkkollektivs eine stärkere sozialistische politische und wirtschaftliche Ausrichtung erhalten, dies ging jedoch mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zum Staat und seiner demokratischen Verfassung einher. Auch das Ziel einer internationalen Völker- und Friedensordnung wurde von den Freideutschen über die allgemeine Friedenssehnsucht hinweg weiterentwickelt und mit konkreten Ideen einer modernen europäischen und globalen Friedens- und Verständigungskultur unterlegt.
460 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35.
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10.7 Der Freideutsche Bund (1921–1924) Bemerkenswert ist die Arbeit des Freideutschen Bundes insofern, als seine Mitglieder in der Frühphase der Republik – inmitten der Ideologisierung politischer Orientierungen – konstruktive Pläne für eine politisch-ökonomische und kulturell-soziale Neuordnung der Gesellschaft und ihren sozialen Ausgleich im Rahmen einer internationalen Völker- und Friedensordnung erarbeiteten. Der zwischen 1922 und 1924 regelmäßig auch in Klappholttal zusammenkommende Bund461 verfolgte die Idee eines ethischen Sozialismus. Er versammelte einen Großteil der freideutschen Intelligenz und entfaltete in seiner Wirkungszeit ein kaum vergleichbares intellektuelles Potential. Die Gruppen- oder Parteizugehörigkeit seiner Mitglieder spielte dabei, wie in freideutschen Kreisen üblich, keine Rolle. Seine annähernd hundert Beteiligten vertraten überwiegend die Positionen des humanistisch-menschheitlich mehrheitlich demokratisch-sozialistisch eingestellten Flügels der Freideutschen Jugend, darunter auch namhafte Freideutsche wie Wilhelm Flitner und Rudolf Carnap. Die Ziele des Bundes deckten sich daher weitgehend mit der demokratisch-sozialistischen Linie, die schon die Politischen Rundbriefe und der Aufruf „An die Freideutsche Jugend“ vertreten hatten. Ausgangspunkt und zugleich Zielvorstellung war die Idee eines „reifen Menschentums“462, die den Entwicklungsgedanken der Menschheit in den Vordergrund stellte und für die der Bund die ethischen, kulturellen, politischen und ökonomischen Grundlagen erarbeiten wollte. Grundlegend war das Bekenntnis zum „Volksstaat“, dessen politische Ordnung dem System der Weimarer Republik in Ansätzen entsprach. Die Zukunft Europas und der Welt sahen die Mitglieder des Freideutschen Bundes in einer von verantwortlich handelnden Individuen getragenen „Volksund Menschheitsgemeinschaft“463. Seine vordringlichste Aufgabe erblickte der Bund deswegen im Aufbau eines neuen Volksstaates und des Völkerbundes. Was die politische Organisation der Weimarer Republik betraf, stand der Freideutsche Bund grundsätzlich auf dem Boden der Weimarer Verfassung, strebte jedoch eine Umgestaltung der parlamentarischen Regierungsform im Sinne eines Rätesystems an. Leitidee war ein organischer Aufbau des Volksstaates mit Gemeinschafts- und Berufsvertretung in Räteform.464 Auf der Grundlage von Jugend-, Lebens- und Berufsgemeinschaften wurzelnd, sollten örtliche Gau- und Reichsführerräte für die verschiedenen Lebensgebiete und Berufsfelder gebildet wer461 S. o. S. 182–184. 462 Kulturpolitische Richtlinien des Freideutschen Bundes, überschrieben mit: „Der Freideutsche Bund“, 1922 (AdJb N 2/25), S. 2. 463 Allgemeine politische Richtlinien des Freideutschen Bundes, 1923 (AdJb N 2/25). 464 Vgl. Allgemeine politische Grundlinien (Entwurf) des Freideutschen Bundes, 1922 (AdJb N 2/ 25), S. 2.
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den,465 die sich maßgeblich aus den freideutschen Eliten speisen sollten. Dafür strebte der Bund einen gesellschaftlich breiten Aufbau freideutscher Gemeinschaften nach Vorbild der akademischen Freischaren sowie die Gründung jugendlicher Werkgemeinschaften an. Durch die Arbeit auf verschiedenen Arbeitsgebieten sollte langfristig ein gesellschaftlich breites Reservoir an jugendlichen, studentischen und berufstätigen Freideutschen aufgebaut werden, die auf kultureller und politischer Ebene gestaltend tätig werden sollten.466 Die Gliederung und Organisation des Freideutschen Bundes in die drei großen Bereiche „Jugendarbeit“, „Gemeinschaftsarbeit“ und „Werkarbeit“ war in dieser Hinsicht ein bewusstes Abbild des angestrebten Staates.467 In kultureller Hinsicht strebte der Bund eine Erneuerung des gesamten Erziehungswesens auf den Gebieten Schule, Volkshochschule, Universität und Kirche an. Sämtliche Einrichtungen sollten zu „Lebens- und Kulturgemeinschaften“ nach freideutschem Vorbild ausgestaltet werden und so künftigen Generationen den Weg „von der niedrigen Entwicklungsstufe gegenwärtiger Wirklichkeit“ zur Verwirklichung der „heute erkennbaren wesentlichen Ziele höheren Menschentums“ aufzeigen.468 Durch die Neugliederung des Erziehungswesens sollten die Gestaltungskräfte des gesamten Volkes geweckt werden. Jeder Mensch sollte in die Gesellschaft das einbringen, was er zu leisten im Stande war, gemäß seinen Fähigkeiten und Begabungen. Die Mitglieder des Bundes sprachen sich gegen einen egoistischen und für einen gemeinwohlorientierten Individualismus aus, der an das traditionelle Freiheits- und Verantwortungsverständnis der Freideutschen anschloss. Anfang 1923 veranstaltete der Bund eine Tagung in Jena, auf der dieser seine Stellung zu Fragen der Religion ausarbeitete. Den beiden großen christlichen Kirchen stand man generell wohlwollend gegenüber, distanzierte sich aber von der Institutionalisierung ihrer Glaubens- und Wertesysteme sowie von jedweder Form von Dogmatismus. Ziel war ein sozialpraktischer christlicher Humanismus. Was die ökonomische Neuordnung betraf, strebte der Bund eine Reihe grundsätzlicher Neuerungen an, für die es nach eigener Einschätzung keine parteipolitische Vorlage gab. Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit trat er für eine strenge Regulierung der Wirtschaft ein. Kern des Wirtschaftssystems sollte eine „sinnvolle“ Planwirtschaft sein. Im Sinne einer nationalen Arbeitsökonomie, 465 Vgl. Auszug aus den kulturpolitischen Richtlinien des Freideutschen Bundes, in: Ahlborn, Lebenslauf, S. 124. 466 Vgl. Weltanschauliches Bekenntnis des Freideutschen Bundes von 1922 mit zugehöriger Aufnahmeerklärung (AdJb N 2/25). Das Bekenntnis umfasst eine Aufstellung der verschiedenen freideutschen „Arbeitsgebiete“ 467 Vgl. Dokument „Der Aufbau des Freideutschen Bundes“, 1922 (AdJb N 2/25). 468 Kulturpolitische Richtlinien des Freideutschen Bundes, überschrieben mit: „Der Freideutsche Bund“, 1922 (AdJb N 2/25), S. 3–4.
206 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 stark angelehnt an den marxistischen Sozialismus, sollte der Staat künftig zentral planen, welche und wie viele Güter produziert werden sollten und das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft werden. Die beschränkten Arbeits- und Produktivkräfte der Nation sollten primär für die Erzeugung notwendiger Güter verwandt werden, während Luxusgüter nur eingeschränkt produziert werden sollten. Die Erzeugung von schädlichen Genussmitteln wie Alkohol und Nikotin sollte verboten werden. Außerdem strebten die Mitglieder des Bundes eine Reform des Arbeitsrechtes und der Arbeitsbedingungen zum Vorteil der Arbeitnehmer an. Die Mitglieder des Bundes sprachen sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und für eine Regulierung der Arbeitszeit aus. Weniger Arbeitszeit sollte vor allem dem Proletariat die Möglichkeit geben, vermehrt öffentliche Bildungsangebote wahrzunehmen. Was die Güterverteilung anging, wollten die Angehörigen des Bundes das kapitalistische Prinzip des Zwischenhandels soweit wie möglich ausschalten und die frei werdenden Arbeitskräfte dem Produktionsprozess zuzuführen. Eigentum sollte gesellschaftlich verpflichten, wobei der Staat ein übergeordnetes Eigentumsrecht an allen Gütern halten sollte, die – wie z.B. Grund und Boden, Bodenschätze, Industrie- und Verkehrsanlagen – im Interesse der Allgemeinheit standen. Das bedingte Eigentumsrecht sollte das Profitsystem des Kapitalismus aushebeln.469 Im Herbst 1923, zehn Jahre nach dem Freideutschen Jugendtag 1913, organisierte der Bund zusammen mit anderen Bünden eine zweite Meißner-Tagung, deren Zentrum dieses Mal die unweit vom ursprünglichen Veranstaltungsort entfernte Burg Ludwigstein war, die Anfang 1920 von jugendbewegten Kreisen erworben und zur Jugendburg ausgebaut worden war. Zwar war der Zusammenhang der Freideutschen Bewegung nicht mehr mit 1913 vergleichbar, bis zum Meißnertreffen 1963 blieb die Veranstaltung allerdings das letzte große Treffen freideutsch gesinnter Kreise.470
10.8 Die Gilde „Soziale Arbeit“ (1925) Die sozial- und reformpädagogisch orientierte Gilde „Soziale Arbeit“471 ist ein bemerkenswert frühes Beispiel für das konkrete sozialpraktische Engagement
469 Vgl. Allgemeine politische Grundlinien (Entwurf) des Freideutschen Bundes, 1922 (AdJb N 2/ 25), S. 3–4, sowie Kulturpolitische Richtlinien des Freideutschen Bundes, überschrieben mit: „Der Freideutsche Bund“, 1922 (AdJb N 2/25), S. 4–5, und Leitsätze des Freideutschen Bundes zu den allgemeinen Arbeitsbedingungen (AdJb N 2/25). 470 Zur Meißner-Tagung 1923 Messer, Die freideutsche Jugendbewegung, S. 132–175. 471 Barbara Stambolis: Die Gilde Soziale Arbeit – Kinder- und Jugendfürsorge vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier Weltkriege, in: Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen, S. 355–374; Dudek, Leitbild: Kamerad und Helfer.
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Freideutscher auf dem Feld der Sozialpolitik und -arbeit. Sie wurde 1925 als loser Zusammenschluss von aus der Jugendbewegung stammenden oder ihrem Geiste nahestehenden Männern und Frauen gegründet, die ehrenamtlich oder beruflich in der Sozialen Arbeit tätig waren oder sich ihr verpflichtet fühlten. Der Gründung voraus ging 1924 ein Aufruf des Marburger Wandervogelführers Justus Erhardt472 in der bündischen Zeitschrift Der Zwiespruch, in welchem dieser alle in der sozialen Arbeit beschäftigten oder mit ihr befassten Personen zur Sammlung aufforderte. Mitbeteiligt an der Gründung waren schließlich die Jugendbewegten bzw. Freideutschen Alwin Brockmann473, Max Martin, und Werner Kindt. Bereits kurz nach ihrer Gründung hatte die Gilde über 80 Mitglieder.474 Viele ihrer Angehörigen und Förderer waren wichtige Persönlichkeiten der zeitgenössischen Sozialpädagogik, stammten aus der Praxis, Wissenschaft oder Lehre. Darunter Freideutsche wie der Reformpädagoge und ehemalige Sera-Kreis Angehörige Karl Wilker, der Sozialforscher und Psychologe Curt Bondy, der religiöse Sozialist und Professor für evangelische Theologie Hermann Schafft, der Göttinger Pädagogikprofessor Herman Nohl (vormals Jena), die Pädagogikprofessorin Elisabeth Blochmann (1892–1972), der Verwaltungs- und Rechtsassessor Helmut Tormin (1891–1951), aber auch Personen wie der Sozialarbeiter und spätere Sozialpolitiker (CDU) August Oswalt (1892–1983), der reformpädagogisch orientierte Berliner Jugendrichter Herbert Francke (1885–1947) oder der Sozialwissenschaftler und Nationalökonom Hans Achinger (1899–1981). Die Gildenmitglieder stammten nicht nur aus den verschiedenen Gruppen der Jugendbewegung, sie ordneten sich auch verschiedenen politischen Richtungen im Parteienspektrum zu und gehörten unterschiedlichen sozialen Schichten an. Zur Gilde gehörten „Proletarier und Bürgerliche, politisch rechts und links Stehende, Kirchenanhänger und -gegner“ sowie Personenkreise vom leitenden Sozialarbeiter bis zum Praktikanten.475 Die Gildenmitglieder suchten zum einen eine Fortsetzung jugendbewegter Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung, zum andern ging es ihnen um die verantwortliche Mitarbeit an der Beseitigung wirtschaftlicher und sozialer Miss-
472 Justus Erhardt: Die Stellung der Jugendbewegung in der Sozialen Arbeit, in: Das Junge Deutschland, 20 (1926), H. 7, S. 207–212; Ders.: Zusammenschluß der sozial Tätigen aus der Jugendbewegung, in: Das Junge Deutschland, 21 (1927), H. 3; Ders.: Die Jugendbewegung in der sozialen Arbeit. In: Das Junge Deutschland 24 (1930), H. 2, S. 50–56. 473 Brockmann, Alwin (1925): Jugendbewegung und soziale Arbeit, in: Werner Kindt (Hrsg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf/Köln 1974, S. 1497–1498. 474 Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933, darin das Kapitel „Jugendbewegung und soziale Arbeit“, S. 1477–1520, hier S. 1480. 475 Curt Bondy: Die Gilde „Soziale Arbeit“ und ihre Stellung zur Politik, in: Das Junge Deutschland 24 (1930), H. 1, S. 66–70, hier S. 68.
208 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 stände und die Unterstützung entsprechender Pläne und Initiativen. Trotz weltanschaulicher und politischer Gegensätze bestand unter den Mitgliedern Einigkeit über das pädagogische und soziale Ziel der Gilde. In ihr versammelte sich der „Typus des ,pädagogischen Menschen‘“476. Im Innern wie im Außen ging es darum, für Menschen anderer politischer Einstellung und sozialer Herkunft offen zu sein. In ihrer Arbeit wollten die Gildenmitglieder „Idee und Haltung der Jugendbewegung verwirklichen“, ihr Ziel war „soziale Arbeit im Geiste der Jugendbewegung“. Ferner suchte die Gilde Unterstützer und Mitarbeiter für das Berufsfeld der Sozialen Arbeit zu gewinnen und diese pädagogisch zu schulen. Über die Kreise der bürgerlichen Jugendbewegung und der Jugendpflege hinaus wollte die Gilde durch Vorträge, Aussprachen, Tagungen oder auch Schulungswochen für Führungskräfte „Kenntnisse über soziale Tatsachen und Zusammenhänge sowie Verständnis für soziale Probleme“ vermitteln und Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung der sozialen Arbeit gewinnen.477 Auf den Schulungswochen bzw. Gilde-Tagungen der Jahre 1927 bis 1932, die oft zusammen mit lokalen Kooperationspartnern auf dem Feld der Sozialarbeit und -forschung veranstaltet wurden und vornehmlich in den östlichen Teilen Deutschlands z.B. in Ludwigslust/Mecklenburg, Friedrichroda/Thüringen und in der Sächsischen Schweiz stattfanden, standen Fragen der Erwachsenenbildung und Fürsorgeerziehung bzw. Heimerziehung, soziale Berufe sowie Ausbildung, fachliche Orientierung und aktuelle Gegenwartsprobleme des Sozialarbeiters im Vordergrund. Zweck der Gilde war also nicht nur der Aufbau eines berufsspezifischen Unterstützungsnetzwerkes, sondern vor allem auch die Sammlung und Verbreitung von Erkenntnissen über fortschrittliche, zeitgemäße Wege und Formen Sozialer Arbeit sowie generell die Förderung der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit. An der ersten Gilden-Tagung 1927 nahmen mehr als 300 Mitglieder teil, deren Zahl sich bis 1932 auf 800 bis 1000 erhöhte. Die hohe Mitgliederzahl kam zustande, weil sich seit 1925 überall in der Republik der Gilde angehörende örtliche und regionale Arbeitskreise gebildet hatten.478 Zu Weiterbildungs- und Informationszwecken veröffentlichte die Gilde seit 1925 einen eigenen Rundbrief. In den von 1925 bis 1933 sporadisch erscheinenden Heften wurden Beiträge zu Sachfragen, organisatorische Mitteilungen und Termine veröffentlicht. Inhaltlich griff man bestehende Probleme in der Sozialpolitik und Sozialarbeit auf, vor allem wollte man aber zur Verbreitung neuer 476 Bondy, Die Gilde „Soziale Arbeit“ und ihre Stellung zur Politik, S. 68. 477 Ebd., S. 66–67, 70. Das Programm der Gilde ist abgedruckt in Kindt, Die bündische Zeit, S. 1499–1500. 478 Zu den Zahlen und zur Entwicklung der Gilde vgl. Kindt, Die bündische Zeit, S. 1480–1482. Für 1930 spricht Curt Bondy von etwa 600 Mitgliedern. Vgl. Bondy, Die Gilde „Soziale Arbeit“ und ihre Stellung zur Politik, S. 66.
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Erkenntnisse und Entwicklungen im Praxisfeld Soziale Arbeit beitragen. Curt Bondy setzte sich z.B. persönlich sehr für eine Reform der Strafgefangenenfürsorge für Jugendliche ein. Durch die Arbeit der Gilde fanden sich bis zum Ende der 20er Jahre etliche Freideutsche und anderweitig Jugendbewegte in führenden Stellen und Funktionen der Wohlfahrtspflege und Fürsorgearbeit, Jugendgefängnissen, Fürsorgeerziehungsheimen und Zuchthäusern wieder. Auch trug die Gilde zur Etablierung der Sozialpädagogik als Forschungs- und Praxis- sowie als Berufsfeld für Frauen bei, auf dem Männer erst allmählich Fuß fassten. Die Gilde suchte zwar Anschluss an die politischen Parteien, insbesondere an die linken Parteien, die die Soziale Frage und die Sozialarbeit schon historisch stärker gewichteten, eine Festlegung auf bestimmte politische Entscheidungen oder parteipolitische Richtungen kam indes nicht in Frage. Politische Arbeit und Einflussnahme fand vor allem dann statt, wenn es um die Besetzung von wichtigen Leitungspositionen etwa in Jugendämtern oder um Ausbildungsfragen ging. Deutlich grenzte man sich dabei aber von der Arbeit der Parteien, Gewerkschaften und Kirchen ab.479 Die Gilde als Ganzes war politisch neutral, erwartete aber von jedem Mitglied eine lebendige Teilnahme am politischen Geschehen der Zeit. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus nahm die Gilde 1932 den Standpunkt ein, dass für radikale politische Einstellungen weder in der Gilde noch in der Sozialen Arbeit Platz sei, da solche der Idee der Sozialen Arbeit fundamental entgegenstünden. Im Sozialabbau der Faschisierungsperiode, von dem sie selbst betroffen war, sah die Gilde eine existenzielle Bedrohung der sozialpädagogischen Aufbauarbeit der 20er Jahre. In Bezug auf die politischen Entwicklungen diskutierten die Gildenmitglieder ein ums andere Mal über die Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns. Anders als in der sozialistischen und marxistischen Sozialarbeit kam es in der Gilde aber nicht zu einer einheitlichen und eindeutigen Reaktion, dafür war die Gruppierung politisch zu heterogen. Die Frage nach politischem Engagement und parteipolitischer Orientierung sollte jedes Mitglied für sich klären. Die Gilde als Ganzes hielt deswegen Distanz zu den politischen Auseinandersetzungen. Mit dem NS verbanden sich genauso Hoffnungen wie Ängste, also wartete man ab. Um schließlich der Gleichschaltung durch das NS-Regime zu entgehen, löste sich die Gilde Anfang 1933 selbst auf. Die Mehrheit der Gildenmitglieder blieb auch danach in der Sozialarbeit tätig.480 Die ideelle und persönliche Verbundenheit der Gildenmitglieder wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich. Nach 1947 sammelten sich nach und nach alte und neue Mitglieder. Sie gehörten zumeist den Trägern öffentlicher und frei479 Vgl. Bondy, Die Gilde „Soziale Arbeit“ und ihre Stellung zur Politik, S. 68. 480 Vgl. Dudek, Leitbild: Kamerad und Helfer, S. 190–195.
210 | Teil II: Freideutsche Jugendkulturen und ihre Publizistik von 1905–1933 er Jugendhilfe und Sozialarbeit an oder arbeiteten in sozialpädagogischen Ausbildungsstätten. Themen der 50er Jahre waren Jugendarbeitslosigkeit, sozialer Wandel und erzieherische Perspektiven. Wichtige Stichworte waren Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. In den 60er Jahren diskutierten die Gildenmitglieder neue Erziehungsformen in der Jugendhilfe und Heimerziehung, daneben setzte man sich kritisch mit dem Verhältnis von autoritären und demokratischen Strukturen im Schnittpunkt von Sozialpädagogik und sozialer Arbeit auseinander.481
10.9 Der Silvester-Kreis (1931/32–1933) Ein beredtes Beispiel für die kritische Reaktion von Freideutschen auf den heraufziehenden NS, aber auch für die politische Wirkungslosigkeit einer bloßen Verantwortungsgemeinschaft ohne politische Aktions- und Einflussbasis war der von 1932 an für mehrere Treffen zusammengekommene Silvester-Kreis482 um Wilhelm Flitner, Theodor Steltzer, Oskar Hammelsbeck und Theodor Bäuerle. Der Freundeskreis aus gleichgesinnten Pädagogen und Erwachsenenbildnern (zumeist mit Freischar-Vergangenheit) diskutierte die ethischen Grundlagen der Politik und wollte diese durch die Rückbesinnung auf moralisch-politische und staatsrechtliche Prinzipien aus dem Geist des Evangeliums und der abendländischen Humanität neu fundamentieren. Zu den Freideutschen im Kreis zählten neben Flitner auch Fritz Laack, Erich Weniger, Fritz Klatt, Adolf Reichwein und Hans Freyer. Zum Kreis gehörten auch Vertreter des späteren deutschen Widerstandes, namentlich der Pädagoge Adolf Reichwein, der sich 1940 der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis anschloss und 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, und der Religiöse Sozialist Otto Heinrich von der Gablentz. Bevor sich der Kreis unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Herrschaftsübernahme im Mai 1933 selbstständig auflöste, hatte Wilhelm Flitner als einflussreiches Mitglied des Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände noch einmal öffentlich auf die drohenden Gefahren hingewiesen.483 Die Perspektive des Kreises war unter den neuen polizeistaatlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben und Kooperationen mit anderen Kreisen wurden gefährlich.
481 Vgl. Stambolis, Die Gilde Soziale Arbeit – Kinder- und Jugendfürsorge vor dem Hintergrund der Erfahrungen zweier Weltkriege, S. 355–357. 482 Herrmann, Wilhelm Flitner, S. 98–101; Gerhard Jürs: Wilhelm Flitner, ein Humanist in bewegten Zeiten. Illusionen, Kampf und Resistenz, Hamburg 2018, S. 140–150; Flitner, Erinnerungen 1889–1945, Bd. 11, S. 345–353. 483 Wilhelm Flitner: Die Jugend im Kampf um Deutschland, in: Das Junge Deutschland, 27 (1933), H. 1, S. 1–11.
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Teil III: Typologie und Charakteristik der kreisbezogenen Praxis des freideutschen Denkkollektivs
1 Einführung in die Typologie Anhand der untersuchten Manifestationsorte konnten zum einen die jeweils prägenden Vergemeinschaftungs-, Handlungsbildungs- und Verstetigungspraxen sowie die Publikationsformate der freideutschen bürgerlichen Jugendkulturen herausgearbeitet werden, zum andern ihre handlungsleitenden Ordnungsideen in ihrem Werte- und Normenrahmen. Gezeigt wurde die Formierung einer akademisch geprägten kulturellen Avantgarde und die Evolution ihres charakteristischen Programms. Ihre Entwicklung verlief über die zielgerichtete Gründung eigener Schülergemeinschaften, eigener studentischer Gemeinschaften, entsprechend weiterführender und eigenständiger Gruppenformate im beruflich-gesellschaftlichen Rahmen, die begleitende Gründung eigener Publikations- und Verständigungsformate sowie die Gründung eigener Bildungsinstitutionen. Es kristallisierte sich der klassische Typus einer akademisch geprägten Suchbewegung heraus, die die in Deutschland wechselvoll verlaufende Modernisierung und die damit einhergehenden Möglichkeits- und Handlungsräume als Interpret und als Entwickler konstruktiver Ordnungsideen und Sozialpraktiken prägte. Ihre Praxis verlief dabei an den Schnittstellen von Gesellschaft, Kultur und Politik. Das Programm der Freideutschen war sein Inhalt: Selbstbildung, Selbstreform, Geselligkeitsreform, Lebensreform und Gesellschaftsreform; die Suche nach einem neuen Ethos, nach anknüpfungsfähigen wie zukunftsweisenden politischen Ideen und kulturell-moralischen Werten, nach den normativen Grundlagen einer neuen sozialen und politischen Einheit des Volkes. Ausgangspunkt sollte ein in ihren Selbstbildungsgemeinschaften entwickelter neuer Akademiker- und Bürgertypus sein, den die Freideutschen verkörpern wollten. Dieser sollte sich durch seinen Habitus, seine natürliche Autorität und moralische Integrität, seinen Gemeinschafts- und Gemeinsinn, seine Bildung und Weltoffenheit, seine Toleranz und sein politisches Ausgleichsdenken für gesellschaftliche Führungsaufgaben empfehlen. Der Avantgardismus der Freideutschen lag eben genau darin: in Zeiten erhöhten gesellschaftlichen Anpassungsdrucks und einer zunehmenden Ideologisierung der politischen Orientierungen entwickelten sie eine Verständigungsgemeinschaft in Form einer selbstständigen, sozial und kulturell konstruktiven Geselligkeit, deren Kern die humanistischen Ideen von Freiheit, Verantwortung und gestaltendem Subjekt sowie die Idee gemeinschaftlicher Selbstbildung war. Im Rahmen traditioneller bürgerlicher Lebensordnungen entwickelten sie ihr außerschulisches, studentisches und kulturelles Leben selbst; zum Teil halfen sie sogar dabei, ihre späteren Berufsfelder zu entwickeln. Innerhalb ihrer selbsterzieherisch angelegten Gemeinschaften vermittelten sie sich gegenseitig, https://doi.org/10.1515/9783110783667-016
214 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs lebten und erlernten, was sie für das geeignete Rüstzeug der Zukunft hielten. Dabei entwickelten sie einen ausgeprägten intellektuell-sozialkritischen Habitus in Verbindung mit einem charakteristischen sozialpraktischen Impetus. Darin bildeten die Freideutschen als Akteurskollektiv eine Avantgarde. Als solche entwickelten sie ihren eigenen Gestaltungshorizont, ihre eigene gesellschaftliche und berufliche Perspektive und formulierten ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch. Sie wollten nicht einfach nur eine Antithese zur kulturellen Ordnung ihrer Zeit in den Raum setzen, sondern sie suchten als klassen- und parteiübergreifende Bewegung nach neuen Lösungsansätzen, wie sich individuelles Leben, Erziehung und Gesellschaft zukünftig gestalten könnte. Sie fragten und erprobten, ob man sich unter den geltenden Voraussetzungen anders organisieren, bilden und entwickeln könne, politische Meinungsbildung und soziales Miteinander anders organisieren und aufbauen. Für die Freideutschen zentrale Begriffe waren Gestaltung, Verantwortung und Gemeinwohl. Was ihre Ideen und Praxen anbelangt, entwickelten die Freideutschen innerhalb ihrer Kreise ein bemerkenswertes intellektuelles und innovatives Potential. Dabei agierten sie politischer, als man es gemeinhin von kulturellen Avantgarden erwarten kann. Damit ist nicht primär die kriegs- und revolutionsbedingte Politisierung und die politische Spaltung der Freideutschen Jugend in ein linkes und ein rechtes Lager sowie eine demokratisch-sozialistisch/humanistischmenschheitlich orientierte Mitte gemeint. Beobachtet werden konnte vielmehr die allmähliche Übertragung ihrer Leitidee einer Kulturerneuerung ins Politische. Der kulturevolutionäre Gedanke der Freideutschen nahm vor dem Hintergrund der Novemberrevolution 1918/19 politische Formen an und wandelte sich zur Idee einer Kulturrevolution. Gerade der linke Flügel und Teile der Mitte verbanden ihre kultur- und gesellschaftsreformerischen Ideen mit den Zielen einer Kulturrevolution im Rahmen der politischen Umwälzung. Vor allem linke und linksliberale Freideutsche wähnten sich als Träger einer bürgerlichen Kulturrevolution, einer Erhebung der Gebildeten, die die politische Revolution ergänzen und im Idealfall anführen sollte. Gerade der linke Flügel der Freideutschen brachte mit seinen Ideen zur Revolutionierung von Schule und Hochschule einen eigenen Akzent in die Revolution 1918/19 ein. Abgesehen von der Teilidentifikation mit bestimmten politischen Ideen und Strömungen, denen man sich zugehörig fühlte (sehr oft waren das Demokratischer/Religiöser/Christlicher Sozialismus), verblieben die Freideutschen gleichwohl größtenteils in ihren eigenen Gemeinschaften. Auch ihr politisches Denken und Wollen konzentrierte sich nach dem Ersten Weltkrieg auf ein Zusammenwirken im Rahmen ihrer größeren Gesinnungs- Verantwortungsgemeinschaft. Politisiert wurde nicht in Parteien, sondern das freideutsche Denkkollektiv wollte weiterhin für sich stehen.
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Von freideutscher Politik zeugt auch die freideutsche Publizistik, die sich bis zum Ersten Weltkrieg primär mit lebens- und kulturreformerischen sowie reformstudentischen Inhalten befasste, dann jedoch immer politischer wurde und erheblich zur politischen (Meinungs-)Bildung der Freideutschen beitrug. Davon abgesehen hatten ihre kultur- und lebensreformerischen Ideen immer auch politischen Charakter und waren in ihrer Zielsetzung mit der Ebene des Politischen verknüpft. Da man sich als künftige Führungselite begriff, gehörte politische Bildung zum selbstverständlichen Rüstzeug der Freideutschen, nur sollte das politische Bewusstsein nicht durch Parteidogmen beeinflusst werden. Zwischen der entscheidend von den Freideutschen geprägten studentischen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg und der Studentenbewegung der 1960er/ 70er Jahre sowie den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er/80er Jahre existieren trotz völlig unterschiedlicher politisch-normativer Ordnungsrahmen vielfältige Bezüge. Diese werden nach dem Ersten Weltkrieg vor allem mit Blick auf den linken Flügel und die Mitte der Freideutschen sichtbar, was ihre antikapitalistische, antiimperialistische und friedenspolitische Motivation angeht, die Entwicklung von bürgerlichen Subjektivierungsformen, Individualitätskonzepten und Beteiligungsmodellen (Suche nach alternativen Lebensformen, Selbstreform, Geselligkeitsreform) und was nicht zuletzt den Bildungsimpuls angeht (gemeinschaftliche Selbstbildung in Diskussions- und Lesezirkeln). Angesichts der unterschiedlichen Entstehungsbedingungen, Gruppenbildungen und Wirkungsphasen der prägendsten freideutschen Kreise sowie der unterschiedlichen politischen Orientierungen ihrer Mitglieder, stellt sich die Frage, ob und wie die Freideutschen sowohl praktisch als Akteurskollektiv als auch sozialkulturell und politisch als Generationseinheit im 20. Jahrhundert historisch fassbar gemacht werden können. Im Folgenden wird deswegen ein begrifflicher und theoretischer Referenzrahmen entwickelt, dessen empirische Grundlage die im zweiten Teil angestellten Beobachtungen bilden. Diese werden zu einem Begriffssystem im Sinne einer Typologie verdichtet. Bei dieser handelt es sich zunächst einmal im ganz allgemeinen Sinne um ein methodisch-heuristisches Hilfsmittel, mit dem reale, deutungs- und differenzierungsbedürftige Erscheinungen geordnet, kontextualisiert und überschaubar gemacht werden und das als wesentliche Erachtete zum Ausdruck gebracht wird. Theoretisch fundiert wird die Typologie durch Max Webers programmatische Abhandlung „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904, in der er die Verwendung idealtypischer Begriffe und Begriffssysteme als heuristisches Hilfsmittel sozialwissenschaftlichen Forschens begründet. Webers Interesse galt der Frage, inwiefern auf dem Gebiet der Kulturund Sozialwissenschaften objektiv gültige Wahrheiten möglich sind. In seiner „Objektivitäts“-Abhandlung sind Begriffssysteme gedankliche „Mittel zum
216 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Zweck der Erkenntnis“.1 Nach Weber dienen diese nicht dazu, Wirklichkeit originalgetreu abzubilden und um Regel- bzw. Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, sondern vielmehr sollen Begriffssysteme dabei behilflich sein, die soziale Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeit des Sozialen in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit verstehend zu ordnen. Der Idee von der begrifflichen Konstruktion von „Realität“ entspricht Webers gedankliche Figur des Idealtypus.2 Unter einem Idealtypus versteht Weber einen Begriff, der aus der Steigerung einiger Merkmale der Wirklichkeit so gebildet wird, dass er nicht nur als Ordnungsschema brauchbar wird (z.B. Stadt- und Landwirtschaft, die mittelalterliche Stadt, der aufgeklärte Absolutismus), sondern auch dazu dienen kann zu zeigen, dass eine andere Figuration unter diesen Begriff nicht subsumierbar ist. Durch einen als begriffliches Hilfsmittel konstruierten Idealtypus soll nach Weber die „Eigenart eines bestimmten Zusammenhangs“ veranschaulicht und verständlich gemacht werden.3 Dabei ist es wichtig, „die logisch vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf Idealtypen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus“ strikt voneinander zu unterscheiden, weil ein Idealtypus, wie ihn Weber vorschlägt, „etwas gegenüber der wertenden Beurteilung völlig Indifferentes“ ist, der „mit irgend einer anderen als einer rein logischen ,Vollkommenheit‘ nichts zu tun“ hat.4 Der idealtypische Begriff ist somit keine Hypothese, aber „er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen“, er ist „nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen“.5 Der Idealtypus ist für Weber „ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ,eigentliche‘ Wirklichkeit ist“, und welches noch viel weniger als ein Schema dienen soll, in das die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte; sondern der Idealtypus hat für ihn die Bedeutung eines „rein idealen Grenzbegriffes“, an welchem „die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird“. Die idealtypische Begriffsbildung dient der „Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und Bedeutung“. Theoretische Begriffsbilder sind also nicht dazu gedacht, den „,eigentlichen‘ Gehalt, das ,Wesen‘“ der geschichtlichen Wirklichkeit zu fixieren, sondern sind der Versuch, historische Zusammenhänge „in genetische Begriffe“ zu fassen.6 Abgeleitet werden kann ein solcher Idealtypus
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Weber, Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 255. Webers Ausführungen zum Idealtypus finden sich ebd., S. 234–262. Ebd., S. 234. Ebd., S. 245. Ebd., S. 234. Ebd., S. 237–239.
1 Einführung in die Typologie
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nach Weber durch „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“ eines bestimmten historischen Zusammenhangs, „durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen“ und ein in sich einheitliches Gedankengebilde ergeben. Dieses Gedankenbild ist jedoch in seiner „begrifflichen Reinheit nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar“, weswegen die historische Arbeit vor der Aufgabe steht, „in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht“.7 Zweck einer idealtypischen Begriffsbildung, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist es also mit Max Weber gesprochen nicht, „das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen“8 herauszupräparieren. Eine so verstandene Typologie soll vor allem zeigen, was in bestimmten historischen Zusammenhängen nicht zutrifft und wo Unterschiede und Spezifika liegen. Klar ist, je komplexer diese historischen Zusammenhänge sind und je vielseitiger ihre Kulturbedeutung gewesen ist, desto schwieriger ist es, diese auf einen idealtypischen Begriff zu bringen. In diesem Sinne soll die hier erarbeitete Typologie der Freideutschen zur Bildung neuer idealtypischer Begriffe anregen, um so immer neue Aspekte der Bedeutsamkeit sichtbar zu machen. Um die Freideutschen als Akteurskollektiv im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sicht- und erklärbar machen, werden sechs zentrale Charakteristika vorgeschlagen, sechs Idealtypen entworfen, die nachfolgend zu einem heuristischen Begriffssystem im Sinne Max Webers verdichtet werden: Kreis, Bildende Geselligkeit, Verantwortungsintelligenz, Kulturentwicklung, Lebensreform, Avantgarde. Der Idealtypus Kreis wurde bereits in der Einleitung vorgestellt und eingeführt,9 da er sich als grundlegend für das Verständnis von Programm und Praxis der Freideutschen herausgestellt hat, und die anderen fünf Idealtypen in ihrer realhistorischen Ausprägung funktional mit ihm verbunden sind. Sie sind durch Kreis bedingt und geprägt. Bei ihnen handelt es sich also genau genommen um Differenzierungen und Spezifikationen von Kreis. Gleichwohl stellen sie eigenständige Momente der kreisbezogenen Praxis des freideutschen Denkkollektivs dar. Die sechs Idealtypen stellen verschiedene Aspekte von „Freideutsch“ heraus und sind gleichzeitig formende Bestandteile ein und desselben historischen Zusammenhangs.
7 Weber, Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 235. 8 Ebd., S. 248. 9 S. o. S. 27–37.
2 Bildende Geselligkeit Geselligkeit als alternatives politisch-soziales Ordnungskonzept tritt erstmals Ende des 18. Jahrhunderts hervor. Sozialgeschichtlich ordnet sich die Entwicklung geselliger Formen ein in die Entstehung des modernen Assoziations- und Vereinswesens als Ausdruck der Subjektwerdung des Bürgertums.10 Im 19. Jahrhundert grenzte sich der Geselligkeitszweck dann immer stärker von der aufklärerischen Idee zweckgerichteter Gesellschaftsbildung ab, wie sie vor allem in Vereinsgründungen als bevorzugter Organisationsform des liberalen Bürgertums zum Ausdruck kam.11 Der universalistische Gesellschafts- und Gemeinschaftsbegriff der Aufklärung wurde allmählich durch freiere Konzepte der Selbstorganisation und Geselligkeit wie Bund, Orden oder später auch Kreis verdrängt. Im Vordergrund standen hier Freiwilligkeit und Zweckfreiheit der Bindung. Prinzipien wie Freundschaft und Individualität kamen stärker zum Ausdruck. Den Bedeutungsgehalten einer formalisierten Gesellschaft, deren Individuen einem zunehmend genormten und organisierten Gemeinschaftsleben angehörten, wurde aus bildungsbürgerlicher Sicht die „Herzens- und Gesinnungsgemeinschaft“12 gegenübergestellt. Bereits hier deutete sich die grundlegende Antinomie von Öffentlichkeit im Sinne von Gesellschaft und Privatheit im Sinne von Geselligkeit an, wie sie Ferdinand Tönnies in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“13 von 1887 erstmals soziologisch erfasste. In seiner 1915 erschienen Schrift „Vom deutschen Ideal der Geselligkeit“, schrieb der der bürgerlichen Jugendbewegung, insbesondere dem Sera-Kreis nahestehende Philosoph und Pädagoge Herman Nohl über den kulturellen Wandel in Deutschland: Es ist erst die neue Jugend Deutschlands gewesen, die den tiefen pädagogischen und menschlichen Wert der Geselligkeit wieder verstanden hat. In ihren Gemeinschaften, wie im Wandervogel, in den neuen Jugendbünden an den Universitäten, machte sich das Bedürfnis nach Entwicklung des Charakters durch die Gemeinschaft, nach neuen Formen des geselligen Daseins, nach der vollen Freiheit der persönlichen Haltung, […] geltend.14
10 Dazu Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart 1998. 11 Vgl. Klaus Nathaus: Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 106. Ferner Wolfgang Hardtwig: Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789–829. 12 Hardtwig, Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, S. 801. 13 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Kulturformen, Leipzig 1887. 14 Nohl, Vom deutschen Ideal der Geselligkeit, S. 132. https://doi.org/10.1515/9783110783667-017
2 Bildende Geselligkeit
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Nohl attestierte der bürgerlichen Jugendbewegung, dass sie Wege „für ihr „neues Zusammensein und für die Entfaltung ihrer gesellschaftlichen Kräfte“ gefunden hätte. Dabei verstand er die bürgerliche Jugendbewegung als Teil einer hundertfünfzig Jahre alten „Deutschen Bewegung“, zu der er auch die Epochen des Sturm und Drang und die Romantik zählte, in der die „jungen Kräfte“ des Volkes um einen „neuen Gehalt des Lebens“ rangen. Diese wiederkehrende Bewegung „suche die neue Einheit eines höheren geistigen Lebens, die schließlich im „metaphysischen Grunde“ des Daseins wurzele und die „toten Formen der Kultur“ wiederbelebe und von innen neu gestalte.15 Nohls historische Skizze der Geselligkeitstheorie war stark von der zeitgenössischen geschichts- und kulturphilosophischen Perspektive des kulturellen Verfalls geprägt. Sie knüpfte nicht von ungefähr an die Geselligkeitstheorie Schleiermachers von 1799 an, dessen „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“16 er als Höhepunkt der Theoriebildung ansah, wohingegen die anschließende Verflachung des Geselligkeitsideals Nohl zufolge erst wieder durch die Rekultivierung des Gemeinschaftsideals innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung aufgehalten worden sei.17 In der Tat bietet Schleiermachers Geselligkeitskonzept einige Anknüpfungspunkte für die Erläuterung des hier entwickelten Strukturmerkmals der Bildenden Geselligkeit. Schleiermacher bestimmt Geselligkeit als „dritten Raum“ zwischen den statischen und räumlich begrenzten Entitäten von Arbeit und Familie, der, weitgehend losgelöst von sozialen Zwängen und Notwendigkeiten, den sozialen Bedürfnissen und Bildungsinteressen des modernen Menschen Rechnung trägt. Erst in diesem dynamischen sozialen Raum kann Geselligkeit, können überhaupt soziale Beziehungen und Praktiken entstehen und Menschen kommunikativ in immer neuen und zwanglosen Gruppenbildungen zu „einem potentiell unendlichen Prozess des Erprobens von Sinn“ zusammenkommen.18 Der gesellige Rahmen, wie Schleiermacher ihn entwarf, vereinigt demnach individuelle Interessensbereiche, Erfahrungswelten und Biografien gleichermaßen und trägt kommunikativ und praktisch zur wechselseitigen sozialen und kulturellen Bildung bei. Damit stellt Schleiermacher den Aspekt der gegenseitigen (Weiter-)Bildung in den Vordergrund seiner Geselligkeitstheorie, die im Kern vor allem auf den Eigen- und Bildungswert, die soziale Dynamik und die gesell15 Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, S. 12. 16 Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: Ders.: Schriften, hgg. von Andreas Arndt, Frankfurt/M. 1996, S. 65–92. 17 Vgl. Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 8. 18 Karin A. Wurst: Topographie der Geselligkeit. Geselligkeit und Gartenkultur um 1800, in: Anna Ananieva/Dorothea Böck/Hedwig Pompe (Hrsg.), Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 11–25, hier S. 16–17.
220 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs schaftliche Produktivität der Geselligkeit verweist. Danach erscheint Geselligkeit als flüssiges „Medium der Vermittlung“19 von liberalen und kommunitaristischen Positionen sowie politisch-sozialem Gestaltungsdenken. Schleiermacher definiert Geselligkeit somit als gesellschaftliches Subsystem, dem eine wichtige soziale Bedeutung zukommt. Geselligkeit wird als bildungs-, kultur- und gesellschaftsstiftende Kategorie reflektiert. Schleiermacher folgend sieht auch Nohl die Theorie der Geselligkeit eng verbunden mit der Entwicklung eines Bildungs- und Erziehungsideals.20 Auch er begreift Geselligkeit in erster Linie als Bildungskonzept.21 Zum einen werden durch Geselligkeit Wertvorstellungen überliefert und kultiviert, zum andern beeinflusst die gesellige Praxis bestimmter Gruppen auch bestehende kulturelle Codes, indem durch sie zunächst innerhalb einer Gruppe und davon ausgehend im gesellschaftlichen Diskurs neue Ordnungsmuster etabliert werden. In dieser Hinsicht kann die Theorie der Geselligkeit in ihrer historisch-philosophischen Tradition als „Theorie der lebenslangen Bildungsbereitschaft“22 verstanden werden. Kulturhistorisch weist der Geselligkeitsbegriff nicht nur einen starken Bildungsbezug auf, der mit einer sich seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnden aufklärerischen Öffentlichkeit sowie der damit verwandten Idee zweckgerichteter Gesellschaftsbildung – z.B. durch Vereine – zusammenhängt, sondern in philosophisch-soziologischer Tradition ist dieser genauso auch an den Charakter der Zweckfreiheit und des Selbstzwecks gekoppelt.23 In seiner 1910 entwickelten „Soziologie der Geselligkeit“24 bezeichnet Georg Simmel Geselligkeit zwar als „die Spielform der Vergesellschaftung“ und betont vor diesem Hintergrund ihren primären Selbstzweck, jedoch grenzt er die Geselligkeit gleichzeitig auch vom „leeren Spiel“ und „bloßen Spaß“ ab, indem er auf die „symbolische Bedeutsamkeit der spielerischen Geselligkeit für das gesellschaftliche Leben“ verweist.25 Die 19 Gaus, Geselligkeit und Gesellige, Geselligkeit und Gesellige, S. 66–67. 20 Vgl. Nohl, Vom deutschen Ideal der Geselligkeit, S. 122. 21 Kritisch zu Nohls nationalistischer Ausdeutung des Geselligkeitsbegriffs Peter, Geselligkeiten, S. 8. 22 Wolfgang Hinrichs: Geselligkeit, gesellig, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 456–458, hier Sp. 457. 23 Vgl. ebd., Sp. 458. Ferner Friedrich Bülow: Geselligkeit, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 354–355, sowie Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 801–862. 24 Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Verhandlungen des 1. Deutschen Soziologentages vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main, Tübingen 1911, S. 1–16. 25 Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit, hgg. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen, 1909–1918, Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 12, hgg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 2001, S. 176–193, hier S. 180.
2 Bildende Geselligkeit
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symbolische Dimension der geselligen Unterhaltung bzw. unterhaltenden Geselligkeit verdeutlicht, dass Geselligkeit für Simmel nicht gleichzusetzen ist mit persönlicher Zerstreuung oder Weltflucht. Vielmehr befindet sich die Geselligkeit mit ihrer doppelten Bestimmung als „Spielform“ und „Vergesellschaftung“ bei Simmel in einem „fruchtbaren Spannungsverhältnis“ zur gesellschaftlichen Realität.26 Insofern als Simmel Geselligkeit als „Abstraktion der Vergesellschaftung“ und unter Vergesellschaftung alle Formen sozialer Wechselwirkung versteht. Geselligkeit wird bei ihm zum sozialen Grundmodus von Gesellschaft, zur phänomenologischen Erscheinungsform sozialer Wechselwirkungen.27 Simmel betont deswegen die „ethische Aufgabe der Vergesellschaftung“ – gemeint ist die Geselligkeit –, die für ihn darin besteht, Relationen zwischen Menschen herzustellen und deren Bindungen zu fördern, freizusetzen und umzugestalten. Wie zuvor schon Schleiermacher rekurriert auch Simmel auf Kants Kategorischen Imperativ und benennt ein eindeutiges Prinzip der Geselligkeit, wonach jeder „dem anderen dasjenige Maximum an geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Lebendigkeit) gewähren“ soll, „das mit dem Maximum der von ihm selbst empfangenen Werte vereinbar ist“.28 Für Simmel ist die Geselligkeit damit letztlich ein Miniaturbild jenes Gesellschaftsideals, das er als „die Freiheit der Bindung“29 bezeichnet. Ausgehend von der Annahme eines anthropologischen Geselligkeitstriebes des Menschen hebt Simmel die Prozesshaftigkeit sozialer Interaktion auf der Grundlage wechselseitiger individueller Anerkennung hervor. Er trägt damit der inneren Dynamik von Gruppenprozessen Rechnung, bei denen in der Regel (neue) Verhaltensweisen und Denkformen eingeübt werden, die dann, sei es in Form gemeinschaftlicher Ideale, sei es in Form kultureller Verhaltensnormen, als Postulat auf die Gesellschaft einwirken und neue subkulturelle bzw. milieubezogene Ordnungssysteme entstehen lassen. Nach dieser Lesart können bestimmte Geselligkeitsformen durchaus die Qualität eines gesellschaftlichen Subsystems bzw. eines sozialen Ortes annehmen, an dem soziales Bewusstsein gebildet und verbreitet wird und von dem ausgehend bestimmte Ordnungsvorstellungen und Praxen in die Gesellschaft hineingetragen und implementiert werden.30 Der „subjektiv-affektive Primat der Geselligkeit“31 schließt gesellschaftliche Effekte demnach nicht aus. Im Gegenteil erscheint der spezifische soziale Rahmen der
26 Peter, Geselligkeiten, S. 11. 27 Vgl. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 184. 28 Ebd., S. 183. 29 Ebd., S. 189–190. 30 Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt/M. 1986. 31 Peter, Geselligkeiten, S. 16.
222 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Geselligkeit aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und Heterogenität gegenüber den normativen Beschränkungen der Gesellschaft als potentiell wirkmächtiges Subsystem gesellschaftlicher Transformation. Trotzdem kann Geselligkeit zweckrationale Elemente gesellschaftlicher Organisation enthalten. Die Form der Geselligkeit kann sich auf gesellschaftlich verankerte Verhaltensregeln und Handlungsmuster beziehen oder den kulturell-sozialen Ordnungsvorstellungen einer Gruppe entsprechen, die, zuvor eingeübt, langfristig auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden sollen. Die Form der Geselligkeit hängt wesentlich davon ab, ob mit der Geselligkeit gesellschaftliche Ziele und Erwartungen verbunden werden bzw. durch sie bestimmte politisch-kulturelle Zielsetzungen erreicht werden sollen. Nicht von ungefähr weist Simmel der spielerischästhetischen Komponente, die er in der Geselligkeit ausmacht, eine wichtige soziale Funktion zu: Das Befreiende und Erleichternde aber, das gerade der tiefere Mensch in der Geselligkeit findet, ist: daß das Zusammensein und der Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und die ganzen Schwere des Lebens sich vollzieht, hier in gleichsam artistischem Spiel genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung und Verdünnung, in der die inhaltsbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.32
Simmels Ausführungen lassen sich so verstehen, dass erst der spezifisch zugewandt-freundschaftliche Rahmen der Geselligkeit, die Eigenart ihrer sozialen Dynamik, bestimmte kreative und gestaltungsbewusste Gruppenorientierungen und Kooperationsformen ermöglicht, also jenen „dritten Raum“ gesellschaftlichen Nachdenkens und Handelns erzeugt, der an den Schnittstellen einer Gesellschaft Veränderung initiiert. Simmel begreift Geselligkeit demnach primär als System persönlicher Beziehungen, das aufgrund seiner speziellen Eigenschaften, besondere Möglichkeiten generiert, indem dieses die Individualität der miteinander verbundenen Individuen erhält und fördert, eine Sichtweise, die auch die moderne Soziologie vertritt.33 Als spezifisch soziale Form weist Geselligkeit wesensmäßige Unterschiede zur zweckrationalen Organisation und zu formal geprägten Organisationsstrukturen auf, ohne dabei bloßer Selbstzweck zu sein. Trotz ihres vergleichsweise offenen Rahmens stellt Geselligkeit nicht prinzipiell eine unambitionierte Form der Vergesellschaftung dar, sondern ihre intentionale oder auch nicht-intentionale Produktivität verweist auf einen ihr innewohnenden Entwicklungs- bzw. Transformationsgedanken. Zum einen, weil die Entwicklung von Individuen wesenhaft an soziale Beziehungen geknüpft ist, zum andern, weil die relative (Zweck-)Freiheit sozialer Beziehungen, wie sie die
32 Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193. 33 Vgl. Neidhardt, Themen und Thesen zur Gruppensoziologie, S. 12–34.
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Geselligkeit zum Ausdruck bringt, erhebliche Ideen- und Handlungspotentiale sowie Gruppendynamiken entstehen lässt. Der freideutsche Lyriker Ferdinand Avenarius stellte 1912 in seinem gesellschaftskritischen Artikel „Geselligkeit“34 mit Blick auf die Gemeinschaftsformen der bürgerlichen Jugendbewegung und insbesondere der Freischaren die produktiven Formen von Geselligkeit gegenüber bloßen geselligen Unterhaltungsformen heraus. Im Sinne des im Kunstwart proklamierten kulturellen Fortschritts sprach er sich gegen alle gesellschaftlich wirkungslos und oberflächlich bleibenden Formen der Geselligkeit aus und plädierte stattdessen für eine erbauliche Form der Geselligkeit im Sinne altgriechischer Symposien. Avenarius forderte, das schöpferische Grundpotential der Geselligkeit vollständig abzurufen. Er betonte damit den der Geselligkeit historisch-philosophisch innewohnenden Entwicklungsgedanken sowie ihr Potential im Hinblick auf gesellschaftliche Transformation. Danach erscheint Geselligkeit nicht nur „als möglicher Ort sozialer Utopie“, sondern als dynamischer „Experimentierraum“, als informelle „Institution mit interner Bewegungsfreiheit“35 und eigenen Macht- und Kommunikationskonstellationen. Geselligkeitsgefüge sind somit als mehrdimensionale Bewegungs-, Beziehungs- sowie Wechselwirkungs- und Interaktionsräume mit sich ständig ändernden Macht- und Kommunikationskonstellationen zu begreifen, die geprägt sind von hoher sozialer Dynamik. Sie werden als dynamische Verbindungsräume unterschiedlicher subjektiver Strategien, Praxen, Motivationen sowie Kommunikationsstile und -inhalte verstanden, in denen es zu spezifischen Verständigungs-, Aneignungs-, Verdichtungs-, aber auch Unterscheidungs- und Sezessionspraxen kommt. Geselligkeit als gestaltende Größe der Bürgerlichen Moderne verweist auf den idealistischen/utopischen Gehalt moderner Ordnungskonzeptionen, die vielfach auf der Vorstellung beruhen, die bestehende Ordnung reformieren zu können.36 In der genuin mit der Bürgerlichen Moderne verknüpften Geschichte des Geselligkeitsbegriffs haben sich sozialgeschichtliche Faktoren – höfisches Leben, bürgerliche Lebensformen sowie Transformationen der Moderne – und 34 Ferdinand Avenarius: Geselligkeit, in: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben 25 (1912), H. 1, S. 1–5. 35 Astrid Köhler: Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept, Stuttgart 1996, S. 42. 36 Lutz Raphael (Hrsg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012; Thomas Etzemüller (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Anselm DoeringManteuffel: Ordnung jenseits der politischen Systeme: Planung im 20. Jahrhundert. Ein Kommentar, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), H. 3, S. 398–406; Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht, Frankfurt/M. 1987.
224 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs ideengeschichtliche Faktoren – Nachsinnen über Kommunikation in ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen und Anwendungsmöglichkeiten sowie politisch-soziale Ordnungsvorstellungen und Ideologien – miteinander verwoben. Die unterschiedlichen Formen von Geselligkeit spiegeln die Entwicklung anhaltender Komplexitätssteigerung innerhalb der Moderne wider. Vor diesem Hintergrund vollzog sich die zunehmende soziale Verdichtung und Stilisierung geselliger Beziehungen seit Ende des 19. Jahrhunderts.37 Mithin vereint das Prinzip der Geselligkeit ideen-, sozial- und philosophiegeschichtlich vielfältige Konnotationen und Elemente, die sich entweder strukturell überlagern oder sich im historischen Prozess synkretistisch miteinander verwoben haben. Insbesondere der soziale Zusammenhang zwischen Bildung und Geselligkeit scheint im weiten politischen Spektrum der Moderne zum Teil ambivalente Formen anzunehmen. Geselligkeit erscheint zum einen als Modus politischer und individueller Emanzipation sowie sozialer Kooperation, zum andern als Modus sozial nivellierender Gemeinschaftsideologie und gesellschaftlicher Destruktion. Auch wenn der Aspekt der Bildung bereits im Rahmen der historisch-soziologischen Herleitung des Geselligkeitsbegriffes aufgegriffen wurde, bedarf das Begriffspaar der Bildenden Geselligkeit, das in dieser Arbeit als Strukturmerkmal der Freideutschen konzipiert wird, weitergehender Eingrenzung. Grundlage hierfür ist die Bestimmung der Freideutschen als sozialer Träger neuer Lebens-, Gemeinschafts- und Erziehungsformen. Die freideutschen Jugendkulturen werden als Orte geselliger Bildung und bildender sozialkultureller Praxis verstanden,38 vor allem deswegen, weil es sich bei den Freideutschen um eine kulturelle Elite handelte, deren Ursprünge im gymnasialen und studentisch-akademischen Umfeld liegen. In dieser Erziehungs- und Bildungsumgebung entwickelte sich Selbstbildung zum zentralen Prinzip ihrer Gemeinschaften. Bereits in der frühen Formierungsphase der Freideutschen verstanden sich die gymnasialen Wandervereine und akademischen Freischaren nicht nur als Lebens-, sondern auch als Selbstbildungsgemeinschaften, als „autonome Bildungsbewegungen“39. Die Idee der gemeinschaftlichen Selbstbildung war in den freideutschen Gemeinschaften zentral.40 Bildende Geselligkeit ist insofern sowohl als Prinzip als auch als Praxis zu begreifen.
37 Vgl. Gaus, Geselligkeit und Gesellige, S. 61. 38 Ingrid Miethe/Silke Roth: Bildung und Soziale Bewegungen – eine konzeptionelle Einführung, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 29 (2016), H. 4, S. 20–29. 39 Wilhelm Flitner: Laienbildung, Berlin 1921, S. 39. 40 Vgl. Einleitungsworte Bruno Lemkes bei der Aussprache des ersten Freideutschen Jugendtages, am 10. Oktober 1913, auf dem „Hanstein“, in: Mittelstraß/Schneehagen, Freideutscher Jugendtag 1913, S. 16–21, hier S. 16.
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Die sozialkulturelle Praxis der Freideutschen beförderte Lern- und (Bewusstseins-)Bildungs- sowie Subjektivierungs- und Kommunikationsformen bzw. -techniken, die mit spezifischen politisch-kulturellen Wert- und Ordnungsvorstellungen verbunden waren. Überdies hatte die Praxis der Freideutschen auch die Jugend- und Erwachsenenbildung bzw. die Erziehung selbst zum Gegenstand und zielte in Anlehnung an die Reformpädagogik mittels alternativen Lebens-, Gemeinschafts- und Erziehungsformen und dem Konzept der gemeinschaftlichen Selbstbildung auf deren Reformierung ab. Diese Beobachtung korrespondiert mit der These, bei der bürgerlichen Jugendbewegung habe es sich um eine im wörtlichen Sinne „gelernte Rebellion“41 gehandelt. Primär und praktisch bezog sich das als sinnvolle Ergänzung zur regulären Schul- und Erwachsenenerziehung gedachte freideutsche Selbstbildungsprogramm auf die erzieherische Wirkung in den eigenen Gemeinschaften. Es sollte sich durch die „persönliche Einwirkung von Mensch zu Mensch im Zusammenleben der Gemeinschaft“42 erfüllen und zielte auf die sittliche, geistige und körperliche sowie insbesondere auf die charakterliche Entwicklung einer kulturellen und ethisch-moralischen Führungselite innerhalb ihrer Gemeinschaften, in denen eine neue akademische Jugend, ein neuer Akademikertypus heranwachsen sollte.43 Das individuell Reizvolle am Prinzip der Bildenden Geselligkeit war nicht der unterhaltende Zeitvertreib, sondern die individuell und kollektiv bildungsfördernde Verständigung über kulturelle, soziale und politische Themen, über Entwicklungen in der Wissenschaft und Technik sowie über spezifische Gruppenerlebnisse und -vorhaben. Die humanistische und sozialpraktische Anlage ihres Selbstbildungsprogramms erlaubte es den Freideutschen, die Entwicklung der deutschen und insbesondere der akademischen Jugend als Erziehungsaufgabe schlechthin zu definieren und einerseits die Jugend – als Adressat der selbsterzieherischen Idee –, andererseits sich selbst – als Träger und Vermittler der selbsterzieherischen Praxis – zum evolutionären Faktor der Kultur zu stilisieren. Insofern war in der Selbstbildungspraxis der Freideutschen auch ihr Avantgardedenken angelegt. Der Gedanke der Volksbildung war integraler Bestandteil ihres Programms und ihrer Praxis. Der ausgeprägte sozialpraktische und volksbildnerische Impetus der Freideutschen zeigte sich früh an den vor dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen deutschen Universitätsstädten, unter anderem in München, Berlin, Freiburg, Heidelberg, Göttingen und Jena, von Mitgliedern der Freischaren ins Leben
41 Aufmuth, Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, S. 144. 42 Quintus, Die Deutsche Akademische Freischar, S. 438. 43 Vgl. ebd., S. 437.
226 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs gerufenen „Sprechsälen“44. Die insbesondere von freideutsch geprägten Studierenden getragene Sprechsaalbewegung war vor dem Ersten Weltkrieg Ausdruck einer neu entstehenden bzw. einer sich wandelnden Jugendkultur, die durch die bürgerliche Jugendbewegung entscheidend forciert worden war.45 Die selbstorganisierten Sprechsäle, in denen es um jugendemanzipatorische Themen wie etwa Sexualmoral, Erziehung und Geschlechterrollen, um gesellschaftspolitische Themen wie die Frauen- und Friedensbewegung, aber auch um klassische Bildungsthemen wie Kunst oder Literatur ging, sollten als soziale Treffpunkte sowie als Diskussions- und Bildungsforen für Jugendliche und junge Erwachsene dienen. Im Hinblick auf gesellschaftliche Emanzipation und Partizipation stellten diese von den Freideutschen betriebenen Einrichtungen für die Jugend des Wilhelminischen Kaiserreichs eine große Errungenschaft dar. Das Personal der Freischaren hatte mehr und anderes im Sinn als nur die eigene Ausbildung und das persönliche berufliches Fortkommen, es fühlte sich als Träger einer künftigen Kultur und in dieser Hinsicht dem Gemeinwohl verpflichtet. Ihre privilegierte und qualitativ hochwertige Ausbildung interpretierten die Freischaren nicht nur als Berechtigung zur Selbsterziehung, sondern vor allem als soziale Verpflichtung, als sozialethischen und -praktischen Imperativ beim Aufbruch in eine noch ungewisse Zukunft. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich das volksbildnerische Engagement der Freideutschen in der Volkshochschulbewegung der Weimarer Republik fort. Ihr mit dem Prinzip der Bildenden Geselligkeit verbundener sozialpraktischer und volksbildnerischer Impetus spiegelt sich in den zahlreichen programmatischen, praktischen und personellen Verbindungen der Freideutschen zur Volkhochschulbewegung und zur Reformpädagogik sowie auch in der Gründung eigener Bildungsinstitutionen wider – etwa in Form von (Heim-)Volkshochschulen oder Landschul- bzw. Landerziehungsheimen. Hier wurde das Prinzip der Bildenden Geselligkeit institutionalisiert und in pädagogische Formen gegossen. Programmatik und Praxis der Freideutschen lassen in dieser Hinsicht einen originären Zusammenhang zwischen Geselligkeit und Bildung erkennen. Im engeren Sinne bezieht sich Bildende Geselligkeit zum einen auf die Praxis der Gemeinschafts- und Gruppenbildung im Sinne der Heranbildung einer neuen kulturellen Führungsschicht und damit auf den volk-bildenden Aspekt freideutscher Geselligkeit, zum andern auf das intellektuell-pädagogische Element der politischen, kulturellen und sozialen (Weiter-)Bildung im Sinne einer gemein-
44 Dazu Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft, S. 139–142; Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn/Obb. 2002, S. 121–148. 45 Zum jugendkulturellen Wandel Wilfried Ferchhoff: Jugend an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Opladen 1999, S. 21–48.
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schaftlichen Selbstbildung, aber auch im sozialpraktischen Sinne einer Demokratisierung von Bildung und Bildungschancen (Volksbildung). Bildende Geselligkeit beschreibt damit nicht nur ein Gruppenprinzip, sondern konzipiert sich auch als neuartige Form bürgerlicher Subjektivierung. Bildung und Geselligkeit verschmelzen bei den Freideutschen zum Prinzip der Selbstbildung, womit der bewusste und zielgerichtete gegenseitige Wissensund Informationsaustausch im Sinne wechselseitiger Weiterbildung und die Persönlichkeits- und Charakterbildung gemeint ist. In politisch-kultureller Hinsicht deckt sich das freideutsche Konzept der Jugend- und Erwachsenenbildung mit dem um die Jahrhundertwende aufkommenden Ansatz der Volksbildung bzw. Volkserziehung, der von der zeitgleich einsetzenden Landerziehungsheimbewegung sowie der Reformpädagogik systematisiert und von 1919 an in der Weimarer Republik zum Tragen kam. Zwar wurde die Idee der „Volk-Bildung“46 durch Volksbildung auch von der Völkischen Bewegung aufgenommen, im Unterschied zur kulturkritisch-rassistischen Ideologie der Völkischen Bewegung verfolgten die Freideutschen jedoch einen kulturalistischen Volksbegriff, der den Entwicklungsmöglichkeiten der technisch-industriellen Moderne grundsätzlich positiv gegenüberstand und primär auf die pädagogische Volkserziehung, im weitesten Sinne also auf die Verwirklichung der Kulturstaatsidee abzielte. Bildung und Erziehung hatten bei den Freideutschen eine immanent starke sozial-konstruktivistische Funktion, insofern ein genuiner Zusammenhang zwischen der gezielten Vermittlung von Bildungsinhalten und Werten – der Idee der Volksbildung – und Vergemeinschaftung – „Volk-Bildung“ – bestand. Abgesehen davon, dass Erziehung bzw. die Reflexion über Erziehung durch ihre Ziele immer schon auf die Zukunft ausgerichtet ist, hat man es bei den Freideutschen darüber hinaus mit einer bewussten Vergesellschaftungspraxis mittels gemeinschaftlicher Bildung zu tun. Der Anspruch des Gebildetseins und der besonderen moralischen Integrität verweist nicht nur auf das Elitedenken der Freideutschen, sondern auch auf ein hohes Maß an sozialem Verantwortungsbewusstsein. Ihr Anspruch, die künftige gesellschaftliche Führungselite zu sein, verpflichtete sie zu einer gründlichen intellektuellen und praktischen Vorbereitung auf kommende gesellschaftliche Aufgaben. Ihr Verantwortungssinn drückte sich darin aus, dass sie ihre Geselligkeit primär zum Zweck der gegenseitigen Bildung und Erziehung nutzten, wissenschaftlich-intellektuelle Förderung also für die Gruppenidentität einen hohen Stellenwert besaß. Ihr Bildungsbedürfnis entsprach den Anforderungen der kulturellen und gesellschaftlichen Aufgaben, vor die sie sich gestellt sahen und spiegelte zugleich ihre Lernbereitschaft und intellektuelle Aufgeschlossenheit
46 Ulbricht, „Volksbildung als Volk-Bildung“.
228 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs wider. Voraussetzung ihrer kulturellen Erneuerungspläne war eine grundsätzliche weltanschaulich-intellektuelle Offenheit gegenüber einer Vielzahl von kulturellen Ideenbeständen, Philosophien und Religionen, aus denen sich für die individuelle Erziehung und die eigene Kultur schöpfen ließ. Diese hervorstechende Form von „Weltoffenheit“ lässt sich auf anthropologisch-soziologischer Ebene mit dem in den 1920er Jahren vom Philosophen und Anthropologen Max Scheler geprägten, von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner entscheidend weiterentwickelten Weltoffenheits-Begriff der philosophischen Anthropologie in Verbindung bringen.47 Entscheidendes Charakteristikum Bildender Geselligkeit ist nicht primär Intelligenz, sondern Selbstwirksamkeit sowie Resonanz- und Resilienzfähigkeit. Resonanz beschreibt dabei die Fähigkeit, Inhalte aufzunehmen, gedanklich und intellektuell aufzubereiten bzw. auszuhandeln und weiterzugeben, wohingegen Resilienz die Fähigkeit meint, soziale Unsicherheiten sowie kulturelle Uneindeutigkeiten und intellektuelle Widersprüche – Erscheinungen moderner pluralistisch und heterogen verfasster Gesellschaften – auszuhalten. Diese Eigenschaften stehen in enger Beziehung mit der akademischen Prägung der Freideutschen und ihrer größtenteils bildungsbürgerlichen Sozialisation. In akademischen Kreisen können sich diese Eigenschaften in der Regel besser entwickeln, weil ihre Angehörigen oft eine hohe intrinsische Motivation mitbringen, sich neue Inhalte anzueignen und deswegen Bildungsthemen allgemein aufgeschlossen gegenüberstehen. Zugleich sind akademische Eliten häufig davon überzeugt, bestehende Fragen und neue Inhalte in ein Antwortverhältnis bringen zu können. Im Hinblick auf die Praxis der Freideutschen wird Geselligkeit somit als umfassendes Bildungs- und Selbstermächtigungskonzept mit ausgeprägtem sozial- und kulturreformerischem Anspruch verstanden. Hinter dem Prinzip der Bildenden Geselligkeit steht ein modernes sozialethisches und -praktisches Handlungsmodell, das seinerseits Ausdruck eines veränderten historischen Selbstbewusstseins innerhalb des Bürgertums bzw. einer neuartigen Form bürgerlicher Subjektivierung im Zusammenhang der Bürgerlichen Moderne ist, die sich um die Jahrhundertwende nicht nur, aber gehäuft und beschleunigt im Umfeld bildungsbürgerlicher Suchbewegungen entwickelte.48 Danach prägten die Freideutschen eine spezifisch moderne Subjektkultur aus, die auf die Entwicklung neuer Lebensformen sowie neuer Subjektivierungsund Vergemeinschaftungsmodelle zielte. Das Prinzip der Bildenden Geselligkeit bezieht sich nicht nur auf soziales Handeln, sondern auch auf den Aspekt der
47 Peter Probst: Weltoffenheit, in: Ritter/Gründer/Gabriel, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2005, Sp. 496–498. 48 Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.
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emotionalen Bindung, bei der Freundschaft und Gemeinschaftsleben im Vordergrund stehen. Geselliges Verhalten im Sinne der Verhaltenslehre, nach der sich das gesellige Individuum nicht nur als Einzelperson, sondern im beständigen sozialen Zusammenhang seiner Mitmenschen begreift, zielt grundsätzlich darauf ab, zum allgemeinen Wohl beizutragen.49 Insofern handelt es sich bei Bildender Geselligkeit um eine in hohem Maße emotional und sozialethisch motivierte Praxis, der eine ausgeprägte moralische Komponente innewohnt. Zwar markiert Bildung in der Regel auch eine soziale Trennlinie entlang Besitz, Einkommen und Status, wenn man so will zwischen Gebildeten und Ungebildeten, jedoch war es eines der wichtigsten Ziele der Freideutschen, die politische und soziale Trennung der Gesellschaft zu überwinden. Ihre Bildung nutzten sie deswegen wie kaum eine andere kulturelle Elite vor allem dazu, anderen Bildung bzw. den Zugang zu Bildung zu verschaffen (Volksbildung). Bildende Geselligkeit tritt als modus operandi einer sich neu entwickelnden Gemeinschaftskultur hervor, die von innen heraus auf eine neue kulturelle Ordnung sowie eine erneuerte staatliche Struktur bezogen war. Sie wendet sich implizit gegen eine einseitig rationalistische Organisation der Gesellschaft und kann als Versuch der Ergänzung einer für unvollständig erachteten sozialen Struktur gelesen werden.50 Geselligkeit fungierte bei den Freideutschen nicht nur als Bildungskonzept, sondern besaß allgemeinen Normcharakter. Im akademischen Zusammenhang führte das soziale Verantwortungsdenken, das mit dem Prinzip der Bildenden Geselligkeit einherging, zu neuen Formen studentischer Geselligkeit, wie sie die akademischen Freischaren als Kerngemeinschaften der Freideutschen Jugend Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten. Das Prinzip der Bildenden Geselligkeit erhielt im Rahmen der Universitäten eine elitäre Konnotation, die sich im Avantgardedenken der Freideutschen ausdrückte und mit dem generellen Elitenbewusstsein akademischer Schichten verbunden war. Im studentischen Zusammenhang zielte die Praxis der Bildenden Geselligkeit darauf, dass gesellige Leben in kulturell verantwortungsvolle Bahnen zu lenken und innerhalb der eigenen Gemeinschaft „größte erzieherische Kraft“51 zu entfalten. Die Ausbildung neuer Geselligkeitsformen wurde als notwendiger Schritt gesellschaftlicher Veränderung verstanden.52 Bildende Geselligkeit war in diesem Sinne als soziales Steuerungsinstrument konzipiert und Ausdruck einer sich allgemein verändernden Zukunftswahrnehmung. Damit einher gingen die Suche nach neuen Subjektivierungsformen und eine allgemein veränderte Auffassung
49 Vgl. Wurst, Topographie der Geselligkeit, S. 16. 50 Vgl. Tenbruck, Freundschaft, S. 453. 51 Ahlborn, Die gegenwärtigen akademischen Verbindungen, S. 5. 52 Vgl. Wilhelm Stählin: Alte und neue Formen studentischer Geselligkeit, Berlin-Dahlem 1929, S. 4.
230 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs von gesellschaftlicher Mitverantwortung, die den gesellschaftlichen Fortschritt vermehrt als Aufgabe von Individuen und Gruppen dachte.53 Das Konzept der Bildenden Geselligkeit stand in direkter Beziehung zu der Frage, welche Lebensführung bzw. welche Form der Geselligkeit der sozialen Verantwortung des modernen Menschen am ehesten gerecht werden konnte. Es handelt sich um ein verantwortungs- und sozialethisches Handlungsmodell, das programmatisch wie praktisch an die Entwicklung und die Zukunft der modernen Gesellschaft gebunden war. Der freideutsche Grundgedanke, dass das „Geschick des Individuums und des höheren Geistlebens auf das engste mit dem des Staates“54 verbunden war, lässt dabei die politische Dimension der Bildenden Geselligkeit in den Blickpunkt rücken. Nicht nur das Vorhaben einer gesellschaftlichen Erneuerung durch Einfluss und Personal der selbstbildenden freideutschen Kreise, auch die Bildende Geselligkeit selbst war politisch, insofern, als die politische Erziehung und Meinungsbildung bis 1918/19 zunehmend Inhalt freideutscher Selbstbildung wurde. Zwar war das Prinzip der Selbstbildung vor allem individualistischer und nicht politischer Natur, gleichzeitig aber waren sich die Freideutschen auch bewusst, dass der Staat, seine Institutionen sowie die wirtschaftliche und soziale Ordnung erheblichen Einfluss auf die Entwicklung und Erziehung des Menschen hatten. Nicht nur in der Revolutionszeit 1918/19, auch in der Weimarer Republik lässt sich in dieser Hinsicht das deutliche Bestreben erkennen, Politik und Erziehung zum individuellen und gesellschaftlichen Nutzen sinnvoll miteinander zu verknüpfen, wobei die Freideutschen die Wichtigkeit der Aufgabe der politischen Bildung für sich schon während des Weltkriegs erkannt hatten, wie das Programm der Freideutschen Jugend deutlich macht. Nicht von ungefähr warfen Freideutsche wie Eduard Heimann, Wilhelm Flitner oder Knud Ahlborn sowie ihnen nahestehende Persönlichkeiten wie der Philosoph und Pädagoge Paul Natorp oder der Pädagoge Walther Koch nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt politische Fragen auf, die auf ihre jeweilige Weise über bloße Parteipolitik hinaus auf eine erzieherische Neuordnung der Gesellschaft wiesen. Ästhetisch-kulturelle und religiösphilosophische Fragestellungen, die seit jeher Teil der Bildenden Geselligkeit und freideutschen Publizistik waren, ließen spätestens nach dem Ersten Weltkrieg ihr politisches Potential bzw. ihren politischen Gehalt erkennen. Praktisch bedeutete das Prinzip der Bildenden Geselligkeit, dass in den selbsterzieherischen freideutschen Gemeinschaften erdacht und erprobt wurde, was später der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen sollte. Das in ihnen geleb-
53 Dazu Wurst, Topographie der Geselligkeit, S. 14–25. Ferner Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1963. 54 Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 164.
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te Prinzip der Selbstbildung diente der Vorbereitung für höhere gesellschaftliche Aufgaben. Selbstreform auf der einen und Gesellschaftsreform auf der anderen Seite waren zwei Seiten derselben Medaille, die durch das Prinzip der Bildenden Geselligkeit miteinander verbunden waren. In ihm drücken sich das in der modernen bürgerlichen Kultur wachsende Interesse an gesellschaftlicher Mitgestaltung und am Experimentieren mit Gemeinschaft und sozialer Ordnung sowie kommunikativen Formen von Öffentlichkeit aus.
3 Verantwortungsintelligenz Zur Annäherung an diesen Begriff werden zwei Analysefiguren der älteren Wissenssoziologie, Karl Mannheims „freischwebende Intelligenz“55 und Ludwik Flecks „Denkkollektiv“56, miteinander verknüpft. Die von Mannheim und Fleck im Rahmen ihrer Wissenschaftstheorie nicht von ungefähr im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelten Analysefiguren sind zum einen Ausdruck einer gewandelten Wissenschaftskultur, zum andern eine Reaktion auf die zunehmende Heterogenität und Pluralisierung (auch von Wissensbeständen und Wissenschaftsdisziplinen) der modernen Gesellschaft. Darüber hinaus lassen beide das Interesse erkennen, neu auftretende bzw. veränderte soziale Vergemeinschaftungs- und bürgerliche Subjektivierungsformen bestimmen zu wollen. Ihr Denken spiegelt nicht nur spezifische sozialkulturelle Veränderungen des 19./20. Jahrhunderts wider, sondern liefert auch das für die Zeit passende soziologische Handwerkszeug für ihre Analyse. Danach erscheint das hier untersuchte Akteurskollektiv auch in ihrem Licht als paradigmatisches Beispiel seiner Zeit. Der Begriff der „freischwebenden Intelligenz“ bezeichnet eine „nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose“ und „nicht allzu fest gelagerte“ soziale (Intelligenz-)Schicht,57 die aufgrund ihrer materiellen und intellektuellen Voraussetzungen befähigt ist, sich weitgehend aus ihrer ökonomisch-sozialen und politisch-kulturellen Gebundenheit zu lösen. Die relative soziale Unabhängigkeit dieser Intelligenz sowie ihre sozialkritische und zeitsensitive Haltung wird dabei maßgeblich von ihrem Bildungsgrad und ihrem sozialen Status geprägt. Letzterer ermöglicht ihr, relativ frei von materiellen Nöten, tradierten Hierarchien, Wertorientierungen, politischen Dogmen und sozialen Klassengebundenheiten zu agieren. Damit sind freischwebende Intelligenzen grundsätzlich weniger ideologiegebunden. Zudem werden sie in vergleichsweise geringem Maße vom normativen Ordnungsrahmen ihrer Umgebung bestimmt. Dadurch weisen sie zugleich eine größere Offenheit für pluralistische Anschauungen sowie eine erhöhte Fähigkeit zur Kontingenztoleranz auf. Ihr Bildungsgrad und ihre relative soziale Unabhängigkeit ermöglichen ihnen, mit ihren Ideen und ihrer sozialkulturellen Praxis performativ auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einzuwirken. Damit sind freischwebende Intelligenzen prädestiniert dafür, an den Schnittstellen innergesellschaftlicher Prozesse zu agieren, wo sie soziale Veränderung
55 Mannheim, Ideologie und Utopie, bes. S. 106–153; Ders., Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde; Ders., Das Problem einer Soziologie des Wissens; Hoeges, Kontroverse am Abgrund. 56 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache; Ders., Denkstile und Tatsachen. 57 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 123. https://doi.org/10.1515/9783110783667-018
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initiieren. Für die Mehrheit der Freideutschen war ihr sozialer Hintergrund (Bildungsbürgertum) und ihre vergleichsweise gute Ausbildung (sehr oft Studium und nicht selten auch Promotion) die Voraussetzung für eine mittel- und langfristig privilegierte, relativ freie und unabhängige Lebensform. Denn entweder hielt die Erwerbsarbeit genügend geistige und körperliche Kapazitäten für ein Engagement in anderen Bereichen frei, oder diese fiel berufsbedingt (z.B. als Pädagoge) direkt mit dem freideutschen Engagement zusammen (Tätigkeit im Kultur- und Bildungsbereich u.dgl.). Begrifflich und strukturell legt der Terminus eine bestimmte Form von Elitenzugehörigkeit nahe. Generell impliziert der Begriff „Elite“ die Ausübung von gesellschaftlicher und/oder politischer Macht. Zu den Merkmalen von Eliten zählen weiterhin Einfluss und Einwirken auf die Gesellschaft sowie eine über die eigene Gruppe hinausgehende Vorbildfunktion: Eine Elite bilden diejenigen Inhaber der Spitzenpositionen in einer Gruppe, Organisation oder Institution, die auf Grund einer sich wesentlich an dem (persönlichen) Leistungswissen orientierenden Auslese in die Positionen gelangt sind, und die kraft ihrer PositionsRolle die Macht oder den Einfluss haben, über ihre Gruppenbelange hinaus zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur und der sie tragenden Normen unmittelbar beizutragen oder die auf Grund ihres Prestiges eine Vorbildrolle spielen können, die über ihre Gruppe hinaus das Verhalten anderer normativ mitbestimmt.58
Als akademisch gebildetes Akteurskollektiv verfügte ein wesentlicher Teil der Freideutschen über Qualifikationen und Leistungspotentiale, die ihnen den Zugang zu jenen Personenkreisen und Strukturen ermöglichten, aus denen sich die Führungskräfte in Kultur, Politik und Wirtschaft rekrutierten. Freischwebende Intelligenz und Elite hängen also insofern zusammen, als freischwebende Intelligenzen in der Regel wenigstens über die geistigen, aufgrund ihrer Kompetenzen ab einem gewissen Zeitpunkt sehr wahrscheinlich auch über die materiellen Ressourcen verfügen, um entweder selbst eine Elite zu bilden oder in die gesellschaftlichen Eliten aufzusteigen. Unter „Denkkollektiv“ versteht Fleck grundsätzlich den „gemeinschaftlichen Träger“ eines bestimmten Denkstils. Ein solches stellt sich grundsätzlich immer dann ein, wenn zwei oder mehrere Menschen im Gedankenaustausch miteinander treten. Jede intellektuell und/oder ideell gebundene Gemeinschaft von Menschen, die im gedanklichen Austausch oder in gedanklicher Wechselwirkung miteinander steht und potentiell über soziale Reichweite verfügt, bildet ein solches Denkkollektiv. Der Begriff bezieht sich somit nicht auf eine definierte Gruppe oder soziale Klasse. Fleck unterscheidet zwischen „zeitweiligen“ Denkkollektiven, die zufällig entstehen und wieder vergehen, und verhältnismäßig 58 Hans P. Dreitzel: Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse, Stuttgart 1962, S. 71.
234 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs stabilen bzw. „beständigen“ Denkkollektiven, die sich um „gewisse feststehende soziale Gebilde“ bzw. Personenkonstellationen gruppieren, deren Bindungskräfte stärker ausgeprägt und deshalb von längerer Wirkung sind.59 Nach Fleck bringt es die komplexe Struktur der modernen Gesellschaft mit sich, dass Denkkollektive sich räumlich und zeitlich vielfach überkreuzen und in Beziehung zueinander treten. Dementsprechend gehört jedes Individuum wie bei Simmel immer mehreren Denkkollektiven (zugleich) an.60 Existiert eine größere Gruppe lange genug, kultiviert diese mit der Zeit eine „beständige Stimmung“, die von der Bereitschaft zur gleichgerichteten Wahrnehmung und einer gleichgerichteten Vorgehensweise geprägt ist.61 Durch die Kultivierung einer solchen „Stimmung“ bzw. durch den Prozess der „gegenseitigen Bestärkung“ und Bestätigung konstituiert sich ein eigentümlicher Denkstil, der sich durch die Ausbildung formaler Strukturen fixiert.62 Unter Denkstil ist eine spezifische gruppenbezogene Wahrnehmungsweise „mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ zu verstehen. Ihn charakterisieren ein gleichgelagerter Problem- und Interessenhorizont sowie ein gleichgelagerter Beurteilungs-, Wahrnehmungs- und Einstellungshorizont. Hinzu kommt eine Übereinstimmung in den Methoden, die als „Erkenntnismittel“ angewendet werden.63 Dazu Fleck: Alle beständigen Denkkollektive, als Träger organischer Denkstile, verfügen über eine identische allgemeine innere Struktur, wenn sie auch im einzelnen verschiedene Formen annehmen kann. Die das Kollektiv erhaltende und seine Mitglieder vereinende Kraft erwächst aus der Gemeinschaft in kollektiver Stimmung. Diese Stimmung erzeugt eine Bereitschaft zum gleichgerichteten Wahrnehmen, Bewerten und Anwenden des Wahrgenommenen, d.h. einen gemeinsamen Denkstil. Sie ist ebenso die Quelle jenes Gefühls gruppeninterner Denksolidarität, […] jener spezifischen Kollegialität, die den „Genossen“, den „Landsmann“, den „Mitgläubigen“, den „Kollegen“ u. dgl. erschafft.64
Ein Denkstil ist demzufolge als „soziales Erzeugnis“, als Resultat sozialer Verdichtung anzusehen, der sich „innerhalb eines Kollektivs durch Wirkung sozialer Kräfte“ ausbildet.65 Danach verfügt jede soziale Gruppe ebenso wie jedes
59 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 60, 135. 60 Vgl. ebd., S. 61, 140. 61 Ludwik Fleck: Das Problem einer Theorie des Erkennens [1936], in: Ders., Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hgg. von Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2011, S. 260–309, hier S. 284–285. 62 Ebd., S. 135, 269. 63 Ebd., S. 130. 64 Ebd., S. 287. 65 Ludwik Fleck: Zur Frage der Grundlagen der medizinischen Erkenntnis [1935], in: Ders., Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hgg. von Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2011, S. 239–259, hier S. 254.
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Individuum über eine „eigene, ihr spezifische gesellschaftliche Wirklichkeit“. „Erkennen“ als soziale Tätigkeit ist daher an die sozialen Voraussetzungen der sie ausführenden Individuen gebunden.66 Je spezifischer und inhaltlich begrenzter eine solche „Denkgemeinschaft“ ist, umso stärker ist die „besondere DenkGebundenheit“ ihrer Mitglieder. Denkstile fungieren in diesem Fall als „soziale Verstärkung“ bzw. als sozialer Vergewisserungsmechanismus.67 Gleichwohl diese durch ihren spezifischen Denkstil über räumliche und soziale Grenzen vielfach verbunden sind, stellen Denkstile geschlossene Systeme mit eigener geschichtlicher Entwicklung dar.68 Diese werden von den verschiedenen Generationen der sie prägenden Gruppen selbstständig (weiter-)entwickelt. Mit Denkstilen verbundene Wissensbestände werden von Denkkollektiven gelebt und dadurch beständig umgearbeitet. Auf diese Weise können passive Elemente eines Wissensbestandes zu aktiven, und aktive Elemente zu passiven werden. Die so stabilisierten Denkstile haben für Individuen und Gruppen verbindlichen bzw. zwingenden Charakter, sie bestimmen, „was nicht anders gedacht werden kann“.69 Eine grundlegende Eigenschaft aller beständigen Kollektive ist daher ihre „mehr oder weniger strenge Abgrenzung“.70 Denkkollektive nehmen in sozialen Zusammenhängen eine entscheidende gesellschaftliche Rolle bei der Wissensproduktion sowie bei der Förderung individueller Erkenntnis- und Bewusstseinsbildung ein. Als Produzenten spezifischer Meinungssysteme fungieren sie als Träger handlungsleitender Denkstile und damit geschichtlicher Entwicklung. Ein solches Denkkollektiv bildeten die Freideutschen. Als Akteurskollektiv mit ausgeprägtem kulturellen und sozialpraktischen Gestaltungs- und Verantwortungsimpetus, das intellektuell und mentalitär befähigt war, soziale und kulturelle Widersprüche und Unsicherheiten auszuhalten und konstruktiv zu verarbeiten, waren die Freideutschen in der Lage, sich von geltenden Normen sowie politischen Dogmen der Mehrheitsgesellschaft zu lösen. Davon ausgehend und in kritischer Auseinandersetzung mit tradierten bürgerlichen Normen und Wertorientierungen, bei gleichzeitiger weltanschaulich-intellektueller Offenheit und Neutralität, suchten sie nach alternativen Lebens-, Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen und realisierten dabei weit in ihr Milieu ausstrahlende kulturell-soziale Erneuerungsideen und -praxen. Dabei 66 Lothar Schäfer/Thomas Schnelle: Ludwik Flecks Begründung der soziologischen Betrachtungsweise in der Wissenschaftstheorie, Einleitung, in: Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. VII-XLIX, hier S. XXII. 67 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 130. 68 Vgl. ebd., S. 140–141, sowie Ders., Zur Frage der Grundlagen der medizinischen Erkenntnis, S. 254. 69 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 125, 130. 70 Fleck, Das Problem einer Theorie des Erkennens, S. 285.
236 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs entwickelten und prägten die Freideutschen eine charakteristische kulturelle und gemeinwohlorientierte Praxis, die, verbunden mit ihrem intellektuellen Habitus, für sie typenbildend wurde. Durch die selbsterzieherische Praxis der freideutschen Gemeinschaften, in denen die lebens- und kulturreformerischen Tendenzen der bürgerlichen Jugendbewegung entscheidend weiterentwickelt und zu einer eigenen sozialkulturellen Praxis konkretisiert wurden, bildete sich bei ihren Angehörigen ein charakteristischer verantwortungsethischer und sozialpraktischer Habitus heraus, wie er prominent als allgemeiner richtungsweisender Lebensgrundsatz in der Meißner-Formel von 1913 zum Ausdruck kam. Deren wichtigste Punkte waren Selbstbestimmung, eigenverantwortliches Handeln, ethisch-moralisches Verantwortungsdenken, eine starke Orientierung am Gemeinwohl, Freiheit und Solidarität. Nicht von ungefähr weist der Text sprachliche Parallelen zu Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ auf, die ganz wesentlich auf staatsbürgerliche Tugenden Bezug nahmen.71 Ausschlaggebend für die charakteristische verantwortungsethische Prägung der Freideutschen waren ihr intellektuell wie moralisch anspruchsvolles Selbstbildungsprogramm, der Anspruch, die kulturelle Führungselite von morgen heranzubilden, sowie ihre besondere Geselligkeitspraxis, die das Prinzip der Eigenverantwortung und den Gemeinschaftssinn förderte. Jeder, der Teil ihrer Gemeinschaften sein wollte, musste die Bereitschaft mitbringen, Verantwortung für seine körperliche Gesundheit und geistig-intellektuelle Bildung sowie für Wohl und Entwicklung der Gemeinschaft zu übernehmen. Ihr soziales und kulturelles Gemeinschaftsleben sollte zu einer wertgebundenen ethisch-moralischen Bildung beitragen und die Entwicklung der Anlagen jedes Einzelnen bestmöglich fördern. Idealtypisch angestrebt wurden Führungspersönlichkeiten mit natürlicher Autorität und ausgeprägtem politischen Ausgleichsdenken. In ihren Gemeinschaften sollten verantwortungsbewusste und sozialpraktisch denkende Menschen heranreifen, die sich, auf Höhe der Fragen und Herausforderungen ihrer Zeit, tatkräftig an der Entwicklung der Gesellschaft beteiligten. Der Schlüssel dazu war die Idee der Selbstreform, was im Hinblick des schon früh gebildeten freideutschen Verantwortungsbegriffs bedeutete, dass jeder noch so großen gesellschaftlichen Veränderung die Selbstreform vorausgehen musste. Der besondere Gestaltungs- und Verantwortungswillen der Freideutschen verweist auf ein aristokratisches Herrschaftsverständnis, das eng mit der Kulturstaatsidee des deutschen Idealismus in Verbindung steht. Diese rekurrierte auf einen Aristokratie-Begriff im ursprünglichen Sinne des Wortes, auf eine Herrschaft nicht der Masse, sondern der Geeignetsten, der Besten oder auch der 71 Vgl. Dieter Brauch: Die Wurzeln der Meißnerformel, in: Ludwigsteiner Blätter. Mitteilungen der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V. 53 (2003), H. 221, S. 11.
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Gebildetsten, auf die Herrschaft einer Elite überdurchschnittlich befähigter Individuen.72 Die Überzeugung von der eigenen Befähigung zur Führung stand bei den Freideutschen in direktem Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis, Avantgarde zu sein. Ihre eigene intellektuelle und ethisch-moralische Erziehung war den Freideutschen soziale Verpflichtung und Verantwortung zugleich. Die Gemeinschaften der Freideutschen waren nicht nach dem Führer-Gefolgschaft-Schema aufgebaut, nach dem einigen Wenigen die autonome Herrschaft über die Gemeinschaft zukam, sondern sie pflegten eine egalitäre Hierarchie, nach der die Gruppe ein entscheidendes Regulativ bildete. Als Führungsperson kam nur in Frage, wer auf alle äußere Anerkennung und hierarchische Kennzeichnung zu verzichten bereit war und darüber hinaus Bereitschaft und Willen erkennen ließ, in herausgehobenem Maße Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen. Statusprivilegien im Bereich der üblichen Kriterien bürgerlicher Hierarchien und Führungsstrukturen existierten dagegen nicht.73 Führung hatte bei den Freideutschen eine starke verantwortungsethische Komponente, die sich zunächst einmal nur auf die Verantwortung und moralische Verpflichtung gegenüber sich selbst und der eigenen Gruppe bezog. Als sozial verbundene Verantwortungsgemeinschaft sollten ihre Angehörigen Verantwortung für die Gesellschaft und ihre Entwicklung übernehmen. Aus der Beobachtung dieser spezifischen freideutschen Gruppenpraxis und -mentalität leitet sich der Begriff der Verantwortungsintelligenz ab. Dieser wird sowohl im sozialen Sinne eines Akteurskollektivs als auch im Sinne eines akteursbezogenen Charakteristikums, einer qualitativen soziologischen Zuschreibung gebraucht. Zum einen wird diese Verantwortungsintelligenz durch die Freideutschen selbst verkörpert, der Begriff also im Hinblick auf eine spezifische soziale Gruppe von Verantwortungsethikern bzw. im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft verwendet. Zum andern zeichnet sich die Verantwortungsintelligenz der Freideutschen durch einen eigentümlichen „Gefahrensinn“74 bzw. ein spezifisches Risikobewusstsein für soziale, politische, kulturelle und ökologische Entwicklungen aus, das mit einem risikobezogenen sozialen Handeln einhergeht.75 72 Explizit wird diese „aristokratische Haltung“ in: Hans Kremers: Freischarchronik, Manuskript vom 22.5.1914, abgeschrieben von Martha Hörmann (Archiv der SUB, Sig. 18: NWEF). 73 Vgl. Walther Jantzen, Die soziologische Herkunft der Führungsschicht der deutschen Jugendbewegung 1900–1933, in: Hinrich Jantzen: Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 4, Frankfurt/M. 1977, S. 11–18, hier S. 17–18. 74 Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hrsg.): Gefahrensinn, Paderborn/München 2009. 75 Zu den Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 1991.
238 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Unter Gefahrensinn wird generell eine Art selbstalarmierende „Witterung“, ein soziales Antizipationsvermögen individueller und kollektiver Akteure verstanden, ein Erfassungs- und Beurteilungsmodus aus „Wahrnehmungsformen, Darstellungsweisen, Verarbeitungsprozeduren“ und Vorsorgetechniken, in dem „wirkliche Bedrohungen und eingebildete Gefahren, Risiken und fantasmatische Heimsuchungen“ meist ununterscheidbar zum Ausdruck kommen.76 Dies bezieht sich auf soziale Ängste sowie als solche wahrgenommene kulturelle, soziale und politische Fehlentwicklungen und Missstände, die in aller Regel mit Dynamiken sozialen Wandels verbunden sind. Der Terminus verweist sowohl auf verborgene bzw. unbewusste als auch auf zwingende bzw. bewusste Handlungsgründe. Damit weist Gefahrensinn auf eine enge Verknüpfung von Zukunft und Gegenwart, insofern das „Hineinwirken der Zukunft in die Gegenwart“ anhaltenden sozialen und/oder politischen Handlungs- und Interventionsbedarf motiviert.77 Der Begriff bezieht sich sowohl auf einen „Willen“ zur Prävention als auch auf eine damit zusammenhängende „Warnpraxis“78 bzw. Selbstalarmierungspraxis sozialer Gruppen und Akteure. Das Warnen wird in diesem Zusammenhang als wichtiger Aspekt sozialen und politischen Handelns begriffen, davon ausgehend, dass Selbstalarmierungen aus Gesellschaften oder sozialen Gruppen heraus Gestaltungs- und Möglichkeitsräume für gesellschaftlichen Wandel eröffnen.79 Die präventive bzw. warnende soziale Praxis der Freideutschen bezog sich auf den eigenen Körper (Lebensreform), aber auch auf dessen Umwelt und die ihn umgebenden sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen: konkret auf Fragen des Natur- und Landschaftsschutzes, der Kultur, der politischen und wirtschaftlichen Ordnung, der Volksbildung und Bevölkerungsgesundheit, der militärischen Rüstung, der europäischen Völkerverständigung sowie der deutschen Innen- und Außenpolitik. Verantwortungsintelligenz als normative Zuschreibung bezieht sich auf eine soziale Praxis, durch die versucht wird, direkt in den Ablauf jener Verhaltensweisen und Prozesse einzugreifen, die für sozial, kulturell und körperlich schädlich oder auch bedrohlich gehalten werden – beispielsweise der Konsum von Alkohol und Nikotin oder Naturzerstörung. Verantwortungsintelligenz entwickelt sich insbesondere dort, wo soziale Ordnungen, die zuvor unhinterfragt blieben bzw. für selbstverständlich genommen wurden, erschüttert oder bedroht 76 Engell/Siegert/Vogl, Gefahrensinn, Editorial, S. 5–8, hier S. 5. 77 Eckart Conze: Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018, S. 119. 78 Lars Clausen/Wolf. R. Dombrowsky: Warnpraxis und Warnlogik, in: Zeitschrift für Soziologie 13 (1984), H. 4, S. 293–307. 79 Frie/Kohl/Meier, Dynamics of Social Change and Perceptions of Threat; Ewald Frie/Mischa Meier/Dennis Schmidt (Hrsg.): Bedroht sein. Gesellschaften unter Stress im Vergleich, Tübingen 2019.
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sind und auf diese Weise für soziale Akteure sichtbar und potentiell gestaltbar werden. In Krisensituationen oder sich wandelnden Ordnungssystemen formieren sich bzw. benötigt es Akteure und Gruppen, die bereit sind, voranzugehen und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Als Verantwortungsintelligenzen und mit ihrer Verantwortungsintelligenz stellen sie Öffentlichkeit her, üben politische Meinungsführerschaft bzw. Deutungshoheit aus, beeinflussen die politische Meinungsbildung und entwickeln und artikulieren neue, für bestimmte Gruppen anknüpfungsfähige Formen des gesellschaftlichen Aufbruchs und/oder der Opposition. Verantwortungsintelligenz verweist auf eine proaktive Haltung zur Gesellschaft im Sinne sozialen Verantwortungsbewusstseins, das auf eine zielgerichtete soziale Entwicklung bedacht bzw. durch soziale und kulturelle Ziele motiviert ist. Der Terminus spiegelt gleichermaßen Eigenverantwortlichkeit und sozialen Verantwortungssinn, die individuelle Bereitschaft zur gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme wider. Er betont eine ausgeprägte soziale Intelligenz wie auch die Zugehörigkeit zu einer höheren Bildungsschicht bzw. akademischen Elite. Der Konzeption von Verantwortungsintelligenz liegt die Prämisse zugrunde, dass „Sorge“ und „Vorsorge“ eine „kennzeichnende und besondere Eigenschaft“ der modernen Gesellschaft im 20. Jahrhundert markieren.80 Theoretisch korrespondiert diese Annahme mit der ontologischen Bestimmung des Daseins als „Sorge“ in der Philosophie Martin Heideggers.81 Danach ist das „In-der-WeltSein“ wesenhaft Sorge. „Sorge als Sein des Daseins“ äußert sich in der Sorge um das „Selbst“ (als „Besorgen“) sowie in der Sorge um den „Anderen“ (als „Fürsorge). „Fürsorge“ gründet in der spezifischen „Seinsverfassung des Daseins als Mitsein“, wonach sich das Dasein gegenüber dem Seienden als „Mitsein“ verhält. Nach Heidegger kann diese in zwei extremen Varianten auftreten: zum einen als „einspringend-beherrschende“ Fürsorge, die dem anderen die Sorge abnimmt, wobei diese Art der Fürsorge die Möglichkeit birgt, dass „der Andere zum Abhängigen und Beherrschten“ wird. Zum andern als „vorspringend-befreiende“ Fürsorge, die dem anderen im Sinne einer Vertiefung seiner Existenz seine „Sorge“ erst eigentlich als solche „zurückgibt“ und ihm dabei dazu verhilft „in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden“.82 80 Elena Esposito: Die offene Zukunft der Sorgekultur, in: Engell/Siegert/Vogl, Gefahrensinn, S. 107–114, hier S. 107. Ferner Florian Sprenger: Gefährdungen der Zukunft, in: Ebd., S. 79–90. 81 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen 2006, (§§ 39–44), S. 180–230, bes. S. 180–200. Als „vorontologisches Zeugnis“ für seine Bestimmung zieht Heidegger die „CuraFabel“ des römischen Gelehrten Gaius Iulius Hyginus (ca. 60 v. Chr. bis 4. n. Chr.) heran. Vgl. ebd., S. 196–198, sowie im Original: Hyginus: Fabulae, hgg. Peter K. Marshall, Stuttgart/Leipzig 1993, Fabulae 220, S. 171–172. 82 Vgl. Heidegger, SuZ, §§ 25–27, S. 113–130, sowie §§ 41, S. 191–196. Die Zitate finden sich auf S. 121–122.
240 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Im menschlichen Lebenszusammenhang räumt Heideggers Philosophie der Zukunft grundsätzlich Vorrang ein. Danach versteht sich der Mensch nicht nur primär aus seiner Zukunft, sondern entwirft sich auch auf diese hin. Dasein gründet für Heidegger damit wesentlich in der Zukunft, insofern der primäre Sinn des Daseins Zukunft ist. Auch „Sorge“, als Modus des Daseins, bestimmt sich vor diesem Hintergrund primär von der Zukunft her.83 Zur „Sorge“ gehört nach Heidegger „wesenhaft Erschließung und Auslegung“, die „umsichtige Gegenwärtigung“, das „Näherbringen der Umwelt in der umsichtigen Überlegung“.84 Im Hinblick auf das Phänomen der Sorge kann von einem Zusammenhang zwischen der Zunahme von Kontingenzerfahrungen und der Entstehung einer regelrechten „Sorgekultur“ bzw. „Kultur der Sorge“ im 20. Jahrhundert ausgegangen werden. Die damit einhergehende gesellschaftliche Liberalisierung, Differenzierung und Pluralisierung vergegenwärtigen das Bild einer nach allen Seiten hin offen strukturierten Zukunft und rücken die Möglichkeit in den Vordergrund, diese in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht beeinflussen und mitgestalten zu können. Die Gestaltung der Zukunft hatte jedoch nicht nur einladenden, sondern auch herausfordernden und verpflichtenden Charakter. Die Offenheit der historischen Situation und gesellschaftlichen Prozesse, die Instabilität tradierter sozialer und kultureller Ordnungen schien es notwendig zu machen, die Gesellschaft durch zielgerichtete Entwicklung in die gewünschten Bahnen zu lenken.85 Die Ordnung der Gesellschaft wurde nicht mehr nur als zentrale Steuerungsangelegenheit der Politik wahrgenommen, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sich einzelne Gruppen und Akteurskollektive zu Eigen machen konnten. Die zunehmende Öffnung und technisch-industrielle Modernisierung der Gesellschaft ließ völlig neue Möglichkeiten und damit auch Verantwortlichkeiten, Handlungsfelder, Kompetenzen und Gestaltungsansprüche entstehen. Unterschiedlichste Akteure und Interessengruppen begannen, sich um die Zukunft der Gesellschaft zu sorgen. Auf Grundlage dieser politischkritischen Potentiale entwickelten sich in den 1970er/80er Jahren in den westeuropäischen Staaten die sogenannten „Risikogesellschaften“86, die die Folgen ihres Handelns mehr und mehr reflektierten und problematisierten, um so zu immer komplexeren Risikoabschätzungen und Vorsorgesystemen zu gelangen.87
83 Vgl. Heidegger, SuZ, §§ 65, S. 323–331, hier S. 326. 84 Ebd., §§ 69–72, hier S. 359, 376. 85 Etzemüller, Die Ordnung der Moderne; Raphael, Theorien und Experimente der Moderne. 86 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. Ferner Eva von Contzen/Tobias Huff/Peter Itzen: Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2018. 87 Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019.
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Dazu passt, dass der Verantwortungsbegriff als relationaler Zuschreibungsbegriff in Europa erst im 20. Jahrhundert aufgekommen und in seinem heutigen gesellschaftspolitischen Verwendungszusammenhang geprägt worden ist. Er ist terminologisch und in seiner heutigen gesellschaftspolitischen und verantwortungsethischen Dimension kein tradierter Begriff der historischen Philosophie. Seine spezifische Prägung und Bedeutung in Deutschland erhielt er erst mit den vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Diskursen im Zusammenhang mit der Modernisierung und damit verbundener sozialkultureller Entwicklungen und Ausdifferenzierungen.88 Spezifisch für die deutsche Debatte ist die starke sozialethisch-theologische sowie kulturkritische Fundierung des Begriffs im Sinne der christlich-theologischen Verantwortungsethik und der vom wissenschaftlichen Technikdiskurs beeinflussten Kulturphilosophie der zweiten Jahrhunderthälfte. Der Begriff selbst geht ursprünglich auf Max Weber zurück, der diesen nach dem Ersten Weltkrieg im Unterschied zur Gesinnungsethik entwickelte und damit in seine Soziologie die Frage der Verantwortbarkeit aufnahm; der Terminus wurde, wenn auch nicht vollkommen übereinstimmend, neben Max Weber außerdem von Ernst Troeltsch und Max Scheler geprägt.89 Verantwortungsethik, im Sinne einer modernen Zukunfts- und Gesellschaftsethik, eines in breiteren Schichten normativ verankerten sozialethischen Verantwortlichkeitsdenkens und -bewusstseins, strukturierte, konzipierte und entwickelte sich im 20. Jahrhundert entlang unterschiedlicher gesellschaftlicher Ausdeutungen und Inanspruchnahmen durch bestimmte Konzepte und Gruppierungen. Für sie spielte der Verantwortungsbegriff in seiner individuellen und/ oder kollektiven Funktion eine zentrale Rolle, sie verknüpften die Sphären individueller und gesellschaftlicher Verantwortung auf ihre spezifische Weise miteinander. Die Freideutschen waren eine dieser Gruppierungen. Die hier eingeführte und durch den Begriff „Gefahrensinn“ näher bestimmte Verantwortungsintelligenz steht als Subjektivierungsform mit den zunehmenden Möglichkeiten und Herausforderungen des 20. Jahrhundert in Verbindung. Verantwortungsintelligenz als Prinzip und Merkmal bestimmter zivilgesellschaftlich aktiver Gruppen innerhalb der bürgerlichen Kultur begann sich zwar Anfang des 20. Jahrhunderts herauszubilden, verfestigte sich in Deutschland jedoch sozial, 88 Ludger Heidbrink/Claus Langbehn/Janina Sombetzki (Hrsg.): Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2016; Jann Holl: Verantwortung, in: Ritter/Gründer/Gabriel, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 566–569, sowie: Harald A. Mieg: Verantwortungsethik, in: Ebd., Sp. 575–576. 89 Zur protestantischen Wendung des Verantwortungsbegriffs in Deutschland Sebastian Demel: Auf dem Weg zur Verantwortungsgesellschaft. Ernst Abbe und die Carl-Zeiss-Stiftung im deutschen Kaiserreich, Göttingen 2014; Gertrude Hirsch Hadorn: Verantwortungsbegriff und kategorischer Imperativ der Zukunftsethik von Hans Jonas, in: Wolfgang Erich Müller (Hrsg.), Hans Jonas – von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003, S. 101–118.
242 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs kulturell und politisch erst nach 1945, was die Freideutschen auch in dieser Hinsicht als ethisch-moralische Avantgarde und Gemeinschaft von Verantwortungsethikern ausweist. Mit dem Kontingenzschub der Jahrhundertwende erfuhr der Zukunftsbegriff eine bis dahin unbekannte soziale Öffnung, die auch dessen Bestimmung neue Dringlichkeit verlieh. Verantwortungsintelligenz bezieht sich demgemäß nicht nur auf die positive Rezeption von Zukunft im Sinne von Zukunftseuphorien und Gestaltungsoptimismus, sondern auch auf deren negative Rezeption bzw. Antizipation, auf beunruhigende Vorstellungen von Zukunft „voll von Bedrohungen und möglichen Schäden“, auf eine Zukunft, die „offen aber auch „unsicher, unerkennbar und potentiell unlogisch ist“,90 Sinnstiftung also nicht mehr ohne Weiteres garantiert. Verantwortungsintelligenz steht für einen verantwortungsethischen Umgang mit den natürlichen, humanen und kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft sowie sozialen und politischen Fragen, für die Fähigkeit zur Ambiguitäts- und Kontingenztoleranz, für das Zulassen und Aushalten von transformationsbedingt entstehenden sozialkulturellen Widersprüchen und Unsicherheiten, steht für einen von Handlungsrationalität geprägten konstruktiven Umgang mit dem Wandel sozialer und kultureller Ordnungen und Leitbilder sowie mit der fortschrittsbedingten Komplexitätssteigerung der individuellen und gesellschaftlichen Lebensumwelt. Vor diesem Hintergrund standen die wiederkehrenden Forderungen von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert nach größerer Eigenverantwortlichkeit, Selbstständigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe, wie sie prominent bis zum Ersten Weltkrieg von der bürgerlichen Jugendbewegung und im letzten Drittel des Jahrhunderts durch die Studentenbewegung der 60er/70er Jahre vertreten wurden, stets im engen Zusammenhang mit der Idee gesellschaftlicher und politischer Verantwortungsübernahme; mit dem Anspruch von der Einbindung möglichst breiter Bevölkerungsschichten in gesellschaftliche Verantwortungsfunktionen; mit dem Ziel von der Vergesellschaftung von Verantwortung – einer Verantwortungsgesellschaft im demokratischen Sinne. Davon zeugen auch die den Freideutschen nahestehenden Strömungen von Demokratischem, Christlichem und Religiösem Sozialismus. Das gesellschaftliche Verantwortungsdenken der Freideutschen zielte auf politische Mitbestimmung und -gestaltung ab. Ihr Verantwortungssinn für das Gemeinwohl, ihre Bereitschaft, eine aktive Verantwortungs- und Gestaltungsrolle in der Gesellschaft zu übernehmen, bedeutete zwingend, sich mit innen- und außenpolitischen Fragestellungen und Entwicklungen befassen zu müssen. Es bedeutete ein kontinuierliches Nachdenken über die Gesellschaft und die grund-
90 Esposito, Die offene Zukunft der Sorgekultur, S. 108.
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sätzliche Bereitschaft, Veränderung auch auf politischem Weg herbeizuführen, wobei die Freideutschen vor allem auf dem Feld der Kulturpolitik tätig wurden. Ihr gesellschaftliches Verantwortungsdenken war politisch. Davon zeugt die große Anzahl derjenigen Freideutschen, die im Zuge des Ersten Weltkriegs und danach im Rahmen freideutscher Publikationsorgane (Freideutsche Jugend, Politische Rundbriefe, Junge Menschen), politischer Bewegungen oder Projekte (Entschiedene Jugend) sowie Arbeitskreise (Freideutscher Bund, Silvester-Kreis) politisch aktiv wurden. Die politische Richtung der Freideutschen deutete sich bereits in den Programmen ihrer frühen Formierungsjahre an, als sich in ihren Gemeinschaften (BDW und DAF) und Zeitschriften lebens-, kultur- und sozialreformerisches Gedankengut anreicherte, das sich nach und nach zu einer langfristigen politisch-kulturellen Agenda verfestigte. Erwähnt wurde bereits an anderer Stelle der dem linken Flügel der Freideutschen nahestehende Westender Kreis91 um Fritz Klatt, Alfred Kurella, Walter Benjamin und Hans Kollwitz, der in der Endphase des Ersten Weltkriegs unter anderem die Gründung kommunistischer Siedlungen diskutierte. Prominente Freideutsche wie Eduard Heimann, Adolf Löwe und Alexander Rüstow fanden sich auch im Berliner Kairos-Kreis92, ein 1919 unter anderem vom Theologen Paul Tillich und dem Sozialpädagogen Carl Mennicke ins Leben gerufener Gesprächskreis Religiöser Sozialisten, der seit 1920 auch Herausgeber der Blätter für Religiösen Sozialismus war. Die Freideutschen Ernst Joe¨l und Friedrich Bauermeister gründeten 1915 den mehrheitlich sozialistisch orientierten Aufbruch-Kreis, dessen Ideen den linken Flügel der Freideutschen beeinflussten und dem auch Gustav Landauer, Karl Bittel und Hans Blüher angehörten. Die Pädagogen Friedrich Schlünz, Fritz Jöde und Max Tepp zählten zum während der Revolutionszeit 1918/19 von Lehrern und Reformpädagogen in Hamburg gegründeten schulkritischen und -reformerischen Wendekreis93, der sich unter 91 S.o. S. 162–163. 92 Paul Tillich: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt 1926; Alf Christophersen: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, sowie Riccardo Bavaj: Von den „Gesellschaftsproblemen der Gegenwart“ zur „sozialistischen Entscheidung“: Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik, in: Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2007), H. 1, S. 97–127. 93 Zum Hamburger Wendekreis Dudek, „Vom Schulmeister zum Menschen“; Ullrich Heiner: Schulreform aus dem Geiste der Jugendbewegung: Der Hamburger „Wendekreis“, in: Herrmann, „Mit uns zieht die neue Zeit, S. 377–402; Klaus Rödler: Vergessene Alternativschulen. Geschichte und Praxis der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919–1933, Weinheim/München 1987. Zur Hamburger Schulreform siehe ferner Herrmann, Wilhelm Flitner, S. 41–48. Charakteristische Texte aus dem Wendekreis sind: Schlünz, Die Entfesselung der Seele (1919 im Freideutschen Verlag Adolf Saal!); Fritz Jöde (Hrsg.): Pädagogik Deines Wesens. Gedanken der Erneuerung aus dem Wendekreis, Hamburg 1919 (ebenfalls im Freideutschen Verlag).
244 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs der Leitidee eines Neuen Menschen für eine umfassende Reform von Schule und Erziehungsformen einsetzte. Exemplarisch für das politische Wirken und kulturpolitische Wollen vieler Freideutscher in ihrem späteren Leben war der von Wilhelm Flitner Ende 1932 ins Leben gerufene Silvester-Kreis94. Bis zu seiner Selbstauflösung Mitte 1933 machte es sich dieser zur Aufgabe, Entwicklung und Problemlagen der Weimarer Republik auf den verschiedenen Feldern von Staat, Politik und Kirche sowie Wirtschaft und Gesellschaft zu erörtern und alternative Konzepte zu entwickeln. Freideutsche wie Fritz Borinski zählten auch zum Leipziger Leuchtenburgkreis, eine Gemeinschaft politischer Jugend, die der DDP und der bündischen Jugendbewegung der 20er Jahre, insbesondere der Deutschen Freischar, nahestand und sich in der Weimarer Republik unter dem Stichwort Bündischer Sozialismus für eine stärker sozialistisch geprägte Gesellschaftsordnung sowie eine Erneuerung der deutschen Demokratie einsetzte.95 Allen diesen freideutschen Engagements war gemein, dass sie sich mit der Bereitschaft zur gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme mit konkreten sozialen, kulturellen und politischen Fragen befassten, die die zukünftige Entwicklung Deutschlands betrafen.
94 S. o. S. 210. 95 Fritz Borinski u. a. (Hrsg.): Jugend im politischen Protest. Der Leuchtenburgkreis 1923–1933, Frankfurt/M. 1977.
4 Kulturentwicklung – Medium und Motor von Erneuerung und Fortschritt Kulturentwicklung soll hier verstanden werden als soziales Movens und soziale Praxis zugleich. Der Begriff bezieht sich zum einen auf das Prinzip einer ideengeleiteten kulturellen Selbstmobilisierung, zum andern auf handlungssteuernde politisch-soziale und kulturelle Ordnungsvorstellungen sowie damit verbundene gesellschaftliche Praktiken. Kulturentwicklung wird dementsprechend nicht nur als Begleiterscheinung zivilisatorischen Fortschritts im Sinne der historischen Anthropologie oder einer Erfolgsgeschichte der Moderne verstanden, sondern im Sinne einer aktiven politisch-kulturellen Haltung, die im weitesten Sinne auf die kulturelle oder soziale Weiterentwicklung der Gesellschaft abzielt. Damit wird Kulturentwicklung als rationaler und bewusster Gestaltungsmodus konzipiert, der inhaltlich und praktisch auf die (Weiter-)Entwicklung des Individuums und auf die Reformierung bzw. Erneuerung der bestehenden Kultur ausgerichtet ist und sich an fortschrittlichen bzw. für fortschrittlich gehaltenen Wissensinhalten und politisch-kulturellen Normen orientiert. Kulturentwicklung als Gesellschaftsreform ist in der freideutschen Praxis aufs Engste mit dem Programm der Selbst- und Lebensreform sowie mit dem Prinzip der gemeinschaftlichen Selbstbildung verknüpft. Kultur als Gesamtheit der Normen, Riten, Sitten sowie geistiger, gestaltender und künstlerischer Leistungen einer Gesellschaft transportiert nicht nur den Zeitgeist einer Epoche – ausdifferenziert in viele unterschiedliche kulturelle Wertbestände, Denkmuster und Selbstinterpretationen –, sondern drückt auch wissenschaftliche und philosophisch-anthropologische Werthaltungen und Anschauungen sowie in politischer Hinsicht das Anspruchsdenken bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Klassen aus. Parallel zur Idee der Nation, die im Laufe des 19. Jahrhunderts große Bedeutung für Bildung und Aufbau eines deutschen Nationalstaats bekam, verbanden sich in Deutschland mit dem Kulturbegriff zunehmend gesellschaftliche Entwicklungshoffnungen. Das 19. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert eines romantischen Historismus, sondern auch eines entwicklungsgeschichtlichen bzw. evolutionistischen Denkens. Sozialdarwinistisches Geschichtsdenken und evolutionistisches Sozialdenken waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet und eng miteinander verzahnt. Historisch und geschichtsphilosophisch wichtige Ordnungsgrößen wie Kultur oder Volk wurden zu Vehikeln gesellschaftlicher Entwicklung bzw. Evolution und nationaler Konstruktion – im Positiven wie im Negativen. Die Leitidee kultureller und sozialer Evolution entfaltete vor dem Ersten Weltkrieg gerade deshalb eine solche Wirkmächtigkeit, weil ihr die Erfahrung sozialer Polarisierungen und kultureller Pluralisierung herausfordernd gegenüberstand. Im https://doi.org/10.1515/9783110783667-019
246 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs gesellschaftlichen Diskurs um kulturelle Evolution, Darwinismus und die Verwissenschaftlichung der Geschichte jenseits einer idealistischen Geschichtsphilosophie begegneten gestaltungsbewusste Eliten und Avantgarden dieser Realität auf intellektueller und praktischer Ebene mit evolutionistischen Ordnungsmodellen. Evolutionistisches Kulturdenken war eng mit der Fortschrittsidee der Aufklärung verbunden und verwies zum Ende des 19. Jahrhunderts auf ein grundsätzlich stärkeres Denken in organischen Zusammenhängen und Kategorien, wie es exponiert in der Lebensreformbewegung zum Ausdruck kam. Hier wurde zivilisatorischer und kultureller Fortschritt verstärkt von der Natur her gedacht. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich schließlich die für die bürgerliche Jugendund Lebensreformbewegung und insbesondere für die Freideutschen typische Verknüpfung von Kultur und Natur, wobei der Mensch als organischer Teil der Natur begriffen wurde und im Zentrum des Denkens stand. Diese spezifische Form kultureller Anthropozentrik war grundlegend für das kulturreformerische Denken der Freideutschen und bestimmte auch ihre kulturelle Praxis. Es nahm den Menschen als potentiellen Erneuerer der Kultur sowie die Natur als steten Quell der Kulturentwicklung ernst. Im Gegensatz zu konservativeren Kreisen der Lebensreformbewegung, die dem Urbanisierungsgeschehen und den technischindustriellen Entwicklungen allgemein kritisch bis unversöhnlich gegenüberstanden, waren die Freideutschen gegenüber der technischen Moderne grundsätzlich positiv eingestellt und gewillt, sich in konstruktiver Weise mit den gesellschaftlichen Realitäten auseinanderzusetzen. Gemäß ihrem Selbstverständnis einer kulturellen Avantgarde war es ihr Anspruch, sich stets auf Höhe der Zeit zu bewegen. Dieses Bestreben offenbarte sich sowohl im studentischen Gruppenleben – naturwissenschaftliche Fachvorträge etwa zu technischen Neuerungen oder neuesten Entdeckungen auf medizinischem und physikalischem Gebiet, sowie eigens organisierte Gruppenführungen durch Industriebetriebe und Fabrikanlagen gehörten zum Bildungsprogramm der Freischaren – als auch im späteren Berufsleben vieler Freideutscher, die nicht selten im akademischen Wissenschafts- und Forschungsbetrieb und Disziplinen wie Medizin, Mathematik, Physik, Architektur, Biologie und Chemie Fuß fassten. Das mit Abstand größte Fortschrittspotential lagerte für die Freideutschen im Menschen selbst, in der Förderung individueller Anlagen und Begabungen, in der intellektuellen und charakterlichen Bildung. Eine wertegebundene ethisch-moralische Erziehung zu verantwortlichem Denken und Handeln sollte einen sozial verträglichen Fortschritt gewährleisten. Nicht primär technischer Fortschritt und Industrialisierung wurden als Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts gesehen, sondern der eigentliche Fortschritt der Kultur lag für die Freideutschen im geistigen und sittlichen Fortschritt des Einzelnen, in einem qualitativen Fort-
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schritt der Menschheit; in der Erziehung einer umfassend gebildeten sozial verantwortlich handelnden Führungselite, als deren Anfang sich die Freideutschen begriffen. Als größte und wichtigste Ressource kultureller Entwicklung wurde der Mensch ausgemacht. Fortschritt war nicht allein durch Technik und Wissenschaft zu erlangen, sondern vor allem durch menschliche Reife, durch eine bewusste und selbstbestimmte Entwicklung der eigenen geistigen und körperlichen Kräfte, die Entwicklung des Volkes in ethischer, moralischer und normativer Hinsicht. Nur durch eine Hebung der menschlichen Potentiale, durch die zielgerichtete und gleichsam umsichtige Ausschöpfung des vorhandenen Humanpotentials – diesbezüglich weist das Denken der Freideutschen durchaus Parallelen zum Ökonomiedenken des Kapitalismus und zu frühen Formen der Ökonomisierung des Menschen auf –, ließ sich nach Auffassung der Freideutschen langfristig kultureller Fortschritt verwirklichen. Im Zentrum ihres Denkens stand der Mensch sowohl als organischer Bestandteil der Natur als auch als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderung und kultureller Entwicklung. Die Idee der Freideutschen vom „Aufbau der neuen Volksgemeinschaft“96 war die Fortsetzung ihrer Idee vom Neuen Menschen (Selbstreform) auf gesellschaftlicher Ebene. Für das in der deutschen Denktradition verhaftete Bildungsbürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Kultur zum bevorzugten Wirkungsfeld, wobei es Kultur vermehrt als politisches Mittel zu verstehen begann und seinem kulturellen Wirken mit dem Begriff der „Kulturpolitik“ auch eine politische Dimension gab.97 Es entwickelte ein eigentümliches Deutungsmuster von tiefsinniger Bildung und Kultur, das vor dem Hintergrund der Entwicklung einer ökonomisch geprägten Gesellschaftsordnung vermehrt in Gegensatz zur ökonomischen Rationalisierung der modernen Gesellschaft trat. Danach waren Ziel und Maßstab menschlicher Entwicklung nicht Ausbildung, sondern Bildung, nicht Effizienz und Zweckdienlichkeit, sondern Kultur.98 Ihre Weiterentwicklung verstanden die bildungsbürgerlichen Eliten als gesellschaftlichen Auftrag, die Potentiale der Moderne und des individuellen Handelns wurden vermehrt Gegenstand ihrer Selbstbeobachtung.99 Die sich vom Bildungsbürgertum spezifisch angeeignete Idee der Kulturentwicklung hatte allgemein mit gewachsenen Machbarkeitsvorstellungen zu tun, die sich an einem positiven Menschen- und Zukunftsbild der Moderne und des gesellschaftlichen Fort96 Flugblatt „Vorschlag zu einer Entschließung von Knud Ahlborn und Frank Glatzel.“, Jena 1919 (Archiv der SUB Hamburg, Sig: 18: NWEF). 97 Vgl. Dietrich, Rolle und Entwicklung der Kultur, S. 1001. 98 Vgl. ebd., S. 1004–1005. 99 Detlef Tausendfreund: Bildung und Kulturentwicklung. Zur kulturtheoretischen Analyse gesellschaftlich organisierter Bildungsprozesse, Frankfurt/M. 1987; Werner Bahner (Hrsg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätaufklärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs, Berlin 1984.
248 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs schritts orientieren. Dahinter stand die Frage, was genau zur deutschen Kultur gehören und wie die Moderne in Deutschland konkret aussehen sollte, bestanden doch innerhalb des Bürgertums sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, welchen Charakter dieser Fortschritt haben und welche grundsätzliche Richtung die politisch-soziale und kulturelle Entwicklung nehmen sollte. Die Natur, als elementarer Teil des Kulturraumes und als kulturelle Lebensgrundlage, sowie die Kultur selbst wurden in Anbetracht der Entwicklungen der Moderne vermehrt zum Gegenstand der Aufmerksamkeit und dadurch nicht zuletzt auch der Sorge und der Bewahrung. Gegen Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die Natur- und Heimatschutzbewegung sowie die Lebensreformbewegung, in denen sich eine Vielzahl von Gruppierungen und Personenkreisen für den Erhalt bzw. Schutz des Waldes oder allgemeiner der Landschaft und der Natur, der Heimat, des Tierreiches und nicht zuletzt auch der Gesundheit und des menschlichen Körpers engagierten. In der Idee der Kulturentwicklung überlagerten sich fortschrittsgewandte und kulturkonservatorische Motive, wobei damit weder zwingend eine grundsätzliche Bejahung der Moderne noch eine grundsätzliche antimoderne Haltung verbunden war. Fortschritt und Kulturfähigkeit des eigenen Volkes waren aus eingeschränkt fortschrittsgläubiger, partiell modernekritischer oder auch zivilisationskritischer Perspektive eng mit dem Erhalt des Kulturraumes und der Natur bzw. – wie im Fall der Freideutschen – mit einer Profilierung der Kultur verbunden. Die Identifikation der Freideutschen mit den Zielen und Motiven der Heimatschutzbewegung100 reichen bis in die Anfangsjahre der Zeitschrift Der Wanderer zurück.101 Entsprechend dem sozialen Verantwortungsdenken der Freideutschen, das sich in ihrer Verantwortungsintelligenz und im Prinzip der Bildenden Geselligkeit manifestiert, drückt sich in der Praxis der Kulturentwicklung ein ausgeprägter kultureller und ökologischer Verantwortungssinn aus, der im Hinblick auf die Gestaltung und Erneuerung der Gesellschaft auf den Schutz kultureller Grundlagen angelegt ist. Die kulturelle Praxis der Freideutschen lässt sich als Mischform zwischen einem „strukturellen“ und einem „wohlwollenden“ Kulturalismus102 definieren, der die normative Leitfunktion der Kultur betont und 100 Edeltraud Klueting: Heimatschutz, in: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, S. 47–57; Arne Andersen: Heimatschutz: Die bürgerliche Naturschutzbewegung, in: Franz-Josef Brüggemeier/Thomas Rommelspacher (Hrsg.), Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München 1989, S. 143–157. Ferner Ulrich Linse: „Fundamentalistischer“ Heimatschutz. Die „Naturphilosophie“ Reinhard Falters. „Heimatschutz“ im 21. Jahrhundert: kein „Tabu“ mehr, aber ein „Problem“, in: Uwe Puschner/Georg Ulrich Grossmann (Hrsg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 156–178, hier S. 157–160. 101 Exemplarisch Schultze-Naumburg, Aufgaben des Heimatschutzes. 102 Arata Takeda: Konsequenzen von Kulturalismus. Von konfrontativen zu partizipativen
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sich grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber kultureller Vielfalt und gesellschaftlichem Pluralismus zeigt. Es handelt sich außerdem um eine naturbezogene Form von Kulturalismus, die Natur und naturnahes Leben als elementare Grundlagen moderner Lebensformen und Kulturtechniken ansieht. Natur wurde als kraftspendende und lehrreiche Konstante der Kultur betrachtet, ohne die sich der „zukünftige Menschheitsbau“103 nicht adäquat verwirklichen ließ. Die Praxis der Kulturentwicklung zielte in ihrem Kern auf eine Synthese aus Tradition und Moderne, aus nationaler Kultur und Fortschritt. Demgemäß fungierten Heimat und Natur als Fixpunkte gegen alle Tendenzen der Auflösung und Entgrenzung104, die mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft verbunden waren.105 Die freideutsche Praxis der Kulturentwicklung war untrennbar mit den Ideen des Heimat-, Natur- und Landschaftsschutzes verbunden. Das freideutsche Kulturprogramm sollte zum einen das Bewusstsein für den deutschen Kulturraum fördern sowie für dessen Erhaltung und Bewahrung im Hinblick auf die mit der Industrialisierung einhergehenden Umweltveränderungen sensibilisieren, zum andern kritisch betrachteten Entwicklungen sowie Habitus- und Lebensformen der bürgerlichen Kultur, die im Widerspruch zur lebensreformerischen und kulturerneuernden Agenda der Freideutschen standen, neue kulturelle Grundlagen entgegenstellen. Dabei gingen die Freideutschen von dem Grundsatz aus, dass Kultur notwendig Natur braucht, um Kultur zu sein, Natur demnach benötigt wird, um kulturelle Werte zu sichern, zu vermitteln und zu entwickeln, die die organische Kultur des Volkes letztlich von bloßer Organisation, Funktion und Ansätzen in der Vermittlung von Sprache, Kultur und Werten, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 56 (2017), H. 1, S. 127–139. Zu Kulturalismus als gesellschaftlicher Praxis ferner Werner Fuchs-Heinritz: Kulturalismus, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 1994, S. 381; Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), H. 1, S. 80–95; Justin Stagl: Kultur, Kulturen, Kulturalismus, in: Jahrbuch für europäische Ethnologie 3 (2008), S. 91–104. Ferner Jürgen Joachimsthaler: Kulturwissenschaft(en) und Kulturalismus, in: Steffen Höhne (Hrsg.), Kulturwissenschaft(en) im europäischen Kontext. Fachhistorische Entwicklungen zwischen Theoriebildung und Anwendungsorientierung, Frankfurt/M. 2013, S. 9–27. 103 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35. 104 Zu normativen, sozialen und räumlichen Entgrenzungstendenzen der modernen Gesellschaft seit 1900 John Graham/Gordon Lightfoot: Entgrenzung, Basel 2017; Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M. 2008; Evelyn HanzigBätzing/Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit, Zürich 2005; Ulrich Beck: Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004; Helmut Koopmann: Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900, in: Roger Bauer u. a. (Hrsg.), Fin de sie`cle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, S. 73–92. 105 Vgl. Kai Detlev Sievers: Völkischer Heimatschutz. Teil III, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 31 (1999), S. 13–60, hier S. 55.
250 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Zivilisation unterscheiden. Die „Identität von Natur und Kultur“106 gehörte bei den Freideutschen in einen festen Begründungszusammenhang, insofern, als Kultur an Wertigkeit gewann, je naturnäher sie war. Im Umkehrschluss erschien eine Zivilisation, eine Gesellschaft, die sich allzu weit von der Natur entfernte, für Mensch und Volk existenzgefährdend. Die ökologische Moral, die der Praxis der Kulturentwicklung innewohnt, korrespondiert mit einem kulturellen Werteverständnis, das die Freideutschen in ihren Kreisen kultivierten und im praktischen Heimatschutz zum Ausdruck brachten und pflegten. Gleichwohl lässt sich von dem partiell zivilisationskritischen Kulturprogramm der Freideutschen nicht auf eine grundsätzliche Ablehnung der Industriegesellschaft schließen, da deren Suchbewegungen gerade nicht auf eine grundlegende Revision der Moderne gerichtet waren, sondern auf eine kulturelle Erneuerung bzw. Optimierung im Einklang mit dem technischindustriellen und wissenschaftlichen Fortschritt und der Globalisierung des 20. Jahrhunderts. Deren sozialkulturelle Praxis zielte auf eine Erneuerung der Kultur und damit auf eine Anpassung der Kulturleistung an die technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen und politisch-sozialen Erfordernisse der Modernisierung Die organisatorischen und ideellen Wurzeln der um 1900 aufkommenden Heimatschutzbewegung lagen in der überwiegend modernisierungskritisch, agrarromantisch und großstadtfeindlich eingestellten Natur- und Heimatschutzbewegung.107 Heimat- und Naturschutzbewegung waren aber auch in nicht unerheblichem Maß von der allgemein um die Jahrhundertwende aufkommenden Fortschrittsgläubigkeit und Technikbegeisterung innerhalb des Bürgertums beeinflusst. Vielfach glaubte man daran, dass der industriell-wissenschaftliche Fortschritt auch bessere Möglichkeiten zum Schutz der Natur und des Menschen hervorbringen würde und strebte deswegen auf kulturell-sozialer Ebene einen Ausgleich zwischen beiden Sphären an. Entgegen dem antimodernistisch geprägten Heimatschutz begründete sich der Heimatschutz-Gedanke bei den Freideutschen erstens kulturell durch den elitären Anspruch der Entwicklung einer neuen kulturellen Führungselite, deren adäquate Erziehung die Synthese von moderner Kultur, Tradition und Natur voraussetzte; zweitens ästhetisch im Rückgriff auf naturromantische Vorstellungen des 18./19. Jahrhunderts; drittens intellektuell in Auseinandersetzung mit der
106 Kai Detlev Sievers: Völkischer Heimatschutz. Teil II, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 30 (1998), S. 5–48, hier S. 31. 107 Andersen, Heimatschutz; Klueting, Heimatschutz; Dies. (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung, Darmstadt 1991; Heinz Gollwitzer: Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung gestern und heute, in: Westfälische Forschungen 27 (1975), S. 12–21.
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Modernisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten und Herausforderungen; viertens ökologisch im Hinblick auf die mit der Modernisierung einhergehenden Veränderungen von Natur und Landschaft; fünftens sozial, bezogen auf die mit der Modernisierung verknüpften fundamentalen sozialkulturellen und räumlichen Veränderungen der Lebensumwelt. Die Form freideutscher Kulturentwicklung weist eine entscheidende Differenz zu antimodernistischen und industriekritischen Positionen innerhalb der Heimat- und Naturschutzbewegung auf sowie auch zum konfrontativen und differentialistischen Kulturalismus und Kulturrassismus nationalistischer und völkischer Gruppierungen. Kennzeichnend für die Freideutschen war ihr „Geist des verantwortlichen Ernstes“108, ihre starke Gemeinwohlorientierung. Ihr kulturund sozialreformerisches Denken ging mit einer speziellen ökologisch-ethischen Moral sowie einem gesteigerten Umweltbewusstsein einher, das sich vor allem auf den Natur- und Landschaftsschutz bezog.109 Natur und Mensch stellten für die Freideutschen einen Ort gesellschaftlicher Aushandlung dar. Hier vollzog sich die Suche nach einem neuen Menschentypus, zwischen technischer Moderne und urständiger Natur, zwischen Bewahren und Verändern. Die humanistisch-menschheitliche Grundorientierung vieler Freideutscher verweist auf einen breit gefassten Kulturbegriff, der vielfältige soziale, kulturelle und politische Implikationen in sich vereinte. Ihre kulturreformerischen Bestrebungen lassen sich nicht nur vor dem Hintergrund einer konstruktiv auf die Zukunft gerichteten Kulturkritik verstehen, sondern auch im breiteren Entstehungszusammenhang jugendkultureller und zivilgesellschaftlicher Verantwortungsnahme und Emanzipationsbestrebungen im 20. Jahrhundert. Während der deutsche Nationalismus im späten 19. Jahrhundert verstärkt völkische und rassistische Züge annahm und damit auch als Exklusionsideologie wirkte, lässt sich bei den Freideutschen eine produktive Verschmelzung von sozialen Vergemeinschaftungsvorstellungen und liberalen Ideen zu einem kulturellen Inklusionsprogramm konstatieren. Es ging darum, in einer komplexer werdenden Gesellschaft politische und soziale Gesellschaftsschranken zu überwinden, die sich im Wesentlichen aus den Grundkonflikten zwischen einerseits Kapitalismus und Sozialismus und andererseits Nationalismus und Internationalismus ergaben.
108 Wilhelm Stählin: Der neue Lebensstil. Ideale deutscher Jugend (Tat-Flugschriften 28), Jena 1918, S. 16. 109 Jost Hermand: Ökologische Aspekte der Lebensreformbewegung, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 411–415.
5 Lebensreform – der Neue Mensch Die Wortverbindung Lebensreform beinhaltet einen der charismatischsten und konfliktreichsten Begriffe des beginnenden 20. Jahrhunderts, nämlich den Begriff des „Lebens“. Theoretisch fundiert wurde er durch die im 19. Jahrhundert in Deutschland vor allem durch Wilhelm Dilthey geprägte Lebensphilosophie als Gegenentwurf bzw. Ergänzung zu rationalistischen Begründungssystemen wie sie Neukantianismus, Positivismus und Naturwissenschaften darstellten.110 Sie zweifelte an, dass sich das Dasein mit rein rationalen Kategorien erfassen ließ und betonte demgegenüber die menschliche Erfahrung und nicht-rationale Momente wie Intuition und Kreativität. Georg Simmel war davon überzeugt, dass der Lebensbegriff das Denken der modernen Kultur in entscheidender Weise prägte.111 Reale Entsprechung fand die deutsche Lebensphilosophie in der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende.112 Die Idee der Lebensreform113 ordnet sich ein in das weite programmatische Spektrum bürgerlicher Reformund Suchbewegungen ein, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zur Hochindustrialisierung in Deutschland aufkamen.114 Urbanisierung, Beschleunigung, Bevölkerungswachstum, Verwissenschaftlichung und Technisierung führten nicht nur zu einem fundamentalen Wandel der ökonomischen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft, sondern der damit verbundene präzedenzlose sozialkulturelle Pluralisierungsschub sowie allgemeine Kommunikations- und Mobilitätszuwachs wirkte sich darüber hinaus auch auf individuelle Bewusstseinslagen aus und trug zur Entwertung von Erfahrungen, zur Relativierung von Wissen und Überzeugungen sowie zur kulturellen Desorientierung bei.115 Der umfassende Veränderungshorizont forderte gleichermaßen Körper und Geist heraus und ließ eine kulturell-soziale Neuverortung bzw. Rekonfiguration des Menschen notwendig erscheinen. Dabei wurde Natur, in ihrer Funktion als
110 Grundlegend Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Berlin 1910. Ferner Karl Albert: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Luka´cs, Freiburg/München 2017. 111 Vgl. Georg Simmel: Der Konflikt in der modernen Kultur [1918]. Ein Vortrag, München/Leipzig 1926, S. 8–10. 112 Ferdinand Fellmann: Die Lebensreformbewegung im Spiegel der deutschen Lebensphilosophie, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 151–156. 113 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017; Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1; Ders. u. a. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Bd. 2, Darmstadt 2001. 114 Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen; Baumgartner/WedemeyerKolwe, Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege. 115 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform, in: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, S. 73–75, hier S. 74. https://doi.org/10.1515/9783110783667-020
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anthropologische Grundkonstante, vielfach zum Orientierungs- und Ausgangspunkt gesellschaftlicher Anpassungs- und Aushandlungspraxen. Dazu gehörte auch der für die Lebensreform zentrale Rekurs auf den menschlichen Körper, der als ursprünglichste und kleinste Einheit von Gesellschaft Sicherheit und Stabilität verhieß. Der eigene Körper ließ sich im Gegensatz zur Außenwelt direkt beeinflussen, regulieren und bis zu einem bestimmten Punkt auch kontrollieren. Dementsprechend absolut und übersteigert konnten die humanen und kulturellen Erneuerungshoffnungen sowie das physisch-psychische Ganzheitlichkeitsdenken innerhalb der Lebensreformbewegung mitunter ausfallen; und entsprechend resolut wurden Natur und Körper vor vermeintlich negativen Einflüssen und Entwicklungen der Gesellschaft in Schutz genommen.116 Vor dem Hintergrund der Erfahrung wachsender Handlungsunsicherheit und Daseinskontingenz bildete die Suche nach dem Neuen Menschen117 um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert eine wirksame Entlastungsstrategie. Der Diskurs um einen Neuen Menschen hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Konjunktur. Seine Realisierung wurde schon längst nicht mehr in Abhängigkeit zu Gott gedacht, sondern Politik, soziale Akteure und Bewegungen stellten sich seine Entwicklung zur Aufgabe. Der Neue Mensch wurde zum Ziel säkular-religiöser Fortschrittsgewissheit. Die Idee des Neuen Menschen und die damit verknüpfte „rastlose, leidenschaftliche, von den verwegensten Phantasien getragene Suche nach großen, definitiven Auswegen, Lösungen und Weltentwürfen“118 war um die Jahrhundertwende eine der mobilisierendsten Gedankenfiguren innerhalb der damaligen intellektuellen Avantgarde Deutschlands.119 Die Suche nach dem Neuen Menschen und dessen Konstruktion war ein zentrales Leitmotiv der Reformbewegungen, zumal der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung.120 Die Vorstellung vom Neuen Menschen war unweigerlich mit der Suche nach neuen Formen von Spiritualität und Religiosität außerhalb des fragil und fragwürdig gewordenen protestantisch-katholischen Kulturrahmens verknüpft.121 Der Neue Mensch bedurfte auch neuer Sinnzusammenhänge und
116 Dazu Bernd Wedemeyer: Der Körper des Reformers. Zwischen Leibesübung, Lebensstil und Religion, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 399–401. 117 Gottfried Küenzlen/Sabine Haring-Mosbacher/Paula Diehl (Hrsg.): Der Neue Mensch, Bonn 2018. 118 Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 1998, S. 125–126. 119 Vgl. Frank-Lothar Kroll: Endzeit, Apokalypse, Neuer Mensch, in: Uwe Backes (Hrsg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2003, S. 139–157, hier S. 142. 120 Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994; Kai Buchholz: Begriffliche Leitmotive der Lebensreform, in: Ders., Die Lebensreform, Bd. 1, S. 41–43. Zeitgenössisch siehe z.B. Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 11. 121 Justus H. Ulbricht: Die Reformation des 20. Jahrhunderts. Religionswissenschaftliche
254 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs spirituell-transzendentaler Strukturen.122 Die bürgerliche Jugend- und Lebensreformbewegung war mit der Entwicklung und Gestaltung alternativer Weltbilder und Lebensformen befasst und öffnete sich auf breiter Basis neuen Ideen und Kulturbeständen.123 Idealtypisch lässt sich die modernespezifische Sozialutopie des Neuen Menschen als Alternativkonstruktion gesellschaftlicher Ordnung begreifen, die von unterschiedlichen kollektiv verbindlichen Werten und Normen getragen wird. Einer als unvollkommen oder in Teilen problematisch wahrgenommenen Gesellschaft wird dabei ein Idealzustand in Form eines neuen Menschentypus und einer damit verbundenen erneuerten kulturell-sozialen Ordnung entgegengehalten.124 Die Reformbewegungen der Jahrhundertwende zeugen diesbezüglich von dem Wunsch, neue identitätsstiftende spirituelle, kulturelle und soziale Räume zu eröffnen, in denen sich der Mensch körperlich und geistig erneuern konnte. Dabei ging es bei der Idee des Neuen Menschen nicht nur um die Änderung des äußeren Daseins oder um graduelle Verbesserungen, sondern „um die empirisch-diesseitige Veränderung des Wesens des Menschen selbst, um eine geradezu anthropologische Umbildung hin zu einem Neuen Menschen“125 im Sinne eines ontologischen, das menschliche Sein umformenden Geschehens. Der in „die Zukunft verschobene Neue Mensch“ sollte den „alten Menschen“ als Leitbild dienen, das es anzustreben und zu verwirklichen galt.126 Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Streben der bürgerlichen Jugendbewegung nach authentischer Gemeinschaftspraxis und ganzheitlichen Lebensweisen. Das Ziel eines Neuen Menschen war für die gesamte bürgerliche Jugendbewegung leitend, so unterschiedlich auch Inhalt und Richtung dieses neuen Menschenbildes in den verschiedenen Gruppen, Kreisen und Bünden ausfielen.127 Der Glaube an den Neuen Menschen und der Wille, ihn hervorzubringen, waren Leitmotive innerAnmerkungen zu bildungsbürgerlichen Orientierungsversuchen in der ,klassischen Moderne‘, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 187–191. 122 Anselm Doering-Manteuffel: Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 175–202; Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht: Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. 123 Küenzlen, Der Neue Mensch, hier das Kapitel „Der Neue Mensch in der Deutschen Jugendbewegung“, S. 153–174; Christian Thiel: Lebensreform und alternative Weltbilder, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 37–39. 124 Vgl. Sascha Dickel: Der Neue Mensch – ein (technik)utopisches Upgrade. Der Traum vom Human Enhancement, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2016), H. 37/38, S. 12–19, hier S. 12. 125 Gottfried Küenzlen: Der alte Traum vom Neuen Menschen. Ideengeschichtliche Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2016), H. 37/38, S. 3–10, hier S. 3, 7. 126 Dickel, Der Neue Mensch – ein (technik)utopisches Upgrade, S. 12. 127 Exemplarisch Körber, Das Bild vom Menschen in der Jugendbewegung und unsere Zeit.
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halb der bürgerlichen Jugendbewegung und gaben insbesondere den Freideutschen Anlass, konkrete Inhalte und Vermittlungsformen für ihn zu entwickeln. Insbesondere für die humanistisch-menschheitlich, demokratisch-sozialistisch und sozialistisch orientierten Freideutschen war das Ziel eines Neuen Menschen zentral. Dieser sollte sich nicht zuletzt auch in seiner neu gefundenen Körperlichkeit zeigen. Da Mensch und Gesellschaft in Sozialutopien stets zusammengedacht werden, ging die Idee einer umfassenden Erneuerung des Individuums mit dem Gedanken einer kulturellen Erneuerung, der Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung einher. Die Idee der Lebensreform zielte immer auch auf eine Gesellschaftsreform. Als Instrument der Umgestaltung griffen die Freideutschen auf die Sozialtechnologie der Erziehung bzw. Bildung zurück. Mit ihrer Hilfe sollte der Neue Mensch hervorgebracht werden. Im Fall der Freideutschen transportierte die Idee vom Neuen Menschen von vornherein auch einen kulturübergreifend angelegten Humanismus, der auf die Entwicklung und Verbesserung der gesamten Menschheit zielte und die Idee der Völkerverständigung inkorporierte. Die Denkfigur vom Neuen Menschen ist bei den Freideutschen genuin mit dem Kulturleben und dem Denken der Kulturintelligenz des ersten Jahrhundertdrittels verbunden und damit deutlich von politischen Ausdeutungen des Begriffs zu unterscheiden. Der Neue Mensch bei den Freideutschen sollte durch Bildende Geselligkeit entwickelt werden, nicht, wie bei den Nationalsozialisten, durch Züchtung und Vernichtung im Sinne einer Rasseneugenik. Die Bolschewiki als politische Avantgarde verbanden mit dem Neuen Menschen einen radikalen sozialpolitischen Umbruch Russlands, an dessen Ende der Neue Mensch stehen sollte. Im Faschismus, im Nationalsozialismus und im Sowjetkommunismus radikalisierten sich die Versuche zur Schaffung eines Neuen Menschen und gingen mit der massenhaften Ausgrenzung, Verächtlichmachung und Vernichtung von als minderwertig oder als nicht mehr entwickelbar bzw. umerziehbar betrachteten Menschen einher. Zwar knüpften sowohl der Nationalsozialismus in Deutschland als auch der Sowjetkommunismus in Russland in ihren Vorstellungen vom Neuen Menschen an nationale intellektuelle Diskurse der Jahrhundertwende an, beide Weltanschauungen waren aber gegen den modernen Individualismus und gegen einen liberalen Freiheits- und Fortschrittsbegriff gerichtet.128 Ihre Erziehung stellte das Kollektiv in den Mittelpunkt und beruhte im Sinne einer totalen Erziehung auf strenger staatlicher Regulierung und Organisation. Im Gegensatz dazu beruhte die Idee des Neuen Menschen bei den Freideutschen auf dem Konzept der gemeinschaftlichen Selbstbildung, für das die individuelle Entwicklung und 128 Sabine A. Haring: Der Neue Mensch im Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, in: Küenzlen/Haring-Mosbacher/Diehl, Der Neue Mensch, S. 27–37.
256 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs das Recht der Selbstbestimmung von zentraler Bedeutung waren. Ihre klassenübergreifend angelegten Erziehungsideen und ihre kultur- und bildungspolitische Staatskonzeption richteten sich unterschiedslos an alle Mitglieder der Gesellschaft. Für die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts formierende Lebensreformbewegung – wobei sich der Terminus Lebensreform erst Mitte der 1890er Jahre etablierte129 – war die (menschliche) Natur der zentrale Ankerpunkt allen sozialen Handelns.130 Maßstab der Lebensreformbewegung war das Ideal einer natur- und menschengemäßen Existenz. Die Lebensreform stellte Natur und Natürlichkeit sowie das Leben in den Mittelpunkt ihrer sozialen Praxis und verhandelte dabei mehr oder weniger direkt die materialistisch-industriekapitalistische Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs,131 wobei der Großteil der Lebensreformbewegung vor allem der Mechanisierung, Technisierung und Anonymisierung der Gesellschaft durch moderne Verwaltungsapparate kritisch gegenüberstand.132 Deshalb strebten ihre Akteure nicht so sehr Veränderungen auf materieller Ebene der Gesellschaft an, sondern primär eine Änderung individueller und gemeinschaftlicher Lebens-, Verhaltens- und Denkweisen. Gesucht wurden authentische Lebens- und Existenzformen in Harmonie mit der Natur und dem Menschen, was auch einen bewussten Umgang mit der Natur, dem eigenen Körper und menschlichen Beziehungen bedeutete. Lebensreform als Leitbegriff bezieht sich auf verschiedene Akteurskollektive, Verhaltenskonzepte und Reformanliegen, die allesamt an der Schnittstelle zwischen Mensch und Natur angesiedelt waren. Die Vielfalt lebensreformerischer Bestrebungen lässt sich dabei drei Programmen zuordnen: Gesundheit und gesunde Lebensführung, Natur-, Landschafts-, und Heimatschutz sowie Kunst, Architektur und (Natur-)Ästhetik. Letztere Richtung verkörperte den Willen einer kulturellen, künstlerischen und geistigen Wende, die sich exemplarisch im 1902 von Ferdinand Avenarius gegründeten Dürerbund sowie dessen Organ Der Kunstwart verwirklicht sieht, dessen Anliegen es war, den ästhetischen Sinn des Volkes und die deutsche Kultur zu fördern. Darüber hinaus prägte die künstlerisch-gestalterische Praxis der Lebensreformbewegung im Zusammenspiel mit bürgerlicher Jugendbewegung, pädagogischer Reform sowie Avantgardisten in Kunst und Design zahlreiche ästhetische Leitbilder und beeinflusste über das Kaiserreich
129 Vgl. Krabbe, Lebensreform/Selbstreform, S. 73. 130 Vgl. Wolfgang Riedel: Homo Natura. Zum Menschenbild der Jahrhundertwende, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 105–107. 131 Vgl. Thomas Rohkrämer: Natur und Leben als Maßstäbe für die Reform der Industriegesellschaft, in: Ebd., S. 79–82. 132 Vgl. Rohkrämer, Modernisierungskrise und Aufbruch, S. 29.
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hinaus moderne Kunstbewegungen wie das Bauhaus.133 Der überwiegende Teil des künstlerischen Nachwuchses des Bauhauses in den 1920er Jahren stammte aus der bürgerlichen Jugendbewegung.134 Analog zu anderen sozialen Bewegungen erscheint die Lebensreformbewegung als ein Kollektivakteur, der auf den sozialkulturellen Wandel damit reagierte, „daß er sie durch gesellschaftliche Veränderungen aufzufangen und zu korrigieren versuchte“.135 In dieser Hinsicht bezogen sich die Konzepte der Lebensreformbewegung auf konkrete praktische Lebensmodelle und gesellschaftliche Lösungen. Die sozialreformerisch eingestellte Lebensreformbewegung war auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft und die Optimierung der menschlichen Lebensverhältnisse angelegt. Wie andere soziale (Such-)Bewegungen kulturorientierter Art versprach sich die Lebensreformbewegung den gesellschaftlichen Wandel „nicht aus dem Wirken der Politik, schon gar nicht aus einer revolutionären Erhebung“, sondern setzte auf eine evolutionäre menschliche bzw. gesellschaftliche Entwicklung. Nach religiösem Vorbild führte der Weg zunächst über die Veränderung des Einzelnen, um „durch Multiplikation schließlich die Gesellschaft insgesamt nach ihren Vorstellungen“ umzuformen. Von vielen ihrer Akteure wurde die Lebensreform deshalb auch mit einem Synonym als „Selbstreform“ bezeichnet.136 Die Idee der Lebensreform beinhaltete von vornherein die beiden Facetten der Selbst- und der Gesellschaftsreform.137 Sie setzte bei der individuellen Existenz an und verband dies in einem zweiten Schritt mit dem Ziel, die „gesamte Gesellschaft zu einer lebensreformerischen Gemeinschaft umzuformen“138, ein Prinzip, nach dem auch die freideutschen Gemeinschaften funktionierten. Vor der Veränderung der Gesellschaft stand die Selbst-Entfaltung. Die Lebensreformbewegung agierte zu weiten Teilen nicht als Fluchtbewegung vor der Moderne, „sondern strebte nach einer anderen Moderne im Einklang mit der äußeren Natur und der menschlichen Natur“.139 Die Lebensreformbewegung bildet die enge Verflechtung von Modernisierungsherausforderung und Selbstermächtigung ab. Die Gemeinschaften und Konzepte der Lebensre-
133 Gert Selle: Von der Künstlerkolonie zum Bauhaus. Lebensreform am Objekt?, in: Buchholz, Die Lebensreform, Bd. 1, S. 291–295; Peter Ulrich Hein: Ästhetische Leitbilder der Jugendbewegung und die Vergesellschaftung der Kunst, in: Ebd., S. 211–214. 134 Vgl. Ziemer/Wolf, Wandervogel und Freideutsche Jugend, S. 282. 135 Krabbe, Lebensreform/Selbstreform, S. 73. 136 Ebd., S. 74. Dazu auch Ders.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974. 137 Vgl. Linse, Das „natürliche“ Leben, S. 453. 138 Rohkrämer, Modernisierungskrise und Aufbruch, S. 29. 139 Ebd., S. 37.
258 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs formbewegung boten Raum für ästhetische Expressivität140 und experimentelle Lebenspraxis sowie zur Entwicklung und Erprobung neuer Subjektivitäten141 und Lebensformen, durch die es möglich wurde, als negativ wahrgenommene Entwicklungen der Modernisierung wie Zweckrationalität, Kapitalismus und Naturzerstörung individuell auszuhandeln und in die eigene Lebensordnung zu integrieren.142 Vor ihrem zeitlichen und gesellschaftlichen Hintergrund können lebensreformerische Gemeinschaften deswegen als Laboratorien der modernen Gesellschaft verstanden werden. Als eine der gesellschaftlich folgenreichsten Formen der Lebensreformbewegung entstand die bürgerliche Jugendbewegung. Die Freideutschen wiesen eine starke lebensreformerische Ausrichtung auf, die bei den städtisch-gymnasialen Jugendwanderbünden und in den akademischen Freischaren an den Universitäten kultiviert wurde und sich schließlich durch den Freideutschen Jugendtag 1913 nachhaltig in ihrem Selbstverständnis verfestigte. Die Ablehnung der traditionellen studentischen Kommers- und Mensurpraxis sowie die Opposition gegen Drogen wie Alkohol und Nikotin sind Indizien für ein ausgeprägtes Körper- und Gesundheitsbewusstsein der Freideutschen sowie für ihr kulturellsoziales Verantwortungsgefühl und ihren zukunftsgewandten kultur- und sozialreformerischen Gestaltungsanspruch. Insofern besteht eine Parallelität zwischen dem verantwortlichen Umgang der Freideutschen mit dem eigenen Körper und ihrem kulturell-sozialen Verantwortungssinn: der kulturell-soziale Verantwortungs- und Gestaltungsimpetus war an ein lebensreformerisch motiviertes Körper- und Gesundheitsbewusstsein rückgebunden, das biopolitisch auf eine leistungsfähige „Volksgemeinschaft“ zielte. In diesem Zusammenhang wurde das Wandern als selbstverantwortliche wie soziale Lebenspraxis wichtig. Das aus den Erkenntnissen der modernen Medizin hergeleitete Körper- und Gesundheitsbewusstsein freideutscher Selbstreform-Praxis entsprach einem ausgeprägten kulturell-sozialen Verantwortungsbewusstsein – entsprechend ihrer Konstituierung als Verantwortungsintelligenz. Konkret verstanden sich die Freideutschen als Avantgarde, „die die Klassen-, Standes- und Schichtunterschiede der bürgerlichen Hauptkultur“ überwinden wollte. Sie begriffen sich als Vorboten eines in der Zukunft geeinten Volkes, das seinen kulturell-sozialen Neuanfang im „Gemeinschafts- und Erlösungserlebnis“ der Wanderer- und Freischarbewegung nahm.143 „Volksgemeinschaft“, wie die Freideutschen sie projektierten, war inso-
140 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994. 141 Reckwitz, Das hybride Subjekt, bes. Kap. 3., sowie Ders.: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2013. 142 Vgl. Rohkrämer, Modernisierungskrise und Aufbruch, S. 40. 143 Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 162.
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fern keine nationalistisch verengte Kategorie, sondern ein soziales, kulturelles und politisches Hoffnungsziel, das über die Grenzen der eigenen Nation hinaus reichte. Die ideengeschichtlichen Bezüge der Freideutschen auf eine „neue Volksgemeinschaft“144 lassen eine besondere Form von Staatlichkeits- und gesellschaftlichem Neuordnungsdenken in den Blickpunkt rücken, das von den vielschichtigen politisch-sozialen Neuordnungsdiskursen innerhalb des deutschen Bürgertums vor und nach dem Ersten Weltkrieg geprägt wurde.145 Die Volksgemeinschaftsidee war in Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg Gegenstand politisch-gesellschaftlicher Debatten und spiegelte den allseitig empfundenen Wunsch wider, die soziale, politische und kulturelle Differenzierung der modernen Gesellschaft durch ein integratives Gemeinschaftsprojekt146 aufzuheben und so den inneren Zusammenhang und die Ordnung der Nation (wieder-) herzustellen.147 Vor der Radikalisierung des Volksgemeinschaftsbegriffs durch die Nationalsozialisten, die ihn im Sinne ihrer Rassenideologie biologisch-sozialdarwinistisch aufluden und nach 1933 zum Propaganda- und Terrorinstrument machten, handelte es sich bei der Idee der Volksgemeinschaft um eine stark pluralistische Denkfigur. Sie wurde parteiübergreifend und mit ganz unterschiedlichen Projektierungen und Ausdeutungen von Konservativen, Liberalen und Sozialisten, aber eben auch völkischen Radikalen als soziales Zukunftsmodell und politisches Programm verhandelt. Dabei standen sich im Wesentlichen die Auffassungen von Volk als demos im Sinne einer Rechtgenossenschaft und staatsbürgerlicher Gleichheit und von Volk als ethnos im Sinne einer geschichtsmythisch imaginierten und/oder rassenideologisch hergeleiteten Abstammungsgemeinschaft gegenüber. In der politischen Kommunikation der Weimarer Republik fungierte die Idee der Volksgemeinschaft als politische Integrationsformel von Libe-
144 Flugblatt „Vorschlag zu einer Entschließung von Knud Ahlborn und Frank Glatzel.“, Jena 1919 (Archiv der SUB Hamburg, Sig: 18: NWEF). 145 Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. 146 Juliane Spitta: Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, Bielefeld 2013. 147 Markus Llanque: Der Weimarer Linksliberalismus und das Problem politischer Verbindlichkeit. Volksgemeinschaft, demokratische Nation und Staatsgesinnung bei Theodor Heuss, Hugo Preuß und Friedrich Meinecke, in: Anselm Doering-Manteuffel/Jörn Leonhard (Hrsg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 157–181; Ders.: Der deutsche Linksliberalismus in der ideenpolitischen Konstellation des Ersten Weltkriegs und der Wandel des Politikverständnisses, in: Eckart Conze/Joachim Scholtyseck/Erich Weede (Hrsg.), Jahrbuch zur LiberalismusForschung, Baden-Baden 2014, S. 27–47.
260 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs ralen und Demokraten und nahm zwischenzeitlich den Charakter eines Gründungskonsenses an.148 Insbesondere die Vieldeutigkeit des Volksbegriffs machte ihn im Unterschied zum Nationsbegriff, der in weit stärkerem Maß an den Staatsbegriff gebunden war, anschlussfähig für politische, kulturelle und soziale Gestaltungsentwürfe aller Art. Für die Freideutschen hatte der Volksgemeinschaftsbegriff die Bedeutung einer sozial integrativen und klassenübergreifenden Schlüsselformel, die auf politischen Interessenausgleich sowie kulturelle und soziale Verständigung zielte. Sie verstanden sich als klassen-, standes-, schichten- und politikübergreifende Gemeinschaft, als Avantgarde eines Volkes, das die Klassen- und Interessengegensätze zukünftig hinter sich lassen sollte. Auch innerhalb der Freideutschen Bewegung verband die mit dem Freideutschtum verknüpfte Idee vom Neuen Menschen und einer kulturell, politisch und sozial geeinten Volksgemeinschaft unterschiedliche politische Orientierungen. Zentral für das freideutsche Volksgemeinschaftsdenken waren die Idee einer nationalen Bildungsgemeinschaft (Volksbildung), der nationale Einigungsgedanke und die lebensreformerischen Vorstellungen von Natur und Ganzheit. Modernitätsanspruch und Avantgardebewusstsein der Freideutschen gründeten auf einem noch zu realisierenden Gesellschaftskonzept, das mit der Erziehung eines Neuen Menschen verwirklicht werden sollte. Charakteristisch ist weiterhin, dass die Freideutschen ihr Volksgemeinschaftsdenken nach dem Ersten Weltkrieg mit der Idee/Forderung einer supranationalen Völker- und Friedensgemeinschaft verbanden, für die der Menschheitsgedanke und die Idee einer global zusammenhängenden Menschengemeinschaft zentral waren. Volk und Volksgemeinschaft waren bei den Freideutschen keine nationalistisch verengten oder aggressiven Vorstellungen, sondern konkrete Entwicklungshoffnungen. Die nationalsozialistische Variante von Volksgemeinschaft ist in deswegen unbedingt von den Volksbildungs- und Volksentwicklungskonzepten der Freideutschen abzugrenzen. Im Bereich der Reformpädagogik und innerhalb der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung bildeten sich um 1900 markante Formen und Konzepte zur Erneuerung der Volksgemeinschaft aus, was sie zu einem wichtigen sozialen Protagonisten bürgerlichen Volksgemeinschaftsdenkens vor dem Ersten Weltkrieg macht.149
148 Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2012; Gunther Mai: „Verteidigungskrieg“ und „Volksgemeinschaft“. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 583–602. 149 Vgl. Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten Lebensweisen Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 25.
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Beeinflusst von lebensreformerischen Grundsätzen verfolgten die Freideutschen eine kulturkritische Utopie, in deren Zentrum die Idee einer Kulturerneuerung durch die Jugend stand. Dieser wurde die Vitalität zugeschrieben, „Beweger einer neuen Zeit zu sein“, weswegen sie nicht nur innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung, aber dort in besonders ausgeprägter Weise zur „eigenständigen kulturellen Größe“ wurde.150 Die lebensreformerische Ausrichtung der Freideutschen war eng mit den Ideen der Reform- und Sozialpädagogik sowie der Volksbildungs- und Volkshochschulbewegung verzahnt.151 Die angestrebte Kulturerneuerung sollte auf Grundlage individueller Lebensreform sowie durch eine Reform des Bildungs- und Erziehungssektors gelingen. Lebensreformerisches und reform- bzw. sozialpädagogisches Denken war bei den Freideutschen aufeinander bezogen. Das angestammte Ziel der Freideutschen, durch Selbstbildung einen neuen Akademikertypus hervorzubringen, der in der Zukunft als Teil der gesellschaftlichen Führungseliten agieren sollte, war mit dem lebensreformerischen Ansatz einer neuen Körper- und Subjektkultur verbunden, der auf ein erneuertes Verhältnis von Mensch und Natur und damit letztlich auf den Neuen Menschen selbst zielte.152 Der Wille, ihn hervorzubringen sowie der Wunsch, sich individuell zu bewähren und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, waren Grundorientierungen der Freideutschen.153 Es ging um die gemeinsame Klärung elementarer Daseinsfragen, um ein neues Bild vom Menschen und die damit verbundene Frage nach dem „Wohin und Wozu der Kultur als dem Gehäuse des Menschen“154. Ansätze und Ideen wie Neuer Mensch, Selbstreform, Sinnstiftung und Daseinsfürsorge stellen säkular-religiöse Mischformen dar, die nicht nur typisch für die Lebensreformbewegung sind, sondern auch auf eine grundsätzliche religiöse bzw. christliche Fundierung der Freideutschen hinweisen. Aus dem freideutschen Programm und besonders anschaulich aus den philosophisch-religiösen Suchbewegungen der freideutschen Zeitschriften spricht das tieferliegende Bedürfnis, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typische Frontstellung zwischen den Naturwissenschaften und der Religion, den Gegensatz zwischen
150 Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 153. 151 Dazu Roland Bast: Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund 1996; Bruno Schonig: Reformpädagogik, in: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, S. 319–330; Peter Faulstich (Hrsg.): Wilhelm Flitner. Die Jugendbewegung, die Erwachsenenbildung und die Erziehungswissenschaft, Weinheim 2014. 152 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Der neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 153 Vgl. das Textzeugnis von Normann Körber (1927), in: Kindt, Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, S. 481. 154 Küenzlen, Der Neue Mensch, S. 155–156.
262 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Transzendenz und Empirie, in einer neuen Kultur und in neuen Lebensformen aufzulösen. Nicht ohne Grund weisen die Freideutschen personell und inhaltlich einen starken Bezug zum Neukantianismus auf, der seine Blütezeit in den Jahrzehnten vor und nach 1900 hatte und in dieser Zeit die in Deutschland einflussreichste philosophische Strömung darstellte.155 Dieser wendete sich unter Berufung auf die transzendentale Logik und Erkenntnistheorie Kants gegen den von den Naturwissenschaften postulierten Primat des Materiellen vor dem Geistigen und die Abqualifizierung der Religion als Quelle der Erkenntnisgewinnung. Analog zu den Freideutschen war er auf die Einheit der philosophischen und wissenschaftlichen Bestrebungen konzentriert. Neukantianer wie Paul Natorp, Hermann Cohen (beide Vertreter des Marburger Neukantianismus) und Leonard Nelson (Göttingen) gehörten zur Lektüre vieler Freideutscher. Neuzeitliche Dichter und Schriftsteller wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel, Carl Spitteler, Walter Hasenclever sowie der naturromantische Transzendentalismus Ralph Waldo Emersons ergänzten und prägten die säkular-religiöse Ideenwelt der Freideutschen.156 Auch in der Dichtung Stefan Georges und in der Ideenwelt des George-Kreises vielen Symbolismus, Ästhetizismus, Philosophie und Lebensreform für die Freideutschen anschaulich zusammen. Die lebens- und kulturreformerische Programmatik der Freideutschen weist eine eigentümliche Verschränkung zwischen dem Humanitätsideal der Aufklärung sowie des Idealismus des 18. Jahrhunderts und dem Materialismus des 19. Jahrhunderts auf, der die Relation zwischen Bewusstsein, Geist, Sein und Materie reflektiert und mit dem kapitalistischen Postulat von individueller Freiheit und persönlichem Glück korrespondierte. Gleichzeitig wiesen die Freideutschen eine ausgeprägte antimaterialistische bzw. antikapitalistische Grundorientierung auf, die sich gegen die „Scheinwerte“ des Materialismus und Kapitalismus richtete und auf eine neue Werte- und Lebensordnung hinauswollte. Zur Lebensreform gehörte für die Freideutschen eine umfassende Neuorientierung in religiösen und philosophischen Ideen, daher auch die unermüdliche Auseinandersetzung mit fernöstlichen Philosophien und Weisheitslehren. Typisch für die Mehrzahl der Freideutschen, die nicht agnostisch oder atheistisch eingestellt waren, war trotzdem ihr mehr oder weniger direktes Bekenntnis zum
155 Hans-Dieter Häußer: Transzendentale Reflexion und Erkenntnisgegenstand. Zur transzendentalphilosophischen Erkenntnisbegründung unter besonderer Berücksichtigung objektivistischer Transformation des Kritizismus. Ein Beitrag zur systematischen und historischen Genese des Neukantianismus, Bonn 1989; Michael Bergunder: Das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Religion. Zum Verständnis von Leben in der modernen Esoterik, in: Eilert Herms (Hrsg.), Leben. Verständnis, Wissenschaft, Technik, Gütersloh 2005, S. 559–578. 156 Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 164.
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Christentum, die Sehnsucht nach einer bzw. die Hoffnung auf eine neue Ordnung sowie die Idee einer freieren Gestaltung des religiösen Lebens bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber den kirchlichen Konfessionen und Institutionen. Der Bezug zum Christentum wird insbesondere beim menschheitlich orientierten Teil der Freideutschen deutlich, der das Moment des Intellektuellen mit der christlich beeinflussten Motivik einer friedlich koexistierenden Menschheit verband. Auch sonst bildete das Christentum einen wichtigen Bezugspunkt der Freideutschen Jugend: Menschen, die ebenso bis in den Tod leben wollen, wie Christus es vorlebte, die in seiner Richtung den Kampf gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, gegen die Buchstabenvorschriften eines engen Gesetzes, gegen die ausschließlichen Ansprüche der weltlichen Macht, gegen die Lehre des Hasses und der Vergeltung führen wollen […], solche Menschen müßten den Kern der Freideutschen Jugend, ihre Führerschaft bilden.157
Der christliche Gehalt der lebensreformerischen Ideen der Freideutschen und die christliche Orientierung vieler Freideutscher korrespondierte ab den 1920er Jahren mit den Strömungen des Religiösen bzw. Christlichen Sozialismus, deren Leitbilder einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bzw. einer sozialen Marktwirtschaft wesentlich mit christlichen Prinzipien verknüpft waren. Umgekehrt prägten Freideutsche wie Alexander Rüstow, Eduard Heimann, Wilhelm Flitner und Adolf Löwe auch Strömungen wie den Religiösen Sozialismus. Dessen wesentliche Motive – Autonomie des Einzelnen, Gemeinschaft, Brüderlichkeit in gegenseitiger Verantwortung – weisen nicht zufällig einige Deckungsgleichheit mit dem Inhalt der Meißnerformel auf. Der in der Lebensreformbewegung angelegte und in den Freideutschen vorzufindende moderne Typus gesellschaftskritischer Reformbewegungen kristallisiert sich im 20. Jahrhundert als eine „wichtige Form der Politik“158 heraus. Lebensreformerische Grundmechanismen wie die kritische Hinterfragung der Gesellschaft und der Versuch, neue bzw. andere Wege in die Moderne einzuschlagen waren ein Charakteristikum der Freideutschen und Ausdruck einer „reflexiven Modernisierung“159 avant la lettre. Erkennbar werden das kulturpolitische Wollen der Freideutschen im 20. Jahrhundert und ihre gesellschaftliche Rolle mit Blick auf die einflussreichen beruflichen Positionen, die viele Freideutsche nach 1918/19 und 1945/49 auf den Gebieten der akademischen Wissenschaften, Kultur und oder auch der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik bekleideten. Aus dem Sera-Kreis traten unter anderem der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Flitner, Rudolf Carnap als einer der Hauptvertreter des Logi157 Knud Ahlborn, zitiert nach: Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 162. 158 Rohkrämer, Modernisierungskrise und Aufbruch, S. 38. 159 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/M. 1993.
264 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs schen Empirismus und des Wiener Kreises und der Kunsthistoriker und Künstler Franz Roh hervor. Freideutsche wie Alexander Rüstow als Soziologe, Nationalökonom und Wirtschaftspolitiker, Eduard Heimann als Religiöser Sozialist, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und Hans Freyer als Soziologe, Historiker, Philosoph und Begründer der Leipziger Schule prägten die Entwicklung der Bundesrepublik entscheidend.160 Hinzu kamen die zahlreich in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätigen Freideutschen wie der Volkshochschulleiter Knud Ahlborn, der Erziehungswissenschaftler und Erwachsenenbildner Fritz Borinski, die Reformpädagogen Walter Fränzel sowie Max und Gertrud Bondy oder die Erwachsenenbildner Fritz und Edith Klatt. In der Politik traten unter anderem der sozialdemokratische Politiker und Staatsrechtler Carlo Schmid, der CDU-Politiker Helmut Lemke und der sozialdemokratische Bildungs- und Kulturpolitiker Kurt Löwenstein hervor. Die Leitidee einer grundlegenden Lebens- und Gesellschaftsreform lässt sich bei den Freideutschen von den Selbstbildungsprogrammen und Arbeiterbildungskursen der akademischen Freischaren vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Gestaltungsebenen und Institutionen der frühen Bundesrepublik nachverfolgen.
160 Volker Kruse: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt/M. 1994. Zur Aktualität von Heimanns sozialpolitischem Werk Lothar Böhnisch: Die Dialektik der Angewiesenheit. Das sozialpolitische Werk von Eduard Heimann neu lesen, Bielefeld 2020. Zur Bedeutung Rüstows vgl. Julian Dörr: Die europäische Kohäsionspolitik. Eine ordnungsökonomische Perspektive, Berlin/Boston 2017, S. 9–63.
6 Avantgarde Als politisch konnotierter Kollektiv-Singular, wie er für das „Zeitalter der Ideologien“161 typisch war, und als Metapher bezeichnete „Avantgarde“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts die „Speerspitze des Fortschritts“162. Avantgarden sollten ästhetische Innovation und politisch-sozialen Fortschritt zugleich maximieren. Die geschichtsphilosophische Prägekraft der Avantgarde-Metapher spiegelt sich auch in der Handlungs-, Gesellschafts- und Modernisierungstheorie wider.163 Der Vielfalt und Pluralität ihrer geschichtsphilosophischen Implikationen entspricht das breite programmatische Spektrum politischer, kultureller, technischer und künstlerischer Avantgarden bzw. Avantgarde-Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert.164 Als zeitgenössischer Schlüsselbegriff stand Avantgarde im 19. Jahrhundert für eine diffuse, zugleich aber auch anziehend konkrete Verbindung aus sozialer Aktivität, Dynamisierung und Solidarisierung und war eng mit der Idee eines sozialen Führungsanspruchs verknüpft. Avantgarde wurde zunehmend als Avantgarde-Bewegung im Sinne geschichtlichen Bewegtwerdens sowie im Sinne geschichtlicher Weiterentwicklung begriffen.165 Unabhängig davon, welcher Typus Avantgarde behauptet wird – politische, soziale, wissenschaftliche, technische oder künstlerische – und unabhängig davon, ob Avantgarde als Selbstbeschreibungs- oder Zuschreibungskategorie verwendet wird, beinhaltet der Avantgardebegriff stets eine Evolutionsdynamik im Sinne des historischen Fortschrittsmodells der Moderne.166 161 Klaus von Beyme: Politische Theorien im Zeitalter der Ideologien. 1789–1945, Wiesbaden 2002. 162 Ders.: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München 2005, S. 31. 163 Hannes Böhringer: Avantgarde – Geschichten einer Metapher, in: Archiv für Begriffsgeschichte 22 (1978), S. 90–114; Ludger Fischer: Avantgarde – Die Vorhut der alten Ratten. Versuch einer Begriffsgeschichte, in: Hans Holländer/Christian W. Thomsen (Hrsg.), Besichtigung der Moderne. Bildende Kunst, Architektur, Musik, Literatur, Religion. Aspekte und Perspektiven, Köln 1987, S. 41–52. 164 Grundlegend Wolfgang Asholt (Hrsg.): Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld, Berlin 2014; Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933, Stuttgart/Weimar 1998; Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden; Albrecht, Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden; Klinger/Müller-Funk, Das Jahrhundert der Avantgarden; Arnold, Aufbruch ins 20. Jahrhundert; Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung, Amsterdam 2000; Dies.: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde. (1909–1938), Stuttgart 1995; Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918, Frankfurt/M. 1994. 165 Vgl. Böhringer, Avantgarde, S. 94, 101. 166 Dazu Gerhard Plumpe: Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme, in: Arnold, Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 7–14. https://doi.org/10.1515/9783110783667-021
266 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Für die Beschreibung von Akteurskollektiven und die mit ihnen verbundenen sozialen Praxen und historischen Innovationsprozesse ist der Begriff aufgrund seines uneinheitlichen Gebrauchs in Öffentlichkeit und Wissenschaft sowie seiner unterschiedlichen historisch-normativen Aufladungen nur bedingt verwendbar und bedarf vorhergehender Klärung. Eine Abgrenzung zwischen verschiedenen Avantgarden erweist sich oftmals als sehr schwierig, da jede Avantgarde immer auch Bereiche abdeckt oder in solche vorstößt, die über ihre eigentliche Stoßrichtung hinausgehen und weiter gefasst sind als die ursprünglich mit ihnen verbundenen Zielsetzungen. Insbesondere eine Unterscheidung zwischen politischer und kultureller Avantgarde ist schwierig, da politische Avantgarden (sub-)kulturelle Ausdrucksformen hervorbringen und kulturelle Avantgarden umgekehrt politisch denken, handeln und argumentieren können.167 Für die theoretische Konzeption der hier vorgestellten freideutschen Avantgarde lassen sich ausgehend von der Geschichte des Avantgardebegriffs und seiner Rückbindung an die Herkunft aus dem militärischen Sprachgebrauch (Vorhut bzw. Vortrupp zur Aufklärung und Sicherung) neun Strukturmomente ableiten: Aufklärung, Führung, Vergegenwärtigung, Bereitschaft, Antizipation, Kompensation, Zeitgewinn, Verantwortung und Alarmierung. Avantgarden können sowohl als Faktor als auch als Indikator geschichtlicher Prozesse betrachtet werden. Sie sind Teil der Gesellschaft, und dieser aber zugleich auch funktionell enthoben. Sie agieren ausgehend vom und im normativen Ordnungsrahmen einer Gesellschaft und wirken umgekehrt mit ihrer eigentümlichen sozialen Praxis auf diesen ein. Ausgehend von einem wie auch immer definierten Ziel der Geschichte weisen Avantgarden immer chiliastisch-eschatologische und teleologische Elemente auf. Indem sie bestimmte Ideen oder Botschaften transportieren oder vor bestimmten (Zukunfts-)Szenarien oder Gefahren warnen, wecken sie bei ihrer Umgebung entsprechende Hoffnungen oder Ängste und vermitteln ihre je eigenen Zukunftsbilder. Dementsprechend verfügen Avantgarden über einen ausgeprägten „Gefahrensinn“168. Auf der einen Seite entwickeln und definieren sie in ihren Utopien bestimmte gesellschaftliche Sollzustände, auf der anderen Seite arbeiten sie sich am gesellschaftlichen Istzustand ab und zeichnen entsprechende Dystopien. Ihre soziale Praxis hat damit immer auch kritischen und warnenden Charakter. Aufgrund ihrer inneren Dynamik, ihres hohen Reaktionspotentials sowie ihrer ausgeprägten Sensibilität für das Zeitgeschehen sind Avantgarden immer auch anfällig für programmatische und personelle Sezessionen.169 167 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 196. 168 Engell/Siegert/Vogl, Gefahrensinn. S. o S. 227–228. 169 Vgl. Böhringer, Avantgarde, S. 103.
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Grundsätzlich handelt es sich bei Avantgarden um zukunftsorientierte Akteurskollektive, die gesellschaftliche Veränderung und/oder Innovationsprozesse initiieren, bestehende Entwicklungen aufgreifen und beschleunigen oder bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und Normen aufweichen bzw. verschieben. In diesem Sinne werden Avantgarden im Kontrast zum Fortschrittsverständnis „der“ Moderne als „Fragmente der Zukunft“170, als ein aus der Zukunft in die Gegenwart hineinragendes bzw. hineindrängendes Potential aufgefasst, in dem Gegenwärtiges und Zukünftiges, Gegenwartsbetrachtung und Zukunftsöffnung zusammenkommen. Die Überlegung knüpft an eine Denkfigur Martin Heideggers an, die diesem in den 1920er Jahren dazu diente, die vom Historismus geprägte liberale Vorstellung vom Fortschritt als Verlauf, mithin als Grundprinzip von Geschichte, zu verneinen: die Gegenwart, das „Sein“, war nicht aus der Geschichte bedingt, sondern wurde von der herandrängenden Zukunft geformt und bestimmt. Das Vergangene beeinflusste die Idee vom Zukünftigen nicht, die Zukunft wurde allein aus der Gegenwart gedacht. Für Heidegger war die Gegenwart in der Zukunft verwurzelt, entsprang die Gegenwart der Zukunft.171 Avantgarden setzen sich beständig mit der Gegenwart auseinander und versuchen, die von ihnen antizipierte Zukunft in Form von bestimmten kulturellen, sozialen, politischen oder künstlerischen Zukunftsaneignungen in diese zu integrieren. Indem sie dies tun, versuchen sie, sich der Zukunft auf ihre Art und Weise zu bemächtigen und ihre Vorstellungen zukünftigen Zusammenlebens, Lebens, Handelns, Verhaltens oder auch Kunstschaffens zu etablieren. Dabei werfen Avantgarden oftmals Fragen, Ideen und Problemstellungen auf, die über deren zeitgenössisches Wirken hinaus anhaltende gesellschaftliche Relevanz haben, insofern sich avantgardistische Projekte auf andauernde gesellschaftliche Entwicklungen bzw. fortbestehende Veränderungs- und Krisenzusammenhänge beziehen können. Im weitesten Sinne zielt ihre soziale und kulturelle Praxis darauf, der Zukunft – wie auch immer diese imaginiert wird – vorzugreifen, um die Gegenwart auf diese Weise mit bestimmten Zukunftsbildern zu verbinden. Avantgarden entwickeln, definieren und realisieren bestimmte Ideen von Zukunft, richten ihre Praxen auf diese hin aus und verleihen ihnen damit eine Zukunftsdimension. Avantgarden nutzen ihre Ressourcen hauptsächlich dazu, um in der Gegenwart von ihnen selbst entwickelte Zukunftsbilder zu verwirkli-
170 Walter Fähnders: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung, Amsterdam 2000, S. 69–96, hier S. 69, 72. 171 Heidegger, SuZ, §§ 67–82, S. 334–436, hier exemplarisch S. 336–337, 360, 375–377, 427. Ferner Ders.: Die Grundprobleme der Phänomenologie [1927], Gesamtausgabe, Bd. 24, hgg. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt/M. 1989, hier §§ 19–22, S. 322–469.
268 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs chen. Für Avantgarden zentrale Begriffe wie „Zukunft“ und „Fortschritt“ stellen dabei einen direkten Bezug zur Praxis in der Gegenwart her. Auf ihre jeweils eigene Weise entwickeln Avantgarden in ihrer Zeit ein bestimmtes Zukunftspotential, sei es in Form von sozialen Kompetenzen, erzieherischen, künstlerischen oder politischen Ideen und Inhalten oder auch kulturellen Praxen, das sich bei entsprechenden äußeren Voraussetzungen, Gelegenheiten und Möglichkeiten sowie bei entsprechender kultur- oder auch machtpolitischer Motivation freisetzen und die Gegenwart beeinflussen kann. Was soziale Herkunft und Bildungsgrad anbetrifft, kann ihr Personal zwar in der Mitte einer Gesellschaft verhaftet sein, ihre Praxis entwickelt sich aber tendenziell zunächst an den Rändern bzw. den Schnittstellen von Gesellschaft, Kultur, Kunst und Politik. Avantgarden bzw. avantgardistische Strömungen operieren an gesellschaftlichen Schnittstellen wo sie, etablierte Strukturen tendenziell überwindend, einen Bruch mit ihnen obsolet erscheinenden historisch gewordenen Normierungen, kulturellen Mustern, Ordnungen, Werten, Hierarchien, Begriffen und Ideen proklamieren und sich mit neuen Praktiken davon abzusetzen versuchen, um so neue gesellschaftliche Relationen, Perspektiven und Möglichkeiten zu schaffen. Im spätwilhelminischen Kaiserreich stellen die Freideutschen als Generationseinheit im Rahmen der größeren Generationslagerung der bürgerlichen Jugendbewegung eine Avantgarde in eben diesem Sinne dar. In der Regel empfinden und definieren sich Avantgarden als exklusive, innovative, flexible und in ihrer Zeit hervorstechende Gemeinschaften mit besonderen Potentialen und Fähigkeiten. Diese sind primär durch ihre Gruppendynamik, ihre Ideen und Ziele sowie ihre soziale Praxis verbunden, weniger durch Organisation. Sie eint die selbstlegitimierende Vorstellung einer historisch exklusiven und auf dem Vormarsch befindlichen Elite, die den Fortschritt des historischen Prozesses nach eigenem Selbstverständnis von dessen Spitze aus anführt (Avantgarde!), ihren Führungsanspruch also primär dadurch begründet, der übrigen Gesellschaft voraus zu sein.172 Dennoch sind ihre Praxen stets an soziale, kulturelle und politische Rahmenbedingungen gebunden, die ihre Ideen und Handlungen ermöglichen, motivieren und beeinflussen. Avantgarden machen sich Dynamiken sozialer Prozesse zu eigen bzw. diese zum Gegenstand ihrer Auseinandersetzung, sodass sie oft mit sozialkulturellen Bewegungen verbunden sind, die Inhalt und Form ihrer Praxis beeinflussen.173 Avantgarden nehmen generell für sich in Anspruch, für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder Bewegung die Funktion zu übernehmen, deren Ziele zu artikulieren und nach Möglichkeit auch durchsetzen, sie durch Symbole und spezifische kulturelle Praktiken sichtbar und identifizierbar zu machen und ihr bzw. ihren Interessen gegen 172 Vgl. Böhringer, Avantgarde, S. 104, sowie Plumpe, Avantgarde, S. 8. 173 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 197.
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gesellschaftliche Widerstände zum Durchbruch zu verhelfen, wobei die Gruppe bzw. die Bewegung selbst, genauso wie die Funktion, die die Avantgarde ihr gegenüber einzunehmen glaubt, real oder fiktiv sein kann.174 Grundsätzlich formulierten Avantgarden Ziele und Bedürfnisse, zu deren Durchsetzung oder Befriedigung sie auf Dauer, d.h. über die Zeit ihres Wirkens hinaus nicht fähig sind. Avantgarden sind darauf angewiesen, dass ihre Ziele und kulturellen Ausdrucksformen langfristig von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung eingeholt werden, die diese aufgreift, modifiziert oder sogar aus dem ursprünglichen Zusammenhang herauslöst. Avantgarden stellen einflussreiche gesellschaftliche Subsysteme bzw. schwellenwirksame Anti-Strukturen dar, die mit ihren Ideen und Praxen normativ auf den Ordnungsrahmen einer Gesellschaft einwirken. Zwar können sie mit ihren Programmen und ihrer sozialen Praxis kritisch auf etablierte gesellschaftliche Normen bezogen sein, nicht aber außerhalb der etablierten Gesellschaftsordnung operieren. Avantgarden sind als gesellschaftliche Teilsysteme anzusehen, zumal politisch gesteuerte, nicht-totalitäre Gesellschaftssysteme bis zu einem gewissen Grad immer auch kalkuliert Systemkritik zulassen und benötigen, um ihre Herrschaft stabilisieren und langfristig aufrecht erhalten zu können, insofern eine kritische Reorganisation der Gesellschaft durch ihre Teilsysteme eine soziale Ventilfunktion erfüllt und damit zum Systemerhalt beitragen kann. Indem Avantgarden stellvertretend für andere Teile der Gesellschaft in welcher Form und auf welche Weise auch immer Kritik formulieren, binden sie anderweitige vorhandene systemkritische Kräfte innerhalb der Gesellschaft und kanalisieren diese in eine gegebenenfalls politisch berechenbare soziale Praxis. Avantgarden dienen als gesellschaftliches Reflexionsmodell und gehören damit grundsätzlich zum Entwicklungsprinzip einer Gesellschaft. In ihrer Funktion als Vertreter von Teilsystemen bürgerlicher Selbstkritik und -reflexion erhalten sie im 19./20. Jahrhundert paradigmatischen Charakter,175 ist die Geschichte der Bürgerlichen Gesellschaft schließlich nur als Synthese ungleichzeitiger Entwicklungen verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme denkbar.176 Anschaulich werden diese grundsätzlichen Überlegungen am Beispiel der Freideutschen, die sich als klassischer Typus einer akademischen Suchbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts als kulturelle und moralische Avantgarde verstanden und formierten. Mit ihrer sozialkulturellen Neuverortungspraxis ordnen sie sich in das breite Spektrum nationaler und europäischer Avantgarden
174 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 196. 175 Michael Makropoulos: Zur Logik der Avantgarde, in: Clemens Albrecht (Hrsg.), Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg 2004, S. 79–86; Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974, S. 26–35. 176 Vgl. Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 31.
270 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs bzw. avantgardistischer Bewegungen und Ismen ein, die im Rahmen des Modernisierungsgeschehens im 19./20. Jahrhundert entstanden und deren Gemeinsamkeit eine konsequente Orientierung an der Idee des Fortschritts war. Was die Freideutschen darüber hinaus mit anderen Avantgarden ihrer Zeit verbindet, ist ihr dynamischer Gruppen- und Bewegungscharakter, der ein hohes Maß an Bewusstseinsüberschüssen, Handlungspotentialen und Gestaltungswillen freisetzte. Ihr Programm wurde innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung breit rezipiert und fand darüber hinaus Eingang in den öffentlichen Diskurs kultureller und politischer Eliten. Die mit der Selbstbildungsidee verbundenen sozialkulturellen Praxen und Erneuerungsimpulse der Freideutschen begannen sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg zu verselbstständigen und sich in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft bemerkbar zu machen. Vor allem die Reformpädagogik und die Volkshochschulbewegung der Weimarer Zeit wurden stark von Freideutschen bzw. freideutschen Ideen geprägt. Das hier beobachtete Akteurskollektiv wird als paradigmatischer Vertreter des Teilsystems Bildungsbürgertum konzipiert und als solcher dem akademisch geprägten Milieu innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung zugeordnet. Den akademischen Eliten zugehörig, bildeten die Freideutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Prototyp einer Gruppierung mit elitärem Selbstverständnis sowie gesellschaftskritischem und kulturreformerischem Veränderungsanspruch, die mittels originär entwickelter Subjektivierungs-, Erziehungs- und Vernetzungsstrategien Einfluss auf kultur-, bildungs- und sozialpolitische Felder geltend machen wollte. Die Freideutschen lebten und handelten nicht nur für sich, sondern waren davon überzeugt, Vorbild für andere zu sein bzw. eine wichtige kulturelle Funktion zu erfüllen, die der Jugend und nachfolgenden Jugendgenerationen neue gesellschaftliche Möglichkeiten und Voraussetzungen schaffen sollte. Als soziale Gruppe von akademisch geprägten bzw. gebildeten Akteuren war das Akteurskollektiv Teil der deutschen Bildungseliten und damit strukturell prädestiniert, führende Positionen in Politik, Kultur und Gesellschaft zu übernehmen. Die Zuschreibung einer Avantgarde rechtfertigt sich nicht nur durch die faktische Zugehörigkeit der Freideutschen zu den gesellschaftlichen Bildungseliten sowie die damit verbundenen Führungs- und Karrieremöglichkeiten und vielfältigen Privilegien, die sie als intellektuelle freischwebende Intelligenz prädestinierten. Zu einer Avantgarde machte sie konkret der kultur-, sozial- und gesellschaftspolitische Gestaltungsimpetus ihrer Denkkollektive, ihre vergleichsweise frühe Formierung als Verantwortungsintelligenz und ganz praktisch die Entwicklung alternativer bzw. neuer bürgerlicher Subjektivierungs-, Beteiligungsund Geselligkeitsformen (Stichwort Kreis und Bildende Geselligkeit). Sie prägten einen eigenen Denkstil.
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Ihr Gestaltungsimpetus war Ausdruck eines sozialkulturell und milieubedingt gewachsenen Avantgardebewusstseins. Umgekehrt stützten Selbstbeobachtung sowie Gestaltungspraxis und -kommunikation – das selbstverstärkende Reden über die vermeintliche Veränderungskraft der eigenen Ideen und Handlungen – das Selbstverständnis, eine gesellschaftliche Vorreiterrolle einzunehmen. Ferner kann davon ausgegangen werden, dass die Freideutschen ihr Avantgardebewusstsein zu einem Grad bereits vor ihrer eigentlichen Formierung internalisierten. Das Vorhaben einer kulturellen Erneuerung durch die Jugend war elementarer Bestandteil der Strategie der Bildungsbürgerschicht zur Überwindung ihrer Statuskrise. Die kulturelle Aufwertung der Jugend war Ausdruck ihres Versuches, den Kernbestand ihrer kulturspezifischen Werte und Normen gegen neue Organisationsprinzipien und Orientierungsmuster der modernen Industrie- und Massengesellschaft abzusichern und im Hinblick auf den Erhalt ihrer Deutungsmacht und ihres sozialen Status zu aktualisieren und zu vitalisieren. Die Projektionen der Bildungseliten auf die Jugendgeneration und ihre Erneuerungskräfte gründeten nicht zuletzt in der Hoffnung, die Überlegenheit ihrer schichtspezifischen Kultur und ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch deutlich machen zu können. Die Jugend wurde zum Träger einer immens hoch bewerteten Aufgabe, zum Subjekt der Zukunft.177 Die sich als freideutsch verstehende Generationseinheit wies eine starke Identifikation mit der ihr zugedachten Aufgabe auf. Diese beinhaltete die Forderung nach neuen Persönlichkeitsqualitäten, Werten, Gemeinschaftsformen und Kulturtechniken, wie sie die Freideutschen in Verbindung mit einem konkreten lebens- und kulturreformerischen Programm entwickelten und erprobten.178 Der positiven Ermöglichung durch die Erwachsenenwelt entsprachen Zukunftsfixierung und Gestaltungswillen der sich als Avantgarde verstehenden und sich als solche formierenden freideutschen Generationseinheit. Das hier analysierte Akteurskollektiv als Avantgarde kulturell-sozialer und moralischer Erneuerung wollte über einen in den eigenen Reihen entwickelten Menschen- und Bürgertypus Einfluss auf die Zukunft nehmen. Die Freideutschen verband die gemeinsame Vorstellung, mit kulturellen Führungsfunktionen gegenüber der in der bürgerlichen Jugendbewegung engagierten Jugendgenerationen, aber auch der deutschen Jugend insgesamt ausgestattet zu sein. Als programmatischer Referenztext begleitete viele Freideutsche auch außerhalb des Freideutschen Jugendtags 1913 Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. Vor allem ein Ausspruch wurde ihnen zum Leitsatz:
177 Dazu ausführlich s. o. S. 48–51. 178 Vgl. Hepp, Avantgarde, S. 11–42, 75–89.
272 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Es hängt von euch ab, […] ob ihr der Anfang sein wollt, und der Entwicklungspunkt einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrlichen Zeit, und diejenigen, von denen an die Nachkommenschaft die Jahre ihres Heils zähle.179
Nicht von ungefähr war in der offiziellen Festschrift und im Redenheft zum Freideutschen Jugendtag 1913 jeweils eingangs das der Selbstbeschreibung dienende Gedicht „Parole“ des sozialrevolutionären Lyrikers Karl Henckell (1864–1929) abgedruckt, in dem das „junge deutsche Geschlecht“, das die Freideutschen im besten Sinne zu verkörpern glaubten, vielsagend als „Garde der Zukunft“ betitelt wurde.180 Das Gedicht, dessen Inhalt man der Veranstaltung und damit dem sozialen Handeln der Freideutschen als Leitmotiv voranstellte, entsprach in diesem Sinne der Selbstinterpretation der Freideutschen als Avantgarde. Jugend an sich und Freideutschsein im Besonderen wurde als der Inbegriff von Zukunft verstanden. Was die Freideutschen dabei mit anderen modernen Avantgarden teilten, war, dass sie sich in der Realität mit einem kaum zu legitimierenden Anspruch auf Führerschaft konfrontiert sahen, insofern sie sich mit der bürgerlichen Jugendbewegung bzw. der Jugend auf eine gesellschaftliche Gruppe bezogen, die nur wenig organisiert und als Ganzes auch nicht zu organisieren war, was eine formale Legitimation durch bestimmte Verfahren von vornherein ausschloss. Diese Problematik zeigte sich nicht zuletzt beim Freideutschen Jugendtag 1913. Als kulturell-moralische Avantgarde sahen sich die Freideutschen deswegen von Beginn an einem besonderen Legitimations- und Kreativitätsdruck ausgesetzt.181 Daraus ergaben sich letztlich ihre Suchbewegungen und ihr Distinktionsverhalten gegenüber bestimmten Ausprägungen der wilhelminischen Kultur sowie die Wichtigkeit ihrer Gruppenpraxis, die identitäts-, gemeinschafts- und sinnstiftende Funktion hatte. Als primär selbstdefinierte Avantgarde kompensierten sie ihre fehlende staatliche und gesellschaftliche Legitimation auch durch eigene regelmäßig bzw. dauerhaft genutzte Beteiligungs- und Verständigungsformate sowie durch beständige (oft lebenslange) Sozialkontakte. Die Entwicklung und regelmäßige Aktualisierung einer entsprechend freideutsch fundierten Praxis war entscheidend für die Aufrechterhaltung ihres Avantgardebewusstseins. Fehlende formale Legitimität bzw. fehlende Legitimierungsstrukturen kompensierten die Freideutschen durch innovative sozialkulturelle Praxen und auf politisch-soziale
179 Fichte, Reden an die deutsche Nation. Das Zitat stammt aus der Vierzehnten Rede. Zu dessen Popularität in der Freideutschen Jugend siehe auch Frobenius, Mit uns zieht die neue Zeit, S. 164. 180 Arthur Kracke (Hrsg.): Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913, S. 82; Mittelstraß/Schneehagen, Freideutscher Jugendtag 1913, S. 4. Beide Schriften sind auch editiert in: Mogge/Reulecke, Hoher Meißner 1913. 181 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 199–201.
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Gleichheit gerichtete nationale Zielsetzungen. Aus der grundsätzlich liberalen Vorstellung von der Integration aller Bevölkerungsgruppen auf der Grundlage einer kulturell verbundenen nationalen Staatsbürgergesellschaft, gegenüber der ständische, politische und regionale Unterschiede zurücktreten sollten, leiteten die Freideutschen ihren Führungsanspruch ab. Mit ihrer Selbstinterpretation als Avantgarde war auch eine Aufwertung der von ihnen angestrebten gesellschaftlichen Neuerungen als relativ komplex und gesellschaftlich bedeutsam verbunden, da die Freideutschen als Avantgarde ansonsten überflüssig gewesen wären. Avantgarden wie die Freideutschen leiten ihre Programme und Ziele deswegen zumeist gesellschaftlich her, insofern sich deren Ideen und Praxen auf mehr oder weniger entwickelte Geschichts- und Gesellschaftstheorien beziehen. Ihre hochstehenden ethisch-moralischen Prinzipien, ihre besondere Lösungsorientierung im Hinblick auf gesellschaftliche Problemstellungen und ihre vergleichsweise innovative Geselligkeits- und Selbstbildungspraxis sollten die zum Objekt ihres Handelns bestimmten Jugendgenerationen und die Gesellschaft von ihrem Führungsanspruch überzeugen. Das freideutsche Selbstverständnis, Vorreiter einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung zu sein, prägte nicht nur in entscheidender Weise Lebensgefühl und Denkweise der Freideutschen, sondern ließ sich von ihnen auch als strategisches Argument nutzen, zum Beispiel wenn es darum ging, die unpersönliche und unflexible oder systemhaft inhumane Praxis größerer Jugendorganisationen und staatlicher Erziehungsinstitutionen zu kritisieren.182 Die gesellschaftliche Sonderrolle, die die Freideutschen subjektiv einnahmen, bedeutete, dass sie sich tendenziell als Teil einer außerhalb der Mehrheitsgesellschaft oder der normativen Ordnung des Staates agierenden Bewegung verstanden, deren soziale Dynamik und Entwicklung durch einen schwerfälligen Apparat gehemmt wurde. Dies erklärt, weswegen es bei den Freideutschen nicht zur Ausbildung komplexer bürokratischer Strukturen und Organisationen im Sinne der herrschenden staatlich-rationalen Ordnung kam. Eine Avantgarde sind sie nicht zuletzt deswegen, weil sie ihre Praxis in einer Zeit entwickelten, in der die Monarchie dem Gros der Zeitgenossen noch selbstverständlich und zugleich zukunftslos erschien, in der die Demokratie bzw. liberale Prinzipien noch in weiten Teilen abgelehnt wurden, einer Zeit, die überwiegend in alteuropäischen Mustern dachte und konfiguriert war und zugleich in Modernisierung begriffen war. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fügt sich das freideutsche Akteurskollektiv in die modernen bürgerlichen Avantgardebewegungen um 1900 ein, die sich im Zuge des Modernisierungsgeschehens mit ihren Praxen an einer
182 Vgl. Plake, Reformpädagogik, S. 197.
274 | Teil III: Typologie der Praxis des freideutschen Denkkollektivs Neuausrichtung der Kultur bzw. einer Erneuerung der Gesellschaft sowie der individuellen Lebenspraxis versuchten und dabei teils von beträchtlicher theoretischer Fundiertheit gekennzeichnet waren. Der kulturkritische und zum Teil antibürgerliche Gestus moderner Avantgarden, mit dem sie sich von der bestehenden bürgerlichen Kultur und ihrem normativen Ordnungsrahmen distanzieren wollten, ohne jedoch wirklich antibürgerlich zu sein oder antibürgerliche Konzepte zu verfolgen, entsprach dabei der Vorstellung, durch alternative Lebens-, Gemeinschafts- und Subjektivierungskonzepte neues Personal und neue Instrumente für die Gestaltung der künftigen Gesellschaft entwickeln zu können. Die Praxen von Avantgarden erzeugten und provozierten auf ihren jeweiligen sozialen, kulturellen, künstlerischen und politischen Feldern Brüche mit vorhandenen Strukturen, die sie in vielen Fällen über ihr jeweiliges Milieu und über ihre aktive Wirkungszeit hinaus gesellschaftlich einflussreich machte. Was die freideutsche Avantgarde dabei von anderen modernen Avantgarden unterschied, war ihre charakteristische Verbindung von intellektuell-sozialkritischem Habitus und sozialpraktischem Impetus, die sich in einer kultur- und sozialkritischen, selbsterzieherischen und volksbildnerischen, von sozialem Verantwortungs- und kulturellem Erneuerungsdenken geprägten Praxis niederschlug. Wie andere moderne Avantgarden legitimierten die Freideutschen ihren Modernitätsanspruch vor allem durch ein noch zu realisierendes Gesellschaftskonzept.183 Individualitäts- und Gemeinschaftskonzepte, wie das der Freideutschen war Ausdruck eines gewandelten Modernitätsverständnisses. Da sich die freideutsche Avantgarde als Verkörperung einer neuen Zeit begriff, konnte sie ihre Normen nicht aus der Vergangenheit ableiten. Ursächlich für die aufkommende Selbstkritik gesellschaftlicher Teilsysteme in Form von Avantgarden wie den Freideutschen war der mit der Hochindustrialisierung einhergehende strukturelle Legitimationsverlust der gesellschaftlichen Ordnung. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, eine „Scharnierperiode“184 zwischen den Jahrhunderten und eine Phase weltweiter gesellschaftlicher Neuorientierung, war es die „Grundaufgabe“185 des freideutschen Denkkollektivs, das Verhältnis von Alt und Neu, von Tradition und Moderne, neu zu bestimmen und in ihrer kulturellen und sozialen Praxis zum Ausdruck zu bringen. In einer Zeit, in der ungewöhnlich wenige konstruktive und dauerhafte Problemlösungen für die gesellschaftlichen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts gefunden wurden,
183 Zum Grundgedanken vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 93–131, hier S. 120. 184 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1300. 185 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen [1944]. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007.
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setzten sie sich mit den Problemkomplexen ihrer Epoche auseinander und entwickelten praktische Ideen und Lösungswege für eine Neuordnung von Kultur und Gesellschaft, an denen sich ihr Sozialmilieu und andere gesellschaftliche Gruppen orientieren konnten. Dabei handelte es sich um mehr als nur einen zeitbedingten Denkstil, nämlich um den ernsthaften, über unterschiedliche politische Ordnungssysteme hinweg verfolgten Versuch einer Verantwortungsintelligenz, soziale, kulturelle und politische Grundspannungen und Konfliktdynamiken aufzulösen und zunehmend heterogen und kontingent werdende Lebensordnungen und -entwürfe zu einem homogenen Ganzen zu verbinden, sowohl national als auch im Zusammenhang einer europäischen und globalen Ordnung. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Herausforderungen und Chancen der Modernisierung entwickelten die Freideutschen Ideen und Techniken die sie – wie andere Avantgarden auch – zu einem Schlüssel für heute noch relevante Problemstellungen moderner Gesellschaften machen. Die im Vergleich zur Gesamtgesellschaft relativ geringe Größe des freideutschen Akteurskollektiv besagt dabei nichts über ihre gesellschaftliche Bedeutung, insofern es sich bei kulturellen Avantgarden immer um Minoritäten handelt, sonst wären sie als Herausragende nicht erkennbar.
7 Resümee Die entwickelte Typologie des freideutschen Denkkollektivs konnte sechs zentrale Charakteristika herausarbeiten: Kreis, Bildende Geselligkeit, Verantwortungsintelligenz, Kulturentwicklung, Lebensreform und Avantgarde. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie stehen in Beziehung mit einem grundsätzlich positiven Modernebegriff. Für diesen sind eine proaktive Haltung, Mitgestaltung und -verantwortung zentrale Kategorien. Er verbindet die kulturell und sozial konstruktiven Formen von Subjektivierung und Gemeinschaft mit den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des 20. Jahrhunderts. Bei den Freideutschen stachen ihr intellektuell-sozialkritischer und gestaltungsbewusster Habitus und ihr sozialpraktischer Impetus hervor, der sie als klassischen Typus einer akademisch geprägten kulturellen Suchbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts identifizierbar macht. Die Freideutschen in ihrer besonderen Charakteristik sind nicht passiv gebliebene „Übergangsmenschen“186 eines Epochenbruchs, sondern ein gestaltendes Akteurskollektiv, das das Modernisierungsgeschehen in Deutschland und die damit einhergehenden Möglichkeits- und Handlungsräume als Interpret und als Entwickler performativer Ordnungsideen und Sozialpraktiken mitprägte. Das von ihnen entwickelte Selbstbildungsprogramm und die von ihnen entwickelten Geselligkeitsstrukturen in Form sozialer Kreise spiegeln ihre Rolle als Verantwortungsintelligenz und ihr lebens- und kulturreformerisch geprägtes Avantgardedenken wider. Wer wie die Freideutschen beabsichtigte, die Gesellschaft langfristig von innen heraus zu verändern, kam nicht umhin, speziell die Jugendgenerationen und ihre Erziehung in den Mittelpunkt seiner kulturpolitischen Agenda zu stellen. Dementsprechend hatten Bildung und Erziehung für sie eine starke gesellschaftsbildende Funktion. Das freideutsche Akteurskollektiv steht für die Entwicklung eigentümlicher Formen der Zukunftsaneignung187, die von alternativen und innovativen Kulturtechniken und Geselligkeitsformen sowie der Idee eines Neuen Menschen im Sinne eines modernen Bürgertypus gekennzeichnet waren. An ihn geknüpft war das Ziel einer politisch und sozial geeinten Gesellschaft. Gekennzeichnet durch ein hohes Maß an praktischem Gestaltungswillen, sozialem Verantwortungsbe-
186 Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die wilhelminische Generation in der Krise des Kaiserreichs. Politische Mentalität und Autobiographie, Weinheim u. a. 1986. 187 Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008; Ders.: Optimismus und Pessimismus in der Krise – der politisch-kulturelle Diskurs in der Krise der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 115–140. https://doi.org/10.1515/9783110783667-022
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wusstsein und Gemeinsinn schufen die Freideutschen jenseits der tradierten institutionellen und kulturellen Ordnung, neue Handlungsräume für soziales, kulturelles und politisches Engagement vielfältiger Art. Durch die praktische Arbeit in ihren selbstorganisierten Kreisen, im Rahmen von privaten und öffentlichen Bildungsanstalten und -programmen, auf lokaler und staatlicher kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene sowie in besonderer Weise auf dem Feld der Kultur- und Sozialpolitik verbreiteten sich freideutsch geprägte Subjektivierungs- und Geselligkeitsformen, die zur Entwicklung moderner zivilgesellschaftlicher bzw. bürgerschaftlicher Beteiligungsformen beitrugen.188 Mit ihrem kulturellen, sozialen und politischen Engagement brachten sich die Freideutschen auf vielfältige Weise in die Belange des Gemeinwesens ein und gestalteten auf diese Weise die Zukunft von Staat und Gesellschaft mit.
188 Ralph Jessen/Sven Reichardt/Ansgar Klein (Hrsg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004; Rolf G. Heinze/Thomas Olk (Hrsg.): Bürgerengagement in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Opladen 2001; Rolf G. Heinze/ Thomas Olk: Vom Ehrenamt zum bürgerschaftlichen Engagement. Trends des begrifflichen und gesellschaftlichen Strukturwandels, in: Ernst Kistler/Heinz Herbert. Noll/Eckhard Priller (Hrsg.), Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts. Empirische Befunde, Praxiserfahrungen, Meßkonzepte, Berlin 1999, S. 77–100.
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Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert
1 Freideutsche Kreise als Verständigungs- und Orientierungsangebote in den Transformationsprozessen und ordnungspolitischen Brüchen des 20. Jahrhunderts Die Freideutschen treten uns im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kulturhistorisch und sozialkulturell mit ihrer Selbstkonstitution als Avantgarde entgegen. Sie entwickelten zunächst für sich selbst – leitend war der Grundsatz der Selbstbildung – und davon ausgehend für die Gesellschaft, Lösungsansätze für die vielfältigen sozialen und politischen Herausforderungen der Modernisierung in Deutschland. Sie strebten eine grundsätzliche Erneuerung des Volkes und der Kultur auf erzieherischer Basis an, deren Ausgangspunkt die Entwicklung eines zukunftsfähigen Menschentypus freideutscher Prägung sein sollte. In kritischer Distanz zur und in bewusster Abhebung von der wilhelminischen Mehrheitsgesellschaft sowie ihren sozialen Normierungen und ihrer tradierten kulturellen Praxis verfolgten die Freideutschen in ihren Kreisen alternative Vorstellungen von Erziehung, Gemeinschaft und Gesellschaft. In ihnen entwickelten und erprobten sie neue Formen der Erziehung und des Gemeinschaftslebens, die auf die Überwindung von für rückständig gehaltenen Kulturformen und Erziehungsbildern sowie darüber hinausgehend auf eine Neuorganisation der sozialen, kulturellen und politischen Ordnung zielten. Den historischen Rahmen der Entwicklung freideutscher Jugendkulturen bildete die fortschreitende Fragmentierung der Gesellschaft um die Jahrhundertwende, die einer strukturellen Trennung intergenerationeller Lebensformen und -verhältnisse Vorschub leistete und damit zur Auflösung traditioneller Generationenbilder und -gefüge sowie kultureller Normen führte. Die Folge war zum einen eine Distanzierung vor allem bildungsbürgerlich geprägter Jugendkreise, aber auch der Arbeiterjugend, von den Identifikationsanforderungen, -angeboten und -zumutungen staatlicher Erziehungsinstitutionen, zum andern eine nachhaltige Entkoppelung der Erwartungshorizonte und Lebensformen der älteren und der jüngeren Generation.1 Die Freideutschen griffen die jugendkulturellen Autonomiebestrebungen und Bewusstseinsüberschüsse ihrer Zeit auf und verbanden diese konstruktiv mit einem konkreten kulturreformerischen Programm. Dabei waren sie überzeugt, dass der Keim der Erneuerung nur aus der Jugend selbst kommen könne und die moralische, soziale und kulturelle Weiterentwicklung der Gesellschaft an die Erziehung einer neuen Generation junger Menschen geknüpft war. Deren verantwortungsvolle Aufgabe sollte es sein, ihre menschlichen Qualitäten, ihre Ideale und intellektuellen Fähigkeiten in die 1 Vgl. Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, S. 66. https://doi.org/10.1515/9783110783667-023
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Gesellschaft einzubringen, um so von innen heraus Veränderung zu bewirken. Auf diesem Gebiet beanspruchten die Freideutschen für sich eine kulturelle Führungsrolle. Sie strebten nach Persönlichkeitswerten und Geselligkeitsformen, auf denen die Gesellschaft neu aufbauen sollte. Das vor diesem Hintergrund von den Freideutschen entwickelte Selbstbildungsprogramm und die damit verbundene gesellige Praxis sind als Ideen und Ausdrucksformen jugendkultureller Selbstinitiation zu verstehen, die sich gegen die Rollenkonformität der wilhelminischen Gesellschaft richteten und zugleich aus jugendkultureller Sicht mit konkreten politischen Forderungen und kulturell-sozialen Veränderungswünschen verbunden waren. Für deren Umsetzung schlugen die Freideutschen aktive Wege der Mitgestaltung ein. Im Sinne der modernen Idee gesellschaftlicher Teilhabe suchten sie mit ihrer programmatischen und praktischen Gemeinschaftsarbeit aktiv gesellschaftliche Reformprozesse anzustoßen, indem sie innerhalb ihrer Gemeinschaften alternative Vorstellungen sozialen Miteinanders, von Bildung und praktischer Lebensführung sowie verschiedene Modelle kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ordnung erprobten und erdachten, die die Gesellschaft langfristig von innen heraus verändern sollten. Selbstreform und Geselligkeitsreform sollten die Bausteine einer umfassenden Gesellschaftsreform sein und begründeten ihren kulturellen Führungsanspruch. Damit sind die Freideutschen zugleich ein Beispiel für die Formierung und Beanspruchung eigenständiger Jugendkulturen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als privilegierte Trägergruppe von Bildung und Emanzipationstechniken agierten die Freideutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr länger nur als Objekt staatlicher Erziehungssysteme, sondern sie erklärten sich selbst zum Subjekt von Kultur und Politik, definierten sich als Träger von Erziehung und zukunftsträchtigen Lebensformen, und übernahmen eine aktive Gestaltungs- und Verantwortungsrolle für die Gesellschaft und ihre zukünftige Entwicklung. Ihre Kreise galten den Freideutschen dabei als Vorformen einer neuen kulturell-sozialen Ordnung, als kleinste Einheiten von Gemeinwesen, die durch ihre selbsterzieherische Praxis und die Verbreitung ihrer Ideen und Geselligkeitsformen aus sich heraus neuen sozialen Zusammenhalt erzeugen sollten. Im Frage-, Unsicherheits-, Widerspruchs-, Kritik- und Kontingenzraum der Modernisierung verfolgten die freideutschen Kreise ein grundsätzlich modernepositives, in die Zukunft gewandtes Projekt. Dieses sollte die Entwicklungen und Widersprüche der technischen, sozialen, politischen und kulturellen Moderne miteinander in Einklang bringen und in einem neuen Menschentypus auflösen. Die Idee einer Einigung der Gesellschaft auf kultureller, im Wesentlichen erzieherischer Grundlage folgte ihrer Selbstdefinition als Selbstbildungsgemeinschaft. In ihrem selbsterzieherischen Ansatz erblickten Vertreter der pädagogischen Eliten wie Wilhelm Stählin die größte Differenz zu anderen Reformgruppen:
282 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert Es ist der höchste Ruhm dieser ganzen Gemeinschaft, daß sie eine Erziehungsgemeinschaft ist und sein will, die vor allem die eigene Kraft zur großen Aufgaben stärken und an sich selbst arbeiten will, statt an der Welt herumzukorrigieren.2
Kennzeichnend für diese den Freideutschen eigene soziale Praxis war das Prinzip der Bildenden Geselligkeit, das den einzelnen Gruppenmitgliedern ein Höchstmaß an Individualität und selbstständiger Entwicklung gewährleistete und durch ein aktives, regelmäßiges und freundschaftsbasiertes Gruppenleben in Form von Vortrags- und Diskussionsrunden, Gastvorträgen, Exkursionen, Arbeitsgruppen und Gemeinschaftsprojekten wie etwa Zeitschriften zusätzlich gefördert wurde. Der „zukünftige Menschheitsbau“3 sollte durch die gezielte Erziehung einer freideutschen Elite erreicht werden, die vor allem auf kulturellem, pädagogischem und sozialem Gebiet wirken und auf ihre künftige gesellschaftliche Verantwortungs- und Führungsrolle vorbereitet werden sollte. Als kultur- und sozialreformerisch orientierte Selbstbildungsgemeinschaft nahmen die Freideutschen im kultur- und sozialgeschichtlichen Profil des Kaiserreichs und der Weimarer Republik eine besondere Rolle ein. Zwar fügen sie sich strukturell in das breite Spektrum zeitgenössischer Reformgruppen der bürgerlichen Jugend- und Lebensreformbewegung ein, im Vergleich zu anderen parallel agierenden sozialen, politischen, künstlerischen oder technischen Avantgarden verfügte ihre Praxis im 20. Jahrhundert aber zum einen über größere Kontinuität, zum andern leitete sich aus ihr kein revolutionärer, auf kurzfristige Verwirklichung zielender, sondern ein evolutionärer, auf langfristige Veränderung abzielender Entwicklungsanspruch ab. Im Gegensatz zu zeitgenössischen kommunitarischen Bewegungen und Gemeinschafsbildungen wiesen sie keine Tendenz zur Schließung oder Exklusion auf, sondern blieben inhaltlich und personell offen. Ihre Kreise folgten freien Formen der Vergemeinschaftung jenseits staatlicher Basisinstitutionen und gesellschaftlicher Großorganisationen. Die freideutsche Idee des „zukünftigen Menschheitsbaus“4 war aufs Engste mit dem Volkserziehungsgedanken verbunden. Ihre Volksgemeinschaftsidee beruhte auf der Integration aller Bevölkerungsgruppen und politischer Orientierungen und war seit dem Ersten Weltkrieg an die Idee der Völkergemeinschaft und -verständigung rückgebunden. Die soziale und politische Einheit des Volkes sollte durch eine Demokratisierung von Bildung, durch eine gerechte Verteilung von Bildungschancen und -zugängen sowie durch eine gerechte Wirtschaftsordnung und Güter- und Einkommensverteilung erreicht werden. Die staatlichen Regulierungsmaßnahmen sollten politisch die Akzeptanz der Demokratie, wirtschaftlich die Akzeptanz einer (frei-)deutschen Variante von Sozialismus för2 Stählin, Der neue Lebensstil, S. 15. 3 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35. 4 Ebd.
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dern. Demokratische Erziehung, Verteilungsgerechtigkeit und gerechte Arbeitsbedingungen sollten auf nationaler Ebene helfen, politische Ideologisierung, Klassendenken und soziale Spaltung zu überwinden. Überwölbt wurde diese Idee sozialen Friedens und nationaler Einigkeit von dem übergeordneten Ziel einer friedlichen Gemeinschaft der Völker und einer geeinten Menschheit. Vermitteln sollten dieses interkulturelle und verantwortungsethische Denken alle im Sinne der freideutschen Idee reformierten öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen. Exemplarisch für dieses Ordnungsdenken war das in den 1920er Jahren ausgearbeitete Programm des Freideutschen Bundes. Vom Volksgemeinschaftsbegriff des Nationalsozialismus, der diese zum Propaganda- und Terrorinstrument und zu einer eliminatorischen Exklusionsideologie machte, unterschied sich die Volksgemeinschaftsidee der Freideutschen fundamental. Sie war gleichbedeutend mit einer sozial gerechten Gesellschaft mit verantwortlich denkenden und handelnden Individuen. Der umfassende freideutsche Selbstbildungsansatz beruhte gerade auf der intellektuellen und sozialen Heterogenität freideutscher Kreise, auf den unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen ihrer Angehörigen und ihrem geistigen Austausch. Die Freideutschen erkannten dem Staat nicht uneingeschränkt das Primat der Bildung zu, sondern fassten es als ihre Verantwortung auf, den ausgemachten Defiziten staatlicher Erziehung mit eigenen Bildungsformen und -einrichtungen entgegenzuwirken und das praktische Schul- und Universitätsleben durch neue Geselligkeitsformen und Bildungsinhalte zu modernisieren. Als moderne Selbstbildungsgemeinschaft mit kulturellem Führungsanspruch suchten die Freideutschen auf kultur- und sozialevolutionärem Weg über neu entwickelte Geselligkeits- und Erziehungskonzepte den Menschen und die Gesellschaft der Zukunft zu formen. Dabei wollten sie sich „um keinen Preis auf irgendein Reformprogramm“ sei es politischer, wirtschaftlicher, künstlerischer oder religiöser Art festlegen bzw. festlegen lassen, stets im Bewusstsein und stolz darauf, „eine Erziehungsgemeinschaft“ und „kein Reformverein“ zu sein.5 Die Freideutschen waren der Auffassung, dass alle notwendigen Reformen nur Einzelversuche bleiben würden, solange diese nicht mit umfassenden Veränderungen in der Erziehung einher gehen würden. Eine politische Revolution wie die von 1918/19 allein konnte in ihren Augen keinen nachhaltigen Erfolg haben. Als Selbstbildungsgemeinschaft waren sie überzeugt, bereits an der radikalsten Reform zu arbeiten, die überhaupt denkbar war: an einer Reform des Menschen. Sie begriffen ihren Lebensstil als höhere Verpflichtung gegenüber dem eigenen Volk, insofern sie dessen Zukunft von der Qualität ihrer Erziehung abhängig
5 Stählin, Der neue Lebensstil, S. 24–25.
284 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert glaubten. Der der bürgerlichen Jugendbewegung ideell nahestehende lutherische Theologe Wilhelm Stählin (1883–1975) brachte dieses den Freideutschen eigene Selbstverständnis in seiner 1918 erschienenen Schrift „Der neue Lebensstil. Ideale deutscher Jugend“ auf den Punkt: Nur eine völlig neue Erziehung kann das Geschlecht heranbilden, das den Sinn der Menschheit zur Wirklichkeit führen kann. Die Liebe zum eigenen Volk verbindet sich mit dem Glauben an die Menschheit, und aus diesem Bunde fließt das Bewusstsein einer letzten und höchsten Verantwortung.6
In derselben Schrift richtete Stählin zudem die zentrale und für den Zeitgeist des ersten und zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts typische Frage an die Jugend: „,Möchtet ihr nicht zu den Führern gehören, die aus unserer Jugend unserem Volk als Helfer kommen sollen?‘“7 Während nach dem Ersten Weltkrieg für einen erheblichen Teil der freideutschen Kreise das für ihre sozialkulturelle Praxis konstitutive Selbstbildungs- und Selbstbestimmungsprinzip weiterhin zentrale und bindende Bedeutung besaß, strebte die Bündische Jugend im Sinne radikal-nationalistischer Homogenitätsideen nach einer direkten und einheitlichen Erneuerung der Gesellschaft und orientierte sich dabei an völkisch-nationalen und militaristisch-männerbündischen Motiven.8 Dies machte sich auch an ihrer Literatur bemerkbar.9 Dagegen haben sich die 1918/19 zumeist schon erwachsenen Freideutschen in den 1920er Jahren mehrheitlich nicht (mehr) den Gemeinschaften der Bündischen Jugend angeschlossen, wie dies zahlreiche Angehörige der Vorkriegsjugendbewegung taten. Sie führten vielmehr ihr kulturelles und pädagogisches Engagement in selbstständigen, in aller Regel lokal organisierten Arbeits- und Freundeskreisen sowie eigenen Erziehungseinrichtungen und Publikationsformaten fort, wie etwa im Fall des Volkshochschulheims Prerow, der Volkshochschule Jena, des Kinder- und Jugendlagers Klappholttal oder auch der Zeitschrift Junge Menschen. Bei den Freideutschen rückte die bereits vor 1914 kultivierte Idee der Selbstbildung und Koedukation – parallel zur Ausbreitung der Volkshochschulbewegung der Weimarer Republik – noch stärker in den Vordergrund. Ihre besondere Geselligkeits- und Erziehungspraxis stand bereits vor 1914 dem Anschluss an einen der großen lebensreformerischen Vorkriegsverbände aus dem Umfeld der Abstinenzbewegung, der Rassenhygiene, der Bodenreformbewegung, der Reformpädago-
6 Stählin, Der neue Lebensstil, S. 1. 7 Ebd., S. 28. 8 Ahrens, Bündische Jugend; Ulrike Treziak: Deutsche Jugendbewegung am Ende der Weimarer Republik. Zum Verhältnis von Bündischer Jugend und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1986. 9 Andreas Bode: Bündische Literatur – die Literatur der Jugendbewegung, in: Norbert Hopster (Hrsg.): Die Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit der Weimarer Republik, Teil 2, Frankfurt/M. u. a. 2012, S. 683–752.
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gik, der zahlreichen Sittlichkeitsvereine oder auch der Ausdruckskultur entgegen. Signifikant für die besondere soziale und politisch-kulturelle Prägung und mithin für die historische Sonderstellung der Freideutschen nach 1918 war ihre mehrheitliche Distanz zu den politischen Parteien sowie zu den Gemeinschaften der Bündischen Jugend. Im Gegensatz zu von anderen Gruppierungen nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten gesellschaftlichen Reform- und Vergemeinschaftungsplänen standen in den freideutschen Gemeinschaften stets die Erziehung und die Erneuerung des Individuums im Mittelpunkt. Ihre Mitglieder vertraten einen umfassenden Erziehungs- und Bildungsansatz, der im Unterschied zu vergleichsweise einseitigen lebensreformerischen Programmen wie Alkoholabstinenz, Wohnungs- oder Bodenreform nicht auf Einzelreformen, sondern auf die Gesamterneuerung des deutschen Volkes auf erzieherischer Grundlage zielte. Es ging den Freideutschen um eine den Problemen und Chancen der Zeit angemessene Erziehung, einen umfassenden Bildungsansatz, der sich zugleich nach individuellen Begabungen richtete. Der von ihnen angestrebte ideale Menschentypus folgte keiner definierten Norm, sondern orientierte sich an in ihren Kreisen entwickelten Idealen und Gemeinschaftswerten, die hauptsächlich auf die individuelle Charakterbildung und Werteerziehung zielten. Wesentlich war die Trias von Freiheit, Wahrhaftigkeit und Verantwortung, womit „kein Programm oder Statut im landläufigen Sinn des Wortes“ aufgestellt war, jedoch unter den Freideutschen eine wesensmäßige Verbindung, ein „lebendiges Gefühl innerer Einheit“ entstand.10 Obwohl es sich bei „Avantgarde“ zunächst einmal nur um eine identitätsstiftende Selbstinterpretation der Freideutschen handelte, erhielt diese äußerlich durch die charakteristische soziale Form ihrer Gemeinschaften – Kreis –, inhaltlich durch die thematische lebens-, kultur- und sozialreformerische Ausrichtung und praktisch durch ihre von den tradierten Normen und kulturellen Mustern der wilhelminischen Gesellschaft abweichende und innovative soziale und kulturelle Erneuerungspraxis substanziellen Charakter. Die Freideutschen warfen in diesem Zusammenhang die Frage nach der geeigneten Erziehung auf, die Frage, nach welchen Werten und Normen eine fortschrittliche Kultur im Hinblick auf das Ziel einer sozial und politisch geeinten Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben der Völker in Europa leben und handeln sollte. Dafür entwickelten die Freideutschen innerhalb ihrer Kreise neue und alternative lebensund kulturreformerisch orientierte bürgerliche Beteiligungsformen sowie innovative reformpädagogische Erziehungs-, Bildungs- und Gemeinschaftsformen. Bei diesen handelt es sich gesamtgesellschaftlich betrachtet um praktische Antworten auf die zentrale Frage, welcher Typus Staatsbürger die Zukunft und
10 Stählin, Der neue Lebensstil, S. 4.
286 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert die Gesellschaft Deutschlands im 20. Jahrhundert prägen sollte. Im Spannungsfeld von Kultur und Nation sowie Pluralisierung und Globalisierung, in dem die Frage von Herkunft und Zukunft immer größeren Raum einnahm, machte das Programm der Freideutschen innerhalb ihres Sozialmilieus und darüber hinaus Beheimatungsangebote. Diese sollten helfen, die politische und soziale Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und so die Grundlage für den schrittweisen Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung bilden. Die freideutschen Kreise und die in ihnen entwickelten kulturellen Erneuerungstechniken sind nicht nur als alternative jugendkulturelle Praxen im engen Erziehungs- und Ordnungsrahmen des Kaiserreichs anzusehen, sondern in ihren verschiedenen Ausprägungen als konkrete Versuche, den sozialen, politischen und kulturellen Fragmentierungstendenzen und Brüchen der wilhelminischen Gesellschaft entgegenzuwirken. Nach dem Ersten Weltkrieg leisteten sie überdies einen Beitrag zum Aufbau und zur Stabilisierung der Gesellschaf nach 1918. Dies gilt auch für die Zeit nach 1945. Innerhalb des freideutsch-jugendbewegten Milieus blieben die freideutschen Kreise und Tagungen ein wichtiges soziales Forum für die Verständigung über drängende politische und gesellschaftliche Fragen der Zeit und die persönliche Meinungsbildung Als gestaltungsbewusste, kultur- und sozialreformerisch orientierte Gruppierung bewegten sich die Freideutschen vor 1933 im Spannungsfeld von Jugendbewegung, Lebensreformbewegung, Kultur und Reformpädagogik. Ihre sozialkulturelle Erneuerungspraxis macht sie gleichsam zum Subjekt und Objekt kultureller, sozialer und politischer Aushandlungs- und Selbstvergewisserungspraxen von Jugend in einer Zeit verdichteter kultureller Umbrüche und Aufbrüche sowie kulturell-ästhetischer Formierungspraxen und Selbst-Inszenierungen einer neuen Jugendkultur seit der Jahrhundertwende. Freiheits- und Autonomiestreben, intellektuelle und kulturelle Offenheit, ethisch-moralische Integrität, Gemeinschafts- und Gemeinsinn und soziales Verantwortungsdenken, allgemeine und akademische Bildung, gesunde Lebensführung und Kulturbewusstsein – dadurch sollte sich der „höhere Mensch“11, der freideutsche Menschentypus, idealerweise von anderen Zeitgenossen abheben und in gesellschaftliche Führungs- und Verantwortungspositionen hineinwachsen. Auf dessen besonderer Eignung und Erziehung sollte schließlich seine kulturelle und soziale Führerschaft beruhen. Das Freideutschtum sollte zum sozialen Nährboden kultureller Erneuerung werden. Auch wenn das freideutsche Menschenideal nicht immer stringent verfolgt werden konnte bzw. sich die einzelnen Flügel innerhalb der Freideutschen Bewegung dem Vorhaben aus verschiedenen politischen Perspektiven näherten, entfalteten sich Ideenspektrum und sozialkulturelle Praxis der 11 Der Begriff stammt aus dem „Bekenntnis der Freideutschen Jugend“, in: Ahlborn, Krieg, Revolution und Freideutsche Zukunft, S. 80.
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Freideutschen im Zeitraum von der Jahrhundertwende bis in die Weimarer Republik an ihren kulturreformerischen Ansprüchen und ihrem Programm. Die Grundsätze Selbstbestimmung, Freiheit, Autonomie, Verantwortung, Gemeinsinn, sowie die volks- und völkersolidarische Idee des „Menschheitsrechtes, der Brüderlichkeit und gegenseitigen Hilfe“12 formten das weltanschaulich-ideelle Koordinatensystem des freideutschen Selbstbildungsideals und dessen sozialpraktische Ausrichtung. Dieses Erziehungsbild war auch nach 1919 und 1945 typisch für das gesamte Spektrum der Freideutschen. Für diese alle parteipolitischen Präferenzen transzendierende Grundorientierung finden sich unter den Freideutschen exemplarische Kreise, Personen, Positionen und Aktionen.13 Die freideutschen Kernideen von Selbstbestimmung und Mitgestaltung zielten auf die Entwicklung sozial und politisch verantwortlich denkender und handelnder Individuen, auf Bürger- und Gemeinsinn. Wissen und Bildung, Selbstkritik und Kommunikation sahen die Freideutschen als Grundvoraussetzungen für sinnvolle gesellschaftliche Beteiligung an. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese emanzipatorischen Ideen zunehmend demokratisch fundiert und im Anschluss an die Motive der sozialistischen Friedensbewegung der 20er Jahre universalistisch in Richtung allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte sowie in Richtung einer Völker- und Friedensordnung gedacht. Analog zur AbendlandBewegung der Weimarer Republik orientierten sich die Freideutschen in den 20er Jahren und auch nach 1945 an der Idee einer abendländischen Werte- und Kulturgemeinschaft, an den Ideen der großen Revolutionen. Ihre demokratische Bildungs- und Diskussionskultur, ihr Engagement in der kulturellen und politischen Bildung, angefangen bei den studentischen Arbeiterbildungskursen vor dem Ersten Weltkrieg, ihr weitreichendes Engagement auf dem Feld der Reformpädagogik und der Volksbildung und nicht zuletzt ihr Einsatz für Völkerfrieden und Menschenrechte sowie für den Natur- und Landschaftsschutz – all das zielte im Kern auf die Demokratisierung von Lebenschancen, den Ausbau bürgerlicher Herrschaft im Sinne politischer Mitbestimmung und Gestaltung. Ihre Idee eines freideutsch geprägten Staatsbürgers, der durch sein pluralistisches Denken, seine Bildung, seine kulturelle Aufgeschlossenheit und sein soziales Verantwortungsbewusstsein von innen heraus eine Veränderung der Gesellschaft zum Positiven einleiten sollte, verwies auf das übergeordnete Ziel, eine Gesellschaft mitzuentwickeln, deren Bürger zur Schließung eines dauerhaften sozialen und politischen Konsenses in der Lage waren. Gemein-
12 Ahlborn, Krieg, Revolution und Freideutsche Zukunft, S. 81. 13 Für Namen und Kurzbiografien Freideutscher s. o. S. 23, Anm. 42. Ferner Aufruf zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, März 1959 (AdJb N 14/215); Vorläufige Vorschlagsliste für Aufruf Unterzeichner, o. V., o. J., (AdJb N 14/215); Rundschreiben von Werner Kindt zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, Juli 1956 (AdJb N14/215).
288 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert schafts- und Gemeinsinn sowie Kommunikation betrachteten die Freideutschen deswegen nicht nur als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion, sondern spätestens in der Weimarer Republik waren sich die meisten Freideutschen bewusst, dass auch Demokratie in entscheidendem Maße von Bildung, Selbstkritik und Kommunikation lebte. Der demokratische und pluralistische Ansatz der freideutschen Subjekt- und Gemeinschaftskultur und das moderne Bürgerund Gesellschaftsverständnis der Freideutschen wiesen in dieser Hinsicht voraus auf eine künftige demokratisch-freiheitliche Gesellschaftsordnung und lässt die Freideutschen als liberale kulturelle Elite herausstechen, als deren Kernbegriffe sich auch nach 1945 „Freiheit“ und „Verantwortung“14 konstituierten. Der tendenziell auf Demokratisierung und politischen Pluralismus zielenden Stoßrichtung der freideutschen Kreise entgegen standen zwei, die westeuropäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beherrschende Konfliktlinien: zum einen die politische Spannung zwischen Links und Rechts, zwischen Arbeit und Kapital, zum andern die Spannung zwischen liberalem kosmopolitischen und antiliberalem kommunitarischen Denken, zwischen Globalisierungsbefürwortern und -kritikern, zwischen Menschen und politischen Strömungen, die weitgehend auf globale humanistische Werte und Entgrenzung setzten und solchen, die in erster Linie auf nationale Kultur und Ökonomie, auf nationale Regulierungen und Beschränkungen setzten. Das eigentümlich Moderne an den Freideutschen war vor diesem Hintergrund ihr gesellschaftlicher Weitblick. Statt auf ideologische und ethnische Verengung sowie räumliche Abschottung setzten sie auf gedankliche Öffnung, auf differenziertes Denken, Meinungspluralismus, Toleranz und politische Verständigung. Ausdruck dessen waren ihre pädagogischen und Volksbildungsbestrebungen in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Bildende Geselligkeit war eben nicht nur eine Gruppenpraxis, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz, der auf eine Demokratisierung von Bildung und Bildungschancen, auf freie, gleichberechtigte Bildung zielte. Bildende Geselligkeit bezog sich nicht nur auf das nationale kulturelle Erbe in Form von Kulturleistungen, Bildungs- und Traditionsbeständen und Kulturräumen, sondern auch auf zivilisatorisch-kulturelle Errungenschaften abendländischer Humanität, wie die allgemeinen Menschenund Bürgerrechte. Im Grundsatz verfolgten die Freideutschen einen stark erweiterten Kulturbegriff, der im autokratisch-militaristisch geprägten Kaiserreich und in der Politisierungsphase nach 1918/19 Schwierigkeiten hatte, Bodenhaftung zu finden. Durch seine beiden Eckpfeiler Selbstbestimmung und Gemeinwohlorientierung war das freideutsche Programm so elastisch, das es grundsätzlich verschie-
14 Führungskreis des Freideutschen Konvents, Freiheit und Verantwortung.
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denste politische Orientierungen Freideutscher integrieren konnte. Deswegen lassen sich unter den Freideutschen vor 1918/19 genauso entschiedene Sozialisten, Kommunisten und Völkische, wie Sozialdemokraten, Links-Liberale und Liberal-Konservative antreffen, die sich unter der verbindenden Klammer der freideutsche Idee und im Hinblick auf das Ziel der gesellschaftlichen Erneuerung versammelten und miteinander auseinandersetzten. Was es – mit Ausnahme der Revolutionszeit 1918/19 – in der Regel nicht gab, war das Engagement Freideutscher in politischen Parteien. Entscheidend war ihre Identität als Freideutsche und das Gemeinschaftsleben ihrer Kreise. Deswegen fühlten sich die Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg primär politischen Strömungen wie dem Demokratischen, Religiösen oder Christlichen Sozialismus zugehörig, nicht Parteien, deren Funktionsprinzipien und Umsetzungswege sich grundlegend von denen freideutscher Kreise unterschieden. Dennoch waren sie politisch und entwickelten kultur- und machtpolitische Ambitionen. Stellt man die Frage nach der realpolitischen Perspektive für das kulturelle und politische Wirken der Freideutschen nach 1918/19, lässt sich feststellen – und dies ist entscheidend für die historische Interpretation der Freideutschen als kulturelle Avantgarde –, dass die freideutschen Kreise auch nach dem Ersten Weltkrieg primär kulturpolitisch agierten. Statt sich in der Weimarer Zeit etablierter oder neu entstehender Formate und Machtressourcen wie politischer Parteien oder Interessenverbände zu bedienen, griffen die Freideutschen auf ihre eigenen Strukturen und Freundeskreise sowie kulturell-organisatorischen Verstetigungen zurück. Freideutsche Ideale wie Selbstbestimmung und -bildung und weltanschaulich-intellektuelle Offenheit standen nicht nur den politischen Machtund Organisationsstrukturen entgegen, sondern auch einer einheitlichen politischen Willensbildung mit größerem institutionellem Überbau. Zusätzlich unterschied sich die besondere soziale Vergemeinschaftungs- und Aktionsform ihrer Kreise fundamental von der inneren Dynamik von Parteien. Ihre zwanglose Selbstverständigungskultur erlaubte es, die Grundlagen und Grundsätze von Politik, Staat und Gesellschaft offen zu diskutieren und war dafür vorgesehen, auch inhaltliche Spannungen auszuhalten. Rücksichtnahme auf z.B. Parteibeschlüsse musste nicht genommen werden. Weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Partei, die für die freideutsche Idee stand, weswegen es zu mehr als partiellen inhaltlichen Überschneidungen (vor allem mit dem Religiösen, Christlichen und Demokratischen Sozialismus) nie kam. Darüber hinaus funktionierten Parteien nach innen gänzlich anders als die freideutschen Kreise, in denen es undogmatisch und weniger hierarchisch zuging und es keine langwierigen Entscheidungsverfahren gab. Der speziellen Dynamik ihrer Kreise geschuldet, hatten die Freideutschen kein Interesse, eine eigene Partei zu gründen, unabhängig von der Frage, wie ein mögliches politisches Programm hätte aussehen können. Das politisch-kritische Potential ihrer Kreise und
290 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert Denkkollektive entfaltete sich auch nach 1945 fast ausschließlich im Rahmen ihrer eigenen Gesinnungs- und Verständigungsgemeinschaften. Im Vergleich zu anderen Gesellschaftsgruppen verfügten die Freideutschen über keine größere soziale, politische oder ökonomische Trägerschicht und damit über keine politische Aktions- und Einflussbasis. Auch schied für sie die Eingliederung in einen übergeordneten Interessenverband aus, zum einen deshalb, weil sie – abgesehen von der freideutschen Idee – über kein einheitliches oder politisch formulierbares Interesse verfügte; zum andern, weil sie vor allem für sich selbst stehen wollten und sich weder von einer Partei, noch von einem Verband in ausreichender Weise repräsentiert sahen. Hinzu kam die traditionelle Neigung zu Kleingruppen und Freundeskreisen, die mit einer strukturellen Ablehnung größerer Organisationsstrukturen einherging. Dieses typische Organisations- und Reorganisationsverhalten ließ sich bei den Freideutschen auch nach 1945/49 beobachten. Deren bürgerliche Etablierung wurde von den politischen Systemwechseln, Kriegen und wirtschaftlichen Krisen sowie den gesellschaftlichen Transformationen und Anpassungsversuchen der Jahre 1914 bis 1945/49 begleitet und zwang bzw. veranlasste sie mehrfach, ihre bürgerliche Existenz neu aufzubauen. Die ohnehin schwierige Antrittssituation der Freideutschen in den 1920er Jahren, die für das Gros der Freideutschen biografisch mit der Berufsfindung und bürgerlichmateriellen Etablierungsbemühungen zusammenfiel und durchaus mit einigen Gestaltungschancen und -erfolgen verbunden war, wurde durch die nationalsozialistische Diktatur seit 1933, den Zweiten Weltkrieg sowie die materielle und existenzielle Not der Nachkriegszeit noch einmal entscheidend erschwert. Gleichzeitig erhielt ihre Suche nach einer neuen kulturell-sozialen Ordnung, aufbauend auf einem freideutsch geprägten Menschen- bzw. Bürgertypus, durch die verschiedenen Zäsuren beständig neue Motivation und Relevanz. Die bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 ungeklärte Zukunft Deutschlands legitimierte äußerlich die gesellschaftlichen Aktivitäten der Freideutschen und motivierte innerlich ihr (Weiter-)Wirken als kulturelle Elite. Es kam den Freideutschen entgegen, dass sie ihre Ideen nur geringfügig an die äußeren politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen mussten, da ihre zentralen Denk- und Handlungskategorien – Gemeinschaft, Selbstbildung, Mensch, Verantwortung, Kultur, Natur und Gemeinwohl – sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik aktuell blieben oder sogar noch an gesellschaftlicher Relevanz gewannen. Ideen wie Selbstbestimmung, Volksbildung, soziale Mitverantwortung (man denke etwa an die Sozialarbeit oder das Ehrenamt) oder Natur- und Landschafts- bzw. Umweltschutz waren entweder schon in der einen oder anderen Form in die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik eingeschrieben oder konnten auf ihrer Basis gedeihen. Dies bedeutete im Umkehrschluss allerdings auch, dass wesentliche
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Ideen und Ziele der Freideutschen in weiten Teilen von der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung eingeholt wurden, die freideutsche Idee also nach 1949 an gesellschaftlicher Relevanz und Mobilisierungspotential einbüßte. Freilich hatten die Freideutschen eine ganz andere Wahrnehmung und in der Tat konnten sie sich in der Kultur-, Bildungs- oder auch der Friedenspolitik (Kalter Krieg) noch lange nicht am Ziel sehen. Ganz anders verhielt es sich zur Zeit des Nationalsozialismus. Zwar standen die totalitäre Führerdiktatur und die Volksgemeinschaftsidee der Nationalsozialisten Ideen wie Freiheit und Selbstbestimmung sowie dem Prinzip einer offenen, pluralen Gesellschaft unvereinbar gegenüber, das hieß aber freilich nicht, dass es für das politisch heterogen verfasste freideutsche Milieu keine Anknüpfungspunkte an den Nationalsozialismus gab. Hier zeigte sich die problematische Seite der universalistischen Leitmotive und sozialkulturellen Prägungen der Freideutschen. Wer unter den Freideutschen bereits vor 1914 oder spätestens nach dem Ersten Weltkrieg von Volk und Volksgemeinschaft redete, und das waren, dem politisch breit gefächerten Volksgemeinschafts-Diskurs der Zeit folgend, viele, für den war es nicht unwahrscheinlich, 1933 an bestimmte Denk- und Begründungsmuster oder Ziele des Nationalsozialismus anzuknüpfen. Anschlussfähig waren der jugendrevolutionäre Gestus, mit dem der Nationalsozialismus daherkam, dessen lebensreformerische Bezüge und Körperbilder, die auf die Gesundheit und Ertüchtigung jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft zielten, sowie auch die inkludierende Dimension der Volksgemeinschaftsidee. Unabhängig davon, zu welchem politischen Flügel man sich als Freideutscher 1918/19 und in der Zeit danach rechnete, bestand lagerübergreifend weitgehende Einigkeit in dem Bestreben, eine sozial und politisch stabile Gesellschaft aufzubauen, allerdings sollte diese bei den Freideutschen auf kulturellem Wege, auf der Basis abendländischer Humanität erreicht werden. Aufgrund partieller Überschneidungen wie dieser verbanden nicht wenige Freideutsche mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 anfänglich einige Erwartungen und verkannten die grundlegende rassenideologische Motivation des Nationalsozialismus. Nachdem allerdings 1933 alle Jugendverbände und -bünde im Rahmen der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik aufgelöst oder gleichgeschaltet wurden bzw. sich selbst gleichgeschaltet hatten, stellten sich die Erwartungen vieler Freideutscher als jugendpolitische Illusion heraus. Bald schon wurde offenbar, dass der Nationalsozialismus mitnichten an der Fortführung oder gar Aufwertung der historischen Traditionen und Motive der bürgerlichen Jugendbewegung interessiert war, was die Erziehungsideale und die kulturelle Praxis der Freideutschen mit eingeschlossen hätte. Die Reaktionen auf den Weg der Nationalsozialisten waren ebenso heterogen wie das freideutsche Milieu selbst. Der Großteil der Freideutschen passte sich an
292 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert oder fügte sich aus Eigeninteresse mehr oder weniger bereitwillig in die Strukturen des Nationalsozialismus. Sozialer Aufstieg war für nicht-jüdische Freideutsche auch in den Jahren von 1933 bis 1945 möglich, in denen nicht wenige Freideutsche – insbesondere die jüngere Generation Freideutscher – ihre bürgerlichen Karrieren begannen oder verfestigten (z.B. Werner Kindt). Auch der Eintritt in die NSDAP oder die SA war für die meisten Freideutschen obligatorisch. Nicht zuletzt die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935, die während der Republikzeit abgeschafft war, sorgte dafür, dass auch grundsätzlich pazifistisch gestimmte Freideutsche wie Knud Ahlborn (Mediziner) ihrer Funktion entsprechend im Zweiten Weltkrieg dienten und so zu Unterstützern oder Mittätern wurden.15 Nur ein kleiner Teil der Freideutschen wandte sich irritiert ab oder fand situationsbedingt zu individuellen Formen des Widerstands. Andere, besonders jüdische Freideutsche wie Adolf Löwe oder die Brüder Max und Curt Bondy, wanderten rechtzeitig aus oder sahen sich zur Emigration gezwungen. Nicht wenige fühlten sich von ihren ehemaligen freideutschen Freunden im Stich gelassen. Freideutsche Emigranten und in das Nachkriegsdeutschland zurückkehrende Remigranten sorgten nach 1945 mit ihren Erfahrungen für eine verstärkte Auseinandersetzung der Freideutschen mit dem Nationalsozialismus, dem deutschen Antisemitismus und der Shoah. Eine einheitliche Reaktion der Freideutschen wie auch der bürgerlichen Jugendbewegung insgesamt blieb 1933 aus. Diese hatte ohnehin zu keinem Zeitpunkt eine programatisch einheitliche Sozialformation dargestellt, dafür waren die einzelnen Programme und politischen Orientierungen der ihr zugeordneten Gruppierungen zu jeder Zeit zu unterschiedlich, zumal diese oftmals noch erhebliche programmatisch-weltanschauliche Binnendifferenzierungen aufwiesen. In ihnen wie auch in den freideutsch geprägten Gemeinschaften bildete sich das gesamte Repertoire bürgerlicher Weltanschauungen um 1900 ab, in nicht geringem Maß auch geprägt von völkischen, nationalistischen und antisemitischen Denkfiguren, die sich als kulturelle Muster von der Wandervogelzeit bis in die Bündische Jugend nachverfolgen lassen.16 Schlussendlich sah sich das Erbe der bürgerlichen Jugendbewegung Anfang der 1930er Jahre nur noch von einigen wenigen Gemeinschaften repräsentiert. Es dominierten die tendenziell protofaschistischen Gemeinschaften der Bündischen Jugend, deren Mitglieder größtenteils einer ganz anderen Jugendgeneration entstammten.
15 Zu Ahlborns Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg Christian Volkholz: Der „neue“ Mensch als Aufgabe für das 20. Jahrhundert, in: Claus Bacher/Hartmut Schiller (Hrsg.), 100 Jahre Klappholttal auf Sylt. 1919 bis 2019. Natur und Bildung in der Akademie am Meer, Husum 2019, S. 204–206, hier S. 206. 16 Vgl. ebd.
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Nach 1945 erkannten die Freideutschen zwar die Gefahr, in „romantisches Sektierertum“ abzudriften, die Gefahr, von den gesellschaftlichen Veränderungen politisch isoliert zu werden, letztlich aber blieb für den Großteil der Freideutschen innerlich die alte Trennung zwischen „politischem Mensch“ auf der einen und „Politiker“ auf der anderen Seite bestehen.17 An ein systematisches Anknüpfen an Strukturen, Arbeits- und Funktionsweisen politischer Parteien oder Interessenverbände war weiterhin nicht zu denken, auch wenn sich viele Freideutsche zeitlebens in der Bildungs-, Sozial-, Kultur- und Schulpolitik engagierten und lokal an Projekten und politischen Entscheidungen Anteil nahmen. Ihre grundsätzlich abendländische humanistisch geprägte Orientierung sowie ihr ausgeprägtes kultur- und sozialreformerisches Veränderungsdenken ließen die Freideutschen in der Praxis stark in die Richtung einer universellen Verbindung von Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus und abendländischem Humanismus denken. Die mit Abstand größten Schnittpunkte hatten der nach 1918/1919 zahlenmäßig größte politische Flügel der Freideutschen, der demokratisch-sozialistische, primär humanistisch-menschheitlich orientierte Flügel – der sozialistische Flügel sowieso – dabei mit den Ideen des Demokratischen Sozialismus bzw. des Religiösen Sozialismus. Argumentativ anschließen ließ sich hier vor allen Dingen an die Grundidee der sozialen Verantwortung für das Gemeinwohl sowie an die Soziale Frage allgemein, leitend war der Geist abendländischer Humanität.18 Bezüge darauf finden sich in der Meißner-Formel von 1913 und im Jenaer Bekenntnis der Freideutschen Jugend von 1919. Die abendländische Gesinnung der Freideutschen, die in Deutschland vor dem Hintergrund des grundlegenden Kulturwandels mit dem Ende des Kaiserreichs allgemein eine Renaissance erlebte, bezog sich auf die europäischen Gemeinsamkeiten in Geist und Geschichte und verstand sich vor dem Hintergrund des Kulturbruchs des Ersten Weltkriegs als staatenübergreifende Alternative zu Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus. Inhaltliche Übereinstimmung zwischen Freideutschen und Religiösen Sozialisten – unabhängig vom theologischen Rahmen – gab es auch in Bezug auf die Idee der Autonomie des Individuums, in Bezug auf den hohen Stellenwert der Gemeinschaft, die Idee einer gerechten Gesellschaftsordnung und die Position 17 Entschließung zur Lage in den Freideutschen Kreisen Deutschlands, F.A. Fischer, Mitglied des Freid. Kreises Hamburg 1948 (AdJb N 14/136). 18 Zur deutschen Abendland-Idee vor und nach 1945 Vanessa Conze: Abendland, Mainz 2012; Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten …“. Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, Paderborn 2000, S. 374–384. Zum AbendlandTopos ferner Oskar Köhler: Abendland, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Bd. 1, Freiburg i. Br. 1985, Sp. 1–6, sowie Ders.: Abendland, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1, Berlin 1977, S. 17–42.
294 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert der gegenseitigen Verantwortung sowie der Gemeinschaftsverpflichtung von Industrie und Wirtschaft.19 Im Sinne ihres Wirkens und Denkens als Verantwortungsintelligenz spielte das Motiv der sozialen Verantwortung eine zentrale Rolle. Insbesondere der demokratisch-sozialistisch und humanistisch-menschheitlich orientierte Teil der Freideutschen bemühte sich nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg um Projekte, Angebote und Kulturtransfers, die der europäischen Völkerverständigung dienen sollten. Zwar strebte man im europäischen Kontext durchaus eine kulturelle Hegemonie Deutschlands im Sinne der Kulturstaatsidee an, allerdings auf Grundlage einer demokratischen Ordnung, eingebettet in eine internationale Friedens- und Völkerrechtsordnung. In den 1920er und 1930er Jahren standen der Ökonom und Sozialwissenschaftler Eduard Heimann sowie die Ökonomen und Soziologen Adolf Löwe und Alexander Rüstow – alle drei waren Freideutsche mit Verbindungen zu den akademischen Freischaren – vor der grundsätzlichen Frage, wie die neue Republik politisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell gestaltet werden sollte. Dabei ging es um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Sozialismus und Marxismus auf der einen Seite und Kapitalismus, Liberalismus und Christentum auf der anderen. Die drei Ökonomen waren Angehörige des 1919 unter anderem von Paul Tillich und Carl Mennicke gegründeten Kairos-Kreises20. Neben Tillich und Mennicke zählte Heimann zu den führenden Religiösen Sozialisten des Kreises. Rüstows Ziel war die Aufhebung der Gegensätze von Kapitalismus und Sozialismus in einer vom Menschen aus gedachten sozialen Wirtschaftsordnung und einer freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens. Die Annäherung erfolgte dabei nicht direkt über den Sozialismus, sondern über dessen Kernaspekte Sozialisierung, Gemeinwohl und Verantwortung. Als Bezeichnung für eine erneuerte, religiös beziehungsweise humanistisch begründete liberale und gleichermaßen soziale Ordnung entwickelte Rüstow in den 1930er Jahren schließlich den Begriff des „Neoliberalismus“ (auch als Ordoliberalismus bezeichnet), an dem sich seit 1949 das gesellschafts- und wirtschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft21 orientierte. Der Dritte Weg war für Freideutsche wie Heimann, Löwe und 19 Zu den Motiven des Religiösen Sozialismus in Deutschland August Rathmann/Georg Beyer (Hrsg.): Sozialismus aus dem Glauben. Verhandlungen der sozialistischen Tagung in Heppenheim a.B. Pfingstwoche 1928, Zürich/Leipzig 1929; Martin Buber: Drei Sätze eines religiösen Sozialismus [1928], in: Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung [1955], Heidelberg 1985, S. 283–286. 20 S. o. S. 243. Ferner Tillich, Kairos; Christophersen, Kairos. 21 Neben Walter Eucken, Franz Böhm und Wilhelm Röpke zählt Alexander Rüstow zu den Begründern der Sozialen Marktwirtschaft. Zum deren Konzept Uwe Andersen: Soziale Marktwirtschaft/Wirtschaftspolitik, in: Ders./Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2003, S. 529–538, sowie Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004.
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Rüstow augenscheinlich der Religiöse Sozialismus, ein Amalgam aus der Idee christlicher Nächstenliebe (Bergpredigt) und Sozialdemokratie. Nach 1918 und mehr noch nach 1945 war die abendländische Prägung der Freideutschen gut an ihrer Idee einer Wiedereingliederung Deutschlands in die abendländische Gemeinschaft der gesitteten Völker Europas erkennbar. Diese bildete für viele Freideutsche nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die geistige Grundlage für die Idee der kulturellen Westintegration.22 Im weiten Feld kommunitarischer Strömungen und Bestrebungen im 20. Jahrhundert markieren die Freideutschen einen Sonderfall, weil ihr Denken und ihre Praxis auf die Idee einer politisch-sozial geeinten Gesellschaft im Rahmen einer friedlichen Völkergemeinschaft bezogen war, die insbesondere durch eine Demokratisierung von Bildung und Bildungschancen entwickelt werden sollte. Maßgeblich für die gesellschaftlichen Neuordnungspläne der Freideutschen war Menschenbildung im umfassenden Sinn.
22 Anselm Doering-Manteuffel: Westernisierung. Politisch-gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311–341; Ders., Wie westlich sind die Deutschen?.
2 Die freideutschen Kreise nach dem Zweiten Weltkrieg: von der Verantwortungs- zur Erinnerungsgemeinschaft Die ausgeprägte Bereitschaft der Freideutschen zur gesellschaftlichen Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme insbesondere im Bereich der Kultur-, Bildungs- und Sozialpolitik sowie Sozialarbeit kam auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder zum Tragen, als sie sich in zahlreichen lokalen und regionalen Kreisen reorganisierten. Auch nach dem 30. Januar 1933 aufgelöste studentische Verbindungen wie die Akademische Freischar Göttingen wurden anknüpfend an Programm und Praxis der Freischaren der Vorkriegsjugendbewegung neu gegründet (Januar 1946).23 Viele Freideutsche erblickten nach 1945/49 die Chance, an die kulturstaatlichen Ideale der Weimarer Republik anzuknüpfen und ihre breit gefächerten kultur-, bildungs-, schul- und friedenspolitischen Ideen in die Neuordnung des Staates einzubringen. Was dabei von den Freideutschen nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik und nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend in allen vier Besatzungszonen und fortgesetzt auch in der frühen Bundesrepublik von den Freideutschen reaktiviert wurde, war ein spezifisch deutsches Deutungsmuster von Bildung und Kultur, das eng mit der traditionellen Selbstinterpretation der bildungsbürgerlichen Eliten verknüpft war – einer gesellschaftlichen Schicht, die es aus europäischer Sicht in dieser Form nur in Deutschland gegeben hatte.24 Die Zäsur des Zweiten Weltkriegs und die notwendig gewordene Neuordnung Deutschlands nahmen sie primär als sich bietende Entwicklungschance wahr, die seit der Jahrhundertwende in vielerlei Hinsicht unter Druck geratenen gesellschaftlich-kulturellen, politischen und auch ökonomischen Rahmenbedingungen der deutschen Gesellschaft zu verändern. Orientiert an der freideutschen Idee gedachten sie, eine gänzliche neue kulturellsoziale Ordnung mit auf den Weg zu bringen. Nach 1918/19 bezog sich dies auf die bereits vor dem Ersten Weltkrieg politisch, sozial wie kulturell gespaltene sowie in vielerlei Hinsicht rückständig erscheinende wilhelminische Gesellschaft, deren Strukturen und Mentalität aus Sicht der Freideutschen mitverantwortlich für den Beginn des Ersten Weltkriegs und das Ende des Kaiserreichs waren; nach dem Zweiten Weltkrieg ging es um den Kultur- und Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, den nationalsozialistischen Völkermord und die generelle Enthumanisierung Deutschlands. Prägend für die soziale und kulturelle Praxis der Freideutschen nach 1945 war die Erfahrung zweier Weltkriege, das erlebte Gewalt- und Bedrohungspotential, den 23 Gründungsantrag der Neuen Akademischen Freischar (AdJb A 219/1), sowie Freischarbriefe. Mitteilungen der „Akademischen Freischar Göttingen“, Juni 1947 (AdJb A 219/5). 24 Vgl. Dietrich, Rolle und Entwicklung der Kultur, S. 1004–1005. https://doi.org/10.1515/9783110783667-024
2 Die freideutschen Kreise nach dem Zweiten Weltkrieg
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ideologisch-ökonomischen Systemkonflikt zwischen Ost und West sowie die deutsche Wiederbewaffnungsdebatte zu Beginn der 1950er Jahre, was bei einem Großteil der Freideutschen die friedenspolitischen Reflexe und Narrative aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wachrief. Nicht zuletzt die Verbrechen des Nationalsozialismus verwiesen für viele Freideutsche auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Reformierung der Gesellschaft und die Dringlichkeit eines neuen geistigen und erzieherischen Ethos. Begleitet wurde dieses Bestreben von individuellen Entlastungsbemühungen, die es nach Kriegsende 1945 im Zuge der alliierten Denazifizierungspolitik und der Kollektivschulddebatte analog zur deutschen Gesamtbevölkerung auch unter den Freideutschen gab,25 von denen nicht wenige als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gedient hatten. Nach 1945/49 konnten die Freideutschen zwar innerhalb ihrer Kreise an jene Ideen und Geselligkeits- und Aktionsformen anknüpfen, die sie als Generationseinheit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt hatten, dies geschah jedoch vor dem Hintergrund gänzlich anderer staatlicher, sozialökonomischer und kultureller Voraussetzungen. Im Unterschied zur Weimarer Republik strebte die Bundesrepublik nicht mehr das Ideal vom Weimarer Kulturstaat an, über das sich viele Freideutsche nach 1918/19 mit der politischen und kulturellen Ordnung der Weimarer Republik identifiziert hatten, sondern verfolgte mit dem eingeschlagenen Westkurs ganz andere politisch-ökonomische Interessen und Handlungsprinzipien. Mit der forcierten Annäherung an die politische, ökonomische und kulturelle Ordnung des Westens, durch Schritte wie die Wiederaufrüstung und die Einbindung in das westliche Verteidigungsbündnis auf der einen, und die Adaption westlicher Lebensstile und -standards sowie den Import westlicher Konsumkultur und -güter nach vor allem amerikanischem Vorbild auf der anderen Seite, ging nicht nur eine völlig veränderte staatliche Ordnung, sondern auch ein fundamentaler politisch-gesellschaftlicher Wandel sowie ein völlig verändertes Kulturprofil einher. Durch den Ideen- und Wertetransfer vor allem aus den Vereinigten Staaten in die Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands – die „Westernisierung“26 der Bundesrepublik – und die gleichzeitige Entwicklung der Wohlstands- und Konsumgesellschaft hatten es die Freideutschen in der Bundesrepublik mit einer völlig veränderten und grundlegend anderen Staatlichkeit zu tun, als ihnen histo25 Zu Entlastungsstrategien in der bürgerlichen Jugendbewegung nach 1945 Jürgen Reulecke: Eine unbegreifliche Last? Vom Umgehen mit Scheitern, Schuld und Versagen am Beispiel der jugendbewegten „Jahrhundertgeneration“, in: Stefan Zahlmann (Hrsg.), Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005, S. 165–178. Zum Komplex von bürgerlicher Jugendbewegung und Nationalsozialismus s. Puschner, Völkische Bewegung und Jugendbewegung. Grundlegend sind die Beiträge in Franz/Wolf/Ziemer, Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung, Bd. 12, Schwalbach/Ts. 1980. 26 Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?; Ders., Westernisierung.
298 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert risch vertraut war. Basis des neuen Staates war die Parteiendemokratie bzw. parlamentarische Demokratie und das gesellschafts- und wirtschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Mit dem Grundgesetz war außerdem die bürgerliche Gesellschaft im Sinne einer modernen zivilgesellschaftlichen Bürgergesellschaft auf den Weg gebracht worden.27 Zwar veränderten sich die Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation spätestens mit der gesellschaftlichen Öffnung in den 1960er Jahren in Richtung der von den Freideutschen bereits in der Kaiserzeit entwickelten Subjektivierungs-, Individualisierungs- und Gemeinschaftspraktiken, etwa durch eine wachsende unmittelbare Bürgerbeteiligung sowie ein gesteigertes bürgerschaftliches und zivilgesellschaftliches Engagement, wie es durch die Studentenbewegung der 60er Jahre und dann Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre durch die Neuen Sozialen Bewegungen breiteren Eingang in die Gesellschaft erhielt. Gleichzeitig hatten Kreise wie die der Freideutschen kaum Einfluss auf das politische und soziale Geschehen. Dies lag vor allem daran, dass die Bedeutung überwiegend informell gehaltener Selbstverständigungsgemeinschaften, deren sozialkultureller und ideeller Zusammenhang wesenhaft mit dem Modernisierungsgeschehen, den Staatsvorstellungen bzw. Gesellschaftsutopien und dem politisch-kulturellen Ideenspektrum des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts verbunden war, aufgrund der anders gearteten Funktionsweise und Ordnung des Staates strukturell bedingt abnahm. Kulturelle Eliten und Bildungseliten wie die Freideutschen, die in der Vergangenheit vorwiegend kulturpolitisch in Erscheinung getreten waren, waren weniger stark in den gesellschaftlichen Diskurs eingebunden und verfügten über kein machtpolitisches Potential. Es fehlte die politische Aktions- und Einflussbasis sowie an entsprechend an den politischen Apparat angepassten Organisations- und Kommunikationsstrukturen. Hinzu kam, dass ihre kulturellen, sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen nicht mehr ohne Weiteres mit der neuen Staatlichkeit der Bundesrepublik kompatibel waren, zumal die deutsche Staatsräson zwischen westlicher Bündnispartnerschaft, Sicherheit28 und Stabilität changierte, die Frage der Staatlichkeit für die Freideutschen also nicht abschließend zu klären war. Zwar gehörte ein Großteil der Freideutschen – was Bildungsgrad sowie gesellschaftliche und berufliche Stellung anbetraf – status- und einflussbedingt zu den neuen bundesrepublikanischen Eliten, jedoch funktionierte die Bundesrepublik primär nach partei- und verbandspolitischen Prinzipien. Parteien, politik- und wirtschaftsnahe Verbände, Expertenkommissionen, Lobbygruppen, Unternehmereliten, parteinahe Medien und insbesondere auch die Kirchen 27 Manfred Hettling/Bernd Ulrich: Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005. 28 Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.
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bestimmten und lenkten die staatliche Politik. Nicht kulturelle Eliten, sondern regierungsnahe politische und kirchliche Vertretergruppen, parteinahe Stiftungen, Wirtschaftsgremien, Industrievertretungen, Organisierte Netzwerke und Lobbyisten gaben den Ton an und nahmen politischen Einfluss. Auch die veränderte Rolle der Gewerkschaften, das wachsende politische Gewicht der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sowie die integrative Sozialpolitik der Bundesrepublik und die allgemeine Zunahme an unmittelbarer Bürgerbeteiligung ließ das gesellschaftliche Einflusspotential der Freideutschen schwinden.29 Einfluss hatten etwa Formate wie die westdeutschen Richterkonferenzen, der 1949 gegründete Bundesverband der Deutschen Industrie, politische Kreise wie die „Kanalarbeiter“ der SPD-Bundestagsfraktion bzw. der spätere Seeheimer Kreis sowie die Konrad-Adenauer-Stiftung, wirtschafts- und kirchennahe Kreise wie der Ettlinger Kreis oder auch die katholischen und evangelischen Akademien. Die Funktion von Gesinnungs- und Verantwortungsgemeinschaften übernahmen nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere die evangelischen Akademien, in denen sich ein erhebliches politisch-kritisches Potential ansammelte und verstetigte. Wer abseits davon kulturellen und sozialen Einfluss ausüben und gehört werden wollte, hatte, etwa wie die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland mit der 1950 gegründeten Kulturzeitschrift Radius, die Verfasser der Göttinger Erklärung von 1957 oder auch des Tübinger Memorandums von 1961 eigene Zeitschriften und Publikationsorgane oder auch parteinahe Zeitungen herauszugeben und zu finanzieren. Die lokal, regional und bundesweit organisierten freideutschen Gesinnungsund Freundeskreise hatten gegenüber diesen neuen Formen der politischen Interessenvertretung den Nachteil, nicht über eine gemeinsame politische oder wirtschaftliche Agenda miteinander verbunden zu sein und über keine politische Einflussbasis zu verfügen. Ihre Präferenz für kleinere Freundes- und Arbeitskreise und geringe Organisationsgrade verhinderten ein systematisches machtund parteipolitisches Vorgehen. Die Freideutschen verblieben primär in ihren eigenen Strukturen und behielten die bewährten Selbstverständigungs- und Beteiligungsformate wie Arbeits- und Ortskreise, Rundbriefe oder jährliche Konventstreffen bei, in denen sie die sozialen, kulturellen, pädagogischen sowie außen- und friedenspolitischen Fragen der Zeit diskutierten – etwa die deutsche Wiederbewaffnung, die deutsche Teilung oder die atomare Aufrüstung. Nach Außen traten sie in der Regel nur dann, wenn es galt, in der Öffentlichkeit das historische Erbe der bürgerlichen Jugendbewegung darzustellen bzw. wenn es – analog zu den gesellschaftlichen Debatten der 1960er/70er Jahre – um deren 29 Anselm Doering-Manteuffel: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963, Darmstadt 1983; Kurt Sontheimer: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 1971.
300 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert geschichtspolitische Verteidigung im Zusammenhang mit der NS-Zeit ging. Aktiv wurden sie auch, wenn es sich um konkrete Fragen des Natur- und Landschaftsschutzes im Gebiet des Hohen Meißners sowie um die öffentlich begangenen Erinnerungstreffen in der Nachfolge des Freideutschen Jugendtags von 1913 auf dem Meißner handelte. An die schon zu Beginn des Jahrhunderts von den Freideutschen aufgegriffene Idee des Natur- und Landschaftsschutzes ließ sich in den 1950er/60er Jahren nahtlos anknüpfen, zumal im Hinblick auf die sich formierende westdeutsche Umweltschutzbewegung der 1970er Jahre. Von solchen erinnerungspolitischen Aktivitäten oder auch der für sich genommen sicherlich erfolgreichen freideutschen Bildungseinrichtung Klappholttal auf Sylt abgesehen, fehlte es den Freideutschen in der Bundesrepublik an einer gemeinsamen Interessenvertretung sowie an entsprechenden Organisationsstrukturen und damit letztlich auch an gesellschaftlicher Bedeutung. Die Freideutschen hatten ihrer sozialkulturellen und mentalen Prägung nach keine Ambitionen, ein gleichlautendes macht-, schon gar kein parteipolitisches Interesse zu formulieren, das sie über das jugendbewegt-freideutsche Sozialmilieu hinaus eine größere Öffentlichkeit hätte erreichen lassen und über den Status elitärer und primär ideell verbundener Freundes- und Gesinnungskreise hinaus politisch wahrnehmbar gemacht hätte. Welches Interesse hätte dies bei einer so heterogenen, kulturidealistisch bis kulturpolitisch orientierten Gruppierung wie den Freideutschen unter den partei- und machtpolitischen Bedingungen der Bundesrepublik auch sein sollen? Die Kernforderungen der Freideutschen – Freiheit und Verantwortung30 – wurden mit der Gründung der Bundesrepublik und dem Inkrafttreten ihrer freiheitlich demokratischen Verfassung, dem Grundgesetz, nicht nur formaljuristisch verankert, sondern auch zivilgesellschaftlich auf den Weg gebracht. Das Grundproblem der Freideutschen nach 1945 war weniger identitärer, als vielmehr struktureller Natur: Welches politische oder gesellschaftliche Thema konnte mit genuin freideutschen Ideen noch angegangen oder gar gelöst werden? „Bonn ist nicht Weimar“31 ist vor diesem Hintergrund die treffende Formulierung für eine neue politische Kultur, die andere Wege als in Weimar ging, unter anderem statt in den deutschen Kulturstaat nach Europa.32 Dagegen waren die Freideutschen primär abendländisch und nicht westlich gestimmt.33 Eingeübte 30 Führungskreis des Freideutschen Konvents, Freiheit und Verantwortung. 31 Fritz Rene´ Allemann: Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. 32 Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005. 33 Als prominenter Ausdruck der abendländischen Prägung der Freideutschen exemplarisch Wilhelm Flitner: Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, München 1967; Ders.: Die abendländischen Vorbilder und das Ziel der Erziehung, Godesberg 1947. Dazu auch Herrmann, Wilhelm Flitner. 1889–1990, S. 132–137.
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Denk- und Handlungsmuster der Freideutschen griffen unter den neuen politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen der Bundesrepublik und den medialen Mechanismen der Öffentlichkeit nicht mehr oder liefen – wie etwa die Kulturstaats- oder Volksgemeinschaftsidee – angesichts der veränderten politischgesellschaftlichen Ordnung und politisch-medialen Kultur ins Leere. Zu sehr unterschieden sich Entstehungsrahmen und Anlage ihrer sozialkulturellen Praxis von den staatlichen Voraussetzungen der Bundesrepublik und deren zivilgesellschaftlichen Handlungsstrukturen und institutionalisierter Öffentlichkeit. Der handlungs- und ideenpolitische Boden wurde den Freideutschen in dieser Hinsicht nach 1945 strukturell weit vor der eigentlichen Auflösung der freideutschen Kreise in den 1960er und 1970er Jahren entzogen. Strukturell gesehen, lösten sich die Kreise nicht erst mit dem Tod der primär zwischen 1880 und 1895 geborenen Freideutschen auf, sondern sie verloren seit Gründung der Bundesrepublik – proportional zur Etablierung der neuen politisch-ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in der Bundesrepublik – nach und nach ihre soziale Grundlage. Nicht anders als den Freideutschen erging es im Übrigen auch den als Verständigungsgemeinschaften gegründeten Evangelischen und Katholischen Akademien, die mit Ausnahme des Politischen Clubs in der Evangelischen Akademie Tutzing alsbald wieder verstummten. Dies hing nicht zuletzt auch mit der neuen Medienkultur der Bundesrepublik zusammen, die der kritischen Berichterstattung sowie politischen und gesellschaftlichen Debatten vor allem mit dem Fernsehen ein neues Forum gab. Im Kern lebensreformerische Ideen wie Konsumverzicht, Abstinenz oder ein naturnahes Leben passten weder in den Zeitgeist, noch zu den neu installierten Fetischen der westdeutschen Wohlstands- und Konsumgesellschaft der 1950er und frühen 1960er Jahre, deren sozialökonomische Strukturen und Kulturleben sich immer mehr westlichen Ordnungs- und Lebensmodellen anglichen. Der Nachkriegs-Boom der Bundesrepublik war geprägt von Konsum, Kapitalismus und westlich-atlantischer Kulturindustrie.34 Solche Prägungen und bis in die 1970er Jahre reichende Fortschrittsutopien wie unbegrenztes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und ein stetig steigendes Lohnniveau trafen auf den lebensreformerischen Purismus und den sozialistisch gestimmten Antikapitalismus der Freideutschen, von denen nicht wenige dem Religiösen Sozialismus
34 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2015; Anselm DoeringManteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt/M. 2009; Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998.
302 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert zustrebten. Zudem setzte die Charta der Vereinten Nationen von 1945 sowie die mit dem Grundgesetz von 1949 installierte freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik wesentliche Teile der humanistischen Hoffnungen der Freideutschen – individuelle Entwicklungsfreiheit, Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder auch die soziale Verantwortung des Staates – in Recht um und wurden gesellschaftlich zumindest in juristischer Hinsicht verankert. Die mitunter zu beobachtende zumindest partielle mentale Desintegration der Freideutschen in die Bundesrepublik deutet nicht nur auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Strukturwandel seit 1949 hin, sondern auch auf eine gewachsene Diskrepanz zwischen ihrer sozialkulturellen Prägung und dem veränderten Kulturprofil der Bundesrepublik, das den wachsenden Bedeutungsverlust alter, kulturstaatlich denkender Eliten wie den Freideutschen strukturell beförderte und ihre mentale Integrationsfähigkeit an klare Grenzen führte. Folge dieser Desintegrationstendenzen waren nicht nur verstärkte Reorganisationsbestrebungen der Freideutschen, sondern auch eine verstärkte Nachinnenwendung und Selbstbezüglichkeit freideutscher Kreise. Nachdem sich unter den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik die Voraussetzungen der Freideutschen für ein Weiterwirken als kulturelle Elite sowie ein wirksames gesellschaftliches Handeln nach 1945 verschlechterten und das Ideal eines deutschen Kulturstaats in weite Ferne gerückt war, konnte sich der freideutsche Sonderglauben an die eigene kulturelle Prägekraft nur innerhalb der freideutschen Kreise aufrechterhalten. In ihnen kultivierte sich auch nach 1945 das Selbstverständnis, kulturelle Avantgarde zu sein, wie auch der Pädagoge Joachim H. Knoll in seinen Beobachtungen über das freideutsche Milieu nach 1945 festhielt: es scheint, als habe hier eine kulturbewußte, volkhafte Grundstimmung, auch eine gemeinschaftsselige Gestimmtheit den schlimmen Erschütterungen des Krieges widerstanden. In diesen Kreisen ist der Selbstzweifel eigentlich nie recht vorhanden gewesen; was sich über die Zeiten hin als „freideutsch“ definierte, hat scheinbar die Zeitläufe ohne Blessuren überdauert. Ich finde eine derartige Selbstsicherheit letztlich bestätigt in dem „Freideutschen Kreis“ nach 1945, der sich zum Erbe der Jugendbewegung stilisierte und sich um eine unbestimmte Mischung von Zukunftsgläubigkeit und Traditionsverhaftung versammelte. Ich erinnere mich an Tagungen dieses Kreises, die den Geist des Gestern vernehmen ließen und daraus meinten den Anspruch herleiten zu können, Wegweisungen für das Morgen ausgeben zu können.35
35 Joachim H. Knoll: Jugendbewegung. Phänomene, Eindrücke, Prägungen. Ein Essay, Opladen 1988, S. 79–80. Ferner Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps: Typisch deutsch. Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988.
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Auch die gesellschaftliche Öffnung der Bundesrepublik und das Aufkommen einer neuen Jugendkultur bzw. Jugendbewegung im Zuge der Studentenbewegung der 1960er Jahre konnten die alten Hoffnungen und Ziele der Freideutschen nicht oder nur bedingt erfüllen. Wie zur Zeit der Formierung der bürgerlichen Jugendbewegung um 1900 bildeten sich auch in den 60er Jahren unterschiedliche Wahrnehmungs-, Denk- und Begründungsmustermuster zwischen den älteren und jüngeren Generationen heraus, die, weil sie mit unterschiedlichen Erwartungshorizonten, Ideen, Lebensentwürfen und Optionen verknüpft waren, miteinander konkurrierten und sich polarisierten.36 Kaum verwunderlich, hatten die Freideutschen gänzlich andere Vorstellungen und Erfahrungen von Jugendkultur und Jugenderziehung, von Selbstbestimmung und Freiheit kultiviert als die 68er-Bewegung. Zwar teilten viele Freideutsche deren Vorbehalte gegen die primär auf Konsum, westlichen Kapitalismus und die amerikanische Kulturindustrie ausgerichtete bürgerliche Lebensordnung der Nachkriegszeit; mit dem antiautoritären Nonkonformismus der 68erJugendkultur, die sich hauptsächlich gegen die Enge der bürgerlichen Ordnung, den autoritären Charakter des Staates, seiner handelnden Institutionen und Personen sowie post-nationalsozialistische Strukturen und personelle Kontinuitäten in Verbindung mit einer als fragwürdig empfundenen Vergangenheitspolitik des Staates richtete, konnten die Freideutschen allerdings wenig oder gar nichts anfangen. Verständigungsprobleme zwischen der alten und jungen Generation Jugendbewegter hatten sich auch schon auf dem Meißnertag von 196337 abgezeichnet,38 nicht zuletzt deswegen, weil auch ihre Autorität in pädagogischen und kulturellen Fragen sowie ihre meist mindestens funktionell mit dem Nationalsozialismus verwobene Biografie von den 68ern in Frage gestellt wurde. Auch wenn die Freideutschen das Selbstbestimmungsrecht der Jugend auch nach 1945 respektierten und hochhielten, hatten sie nur wenig Verständnis für die unterschiedslos konfrontative Haltung und Aggressivität der 68er-Jugend gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration, zu der die Freideutschen auch gehörten, von der sie sich aber aufgrund ihrer nach wie vor für aktuell gehaltenen freideutschen Idee trotzdem unterschieden wissen wollten. Überdies kultivierten die Freideutschen ihrerzeit einen völlig anderen Begriff von Ordnung und Erziehung, war doch die Autoritätenbezogenheit der bürgerlichen Jugendbewegung, bei allen Emanzipationsbestrebungen, fester Bestandteil ihrer Jugendkul-
36 Vgl. Herrmann, Jugendpolitik und Jugendkulturen, S. 63. 37 Zum Meißnertreffen 1963 erschien Knud Ahlborn/Helmut Hertling (Hrsg.): Lebensfragen und Gestaltungswille. Arbeitsgemeinschaften des Meißnertag 1963, Selbstverlag Gilde Hoher Heißer 1963. 38 Dazu Jürgen Reulecke (Hrsg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag 1963 und seine Folgen, Göttingen 2014.
304 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert tur gewesen. Jugendkultur als oppositioneller Nonkonformismus war ihre Sache nicht, was sich auch an ihrer patriotischen Grundhaltung zum Kaiserreich ersehen ließ. In kulturgeschichtlicher Hinsicht kann der gesellschaftliche Umbruch der 1960er Jahre daher kaum folgenreich genug angesetzt werden. Die fundamentale sozialökonomische, politische und kulturelle Wandlung der westdeutschen Gesellschaft bildet innerhalb der Geschichte der BRD eine Epochengrenze hinter der die Freideutschen aufgrund ihrer mentalen und sozialkulturellen Prägungen zurückblieben. Die auffälligen Selbsthistorisierungsbemühungen der Freideutschen seit Ende der 1950er Jahre deuten nicht nur auf die Absicht hin, die Deutungshoheit über das Phänomen der bürgerlichen Jugendbewegung zu sichern und deren Geschichte in ihrem Sinne zu prägen; sie sind ferner auch ein Indiz für den Bedeutungsverlust, den die Freideutschen unter den zeitgeschichtlichen und politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik zu verzeichnen hatten. Die Selbsthistorisierung der Freideutschen sollte allerdings nicht über das zweifellos große zivilgesellschaftliche Potential und die Korrektivkraft einer solch langfristig gesellschaftlich aktiven kulturellen Elite hinwegtäuschen, bedenkt man, dass sich die Wirkungsphase der Freideutschen auf insgesamt mehr als siebzig Jahre erstreckt. Zwar gab es nach 1945 auch andere einflussreiche Kreise, mit zum Teil auch sehr differenzierten Interessenorientierung, solche, die wie die Freideutschen, nach innen als Verständigungsgemeinschaft funktionierten; allerdings hatten sie keine Selbstbildungsintentionen und agierten vor allem nach außen. Im Unterschied zu vergleichbaren Kreisen nach 1945 richtete sich die Aufmerksamkeit der Freideutschen primär nach innen, auf ihre eigene Entwicklung, aber auch auf die Entwicklung neuer kultureller, bildungspolitischer und sozialer Ziele. Das Besondere an den Freideutschen war ihre produktive Verbindung von Selbstbildung, sozialkritischem Habitus und sozialpraktischem Impetus, aus der sich das Selbstverständnis einer Verantwortungsgemeinschaft herleitete. Durchgängige Themenschwerpunkte waren bildungs-, sozial-, kultur-, friedens- und schulpolitische Fragen, Innen-, Außenund Sicherheitspolitik, Europa und Völkerverständigung sowie Natur-, Landschafts- und Umweltschutz. Viele Freideutsche engagierten sich nach 1945 aus ihrer jeweiligen beruflichen Position oder aus ihren lokalen Freundes- und Arbeitskreisen heraus auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern für die Neuordnung Deutschlands und beteiligten sich aktiv an der Gestaltung von Gesellschaft und Kultur. Tätig wurden sie vor allem in der Bildungs-, Sozial-, Schul- und Kulturpolitik sowie der Sozialarbeit. Der 1946 gegründete Freideutsche Kreis Hamburg etwa befasste sich schwerpunktmäßig mit dem Thema „Deutschland zwischen Ost und West“ und brachte sich vor allem in bildungs- und schulpolitische Fra-
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gen ein, die die Hansestadt und das Bundesland Hamburg betrafen. Der Kreis nahm z.B. deutlichen Einfluss auf die Hamburger Schulreform von 1949.39 Nicht nur mit Blick auf den Nationalsozialismus, sondern auch mit Blick auf die sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen standen für die Mitglieder des Kreises Fragen wie „Was können wir tun?“ bzw. „Was sollen wir tun?“ im Vordergrund.40 Auf der Herbsttagung des Freideutsches Kreises 1949 auf Burg Ludwigstein, auf der man in gewohnter Manier in Arbeitsgruppen über das eigene Programm verständigte, war die Frage nach der Neubestimmung des Verhältnisses von politischer Wirklichkeit und Freideutschtum von zentraler Bedeutung. Wie schon vor 1933, aber wegen der fatalen Rolle des Staates und dem Versagen der Zivilgesellschaft nun umso mehr, setzte man auf das Leitbild von Freiheit und Verantwortung, auf die Ideen von Eigenverantwortung und Gemeinnützigkeit. Die Tagungsteilnehmer sahen es als notwendig an, die „universal gerichteten Kräfte“ der freideutschen Bewegung neuerlich zur „Aktivität“ kommen zu lassen und Formen zu finden, in denen sie als „sittlich verantwortliche Menschen“ auf die Politik einwirken konnten, wobei Einmütigkeit darin bestand, dass ihre „wesentliche Bindung“ außerhalb der Parteien liegen müsse.41 Im Sinne der abendländischen Prägung seiner Mitglieder betrachtete der Freideutsche Kreis vor allem Humanismus und Christentum als seine Grundlagen.42 Die von Gustav Wyneken und Knud Ahlborn 1947 gegründete Freideutsche Arbeitsgemeinschaft Göttingen setzte sich im Zuge der freideutschen Sammlungsbewegungen nach 1945 ihrerseits für eine Reorganisation aller Freideutschen ein und knüpfte dabei an die humanistisch-menschheitliche Linie der Freideutschen an. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg lauteten die Schlagworte auch nach dem Zweiten Weltkrieg: deutsche Nation, Volksgemeinschaft, Sozialismus, Demokratie, Volksbildung und Jugend.43 Ziel war eine humane Zukunftsgestaltung. Aufgabe der 1961 in Duisburg gegründeten gemeinnützigen Freideutschen Gesellschaft e.V. war es laut Satzung, die „Erwachsenenbildung und die politische Bildung der Staatsbürger mit dem Ziele einer verstärkten verantwortungs39 Dazu ausführlich Ann-Katrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland, Schwalbach/Ts. 2010, S. 229–237. 40 Hans Joachim Schoeps: An der Schwelle des Atomzeitalters. Eine Besinnung auf die Mächte der Zeit, in: Führungskreis des Freideutschen Konvents, Freiheit und Verantwortung, S. 7–19; Frank Glatzel: Die politische Wirklichkeit und die Freideutschen, in: Ebd., S. 21–28. 41 Glatzel, Die politische Wirklichkeit und die Freideutschen, S. 21–24. 42 Vgl. Schoeps, An der Schwelle des Atomzeitalters, S. 18. 43 Aufruf der Freideutschen Arbeitsgemeinschaft Göttingen „zur Gründung eines Bundes der Freideutschen“, Mai 1947 (AdJb N 35/1769).
306 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert bewußten Mitwirkung der Staatsbürger am öffentlichen Leben durch Tagungen, Fachkonferenzen, Vorträge, Studiengruppen und Veröffentlichungen“ zu fördern.44 Zu diesem Zweck wollte der Verein auch die Bestrebungen und Veranstaltungen der diversen Freideutschen Ortskreise unterstützen. Die mit Abstand größte freideutsche Vereinigung nach 1945 war der 1947 im Kloster Altenberg a.d. Lahn von etwa achtzig Personen gegründete überregionale Freideutsche Kreis, der sich aus den einzelnen freideutschen Landsgemeinden und Ortskreisen sowie aus „ihnen verbundenen körperschaftlichen Gruppen und aus Einzelpersonen“ zusammensetzte. Die Organe des Kreises waren der „Freideutsche Konvent“ sowie der „Arbeitsausschuss des Freideutschen Konvents“, dieser hatte einen Obmann und einen Ehrenrat, wobei der „Freideutsche Konvent“ als Vertreterversammlung und handelndes Organ des Freideutschen Kreises agierte und unter anderem aus Vertretern der Landsgemeinden und größeren Ortskreise bestand.45 Der Kreis, dem bald über zweitausend zunächst meist männliche Mitglieder sowie von ihnen geschaffene Freundeskreise angehörten, war kein Verein im juristischen Sinn, sondern „ein Zusammenschluss von politisch, pädagogisch und sozial besonders interessierten Männern und Frauen“, die vor 1933 den Freideutschen bzw. den Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung angehörten und es sich zur Aufgabe stellten, „aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens in Deutschland“ mitzuwirken.46 Der Kreis wollte zum einen Einfluss auf die Zukunftsgestaltung Deutschlands nehmen, zum andern beabsichtigten die Gründer eine deutschlandweite Reorganisation von (ehemaligen) Freideutschen und Jugendbewegten im Geiste der Meißner-Formel von 1913 einzuleiten. Zu den Gründungsmitgliedern des Kreises gehörten unter anderem der Ende 1946 aus dem schwedischen Exil zurückgekehrte Erlanger Historiker und Religionswissenschaftler Hans Joachim Schoeps, der evangelische Pädagoge und Theologe Friedrich Kreppel (1903–1992), der Unternehmer Alfred C. Toepfer – nach 1945 Pionier des Landschafts- und Naturschutzes – und der ehemalige Bündische Werner Kindt, der bei Gründung des Kreises als Referent in der Hamburger Kulturbehörde tätig war. Der Kreis setzte sich aus führenden Persönlichkeiten aller Berufe, politischer Richtungen und Konfessionen zusammen. Die größte Anzahl seiner Mitglieder sowie Assoziierten- und Freundeskreise entstammte 44 Satzung der Freideutschen Gesellschaft e.V., Bonn 18.6.1961 (AdJb N 31/379). 45 Ordnung des Freideutschen Kreises in der Fassung des Berliner Konvents 1957, 1957 (AdJb N 31/379). Der Text deckt sich mit der ursprünglichen Satzung/Ordnung des Freideutschen Kreises, die im Zuge der Konventstagung in Kloster Altenberg a.d. Lahn im März 1948 einstimmig angenommen wurde (Ordnung des Freideutschen Konvents, 29.3.1948, Altenberg bei Wetzlar (AdJb N 14/100). 46 Schreiben Werner Kindts im Namen des Freid. Kreises Hamburg, Hamburg, 18.1.1950 (AdJb N 14/136), S. 1.
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den geistigen Eliten der frühen Bundesrepublik, darunter angesehene Professoren (zumeist Geisteswissenschaftler) wie der Historiker Theodor Schieder, der Theologe Hermann Schafft, der Geologe Karl Rode oder der Erziehungswissenschaftler Theodor Wilhelm, höhere Ministerial- und Kommunalbeamte wie Rudolf Bre´e (Beamter in der Europäischen Gemeinschaft) und C. Rudolf Schwarz (Beamter im Bundeswirtschaftsministerium), Kulturpolitiker wie der Journalist Rüdiger Robert Beer (Beigeordneter des Deutschen Städtetags), Leitungspersonal in Bildungseinrichtungen, in praktischen und sozialen Berufen arbeitende Pädagogen usw.47 Im Rahmen seiner Sammlungsbestrebungen rief der Kreis stellvertretend für die gesamte „Freideutsche Bewegung“ alle „Kräfte im deutschen Volk“ auf, mit ihr zusammen „den Weg aus der geistigen und seelischen Not und aus der politischen und wirtschaftlichen Notlage heraus“ zu suchen und zu gehen. Beabsichtigt war eine „tiefgründige Erneuerung an Geist und Seele des einzelnen und des Volkes“ aus dem Geist der Jugend, eine „Vertiefung der deutschen Bildung, eine Beseelung des deutschen Kulturlebens“, eine „Wiedergeburt der religiösen und weltanschaulichen Haltung“, der „Neubau von Staat und Volk“ sowie eine „Reinigung des politischen und eine Neuordnung des wirtschaftlichen Denkens und Handelns“. Staat und Wirtschaft, Kapital und Technik sollten dienendes und nicht beherrschendes Element im Volk werden. Der Kreis bekannte sich „zur Gemeinschaft des Volkes und zur Gemeinschaft aller Völker in der Menschheit“, zur Demokratie als Regierungsform, zum Sozialismus als Gesellschaftsform, zum Humanismus als Bildungsrichtung. Außerdem bekannte man sich zur „Freiheit des Gedankens und des Wortes, des persönlichen Lebens“ sowie zur Freiheit der Wissenschaften und der Künste und der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Alle Freideutschen sollten sich zu „unbedingter Wahrhaftigkeit, klarem Freiheitswillen und geschärftem Verantwortungsbewusstsein“ bekennen und an einer „menschenwürdigen und gerechten Volks- und Menschheitsordnung“ mitwirken.48 Das Wiederanschließen an die freideutsche Idee nach 1945 war für den Kreis gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zu einem „freien Deutschtum“, das frei von „nationalen Vorurteilen und Phrasen“ und frei von „Verhetzung, Völkerhass und nationaler Überhebung“ sein sollte. Bewahren wollte man sich einen „freien Blick“ für die „echten Werte“ des deutschen Volkes und dessen „wahre Stellung und Aufgabe in der friedlichen Gemeinschaft der Völker“.49 Der Einfluss des Religiösen Sozialismus auf die Programmatik des Kreises war mehr als deutlich.
47 Vgl. Reulecke, Der Historiker als ,Ombudsmann‘?, S. 86–87. 48 Leitsatz der Freideutschen Bewegung, 1947 (AdJb N 35/1768). 49 Aufruf der Freideutschen Jugend, verfasst von Gustav Wyneken 1947 (AdJb N 35/1767), S. 1.
308 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert Im Unterschied zu den freideutschen Ortskreisen und Landsgemeinden, die sich selbstständig organisieren und regelmäßig treffen konnten, fand der Informations- und Meinungsaustausch des Freideutschen Kreises hauptsächlich in den Zeitschriften des Kreises – dem Freideutschen Rundbrief, den Freideutschen Blättern, dem Nachrichteblatt50 und dem Rundschreiben – statt. Daneben gab es seit dem Gründungskonvent 1947 jährliche Tagungen bzw. Mitgliederversammlungen, die, wie das gleichnamige Führungsgremium, als Freideutsche Konvente veranstaltet und in den 1950er Jahren institutionalisiert wurden. Die gesamtbzw. westdeutschen Treffen mit jährlich wechselnden Leit- und Sachthemen, die von 1947 bis 1995 von den lokalen und regionalen freideutschen Kreisen an wechselnden Orten organisiert und durchgeführt wurden, beinhalteten stets ein umfangreiches Bildungsprogramm, das vor allem aus Fachvorträgen bestand, den obligatorischen Treffen der Führungsgremien sowie dem für freideutsche Zusammenkünfte typischen musischem Begleitprogramm, das zum gemeinsamen Singen und Musizieren anregte. Seit Ende der 1940er Jahre trafen sich zahlreiche Angehörige des Kreises außerdem jährlich zu den kulturpolitisch und volkspädagogisch orientierten Rendsburger Tagungen. Von 1968 bis 1995 traf sich der Freideutsche Kreis, der sich erst im Jahr 2000 selbst auflöste, zusätzlich jedes Jahr zu den sogenannten „Herbstgesprächen“.51 Kennzeichnend für die Veranstaltungen des Freideutschen Kreises aber auch für die kulturelle Praxis der Freideutschen allgemein war, dass die parteipolitischen, konfessionellen und sonstigen gesellschaftspolitischen Präferenzen der Beteiligten keine oder nur inferiore Rolle spielten. Im Vordergrund standen die gemeinsame anregende Diskussion und Verständigung über aktuelle Zeitfragen und historische Problemlagen in Gesprächskreisen, Arbeits- und Vortragsgruppen sowie bei Ausflügen. Auf seinen Konventen befasste sich der Freideutsche Kreis in den ersten zwei Jahrzehnten vor allem mit politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Problemstellungen der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus, wobei Fragen der Bildung und Erziehung in den 1950er/1960er Jahren eine immer größere Rolle spielten. Reflektiert wurde immer wieder auch die eigene geschichtliche Rolle, gerade vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen. Jährliche Leitthemen, die sich zumeist im zeitgeschichtlichen Rahmen der Bundesrepublik und an drängenden Fragen der Zeit im Rahmen deutscher, europäischer und glo-
50 Das Nachrichtenblatt erschien seit 1950 als Zeitschrift der 1920 gegründeten und 1945 neu gegründeten „Vereinigung Jugendburg Ludwigstein“, die in den ’20er Jahren Erwerb und Wiederaufbau der Burg Ludwigstein bei Witzenhausen besorgte (seit 1922 Sitz des Archivs der deutschen Jugendbewegung). 1960 erfolgte die Umbenennung des Nachrichtenblatts in Ludwigsteiner Blätter. Vgl. dazu auch AdJb A 211. 51 Vgl. Thomm, Alte Jugendbewegung, neue Demokratie, S. 244.
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baler Entwicklungen bewegten, waren unter anderem: „Die geistige Überwindung des Nationalsozialismus“ (1947), „Die Freideutschen in der Situation der Zeit“ (1948), „Der Wandel der deutschen Sozialstruktur und unsere Aufgabe“ (1949), „Die Zukunft des deutschen Volkes, biologisch-soziologisch gesehen“ (1951), „Unterwegs zu neuen Leitbildern“ (1956), „Frieden in unserer Zeit“ (1957), „Ordnung und Freiheit“ (1960), „Dieser Staat – unsere Aufgabe“ (1962), „Generationen zwischen Gestern und Morgen“ (1963), „Lebensfragen deutscher Politik“ (1964), „Arbeitswelt und Bildung“ (1966), „Unser Bild von den östlichen Nachbarn“ (1967), „Deutschland – Frankreich – Europa“ (1968), „Die Welt von Morgen – Möglichkeiten und Gefährdungen“ (1970), „Die europäische Herausforderung (1971), „Die zwei Gesichter des technischen Fortschrittes“ (1972), „Verantwortung heute“ (1977), „Europa – Wunschbild oder Wirklichkeit (1979), „Dürfen wir so weiterleben?“ (1981), „Wir Menschen zwischen Wissen und Glauben“ (1982), „Die Einheit der Nation in einer veränderten Welt“ (1985), „Christlicher Glaube – moderne Wirklichkeit“ (1986), „Probleme zukünftiger Lebens- und Arbeitsbedingungen“ (1989), „Naturwissenschaften und Theologie im Dialog“ (1991), „Die Zerstörung unserer Umwelt – unser Schicksal oder eine Herausforderung?“ (1993), „Der Vereinigungsprozess als geschichtliche Aufgabe“ (1994).52 Die Liste der Hauptredner, die als Mitglieder oder eingeladene Gäste der Konvente aufgetreten sind, versammelt fast ausschließlich Angehörige der geistigen Eliten der Bundesrepublik. Darunter unter anderem namhafte Persönlichkeiten wie Hans-Joachim Schoeps, der Jurist, Soziologe und Wirtschaftshistoriker Hans Raupach, die Politikwissenschaftler Arnold Bergstraesser, Marin Greiffenhagen und Bernd Guggenberger, der Jurist und Bildungspolitiker Hellmut Becker, der Kunstpädagoge und Schriftsteller Gerhard Gollwitzer, der Staats- und Kirchenrechtler Ulrich Scheuner, die Historiker Helmuth Croon, Theodor Schieder, Günther Franz und Karl Dietrich Erdmann, der Pädagoge Theodor Wilhelm, der Altphilologe und Schriftsteller Walter Jens (selbst gerne Sommer- und Vortragsgast in Klappholttal auf Sylt), die Psychoanalytikerin Melitta Mitscherlich, der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, der Umweltwissenschaftler und Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker, die FDP-Politikerin Liselotte Funcke, der Physiologe und Weltraummediziner Karl Hecht, der Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup.53 Einige der Aufgezählten sowie auch Werner Conze, Walter Dirks, Hans Bohnenkamp, Eugen Gerstenmaier, Romano Guardini und Carlo Schmid gehörten denn auch Ende der 1950er Jahren zum Unterstützerkreis der von den Historikern Theodor Schieder und Günther Franz angeregten „Dokumentation der Jugend52 Eine Übersicht der freideutschen Konvente und Herbstgespräche sowie der Tagungsorte und Leitthemen findet sich in Seidel, Aufbruch und Erinnerung, S. 125–127. 53 Ebd.
310 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert bewegung“, dem erinnerungspolitischen Großprojekt des Freideutschen Kreises.54 Nicht zuletzt nutzten die Freideutschen ihren Einfluss in jugendbewegt geprägten Kreisen, um das Phänomen der bürgerlichen Jugendbewegung in ihrem Sinne zu historisieren. Zur Selbsthistorisierung der Freideutschen gehörten auch die Erinnerungstreffen von Alt-Freideutschen, Alt-Wandervögeln, AltBündischen sowie von in der Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung stehenden Jugendgemeinschaften auf dem Hohen Meißner in den Jahren 1946, 1953, 1963 und 1973.55 Auch die 1945 von Alt-Jugendbewegten und Freideutschen neu gegründete Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e.V., Rechtsnachfolgerin eines 1920 gegründeten Vereins, der sich Erwerb, Wiederaufbau und Ausbau der nahe des Hohen Meißners gelegenen Burg zu Aufgabe gemacht und dort das Archiv der Jugendbewegung begründet hatte,56 prägte die erinnerungspolitische Überlieferung der bürgerlichen Jugendbewegung, indem sie die Burg nach 1945 zur zentralen wie auratischen Begegnungs- und Erinnerungsstätte für Freideutsche und ehemalige Angehörige der bürgerlichen Jugendbewegung machte. Deutlich wird, dass ein großer Teil der Angehörigen des Freideutschen Kreises, die nicht selten in den Jahren 1933 bis 1945 bürgerliche Karrieren und Wohlstand aufgebaut hatten, nach 1945 in der BRD und in der DDR zu den politischen Führungseliten der 50er, 60er und 70er Jahre zählten. Dazu gehörten in Westdeutschland Freideutsche wie Helmut Lemke, Theodor Schieder, Alexander Rüstow, Alfred C. Toepfer oder auch der Diplomat Otto Abetz. In der DDR stachen vor allem die Karrieren des Schriftstellers und Kulturfunktionärs Alfred Kurella und des Historikers Karl Bittel heraus, die den linken Flügel der Freideutschen 1918/19 entscheidend geprägt hatten. Doch vor allem in der Bundesrepublik übten die Freideutschen als Teil der neuen bundesrepublikanischen Eliten bis in die 1970er Jahre gesellschaftlichen Einfluss aus, insbesondere im Kulturbereich, im Bildungs- und Erziehungswesen und im Naturund Landschaftsschutz, bei der Förderung von Bildungs- und Umweltschutzprojekten, von Jugendaustauschprogrammen, aber auch, wenn es um die Verhinderung lokaler Bauprojekte und anderer Eingriffe in die Umwelt ging. Der Mediziner und Volkshochschulleiter Knud Ahlborn erhielt anlässlich des 40. Jahrestages der VHS Klappholttal 1959 von Bundespräsident Theodor Heuss sogar das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement für den Natur- und Land-
54 Vgl. Rundschreiben von Werner Kindt zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, Juli 1956 (AdJb N 14/215), sowie: Aufruf zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, März 1959 (AdJb N 14/215). 55 Stambolis/Reulecke, 100 Jahre Hoher Meißner; Reulecke, 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. 56 Eckart Conze/Susanne Rappe-Weber (Hrsg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg, Göttingen 2015.
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schaftsschutz auf Sylt. Großes umweltpolitisches Engagement zeigten in den 50er und 60er Jahren auch die Gilde Hoher Meißner und die von 1960 bis 1969 aktive Schutzgemeinschaft Hoher Meißner.57 Beim Meißnertag 1963 in Bad Sooden-Allendorf (unweit des Hohen Meißner) befassten sich Freideutsche wie Knud Ahlborn und Alfred C. Toepfer in einer eigenen Gesprächs- und Arbeitsgruppe mit Fragen des Natur- und Landschaftsschutzes in Gesetz und Praxis.58 Die im Rahmen des Meißnertreffens 1963 tagenden Gesprächs- und Arbeitsgruppen zu pädagogischen Fragen (die Rahmenthemen waren „Erziehung in Elternhaus, Schule und Freizeit“ sowie „Jugendbildung in heutiger Zeit“), Fragen der politischen Ordnung (Rahmenthema „Deutschland, Europa und die Welt“), Fragen der sozialen Ordnung (Rahmenthema „Mensch und Gesellschaft), Fragen der Lebenshaltung (Rahmenthema „Lebensschutz und Lebensweise“)59 und eben Fragen des Natur- und Landschaftsschutzes dokumentieren nicht nur den Fortbestand freideutscher Gruppenpraxis (Selbstbildung/Denkkollektive), sondern zeugen auch vom nach wie vor großen sozialpraktischen Gestaltungswillen und Verantwortungsgefühl der Freideutschen für das Gemeinwohl, deren Verantwortungsintelligenz es gebot, sich bis ins hohe Alter mit den „brennenden und wichtigen Fragen der Gegenwart“60 auseinanderzusetzen. Trotz ihres vergleichsweise geringen machtpolitischen Einflusses in der von politischen Lobbygruppen, politiknahen Expertenkommissionen und Stiftungen sowie kirchlichen Interessengemeinschaften geprägten BRD nahmen die Freideutschen regen Anteil an den gesellschaftlichen Diskursen ihrer Zeit. Sie bezogen Position zu Themen wie Wiederbewaffnung, atomare Aufrüstung, Europa und Umweltschutz und suchten in Wirtschaft und Politik Unterstützer für ihre bildungs-, sozial- und umweltpolitischen Anliegen. Was die Sicherung des europäischen Friedens anging, folgten die Freideutschen in den 1950/60er Jahren dem christlichen Pazifismus des Theologen Helmut Gollwitzer und des Philosophen, Physikers und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker (Weizsäcker war Unterzeichner der Göttinger Erklärung gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr von 1957) nach. Man teilte deren Auffassung, dass die Politik das Schicksal der Menschen bestimme, und dass ein „menschenwürdiger Friede […] nicht ohne die hingebungsvolle Mitarbeit aller um echte Demokratie und Freiheit praktisch bemühten Mitbürger“ zustande kommen könne.61 Die freideut57 Umfangreiche Materialien zu den genannten Forschungsdesideraten finden sich u. a. im Archiv der deutschen Jugendbewegung. 58 Exemplarisch Alfred Toepfer: Naturschutz, Naturschutzparks und Landschaftspflege, in: Ahlborn/ Hertling, Lebensfragen und Gestaltungswille, S. 157–163. 59 Inhaltsverzeichnis in Ahlborn/Hertling, Lebensfragen und Gestaltungswille, S. 223–324. 60 Ebd. Einleitung (Knud Ahlborn). 61 Brief von Knud Ahlborn an Karl Vogt vom 27.1.1967 (N 2/165). Der Gedankenaustausch fand im Vorfeld der Planungen zum Meißnertreffen 1968 statt.
312 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert sche Idee verantwortlichen Handelns im Sinne des Gemeinwohls spiegelte sich eben nicht nur auf den Gebieten der Kultur-, Bildungs- und Sozialpolitik wider, sondern bezog sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges auch auf die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Das anhaltende kultur-, sozial- und friedenspolitische Engagement der Freideutschen unterschied sie in dieser Hinsicht fundamental von den Angehörigen der sogenannten „FlakhelferGeneration“, von der sich nach 1945 ein Großteil nur ums persönliche Zurechtund Weiterkommen kümmerte und die „skeptische Generation“62 formierte. Insgesamt zeigt sich: Unter den zeitgeschichtlichen Umständen nach 1945 blieb für die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als idealistische kulturelle, soziale und ethisch-moralische Verantwortungsgemeinschaft in Position gebrachten Freideutschen praktisch nur noch die Rolle einer Verständigungsund schließlich einer Erinnerungsgemeinschaft.63 Zwar war der Einfluss einzelner gesellschaftlich exponierter Freideutscher bzw. einzelner lokal agierender freideutscher Gruppen durchaus bemerkenswert, an die Ansprüche einer kulturellen Avantgarde ließ sich jedoch nach 1945 als Gesamtgemeinschaft nicht mehr anknüpfen. Dies nicht nur aufgrund der gänzlich anderen Staatlichkeit der BRD oder aus Altersgründen, sondern auch deswegen, weil die Angehörigen des bundesweiten Freideutschen Kreises, schon früh nach seiner Gründung selbst beschlossen hatten, auf die Gründung neuer Jugendbünde zu verzichten, womit der Selbstbestimmungsgrundsatz der Jugend und die eigene „Befristung und Vergänglichkeit“64, vielleicht auch die eigene historische Einmaligkeit bejaht wurde. Die historische Antrittssituation der Freideutschen war 1918/19, aus Altersgründen nicht mehr 1945. Die „45er“65, zu denen auch Freideutsche der zweiten Generation, meist mit Verbindungen zur Bündischen Jugend, zählten, gehörten der Alterskohorte der von 1905 bis 1915 Geborenen an. Dennoch: Ihr Idealismus und das gemeinschaftliche Bewusstsein ihres Freideutsch-Seins mobilisierten und stabilisierten die Freideutschen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten durch das Fest-
62 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957. 63 Dazu auch Jürgen Reulecke: „Auf werdet Menschen von unserm Jahrhundert!“ Anmerkungen zum Weg der jugendbewegten Jahrhundertgeneration. Ein Einleitungsessay, in: Seidel, Aufbruch und Erinnerung, S. 11–29, hier S. 26–28. 64 Rudolf Bre´e: „Ein Stück Gemeinsamkeit erhalten.“ Bemerkungen eines Zeitzeugen zum Ende der Jugendbewegung. Ein Nachwort, in Seidel: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert, Witzenhausen 1996, S. 117–124, hier S. 124. 65 Günter Gaus: Wer den Mund zu voll nimmt. Die 45er und die 68er verbindet nur Eins: Beide Generationen verbindet das Recht auf eigene Irrtümer, in: Süddeutsche Zeitung 17 vom 9.3.2001, S. 17.
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halten an ihrer besonderen sozialkulturellen Praxis insgesamt deutlich abnahmen und sich bestimmte Formen und Inhalte selbst überlebten, brachten sie sich dort, wo sich für sie gesellschaftliche Räume ergaben bzw. sie sich eigene Wirkungsräume geschaffen hatten, aktiv in die Gestaltung der Gesellschaft ein. Ihre Praxis setzten sie nicht nur innerhalb ihres Sozialmilieus fort, sondern diese schlug sich vielfältig auch in kulturellem, sozialem-, bildungs-, friedens- und schulpolitischem sowie zivilgesellschaftlichem Engagement nieder. Ihre Ideale und die daraus abgeleitete soziale Verantwortung für das Gemeinwohl standen weiterhin über allem. An die universellen Motive der freideutschen Idee konnte auch in der Bundesrepublik angeknüpft werden. Der Verdacht programmatischer Jugendlichkeit, dem sich die älter gewordenen Freideutschen schon 1918/19 und erst recht nach 1945 ausgesetzt sahen, läuft insofern ins Leere, als dass der mit den Freideutschen zeitlebens eng verknüpfte Jugendbegriff nie auf ein konkretes Lebensalter rekurrierte, sondern vielmehr eine Chiffre für eine neue Generation von Menschen war, für von diesen verkörperten neue Werte und (Erziehungs-)Ideale, denen aufgrund ihrer stets neuen gesellschaftlichen Aktualität zeitlose Gültigkeit zugesprochen wurde. Wie es ihre Selbstbezeichnung schon nahelegt, wollten die Freideutschen vor allem eines: Sie wollten frei sein, frei von der Enge, den Konventionen und der repressiven Erziehungsdoktrin des Kaiserreichs und generell frei von staatlicher und erzieherischer Bevormundung und Inpflichtnahme, frei von den Anforderungen von Industriegesellschaft und Kapitalismus, frei von kulturellen Vorurteilen und antiquiertem Denken, von religiösen und politischen Dogmen – kurzum: frei von allem, was einem aufgeklärten und selbstbestimmten Menschen sowie einem sozial gerechten, humanen und friedvollen Zusammenleben der Gesellschaft und der Völker im Wege stehen konnte. Dafür organisierte man sich in selbsterzieherisch angelegten Kreisen. Für ewig jung hielten die Freideutschen ihre Ideen, ihre weitreichenden Erziehungsziele und kulturell-gesellschaftlichen Leitvorstellungen, die über ihre weitergehenden Bildungs- und Erziehungsansätze und durch kontinuierliche Erziehungsarbeit vorangetriebene Umbildung der Gesellschaft – im geistigen wie im praktischen Sinn. Das langfristig angelegte Projekt des „zukünftigen Menschheitsbaus“66, für dessen Entwicklung sich die Freideutschen als kulturell-moralische Führungselite verantwortlich sahen, ihre verantwortungsethische und soziale Selbstverpflichtung, motivierte und legitimierte die kontinuierlichen Aktivitäten der Freideutschen und ließ sie ihre freiwillig eingegangene gesellschaftliche Verantwortung als lebenslange Aufgabe empfinden. Daraus erklärt sich das nahezu neun Jahrzehnte andauernde gesellschaftliche Engagement der
66 Ahlborn, Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, S. 35.
314 | Teil IV: Der historische Ort der Freideutschen im 20. Jahrhundert Freideutschen auf dem Gebiet der Jugend- und Erwachsenenbildung, in der Reformpädagogik und insbesondere den damit verbundenen Volkshochschulen und öffentlichen Bildungsstätten. Dieses hatte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit der Gründung des selbsterzieherisch angelegten Hamburger Wandervereins begonnen und endete als Selbstauflösung schließlich im Jahr 2000 mit dem Abschlusskonvent des Freideutschen Kreises in Wetzlar, auf dem etwa 250 zumeist hochbetagte Angehörige versammelt waren (die beiden ältesten waren 97 Jahre, viele der übrigen 90 bis 95 Jahre alt).67 Das Leitthema aus Schillers Don Karlos: „Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend Soll Achtung tragen“, wurde für die Freideutschen nach 1945 innere Verpflichtung und Programm zugleich. Im Bewusstsein der schon weit vorangeschrittenen historischen Stunde hieß es 1947 an alle Freideutschen ebenso andächtig wie entschlossen: Darum ändern wir den alten Namen [gemeint ist Freideutsch] nicht: [Wir] wollen damit bekunden, dass wir den Idealen unserer Jugend treu geblieben sind, und dass wir unserm Volk Jugend wünschen und Jugend zubringen wollen. Möge sich nun um die alte Garde der Jugendbewegung eine neue Jugend sammeln, zu entschiedener Tat, zur Vollendung des einst von uns Gewollten, möge eine neue Freideutsche Jugendbewegung erstehen.68
67 Vgl. Reulecke, Der Historiker als ,Ombudsmann‘?. 68 Aufruf der Freideutschen Jugend, verfasst von Gustav Wyneken 1947 (AdJb N 35/1767), S. 1.
Abkürzungen AV AWV BDAF BDW DAF DB DBaSt HWV JWV KPD NS NSV RVH SPD USPD [ ]
Akademische Vereinigung Akademischer Wanderverein Bund Deutscher Akademischer Freischaren Bund Deutscher Wanderer Deutsche Akademische Freischar Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen Deutscher Bund abstinenter Studenten Hamburger Wanderverein Jung-Wandervogel Kommunistische Partei Deutschlands Nationalsozialismus Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Reichsbund für Volkstum und Heimat Sozialdemokratische Partei Deutschlands Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Anmerkungen des Autors
https://doi.org/10.1515/9783110783667-025
Quellen und Literatur 1 Archivalische Quellen Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein/Werra (AdJb)
Nachlässe Ahlborn, Knud (N 2) Bittel, Karl (N 48) Hammer, Walter (N 10) Kindt, Werner (N 14) Saal, Adolf (N 123) Seidelmann, Karl (N 31) Gustav Wyneken (N 35)
Dokumente und Akten Dokumente Ahlborn, Knud: Vortrag, gehalten am 20. Februar 1908 am ersten Stiftungsfest der Freischar (A 101/18) Ahlborn, Knud/Goebel, Ferdinand: Werbeflyer der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom WS 1908/09 u. SS 1909 (A 101/2–8) Ahlborn, Knud: Freischarchronik. Die Entwicklung der Freischar in ihren ersten Semestern. Typoskript von 1911 (A 101/50) Ahlborn, Knud: „Mein Eintritt in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (U.S.P.)“, in: Politische Rundbriefe, 14. Rundbrief, 13.12.1918 (N 48/7) Ahlborn, Knud: Freideutsche Jugend und Menschheitsgedanke, 1920 (N 2/35) Ahlborn, Knud: Skizze zu einem Lebenslauf, 31.8.1962 (N 2/1) Ahlborn, Knud: Kurze Angaben über meinen Lebenslauf, 12.3.1963 (N 2/1) Allgemeine politische Grundlinien (Entwurf) des Freideutschen Bundes, 1922 (N 2/25) Allgemeine politische Richtlinien des Freideutschen Bundes, 1923 (N 2/25) Anschriftenverzeichnis freideutscher Freunde, 1929/21 (N 123/4) Anwesenheitsliste der Delegiertentagung auf dem Hanstein vom 10.10.1913 (N 2/16) Aufruf „An die Freideutsche Jugend“, Dezember 1918 (N 2/29) Aufruf der Freideutschen Arbeitsgemeinschaft Göttingen „zur Gründung eines Bundes der Freideutschen“, Mai 1947 (N 35/1769) Aufruf der Freideutschen Jugend, verfasst von Gustav Wyneken 1947 (N 35/1767) Aufruf von Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, Februar 1922 (N 2/26) Aufruf zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, März 1959 (N 14/215) Aufruf „Freideutsche Jugend: Bürgertum oder Sozialismus? Jeder Freideutsche wähle sozialdemokratisch!“, in: 20. Politischer Rundbrief, 1.1.1919 (N 48/7) Auszug aus dem Programm des Bundes Deutscher Akademischer Freischaren, 1908 (A 101/1–2) Bericht über die vorbreitende Besprechung einer Jahrhundertfeier aller lebensreformerischen Verbände, Jena 5. und 6. Juli 1913 (N 2/16) Brief von Erwin Ritter von Hattingberg an Otto Steckhan vom 13.1.1964 (N 35/1668) Brief von Knud Ahlborn an Friedrich Wilhelm Fulda, o. O., o. J. (N 2/57) Brief von Knud Ahlborn an Dorothea Pulvermacher vom 20.10.1919 (N 2/42) https://doi.org/10.1515/9783110783667-026
318 | Quellen und Literatur Brief von Knud Ahlborn an Hans Wolf vom 21.1.1966 (N 2/166) Brief von Knud Ahlborn an Hans Wolf vom 28.4.1964 (N 2/166) Brief von Knud Ahlborn an Helmuth Tormin, Sylt, 2.1.1947 (N 2/65) Brief von Knud Ahlborn an Karl Vogt vom 27.1.1967 (N 2/165) Brief von Knud Ahlborn an Werner Kindt vom 2.6.1967 (N 14/157) Brief von Knud Ahlborn an Wilhelm Friedrich Rumpf vom 26.3.1953 (N 2/63) Bundestagsbeschlüsse von dauernder Bedeutung 1908–1912 (A 101/8–13) Chronik Klappholttal August 1919 bis Dezember 1922, Abschrift Knud Ahlborns vom 16.7.1959 (N 2/68) „Das Schrifttum der Freideutschen Jugend“, 1919 (A 2/104–8) „Der Aufbau des Freideutschen Bundes“, 1922 (N 2/25) Der Freideutsche Bund und seine Verfassung (N 2/25) Deutsche Akademische Freischar Nachrichtenamt: Anschriften-Verzeichnis Dezember 1914 (A 101/3–4a) Die Hauptveranstaltungen des Nordseelagers Klappholttal seit 1921 (N 2/73) Endfassung der Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar (E.V.), S. 1–14 (A 101/1) Endgültige Fassung der Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar von 1911 (A 101/1–6) Entgültiger Entwurf der Stiftungsurkunde des Arbeitsamtes der Freideutschen Jugendbewegung, erarbeitet vom Verfassungsausschuss der Freideutschen Jugend im Rahmen der ersten „Freideutschen Woche“ auf dem Solling vom 27.9–4.10.1917, Hildburghausen 1917 (N 2/29) Entschließung zur Lage in den Freideutschen Kreisen Deutschlands, F.A. Fischer, Mitglied des Freid. Kreises Hamburg 1948 (N 14/136) Flugblatt „An die Jasagenden in der Freideutschen Jugend! Kundgebung anläßlich der Führerratstagung der Freideutschen Jugend.“, Jena, 17.4.1919 (N 2/29) Flugblatt des Bundes Deutscher Akademischer Freischaren vom April 1908 mit dem Titel: „Studentische Reform“ (A 101/2–7) Flugblätter der Deutschen Akademischen Freischar aus dem SS 1909 (A 101/2–2) Freischarbriefe. Mitteilungen der „Akademischen Freischar Göttingen“, Juni 1947 (A 219/5) Grundlegende Aufsätze und Mitarbeiter der ’Freideutschen Jugend (1914–1921)’ (N 2/40) Gründungsdokument der Freideutschen Jugend, 1914 (N 2/28) Gründungsantrag der Neuen Akademischen Freischar (A 219/1) Gründungserklärung und Satzung der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom 19.2.1907 (A 101/1–11) Gruppenaufnahme der Mitglieder der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen von 1907 (F 4/29) Hagen, Wilhelm: „Jugend – Staat – Erziehung“, April 1919 (N 2/29) Karl Bittel: „An eine freie deutsche Jugend“, in: 1. Politischer Rundbrief, 5.10.1918, S. 1 (N 48/7) Kawerau, Siegfried/Fränzel, Walter: „Leitsätze für den Aufbau unserer Erziehung aus der werdenden Volksgemeinschaft“, April 1919 (N 2/29) Korrespondenz zw. Dr. Schlichter u. Vorstand der DAF vom 28.1. u. 28.2.1919 (N 2/3) Korrespondenz zwischen Knud Ahlborn und Normann Körber, 1919–1920 (N 2/42) Kulturpolitische Richtlinien des Freideutschen Bundes, überschrieben mit: „Der Freideutsche Bund“, 1922 (N 2/25) Leitsatz der Freideutschen Bewegung, 1947 (N 35/1768) Leitsätze des Freideutschen Bundes zu den allgemeinen Arbeitsbedingungen (N 2/25) Mitarbeiterverzeichnis für das Februarheft der „Freideutschen Jugend“ (N 2/45) Mitgliederliste der im Freideutschen Bund assoziierten Gruppen, 1923 (N 2/27)
1 Archivalische Quellen |
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Mitglieder-Verzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar hgg. im Februar 1914 (A 101/3–3) Mitglieder-Verzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar Mai 1913 (A 101/3–2) Mitgliederverzeichnis der Deutschen Akademischen Freischar. Stand vom 16. Dezember 1911 (A 101/3–1) Mitteilung an die Freideutsche Jugend und ihre Freunde in Sachen Klappholttal, 1920 (N 2/29). Namensliste des engeren Kreises des Freideutschen Bundes (N 2/27) Notarielle Gründungsurkunde des Verlags „Junge Menschen“, Hamburg, 18.12.1919 (N 2/45) Ordnung des Freideutschen Konvents, 29.3.1948, Altenberg bei Wetzlar (N 14/100) Ordnung des Freideutschen Kreises in der Fassung des Berliner Konvents 1957, 1957 (N 31/379) Ortsregister zum Anschriftenverzeichnis von Mitgliedern der Freideutschen Kreise, 1920/21 (N 123/4) Programm und Satzungen der Freideutschen Jugend. Entwurf der vom Marburger Vertretertag eingesetzten Satzungskommission, 1914 (N 2/29) Protokoll des Abgeordnetentages der Deutschen Akademischen Freischar in München am 4. und 6. März 1911 (A 101/1–5) Protokoll des Bundestages in Hamburg vom 27.12.1908–2.1.1909 (A 101/8) Protokoll des Bundestages zu Hamburg vom 2.–4. April 1908 (A 101/8) Rundbrief von Frank Glatzel an u. a.K. Ahlborn, betreffend politische Aussprache der Freideutschen Jugend, Dezember 1919 (N 2/42) Rundschreiben an die der Freideutschen Jugend angeschlossenen Verbände, o. Datum (A 2/104–2) Rundschreiben an die Vorstände und Obmänner deutscher Jugendvereine, -verbände und -gemeinschaften, verfasst von Knud Ahlborn und Walter Hammer, Hamburg, Dezember 1919 (N 2/45 u. N 2/39) Rundschreiben der Freideutschen Jugend an die leitenden Stellen der angeschlossenen und befreundeten Verbände vom 16.2.1914 (A 2/104–2) Rundschreiben des Verwaltungsrates in Klappholttal, vertreten durch Knud Ahlborn und Ferdinand Goebel, mit dem Titel: „An die Syltfahrer des Jahres 1921“, 1921 (N 123/22) Rundschreiben von Werner Kindt zur „Dokumentation der Jugendbewegung“, Hamburg, Juli 1956 (N 14/215) Sachliche Richtigstellung Ferdinand Goebels zum Protokoll der Gründungsversammlung des Verwaltungsrats für das Jugendlager Klappholttal vom 13.7.1959 (N 2/68) Satzung der DAF vom 2.4.1909 (A 101/1–7) Satzung der Freideutschen Gesellschaft e.V., Bonn 18.6.1961 (N 31/379) Satzungen der Deutschen Akademischen Freischar in der vom Bundestag am 8. März 1911 genehmigten Form (A 101/1–8) Satzungen des Freideutschen Bundes e.V. (N 2 /25) Satzungen des Klappholttaler Bundes, 13.8.1928 (N 2/70) Schreiben Werner Kindts im Namen des Freid. Kreises Hamburg, Hamburg, 18.1.1950 (N 14/136) Studentisches Flugblatt der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen von 1907 (A 101/2–4), Studentisches Flugblatt der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen von 1907 (A 101/2–4) „Themen, die auch heute noch aktuell sind, aus der Zeitschrift Freideutsche Jugend. Jahrgänge 1915 bis 1921.“ (N 2/40) Verfassung der „Freideutschen Jugend“, 1914 (N 2/29) „Von der Zukunft der ,Freideutschen Jugend’“, 1919, o. V. (N 123/19) Vorläufige Vorschlagsliste für Aufruf-Unterzeichner, o. V., o. J., (N 14/215)
320 | Quellen und Literatur Vorläufiges Programm Freideutsche Woche Klappholttal 1922, Sylt 1922 (N 2/72) Weltanschauliches Bekenntnis des Freideutschen Bundes von 1922 mit zugehöriger Aufnahmeerklärung (N 2/25) Zusammenschluß der Jugend zu einem freideutschen Jugendtag!, Verfasser Eugen Diederichs, 1913 (N 2/15)
Akten A 2/101–76 A 2/104–1 A 101/2 A 101/11 A 211 N 2/1 N 35/1710 N 48/6 N 48/7 Z 100/2528
Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) Akten 69 ASR/1 69 ASR/2 233/27755 456 F/134 456 F/135
Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (SUB) Nachlässe Wilhelm Flitner (Sig. 18: NWEF)
Dokumente Flugblatt „Vorschlag zu einer Entschließung von Knud Ahlborn und Frank Glatzel.“, Jena 1919 (Sig. 18: NWEF) Hans Kremers: Freischarchronik, Manuskript vom 22.5.1914, abgeschrieben von Martha Hörmann, (Sig. 18: NWEF)
Universitätsarchiv Göttingen (UAG) Dokumente Schreiben des Vorstandes der Göttinger Freischar an den Rektor der Universität Göttingen vom 12.2.1907 (XG 2693/58) Artikel im Göttinger Tageblatt v. 22.2.1907 zur studentischen Versammlung vom 20.2.1907 (XG 2693/58) Mitgliederliste der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen vom 13.12.1912 (XG 2693/58) Aushang Allgemeine Grundsätze der Freischar o. J. (XG 2693/58) Flugblatt der Deutschen Akademischen Freischar Göttingen mit dem Titel: „Die Deutsche Akademische Freischar.“ Göttingen o. J. (XG 2693/58)
2 Zeitschriftenbeiträge/-ausgaben
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Universitätsarchiv Jena (UAJ) Dokumente Einladungsschreiben des Ausschusses zur Gründung einer Freistudentenschaft an die Professorenschaft zur Gründungsversammlung vom 13. Mai 1908 in Jena (Bestand C, Nr. 1086, Bl. 14–5) Flugblatt „Burschen heraus!“, Jena 13. Mai 1908 (Bestand C, Nr. 1086, Bl. 14–5)
2 Zeitschriftenbeiträge/-ausgaben Das Junge Deutschland. Überbündische Zeitschrift, hgg. vom Reichsausschuß der Deutschen Jugendverbände, ab 1907. Erhardt, Justus: Die Stellung der Jugendbewegung in der Sozialen Arbeit, in: Das Junge Deutschland 20 (1926), H. 7, S. 207–212. Erhardt, Justus: Zusammenschluß der sozial Tätigen aus der Jugendbewegung, in: Das Junge Deutschland 21 (1927), H. 3. Erhardt, Justus: Die Jugendbewegung in der sozialen Arbeit. In: Das Junge Deutschland 24 (1930), H. 2, S. 50–56. Bondy, Curt: Die Gilde „Soziale Arbeit“ und ihre Stellung zur Politik, in: Das Junge Deutschland 24 (1930), H. 1, S. 66–70. Flitner, Wilhelm: Die Jugend im Kampf um Deutschland, in: Das Junge Deutschland, 27 (1933), H. 1, S. 1–11. Der Anfang, hgg. von Georges Barbizon, Siegfried Bernfeld, 1913–1914. Barbizon, Georges: Bericht über den ersten Freideutschen Jugendtag, in: Der Anfang 1 (NF 1913), H. 7, S. 193–197. Der Deutsche Student. Blätter für ein modernes Studententum, hgg. vom Bund Deutscher Akademischer Freischaren, ab 1908. Ahlborn, Knud: Die Selbsterziehung auf der Universität, 1. Teil, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 2, S. 20–25. Ahlborn, Knud: Die Selbsterziehung auf der Universität, 2. Teil, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 3, S. 44–52. Goebel, Ferdinand: Zum Geleit, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 1, S. 2–3. Gurlitt, Ludwig: Patenrede, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 1, S. 3–5. Gurlitt, Ludwig: Zeitbild, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 3, S. 52–55. Gurlitt, Ludwig: Kommilitonen!, in: Der Deutsche Student 1 (1908), H. 4, S. 69–73. Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben, hgg. von Ferdinand Avenarius, 1887–1937. Avenarius, Ferdinand: Geselligkeit, in: Der Kunstwart 25 (1912), H. 1, S. 1–5. Der Wanderer. Monatsschrift für Jugendsinn und Wanderlust/Bundeszeitschrift des Bundes Deutscher Wanderer, hgg. vom Hamburger Wanderverein/Bund Deutscher Wanderer, ab 1906. Ahlborn, Knud: Ziele und Aufgaben des Hamburger Wander-Vereins, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 6, S. 2–4. Ahlborn, Knud: Durch die südliche Heide und das Wendland, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 7, S. 6–9. Ahlborn, Knud: Die gegenwärtigen akademischen Verbindungen und ihre Fortentwicklung, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 9, S. 2–6.
322 | Quellen und Literatur Ahlborn, Knud: Studentische Reform, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 54–57. Ahlborn, Knud: Das Wandern, in: Der Wanderer 1 (1907), H. 11, S. 2–4. Ahlborn, Knud: Die Treue, in: Der Wanderer 1 (1907), H. 11, S. 10–13. Ahlborn, Knud: Die Idee des Hamburger Wandervereins, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 1, S. 3–5. Ahlborn, Knud: Das Erziehungsproblem. Ein Aufruf zur Mitarbeit, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 9, S. 221. Ahlborn, Knud: Aus der Freischarbewegung, in: Der Wanderer 3 (1908), H. 5, S. 154–155. Ahlborn, Knud: Zur Freischarbewegung, in: Der Wanderer 3 (1908), H. 6, S. 193–196. Ahlborn, Knud: Die deutsche akademische Freischar, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 5./6., S. 156–158. Ahlborn, Knud: Politische Ausbildungskurse, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 9, S. 299. Braun, Otto: Vom deutschen Idealismus, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 10, S. 301–305. Christ, Theowart: Von der Schönheit und dem Leben, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 12, S. 362–367. Gieschen, Hans: Unsere Pflicht, in: Der Wanderer 9 (1914), H. 6, S. 122. Gieschen, Hans: Alkohol im Felde, in: Der Wanderer 9 (1915), H. 11/12, S. 177–182. Goebel, Ferdinand: Deszendenztheorie und Menschheit, in: Der Wanderer 1 (1906), H. 9, S. 17–20. Goebel, Ferdinand: Aufgaben und Ziele des Ausschusses zur Erforschung der Lüneburger Heide, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 1, S. 18–19. Goebel, Ferdinand: Die Entstehung der Lüneburger Heide, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 69–71. Goebel, Ferdinand: Charles Robert Darwin. Eine deszendenztheoretische Zeitbetrachtung, in: Der Wanderer 3 (1909), H. 11, S. 553–555. Goebel, Ferdinand: Praktische Ideale, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 1, S. 1–3. Goebel, Ferdinand: Soziale Briefe I., in: Der Wanderer 4 (1909), H. 2, S. 40–42. Goebel, Ferdinand: Soziale Briefe II., in: Der Wanderer 4 (1909), H. 3, S. 79–81. Goebel, Ferdinand: Bodenreform, in: Der Wanderer 5 (1910), H. 3, S. 71–74. Goebel, Ferdinand: Alkoholgegnerbewegung und Alkoholkapital, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 6, S. 150–156. Goebel, Ferdinand: Erziehungsfragen, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 2, S. 42–44. Hallermeyer, August: Grundlagen und Ziele der modernen Frauenbewegung, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 11, S. 360–362. Hallermeyer, August: Thomas Carlyle, in: Der Wanderer 5 (1910), H. 8, S. 241–244. Hallermeyer, August: Thomas Carlyle II., in: Der Wanderer 5 (1911), H. 10, S. 318–322. Keller, Amalie: Rabindranath Tagore, in: Der Wanderer 9 (1914), H. 1, S. 12–13. Loewenberg, Jakob: Was unsern Großstadtkindern fehlt (Naturanschauung und Kunst), in: Der Wanderer 2 (1907), H. 3, S. 58–68. Lubahn, Johannes: Grundzüge der Bodenreform, in: Der Wanderer 6 (1912), H. 12, S. 335–337. Maß, L.: Ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, in: Der Wanderer 6 (1911), H. 9, S. 237–239. Narten, Enno: Wie können wir Heimatschutz treiben?, in: Der Wanderer 8 (1913), H. 2/3, S. 40–41. Ploetz, Alfred: Über die Ziele der Internationalen Gesellschaft für Rassen-Hygiene, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 9, S. 274–278.
2 Zeitschriftenbeiträge/-ausgaben
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Ploetz, Alfred: Über die Ziele der Internationalen Gesellschaft für Rassen-Hygiene II., in: Der Wanderer 4 (1910), H. 10, S. 320–322. Radel, Frieda: Das Frauenleben und seine Entwicklung, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 8, S. 232–234. Radel, Frieda: Der Hamburger Frauenwanderbund, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 2, S. 37–39. Schallmayer, Wilhelm: Rassedienst, in: Der Wanderer 6 (1912), H. 10, S. 271–277. Schultze-Naumburg, Paul: Aufgaben des Heimatschutzes, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 5/6, S. 159–161. Schultze-Naumburg, Paul: Aufgaben des Heimatschutzes, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 7, S. 205–207. Serno, Walter: Bund Deutscher Wandervereine. Bericht, in: Der Wanderer 4 (1909), H. 4, S. 126–128. Serno, Walter: Die Kriegsspiele des Hamburger Wandervereins, in: Der Wanderer 2 (1907), H. 7, S. 163–166. Serno, Walter: o. T. (Umschau), in: Der Wanderer 2 (1907), H. 7, S. 166. Freideutsche Jugend. Eine Monatsschrift, hgg. Adolf Saal (1914/15), Knud Ahlborn (1915–20), Bruno Lemke (1921–22), 1914/15–1922. Ahlborn, Knud: Die Aufgaben unserer Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 1, S. 4–8. Ahlborn, Knud: Freideutsches Ferienlager auf Sylt, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 4, S. 149. Ahlborn, Knud: Angehörige aller Parteien, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 4, S. 148. Arbeitsamt der Freideutschen Jugend: Mitteilungen des Arbeitsamtes der Freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 8/9, S. 3. Brunzlow, Ottokar: Der soziale Ausgleich als Aufgabe der Freideutschen Jugend, in: Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 2, S. 40–44. Hesse, Hermann.: Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die Deutsche Jugend von einem Deutschen, in: Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 4, 147–153. Klatt, Fritz: Eine neue Zeitschrift, in: Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 12, Umschlagseite. Lemke, Bruno: Zum Geleit, in: Freideutsche Jugend 7 (1921), H. 1, S. 4–8. Schlünz, Friedrich: Zum Kampf um den Namen Freideutsche Jugend, in: Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 8, S. 275–276. Schriftleitung Freideutsche Jugend: [Editorial I], in: Freideutsche Jugend 1 (1914/15), H. 1, o. S. Schriftleitung Freideutsche Jugend: [Editorial II], in: Freideutsche Jugend 1 (1915), H. 2, o. S. Werckshagen, Carl: Chronik, in: Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 5/6, S. 179. Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 2. Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 7. Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 8/9. Freideutsche Jugend 2 (1916), H. 10/11. Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 1/2. Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 3. Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 4/5. Freideutsche Jugend 3 (1917), H. 8. Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 4. Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 8/9.
324 | Quellen und Literatur Freideutsche Jugend 5 (1919), H. 10. Freideutsche Jugend 6 (1920), H. 5/6. Freideutsche Jugend 8 (1922), H. 10/12. Führerzeitung für die deutschen Wandervogelführer, hgg. von Friedrich Wilhelm Fulda, ab 1913. Ahlborn, Knud: Zu Dankwart Gerlachs völkischem Bekenntnis, in: Führerzeitung für die deutschen Wandervogelführer (10/111918), 40. Kriegsheft, S. 162–164. Göttinger freistudentische/akademische Wochenschau. Organ für die Interessen des studentischen Lebens, hgg. vom Ausschuß der Göttinger Freien Studentenschaft, ab 1906. Felde, Johannes: Studentische Volksunterrichtskurse, in: Göttinger freistudentische Wochenschau 3 (1908), H. 35, S. 1–2. Fiefel, Ludolf: Die Lesehalle, in: Göttinger akademische Wochenschau 9 (1913/14), H. 4, S. 29–31. Junge Gemeinde. Von Wille, Weg und Werk der jungen Generation. Wochenblatt der wandernden Jugend, hgg. von Walter Hammer 1923–1926. Hammer, Walter: Programmatische Äußerung der Herausgeber, in: Junge Gemeinde 1 (1923), H. 1. Junge Menschen. Halbmonatsschrift für die Jugend Deutschlands, hgg. von Knud Ahlborn (1920–1921), Walter Hammer (1920–1927), 1920–1927. Ahlborn, Knud: Deutsche Jugendgemeinschaft, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 5/6, S. 43. Ahlborn, Knud: Die politische Einstellung der Freideutschen Jugend, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 21, S. 227. Ahlborn, Knud: Hofgeismar, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 21, S. 226. Ahlborn, Knud/Hammer, Walter: Eine Bitte der Herausgeber, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 2/3, S. 16. Ahlborn, Knud: Vom „Ich“ und vom „Selbst“, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 2/3, S. 2. Berendsohn, Robert L.: Lebenserneuerung und Sozialismus, in: Junge Menschen 3 (1922), H. 15/16, S. 198–200. Behrens, Bernhard: Das Notwendigste, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 10/11, S. 110–111. Foerster, Ernst: Volkshochschule, in: Junge Menschen 1 (1920), H. 1, S. 12–14. Hesse, Hermann: Worte an die deutsche Jugend, in: Junge Menschen 2 (1921), H. 4, S. 50. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar, hgg. von der Deutschen Akademischen Freischar, ab 1910. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Januar 1912. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Februar 1912. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Dezember 1912. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Mai 1913. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Juli/August 1913. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Dezember 1913. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom März 1914. Monatsbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom April/Mai 1916. Wochenbericht der Deutschen Akademischen Freischar, hgg. von der Deutschen Akademischen Freischar, 1909–1910. Wochenbericht der Deutschen Akademischen Freischar vom Mai/Juni 1909.
3 Zeitgenössisches Schrifttum
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Sonstige Ahlborn, Knud: Das Freideutsche Lager Klappholttal auf Sylt, in: Sonderabdruck Pädagogische Warte 33 (1926), H. 21, S. 1–4. Ahlborn, Knud: 50 Jahre Nordseeheim Klappholttal. Eine Chronik, in: Nordfriesland 45 (1969), H. 11, S. 155–163.
3 Zeitgenössisches Schrifttum Ahlborn, Knud: Die freideutsche Jugendbewegung, München 1917. Ahlborn, Knud: Die Jugendbewegung (Vortrag), in: Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, N.F. Sonderdruck (1917), H. 13, S. 156–172. Ahlborn, Knud (Hrsg.): Krieg, Revolution und Freideutsche Jugend. Die Reden und Ansprachen der Jenaer Tagung 1919, Beihefte zur Freideutschen Jugend, H. 2, Hamburg 1919. Ahlborn, Knud: Klappholttal. Die Idee eines Jugendlagers, Hamburg 1921. Ahlborn, Knud: Das Freideutschtum in seiner politischen Auswirkung, Werther b. Bielefeld 1923. Ahlborn, Knud: Kurze Chronik der Freideutschen Jugendbewegung. 1913–1953 zu ihrem 40. Jahrestag, Bad Godesberg 1953. Ahlborn, Knud (Hrsg.): Dokumente der Freischarentwicklung 1906–1914. Zum Bundestag der D.A.F. 1931. Im Text unverändert nachgedruckt zum Meißner-Tag 1963, o. O. 1963. Ahlborn, Knud/Hertling, Helmut (Hrsg.): Lebensfragen und Gestaltungswille. Arbeitsgemeinschaften des Meißnertages 1963, Selbstverlag Gilde Hoher Heißer 1963. Bauermeister, Friedrich/Koch-Dieffenbach, Hans/Ziegler, Bernhard: Absage und Beginn. Worte an die Kameraden, Leipzig 1918. Bondy, Max: Freideutsche Politik, in: Wilhelm Ehmer (Hrsg.), Hofgeismar. Ein politischer Versuch in der Jugendbewegung 1920, Jena 1921, S. 25–32. Ehmer, Wilhelm (Hrsg.): Hofgeismar. Ein politischer Versuch in der Jugendbewegung 1920, Jena 1921. Flitner, Wilhelm: Laienbildung, Berlin 1921. Flitner, Wilhelm: Die junge Generation im Volke, Berlin 1928. Flitner, Wilhelm: Neue Wege der Erziehung und Volksbildung (1928), in: Ders., Gesammelte Schriften, hgg. von Karl Erlinghagen/Andreas Flitner/Ulrich Herrmann, Bd. 4, Die pädagogische Bewegung, Paderborn 1987, S. 170–231. Flitner, Wilhelm: Thesen, an Carnap (1917), in: Ders., Gesammelte Schriften, hgg. von Ulrich Herrmann/Karl Erlinghagen, Bd. 12/1, Nachlese. Biographisches. Erwachsenenbildung und Volkshochschule. Pädagogische Positionen und Impulse. Würdigungen. Nachkriegszeit. Philosophische Reflexionen und Kulturphilosophie, Paderborn 2014, S. 19–22. Foerster, Ernst: Die Hamburger Jugendhochschulgemeinde und der Volkshochschulgedanke, Hamburg 1919. Foerster, Friedrich Wilhelm: Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel, Zürich/Leipzig 1923. Frobenius, Else: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Berlin 1927. Führungskreis des Freideutschen Konvents (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung. Die Herbsttagung 1948 des Freideutsches Kreises auf der Jugendburg Ludwigstein (Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe. Januar 1949), Lüdenscheid 1949. Gaebel, Ernst: Fünfundzwanzig Jahre Bund Deutscher Wanderer, Wittenberg 1930. Glatzel, Frank: Die politische Wirklichkeit und die Freideutschen, in: Führungskreis des Freideutschen Konvents (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung. Die Herbsttagung 1948 des Freideutsches Kreises auf der Jugendburg Ludwigstein (Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe. Januar 1949), Lüdenscheid 1949, S. 21–28.
326 | Quellen und Literatur Grabowsky, Adolf/Koch, Walther (Hrsg.): Die freideutsche Jugendbewegung. Ursprung und Zukunft, Gotha 1920. Hammer, Walter: Nietzsche als Erzieher, Leipzig 1914. Hesse, Hermann: Zarathustras Wiederkehr (1919), in: Ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 10: Gedenkblätter, Betrachtungen, Frankfurt/M. 1987, S. 466–497. Hesse, Hermann: Zarathustras Wiederkehr. Ein Wort an die Deutsche Jugend von einem Deutschen, in: Freideutsche Jugend. Monatsschrift für das junge Deutschland 5 (1919), H. 4, S. 147–153. Jöde, Fritz (Hrsg.): Pädagogik Deines Wesens. Gedanken der Erneuerung aus dem Wendekreis, Hamburg 1919. Körber, Normann: Das Bild vom Menschen in der Jugendbewegung und unsere Zeit, Berlin 1927. Kracke, Arthur (Hrsg.): Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913. Kurella, Alfred (Hrsg.): Die Geschlechterfrage der Jugend. Beihefte zur Freideutschen Jugend, H. 1, Hamburg 1919. Leitner, Emil: Unser Wandern, in: Walter Serno (Hrsg.), Der Hamburger Wander-Verein. Ein Wegweiser zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Jugendkultur, Hamburg 1908, S. 11–22. Lütkens, Charlotte (Hrsg.): Die ersten fünf Semester der Freischar zu Freiburg. S.-S. 1911 – S.-S. 1913, Freiburg 1914. Messer, August: Die freideutsche Jugendbewegung. Ihr Verlauf von 1913 bis 1923, Langensalza 1924. Mittelstraß, Gustav/Schneehagen, Christian (Hrsg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Gottfried Traub. Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, Hamburg 1913. Natorp, Paul: Hoffnungen und Gefahren unserer Jugendbewegung. Vortrag gehalten bei der Hauptversammlung der Comenius-Gesellschaft zu Berlin am 6. Dez. 1913, TatFlugschriften, 36 (1920), Jena 1914. Nohl, Herman: Vom deutschen Ideal der Geselligkeit. Dem Andenken Karls Brügmanns gewidmet (1915), in: Ders., Pädagogische und politische Aufsätze, Jena 1919, S. 121–134. Nohl, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt/M. 1935. Rathmann, August/Beyer, Georg (Hrsg.): Sozialismus aus dem Glauben. Verhandlungen der sozialistischen Tagung in Heppenheim a.B. Pfingstwoche 1928, Zürich/Leipzig 1929. Romanus, Franz: Festschrift zum 50 Jähr. Stiftungsfest des Primanervereins „Formica“, Hamburg 1927. Schlünz, Friedrich: Die Entfesselung der Seele. Absage an die vorrevolutionäre Gesellschaft und ihr Bildungswesen, Hamburg 1919. Schoeps, Hans Joachim: An der Schwelle des Atomzeitalters. Eine Besinnung auf die Mächte der Zeit, in: Führungskreis des Freideutschen Konvents (Hrsg.): Freiheit und Verantwortung. Die Herbsttagung 1948 des Freideutsches Kreises auf der Jugendburg Ludwigstein (Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe. Januar 1949), Lüdenscheid 1949, S. 7–19. Sera-Kreis (Hrsg.): Gedächtnisfeier zur Friedenssonnenwende auf dem Hohen Leeden 1919 (Privatdruck des Sera-Kreises zum Gedächtnis an Karl Brügmann, Hans Kremers u. a.), Jena 1919. Serno, Walter (Hrsg.): Der Hamburger Wander-Verein: Ein Wegweiser zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Jugendkultur, Hamburg 1908. Serno, Walter: Der Bund Deutscher Wanderer – ein Stück Jugendbewegungsgeschichte, Leipzig 1924.
4 Quellennachdrucke und Beiträge in Quelleneditionen
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Register In dieses Register wurden die im Text und in den Anmerkungen (kursiv) enthaltenen Namen aufgenommen, nicht jedoch die Verfassernamen aus der Literatur.
Abetz, Otto 22, 310 Achinger, Hans 207 Ahlborn, Knud 22, 32, 63–64, 66, 70, 72, 74, 76, 76–77, 82–85, 85, 87, 89–90, 95, 97–99, 103, 108, 111, 115–117, 122–125, 139, 142, 145, 148–149, 151–153, 156–159, 161, 163–165, 167–168, 172, 174–183, 185–187, 190–192, 195–200, 202–203, 230, 264, 292, 305, 310–311 Aristoteles 133 Avenarius, Ferdinand 116, 124–125, 132, 141, 147–148, 170, 223, 256 Barbizon, Georges 193 Barlach, Ernst 170 Barth, Karl 169 Barthel, Max 170 Bäuerle, Theodor 210 Bauermeister, Friedrich 162, 243 Bäumer, Gertrud 121 Baußnern, Waldermar von 116 Becker, Hellmut 309 Beer, Rüdiger Robert 307 Behne, Erna 165 Beit, Hans 63 Benjamin, Walter 23, 96, 162, 243 Berger, Luci 165 Bergstraesser, Arnold 23, 51–52, 139, 151, 163, 192, 194, 309 Bernfeld, Siegfried 22, 193 Bittel, Karl 22, 138–140, 151, 162, 192–200, 202, 243, 310 Blochmann, Elisabeth 22, 207 Blüher, Hans 132, 162, 243 Blunck, Hans Friedrich 170 Bohnenkamp, Hans 309 Bondy, Curt 22, 143, 207, 209, 292 Bondy, Gertrud 22, 173, 264 Bondy, Max 22, 148, 173, 199, 201–202, 264, 292 Bonne, Georg 115, 168 Borinski, Fritz 22, 244, 264 https://doi.org/10.1515/9783110783667-027
Bre´e, Rudolf 307 Brockmann, Alwin 207 Bröger, Karl 170 Brüggemann, Friedrich 133 Brügmann, Karl 134, 136 Buchwald, Reinhard 172, 172–173 Buddensieg, Hermann 156 Bundies, Adolfo 72 Burger, Fritz 121 Buske, Ernst 151–152 Busse-Wilson, Elisabeth 23, 130, 132, 134, 151 Campo, Otto de 74 Carlyle, Thomas 66, 78, 101, 103, 150, 167 Carnap, Rudolf 22, 96, 116, 129–130, 134, 136–140, 183, 192, 198, 204, 263 Claudius, Hermann 170 Cohen, Hermann 262 Conze, Werner 309 Croon, Helmuth 309 Czapski-Holzman, Helene 22, 134 Dahrendorf, Walter 168, 170 Danzel, Theodor Wilhelm 85 Darwin, Charles 44, 78 Deckart, Martin 151 Delbrück, Hans 121 Demelius, Ernst 85 Diederichs, Eugen 117, 119–120, 129–133, 135, 140–141, 151, 170, 196 Dilthey, Wilhelm 137, 252 Dirks, Walter 309 Dürer, Albrecht 170 Ebbinghaus, Friedrich von 148 Ehmer, Wilhelm 199 Eichhorn, Ernst 85 Elvers, Kurt 63, 74 Emerson, Ralph Waldo 75, 167, 262 Engelke, Gerrit 170 Erdmann, Dietrich 309 Erhardt, Justus 207 Eulenberg, Herbert 121
350 | Register Fehling, Jürgen 82, 85 Feiler, Arthur 121 Fichte, Johann Gottlieb 103, 117, 133, 146, 164, 167, 183, 271 Fidus 170 Fils, Gerhard 180, 192, 199 Fischer, Samuel 132 Fischer, Walter 159 Flake, Otto 170 Fleck, Ludwik 232–234 Flitner, Wilhelm 22, 129, 130, 132, 134, 136–140, 151, 173–174, 183, 204, 210, 230, 244, 263 Foerster, Ernst 151, 159, 165, 183 Foerster, Friedrich Wilhelm 148, 170 Fontane, Theodor 167 Forel, Auguste 121 Francke, Herbert 207 Frank, Leonhard 168 Franke, Gustav 125, 183 Frankenberger, Julius 22, 116, 134, 136–137 Franz, Günther 22, 309 Fränzel, Elise 173 Fränzel, Walter 22, 130, 134, 136–137, 173, 183, 264 Freyer, Hans 22, 130, 134, 136, 139, 174, 210, 264 Friedrich, Ernst 200 Funcke, Liselotte 309 Gablentz, Otto Heinrich von der 210 Gaebel, Ernst 80 Gandhi, Mahatma 170 Gardiner, Rolf 22 Gehlen, Arnold 228 George, Stefan 262 Gerlach, Dankwart 147, 155 Gerstenmaier, Eugen 309 Glatzel, Frank 147, 151–153, 155 Gleitz, Peter Friedrich 100 Goebel, Ferdinand 32, 63, 70, 72, 74, 76–77, 82, 100–101, 151–152, 159, 170, 172, 178, 180, 182–183, 185 Goethe, Johann Wolfgang von 146, 167, 183 Goetz, Walter 121 Gogarten, Friedrich 169 Gollwitzer, Gerhard 309 Gollwitzer, Helmut 311 Greiffenhagen, Martin 309
Grimme, Adolf 22 Gruber, Max von 116, 121 Guardini, Romano 309 Guggenberger, Bernd 309 Gurlitt, Cornelius 121 Gurlitt, Ludwig 101, 121 Haase, Otto 183 Haeckel, Ernst 44 Hagen, Wilhelm 148, 151, 159 Hammelsbeck, Oskar 210 Hammer, Walter 152, 157–159, 161, 164–165, 167, 171, 178, 183, 203 Harbeck, Hans 63–64, 73–74, 82–85, 85, 87 Hasenclever, Walter 262 Hasselblatt, Meinhard (E.) 148, 151, 183, 192 Hattingberg, Erwin Ritter von 125 Hauptmann, Gerhart 121 Hebbel, Christian Friedrich 146 Hecht, Karl 309 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 44 Heidegger, Martin 239, 239–240, 267 Heimann, Eduard 22, 132, 139, 148, 192–193, 230, 243, 264, 294 Heine, Heinrich 80, 167 Heine, Hermann 80 Held, Kurt 22, 130, 134, 165 Helmholtz, Hermann von 44 Helwig, Werner 165 Henckell, Karl 121, 147, 272 Herder, Johann Gottfried 167 Hertling, Bernhard 158 Hesse, Hermann 52, 52, 75, 133, 170 Heuss, Theodor 196, 310 Heyck, Hans 23 Heynicke, Kurt 170 Hibsch, Else 192 Hiller, Kurt 23, 162, 170 Hodann, Max 23, 132, 148, 170 Hofmannsthal, Hugo von 262 Hölderlin, Friedrich 167 Hörmann, Martha 22, 134, 137, 140 Hosenfeld, Wilm 23 Humboldt, Wilhelm von 44, 133 Hunzinger, Wilhelm 147 Isaak, Karl 85 Jaffe´, Edgar 196 Jahn, Friedrich Ludwig 103 Jens, Walter 309
Register
Jerosch, Karl 162 Jöde, Fritz 148, 163, 194, 243 Joe¨l, Ernst 132, 162, 243 Jodl, Friedrich 121 Jokuff, Ernst 82, 85, 87 Kaemisch, Erich 200 Kant, Immanuel 146, 167, 178, 221, 262 Kantorowicz, Ernst H. 148, 151 Karp, Franz von 82, 85 Kerschensteiner, Georg 116, 147 Key, Ellen 131, 168 Keyserling, Hermann Graf 200 Kindt, Werner 207, 292, 306 Kippenberg, Anton 132 Klages, Ludwig 121, 147 Klatt, Edith 22, 173, 264 Klatt, Fritz 22, 132, 143, 148, 157, 161–165, 170, 173–174, 178, 183, 210, 243, 264 Knoll, Joachim H. 302 Koch, Walther 132, 148, 162, 230 Koch(-Dieffenbach), Hans 162–163 Kölln, Hermann 72, 183 Kollwitz, Hans 23, 162, 243 Kollwitz, Käthe 170 Kollwitz, Peter 162 Kool, Jaap 162 Korsch, Karl 22, 130, 134, 139 Kracke, Arthur 80, 116 Kremers, Hans 133, 136–137 Krems, Erich 162 Kreppel, Friedrich 306 Krieck, Ernst 196 Kropotkin, Peter 168, 170 Kroug, Wolfgang 22, 134 Krüger, Herman Anders 147 Kühnemann, Eugen 121, 147 Kuntze, Friedrich 121 Kurella, Alfred 23, 138, 148, 159, 162–163, 194–196, 243, 310 l’Aigle, Alma de 180, 200–201 Laack, Fritz 174, 210 Lagarde, Paul de 49, 103, 146, 148, 167 Lamprecht, Karl 116, 121, 130 Landauer, Gustav 138, 162–163, 170, 243 Landauer, Karl 163 Lange, Friedrich Albert 168 Lask, Bertha 196 Lemke, Bruno 22, 116–117, 141, 148, 151, 153, 264
| 351
Lemke, Helmut 310 Lemmberg, Robert 85 Lersch, Heinrich 170 Lessing, Gotthold Ephraim 146, 167, 178 Lessing, Theodor 170 Leyen, Friedrich von der 121 Lietz, Hermann 80, 136 Liszt, Franz von 121 Löbe, Paul 170 Löns, Hermann 170 Löwe, Adolf 22, 243, 263, 292, 294 Löwenstein, Kurt 23, 264 Löwenthal, Richard 309 Luschan, Felix von 116 Luserke, Martin 143 Lüth, Erich 165 Lütkens, Charlotte 22 Lütkens, Gerhard 22 Mann, Heinrich 170 Mann, Klaus 170 Mannheim, Karl 232 Martin, Max 35, 207 Marx, Karl 166 Maurenbrecher, Max 196 Meinecke, Friedrich 147, 196 Mennicke, Carl 243, 294 Messer, August 148, 151–152, 170, 183 Michel, Otto 148 Mitscherlich, Melitta 309 Much, Hans 148 Muck-Lamberty, Friedrich 151, 158 Müller, Georg 132 Nahnsen, Otto 93 Natorp, Paul 121, 147–148, 170, 230, 262 Naumann, Friedrich 116, 121 Nelson, Leonard 122, 170, 262 Nietzsche, Friedrich 49, 157, 167 Nohl, Herman 137, 172, 207, 218–220 Nötzel, Karl 200 Novalis 167 Oschilewski, Walther G. 22 Oswalt, August 207 Paasche, Hans 158, 170 Paetel, Karl Otto 170 Paquet, Alfons 170 Paul-Hasselblatt, Martha 192 Picht, Carl 121 Pinks, Albert 180
352 | Register Plessner, Helmuth 228 Ploetz, Alfred 116 Pöhlmann, Robert von 121 Popert, Hermann 116, 158 Potthoff, Heinz 121 Prellwitz, Gertrud 122 Putz, Ernst 173 Ranke, Leopold von 44 Rathenau, Walter 170 Raupach, Hans 22, 309 Rauscher, Ulrich 122 Reichenbach, Bernhard 194 Reichenbach, Hans 194 Reichwein, Adolf 22, 210 Reicke, Georg 116 Rein, Wilhelm 172 Reinhold, Carl Leonhard 103 Rembrandt 170 Richters, Otto 82 Rilke, Rainer Maria 262 Rode, Karl 307 Roh, Franz 22, 134, 264 Rohrbach, Paul 116 Rolland, Romain 170 Rothe, Carl 22 Rothe, Hans 22, 134 Rowohlt, Ernst 132 Rürup, Bert 309 Rüstow, Alexander 22, 148, 162, 243, 264, 294–295, 310 Saal, Adolf 80, 142, 143, 145, 145 Schafft, Hermann 207, 307 Scheler, Max 228, 241 Scheuner, Ulrich 309 Schieder, Theodor 22, 307, 309–310 Schiller, Friedrich 167, 314 Schleiermacher, Friedrich 44, 133, 167, 219–220 Schlünz, Friedrich 143, 146, 151, 194, 243 Schmid, Carlo 22, 264, 309 Schmied-Kowarzik, Walter 122 Schneehagen, Christian 80, 115 Schoeps, Hans-Joachim 22, 306, 309 Schönewolf, Julius 158 Schönlank, Bruno 170 Schröder, Jules C.A. 82, 87 Schücking, Walter 121 Schüller, Hermann 193
Schultz-Hencke, Harald 148, 151, 192, 194, 199, 201 Schwab, Alexander 22, 134, 139–140, 151, 193 Schwarz, Rudolf 307 Seidelmann, Karl 22, 168 Serno, Walter 63, 73, 79, 100 Sidow, Max 151 Sieker, Hugo 165 Simmel, Georg 29–31, 220–222, 234, 252 Sombart, Werner 196 Spitteler, Carl 133, 167, 262 Stählin, Wilhelm 23, 132, 281, 284 Steinbrinker, Heinrich 165 Steiner, Rudolf 169 Steltzer, Theodor 210 Tagore, Rabindranath 79, 79 Tepp, Max 143, 243 Theberath, Hans 192 Thoma, Ludwig 122 Tillich, Paul 243, 294 Toepfer, Alfred C. 22, 306, 310–311 Toller, Ernst 170, 196 Tolstoi, Lew N. 167 Tönnies, Ferdinand 218 Tormin, Helmut 76, 192, 207 Traub, Gottfried 116 Troeltsch, Ernst 241 Trojan, Johannes 121 Ullmann, Hermann 148 Unruh, Fritz von 170 Vermehren, Kurt 22, 82 Virchow, Hans 44 Vogeler, Heinrich 170 Voigt-Diederichs, Helene 133 Vorwerk, Friedrich 151, 165 Wagner, Albert 63 Wagner, Richard 116 Walder, Kurt 192 Weber, Alfred 122 Weber, Max 11, 196, 215–217, 241 Weidemann, Magnus 170 Weichmann, Herbert 23 Weinel, Heinrich 172 Weitsch, Eduard 179 Weizsäcker, Carl Friedrich von 311 Weizsäcker, Ernst Ulrich von 309 Weniger, Erich 22, 174, 210
Register
Weniger, Maria Sophie Anna 196 Werckshagen, Carl 170, 193 Werfel, Franz 262 Westendorf, Fritz 180, 193 Whitman, Walt 167 Wieland, Christoph Martin 167 Wilhelm, Theodor 307, 309 Wilker, Karl 22, 207 Wittfogel, Karl August 139, 165, 192–194
| 353
Woermann, Kurt 159 Wolff, Kurt 132 Wolter, Richard 80 Wyneken, Gustav 49, 79, 80, 80, 115–116, 120, 124–125, 131–133, 137, 143, 146, 148, 159, 162–163, 168, 171, 193, 305 Zech, Paul 171 Zeidler, Kurt 143
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel, Florian Meinel und Lutz Raphael. Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: –
vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern,
–
gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen,
–
den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.
Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: –
den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika,
–
die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern,
–
die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert,
–
die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.
Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: –
Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten.
–
Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften.
–
Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet.
–
Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Ordnungssysteme
355
Band 1:
Band 6:
Michael Hochgeschwender
Jin-Sung Chun
Freiheit in der Offensive?
Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit
Der Kongreß für kulturelle Freiheit und
Die westdeutsche „Strukturgeschichte“
die Deutschen
im Spannungsfeld von Modernitätskritik
1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962
Band 2:
2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6
Thomas Sauer Westorientierung im deutschen
Band 7:
Protestantismus?
Frank Becker
Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger
Bilder von Krieg und Nation
Kreises
Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffent-
1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
lichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil
Band 3:
ISBN 978-3-486-56545-4
Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags
Band 8:
Journalismus zwischen westlichenWerten
Martin Sabrow
und deutschen Denktraditionen
Das Diktat des Konsenses
1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6
Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969
Band 4:
2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1
Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika
Band 9:
Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft
Thomas Etzemüller
der 50er Jahre
Sozialgeschichte als politische Geschichte
1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3
Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft
Band 5:
nach 1945
Rainer Lindner
2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2
Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in
Band 10:
Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert
Martina Winkler
1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6
Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8
356
Ordnungssysteme
Band 11:
Band 16:
Susanne Schattenberg
Ewald Grothe
Stalins Ingenieure
Zwischen Geschichte und Recht
Lebenswelten zwischen Technik und Terror in
Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung
den 1930er Jahren
1900–1970
2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9
2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6
Band 12:
Band 17:
Torsten Rüting
Anuschka Albertz
Pavlov und der Neue Mensch
Exemplarisches Heldentum
Diskurse über Disziplinierung in
Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht
Sowjetrussland
an den Thermopylen von der Antike bis
2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6
zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb.
Band 13:
ISBN 978-3-486-57985-7
Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie
Band 18:
Die Westernisierung von SPD und DGB
Volker Depkat
2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5
Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des
Band 14:
20. Jahrhunderts
Christoph Weischer
2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘
Band 19:
Strukturen, Praktiken und Leitbilder der
Lorenz Erren
Sozialforschung in der Bundesrepublik
„Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis
Deutschland
Kommunikation und Herrschaft unter Stalin
2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
(1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1
Band 15: Frieder Günther
Band 20:
Denken vom Staat her
Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.)
Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre
Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft
zwischen Dezision und Integration
im Europa der Neuzeit
1949–1970
Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte
2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9
2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
Ordnungssysteme
357
Band 21:
Band 26:
Thomas Großbölting
Ruth Rosenberger
„Im Reich der Arbeit“
Experten für Humankapital
Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung
Die Entdeckung des Personalmanagements in
in den deutschen Industrie- und Gewerbeaus-
der Bundesrepublik Deutschland
stellungen 1790–1914
2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7
Band 27: Désirée Schauz
Band 22:
Strafen als moralische Besserung
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.)
Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge
Ordnungen in der Krise
1777–1933
Zur politischen Kulturgeschichte
2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3
Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5
Band 28: Morten Reitmayer
Band 23:
Elite
Marcus M. Payk
Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftli-
Der Geist der Demokratie
chen Idee in der frühen Bundesrepublik
Intellektuelle Orientierungsversuche im
2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn
Band 29:
2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus
Band 24:
Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943)
Rüdiger Graf
2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9
Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutsch-
Band 30:
land 1918–1933
Klaus Gestwa
2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4
Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus
Band 25:
Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte,
Jörn Leonhard
1948–1967
Bellizismus und Nation
2010. 660 S., 18 Abb.
Kriegsdeutung und Nationsbestimmung
ISBN 978-3-486-58963-4
in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
358
Ordnungssysteme
Band 31:
Band 36:
Susanne Stein
Claudia Kemper
Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt
Das „Gewissen“ 1919–1925
Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen
Kommunikation und Vernetzung
China, 1949–1957
der Jungkonservativen
2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb.
2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
ISBN 978-3-486-59809-4 Band 37: Band 32:
Daniela Saxer
Fernando Esposito
Die Schärfung des Quellenblicks
Mythische Moderne
Forschungspraktiken in der
Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach
Geschichtswissenschaft 1840–1914
Ordnung in Deutschland und Italien
2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3
2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0
Band 38: Johannes Grützmacher
Band 33:
Die Baikal-Amur-Magistrale
Silke Mende
Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungs-
„Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“
projekt unter Brežnev
Eine Geschichte der Gründungsgrünen
2012. IX, 503 S., 9 Abb.
2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb.
ISBN 978-3-486-70494-5
ISBN 978-3-486-59811-7 Band 39: Band 34:
Stephanie Kleiner
Wiebke Wiede
Staatsaktion im Wunderland
Rasse im Buch
Oper und Festspiel als Medien politischer
Antisemitische und rassistische Publikationen
Repräsentation (1890–1930)
in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik
2013. 588 S., 38 Abb.
2011. VIII, 328 S., 7 Abb.
ISBN 978-3-486-70648-2
ISBN 978-3-486-59828-5 Band 40: Band 35:
Patricia Hertel
Rüdiger Bergien
Der erinnerte Halbmond
Die bellizistische Republik
Islam und Nationalismus auf der Iberischen
Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“
Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert
in Deutschland 1918–1933
2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0
2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1
Ordnungssysteme
359
Band 41:
Band 47:
Till Kössler
Gregor Feindt
Kinder der Demokratie
Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft
Religiöse Erziehung und urbane Moderne in
Oppositionelles Denken zur Nation im ostmit-
Spanien, 1890–1936
teleuropäischen Samizdat 1976–1992
2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1
2015. XII, 403 S. ISBN 978-3-11-034611-4
Band 42:
Band 48:
Daniel Menning
Juri Auderset
Standesgemäße Ordnung in der Moderne
Transatlantischer Föderalismus
Adlige Familienstrategien und
Zur politischen Sprache des Föderalismus im
Gesellschaftsentwürfe in Deutschland
Zeitalter der Revolution, 1787–1848
1840–1945
2016. XI, 525 S., 3 Abb.
2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4
ISBN 978-3-11-045266-2
Band 43:
Band 49:
Malte Rolf
Silke Martini
Imperiale Herrschaft im Weichselland
Postimperiales Asien
Das Königreich Polen im Russischen
Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglo-
Imperium (1864–1915)
phonen Weltöffentlichkeit 1919–1939
2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7
2017. XI, 492 S. ISBN 978-3-11-046217-3
Band 44:
Band 50:
Sabine Witt
Sebastian Weinert
Nationalistische Intellektuelle
Der Körper im Blick
in der Slowakei 1918–1945
Gesundheitsausstellungen vom späten
Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung
Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus
und Säkularisierung
2017. X, 448 S., 14 Abb.
2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5
ISBN 978-3-11-046677-5
Band 45:
Band 51:
Stefan Guth
D. Timothy Goering
Geschichte als Politik
Friedrich Gogarten (1887–1967)
Der deutsch-polnische Historikerdialog
Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege
im 20. Jahrhundert
2017. XI, 513 S., 5 Abb.
2015. VII, 520 S. ISBN 978-3-11-034611-4
ISBN 978-3-11-051730-9
360
Ordnungssysteme
Band 52:
Band 56:
Andrés Antolín Hofrichter
David Schulz
Fremde Moderne
Die Natur der Geschichte
Wissenschaftspolitik, Geschichtswissenschaft
Die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit
und nationale Narrative unter dem Franco-
und die Geschichtskonzeptionen zwischen
Regime, 1939–1964
Aufklärung und Moderne
2018. X, 418 S. ISBN 978-3-11-052996-8
2020. VIII, 361 S. ISBN 978-3-11-064622-1
Band 53:
Band 57:
Fabian Thunemann
Christian Sammer
Verschwörungsdenken und Machtkalkül
Gesunde Menschen machen
Herrschaft in Russland, 1866–1953
Die deutsch-deutsche Geschichte der
2019. X, 260 S. ISBN 978-3-11-061647-7
Gesundheitsaufklärung, 1945–1967 2020. XII, 546 S. ISBN 978-3-11-066010-4
Band 54: Anselm Doering-Manteuffel
Band 58:
Konturen von Ordnung
Matthias Hansl
Ideengeschichtliche Zugänge zum
Erschöpfte Utopien
20. Jahrhundert
Dahrendorf, Habermas und das Ende
2019. XVI, 452 S. ISBN 978-3-11-063008-4
der trente glorieuses 2021. VIII, 360 S. ISBN 978-3-11-071141-7
Band 55: Almuth Ebke
Band 59:
Britishness
Christian Volkholz
Die Debatte über nationale Identität
Freideutsch
in Großbritannien, 1967 bis 2008
Programm und Praxis einer kulturellen Avant-
2019. X, 372 S. ISBN 978-3-11-062405-2
garde in Deutschland im 20. Jahrhundert 2022. X, 360 S. ISBN 978-3-11-078338-4