Mit Gott im Grünen: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung 9783666604515, 9783525604519, 9783647604510


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Mit Gott im Grünen: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung
 9783666604515, 9783525604519, 9783647604510

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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525604519 — ISBN E-Book: 9783647604510

Research in Contemporary Religion

Edited by Hans-Günter Heimbrock, Daria Pezzoli-Olgiati, Heinz Streib, Trygve Wyller In co-operation with Hanan Alexander (Haifa), Carla Danani (Macerata), Wanda Deifelt (Decorah), Siebren Miedema (Amsterdam), Bonnie J. Miller-McLemore (Nashville), Garbi Schmidt (Roskilde), Claire Wolfteich (Boston) Volume 17

Vandenhoeck & Ruprecht

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Jan Peter Grevel

Mit Gott im Grünen Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 5 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-60451-9 You can find alternative editions of this book and additional material on our Website: www.v-r.de Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 Auf dem Weg zu einer Praktischen Theologie der Naturerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schlaglichter gegenwärtiger Naturerfahrungen . . . . . . . . . 1.1 Virtuelle Erfahrungswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Wandernde Naturräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kirche entdeckt „Natur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Unbehagen über die Rede von Natur – Begriff und Empirie 3. Schlaglichter der Tradition: Naturerfahrung und Religion im historischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Biblische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Buch der Natur und seine Lektüren . . . . . . . . . . . 3.3 Natürliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Schöpfungstheologische Beiträge seit den 1970er Jahren . . 4. Praktische Theologie und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das Thema in der neueren Praktischen Theologie . . . . . 4.2 Zielsetzungen der Studie und Forschungsdesign . . . . . . 4.2.1 Die vier Phänomenanalysen . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2 Vier empirische Erkundungen von Formen gelebter Religion A. Der massenmediale Naturdiskurs über das Elbehochwasser im August 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Hochwasser im Rückblick: Erkundung eines Phänomens . 2.1 Kirchliche Flutrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Wahl der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhaltsanalytische Diskursanalyse: Frankfurter Allgemeine Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der publizistische Ort der Zeitung . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Diskursstränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Detailanalyse Einzelartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 „D. Deckers, Festtag für Fischreiher“ . . . . . . . . . 4.3.1.1 Institutioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Die Textoberfläche . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Sprachlich-rhetorische Mittel . . . . . . . . .

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Inhalt

4.3.1.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen . . . . . 4.3.1.5 Naturdiskursfragmente . . . . . . . . . . . 4.3.2 K. Pfaffenbach „Geöffneter Himmel“ . . . . . . . 4.3.2.1 Institutioneller Rahmen . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Deskription . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Bedeutungsanalyse . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.4 Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 „J. Bernig, Warum tut sie uns das an?“ . . . . . . 4.3.3.1 Institutioneller Rahmen . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Textoberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.3 Sprachlich-rhetorische Mittel . . . . . . . 4.3.3.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen . . . . . 4.3.3.5 Diskursstrangverschränkungen . . . . . . 4.3.4. „M. Breidenich, Über allen Wassern“ . . . . . . . 4.3.4.1 Institutioneller Rahmen . . . . . . . . . . 4.3.4.2 Textoberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.3 Sprachlich-rhetorische Mittel . . . . . . . 4.3.4.4 Inhaltlich ideologische Aussagen . . . . . 4.3.4.5 Diskursstrangverschränkungen . . . . . . 4.4 Zusammenfassung: Der Naturdiskurs in der FAZ . . . . 5. Kontrastiver Vergleich – Inhaltsanalytische Diskursanalyse: Sächsische Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der publizistische Ort der Zeitung . . . . . . . . . . . . 5.2 Diskursstränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Naturdiskurs in der Sächsischen Zeitung . . . . . . 5.3.1 Religiöse Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Subdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Deutungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Blick aufs Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Blick aufs Meer – Wahrnehmungsgeschichte(n) . . 1.2 Methodenfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erkundung und Analyse des Phänomens . . . . . . . . . . . 2.1 Die Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Soziodemografischer Hintergrund . . . . . . . . . 2.1.3 Motivgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Erste Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.1 Grenzerfahrungen . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.2 Symbolische Verdichtung . . . . . . . . . 2.1.4.3 Der blinde Fleck . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4.4 Blickwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2 Qualitative Bildanalysen: Meeresblicke auf Licht und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Sonnenuntergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Bild „Sonnenuntergang mit Person“ . . . . . . 2.2.1.2 Bild „Sonnenuntergang mit Reitern“ . . . . . 2.2.1.3 Bedeutungssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Bild „Junge am Strand“ . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Bild „Rückenfigur am Strand“ . . . . . . . . . 2.3 Rück-Blick auf das Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Gartenparadiese in der Kleingartenkolonie . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Garten als Paradies – kultur- und religionsgeschichtliche Traditionen . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Vokabular des Gartens: Grenze, Wasser, Pflanzen, Gartenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Paradiesgärten in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kleingarten als exemplarischer Garten der Moderne . . . . 2.1 Die Wahl der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Arbeit am Paradies: Dichte Beschreibung des Kleingartenvereins „Neue Hoffnung“ . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Auswahl des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . 3.2 Der Zugang zum Feld: Erste Beobachtungen . . . . . . . . 3.3 Querschnitte und Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Garten von Herrn B. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Vereinskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Ordnung und Natürlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Fragebogenaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Gartenerfahrungen: Transformation der Paradiessymbolik. 3.6 Abschied: Ein letzter Blick in den Garten . . . . . . . . . . D. Gipfelwanderung zum Hohen Freschen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erster Anweg zum Berg: Der Säntis und der Streit der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zweiter Anweg zum Berg: Der Mont Ventoux und das Problem der literarischen Inszenierung . . . . . . . . . . . 1.3 Methodologische Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen . . . . . . . . . . . . 2.1 Laterns – im Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Kapelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Weiterer Aufgang zum Hohen Freschen . . . . . . . . . . . 2.4 Der Gipfel des Hohen Freschen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Abstieg vom Hohen Freschen bis zum Freschenhaus . . . . 2.6 Zurück ins Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Erste Strukturierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von der Dichten Beschreibung zur Deutung . . . . . 4.1 Den Raum wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . 4.2 Leiblichkeit wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Natur und Leiblichkeit . . . . . . . . . . . 4.3 Brücken zum Religionsthema . . . . . . . . . . . 5. Gipfelkreuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 „Verlangsamtes Sehen“ . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gipfelkreuz und Gebetsfahnen . . . . . . . . . . 5.3 Die Gipfelkreuze auf dem Hohen Freschen . . . 6. Gipfelbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Gipfelbücher auf dem Hohen Freschen . . . 6.3 Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Informativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Darstellend . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Belehrend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Lobpreisend . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.5 Inhaltsmischung . . . . . . . . . . . . . . 6.4 „Geschärfte Sinne“: Leiblichkeit, Fremdheit und Entgrenzung als Themen des Gipfelbucheintrags 6.5 Transtextualität von Gipfelbucheinträgen . . . .

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Kapitel 3 Systematisierung und Weiterführung . . . . . . . . . . . . . 1. Methodenreflexion im Hinblick auf die Studie und den Ertrag für die Praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Impulse für Reflexionsperspektiven der Praktischen Theologie . 2.1 Reflexionsperspektive Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Reflexionsperspektive Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Reflexionsperspektive Vernunft und Leiblichkeit . . . . . . 2.4 Reflexionsperspektive Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Reflexionsperspektive Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Naturthema im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kirche und Naturerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Im Dialog mit Gegenwartskunst . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung: Acht Thesen für eine Praktische Theologie der Naturerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Gen 8,15.16a

Die vorliegende Arbeit wurde im SS 2013 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe Universität Frankfurt als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck nun noch geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt zu allererst Herrn Prof. Dr. Hans-Günter Heimbrock, der die Arbeit in den vergangenen Jahren mit Weitblick, Verve und steter Neugier gefördert und begleitet hat. Besonders der Kontakt und Austausch mit den Mitgliedern der von ihm initiierten Sozietät für Praktische Theologie in Frankfurt hat mir wertvolle Impulse vermittelt und meinen Blick für das Programm einer Empirischen Theologie geschärft. So gilt mein Dank an dieser Stelle neben Prof. Dr. HansGünter Heimbrock auch Prof. Dr. Astrid Dinter, Dr. Peter Meyer, Dr. Achim Knecht, Dr. Silke Leonhardt, Dr. Achim Plagentz, Dr. Christopher P. Scholz, Dr. Kerstin Söderblom und all den anderen, die in Frankfurt und im Kleinwalsertal für meine Arbeit „mitgedacht“ haben. Herrn Prof. Dr. Frank T. Brinkmann danke ich für das freundliche Zweitgutachten. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Hans-Günter Heimbrock, Prof. Dr. Daria Pezzoli-Olgiati, Prof. Dr. Trygve Wyller und Prof. Dr. Heinz Streib für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Research in Contemporary Religion (RCR). Prof. Dr. Michael Schibilsky, der diese Arbeit bis zu seinem Tod anfänglich betreute, gilt auch posthum meine besondere Dankbarkeit. PD Dr. Gerald Kretzschmar danke ich für die vielfältige Unterstützung und die freundschaftliche Begleitung, Gerd Gauglitz für alle Hinweise im Vorfeld der Publikation. Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg danke ich für die anhaltende Unterstützung meines Anliegens, wissenschaftliche Arbeit mit der Profession des Pfarrberufs verbinden zu können und mir darüber hinaus einen Druckkostenzuschuss zu gewähren. Viele Menschen haben mich weiterhin bei diesem Projekt unterstützt, Männer und Frauen: Türöffner im Kleingarten, Bergbauern, Fotografen, Bibliothekare, Kurseelsorger, Freunde, Verwandte und natürlich viele Naturkundige. Ohne sie alle hätte ich diese Arbeit nicht empirisch ausrichten können. Ihrem Staunen, ihren Zweifeln, ihren Fragen und Sorgen fühle ich mich auch weiter verbunden. Der größte Dank aber gilt meiner Frau, sie weiß warum. Altheim, im April 2014

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Jan Peter Gevel

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Einführung „Warum macht ihr das?, fragte unser Bekannter, warum interessiert ihr euch dafür? Seid ihr Naturliebhaber? Wir wussten keine Antwort. Wir konnten nur sagen, dass es a) einfach so geschehen war und dass b) er sich nicht beeindrucken lassen solle, denn wir wüssten vergleichsweise gar nichts, wir hätten in unserem Leben nicht einmal einen Kuckuck oder einen Wiedehopf gesehen (es sei denn im Traum). Vielleicht hat es mit der Sehnsucht zu tun. Sehnsucht nach etwas, wie es sein sollte, aber nicht ist.“1

Immer dann, wenn ich in den vergangenen Jahren vom Projekt einer vertieften theologischen Auseinandersetzung mit Fragen der Naturerfahrung berichtete, horchten meine Gesprächspartner auf. Ich traf sie an der Universität, in Kirchengemeinden und auf Wanderungen, besonders im Frühjahr und Herbst. Niemanden ließ das Thema unberührt, aber kaum jemand konnte sich vorstellen, entweder über Erfahrungen nachzudenken, die sich scheinbar von selbst verstanden oder viel weniger zum Reflektieren als vielmehr zum Handeln zwangen. Über Natur nachdenken, das scheint den meisten Menschen im Zeitalter lebensbedrohender Naturzerstörung ganz sicher sinnvoll. Oft genug bemerkte ich, wie existentiell viele Eindrücke und Erlebnisse waren, die von diesem Wandel erzählten: Ein überfahrener Hund, mitten auf der Straße vor dem Haus; ein ganzer Sommer ohne Rotkehlchen im Garten; eine verbaute Fernsicht, am Ende einer Häusersiedlung; aber auch das Glück, einmal, auf einer Wanderung, einen Neuntöter gehört zu haben oder der Blick auf das Meer, im Sommerurlaub, an genau der Stelle, die schon im letzten Jahr so berückend schön gewesen war. Überhaupt, die Schönheit und ihre Schutzbedürftigkeit: Immer wieder gaben mir Gesprächspartner Beispiele für diese Schönheit einer Pflanze, eines Blicks oder eines Dufts. Und oft genug bemerkte ich, wie wenig diese Euphorie, diese Dankbarkeit und Demut mit dem zu tun hatte, was das Leben meiner Gesprächspartner sonst bestimmte. Nüchtern, technisch beschlagen, in einer Welt ohne Wunder und Magie lebend und doch oder gerade deshalb voller Empathie und Begeisterung für den Ehrenpreis, die unerkannte Gartenblume, wie Andreas Maier und Christine Büchner in ihrer eingangs zitierten, ebenso hellsichtigen wie herausfordernden Naturkunde treffend beschreiben. Welche Sehnsucht treibt uns, wenn wir anfangen, über Natur nachzudenken? Kann man darüber überhaupt sprechen und schreiben? Die Grenzen zur Sprachlosigkeit und das Geheimnis dieses Jenseits unserer Erfahrungswelten, das treibt das Nachdenken über Natur an und markiert zu1 Maier/Büchner, Bullau, 24 f.

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Einführung

gleich die Schwierigkeiten damit. Der evangelische Theologe Christian Link hat es zugespitzt so formuliert: „Wer wollte bestreiten, dass die Natur transzendent ist auf ein uns entzogenes Geheimnis, dass sie, wie wir zu sagen pflegen, über sich selbst hinausweist auf etwas, das nicht Natur ist und doch in jedem einzelnen in ihr zur Erscheinung kommt?“2

All das hat auch mein eigenes Nachdenken bewegt: Immer wieder traf ich auf Menschen, die ihren morgendlichen Spazierweg, ihren Meeresblick im Urlaub, das Rotkelchen im Garten oder den Tau des frühen Sommermorgens liebten und dabei auf eine Weise Religion und Glaube ins Gespräch brachten, die mir Unbehagen bereitete, weil ich sie nicht verstand, weil sie sich anderer „Vokabeln“ bedienten und alles das auf mich manches Mal wie ein „Transzendenzschub“3 wirkte, wie etwas, was aus dem Mond gefallen ist, da ist und wieder vergeht. Hat Natur überhaupt etwas mit dem zu tun, was evangelische Theologie unter der Chiffre Religion verhandelt? Oder bedarf es einfach besonderer Fähigkeiten, auf einem Spaziergang durch den Wald mehr zu sehen als die zweifelhaften Segnungen der Holzwirtschaft, die Sorge um den Borkenkäfer und die Frage nach der Zukunft der heimischen Holzwirtschaft? Geht es um diesen besonderen Blick, den man geschenkt bekommt oder zumindest einüben kann? Ist die Erde wirklich voller Himmel, wie einst die viktorianische Dichterin Elisabeth Barrett Browning beschwor4 – oder doch nur dunkle Materie, ohne Geheimnis, ohne Sinn, ohne Hinweise auf andere Erfahrungswelten? Es wird wohl am Ende so sein, wie es bereits der Philosoph Blaise Pascal formulierte: „Die Natur bietet mir nichts, das nicht Anlass zu Zweifel und Unruhe wäre. Wenn ich nichts in ihr sähe, das auf einen Gott hinweist, würde ich mich für eine Leugnung entscheiden. Wenn ich überall nur die Spuren des Schöpfers sähe, würde ich freudig im Glauben ruhen. Da ich aber zu viel sehe, um zu leugnen, und zu wenig, um sicher zu sein, bin ich in einem beklagenswerten Zustand.“5

Zu viel sehen, um zu leugnen, zu wenig um sicher zu sein. Dies ist, wenn man so will, ein moderntypischer Befund, nur eben mit dem Unterschied zu Pascal und Barrett-Browning und den Menschen ihrer Jahrhunderte, dass unsere Zeit mit dieser existenziellen Unsicherheit zu leben versucht. Eine Naturstudie in praktisch-theologischer Absicht leistet also einen großen Beitrag, wenn es gelingt, diese Ambivalenz der Wahrnehmung zu präzisieren, sie in der Le2 Link, Transparenz, 172. 3 Maier/Büchner, Bullau, 7. 4 „Earth’s crammed with heaven, / And every common bush afire with God: / But only he who sees, takes off his shoes, / The rest sit round it, and pluck blackberries, / And daub their natural faces unaware / More and more, from the first similitude“ (Browning, Works, 820). 5 Pascal, Gedanken, Fr. 229.

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Einführung

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bensweltdiskussion zu verankern und schließlich anschlussfähig für praktisch-theologische Diskurse zu machen. Jene anfänglichen Fragen wie nach dem Ehrenpreis, dem Blick auf die untergehende Sonne oder der eigenen Sprachlosigkeit werden die vorliegende Studie begleiten, auch wenn sie nicht immer sichtbar an der Oberfläche der Analyse zu finden sein werden. Aber ohne sie geht es nicht. – Schnell verliert man sich im Rahmen einer universitären Beschäftigung mit dem, was einfach ist, und ist verstrickt in das, was sein sollte. Meine Beschäftigung mit Natur will ganz bewusst keine mystische Schau sein, sondern natürlich Wissenschaft. Aber eben theologische Wissenschaft. Man mag also versuchen anzunehmen, wie sich während der Lektüre der Studie der eigene Blick auf das, was uns als Natur erscheint, wieder und wieder konkretisiert.

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Kapitel 1 Auf dem Weg zu einer Praktischen Theologie der Naturerfahrung 1. Schlaglichter gegenwärtiger Naturerfahrungen Sicherlich gilt die ökologische Krise als Kernthema und Motor gesellschaftlichen Wandels und bestimmt seit Jahrzehnten, zumindest in Deutschland, politische Debatten und gesellschaftliche Verständigungen über Natur. Aber auch jenseits von Energiewende, Klimawandel und Umweltzerstörung gibt es Naturerfahrungen, die sich in den letzten Jahren stark gewandelt haben und ein vertieftes Verständnis von Natur freilegen. Es sind solche, die Grenzen der Wahrnehmung verschieben, klare Verhältnisse unterlaufen, neue Orte der Begegnung schaffen. Schlaglichtartig geht es zuerst um virtuelle Erfahrungswelten, die mit der Digitalisierung des Alltags einhergehen, dann um die „Verschiebung“ von Naturräumen in der öffentlichen Wahrnehmung und schließlich um eine verstärkte Hinwendung der kirchlichen Angebote zu religiösen Naturerfahrungen.

1.1 Virtuelle Erfahrungswelten Die technische Weiterentwicklung der Personal Computer hat seit den 1970er Jahren den Alltag der Menschen in Amerika und Europa nachhaltig verändert. Das Internet hat zu einer digitalen Revolution geführt. Auch wenn Computer, Internet und digitale soziale Netzwerke zunehmend alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdringen und neue ethische wie auch ästhetische Fragen aufwerfen, die bis vor wenigen Jahren noch undenkbar erschienen, so ist doch am erstaunlichsten, wie sehr diese technischen Möglichkeiten längst auch den Alltag durchdringen. Die User pendeln dabei zwischen Options-Euphorie und „Alphabetisierungsschock des Digitalen“6. Ein Beispiel: Jeder Urlaub, ob zur Erholung am Meer oder zum Wandern gedacht, beginnt und endet heute am Computer. Die Auswahl einer Ferienregion und die Suche nach einem geeigneten Quartier setzen mit dem Blick von oben ein, bei Google Earth.7 Der potentielle Urlaubsgast verschafft sich 6 Burckhard, Ästhetik, N3. 7 Zu den Auswirkungen von Google Earth auf eine Kultur der Wahrnehmung vgl. Krämer, Welt, 422 – 434.

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Schlaglichter gegenwärtiger Naturerfahrungen

einen Überblick über Entfernungen zwischen Ferienhaus und Strand, zoomt in verschiedenen Maßstäben durch das Gebiet, das ihm später als Naturraum intensive Erfahrungen ermöglichen soll. Webcams zeigen in Echtzeit den aktuellen Blick und das Wetter, Fotos belegen wahlweise Schönheit oder Hässlichkeit eines Blicks oder einer Sehenswürdigkeit. Der Computer hilft, sich in der unbekannten Welt zu orientieren und führt zu der eigenwilligen Erfahrung, vor Ort die Eindrücke des Naturraums mit der virtuellen Welt auf der Oberfläche des Computerbildschirms abzugleichen. Und nach dem Urlaub werden die Fotos in sozialen Netzwerken hochgeladen und werden Teil des weltweiten Datenstroms. Die technischen Möglichkeiten sind dabei längst so fortgeschritten, dass die Grenzen zwischen virtueller und physischer Realität verschwimmen; man denke an die großen technischen Fortschritte bei Computerspielen.8 Neben dem Eindringen virtueller Erfahrungswelten, sind es dabei zunehmend die Schnittstellen zwischen Virtualität und physischer Realität, die Alltagserfahrungen bestimmen. Wie sehr sich damit Lern- und Lebenswelten im Hinblick auf Naturerfahrung verändern, hat vor allem die Pädagogik und vereinzelt auch die Religionspädagogik9 in den letzten Jahren zum Thema gemacht. Einer Computisierung der Schulen steht längst eine zunehmende Skepsis gegenüber diesen virtuellen Lernräumen gegenüber10 – gerade vor dem Hintergrund schrumpfender Naturräume, die Kindern für ihr Spiel überhaupt noch zur Verfügung stehen. Das hat Folgen. Im „Jugendreport Natur 2010“ wurde das Naturwissen von Kindern und Jugendlichen nachgefragt.11 Der Natursoziologe Brämer stellt angesichts der Ergebnisse pointiert fest: „Das Wissen junger Menschen über alltägliche Naturerscheinungen ist in hohem Maße lücken- und fehlerhaft. Ihr Interesse an natürlichen Zusammenhängen nimmt kontinuierlich ab. Ihr Bedarf an Naturnähe und Natürlichkeit fällt deutlich schwächer aus als bei Erwachsenen. Vielen erscheint alles, was mit Natur zu tun hat, einfach langweilig. […] Explizit darauf angesprochen, messen Jugendliche der Natur jedoch 8 Die virtuelle Realität in Computerspielen, aber auch die intensive Nutzung des Internets wird in kulturwissenschaftlichen Reflexionsprozessen gerne mit dem Verweis auf theologische Sprachspiele geführt. Chiffren wie „Ubiquität“, „Reinheit“ oder „Schöpfer/Geschöpf“ haben in den letzten Jahren verstärkt in die Debatten um Virtualität Einzug gehalten, vgl. dazu bereits Böhme, Theologie, 237 – 249. 9 Vogt, Natur, 277 – 286 oder Wolff, Natur, 33 – 36. 10 Als wichtigster Vordenker dieser „Vom Computer zurück zur Natur“-Bewegung gilt nach wie vor Richard Louvs, auf den die pointierte Formulierung „nature-deficit-disorder“ als pathologischem Syndrom unserer Kultur zurückgeht, vgl. besonders ders., Kind, vgl. hierzu auch Weber, Matsch. 11 Hierzu wurden 3032 Kinder und Jugendliche der Sekundarstufe 1 in sechs Bundesländern zwischen Februar und Mai 2010 in insgesamt 42 Schulen und 138 Klassen befragt, vgl. Deutscher Jagdschutz-Verband, Jugendreport, 18. Die Fragebögen lassen sich unter http://wanderfor schung.de/files/dreifachfragebogen091268153426.pdf nachlesen. (eingesehen am 28. 08. 2011)

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Wandernde Naturräume

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einen hohen Wert zu. Sie erscheint ihnen außerordentlich wichtig, gut, schön und harmonisch, aber auch verletzlich, bedroht und hilfsbedürftig. Daraus resultiert die nachdrückliche Aufforderung, sie zu schützen, sauber zu halten und nicht zu stören, sondern ihr zu helfen. […] Das Jagen von Tieren und das Fällen von Bäumen schaden aus jugendlicher Sicht der Natur.“12

1.2 Wandernde Naturräume Unter dem Schlagwort der „versiegelten Fläche“ wird zunehmend bewusster, dass die Ausweitung von städtischem Bauen, aber auch die Zersiedelung des ländlichen Raumes zu einem prozentualen Verlust der „natürlichen“ Fläche führt.13 Erst in den letzten Jahren hat man versucht, diesem Trend etwa durch die Ausweisung von Ausgleichsflächen, die Neuberechnung von Abwassergebühren oder die weiterhin anhaltende Zahlung von Ausgleichsmitteln für die Landwirtschaft als Natur- und Landschaftspflegerin entgegenzu- wirken.14 Wichtiger als dieser Trend ist aber nicht der Verlust von nicht wirtschaftlich genutzten Naturräumen, sondern ihre Transformation. Dort, wo man typische Naturräume verortet, werden sie oftmals zerstört oder sind längst überformt, dort aber, wo wir sie nicht vermuten, entstehen sie in ungeahnter Weise neu. Das wirkt paradox. Überall dort also, wo wir Natur in ihrer reinen, erhabenen Form verorten, ist diese faktisch längst einer kulturell, ökonomisch und politischen Überformung gewichen, oder präziser gesprochen, das, was an Sehnsuchtsgesten unserer Kultur über Naturräume eingeschrieben worden ist, existiert längst nicht mehr.15 Das zeigt sich besonders deutlich am Wald. Gerade in der Tradition der Romantik wurde dieser exemplarische Ort von Naturerfahrung zum Spiegel deutscher Seelenzustände und gilt bis heute als gern genutztes Naherholungsgebiet. Freilich ist der „deutsche Wald“ nichts weniger als Wildnis, sondern vielmehr Forst, also Wirtschaftsraum. Er wird genutzt, geordnet, wird kontrolliert und soll Gewinn abwerfen. Er spiegelt gegenwärtig 12 Diese Mischung aus Unkenntnis und emotionaler Fehlleitung in der Wahrnehmung von Natur hat Brämer an anderer Stelle bereits früher als „Bambisyndrom“ beschrieben. Vgl. ders., Natur obskur, 166 ff. 13 Die sog. Siedlungs- und Verkehrsfläche (= SuV) erstreckte sich 2003 in Deutschland auf ca. 4,5 Millionen Hektar, was knapp 13 Prozent der Gesamtfläche des Landes entspricht. Der Umfang der SuV nimmt bis heute kontinuierlich zu, freilich hat die Wahrnehmung des Klimawandels zu einer politisch beschlossenen Nachhaltigkeitsstrategie geführt, die den „Flächenfraß“ eindämmen will und eine Neuversiegelung von gegenwärtig 120 ha/Tag auf 30 ha/Tag im Jahr 2020 eindämmen will, vgl. http://www.bundesumweltamt/rup/flaechen/index.htm. (eingesehen am 12. 07. 2011) 14 Vgl. besonders die Neufassung des Bundesnaturschutzgesetzes von 2009 und dort die „EingriffsAusgleichs-Regelung“ in §§ 15 – 16 BNatSchG. 15 Bekanntlich entstand eine erste Waldkrise am Ausgang des Mittelalters, weil der ursprüngliche Waldanteil in Deutschland infolge von Brandrodung fast völlig zerstört worden war. Der Wald des 19. Jahrhunderts war das Resultat von gezielten Aufforstungsmaßnahmen, vgl. Küster, Geschichte, 185ff, vgl. ferner Arens, Wald.

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Schlaglichter gegenwärtiger Naturerfahrungen

nicht mehr Unbehaustsein und Geheimnis, sondern ist „waldgewordenes abendländisches Kalkül“16. Weitere Beispiele wie die Überformung der Meeresküstengebiete durch Ferienhaussiedlungen ließen sich wohl mühelos anfügen. Freilich gibt es auch gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Zum Lebensgefühl des Urbanen gehört seit wenigen Jahren nicht nur die trendgemäße Flucht aufs Land, sondern zunehmend auch die Rückgewinnung des Naturraumes inmitten des großstädtischen Lebens selbst. Dies gilt gleichsam als subversiver Akt; man denke an das beliebte „Guerilla Gardening“, also den Versuch, öffentliche Kleinräume durch gezielte Pflanzung oder das unerkannte Einsäen in Beete, Gärten oder Grünflächen inmitten der Stadt zu verwandeln.17 Daneben gibt es zunehmend von den Kommunen geduldete, gemeinschaftlich genutzte Grün- und Gartenflächen in unmittelbarer Umgebung der Wohnquartiere.18 Dabei entstehen auch Gemeinschaftsgärten als politisches Projekt der Stadtteilentwicklung.19

1.3 Kirche entdeckt „Natur“ Die Kirche verlagert ihre Gottesdienste ins Freie. Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man deutschlandweit den unübersehbaren Trend feststellt, Gottesdienste und vor allem Kasualhandlungen unter freiem Himmel, im Wald, auf Bergen, am Strand, auf Seebrücken und auf See zu feiern.20 Natürlich sind viele gottesdienstliche Formen dieser Art dieses kirchlichen Handelns seit vielen Jahrzehnten aus pragmatischen Zwängen heraus entstanden oder speisen sich aus deutschnationalem Gedankengut der dreißiger Jahre, wie die in einigen Gebieten Deutschlands beliebte Waldweihnacht.21 Mittlerweile haben aber mehrere Landeskirchen umfangreiche Arbeitshilfen herausgebracht22 und erstellen Saisonpläne, die es ermöglichen, an wechselnden Orten

Riechelmann, Bäume, 23. Vgl. auch Rohls, Harfe, 27 f. Vgl. die Programmschrift Reynolds, Guerrilla. Vgl. Hasel, Grün, 25. Baier, Landwirtschaft, 173 ff. Vgl. z. B. epd, Urlauberseelsorge, 4. Beispielhaft für Berggottesdienste kann gelten Henner/ Leuthold/Schiefermair, Berggottesdienst, 284 ff. Von einer Zunahme dieser Kasualpraxis bei Ufertaufen berichtet – pars pro toto – Juhl, Taufe, 5. 21 Hier versammelt sich die Gottesdienstgemeinde am Waldeingang, geht gemeinsam, schweigend und Lieder singend zu einer Stelle im Wald; dort wird ein Baum besonders geschmückt; oft lesen Konfirmandinnen und Konfirmanden dann die Weihnachtsgeschichte vor, es folgen Lieder und eine Ansprache, schließlich geht es schweigend zurück. Frühe überlieferte Formen gehen auf die 1920er Jahre zurück, vgl. besonders Böhmer, Waldweihnacht. 22 Als beispielhaft gilt nach wie vor Steinbauer, Kirche (2000), vgl. ferner Domay, Sommergottesdienste.

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Kirche entdeckt „Natur“

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Sonntag für Sonntag einen Gottesdienst im Freien zu besuchen.23 Verfolgt man die historische Entwicklung dieser Angebote, so dürfte evident sein, dass neben einem seit den 1970er Jahren erwachten ökologischen Interesse zunächst allerdings etwas anderes im Vorgrund stand: die missionarische Ausrichtung auf die Bedürfnislage jener potentiellen Gottesdienstbesucher, die man im Sinne Ernst Langes24 dort aufsuchen wollte, wo sie sich am Sonntag aufhielten: auf Campingplätzen, im Wald oder beim Wandern. Der Gottesdienst im Grünen wird also zu recht auch als „Gottesdienst im Ortsgeschehen“25 bezeichnet. Ein weiteres Beispiel für diesen Trend ist das Engagement der Kirchen auf Bundes- und Landesgartenschauen. Auf der BUGA 2003 in Rostock präsentierten sich alle norddeutschen Landeskirchen und Bistümer in einer bis dahin einmaligen Aktion. Monate vor Ausstellungsbeginn wurden mehrere Hundert Weiden auf einem Areal so eingepflanzt, das sie den Grundriss einer Kirche bildeten.26 Die gegenüberstehenden biegsamen Weiden wurden verbunden und prägen bis heute das Bild eines sog. Weidendoms. Dieser natürliche Kirchenraum ist Anlass für zahlreiche Veranstaltungen, wie etwa Taufen und andere Gottesdienste.27 Daneben blühen auch solche Formen neuer Naturerfahrungen auf, die von den Kirchen bewusst unterstützt werden28, sich neben offizieller kirchlicher Praxis entwickeln29 oder gar den Widerspruch kirchlicher Institutionen auslösen, wie der Streit um die Friedwälder belegt.30

23 Allein in der Evangelischen Kirche in Württemberg finden pro Saison ca. tausend Freiluftgottesdienste statt, vgl. dazu den Flyer Amt, Gottesdienste. 24 Impliziert ist Langes anfängliche Idee einer Ladenkirche am Brunsbütteler Damm in BerlinSpandau, die in den 1960er Jahren zum inspirierenden Motor für eine Ausweitung der Gottesdienstorte wurde, vgl. Schneider, Experimentierfeld, 18. 25 Vgl. Der Gottesdienst als geistliche Mitte der Gemeinde, zit. nach http:// www.ekhn.de/inhalt/ download/synode/08/visitationsbericht.pdf (eingesehen am 02. 10. 2011). 26 Dieses und weitere vergleichbare kirchlich genutzte Bauwerke sind in der Regel von dem Architektenteam um Marcel Kalberer geplant worden, über aktuelle Projekte informiert die Internetseite http://www.sanftestrukturen.de, die Idee einer sozial-ökologischen Gesellschaft, die hinter diesen Bauwerken steht, findet sich vor allem in ders./Remann, Kathedralen. 27 Vgl. dazu auch die Internetseite http://www.weidendom.de. 28 Elementare Erfahrungen mit der Passions- und Ostertradition versuchen etwa Naturinstallationen zu vermitteln, die die einzelnen Stationen des Kreuzweges abschreiten und Ostergeschichten bebildern, vgl. Orth, Naturnah, 168. 29 Vgl. z. B. die neue Verbindung von Bewegung, Meditation und Gruppenerfahrung, dazu: Dittmar/Dittmar, Wanderungen, 7 ff. 30 Bei den Friedwäldern handelt es sich um ausgewiesene Waldareale, in denen die Asche von Verstorbenen in biologisch abbaubaren Urnen im Wurzelbereich von Bäumen bestattet wird. In Deutschland existieren gegenwärtig ca. 100 solche Friedwälder. Diese neue Bestattungsform existierte zuerst in der Schweiz und hat sich seit 2000 in ganz Deutschland verbreitet. Thomas Klie hat die Friedwaldbestattung überzeugend als „naturreligiös-ökologische“ Alternative zur Erdbestattung auf dem Friedhof gedeutet (ders., Bestattungskultur, 414). Freilich spielt auch der pragmatische Grund einer wegfallenden Grabpflege eine große Rolle. Einen Überblick über die

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Das Unbehagen über die Rede von Natur

2. Das Unbehagen über die Rede von Natur – Begriff und Empirie Die Suche nach einer sachgerechten Definition von Natur durchzieht die Geschichte abendländischer Kultur und drückt nachhaltig das Bedürfnis nach einer Grundorientierung an einem verlässlichen Standpunkt über Begriff und Sache von Natur aus. Dieses Bedürfnis hängt zum einen mit dem Eindruck zusammen, unter dem der Mensch sich inmitten von Natur wiederfindet, zugleich aber ist es auch das Bedürfnis, sich als Mensch inmitten eines Raums voller Sinneserfahrungen und Sinnzuschreibungen distanzierend, weil begrifflich bestimmend, zu bewegen. Der Mensch bewegt sich in und mit der Natur zwischen Selbstverständlichem und Unsagbarem, zwischen Urvertrautem und zutiefst Fremdem. Durchgehende Unterscheidungen werden zwischen der „stofflichen“ Natur und der Natur des Menschen getroffen. Natur, das ist, einem Alltagswissen entsprechend, „die grüne Welt, die man vor dem Fenster hat oder dort vermisst“31, aber auch das, was den Menschen als Wesen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet. Was Natur umfasst, ist schillernd. Sie begegnet als präsentisch und essentialistisch gedachtes Wesen eines Phänomens, zugleich aber auch als untergründige Dynamik, welche die Welt oder individuelle Schicksale steuert, sie materialisiert sich in der gesamten Welt und ist das unabhängig vom Menschen Entstandene. Der Begriff „Natur“ (physis/natura) ist bereits in der antiken Philosophie anzutreffen und bezeichnet dort, besonders bei Aristoteles, dasjenige, das als Seiendes im Unterschied zur Kultur nicht gemacht ist.32 Aber kann etwas, was „alles“ ist, etwas begrifflich fassen, das von ihm unterschieden ist? Kann der Mensch etwas denken, dem er entstammt und zugehörig ist und doch sich von ihm abgrenzen? Die Verlegenheit, diesen Totalbegriff Natur näher und in modernen Begriffswelten zu bestimmen, wird traditionell über die Abgrenzung, also ex negativo, von Gegensatzbegriffen her geführt. Natur ist nicht Kultur, Natur ist nicht Technik. Zu Recht wird gegenwärtig darauf verwiesen, dass es sich fast immer um Aporien des Denkens handelt, weil sie in der Regel untrennbar mit den kulturellen Denk- und Sprachmustern ihrer Zeit „verknotet“ sind und zudem die erkenntniskritisch so bedeutsamen Fugen, die zwischen den benutzten Begriffsordnungen liegen, geradezu ausklammern. Man denke nur an die Gegenüberstellung von „natürlich“ und „verderbt“ oder die Unterscheidung von Ursprünglichkeit und Zivilisiertheit.33 Aber was bleibt an Definitionsperspektiven, wenn die Figur der Entgegensetzung nicht tragen kann? Argumentationslage gibt Sörries, Natur, 222ff, vgl. ferner Vierling-Ihrig, Herausforderung, 591 – 592.599 – 602. 31 Meyer-Abich, Natur, 98. 32 Vgl. Aristoteles, Physik II 1.6. 33 Kritisch äußert sich hierzu G. Böhme, Natur , 24 ff.

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Schlaglichter der Tradition

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Apodiktisch, aber durchaus zutreffend, stellt Hartmut Böhme dazu fest: „Natur kann aus systematischen Gründen nicht begrifflich definiert werden.“34 Wenn freilich die so angelegten Begriffsbestimmungen von Natur scheitern, weil es keine verlässliche „Nicht-Natur“ gibt, keine objektive Wirklichkeit, auf die zu rekurrieren wäre, so wird auch das Reden über Natur zum Problem.35 Wie ist überhaupt angemessen über das zu sprechen, was urvertraut und zugleich oft fremd ist, zutiefst sinnfällig und doch oft genug den Sinnen entzogen? Der Natursoziologe Rainer Brämer kommt folgerichtig nach Durchsicht unterschiedlichster lexikalischer Naturdefinitionsversuche zu dem Ergebnis, es sei überraschend, dass ein „in der Öffentlichkeit, in der Wissenschaft und im Alltag so zentraler Begriff […] in der Luft hängt“36. Brämer folgert daraus, in dieser Lage sei es zumindest aus natursoziologischer Perspektive heraus angemessen, definitorische Annäherungen über einen empirischen Zugang zu erlangen.37 Durchgesetzt hat sich daher die Rede von der historischen Wandelbarkeit von Naturerfahrungen und damit einer Auffassung, die nicht von der Natur an sich spricht, sondern von bewusst formulierten oder unbewusst vollzogenen Naturkonzepten, gleichsam, „Verständigungsformen“38 über das, was Natur sein kann. So sind naturräumliche Erfahrungen der Gegenwart als Signatur und als Produkt sich historisch wandelnder Prozesse zu sehen, die keinen definitorischen Standpunkt repräsentieren, wohl aber in die Vielfalt gegenwärtiger Formen und Strömungen einführen.

3. Schlaglichter der Tradition: Naturerfahrung und Religion im historischen Wandel Nicht Natur an sich gerät also in den Blick; stattdessen wird Natur in ihren Kontexten als das Woraufhin eines wahrnehmenden Subjekts verstanden.39 Diese, seit Kants Kritik der Urteilskraft prägende Perspektive einer Ästhetik H. Böhme, Natürlich/Natur, 432. Ebd., 437. Brämer, Natur paradox, 2. Ebd., 3. Brämer greift in seiner Arbeit auf Studien der letzten Jahre zurück, in denen nach dem Naturbild der Deutschen mit wechselnden Fokussierungen gefragt wurde. Neben den repräsentativen Erhebungen „Umweltbewusstsein in Deutschland“ des Bundesministeriums für Umwelt, Befragungen zu Waldbild und Waldnutzung sowie diversen Einzelstudien nutzt Brämer vor allem jene Studien, an deren Erstellung er selbst mitgewirkt hat. Vgl. hierzu insgesamt Brämer, Natur subjektiv, 2. Am eindrücklichsten hat sich dies in den Studien „Jugendreport Natur“ (dazu http://www.natursoziologie.de) seit 1997 niedergeschlagen. 38 Vgl. H. Böhme, Natürlich/Natur, 433. 39 Dass diese historische Wandelbarkeit von Naturerfahrungen eng mit sich verändernden religiösen Erfahrungsmustern zusammenhängt, hat als erster Joachim Ritter erhellt, vgl. Ritter, Landschaft, 28 ff.

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Schlaglichter der Tradition

der Natur unterstreicht bereits den relativen und vor allem historisch wandelbaren Charakter jeder Naturerfahrung.40 Besonders gut lässt sich der historische Wandel jener Naturkonzepte an dem spannungsvollen Verhältnis von Natur und Religion beschreiben. Solange den Menschen früherer Kulturepochen ein durchgehend magisch-mythisches Verhältnis zur Welt eigen war, galten Natur und Religion so sehr miteinander verwoben, dass beides weder zu trennen noch eine selbstdistanzierende Kommunikation über Natur möglich war. In den Begegnungsformen zwischen Mensch und Natur dominierten die anthropomorphe Rede und die Angst vor der Macht der Natur, der der Mensch mit magischen Praktiken begegnete.41 Nun hat Ernst Oldenmeyer in seinem instruktiven „Entwurf einer Typologie des menschlichen Verhältnisses zur Natur“42 gezeigt, wie sehr sich historisch wandelnde Naturverständnisse als eine „Phänomenologie der Konstitution“43 von Naturwahrnehmung dem Menschen dauerhaft in Erfahrungen von Natur eingeschrieben sind. Oldenmeyer benennt in seiner Typologie weiterhin ein bereits für den europäischen Kulturkreis vorsokratisch formuliertes biomorph-ganzheitliches Denken, das die Natur mit dem Kosmos identifiziert und eine breite, spätere Rezeption im Pantheismus Spinozas und Goethes erfahren hat.44 Davon unterscheidet er die Vorstellung von Natur als „Gegenstand und GegenBegriff“45. Diese Natur, im Sinne der von Oldenmeyer skizzierten Begegnungsformen mit Natur, das „Es“, tritt dem Menschen gegenüber. Natur wird damit einer grundlegenden auch religiösen Transformation unterzogen, weil nun, man denke außerhalb des biblischen Weltbildes an die griechischen Philosophen Laukipp und Demokrit, eine „Profanisierung“ von Natur Einzug hält. Natur bleibt nicht länger eine diffuse Macht, sondern wird Gegenstand „meiner“ Erfahrung46 und späterhin Ressource meines Handelns. Die damit einher gehende Entmythologisierung und Verzweckung von Natur blieb freilich bereits im 19. Jahrhundert nicht folgenlos. Die Suche nach einem seelenvollen „Du“, so Oldenmeyer47, trieb die Romantik zu einer systematischen Ästhetisierung von Natur, die ebenfalls bis heute virulent ist. In allen kulturellen Spielarten von Natur ist ersichtlich, dass eine intensive Interdependenz zu Fragen von Religion erkennbar ist. Freilich ist bereits hier festzuhalten, dass ein so verankerter Naturbegriff die Theologie zu erhöhter Verständigungsbereitschaft zwingt, weil sich der heute eingeführte Naturbegriff ganz wesentlich als Abgrenzung zu einer Wahrnehmung der Welt als Vgl. Böhme/Böhme, Vernunft, 215 ff. Vgl. noch immer Eliade, Heilige, 13. Großklaus/Oldemeyer, Natur, 16 – 42. Ebd., 16. Aus der Fülle der Literatur sei auf folgende Literatur verwiesen: Ellsiepen, Immanenz, 3ff, Levine, Pantheism. 45 Großklaus/Oldemeyer (Hg.), Natur, 24. 46 Kant, Prolegomena, 173 ff. 47 Großklaus/Oldemeyer (Hg.), Natur, 33 ff.

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Biblische Kontexte

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Gottes Schöpfung versteht.48 Das wird zum einen in der Verständigung über biblische Texte zum Thema deutlich, dann aber auch im historischen Rückgriff auf zwei besonders prägende Denkmodelle der Theologiegeschichte, die Rede vom „Buch der Natur“ und die Chiffre der „natürlichen Theologie“.

3.1 Biblische Kontexte Folgendes lässt sich hier beobachten: Eine Gegenüberstellung zwischen einem naturwissenschaftlich verankerten, modernen Weltbild und einem naiv-voraufklärerischen biblischen Weltbild49 ist sicher zu kurz gegriffen. Natürlich lässt sich eine Vielzahl biblischer Texte, besonders des Alten Testaments, dem Oldenmeyerschen Modell kulturspezifischer Naturerfahrungen der Vormoderne zuordnen. So ist die Schaffung von Himmel und Erde eine Fähigkeit des biblischen Weltzugangs, die zu einer Profanisierung von Natur ganz allgemein führte. Darüber hinaus erfährt der biblische Mensch in seiner Welt fremde und todbringende Mächte, denen er mit der Hilfe Gottes zu entkommen versucht.50 Das Spezifische des biblischen Naturverständnisses ist aber erst an anderer Stelle zu erkennen. Es ist eine besondere Verbindung von Weltdeutung und Weltwahrnehmung, die noch einmal quer zu modernen Naturkonzepten und den ihnen zugrunde liegenden Wahrnehmungsmustern liegt. Das hat zu allererst mit den besonderen Lebens- und damit auch Erkenntnisbedingungen zu tun, die das biblische Weltbild prägen. Helga Weippert hat darauf hingewiesen, dass es den alttestamentlichen Texten und ihren Autoren nicht um eine Gesamtschau von Welt geht oder gar um ein Modell, dass im Sinne neuzeitlichen Denkens die Grenzen des Denkbaren auslotet, sondern dass sie vielmehr von den Erfahrungen Israels berichten und dabei die Welt als von Menschen bewohnten Raum wahrnehmen.51 Das Leben der Menschen ringt mit dem täglichen Überleben inmitten kleinteiliger Landschaftsformationen, in denen der Mensch kultiviertes und fruchtbares Land von unbewohnbaren Regionen wie der Wüste abgrenzt. In dieser Welt besteht ein ständiger Kontakt mit anderen Geschöpfen, mit 48 Vgl. Harrington, Natur, 98. Harrington spricht folgerichtig zum einen von der „Mehrdeutigkeit der gegenwärtigen Konzeptionen von Natur“ (ebd., 98), formuliert aber ebenso unmissverständlich: „Anfang des 20. Jahrhunderts war die wissenschaftliche Sicht der Natur vollständig säkularisiert und losgelöst von den Belangen der Religion. Tendenzen, die Natur als Offenbarung transzendenter Prinzipien zu betrachten, wurden von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als rückständig und ignorant abgetan“ (ebd., 97). 49 Die Verwendung des Begriffs „Biblisches Weltbild“ wird hier im Anschluss an Hartmut Gese als „Zusammenfassung aller gegenständlichen Anschauung von der Welt“ (vgl. Gese, Frage, 206) verstanden. 50 Vgl. Hiob 36 – 37. 51 Weippert, Welterfahrung, 19 ff. Vgl. auch Riede, Zeder, 1 ff. Zu der lebensweltlichen Dimension des Tierkontakts vgl. ders., Spiegel, 213 ff.

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Schlaglichter der Tradition

Menschen, Tieren und Pflanzen. Daraus resultiert dann auch ein besonderes Grundverständnis von Natur: „Die Menschen (mussten) ein anderes Verhältnis zu der sie umgebenden Umwelt entwickeln, mussten Ihresgleichen, Tieren, Pflanzen und Dingen anders begegnen, als wir es gewohnt sind […] Unablässig brachte die Erde Unkraut und dorniges Gestrüpp hervor, das immer wieder beseitigt werden musste. […] Die Grenze zwischen Natur und Kultur verlief noch anders. Es gab nicht die Sehnsucht nach dem letzten kleinen Fleckchen Erde, das von der Kultur noch nicht berührt worden war, wohl aber den großen Traum von der geordneten, dem Menschen nicht mehr widerspenstigen, sondern untertanen Welt.“52

Die biblischen Schöpfungstheologien, die im gesamtbiblischen Traditionszusammenhang eine beachtliche Bandbreite aufweisen53 eint aber nun die untrennbare Verbindung zwischen Lebensweltbezug in Natur und ihrem je eigenen Deutungsgeschehen.54 Eine Natur als reines Objekt des ErkennenWollens ist der ganzen Bibel fremd. Diese Eigenart gilt es festzuhalten: „Die Sinnlichkeit verleiht dem altorientalisch-biblischen Kosmos seine Einheit, seine Anschaulichkeit und intuitive Evidenz. Dass dieses Weltbild darin zudem eine Sublimation lebensweltlicher Erfahrung […] darstellt, verleiht ihm seine hermeneutische Relevanz und Stärke.“55

Ganz grundsätzlich gilt für die biblischen Erfahrungsräume, dass in ihnen Bedrohung und Tod (Gewitter, Flut, Erdbeben, gefährliche Tiere, Dämonen) als tiefgreifende „kosmische“ Unordnung, ja als Chaos56 gedeutet werden, wie etwa in der Sintflutgeschichte in Gen 6 – 8, Jes 51,9 – 10 oder Ps 77,17 – 20. Hier steht eine Auseinandersetzung mit dem Götterpantheon der altorientalischen Umwelt im Hintergrund, welche z. B. den Glauben an den babylonisch-assyrische Wettergott Adad tradierte.57 In diese kosmische Dualität von Mächten greift der biblische Gott ebenfalls als „Wetterphänomen“58 ein, dann aber vor 52 Weippert, Welterfahrung, 17. 53 Der hier greifbare biblische Traditionsstrom beinhaltet keine Aussagen über den historischen Anfang, sondern beschreibt vielmehr ein komplexes Beziehungsgeschehen zwischen Gott und seinem Volk Israel. Dieses wird durch geschichtliche Erfahrungen des Exils, wie bei Dtjes, freilich anders akzentuiert als etwa in der priesterschriftlichen Urgeschichte, die nicht zuletzt auch der Legitimation einer kultische Ordnung diente oder einer dem Gotteslob entstammenden Sprache der Psalmen, vgl. als Überblick Keel/Schroer, Schöpfung, 37 ff. 54 Auf die weisheitliche Dimension innerhalb der biblischen Tradition macht Dafni, Theologie, 302ff aufmerksam. 55 Beuttler, Gott, 477. 56 Zum Begriff und seiner theologiegeschichtlichen Relevanz vgl. noch immer Gunkel, Schöpfung. Einen Überblick über die neuere Forschung zum Thema gibt Bauks, Chaos, 431ff als Metapher für die Gefährdung der Weltordnung. 57 Vgl. Wiggermann, Foundations, 279 ff. 58 Vgl. Ex 14,21; Hos 6,3; Am 4,7; Jer 14,12 u. weitere Belege.

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Biblische Kontexte

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allem ordnend und heilend.59 Eindrückliche Belege sind hierfür Gen 8,22 und vor allem das in Ps 104 formulierte Schöpfungslob.60 Die so auf Gott verwiesene creatio continua wird dabei durchgehend als andauernde Lebensstärkung alles Lebendigen aufgefasst, was sich vor allem in der sog. Jerusalemer Tempeltheologie zeigt.61 Hier repräsentiert der Tempel das Ganze der Schöpfung und zugleich die heilsame Ordnung Gottes. Im Kult wird so auch die bedrohende Natur beherrschbar.62 In den neutestamentlichen Texten wird dann sichtbar, dass Natur als wesenhafte Entität, als Denkgröße tatsächliche keine wirkliche Rolle spielt. Ihr am nächsten gelangt man im Sinne des „Denkraums Natur“ mit der antiken Vorstellung des Kosmos63, in den gerade im corpus johannenum und in den großen Christushymnen dann vor allem die heilsgeschichtliche Weltsicht eingewoben ist.64 Zudem ist das Interesse an Natur als Kosmos in eine ZweiÄonen-Lehre eingebettet und dient damit der Abgrenzung von paganen Philosophien des hellenistischen Kulturraums, die oft genug von einer göttlichen Durchdringung des Kosmos ausgingen.65 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang freilich Acta 17,16 ff. In der sog. Areopagrede des Paulus in Athen geht es um die Frage, ob Gott aus den Werken seiner Schöpfung erkennbar ist. Dies ist gerade im Kontext von Röm 1,18ff als Versuch zu werten, anlässlich einer Missionssituation auszuloten, welche Verbindungen es zwischen hellenistischer und jüdischer theologia naturalis geben könne.66 Dies ist eine bekanntlich weit über das Neue Testament hinausragende Dauerfrage. Wie bereits im Alten Testament ist Natur als Naturraum zu allererst mit den Lebensvollzügen der Menschen eng verbunden und ist Teil von sozialer Interaktion67, Reisetätigkeit68, dem damaligen Erwerbsleben69, Situationen von Lebensgefahr70 oder ist Folie für die Gleichnisse Jesu.71 Der eschatologische Horizont, vor dem im Neuen Testament nun die gesamte, von Gott geschaffene 59 Vgl. Grohmann, Naturmetaphorik, 121 ff. 60 Besonders in Ps 104,35a wird der Zusammenhang mit der Erfahrung von lebensbedrohendem Chaos sichtbar. 61 Die Jerusalemer Tempeltheologie entstand als prägender Ausdruck des „staatlichen Großkultes im Südreich“ (Albertz, Religionsgeschichte, 200) und legitimierte Jerusalem wie auch das Königtum nachhaltig. Zu den wichtigsten Überlieferungsstücken gehört 1 Sam 8, Jes 6 und die JHWH-Königspsalmen. 62 Janowski, Himmel, 229 ff. 63 Vgl. Gregersen, Natur, 99. 64 Vgl. Thyen, Himmel, 73 ff. 65 Als klassisch kann hier die stoische Auffassung Ciceros gelten, vgl. ders., Wesen, II,45 – 47. Zum Gesamtzusammenhang siehe auch Berlejung, Weltbild, 65 ff. 66 Zum Gesamtkomplex in Acta 17 – 18 vgl. Hoppe, Philosoph, 101 ff. 67 Acta 27,13 ff. 68 Lk 6,1. 69 Lk 12,16 ff. 70 Vgl. Mk 4,35 – 41. 71 Vgl. Mt 6,28.

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Schlaglichter der Tradition

Welt erscheint, bewirkt eine durchgehende Vorstellung von Veränderungen der jetzt sichtbaren Umwelt. Dabei finden sich neben apokalyptischen Visionen auch jene Verheißungen einer neuen Welt, die davon sprechen, dass in der jetzt sichtbaren Welt eine zukünftige versöhnte Welt bereits durchschimmere. 3.2 Das Buch der Natur und seine Lektüren Die Rede vom „Buch der Natur“ (liber naturalis) geht auf antike Traditionen zurück und findet sich bereits bei Plotin und im christlichen Kontext bei Augustinus72 im 4. Jahrhundert. Zunächst ist die christliche Vorstellung einer Lektüre im Buch der Natur als Äquivalent zur Lektüre in der Bibel als Offenbarungsschrift eine weitere Möglichkeit, Gottes Schöpfung sinnlich und mit den Kräften des Verstandes vor dem Hintergrund geglaubten Offenbarungswissens zu begreifen und somit Gottes Schöpfung in den „tragende(n) Selbstverständlichkeiten des Alltags“73 zu entdecken. Über Jahrhunderte hinweg erweist sich die Rede vom „Buch der Natur“ als tragfähiges wie integrierendes Denkmodell.74 Die Rede vom „Buch der Natur“ wird mit Galilei und später Bacon zur entscheidenden Metapher für ein einziges Buch des Lebens, das aus den beiden Büchern Offenbarung und Natur besteht und in den entstehenden Gräben zwischen Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaft einerseits und kirchlicher Lehrmeinung bzw. Theologie andererseits versucht, den Streit um die Deutungshoheit von Wirklichkeit eben als Aufteilung in zwei Bücher zu lösen.75 Im 18. Jahrhundert wird die Verwendung vom „Buch der Natur“ zur „hermeneutischen Leitmetapher“76. Der entscheidende Impulsgeber innerhalb der Begriffsgeschichte ist bis heute für die Theologie der Aufklärer Johann Georg Hamann, der maßgeblich zu dieser Blüte im 18. Jahrhundert beigetragen hat.77 Hamann ging in seinen Schriften immer wieder davon aus, dass die Natur ein Text Gottes sei, der nicht nur für den Menschen im Lichte der biblischen Überlieferungen auf Gottes Schöpfung hinweise, sondern gleichsam durch eine gemeinsame Sprache von Gott und den Menschen möglich gemacht werde und sich in der Kondeszendenz Gottes begründen lasse: „Jeder Buch72 Vgl. Augustinus, Wortlaut, 32 f. 73 Huizing, Buch, 1812. 74 Wichtige Beiträge zur Begriffsgeschichte stammen von Rothacker, Buch, vgl. ferner Nobis, Buch, 957. 75 Noch Charles Darwin verwies auf die Rede von den zwei Büchern in seinen Abhandlungen zur Evolutionslehre, vgl. zum Ganzen: Harrington, Natur, 97. 76 Huizing, Buch, 1812. 77 Als Nestor der Hamannforschung in theologischer Absicht gilt Oswald Bayer, vgl. bes. ders., Schöpfung, 57 ff. Eine Hamann verpflichtete Schöpfungstheologie entwickelte Bayer dann in seiner bekanntesten Schrift Schöpfung als Anrede. (Bayer, Schöpfung). Zu Hamanns Naturtheologie vgl. auch Veldhuis, Buch.

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Das Buch der Natur und seine Lektüren

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stabe im Buch der Natur (rufe den) weisen Schöpfer aus“78, so Hamann. Für Hamann sind diese Zeichen Ausdruck der ursprünglichen Verbundenheit zwischen Schöpfer und Geschöpf innerhalb seiner Schöpfung. Die Lektüre im Buch der Natur ist aber für Hamann tiefgreifend gestört und versteht sich keinesfalls von selbst. Während die Naturwissenschaft im Sinne Galileis, eine sich um Vermittlung bemühende Aufklärung eines Herder sowie die Physikotheologie in den Verstandeskräften des Menschen die notwendigen Werkzeuge einer Lektürefähigkeit des Menschen erblicken, steht für Hamann außer Frage, dass das Buch der Natur aus sich heraus nicht entziffert werden könne: „Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyphern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heil. Schrift auslegt und die Absicht Ihrer Eingebung ist.“79 Hamann steht ganz in der reformatorischen Tradition, wenn er also dem Menschen die Fähigkeit abspricht, Gott und seine Schöpfung direkt und unvermittelt zu erkennen. Der Grund hierfür ist für Hamann hamartologischer Art. Dem Menschen mangele es an der Fähigkeit der Gotteserkenntnis im Buch der Natur, weil er „kategorial gesehen“ in der Sünde stehe. Daher sei es erst und allein im Glauben an Christus möglich, einen Schlüssel zum Buch der Natur zu finden: „Ohne Glauben können wir selbst die Schöpfung und die Natur nicht verstehen – - daher die Bemühungen Gottes Wort und Willen zu entfernen, das Daseyn durch Hypothesen und wahrscheinliche Fälle zu erklären und die vielen Zweifel, die man über Moses Erzählung gemacht hat.“80 Hamann benennt damit auch als einer der ersten Denker die theologische Kritik an dem Absolutheitsanspruch einer sich selbstimmunisierenden Aufklärung.81 Später, in den philosophischen Debatten der Jahrhundertwende, wird der Begriff vom liber naturalis zerrieben und lässt – auch respondierend zum Ende der Physikotheologie – eine neue Lesart einer „sprechenden Schöpfung“ in der Poesie entstehen.82 In der anhaltenden Diskussion der letzten dreißig Jahre hat nun ganz sicher Hans Blumenbergs Studie über die Metapher vom „Buch des Lebens“ den stärksten Einfluss auf Theologie und Philosophie ausgeübt.83 Das hat mehrere Gründe. Blumenberg spricht zunächst einmal bei der Lektüre vom liber naturalis als einer „Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit“84 und hält dabei fest, mit dem Gebrauch dieser Denkfigur sei die Hoffnung verbunden,

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Hamann, Schriften, 167,8. Vgl. Veldhuis, Naturbegriff, 99 ff. Hamann, Schriften, 417,7 ff. Dazu auch Moustakas, Urkunde, 89 ff. Hamann, Schriften, 307,10 – 14. Es ist im Abstand von zweihundertfünfzig Jahren frappant zu sehen, wie sehr die Kritik Hamanns implizit bereits die spätere Geisteshaltung einer Naturvergessenheit im Kleid der Aufklärung vorwegnimmt, vgl. hierfür : Wild, Erscheinung, 102. 82 So die sicher zutreffende Feststellung von H. Böhme, Natürlich, 474. 83 Blumenberg, Lesbarkeit. 84 Ebd., 16.

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Schlaglichter der Tradition

„die Welt möge sich in anderer Weise als der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ,Lesbarkeit‘ als ein Ganzes von Natur und Geschichte Sinn spendend sich erschließen.“85

Blumenberg zeichnet dabei einen Prozess nach, der einer Metaphorik der allein bibelgesättigten Weltlektüre die Berechtigung abspricht, soweit sie die Lektüre im Buch der Natur allein als nachträgliche Anschauung dieser Erkenntnis versteht. Im Rahmen seiner Metaphorologie86 ging es Blumenberg u. a. auch darum, die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Buch der Schrift und Buch der Natur nicht zuletzt als eine Emanzipationsgeschichte von kirchlicher Bevormundung und theologischer Deutungshoheit zu begreifen.87 Der Gebrauch der Metapher „Buch der Natur“ ist für Blumenberg daher auch eng mit der Entfaltung einer theoretischen Neugier verbunden, die am Beginn der Neuzeit auch zu einer neuen „Wissenschaftsidee“88 geführt habe. Die Auseinandersetzung hierüber ist innerhalb der Theologie vor allem im Kontext der kritischen Revision von Metapherntheorien seit Paul Riceur geführt worden.89 Mit seinem Beitrag hat Blumenberg also mehr als eine Begriffsgeschichte vorgelegt, sondern eher noch eine wertvolle „Erinnerungsarbeit an der ,Lesbarkeit der Welt‘“90 überhaupt geleistet, die angesichts früherer dogmatischer Verengung wie naturwissenschaftlichen Erfahrungsverlustes eine grosso modo unleserlich gewordene oder doch zumindest um ihren Sinn suchende Kultur anzuregen vermag.

3.3 Natürliche Theologie Neben der theologisch aufgeladenen Rede vom Buch der Natur besitzt auch der Begriff der „natürlichen Theologie“ eine schillernde Nähe zu Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Natur. Das liegt nun freilich nicht daran, dass eine natürliche Theologie zuerst eine Theologie der Natur zum Gegenstand hat. Vielmehr spricht man typischerweise von einer „natürlichen Theologie“, wenn es um die Frage nach einer allgemeinen Gotteserkenntnis mit den 85 Ebd., 10. 86 Vgl. hierzu aus theologischer Perspektive Stoellger, Metapher. 87 Kritik an Blumenbergs ideengeschichtlicher Flurbereinigung übt neben anderen zu Recht Steer, Buch, 181 ff. 88 Ders., Prozeß, 136. 89 Hübner, Buch, 298 ff. Hübner und anderen geht es natürlich darum, die Metapher nicht als bloße und uneigentliche Rede zu begrenzen (was auch Blumenberg nicht tut), sondern mit ihrem Gebrauch weit darüber hinaus die Möglichkeit einer „Erfahrung mit der Erfahrung“ (E. Jüngel) zu machen, weil die Metapher in ihrer Verwendung momenthaft neue Wirklichkeit zu erschließen vermag. 90 So Stoellger, Genese, 226.

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Natürliche Theologie

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Möglichkeiten der menschlichen Vernunft geht.91 Im Gefolge der dialektischen Theologie ist diese Möglichkeit bekanntlich ausgeschlossen worden.92 Dennoch ist es sinnvoll, die hier jeweils zugrundeliegenden Naturbegriffe präzise zu fassen und ihre Bedeutung für diese Studie zu klären. Wichtig sind zunächst einige grundsätzliche theologiegeschichtliche Verständigungen: Die reformatorische Theologie unterscheidet zwischen einer allgemeinen Erkenntnis der Natur als Schöpfung Gottes (revelatio generalis), die im Sinne von Röm 1,18 aber keinen Rückschluss auf den Schöpfergott selbst zulässt und einer Erkenntnis der Natur als Schöpfung Gottes im Lichte der Offenbarung (revelatio specialis). Schaut man auf den ersten Teil dieser Aussage, so fällt zuerst einmal auf, dass im Lichte heutigen Denkens die Rede von der Erkennbarkeit der Natur als Gottes Schöpfung anders als für Luther, Melanchthon und Calvin nicht mehr selbstverständlich, sondern krisenhaft und verschüttet ist.93 Was alle Reformatoren im Anschluss an Röm 1,18 teilen, ist die Auffassung, dass sie in der Tradition Augustins stehend im Sündenfall und damit dem Verlust der Urstandsgerechtigkeit den Grund sehen, dass die Möglichkeit des Menschen, durch seine eigenen Fähigkeiten Gott zu erkennen, (gleichsam auf ein ihm natürlich eingegebenes Wesensmerkmal) eingeschränkt ist. Wie stark diese Einschränkung wirkt, war in der reformatorischen Theologie freilich umstritten. Zwar teilten alle Reformatoren die Auffassung, eine scholastische Trennung von imago und similitudo sei abzulehnen94, aber Melanchthons vom Platonismus mitgeprägter Gottesbegriff führte dazu, dass er anders als Luther und wie Calvin in seiner Cicero-Rezeption im Menschen weiterhin einen Verstand vorfand, dem es trotz dieser Defizienz gelingen kann, allgemeine „Gotteskenntnisse“ (notitiae de Deo) zu erlangen. Diese gehen für Melanchthon über das pure „Dass“ eines Gottes deutlich hinaus und beinhalten wesentliche Merkmale von Gottes Eigenschaften.95 Trotz des Sündenfalls besitzt der Mensch für Melanchthon eine strukturelle Gottebenbildlichkeit, die

91 Vgl. Sparn, Theologie, 91 ff. 92 Vgl. Birkner, Theologie, 279 ff. Barths Kritik galt in Auseinandersetzung mit der Neufassung der Lehre von der analogia entis bei Erich Przywara einer gefahrvollen, hinter Kant wie das Neue Testament gleichermaßen zurückfallende Metaphysik und veranlasste ihn, diese scharf abzulehnen, vgl. ders., Dogmatik I/1, VIII. 93 So stellt Christian Link zu Recht fest: „Es ist methodisch ein Unterschied, ob man mit Augustin oder Calvin – die Gewissheit der Schöpfung gleichsam im Rücken – von einem Phänomen ausgeht, in dem die Natur ihre Transparenz gleichsam unter Beweis stellt, oder ob man mit der heutigen Theorie der Offenen Systeme – sozusagen in umgekehrter Richtung argumentierend – auf ein solches Phänomen erst zugeht […] und sich dann wohl auch die Gegenfrage gefallen lassen muss, ob eine theologische […] Deutung sich überhaupt in den Horizont der hier vorausgesetzten Naturerkenntnis übertragen lässt“ (ders., Transparenz, 177). 94 Vgl. CA 2 oder auch Melanchthon, Loci, 668 ff. 95 Vgl. Frank, Philosophie, 88 ff. Es handelt sich bei Melanchthons Verhältnisbestimmung von Vernunft und Sünde um Innatismus.

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Schlaglichter der Tradition

zwar die Rede von einer „analogia entis“ im scholastischen Sinne verbietet, wohl aber die Weichen für eine „analogia mentis“96 stellt. Auch bei Calvin findet sich diese gegenüber Luther optimistischere Lesart des Verlustes der Gottebenbildlichkeit. So bleibt es in Calvins Auslegung von Röm 1,18 bei der Annahme einer strukturellen Fähigkeit zur (eingeschränkten) Erkenntnis.97 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Calvins Bezeichnung der natürlichen, sichtbaren Welt als theatrum gloriae Dei, einer Bühne also, auf der nicht nur mit der Heilsgeschichte ein fremdes Stück aufgeführt wird, sondern indem die Welt als Bühne selbst Teil dieses Stückes wird.98 Gott, der Schöpfer, so Calvin, „hat den einzelnen Werken zuverlässige Kennzeichen seiner Herrlichkeit eingeprägt […] Wohin man die Augen schweifen lässt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens einige Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären. Man kann dieses weiträumige, wunderbare Kunstwerk nicht mit einem Blick umfassen, ohne unter der Gewalt dieses unermesslichen Glanzes zusammenzusinken.“99

Anders Luther. Seine Interpretation ist stärker von Augustin bestimmt und beinhaltet in zentraler Weise ein vom Kreuz her gedachtes Gottesverständnis, das sich im Wort Gottes erschließt.100 Zum einen ist nun für Luther wichtig, in der Sünde des Menschen die Ursache für die Unfähigkeit zu erkennen, Gott selbst aus der Welt zu ergründen („darumb laß faren solch geschwetz vom naturlichen liecht“101), zum anderen aber die Erfahrung des im Wort Gottes gründenden Erschließungsgeschehens nicht einfach als Schlüssel eindimensionaler Welterfahrung zu sehen.102 Viel mehr kann Natur im Kontext des Glaubens zum Gleichnis göttlichen Handelns werden.103 Luther hebt hervor,

Diese pointierte Formulierung geht auf Frank, Theologie, 226 f zurück. Vgl. ebd., 237 f. Ausführlich dazu Barth, Dogmatik IV/3, 154 ff. Calvin, Int. I,5,1. Vgl. besonders These 19 und 20 der Heidelberger Disputation von 1518, siehe Luther, WA 1, 361, 32 ff. 101 Luther, WA 1, 530. 102 In der Auslegung des Weihnachtsevangeliums Mt 2,11 stellt er fest, wie sehr die Magier ihrem Glauben und nicht ihrem Augenschein vertrauen: „O wie eyn mechtiger glawb ist das geweßen, wie viell dings hatt er voracht, das die natur bewegtt hette, wie vill werden dabey geweßen seyn, die gedacht haben: Ey, wie sind myr das die grosten narren, die eyn solch arm kind anbeten, sie mussen freylich betzawbert seyn, das sie darauß eynen konig machen! Hie ligt nu der kern des Euangeli, darynnen es uns leret die art und eygenschafft des glawbens, das er sey argumentum non apparentium. Er hangt nur an dem blossen wort gottis und richt sich nach den dingen, die er nit sihet denn alleyn ynn demselbigen wort bedeuttet, und sihet daneben viel dings, das yhn reytzt, als sey es nichts und umbsonst, was yhm das wortt sagt. Und eben, das die natur heyst auff den affenschwantz gehen unnd springt tzuruck, das heyst er den rechten weg und dringt durch, lest die natur klug.“ (Luther, WA 10/1, 613 f). Jede Art der Gotteserkenntnis ist im Sinne Luthers mit dem Vorzeichen „der Torheit des Kreuzes“ (1 Kor 1,17ff) verbunden. 103 Dieser Gedanke findet sich dann auch in der lutherischen Orthodoxie und dort besonders im 96 97 98 99 100

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Natürliche Theologie

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dass der Blick auf die natürliche Welt im Glauben nicht einfach eine bereits entschlüsselte andere Welt wird, sondern der Glaube vielmehr einen Zugang, einen Anfang dessen eröffne: „Wir […] sind itzt in der Morgenröthe des künftigen Lebens, denn wir fahen an wiederum zu erlangen das Erkenntniß der Creaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall. […] Wir aber beginnen von Gnaden seine herrlichen Werk und Wunder auch aus den Blümlein zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sey ; darum loben und preisen wir ihn, und danken ihm. In seinen Creaturen erkennen wir die Macht seines Wortes, wie gewaltig das sey.“104

Halten wir fest, dass die reformatorische Theologie durch ihre prominenten Vertreter Luther, Melanchthon und Calvin einig ist in der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Glauben und einem gleichsam philosophisch begründbaren Vernunftgebrauch für eine allgemeine Gotteserkenntnis, die freilich in der Moderne nun so einfach methodologisch nicht mehr einzuholen ist. Zudem aber unterscheiden sie sich aber wesentlich in der Vorstellung, wie weitreichend dabei die Möglichkeiten einer allgemeinen Gotteserkenntnis reichen. Gerade Luther beweist dabei, wie dialektisch die Wirklichkeit der natürlichen Welt zu verstehen ist; sie ist für Luther geschaffene Welt, aber auch der Vorschein von Gottes Gegenwart im Glauben durch das Wort vermittelt. In diesem Zusammenhang kommt Luthers Rede von den „larvae dei“ nun ebenfalls eine besondere Bedeutung zu. Eingebettet in die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes in der Natur, antwortet Luther nämlich in erhellender Weise mit der Metapher von der Maske, hinter der sich Gott in jeder Kreatur verberge: „Personae vel larvae debent esse et Deus eas dedit et sunt eius creaturae“105 oder an anderer Stelle: „Alle creaturen sind Gottes larven und mumereyen, die er will lassen mit yhm wircken und helffen allerleiley schaffen, das er doch sonst on yhr mitwircken thun kann und auch thut.“106 Diese Rede zielt nicht allein auf einen schöpfungstheologischen Zusammenhang, sondern wird von Luther besonders auch auf das vielgestaltige Handeln des Menschen bezogen.107 Auf die Bedeutung dieser Vorstellung von den larvae dei

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Topos des barocken Sinnbildes, in dem Naturerfahrung und Glaube aufeinander bezogen werden, mit Blick auf die evangelische Gesangbuchtradition vgl. Steiger, Herz, 44 ff. Luther, WATr I, 574, Nr. 1160. Ders., WA 40I,174,23 – 24 Ders., WA 17 II, 192, 28 – 31. Ders., „Was ist denn unsere Arbeit auf dem Felde, im Garten, in der Stadt, im Hause, im Streit, im Regieren anders gegen Gott, denn ein solch Kinderwerk, dadurch Gott seine Gaben zu Felde, zu Hause und allenthalben geben will? Es ist unsers Herrn Gott’s Larven, darunter will er verborgen sein und alles tun … Er könnte wohl Kinder schaffen ohn Mann und Weib. Aber er will nicht tun, sondern gibt Mann und Weib zusammen, auf daß scheint, als tu es Mann und Weib, und er tut’s doch unter solcher Larven verborgen“.

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Schlaglichter der Tradition

gerade für das Naturverständnis der reformatorischen Theologie ist bereits vielfach hingewiesen worden.108 Während die mittelalterliche Theologie die Maskierung als weltliches Spiel, Verstellung und damit insgesamt negativ bewertet, was sich u. a. in der Ablehnung karnevalesker wie ritterlicher Rituale niederschlug, spricht Luther zwar in Anlehnung an diese folkloristischen Traditionen ebenfalls von „mumereyen“109, bezieht sie aber auf Gottes Handeln selbst und bricht damit einer inspirierenden Vorstellung Bahn. Luther gelingt es mit der Verwendung der Rede von den larvae dei nämlich, die Ambivalanz der Maskenmetapher für das Zugleich von Entzogenheit und Anwesenheit Gottes präzise zu benennen.110 Diese Ambivalenz ist der Maske von jeher eigen, weil sie zugleich etwas (zuerst einmal ein Gesicht) verdeckt, mit ihrer Maskierung zugleich aber auf das, was verdeckt wird, erst in besonderer Weise hinweist.111 In unüberbietbarer Weise demaskiert sich Gott natürlich nach neutestamentlicher Vorstellung in Christus selbst. In der Schutzlosigkeit des Unmaskierten drückt sich auch das besondere Verhältnis von Maske und Macht aus, das hier in Luthers theologia crucis verankert ist.112 Entscheidend ist die Unverfügbarkeit dessen, was hinter der Maske ist. Weder ist es im Sinne von Ex 33,20 ratsam Gott zu sehen, noch im Sinne menschlicher Erkenntnis überhaupt möglich. Die theologiegeschichtlich hoch bedeutsame Auseinandersetzung um die sog. „Natürliche Theologie“ belegt dies eindrucksvoll.113 Wohl aber, und das leistet Luthers Rede von den larvae dei, erweist sich im Kontext christlicher Weltdeutung Gottes geheimnisvolle Gegenwart „in every leaf on every tree and in every piece of bread that we eat“114 und ist zugleich dem Menschen völlig entzogen. Die Maske beschreibt dies als dauernden Zustand, der sich dauerhaft erst mit dem eschatologischen lumen gloriae erhellen wird, nun aber bestenfalls momenthaft wie im Abendmahl („Eucharistic Time“115) erfahren lässt. Maskierung und Demaskierung erwiesen sich im Sprachspiel116 also lange als komplex genug, um einerseits Erfahrungen göttlicher Gegenwart gerade in der Natur als erfahrbar gelten zu lassen, sie aber dennoch nicht in eine Ver-

108 Vgl. besonders Ludolphy, Natur, 179ff, Olsson, Schöpfung, 369ff, Peters, 142ff sowie etwa in neuerer Zeit Steiger, Zentralthemen, 23ff und Dyrness, Theology, 51 ff. 109 Zu Luthers Sprachgebrauch im Kontext frühneuhochdeutscher Verwendung siehe Grimm, Wörterbuch, Bd. 12, 2666 ff. 110 Vgl. Cilliers, absence, 36 ff. 111 Vgl. Weihe, Paradoxie, 14. 112 Darauf macht zu Recht Cilliers, absence, 41ff aufmerksam. 113 Dies hebt besonders Barth, Dogmatik III/3, 20 f hervor. 114 Cilliers, absence, 40. 115 Ebd., 43. 116 Luther geht sogar noch weiter, indem er dieser Maskierung Gottes einen spielerischen Charakter zuweist. So spricht er in diesem Zusammenhang vom deus ludens, der „tentzelt mitt uns und steupett uns“ (WA 4, 656, 32 f).

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Natürliche Theologie

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fügbarkeit Gottes zu überführen. Es gilt daher uneingeschränkt Karl Barths Feststellung von Gottes Geheimnis gerade in seiner Welthaftigkeit.117 Die reformatorische Theologie erweist sich also in vielfältiger Weise als anschlussfähig an jene Fragestellungen der natürlichen Theologie, die zuletzt von der dialektischen Theologie erneut ins Spiel gebracht wurden. Für eine weitere, über die dialektische Theologie hinausgehende Rezeption der natürlichen Theologie ist also nun aber auch verstärkt nach dem, neuzeitlich gesprochen, Subjekt der Erkenntnis zu fragen. Wie kommt es nämlich zu Erkenntnis und welche Rolle spielt dabei die Erfahrung? Dabei gewinnt die „natürliche Welt“ im Sinne Luthers wie Calvins tatsächlich eine Gleichnisfähigkeit. Wie diese ausgedeutet werden kann, ist theologiegeschichtlich das gesamte 20. Jahrhundert über von besonderer Relevanz geblieben.118 Wenn nun seit den 1970er Jahren eine erneute Verständigung über diesen „evangelischen Streitbegriff“ der natürlichen Theologie eingesetzt hat119, so liegt dies sicherlich auch an der empirischen Wende, die eine verstärkte Hinwendung zu einer spezifischen natürlichen Theologie forderte, weil sie sich der Vermittlung von Glaube und Erfahrung öffnete. In diesem Kontext erscheint die natürliche Theologie im Rückblick als Chance einer theologiegeschichtlich verankerten Erfahrungstheologie, wie sie vor allem dann von Eilert Herms im Anschluss an Schleiermacher entwickelt wurde.120 Herms unterläuft dabei nicht einfach die von Barth und anderen Theologen verworfene Einsicht, Gott könne mit den Mitteln der menschlichen Vernunft nicht erkannt werden.121 Vielmehr unterscheidet er die Fähigkeit der Vernunft beim Zustandekommen der Gotteserkenntnis von der Fähigkeit ihrer Entfaltung. Erstere Fähigkeit spricht er der Vernunft ab, letztere sieht er maßgeblich für die Möglichkeit einer Erfahrungstheologie überhaupt an.122 An diese explikative Dimension vernunftgeleiteter natürlicher Theologie knüpft Elisabeth Gräb-Schmidt an, wenn sie das Programm einer Theologie der Natur formuliert, die „(die) Rückgewinnung der natürlichen Theologie in einem qualifizierten Sinn als Theologie der Erfahrung“123 einfordert. Erfahrung ist dabei für Herms wie für Gräb-Schmidt nun ein hochkomplexer Begriff, der weit über die Summe sinnlicher Wahrnehmungsakte hinausgeht und die Widerfahrnisse und vielfältigen Deutungsleistungen des Er117 Barth, Dogmatik I,1, 171. Den Zusammenhang zwischen dieser Naturerfahrung und der reformatorischen Abendmahlsformel „finitum capax inifiniti“ erhellt Rasmussen, Luther, 314. – Ob diese Weltlektüre Luthers und Barths freilich im produktiven Sinn mehr als eine Exegese ist oder den letztlich unproduktiven Grad zur voraussetzungsvollen Eisegese überschreitet, birgt bis heute theologisches Konfliktpotential, vgl. Stoellger, Genese, 243 f. 118 Vgl. Kock, Theologie, 8 ff. 119 Vgl. Gestrich, Theologie, 82 ff. 120 Herms, Bedeutung, 98 ff. 121 Vgl. die klassische Formulierung „naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse“, die sich Vatikanum I, Die Filius, c.2, DS 3004 findet. 122 Herms, Bedeutung, 99. 123 Vgl. Gräb-Schmidt, Natur, 42.

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Schlaglichter der Tradition

fahrungssubjekts zum Gegenstand hat.124 So sehr der daraus resultierende Vermittlungsgestus zu honorieren ist, so fraglich bleibt dabei doch, ob damit eine Erfahrung im Lichte des christlichen Glaubens angemessen beschrieben ist.125 Diesem Anliegen sind die Arbeiten von Christian Link sicher stärker verpflichtet, der in seiner Neufassung einer natürlichen Theologie freilich weiter stark an die Dialektische Theologie anknüpft.126 Links Stärke ist dabei, zu sehen, dass eine Theologie der Natur, die eine metaphysische Schöpfungstheologie entfaltet, zwangsläufig unter den Bedingungen der Moderne zu einem Wirklichkeitsverlust des Glaubens führen muss. Stattdessen, so fordert Link, gehe es darum, Natur in einem christologischen127 und pneumatologischen128 Horizont zu verstehen. Halten wir fest, dass Herms wie Link um die problematischen Seiten einer sich selbst absolut setzenden Vernunft innerhalb einer natürlichen Theologie wissen, in ihrer Aktivierung aber Chancen sehen, den Erfahrungsverlust einer zeitgemäßen Theologie zu überwinden. Perspektivisch dürfte dabei entscheidend sein, wie es gelingen kann, terminologisch wie methodisch Dialogfähigkeit mit Trennschärfe zu verbinden.129 Eine so verstandene natürliche Theologie wird damit dann auch das Verhältnis zu den Naturwissenschaften neu in den Blick nehmen. Im Sinne der klassisch gewordenen Unterscheidung der Begegnungsformen zwischen Naturwissenschaft und Theologie, wie sie Ian G. Barbour vorgenommen hat, also als Konflikt, Unabhängigkeit, Dialog und Integration130, dürften Gesprächsangebote, die allein auf Konflikte zielen131, wenig zu einem vertieften Ver124 Herms wenn auch begrenzte Anschlussfähigkeit für eine der Phänomenologie verpflichtete Theologie besteht darin, in Erfahrung selbst immer phänomenale Strukturmomente zu erkennen: „Diese Struktur ist synthetisch. Sie ist die Einheit, das unlösliche und irreduzible Beieinander von zwei Aspekten: Eines Aspektes, der die phänomenale Manifestation unübertragbar vereinzelt, also den Unterschied jedes phänomenalen Einzelfalles allen anderen gegenüber begründet. Und eines anderen Aspektes, der gleichzeitig jedes Phänomen mit anderen gleichartigen verbindet und vergleichbar macht“ (Herms, Bedeutung, 104). Zur Husserlrezeption von Herms äußert sich kritisch Stoellger, Passivität, 466. 125 Diese Kritik an dem begrenzten Wert allgemeiner Wahrheiten für eine evangelische Theologie des inkarnierten Gottes als Torheit der Welt (1Kor 1,18) hat zuletzt noch einmal Christoph Kock, a. a. O., 293 f formuliert. Kock kritisiert insgesamt den heuristischen Wert einer explikativen Theologie der Erfahrung, die faktisch, so seine Befürchtung, doch immer schon einem extra nos der Vernunft vorausgeht, statt diese nachzuvollziehen, vgl. ebd., 286 ff. 126 Vgl. Link, Welt, 286ff u. 358 ff. 127 Link, Theologie, 71 f. 128 Angesichts der ökologischen Krise wird es für Link immer drängender, Natur nicht als Objekt im nunc stans zu sehen, sondern in ihr die Aura der Zukünftigkeit Gottes als eschatologische Hoffnungsperspektive, vgl. ders., Transparenz, 182. 129 Vgl. McGrath, Lied, 246 ff. 130 Barbour entwickelte diese Unterscheidung in seinen berühmt gewordenen Gifford Lectures, vgl. ders., Religion, bes. auch ders., Typologies, 345 ff. Bemerkenswert ist sicher auch, dass der Initiator der Gifford Lectures, Lord Gifford, explizit für eine Neubewertung einer natürlichen Theologie eintrat, vgl. dazu Berg, Theologie, 81. 131 Man denke einerseits an biblizistische Denkmodelle, andererseits aber auch an die polemi-

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Natürliche Theologie

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ständnis beitragen. In Fortführung der von Barbour aufgebrachten Programmformel der „Inklusion“ hat sich zuletzt aber zunehmend das Dialogmodell der „Konsonanz“132 durchgesetzt, dem sich etwa der einflussreiche Dialogpartner John Polkinghorne verpflichtet weiß. Polkinghorne hebt hervor, Theologie und Naturwissenschaften würden sich mit unterschiedlichen Mitteln einer Wirklichkeit nähern und einander in ihrer Form von wissenschaftlicher Erkenntnis befruchten, hinterfragen und doch ihre je eigene Autonomie behalten.133 Diese Einsicht vor Augen, klingt bis heute Karl Barths Diktum aus seiner Schöpfungslehre eigenwillig und sperrig nach, „daß es hinsichtlich dessen, was die Heilige Schrift und die christliche Kirche unter Gottes Schöpfungswerk versteht, schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfestellungen geben kann.“134

Es bleibt bei aller Abgrenzung aber nun Barths Verdienst, mit seiner Theologie auf die bleibende Fremdheit religiöser Erfahrung mit Nachdruck hingewiesen zu haben. Sollte der natürlichen Theologie diese „Unverrechenbarkeit Gottes“ gar mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Weltaneignung verloren gehen, bliebe das Proprium der Theologie im Barthschen Sinn nicht erhalten. Vielmehr liegt die eigentliche Leistung im Sinne der Konsonanz darin, einander mitteilungsbereit und mitteilungsfähig zu bleiben und gerade darin einander Fremdheit zuzumuten. Die Fremdheit des naturwissenschaftlichen Denkens, der abstrakte Denkweg der Mathematik, aber auch die Fremdheit Gottes und die letztlich unerklärliche Veränderung einer Welt durch die Inkarnation Christi sollen einander fremd bleiben, um sich immer neu herausfordern zu können.135 Viele Debattenbeiträge, die auf Abgrenzung, aber eben auch zunehmend auf Verständigung und Konsonanz zwischen Naturwissenschaft und Theologie zielen, beschreiben zumindest implizit einen für diesen Erkenntniszusammenhang weiteren zentralen Sachverhalt: Naturwissenschaftliche Theoriebildung ist selbst in zunehmendem Maß der Gefahr eines eigentümlichen Erfahrungsverlustes von Natur ausgesetzt.136 Naturwissenschaftliche For-

132 133 134 135 136

schen Beiträge wie Dawkins, God von 2006. Es ist erhellend, diese immer einmal zuerst in Form ihrer Sprachspiele zu analysieren, hinter denen feste Denkformen der Überbietung stehen. Sprachformen, die das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften beschreiben, hat vor allem Ted Peters analysiert, vgl. ders., Theology, 323 ff. Der Begriff geht auf Ernan McMullin zurück, vgl. ders., cosmology, 17 ff. Vgl. zuerst in Polkinghorne, World (1986) und dann später etwa in ders., Theologie, 17 ff. Barth, Dogmatik, III/1, Vorwort. Diesen instruktiven Vorschlag hat u. a. T.A, Smedes unterbreitet, vgl. ders., Barth, 288 ff. Diese Kritik äußert etwa Scholl, Religiös, 107 und schreibt unter Aufnahme des Physikers Eduard Kaeser : „Das Qualitative der Materie – ihre Anfühlbarkeit, Anschaubarkeit, ihr Geruch, Geschmack, ihre Färbung, Textur, ihr Klang – verblasst im scharfen analytischen Blick der Quantenchemie zur entbehrlichen Draperie einer tiefer liegenden quantitativen Struktur“ (vgl. ebd.).

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Schlaglichter der Tradition

schung zielt nämlich, ob in der Physik oder Hirnforschung auf Strukturdimensionen von Natur, die jenseits der Erfahrungswirklichkeit von Menschen liegen oder dieser oftmals sogar entgegen verlaufen. Das gilt besonders für einen vieler naturwissenschaftlicher Forschung zugrunde liegenden reduktiven Naturalismus.137 Schließlich trägt das Bild der Natur in einer Welt der Computer und Laboratorien einen konstruktivistischen Charakter.138 Das desavouiert die naturwissenschaftliche Forschung natürlich nicht, macht sie aber weniger kommunikationsbereit für die hier zu verhandelnden Fragen. Freilich erklärt sich dieser nüchterne Befund vom Erfahrungsverlust naturwissenschaftlicher Forschung bereits historisch, war doch die aufkommende naturkundliche Erforschung noch eng mit den „Naturalien“ verbunden. Das zeigt besonders ein genauerer Blick auf die oftmals gescholtene ältere Physikotheologie.139 Während jüngere Versuche, Gottes Schöpfermacht und die Strukturen von Wirklichkeit in Einklang zu bringen, man denke an die Rede vom „intelligent design“, in beinahe schon bornierter Weise naturwissenschaftliches Forschen negieren, wäre es zu kurz gegriffen, wollte man die physikotheologischen Forschungen des 17. und 18. Jahrhunderts als einen einfach fehlgeschlagenen Versuch werten, im Sinne des Rationalismus einen Ausgleich zwischen Religion und Naturwissenschaft herbeizuführen. Vielmehr hat bereits Wolfgang Philipp gezeigt, wie sehr es der älteren Physikotheologie gelang, Aporien zwischen Glaube und Aufklärung in ihrer Epoche zu überwinden und in der Folge sogar eine „progressive Rolle“ in der Folgenbewältigung einer entzauberten Natur einzunehmen.140 Exemplarisch wird dies an den poetischen Texten dieser Zeit deutlich. Als klassisches Beispiel der älteren Physikotheologie kann der lyrische Text „Kirsch-Blühte bey der Nacht“, entstanden 1727, von Barthold Hinrich Brockes gelten: „Ich sahe mit betrachtendem Gemüte / Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blüh’te, / In küler Nacht beym Monden-Schein; / Ich glaubt’, es könne nichts von gröss’rer Weisse seyn. […] Indem ich nun bald hin und her / Im Schatten dieses Baumes gehe: / 137 Vgl. Becker/Diewald, Herausforderung, 9ff, sowie Becker, Angst, 254 ff. 138 Naturwissenschaftliche Forschung ist dabei selbst immer schon theoriegeleitetet und entwickelt im praktischen Vollzug einen „Denkstil“ aus Prämissen, Praktiken und Messverfahren, der keineswegs auf „Natur, wie sie ist“ zielen kann, wie Lothar Schäfer zu Recht festgestellt hat, vgl. ders., Erscheinung, 16. Diese Beobachtung sollte freilich nicht als willkommener Anlass genutzt werden, eine sachgerechte Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften frühzeitig für beendet zu erklären; dies wäre schlicht Denkfaulheit seitens der Theologie, vgl. dazu erhellend Drees, 19. 139 Vgl. etwa Dirlinger, Buch, 156 ff. Üblicherweise verortet man die ältere Physikotheologie in Deutschland in der Epoche der Frühaufklärung und des Wolffianismus, also des Philosophischen Systems von Christian Wolff. 140 Philipp, Aufklärung, 74 ff. Philipp, der 1965 in Frankfurt das „Institut für wissenschaftliche Irenik“ mitgründete, deutete die Physikotheologie auch übergreifend als beispielgebenden Beitrag zu einer aufklärerischen Irenik, vgl. dazu Swinne, Ökumenik, 55 ff.

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Natürliche Theologie

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Sah’ ich von ungefehr / Durch alle Bluhmen in die Höhe / Und ward noch einen weissern Schein, / Der tausend mal so weiß, der tausend mal so klar, / Fast halb darob erstaunt, gewahr. / Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn / Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht / Von einem hellen Stern ein weisses Licht, / Das mir recht in die Sele stral’te. / Wie sehr ich mich an GOtt im Irdischen ergetze, / Dacht‘ ich, hat Er dennoch weit gröss’re Schätze. / Die gröste Schönheit dieser Erden / Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.“141

Brockes Gedichte verfolgen, gemäß des Titels („Physicalisch und Moralisch“) demnach einen doppelten Zweck. Zum einen stehen sie für eine bis dahin nicht gekannte genaue Schilderung von Naturphänomenen und leisten damit in einer frühen Phase der neuzeitlichen Naturwissenschaft einen wesentlichen Sprach- und Erkenntnisgewinn. Zum anderen aber will Brockes bei den genauen Schilderungen eben nicht stehen bleiben, sondern zeigen, was diese motiviert und gründet.142 Die Physikotheologie erweist sich daher geistesgeschichtlich als bemerkenswerter Versuch, Wahrnehmung und Reflexion von Naturerfahrung mit den Mitteln der Fiktionalisierung zu beschreiben. Auch wenn etwa die frühe Ichtyotheologie143 viel für das spätere Verständnis von Fischen beigetragen hat oder die „Melitto-Theologia“144 wesentlich das Wissen um die heimischen Bienen erweiterte, so sehr hatten die Spötter seiner Zeit recht, wenn sie die Pedanterie und die theologische Kurzsicht zunehmend geißelten.145 Entscheidend aber bleibt, dass es der Physikotheologie eben auch um die Wiedergewinnung von Erfahrungswirklichkeit ging.146 So gehörten die Physikotheologen zu jenen Vertretern einer sich erneuernden Theologie, die in Aufnahme von Humanismus, Renaissance 141 Brockes, Vergnügen, 29. 142 Vgl. dazu Meid, Literatur, 322 ff. Das lyrische Ich vollzieht hier den klassischen Erkenntnisakt der Physikotheologie nach: Am Anfang steht eine genaue, staunende Naturbetrachtung, in diesem Fall die hellweiße, leuchtende Farbe der Kirschblüten an einem Kirschbaum in der Nacht. Dies ist gleichsam ein Akt naturkundlicher Annäherung. Durch die dichte Baumkrone des Baumes hindurch wird dann aber der Mond gesehen, dessen Weiß noch viel intensiver strahlt. Dies führt zu einem doppelten Erkenntnisgewinn: Die „irdische“ Schönheit (daher der Titel der Gedichtsammlung) besitzt ihre Eigenartigkeit nicht aus sich heraus, sondern wird erst durch das Mondlicht, also eine dem Menschen entzogene Himmelskraft angeleuchtet. Und indem beides für den Betrachter nacheinander sichtbar wird, erfolgt die Schlussfolgerung, dass beides, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise auf Gott verweist. 143 Vgl. Richter, Ichthyotheologie. 144 Vgl. Schirach, Melitto-Theologia. 145 Vgl. die brilliante Satire Jean Pauls in seiner Erzählung „Leben Fibels“ von 1811. In dem dort auftretenden Gelehrten finden sich alle Grundzüge der physikotheologischen Naturbetrachtung treffend überzeichnet, vgl. ders., Leben, 574 ff. Dagegen hebt Wolfgang Philipp hervor, der eigentümliche Stil der physikotheologischen Arbeiten müsse aus der Nähe zur barocken Musiksprache erklärt werden und verstehe sich als Versuch, in den oft ermüdenden Wiederholungen ein „triebhaft doxologisches Freiatmen“ gegen die Gefahren des „kosmischen Nihilismus“ vorzunehmen, so Philipp, Aufklärung, 140 f. 146 Für die Wiedergewinnung einer empirisch ausgerichteten Theologie, wie sie in dieser Studie angestrebt wird, spielt dieses Erbe eine gewichtige Rolle, vgl. Heimbrock, Wahrnehmung, 67.

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Schlaglichter der Tradition

und zeitgenössischer Naturphilosophie bei der genauen Untersuchung ihres Naturgegenstandes auch eine erfahrungsnahe Frömmigkeit propagierten.147 Das galt besonders für die Naturalienkammern, die zu einer vertieften, anschaulichen Betrachtung der unterschiedlichen Schaustücke aus entlegenen Gebieten der Erde einluden.148 In Abgrenzung zur reinen Wunderkammer, die seit der Renaissance einem aristokratischen Studiengestus folgte und mit dem Anspruch einer enzyklopädischen Ordnung von Natur verbunden war, entsteht hier eine demokratischere, pädagogische Blickverschiebung auf das „Studienobjekt“ der Naturartefakte.149 3.4 Schöpfungstheologische Beiträge seit den 1970er Jahren Blicken wir nun auf genuin theologische Entwürfe von Rang, die sich seit Mitte der 1980er Jahre alle als schöpfungstheologische Neubestimmung im Kontext der ökologischen Krise lesen lassen150 und daher auch als Auseinandersetzung mit einem für sie angemessenen Begriff von Natur. Als erster ist in diesem Zusammenhang sicher der Tübinger evangelische Theologe Jürgen Moltmann zu nennen, dessen bereits in den 1960er Jahren erfolgte theologische Deutung der Geschichte im Sinne Ernst Blochs als Möglichkeit der Hoffnung auf Veränderung151 die Voraussetzung für eine theologische Auseinandersetzung mit der Krise seiner Zeit war. Als sein wichtigster Beitrag gilt seine 1985 erstmals publizierte Ökologische Schöpfungslehre.152 Moltmann bettet dieses Krisenbewusstsein aber nun in großer Weite in die Konflikte zwischen Naturwissenschaft und Theologie insgesamt ein und benennt als Auftrag an die Theologie, die Möglichkeiten auszuloten, überhaupt in der von den Naturwissenschaften geprägten Moderne noch von Gottes Schöpfung zu sprechen.153 Daher entfaltet Moltmann nun seinen Anspruch auf eine Schöpfungs147 Diese These vertritt gerade im Hinblick auf den hallischen Pietismus Trepp, Glückseligkeit, 306 ff. Dazu gehört auch, in der Physikotheologie den Versuch zu sehen, geradezu „seelsorger“ den heliozentrischen Schock des 17. Jahrhunderts zu bearbeiten und damit einen eminenten Beitrag zur Frömmigkeitsgeschichte dieser Epoche leistete, vgl. Philipp, Aufklärung, 147 f. 148 Eine gute Übersicht über Geschichte und Intentionen dieser Einrichtungen gibt Müller-Bahlke, Wunderkammer, 13 ff. 149 Vgl. dazu Bessler, Wunderkammern, 140 ff. 150 Wobei daran zu erinnern ist, dass eine biologistische Krisensignatur („tote Fische“, „Waldsterben“) dem Problem noch nicht die nötige Prägnanz verleiht. Krise ist im umfassenden Sinne eine Fortschritts- und damit letztlich eben Kulturkrise, wenn man an die Positionen Pichts und von Weizäckers denkt. 151 Vgl. Moltmann, Theologie (1. Aufl.). 152 Moltmann, Gott (5. Aufl.). 153 Pointiert stellt Moltmann fest: „Durch bloße Selbst- oder Naturbetrachtung kommt kein Mensch auf die Idee, diese Wirklichkeit sei die ,Schöpfung‘ eines Gottes“ (ders., Erfahrungen, 71). Hinter diese erkenntniskritische Einsicht sollte die Theologie laut Moltmann nicht mehr zurückfallen.

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Schöpfungstheologische Beiträge

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theologie im Kontext einer biblischen Pneumatologie. Die lebensstiftende ruach Gottes ermöglicht anders als es die Sicht auf Natur für Moltmann nahelegt, das „Wunder des Daseins“154 und macht die Gegenwart Gottes immer aufs Neue sichtbar. Die Schöpfung Gottes wird hierbei nicht als alleiniger und einmaliger Akt am Beginn der Geschichte verstanden, sondern in trinitarischer Ausdifferenzierung zwischen Protologie und Eschatologie aufgespannt. Eine so geartete Schöpfungstheologie sieht sich zudem inmitten gegenwärtiger Naturerkennntis im messianischen Vorschein.155 Mit diesen theologischen Volten gelingt es Moltmann, eine theologische Kosmologie zu entwerfen, die sich kritisch wie dialogbereit gegen eine rein naturwissenschaftlich ausgerichtete Rede von Natur wendet und den Eigenwert biblischer Sprach- und Erfahrungswege für den Glauben festhält und sogar neu verankert, was seine bis heute anhaltende Wirkung innerhalb von Theologie und Kirche eindrücklich belegt. Größere Verbreitung fanden neben Moltmanns Schöpfungstheologie auch die Schriften der Theologin Dorothee Sölle, besonders Lieben und Arbeiten, ein programmatischer Beitrag innerhalb der Diskussion um einen theologischen Umgang mit der ökologischen Krise. Diese Schrift, 1983 aus einer Vorlesungsreihe am New Yorker Union Theological Seminary heraus entstanden und 1985 erstmals publiziert, sah die atomare Bedrohung als wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungsdruck an.156 Für eine Neuauflage 1999 arbeitete Sölle die Studie noch einmal um, weil sie nun die Auffassung vertrat, die ökologische Krise infolge von großflächiger Umweltzerstörung stelle im umfassenden Sinn die eigentliche Herausforderung für eine angemessene Schöpfungstheologie dar.157 Anders als Moltmann begründet Sölle die Chance auf Veränderung des menschlichen Verhältnisses zur Natur im binnentheologischen Diskurs nicht durch einen Rückgriff auf pneumatologische Lesarten der Bibel, sondern greift auf Theorieelemente der Befreiungstheologie und des Feminismus zurück. Für Sölle sind verhängnisvolle Fehlentwicklungen der Theologie zu korrigieren: eine Erkenntnis der Welt als Gottes Schöpfung gelingt wie bei Moltmann nicht auf den Fehlwegen natürlicher Theologie, sondern durch die Besinnung auf den biblischen Urgrund der Schöpfung in der Befreiungserfahrung Israels. Dieser Rekurs geschieht bei Sölle auch in der Absicht, eine individualistische Engführung von Erlösung bzw. einen Christozentrismus zu vermeiden.158 Diese Grunderfahrung von Befreiung wendet Sölle auf die für sie problematisch gewordenen Begriffe der Arbeit und Sexualität an. So sehr der Schöpfungsglaube in der Befreiungserfahrung Israels verwurzelt sei, so sehr 154 155 156 157 158

Moltmann, Gott, 81. Kritisch-konstruktiv dazu zuletzt Bergmann, Geist, 29 ff. Sölle, Theologie (1. Aufl.). Das Buch erreichte in der Folge mehrere Nachdrucke. Dies., Schöpfung (Neuausgabe), 8. Vgl. ebd., 18 ff.

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Schlaglichter der Tradition

sei menschliche Arbeit damit anders als bisher zu bestimmen, nämlich als Tätigkeit des Menschen in sozialer Perspektive und als Mitwirken an dieser, an Gottes Schöpfung: „Unsere Fähigkeit, die Schöpfung zu loben, hängt ab von unserer Fähigkeit, an ihr zu partizipieren. Einverständnis wächst nicht ohne Anteilnahme. Wir können die Schöpfung nur dann bejahen, lieben und preisen, wenn wir – passiv und aktiv – an ihr teilnehmen. Nur dem cooperator Die ist das Lob Gottes möglich.“159

Die Vorstellung von Liebe und Arbeit als Teilhabe am Prozess der Schöpfung führt für Sölle dazu, einerseits die Entfremdung des Menschen von sich selbst zu überwinden160, weil diese so benannte Arbeit den Menschen wieder zu sich selbst und seine Bestimmung als Gottes Geschöpf führt, zum anderen aber, weil die Arbeit des Menschen als Ausdruck von Schöpfung als zum Kern des Menschen dazugehörig gesehen wird.161 Diese urmenschliche Befreiungserfahrung betrifft laut Sölle auch die menschliche Sexualität. Daher entwickelt sie, eingepasst in ihre Schöpfungstheologie, eine „leibliche Theologie“, die Gottebenbildlichkeit gerade von der Verletzbarkeit Gottes her entfaltet und den Menschen als leibliches Wesen zum Mitgeschöpf unter Geschöpfen macht und den Besitzanspruch des Menschen über die Erde zurückweist.162 Für Sölles Rede von Natur bedeutet das, dass sie sich gegen ein Verständnis von menschlicher Arbeit ausspricht, das den tätigen Menschen inmitten einer letztlich feindlichen, zu beherrschenden Umwelt entwirft. Der Mensch, so fordert sie in dieser Schrift, müsse sich von der Vorstellung einer Trennung und der daraus resultierenden Unterwerfung und Ausbeutung der Natur lösen und im biblischen Sinn wieder zum „Haushalter Gottes“163 werden und neu erfahren, dass die „Erde […] freiwillig ihre Früchte bringt, wenn sich Mensch und Natur im Rahmen dieser menschlichen Lebensäußerung Arbeit aufeinander zubewegen.“164 Blickt man über diese programmatischen Beiträge von Moltmann und Sölle hinaus, so fällt auf, wie stark schöpfungstheologische Impulse in dieser Generation auch von außerhalb der Theologie angeregt wurden. Angeregt etwa durch eine insgesamt kritische Revision biblischer Traditionsbestände innerhalb der Theologie, geriet dann auch besonders der problematische Beitrag der biblischen Rede vom dominium terrae verstärkt in den Blick, also die Frage, wie sehr der Herschaftsauftrag in Gen 1,28 zu einer Wahrnehmungsverzerrung von Natur in der Geschichte geführt habe.165 Insofern kommt der 159 160 161 162 163 164 165

Ebd., 11. Ebd., 162 f. Ebd., 67 ff. Ebd., 81 f. Ebd., 154. Ebd., 154. Vgl. etwa Am¦ry, Ende.

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Schöpfungstheologische Beiträge

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bereits 1979 erschienen Studie von Gerhard Liedke Signalcharakter zu.166 Liedke setzt sich darin explizit mit den Folgen des dominium terrae der Bibel auseinander und versucht im Kontext der allfälligen ökologischen Krise eine programmatische Neuauslegung. Liedke stellt fest, dass die Überlieferung der Genesis zuerst einmal zu einer gegenüber ihrer religiösen Umwelt neuartigen Entsakralisierung der Natur und Profanisierung der Welt führt. Dieses, so Liedke, sei ingesamt als wichtige Aussage über die Verantwortung des Menschen für sein Handeln zu sehen.167 Weiter, so Liedke, müsse Gen 1,28 stärker, als in der Vergangenheit geschehen, im Zusammenhang mit Gen 2,15, der Aufforderung Gottes, die Erde zu bebauen und zu bewahren, gelesen werden. Liedke stellt die in der Folgezeit oftmals rezipierte These auf, es gehe also der biblischen Schöpfungstradition viel eher um verantwortliche Fürsorge als um Herrschaft168 – eine Perspektive, die ursprünglich den Texten inne wohne, infolge einer verhängnisvollen modernen Perspektivverschiebung bei Bacon und Descartes aber verschüttet worden sei.169 Zu den wichtigsten Impulsgebern für die theologische Debatte um einen „versöhnten“ Naturbegriff wurden in den 1980er Jahren dann Klaus Michael Meyer-Abich und Günter Altner.170 Meyer-Abich, der in den 1960er Jahren Mitarbeiter von Carl-Friedrich von Weizäcker gewesen war und durch die holistische Naturphilosophie seines Vaters Adolf Meyer-Abich geprägt wurde, dürfte im Rückblick neben Altner der Vermittler zwischen philosophisch grundierter Fortschrittskritik und kirchlichem Handeln in gesellschaftlichen Umbruchsphasen sein.171 Für diese Leistung, die sich dann in unzähligen Debattenbeiträgen der evangelischen Theologie niederschlug, steht sicher zuerst sein Beitrag „Wege zum Frieden mit der Natur“ von 1984.172 MeyerAbich spricht sich hier wie in späteren Publikationen173 für eine konsequente Abkehr von einer anthropozentrischen und stattdessen für eine Hinwendung 166 Liedke, Bauch. Liedkes Arbeit entstand im Umkreis der Heidelberger FEST, deren Leiter Georg Picht war. Diese Neuausrichtung fand dann auch in kirchenamtlichen Erklärungen Wiederhall, vgl. besonders: Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verantwortung, 63. 167 Ebd., 109 ff. 168 Eine kritische Übersicht über die damalige Diskussionslage gibt Lübbe, Religion, 291 ff. 169 Bacons zweifelhaftes Vermächtnis für eine Vorgeschichte der ökologischen Krise beleuchtet scharfsinnig Schäfer, Bacon, 95 ff. 170 Die diskursive Grundhaltung dieser Zeit wird auch durch wichtige Sammelbände dieses Jahrzehnts deutlich, die Begriffklärungen vornahmen, Positionen rezeptionsfähig machten und die veränderten Denkwege seit der Wahrnehmung ökologischer Krisen beschrieben, vgl. dazu Rapp, Naturverständnis (1981); Bumchter u. a., Wandel (1987); Schwemmer, Natur (1987); Dürr/Zimmerli, Widerspruch (1989). 171 Meyer-Abich war u. a. auch seit 1979 Mitglied der Enquete-Kommissionen „Zukünftige Kernenergiepolitik“ und „Schutz der Erdatmosphäre“ des Deutschen Bundestages. 172 Meyer-Abich, Wege. 173 Vgl. besonders ders., Wissenschaft (2. Aufl. 1997), ders., Aufstand (1990) sowie ders., Naturphilosophie (1997).

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Schlaglichter der Tradition

zu einer physiozentrischen Naturauffassung aus.174 Meyer-Abichs Denken zielt damit auf eine Hochschätzung aller Kreaturen, auf die besondere Beachtung von Pflanzen, Tieren und den Elementen. Sein Entwurf trägt holistische Züge und will mit naturphilosophischen Begründungsfiguren das „natürliche Mitsein“175 zwischen den Lebewesen neu ins Bewusstsein heben. Besonders mit Hilfe des Analogiebegriffs will MeyerAbich erklären, wie der Mensch zu einer Analogie des Empfindens durch seine Verwandtschaft mit anderen Lebewesen gelangen kann.176 So wichtig diese Impulse gerade in der Verbreiterung von Ökologie und Umweltschutz innerhalb der theologischen Diskussionen waren, so ist doch Meyer-Abichs radikales Konzept nicht ohne Widerspruch geblieben.177 Kritisch bleibt sicher festzustellen, dass Meyer-Abichs Arbeiten letztlich ihre Stoßrichtung wohl eher in der nachhaltigen und öffentlichkeitswirksamen Forderung sehen als in der Ausarbeitung komplexer Begründungsfiguren. Neben Meyer-Abich zählt Günter Altner zu den wichtigsten Impulsgebern für eine vertiefte Auseinandersetzung evangelischer Theologie mit der ökologischen Krise. Altner, sowohl Biologe als auch Theologe und Mitbegründer des Öko-Instituts in Freiburg, ist seit den 1980er Jahren in Deutschland ein wichtiger Förderer einer ökologischen Ethik gewesen und wurde eine Generation lang stark in Theologie und Kirche rezipiert, gerade auch als Vermittler zwischen einer kritischen Naturwissenschaft und einer Theologie, die sich auch als kritische Zeitgenossenschaft versteht.178 Günter Altners Denken beruht wie bei Meyer-Abich auf einer besonderen Wertschätzung allen Lebens. Seine Philosophie der mitgeschöpflichen Würde jeder Kreatur179 ist von Albert Schweitzers berühmtem Postulat der Ehrfurcht vor dem Leben bestimmt, einer Formel, deren Wirksamkeit auf Theologie und Naturphilosophie kaum überschätzt werden kann.180

174 „Der Anthropozentriker meint, Mensch sein zu können, indem er oder sie alles übrige, was nicht Mensch ist, nur haben will. […] Im Gegensatz dazu wird in der physiozentrischen Naturauffassung die übrige Welt nicht als das, was nicht wir sind und in diesem Sinn als Natur, sondern als natürliche Mitwelt verstanden“ (ders., Eigenwert, 256). 175 Ders., Wissenschaft, 257. 176 Ebd., 271. 177 Vgl. Mutschler, Granit, 13: „Was sollen wir mit einer Theorie, die sich der Einsicht in „das Ganze der Natur“ rühmt, die von der „Menschwerdung der Steine“ spricht, vom „Bösen in Gott“ von einer Reinkarnation, die sogar die unbelebten Elemente einbezieht? All dies ist entweder Mystik, dann ist sie nicht verallgemeinerungsfähig, oder es ist eine Theorie, dann ist sie hypertroph.“ 178 Hervorzuheben sind vor allem: Altner, Kollision (1987), ders., Naturvergessenheit (1991). 179 Vgl. ders., Naturvergessenheit, 64 ff. Altner rechnet mit einem tatsächlichen Kreaturfrieden erst in eschatologischen Zeitdimensionen, vgl. ebd., 95 ff. 180 Vgl. hierzu insgesamt Gansterer, Ehrfurcht.

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Praktische Theologie und Natur

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4. Praktische Theologie und Natur Der Befund ist ebenso vielfältig wie eindeutig: Großflächige ökologische Gefährdungen prägen den Alltagsblick auf „Natur“ ebenso wie die permanente Zunahme virtueller Erfahrungswelten und ihrer medialen Inszenierungen. Wie wir gesehen haben, legt der Blick auf die den Menschen umgebenden natürlichen Lebensräume damit eine dauerhafte Krisenerscheinung der Natur frei. Daneben aber lässt sich konstatieren: Naturräumliche Erfahrungen wandeln sich. Und ebenfalls ist evident, dass von einem zunehmenden Interesse in all jenen gesellschaftlichen Erlebnisformen auszugehen ist, bei denen sich Naturpräsenz und religiöse Erfahrungen miteinander verbinden.181 Auch wenn nun religiöse Naturerfahrung in Lebenswelt-Bezügen wie kirchlichem Handeln präsent ist, so kann freilich von einer reflektierten, das ganze Feld dieser Erfahrungen ausmessenden Praktischen Theologie keine Rede sein.182 Das überrascht um so mehr, als eine allfällige und weit verbreitete Naturfrömmigkeit eine theologisches Denken stark prägende theologia negativa naturalis einer längst faktischen Ideologiekritik unterzogen hat.183 Dieses Desiderat ist sicher kein Zufall, sondern, so lässt sich zeigen, liegt im Wahrnehmungsfokus Praktischer Theologie selbst begründet. Denn Praktische Theologie deutete Wirklichkeit jahrzehntelang so, dass naturräumliches Erleben als Form gelebter Religion kategorial ausgeklammert wurde. Worum geht es? Mitte der 1960er antwortete die Praktische Theologie auf eine erkennbare Krise des kirchlichen Lebens und der Theologie als Wissenschaft. Gesellschaftliche Umbrüche, aber auch die zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen theologischen Deutungsrahmen von Wirklichkeit, führte im Zuge einer bekanntlich propagierten empirischen Wende zu einem intensiven Ringen um die Frage nach einer zeitgemäßen Kommunikabilität des christlichen Glaubens in Kirche und Gesellschaft. In kritischen Absetzbewegungen von der dogmatischen Tradition der dialektischen Theologie184 forderten Praktische Theologen zuerst eine umfassende Aufarbeitung der monologischen und selbstreferentiellen Sprachspiele kirchlichen Lebens. Es 181 Vgl. dazu exemplarisch Brockert, Bergwanderungen, 3. 182 Zu diesem Ergebnis kommen auch van der Ven/Dreyer/Pieterse, Nature, 40 – 55. Die weiteren Untersuchungen konzentrieren sich verstärkt auf die deutschsprachige evangelische Praktische Theologie. 183 Einen wichtigen Hinweis bieten dazu die zahlreichen empirischen Untersuchungen der letzten Jahre, wie etwa die Untersuchung von Jörns, Gesichter, sowie die 2014 publizierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Dort gaben 40 % der Befragten an, „Die Natur“ sei für sie ein religiöses Thema, vgl. Kirchenamt, Engagement, 24 ff. Nun zeigen solche Untersuchungen in aller Deutlichkeit, dass sie eine genaue phänomenologische Analyse keineswegs ersetzen und die Vielfalt religiöser Naturerfahrungen in der Regel auf die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes in der Natur reduzieren. 184 Klassisch: Bastian, Wort, 25 ff.

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war Ernst Lange, der mit der Programmformel von der „Kommunikation des Evangeliums“ ein Idealbild der Kirche formulierte, das im freien und gegenseitigen Austausch des Glaubens bestehe.185 Stärker als Lange griffen Vertreter dieser neueren Praktischen Theologie wie Hans-Eckehard Bahr186, Hans-Dieter Bastian187, Karl-Wilhelm Dahm188 oder auch Heinrich Balz189 die gesellschaftliche Dimension dieses Prozesse auf und entwickelten in interdisziplinärer Aufnahme philosophisch-soziologischer Diskurse den kommunikationstheoretischen Rahmen dieser Praktischen Theologie.190 Dieser hat bis heute sicher seine Stärke in der unhintergehbaren Einsicht, dass theologisches Nachdenken über die Kommunikation des Evangeliums im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Kommunikationsstrukturen entsteht und stattfindet, sowie in der präzisen Formulierung der komplexen Interaktionsbedingungen kirchlichen Handelns; das gilt sicher auch für kirchliches Handeln zwischen Badeseetaufe und Berggottesdienst.191 Freilich dürfte der praktisch-theologische Rekurs kommunikationstheoretische Prämissen eben auch zu einer spezifischen Konstruktion von Wirklichkeit selbst führen. Denn Realitäten und Handlungen werden durch diesen Theorierahmen stets vermittelt durch Kommunikation hergestellt und so sichert Kommunikation überhaupt erst empirisch wahrnehmbare Wirklichkeit. Blinde Flecken entstehen also zwangsläufig dort, wo der Fokus der praktischtheologischen Untersuchungen nicht primär auf den Feldern sozialer Kommunikation verortet werden kann, wie eben nun in den Weiten naturräumlicher Erfahrungen. Ähnlich gelagert ist der Befund in einer handlungswissenschaftlich-empirischen Praktischen Theologie, wie sie unter vergleichbaren theologischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den 1970er Jahren erblühte.192 Angestoßen von Helmut Schelsky193 und der Frankfurter Schule 185 186 187 188 189 190

Erstmals formuliert in: Lange, Chancen, 109 ff. Bahr, Verkündigung. Vgl. Bastian, Kommunikation. Vgl. Dahm, Kommunikation, 133 ff. Balz, Modell. Besonders prägend wirkte hierbei sicherlich Jürgen Habermas mit seiner Theorie kommunikativen Handelns (vgl. das Epoche machende Werk, ders., Theorie). Dem Ziel verschrieben, Bedingungen eines herrschaftsfreien Dialogs zwischen Subjekten zu formulieren, überwand Habermas mit seiner Gesellschaftstheorie die Tradition einer idealistischen Subjekttheorie bzw. Bewusstseinsphilosophie und sie leistet bis heute einen entscheidenden Beitrag zum Nachdenken über sprachliche Verständigung und Partizipation auch für die Theologie. Vgl. ders., Diskurs, bes. 344 ff. 191 Vgl. Engemann, Kommunikation, 1515 f. 192 Sicher steht im Hintergrund dieses praktisch-theologischen Forschungsparadigmas auch der trotz steigender Kirchenaustrittszahlen historisch einmalige Wohlstand der Volkskirchen in diesen Jahrzehnten. Ihre personelle und materielle Ausstattung rief ganz selbstverständlich nach einer Praktischen Theologie, die die Bedingungen und Perspektiven für eine handelnde Kirche entwarf.

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verstand sich die Praktische Theologie nicht mehr nur als theologischer Reflexionshabitus, sondern als Mitakteur für eine menschlichere Gesellschaft im Raum der Kirche und darüber hinaus. Seit 1966 fand dieser Ansatz Praktischer Theologie bekanntlich verstärkt ein Forum in der Zeitschrift „Theologia Practica“, herausgegeben von Gerd Otto.194 Karl-Fritz Daiber, von dem ebenfalls ein wesentlicher Beitrag zur Praktischen Theologie in handlungswissenschaftlicher Perspektive stammt, formulierte damals paradigmatisch: „Gegenstand Praktischer Theologie ist die Praxis von Gemeinden und Kirchen im jeweiligen Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis. Im Rahmen dieses Gegenstandsfeldes beschäftigt sich die Praktische Theologie schwerpunktmäßig mit der Praxis kirchlicher und theologischer Berufe.“195 Besonders Otto entwickelte in seinen späteren Arbeiten ein Verständnis Praktischer Theologie, das mit dem handlungstheoretischen Ansatz versuchte, eine rein ekklesiologische Grundorientierung zu vermeiden, gleichwohl in einer gesamtgesellschaftlichen Reflexionsperspektive Impulse für kirchliches Handeln zu vermitteln.196 Um dem komplexen Verhältnis von Kirche und Religion Rechnung zu tragen, unterschied Otto Reflexionsperspektiven wie etwa Hermeneutik, Ideologiekritik oder Kommunikation von anders gearteten Handlungsfeldern.197 Diesen – grosso modo – im Raum der Kirche beheimateten Tätigkeiten lagert er jene Tätigkeiten vor, die, wie Verständigen, Deuten oder Kooperieren einem anthropologischen Grundgestus entsprechen und zugleich „im Zusammenhang von Gesellschaft – Religion – Kirche eine Rolle spielen“, so Otto.198 Otto gelingt es also eindrücklich, den Handlungsbegriff der Praktischen Theologie für die komplexe Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten für kirchliches Handeln produktiv zu machen. Über den ideologiekritischen Grundgestus von Ottos Theologie lässt sich mehr als zwanzig Jahre nach Erscheinen seiner Praktischen Theologie trefflich streiten, auffällig ist aber vor allem, dass die Aufgabe der Theologie, Wirklichkeit vor allem erst einmal methodisch reflektiert wahrzunehmen, faktisch bei Otto noch ein Desiderat ist.199 So dürfte das Interesse an naturräumlichen Erfahrungswelten gelebter Religion auch bei Otto unter einen steten Ideologieverdacht fallen. Blickt man freilich auf die öffentlich geführten Debatten um Umweltschutz, Umweltethik und Nachhaltigkeit der letzten Jahrzehnte zurück, so erscheint 193 194 195 196 197 198 199

Schelsky, Einsamkeit. Vgl. Grethlein, Theorie, 446 f. Daiber, Grundriß. Vgl. Otto, Selbstverständnis, 202 ff. Ders., Grundlegung, 68 ff. Ders., Handlungsfelder, 65. Bemerkenswert erscheint im Rückblick, dass mit Albrecht Grözingers Rückbesinnung auf eine „Kunst der Wahrnehmung“ in der Praktischen Theologie die Distanzierung vom handlungstheoretischen Paradigma ausgerechnet durch einen Schüler Gerd Ottos erfolgte, vgl. vor allem ders., Theologie, der Habilitationsschrift Grözingers.

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es, aus der heutigen Perspektive betrachtet, beinahe eine Binsenweisheit zu sein, auf den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der ökologischen Krise und die Veränderungen des Denkens in Theoriebildung und Praxis der Theologie hinzuweisen. Dennoch: Eine jetzt angemessene Rede von der Natur als Erfahrungsraum des Religiösen legt mit einem angemessenen historischen Abstand überhaupt erst einmal typische Denkmuster dieser Epoche frei und gewichtet sie für gegenwärtige Anliegen durchaus neu. Eine Praktische Theologie, die sich wie gezeigt als kritische Handlungs- und Kommunikationswissenschaft in gesellschaftlichen Kontexten verstand, stärkte seit den 1970er Jahren den Fächerübergreifenden Dialog mit den Humanwissenschaften. Umso wichtiger wurde es daher in der Folge, im innertheologischen Diskurs jene Methoden, Modelle und Deutungspotentiale zu vergegenwärtigen, die vornehmlich in der Systematischen Theologie auf Vermittlung zwischen Dogmatik und Empirie setzten. Beispielhaft führten diesen Dialog etwa die beiden Theologen Walter Neidhart und Heinrich Ott in Basel.200 Wichtige Impulse erhielt die Praktische Theologie dann vor allem im Grenzland von Systematischer Theologie und Philosophie. Es ist im Rückblick erstaunlich, wie sehr dabei die deutschsprachige evangelische Theologie dieser Generation von den beiden Philosophen Carl Friedrich von Weizäcker und Georg Picht geprägt wurde. Schauen wir auch hier auf die Anfänge. Sie liegen lange vor Tschernobyl und dem Waldsterben in einer philosophischtheologischen Auseinandersetzung mit den ersten Anzeichen einer Fortschritts- und Technikkrise der westlichen Welt zu Beginn der siebziger Jahre.201 Der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizäcker trat nicht nur seit den späten 1950er Jahren für eine strikte Begrenzung der Atomtechnologie ein, sondern verknüpfte seine Kritik an der Naturwissenschaft seiner Zeit mit der Forderung nach einer besonderen Verantwor200 Neidhart/Ott, Krone. 201 Es wäre eine eigene Untersuchung an dieser Stelle wert, die Debattenverläufe innerhalb der Evangelischen Kirche in den siebziger Jahren nachzuzeichnen. Im Rückblick kommt wohl dem gesamtgesellschaftlichen Konflikt um die Nutzung von Kernenergie eine tragende Impulsfunktion zu. Hier sah sich die EKD 1977 zum ersten Mal zu einer kirchenamtlich nicht untypischen vorsichtig-abwägenden Äußerung veranlasst, die spätere Publikationen zur ökologischen Krise vorbereitete, vgl. Ratserklärung der EKD zur Energiediskussion, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Ratserklärung, 161 ff. Acht Jahre später, mit Veröffentlichung der bis heute maßgeblichen Denkschrift der EKD zu diesem Themenkomplex, stellte man daher auch selbstkritisch fest: „Mit Ausnahme von Einzelpersönlichkeiten […] war es Kirche und Theologie bis jetzt nicht möglich, in der Umweltdiskussion eine weithin anerkannte theologische Aussage abzugeben und zu einer Geschlossenheit der kirchlichen Haltung zu kommen, […] den angestrengten Bemühungen um Gemeinsamkeit und um die Aufnahme von Impulsen aus den Gemeinden war selten Erfolg beschieden. Häufig erlag man der Gefahr, sich auf Einzelfragen der ökologischen Tagespolitik auszurichten und zu wenig die christlichen Grundfragen anzusprechen, oder aber sich mit der Beschreibung von Problemen zu begnügen“, zit. nach: Kirchenamt der EKD/ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verantwortung, 25.

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tung der christlichen Kirchen für eine aktive Umweltschutz- und Friedenspolitik. Diese Forderungen unterstrich von Weizäcker mit einer von Goethe und Schelling inspirierten Naturphilosophie, die die Idee einer Einheit der Wissenschaften befördern sollte.202 Von Weizäcker verstand diesen Ansatz erkenntniskritisch und verlangte eine Philosophie, die versucht, das Wissen um das Geschaffensein des Menschen zum Ausgangspunkt seines Nachdenkens über Natur zu machen. Durch seine philosophischen Impulse und seine friedenspolitischen Aktivitäten wurde von Weizäcker zum wichtigen Vorbild innerhalb der evangelischen Theologie seiner Zeit. Eng befreundet mit von Weizäcker war der Philosoph Georg Picht, der zu dieser Zeit Leiter der einflussreichen Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg war und zudem Professor für Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät (!) in Heidelberg. Dieser gilt als einer der ersten namhaften Vertreter universitärer Theologie, die sich mit den wegweisenden Thesen von den „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome auseinandersetzten, und er veröffentlichte 1973 einen luziden Kommentar unter dem Titel „Die Bedingungen des Überlebens. Die Grenzen der Meadows-Studie“.203 Picht, der durch seinen Essay „Mut zur Utopie“204 bereits bekannt geworden war, fragt darin dezidiert nach den Folgen der anbrechenden ökologischen Krise für die philosophische Rede über die Natur. Seine Kritik an Fortschrittsgläubigkeit und Naturvergessenheit führt ihn später zu der Aufsehen erregenden Zeitansage „dass die Menschheit heute in Gefahr ist, durch die Wissenschaft von der Natur die Natur zu zerstören.“205 Picht ging es damit weniger um eine Pauschalkritik an den Naturwissenschaften oder einem westlichen Lebensstil, sondern um die grundsätzliche Herausforderung, die sich mit der erkenntniskritischen Logik des modernen Subjekts stellt. Dieses an Descartes und Kant geschärfte und auf sich selbst ausgerichtete Subjekt versteht sich eben nicht als Teil der Natur, sondern steht dieser als Sphäre von Ausbeutung, Schutz oder ähnlichen Projektionen in der Regel unvermittelt gegenüber. So „kommt heraus, welcher Preis für den Austritt aus der Natur zu zahlen ist. Es besteht eine unüberbrückbare Antinomie zwischen dem Regelsystem, nach dem sich Wissenschaft logische Konsistenz verschafft, und dem Gefüge eines offenen […] Ökosystems, das zwischen antinomischen Faktoren wechselnde Gleichgewichte herstellt.“206

Diese Provokation forderte nun u. a. auch die Theologie heraus.207 202 203 204 205 206 207

Vgl. von Weizäcker, Einheit. Picht, Philosophieren, 128 ff. Ders., Mut (1970). Ders., Begriff, 9. Ebd., 19. Vgl. im Kontext systematischer Theologie den Beitrag Hübner, Schöpfungsglaube, 49 ff.

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Wie sehr sich gerade die evangelische Theologie auf die Trümmer einer sinnen- und damit auch naturfernen Wirklichkeitsperspektive gestellt sah, wird deutlich, wenn der Heidelberger Praktische Theologe Gerhard Rau im Vorwort des verdienstvollen Sammelbandes „Frieden in der Schöpfung“ von 1987 eine „einseitige Kopftheologie“208 einräumte und für das Programm einer kritischen Revision der Natur in der Theologie feststellte: So „soll an vergangenen Zeugnissen menschlichen Lebens demonstriert werden, wie wenig naturbelassen sich unsere reflexive abendländische Gottesgelehrsamkeit allmählich darstellt […]. Unsere Geschichtsrückwanderung wird daher zwangsläufig zu einer Art von Denkbuße werden; doch wir vertrauen darauf, dass die Vergebungszusage auch Intellekt-Sündern gilt.“209

4.1 Das Thema in der neueren Praktischen Theologie Auch wenn die Denkfiguren von Weizäckers und Pichts und nach ihnen Altner und Mayer-Abich eine ganze Genration von Theologinnen und Theologen im Umgang mit der ökologischen Krise geprägt haben, bleibt festzuhalten, dass eine ausgreifende wie theologisch reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema Natur in den Gesamtdarstellungen Praktischer Theologie der letzten Jahrzehnte faktisch ausgespart wurde. Das gilt für die Arbeiten von Wilhelm Gräb oder Wolfgang Steck, lässt sich aber auch bereits bei Dietrich Rössler, Gerd Otto und in dem Handbuch für Praktische Theologie beobachten. Anknüpfen lässt sich dagegen bereits an zahlreiche Vertreter einer empirisch orientierten Praktischen Theologie vor 1930, wie Paul Drews, Martin Schian210 und besonders Friedrich Niebergall. Natur wird gerade bei diesem als prägende Umweltbedingung verstanden, die Menschen in ihrem Alltag besonders bestimmt, man denke an die Kirchenkunde mit ihrem Bemühen um eine „standesgerechte“ Beschreibung.211 Zugleich aber kommt die Natur damit auch als Erfahrungshorizont für kirchliches Handeln in den Blick, etwa als Stoff der Predigt.212 Besondere Bedeutung fand die Thematisierung von Natur 208 209 210 211

Rau, Frieden, 9. Ebd., 9. Schian, Kirchenkunde, 756 ff. Vgl. Niebergall, Praktische Theologie, 140: „Manche mögen wirklich in ihr (d. i. die Natur) etwas von Andacht und Genuß besserer Art spüren und die Kirchen meiden, die oft gar zu naturfern, zu moralisch und abstrakt bleiben. Werden wir uns auch niemals darauf einlassen, aus ihr eine Urania zu machen, so können wir doch mancherlei Punkte berücksichtigen, die etwas mehr Luft und Sonnenlicht in die „dumpfen“ Kirchenmauern hineinlassen. Wir dürfen Gott nicht eingesponnen denken im Werke der Erlösung, sondern müssen ihn groß hinzustellen wissen als den Herrn, der die ganze Welt, auch die Natur durchseelt und uns von da her nahekommen will.“ 212 Vgl. z. B. Seile, Naturerkenntnis (1918). Die für seine Generation prägende Predigtkunst Gustav Frenssens, der mit seinen Predigten weite Verbreitung erzielte und einen erstaunlich genauen

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in der Praktischen Theologie der Berneucher Bewegung. Gerade im Denken Wilhelm Stählins finden sich in der Auseinandersetzung mit den Jugendbünden und ihrer Naturaffinität bemerkenswerte Impulse für eine heutige Verbindung von Naturerleben und Leiblichkeit.213 Neuere, gleichsam postbarthianisch geprägte theologische Naturdiskurse der letzten zwei Jahrzehnte, die über eine Reflektion der ökologischen Krise hinausgehen, finden sich in der Praktischen Theologie oft nur als Seitenthema und sind vor allem in die Diskurs-Kontexte Kirchensoziologie214, Kulturtheorie215 oder die Wahrnehmung von Alltagsphänomenen216 eingebettet. Vereinzelt wird das Thema auch im Rahmen neuerer Kasualtheorien erörtert217 oder findet sich in der kulturwissenschaftlichen Breite einer Beschäftigung mit Phänomenen der Alltagswelt wie dem Wandern als Pilgerschaft218 oder der Urlauberseelsorge.219 Diese Problemanzeige gilt auch für das Feld der Religionspädagogik. Insbesondere bei den Unterrichtsmaterialien und Lehrwerken des Religionsunterrichts fällt auf, dass gerade das Verhältnis von einer naturwissenschaftlichtechnisch geprägten Vorstellungswelt der Schülerinnen und Schüler und dem curriculum des Religionsunterrichts bislang nur unvollkommen praktischtheologisch reflektiert wurde. Dies hat zuletzt Guido Hunze in seiner Dissertation gezeigt.220 Hunze entwirft daher eine schöpfungsorientierte Didaktik, der es um religionspädagogische Leitlinien geht, die die divergierenden Interessen von Religionsunterricht und Lebenswelt, Theologie und Naturwissenschaften benennen und dialogisch auf einander beziehen.221 Besonders wichtig in diesem Zusammenhang dürfte sein, dass Hunze der Wahrnehmungsschulung von Schöpfungserfahrungen eine große Bedeutung beimisst, auch wenn dabei überrascht, dass diese für Hunze wohl weniger leibbezogen

213 214 215 216 217 218 219 220

221

Blick für die Naturräume besaß, in denen sich das Leben seiner dörflichen Gemeinden abspielte, entfaltet dabei keine explizite theologische Auseinandersetzung mit dem, was Natur theologisch sein könnte, vgl. ders., Dorfpredigten (1899). Vgl. Stählin, Schicksal. Zu Stählin siehe auch Meyer-Blanck, Leben. Den Zusammenhang zwischen Naturerfahrung und Kurseelsorge beleuchteten erstmals Lukatis/Lukatis, Schöpfung, 219 ff. Einen weiteren Blick wirft ferner Hansen, Kirchen. Vgl. Grözinger, Theologie, bes. 130 – 143. Morgenroth, Natur, 217 – 223. In der Regel findet eine Auseinandersetzung über die Frage nach einer Ausweitung der Orte statt, an denen Kasualien, vor allem die Bestattung, stattfinden, vgl. Wagner-Rau, Segensraum, 211ff u. Fechtner, Kirche, 63 ff. Darüber hinaus siehe auch Klie, Vatertag, 106 ff. Theologisches Terrain gewinnt inmitten eines Modediskurses Lienau, Identitätsstärkung, 62 – 89 zurück. Herlyn, Vogelscheuchen, 44 f. Hunze, Entdeckung, 17 ff. Hunze weist aber zu Recht als Ausnahmen vor allem auf die Arbeiten von Veit-Jakobus Dieterich (ders., Welt) und Martin Rothgangel (ders., Naturwissenschaft) hin, die die ältere religionspädagogische Forschung aufgearbeitet haben. Eine im engeren Sinn empirische Arbeit ist Hunzes Dissertation aber nicht. Hunze, ebd., 221 ff.

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und sinnenbezogen sind, sondern vornehmlich im Dialog mit Kunst entfaltet werden.222 Durchaus verdienstvoll ist in neuerer Zeit dagegen vor allem in methodischer Hinsicht die phänomenologisch-empirische Erkundung des Waldes in dem kurzen Beitrag von Stephanie Klein, auch wenn wesentliche methodologische wie theologische Fragen ebenfalls unbeantwortet bleiben.223 Generell lässt sich feststellen: Eine umfassende Würdigung eines theologischen Naturdiskurses ist hier weiterhin ein Desiderat. Ziel dieser Studie wird es nun zunächst sein, die Vielfalt religiöser Erfahrungen in und mit der Natur wahrzunehmen und sie in angemessener Weise praktisch-theologisch zu deuten. Vor dem Hintergrund einer virulenten ökologischen Krise mag dieser Impetus zunächst überraschen. Aber die Krisendiskurse, besonders die binnentheologischen, wie binnenkirchlichen, nötigen zu einer vertieften Wahrnehmung von Natur, weil sie, überspitzt formuliert, damit überhaupt erst dauerhaft in die Lage versetzt werden, theologisch in dieser Krise zu reagieren.

4.2 Zielsetzungen der Studie und Forschungsdesign Nun gilt es methodenkritisch einzuholen, was sich in den Erkundungen der Lebenswelt zeigen soll, nämlich, dass der theologische Blick auf Naturräume und die in ihnen möglichen Erfahrungen weder durch das naturkundliche und naturwissenschaftliche Wissen grundlegend verstellt ist noch in diesem völlig aufgeht. Dieses Anliegen einer ausdifferenzierten Analyse religiöser Erfahrungswelten in und mit der Natur verbindet sich nun in der Praktischen Theologie mit einer konsequent empirischen Erkenntnisausrichtung. Diese Feststellung versteht sich nicht von selbst. Während gegenwärtig neuere Forschungsbeiträge der Praktischen Theologie grosso modo fast durchgehend empirisch ausgerichtet sind, konnte noch Mitte der 1970er Jahre Henning Schröer zu Recht das Verhältnis von Theologie und Erfahrungswirklichkeit zur Gretchenfrage der Praktischen Theologie erheben und provokant fragen: „Wie hältst Du’s mit der Empirie“?224 Bis in die Gegenwart hinein greift eine empirisch ausgerichtete evangelische Praktische Theologie auf die Impulse von Paul Drews zurück.225 Drews kommt das Verdienst zu, eine empirisch ausgelegte Kirchenkunde im Rahmen 222 Ebd., 231 f. Die anderen, von Hunze ins Gespräch gebrachten Leitlinien wollen den konstruktiv-kritischen Dialog mit den Naturwissenschaften unterstreichen und postulieren eine Lebensweltorientierung des Religionsunterrichts (ebd., 252 f), ohne diese wissenschaftstheoretisch näher zu reflektieren bzw. im Kontext neuerer Beiträge der Praktischen Theologie zur Lebensweltthematik insgesamt einzuholen. 223 Klein, Waldspaziergang, 101 ff. 224 Schröer, Forschungsmethoden, 210. 225 Vgl. Grethlein, Tatsachen, 377 ff.

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seiner praktisch-theologischen Arbeiten entwickelt zu haben.226 Drews war besonders an der empirischen Erforschung im Blickfeld der Volkskunde interessiert227 und stand der Dorfkirchenbewegung nahe.228 Freilich entwickelte Drews und nach ihm Friedrich Niebergall ein Verständnis von empirischer Arbeit in der Praktischen Theologie, das stark dem Gegensatz von Empirie und den Normen des christlichen Glaubens verhaftet blieb.229 So bleibt jene empirisch ausgelegte Praktische Theologie, die sich bis heute von Drews und Niebergall inspirieren lässt, dort von diesen unterschieden, wo sie in der damaligen Engführung auf Religion als Kirche und der Ausrichtung an einer vor der empirischen Erkundung erfolgten theologischen Normdurchsetzung nun einen Schwerpunkt auf einen offeneren und vielfältigeren Bezug zu religiösen Lebenswelten und ihrer Deutung legt.230 So kann es also nicht Aufgabe dieser Studie sein, einer klassischen Naturphilosophie einen weiteren Mosaikstein theologischer Naturtheoriedeutung hinzuzufügen. Stattdessen vollzieht sich diese empirische Ausrichtung im Gesprächszusammenhang mit jenen exponierten Vertretern neuerer Praktischer Theologie, zu deren Anliegen eine klare Lebensweltorientierung und damit die Würdigung bislang wenig aufgearbeiteter gelebter Religion gehört.231 Zu ihren exponierten Vertretern gehört zweifelsohne Hans-Günter Heimbrock. Seine anfangs noch gemeinsam mit Wolf-Eckhart Failing entwickelte phänomenologische Praktische Theologie232 hat sich spätestens seit 2007 zu einer stark rezipierten233 methodologisch ausdifferenzierten „Systematik“ weiterentwickelt.234 Die vorliegende Studie ist in diesem Forschungszusammenhang entstanden und greift auf zentrale Themen und Reflexionsperspektiven Praktischer Theologie zurück. Hintergrund für diese Theologie ist der seit der empirischen Wende verstärkt wahrgenommene Problemzu226 Drews, Volkskunde, vgl. besonders auch Drews, Dogmatik, 134ff, ders., Volkskunde, 1ff und zusammenfassend ders., Problem. 227 Vgl. ders., Volkskunde, (1902), 27 ff. 228 Die besondere Bedeutung, die Drews für die Ausbildung der Volkskunde in Deutschland und die Dorfkirchenbewegung besaß, hebt Treiber, Volkskunde, 63ff hervor. 229 Niebergall wies der Praktischen Theologie als Wissenschaft die Aufgabe zu, mit Hilfe der Wahrnehmung der Realität von empirischer Gemeinde durch Kirchenkunde und Religionspsychologie dem Ziel einer im Sinne Schleiermachers selbsttätigen Gemeinde zuzuarbeiten, vgl. ders., Theologie,14 ff. Akzentverschiebungen zeigen sich dann in den Arbeiten Martin Schians, der ebenfalls empirische Erkenntnisse in seine Kirchenkunde integrieren will, ohne in der für Niebergall prägenden Weise dem Gedanken einer christlichen Norm die der Empirie entgegen steht, verhaftet zu sein, vgl. ders., Grundriß, 18ff 230 Zu dieser Einschätzung gelangte bereits Luther, Religion, 87. 231 Der programmatische Begriff spielt bis heute eine gewichtige Rolle im praktisch-theologischen Diskurs, ob bei Wilhelm Gräb, Wolfgang Steck oder Hans-Günther Heimbrock, vgl. Weyl, Lebenswelt, 13ff und Pfleiderer, Religion, 23ff, vgl. ferner Heimbrock, Theologie, 342 – 350. – Religion kommt hierbei stets als „diskursiver Tatbestand“ (Matthes, Suche, 129) hingewiesen. 232 Vgl. Failing/Heimbrok, Religion und Failing/Heimbrock, Phänomen. 233 Vgl. Plüss, Theologie, 58 ff. 234 Vgl. besonders Dinter/Heimbrock/Söderblom (Hg.), Einführung.

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sammenhang des drohenden Wirklichkeitsverlustes. Darauf versucht eine „Empirische Theologie“ mit einigen grundlegenden Festlegungen zu antworten: Die Krise kirchlich-institutioneller Strukturen und Handlungslogiken vollzieht die Praktische Theologie nach, in dem sie das religiöse Subjekt nicht länger als selbstverständlichen Teil von Kirche sieht oder religiöse Ausdrucksformen an einer wie auch immer gearteten Norm kirchlichen Lebens misst, sondern zuerst einmal konstatiert, „dass Menschen im Alltag in Suchbewegungen involviert sind, welche bereits als religiös qualifiziert werden können.“235 Dies darf nicht vorschnell als kirchenkritischer Gestus missverstanden werden. Im Gegenteil, die Praktische Theologie erweist der Kirche einen Dienst, wenn sie einen „dynamischen Perspektivenwechsel zwischen institutioneller Angebotslogik und der lebensweltlichen Logik der Nutzer, für die die Kirche weitgehend als Umwelt fungiert“236 ermöglicht. Statt dogmatischer Deduktionen oder Ableitungen gewissenhaft ausgeführter Rahmentheorien237 liegt hier nun also das Gewicht auf Religion im Alltag. Emphatisch ließe sich mit einigem Recht sogar von einer inkarnatorischen Theologieperspektive sprechen, weil eine phänomenologisch orientierte Praktische Theologie religiöse Erfahrungen „von unten“ neu schätzen lernt.238 Impulsgeber hierfür sind bis heute die Arbeiten des Theologen Henning Luther239 und des Philosophen Bernhard Waldenfels.240 Die so gewonnene Alltagsperspektive hebt Formen gelebter Religion so hervor, dass sie nicht als entfremdet oder defizitär gegenüber Tradition und Theorie aufgerufen werden können.241 Dabei spielt auch die Würdigung „religions-produktiver“242 Elemente ebenso eine Rolle wie das Entziffern von Traditionen und der in ihnen auffindbaren religiösen Symbolsysteme.243 Die phänomenologisch orientierte Praktische Theologie greift in der Analyse des Alltäglichen nun auf einen Begriff zurück, der auf Edmund Husserl zurückgeht und entscheidend die Koordinaten zwischen Empirie und theologischer Deutungsarbeit bestimmt: die Lebenswelt. Als das unhintergehbare, gegebene all dessen, in das das einzelne Leib-Subjekt eingebunden ist, zielt der Begriff in Aufnahme Husserls „auf vorprädikative Begegnung mit 235 236 237 238 239 240 241

Heimbrock, Kontext, 203 ff. Failing/Heimbrock, Theologie, 23. Als beispielhaft gilt Steck, Theologie. Vgl. Biehl, Ansatz, 37 f. Luther, Religion, 184 ff. Vgl. besonders Waldenfels, Labyrinth, 153 ff. Religion erscheint daher im Alltag oft implizit. Für Heimbrock gilt, „a life world approach does not deal with distinct ,religious things‘, but always starts and ends up with a broad perspective on life, connected to everyday culture“ (ders., Given, 77). 242 Vgl. dazu Heimbrock, Luft, 247 ff. 243 Beispielhaft geschieht dies in der Gegenwarts-Erkundung des christlichen Zentralsymbols vom Kreuz, vgl. Hans-Günter Heimbrock, Gestalt, 54 ff.

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der Welt“244 und stellt in den Mittelpunkt, wie religiöse Subjekte in kommunikative Prozesse von Einbettung, aber auch Unterbrechung oder Neubestimmtsein auf diese Lebenswelt bezogen sind. Im Gegensatz zu einem naiven Sensualismus oder Subjektivismus rechnet eine solche Praktische Theologie gerade auch mit der Störung des Alltäglichen und tritt damit auch ein für ein „Offenhalten der Erfahrung des Religiösen, des Unsagbaren oder auch des Heiligen.“245 Auch theologiegeschichtlich gibt es dafür durchaus Vorbilder.246 Auch gegenwärtig hat dieser praktisch-theologische Diskurs also primär keine Religionstheorie im Sinn, sondern eine Kartierung von Wahrnehmungs- und Klärungsprozessen anhand aussagekräftiger Phänomene gelebter Religion.247 Der Gefahr einer vorschnellen, weil immer schon theoriegeleiteten Deutung dieser Phänomene entgeht die Praktische Theologie nun vor allem dann, wenn sie methodisch mit dem Primat der Wahrnehmung einsetzt. Dabei werden die Phänomene dann nicht ihrer Eigenart und Individualität beraubt, wenn es gelingt, der „Wut des Verstehens“ (J. Hörisch) durch „verlangsamte Wahrnehmungen“248 zu begegnen, und sich dabei an die Geschichtlichkeit und damit Strukturiertheit der wahrgenommenen Phänomene erinnern zu lassen.249 Der Programmbegriff der Wahrnehmung steht dabei nicht nur, wie bei Albrecht Grözinger250, für eine Diskursgemeinschaft mit Kunsttheorie und philosophischer Ästhetik, sondern eben zuerst für eine erkenntniskritische Grundhaltung gegenüber der flüchtig-stummen Lebenswelt und der in sie eingewobenen leibgebundenen Subjekte.251 Das hat Folgen für die Rolle des Wahrnehmenden selbst. Praktisch-Theologische Forschung propagiert gerade nicht das Ideal eines neutralen Beobachters, sondern sieht zuerst das

244 Heimbrock, Kontext, 216. 245 Heimbrock, Wahrnehmung, 83. 246 Schon Wolfgang Philipp hat auf die Beziehung von göttlicher Herrlichkeit als Kabod und Doxa und ihrem „Betrachten“ als ganzheitlichem, krisenhaftem Wahrnehmungsakt gesprochen, wie er für die ältere Physikotheologie zentral war, vgl. ders., Aufklärung, 100 ff. In der Betrachtung (der entsprechende Ausdruck lautet in der britischen Physikotheologie „contemplate“) liegt eine trennscharfe Benennung vor. Weder ist ein sensualistisches Sehen im Blick, noch ein in aufklärerischen Gebärden erstarrtes Beobachten, aber eben auch keine mystische Schau. Vielmehr, so Philipp, ist die Betrachtung eine ergriffene, mitunter verstörende Sicht auf ein Gegenüber, das mich ergreift, gerade in der „Intimisierung der ästhetischen Optik“ (ders., 105). 247 Zu Recht hebt Christoph Morgentahler hervor, die prinzipielle Unmöglichkeit, ein Phänomen vollständig wahrzunehmen, führe zwangsläufig zu einer Reflexion über die Voraussetzungen einer Deutung im Kontext von Wirklichkeit insgesamt, vgl. ders., Approaches, 213 ff. 248 Heimbrock, Kreuz-Gestalten, 116. 249 Vgl. Colpe, Beschäftigung, 33 ff. 250 Vgl. Grözinger, Theologie u. ders.: Ästhetik, 269 ff. 251 Heimbrock, Wahrnehmung, 65 – 90. Gilt diese Wahrnehmung Subjekten, so hat sie theologisch konsequent auch eine ethische Dimension, vgl. zuletzt Heimbrock/Wyller, Anderen. – Die leibhafte und damit passive Dimension eines agierenden Subjekts im Raum hat vor allem Maurice Merlau-Ponty innerhalb der Phänomenologie betont.

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leibgebundene Forscher-Ich immer bereits als Teil des Felds, das besondere Aufmerksamkeit erregt.252 So verstanden sieht sich eine empirisch-phänomenlogisch orientierte Praktische Theologie freilich auch grundlegenden Anfragen ausgesetzt, die im Rahmen dieser Studie zur Diskussion stehen. Eine generelle empirische Ausrichtung dürfte gegenwärtig kaum noch Widerspruch ernten. Wohl aber geht es um die Frage, wie die Formen gelebter Religion im Rahmen theologischer Forschung nicht einfach nur wahrgenommen und gewürdigt werden, sondern theologisch an den Normen christlichen Glaubens geschärft werden. Eine lineare Ableitung verbietet sich.253 Zu Recht hat Susanne Heine festgestellt: „Weder lässt sich Theologie als Reflexion über bestimmte Glaubensinhalte von Variationen gelebter Religion ableiten, noch führt die Erhebung gelebter Religion zur Theologie eines bestimmten Glaubens, der vielmehr widerständig und herausfordernd bleibt.“254

Mit Heine lässt sich daher angemessen nur von einem dialektischen, weil gegenseitigen Verweisungszusammenhang von Theorie und Praxis sprechen. Nur so können Erkundungen gelebter Religion und eine Normen verpflichtete Theologie zusammengedacht werden.255 Diesem Anspruch ist die vorliegende Studie verpflichtet. Dazu gehört auch die Frage nach der historischen Tiefendimension der Phänomene, die erkundet werden. Methodologisch vollzieht sich eine so geartete Praktische Theologie im Rahmen der theologisch reflektierten Einbettung primär sozialwissenschaftlicher Methoden.256 Ausgehend von dem mittlerweile bewährten Methodenensemble der qualitativen Sozialforschung, werden jene Methoden genutzt, die sich entweder, wie die auf den Kulturwissenschaftler Glifford Geertz zurückgehenden Methode der Dichten Beschreibung, im Forschungsdiskurs bereits bewährt haben oder aber noch in der aktuellen Erprobung stehen, wie etwa die inhaltsanalytische Diskursanalyse nach Siegfried Jäger257 oder die von Müller-Doohm inspirierte qualitative Bildanalyse258, und dabei weitere Forschungserkenntnisse vermuten lassen. Bewusst und dem Thema angepasst, werden Methoden gewählt, deren Durchführung bereits für sich

252 Vgl. Heimbrock/Scholz, Verwunderung, 90. 253 Gegen eine unkritische und auch untheologische „normative Kraft des Faktischen“ einer „bloß“ empirischen Praktischen Theologie wenden sich bereits Hunze/Feeser, Normativität, 59 ff. Sie fordern vor allem ein reflektiertes Methodenensemble zur empirischen Erforschung. 254 Heine, Religion, 80. 255 Vgl. ebd., 81 f. 256 Vgl. Heimbrock, Data, 273 – 299. 257 Jäger, Wege, 168ff, sowie Keller, Diskursanalyse, 309 ff. 258 Vgl. Müller-Doohm, Verstehen, 438ff, u. ders.: Bildinterpretation, 57ff, sowie dazu Grevel, Bildanalyse, 279 – 290.

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genommen einen Erkenntnisgewinn für den Fachdiskurs vermuten lassen.259 Im Rahmen einer solchen Methodologie folgen die Einzelmethoden natürlich den ausgewählten Dokumenten des jeweiligen Phänomenbereichs. Dabei lässt sich beobachten, dass die aller menschlichen Erfahrbarkeit vorausgehende Gegebenheit von Natur jede eingrenzende Analytik zunächst einmal herausfordert. Im Einzelnen gehört zu einer methodologisch reflektierten Nutzung jenes Methodenensembles zunächst die Klärung eines Forschungsziels, das auch offen legen kann, wie sehr das Forscher-Ich in die Fokussierung dieses Forschungsgegenstandes eingewoben ist. Es dürfte einen großen Unterschied machen, in welchen gesellschaftlichen, sozialen und geopolitischen Kontexten eine Arbeit über Naturerfahrungen angesiedelt wird. Eine Annäherung an das Forschungsobjekt geschieht aus lebensweltlicher Perspektive und sucht nicht feste Datenbestände, sondern ist an der Wahrnehmung eines Phänomens mit dem Ziel der Erkundung interessiert. Die Dateninterpretation geschieht dabei in einem zirkulären Prozess zwischen Fallbeschreibung und vertiefender Deutung.260 Schließlich erfolgt eine Validierung in Form einer „kommunikationsvermittelten Plausibilisierung innerhalb des Forschungsfeldes“261 und eine Einspeisung in bestehende Diskurselemente wie „Religion“, „Leiblichkeit“, „Raum“ und „Kirche“. Für die Auswahl der Erkundungsräume sind daher nun folgende Kriterien leitend: Eine empirisch-phänomenologische Analyse soll als Form gelebter Religion Erkenntnisgewinn versprechen und zu Impulsen für zentrale Reflexionsperspektiven der Praktische Theologie hinführen. Die Wahl der Methode erfolgt also jeweils phänomenbezogen und reflektiert dabei den Nutzen dieser Methode für empirische Forschung innerhalb der Praktischen Theologie insgesamt. Damit korrespondieren nun besondere Naturräume, die eine je eigentümliche Form der Wahrnehmung vermuten lassen, so also das Meer, Berge, Flüsse, Wälder, Gärten etc. Schließlich eröffnen sich diese religiös grundierten Erfahrungen innerhalb wie vor allem außerhalb kirchlicher Praxis, Einzelnen

259 Methodologisch stellen Erkundungen von Natur die empirische Forschung vor besondere Herausforderungen. Das hat zum einen mit dem Wesen der Natur zu tun. Als stilles Gegenüber, totale Gegenwart bzw. passageres Phänomen sträuben sich viele Naturerfahrungen gegen eine Versprachlichung. Zum anderen sind explizite religiöse Erfahrungen in der Natur selten. Vielmehr, so wird diese Untersuchung zeigen, weisen viele Naturerfahrungen vielmehr eine religiöse Grundierung auf, die sich nur mühsam decodieren lässt. Daraus folgt beinahe zwingend, dass im Zentrum der Untersuchungen die genaue Wahrnehmung religiös grundierter Naturerfahrungen steht, die sich im Gestus der reinen Sprachlichkeit nicht erschöpfen. Da Naturerfahrungen zudem multisensuell wahrgenommen werden müssen, liegt der Schwerpunkt der auszuwählenden Methoden nicht bei Leitfadeninterviews oder vergleichbaren Interviewformen. 260 Heimbrock, Empirie, 42 ff. 261 Heimbrock/Meyer, Erforschung, 39 f.

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Praktische Theologie und Natur

sowie Gruppen bzw. Öffentlichkeiten.262 Die empirisch angelegten Untersuchungen greifen hierbei auf die Wahrnehmung eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs zurück, der jeweils exemplarisch Sinnenhaftigkeit, Naturraum und Sozialität im Gestus modernetypischer Erfahrungen aufeinander bezieht. Im Zentrum der Arbeit stehen folgende vier empirische Analysen, die sowohl unterschiedliche Naturräume untersuchen als auch methodisch und in ihren theologischen Implikationen genügend Varianz erwarten lassen. I

II

III

IV

Naturraum Flüsse/Flut

Meer

Kleingarten

Berge

Thema

Massenmedialer Katastrophendiskurs

Sehen/Urlaub

Alltag

Leib-Ich und Raum

Methode

Diskursanalyse

Qualit. Dichte BeBildanalyse schreibung

Methodenmix (I – III)

4.2.1 Die vier Phänomenanalysen a) Der massenmediale Naturdiskurs über die Elbeflut im August 2002 Am Beispiel von zwei Tageszeitungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung und Sächsische Zeitung) wird untersucht, wie sich die Wahrnehmung von Natur im Angesicht der Elbeflut in Ostdeutschland 2002 veränderte. Von übergeordnetem Interesse ist hierbei die exemplarische Decodierung eines exemplarisch sichtbaren, öffentlichen Diskurses. Sie soll mit Hilfe der inhaltsanalytischen Diskursanalyse erfolgen. Ausgangspunkt sind medial strukturierte Kommunikationsstrukturen, Bilder und Texte. Wie wird Natur dabei gegenwärtig gesamtgesellschaftlich kommuniziert? Welche Rolle kommt dabei den Kirchen zu, welche Unterschiede sind zwischen Ost- und Westdeutschland festzustellen? Welche Rolle spielen in den Teildiskursen dabei die Verständigung über religiöse Erfahrungen und ihre Einbettung in religiöse Symbolsysteme? Forschungspragmatisch verfolgt dieser Teil der Studie das Ziel, empirisches Arbeiten in der Praktischen Theologie auf gesichertem Terrain vorzustellen, weil hier zwar eine eher junge Methode zum Zuge kommt, die Fragestellung aber an der Grenze zwischen dem Phänomenbereich selbst und seinen Diskursen angesiedelt ist. So kommt in diesem Kapitel weder die Leiblichkeit als Reflexionsperspektive der Praktischen Theologie in den Blick noch das Spezifikum naturräumlicher Erfahrungen, nämlich ihre Vorsprachlichkeit. 262 Letzteres lehnt sich natürlich an Dietrich Rösslers Theorie der dreifachen Gestalt des neuzeitlichen Christentums an, ohne die damit verbundene kirchentheoretische Begründung Rösslers voll zu teilen (vgl. ders.: Grundriss, 58ff).

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Gleichwohl werden hier exemplarisch Transformationsprozesse in Formen gelebter Religion sichtbar. Zudem sichert der kontrastive Vergleich verschiedener Diskursteilnehmer eine angemessene Unterscheidung west- und ostdeutscher Perspektiven. b) Der Blick aufs Meer In einer zweiten Erkundung wird der Versuch unternommen, eine Form der Naturwahrnehmung, das Sehen, mit dem Naturraum des Meeres in Verbindung zu setzen. Der Blick auf das Meer, historisch wandelbar und voller religiöser Verwobenheiten,offenbart darin ein Bündel komplexer Naturerfahrungen, die sich in moderner „Urlaubsaugenkunde“ verdichten. Dabei fällt auf, dass die touristisch genutzte Landschaft, obwohl sich die Natur immer weniger als realer Sehnsuchtsort anbietet, gerade deshalb immer stärker auch zum symbolisch verdichteten Raum wird. Die phänomenologische Analyse greift dies in der Wahl von Urlaubsfotos auf, die einer Internetquelle entnommen wurden.263 Die Qualitative Bildanalyse wird hier in neuem Terrain erprobt, ihre Reichweite kritisch gewürdigt und für den übergeordneten Forschungsdiskurs fruchtbar gemacht. Die Fotos dienen dabei als Alltagsdokumente, die der Praktischen Theologie Reflexionsperspektiven auf das Themenfeld Religion und Alltag eröffnen, zugleich aber fordern sie von einer Praktischen Theologie der Natuerfahrung eine methodologisch reflektierte, kritisch-konstruktive Haltung gegenüber dem Ausdrucksmedium „Foto“ ein und eröffnen die wichtige Debatte über eine zeitgenössische theologia naturalis und ihre Ideologiekritik. c) Gartenparadiese in der Kleingartenkolonie Als Naturraum des Alltags bietet sich der Garten für eine phänomenologische Analyse ebenso an wie durch die Vielfalt religiöser Verweise in Bibel, Kirchengeschichte und religiösem Traditionsgut, vor allem in der Rede vom Garten als Paradies. Gegenüber den ersten Untersuchungsdurchgängen soll methodisch noch einmal neu angesetzt werden, indem verschiedene Dokumentsorten genutzt werden: Gartenzeitschriften, Kleingartenfestschriften und eine volkskundlich ausgerichtete Befragung. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht hier eine Kleingartenanlage in Hannover-Spanhagen. Methodisch wird hierbei auf die um volkskundliche und phänomenologische Elemente bereicherte Form der „Dichten Beschreibung“ in Anlehnung von Clifford Geertz zurückgegriffen.264 In diesem Fall wird offensichtlich, wie wichtig eine genaue Reflexion des eigenen Erkenntnis- und Forschungsstandpunkts ist. Weiterhin zeigt das untersuchte Phänomen nicht nur eine soziale Auffächerung der naturräumlichen Erfahrung, sondern auch eine spannungsreiche Wahrnehmung von 263 Vgl. http://www.mein-lieblingsfoto.de – eine Seite des Fotoversands Brenner. 264 Vorarbeiten zu dieser Analyse finden sich in folgendem Beitrag. Grevel, Gott, 226 ff.

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Naturräumen in der Stadt. Schließlich zeigt das ausgewählte Beispiel gut, wie sehr kommunikative Prozesse naturräumliche Erfahrungen bestimmen und verändern. d) Gipfelwanderung zum Hohen Freschen Ein Berggipfel eröffnet besondere Naturerfahrungen. Das hängt mit der starken Verbindung zur eigenen Leiblichkeit zusammen, aber auch mit dem kulturgeschichtlich eingeschriebenen „besonderen Ort“ der Außeralltäglichkeit. Diese Außeralltäglichkeit knüpft einerseits an die Diskursanalyse der Elbeflut an, andererseits aber zeigt sie neue Facetten naturräumlicher Erfahrungen jenseits von der Alltäglicheit, wie im Kleingarten. Zudem ist der Naturraum „Berg“ für eine Phänomenanalyse besonders geeignet, weil sich mit ihm explizite religiöse Handlungen (Berggottesdienst) und Ortsmerkmale (Gipfelkreuz) verbinden lassen. Ausgewählt wurde der Hohe Freschen (2004 m), der höchste Berg des Bregenzer Waldes in Vorarlberg in Österreich. Methodologisch bildet diese vierte phänomenologische Analyse den Versuch, die Stärken der in den ersten drei Erkundungsgängen genutzten Methoden zu verbinden und dadurch vor allem die Raumstruktur des Naturraums Berg zwischen Tal und Berggipfel angemessen zu würdigen. Das bedeutet, die Systematische Beobachtung bzw. Dichte Beschreibung zielt auf die genaue Wahrnehmung eines Naturraumes, nutzt Möglichkeiten der Befragung, deckt Verhaltensspuren auf und ist „teilnehmend“ im Sinne einer leibbezogenen Wahrnehmung. Der Arbeit an dieser Phänomenanalyse ging eine mehrtägige Erkundung im September 2008 vor Ort voraus. Die inhaltsanalytische Diskursanalyse untersucht Alltagsmaterial (Bilder und Texte), besonders dort, wo Versprachlichung vorliegt, etwa in Form von Gemeindeverteilschriften, Vereins- und Kirchennachrichten, Hinweisschildern. Eine Besonderheit stellt die Analyse in Form des kontrastiven Vergleichs von Fürbittbüchern und Gipfelbüchern dar, hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Textgattungsanalyse.

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Kapitel 2 Vier empirische Erkundungen von Formen gelebter Religion A. Der massenmediale Naturdiskurs über das Elbehochwasser im August 2002 1. Einleitung Religiös dimensionierte Naturerfahrungen sind schwer zu beschreiben. Sie sind entweder zu alltäglich oder umgekehrt zu sehr alltäglichen Lebens- und Denkgewohnheiten entzogen. Dazu kommt, dass öffentliche Naturdiskurse mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz eigentlich ganz anders geführt werden: Natur wird im Kontext ihrer Bedrohtheit wahrgenommen also als permanente ökologische Krise; Natur ist das Werk des Menschen, alle Natur ist Kultur ; und drittens: stoffliche Natur wird zunehmend in der Lebenswelterfahrung durch virtuelle Natur verdrängt. Was geschieht nun mit diesem Tableau, wenn Unerwartetes wie eine Naturkatastrophe geschieht? Wie religiös sind solche öffentlichen Diskurse aufgeladen, wo genau wird auf religiöse Sinndeutung etc. verwiesen und welche Unterschiede gibt es zwischen einzelnen repräsentativen Diskurspartnern? Die vorliegende Untersuchung reflektiert dabei nun zunächst die Sprachlichkeit der Erfahrung selbst und verschiebt aus methodologischen Erwägungen heraus den Untersuchungsfokus von der primären Erfahrungsdimension zu dem Diskurs über sie. Sie geht explizit diskursanalytisch vor. Und sie trägt auch den besonderen Diskursregeln in einem vereinten Deutschland seit 1989 Rechnung. Der Elbeflutdiskurs ist für diese Untersuchung besonders geeignet, weil er gleichsam automatisch Kontigenzbewältigungen produziert und dabei auf verschiedene und eben auch religiöse Deutungsmuster zurückgreift – und, weil hier ein Naturdiskurs geführt wurde, der sonst im Verborgenen bleibt. Was für Geschehnisse verbinden sich nun mit dem Elbehochwasser 2002? Bereits im Juli 2002 führten heftige Regenfälle in weiten Teilen Europas zu Überschwemmungen an der russischen Schwarzmeerküste, später in Niederund Oberösterreich und Tschechien. In Deutschland waren Anfang August auch Überschwemmungen in Bayern zu verzeichnen. Am 12. August wurde in Sachsen Katastrophenalarm ausgelöst. Besonders die Zuflüsse der Elbe, die Müglitz und die Weißeritz lösten das Hochwasser aus. Am 13. August waren zahlreiche Orte entlang der Flüsse von der Außenwelt abgeschlossen. THW

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Das Hochwasser im Rückblick

und Bundeswehr begannen mit der Sicherung der Flussdämme und der Evakuierung der betroffenen Orte und Städte. Auch im nördlicheren SachsenAnhalt, besonders im Landkreis Bitterfeld stieg der Pegel der Mulde, am 14. August überschwemmte der Fluss mehrere Orte. Am 15. August wurde Dresden von einer Hochwasserwelle überflutet, der Pegel der Elbe erreichte an diesem Tag den Rekordwert von 8,70 m. Bis zum Abend des nächsten Tages stieg dieser Wert noch einmal auf 9,29 m, die höchste Marke seit 1845. In Brandenburg wurden zehntausende Bewohner bedrohter Orte evakuiert. In Sachsen-Anhalt wurde Katastrophenalarm ausgelöst. Ca. 6000 Soldaten waren im Krisengebiet im Einsatz. Am 17. August begann der Pegel der Elbe wieder zu sinken. Während man sich in Norddeutschland entlang der Elbe auf ein mögliches Hochwasser einstellte, begannen in Sachsen die Aufräumarbeiten. Am 26. August wurde von der rot-grünen Bundesregierung ein Solidaritätsfond eingerichtet. Am 29. August wurde im Bundestag über das Flutopfersolidaritätsgesetz debattiert. Mit Beginn des Elbehochwassers wurden in der Medienberichterstattung andere Themen, wie die Flugmeilenäffare einiger Politiker, in den Hintergrund gedrängt. Fünf Wochen vor der Bundestagswahl am 22. September 2002 blieben aber auch in den kommenden Tagen bundespolitische Themen in den Medien besonders präsent. Ende August verlagerte sich die Aufmerksamkeit von den Hochwasserschäden zurück auf die Bundespolitik. Die Berichterstattung, gerade im Fernsehen war ausgesprochen intensiv. Zahllose Sondersendungen berichteten live von den Ereignissen, Hubschrauberaufnahmen von den überschwemmten Gebieten und emotional aufgeladene Reportagen zeigten das ganze Ausmaß des Schadens.

2. Das Hochwasser im Rückblick: Erkundung eines Phänomens Das Hochwasser, das im August 2002 nacheinander ungeahnte Schäden in Bayern, Tschechien, Ostdeutschland und Polen hervorrief, produzierte entlang der betroffenen Flussgebiete zahllose medial begleitete Bilder und Geschichten. Die Dramaturgie dieser wohl schwersten Naturkatastrophe der deutschen Nachkriegszeit verlief von Süden nach Nord-Osten immer nach den Regeln der Hochwasser führenden Flüsse, deren Pegelstand in Folge Regen und anderer Hochwasser führender Zuflüsse anstieg, Städte erreichte, diese trotz intensiver Schutzmaßnahmen überspülte und schließlich langsam zurückging. Alle Medien berichteten trotz großer Gefahren und restriktiver Verbote. Gerade, weil sich die Zerstörungen nicht auf eine Stadt oder ein Gebiet beschränkten, war es anfangs, anders als etwa bei dem Terrorangriff auf das World Trade Center 2001, nicht möglich, das Hochwasser und die Schäden, unter denen die Menschen litten, so zu personalisieren, das die Ausnahmesituation einen Ort und ein Gesicht bekam. Das änderte sich, als der Hob-

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Das Hochwasser im Rückblick

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byfotograf Lutz Hennig am Morgen des 13. 08. 2002 die letzten verbliebenen Bewohner der sächsischen Kleinstadt Weesenstein von der nahe gelegenen Burg Weesenstein fotografierte, wie diese, auf der letzten noch vorhandenen Mauer ihres Hauses sitzend, auf die Rettung durch Hubschrauber der Bundeswehr warteten.1 Schnell wurde dieses Foto zum Bild der Flut, zum Symbol für die Not einer ganzen Bevölkerung.2 Die Bekanntheit des Fotos führte nicht nur dazu, dass zahlreiche Politiker Weesenstein unmittelbar nach der Flut aufsuchten, bis hin zu Romano Prodi, dem damaligen Vorsitzenden der EU-Kommision. Gerade, weil die Dramatik des Bildes große Emotionen geweckt hatte, war seine massenhafte Verbreitung in Fernsehen, Internet und besonders den klassischen Printmedien wohl der entscheidende Grund für die erstaunlich hohe Zahl an Spenden, die Weesenstein und besonders die Familie Jäpel, die auf dem Foto zu sehen ist, erreichten. Schon wenige Wochen nach Ende des Hochwassers begannen zahlreiche Zeitungen damit, auf das vergangene Geschehen mit Rückblicken zu reagieren. Ihren Höhepunkt erreichte die Zahl dieser Artikel dann zum ersten Jahrestag der Flut im August 2003. Erstaunlich viele Artikel beziehen sich direkt oder indirekt auf das Symbolfoto aus Weesenstein. Auch zwei im August 2003 ausgestrahlte Fernsehreportagen konzentrieren sich ganz auf Weesenstein.3 Durch den fast durchweg gewählten Reportagefokus lohnt ein direkter Vergleich diverser Zeitungsartikel, um das Diskursschema des Phänomenbereichs in seinen Einzeldiskursen genauer wahrzunehmen. Bei den ausgewählten Artikeln handelt es sich um Beiträge aus dem Zeitraum zwischen August 2002 und August 2003.4 Schon bei der Schilderung der Bildumstände weisen die Artikel markante Unterschiede auf. Wählten die überregionalen Tageszeitungen ein Jahr nach der Flut eher einen distanzierten Blickwinkel auf die Familie Jäpel, wohl auch schon deshalb, weil diese für Interviews im August 2003 nicht mehr zur Verfügung standen, formulierten regionale Tageszeitungen bewusst emotional 1 Weesenstein liegt ca. 20 km südöstlich von Dresden im Müglitztal. Die Müglitz zerstörte am 13. und 14. August 2002 praktisch die gesamte städtische Infrastruktur. Weesenstein lebt durch die nahe gelegene Burg Weesenstein besonders vom Tourismus. 2 „Dem Verf. teilte L. Hennig auf Anfrage mit, die Veröffentlichung des Fotos habe der Familie im Nachhinein schweren seelischen Schaden zugefügt und er erteile seit Jahren kein Abdruckrecht mehr“ (Gedächtnisnotiz J.P.G., 01. 08. 2013), das Foto lässt sich ohne Mühe im Internet finden, vgl. Smoltczyk, Wasser, 76 ff. 3 Vgl. Die Menschen von Weesenstein, ZDF, sowie: Das Rote Quadrat, Weesenstein. 4 Es wurde darauf geachtet, dass sowohl Ost- als auch Westdeutsche Zeitungen vertreten sind, regionale wie überregionale Publikationen. Im Einzelnen sind dies: Bartsch, Hause (= die tageszeitung); xy, Hölle (= Westfälische Nachrichten); Marschner, Geschwätz (= Sächsische Zeitung); Delekat, Flut (= Berliner Morgenpost); Burger, Jahr (= Frankfurter Allgemeine Zeitung); ders., Leute (= Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2003); Thomma, Wasser (= Der Tagesspiegel); (bum), Gedenkfeier (= Sächsische Zeitung 2003); Schurig, Jahr (= Stuttgarter Zeitung); Kochinke, Familie (= Leipziger Volkszeitung).

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Das Hochwasser im Rückblick

und persönlich: „Vater Heiko und Oma Sieglinde“ (Leipziger Volkszeitung), „Unten tobte die entfesselte Müglitz, die Schwester schrie verzweifelt um Hilfe“ (ebd.). Distanzierter dagegen: „Ihre Tochter rief bitterlich um Hilfe“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Ebenso markant unterscheiden sich die Auffassungen über das Katastrophenmanagement für Weesenstein. In der jeweils einfließenden Bewertung spiegeln sich politische Überzeugungen und gesellschaftspolitische Grundeinstellungen wider. Das Spektrum reicht von der Annahme grober Versäumnisse, „Niemand wollte sich um die vier Todeskandidaten kümmern“ (Berliner Morgenpost), über die Kritik einer solchen Auffassung, „In Weesenstein hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass ,die da oben‘ keine Nachricht vom drohenden Unheil weitergegeben hätten“ (Stuttgarter Zeitung) bis hin zur Feststellung, die Rettung in Weesenstein sei reibungslos verlaufen, „Die Familie Jäpel etwa verbrachte bis 7 Uhr morgens die Zeit an eine Hauswand geklammert, bevor sie von einem Hubschrauber gerettet werden konnte“ (Westfälische Nachrichten). Auffällig ist auch, auf welche Informationsquellen die einzelnen Reportagen verweisen, wen sie als zitable Autorität jeweils erwähnen. Es treten auf der Fotograf des Flutbildes (Berliner Morgenpost), Malteserhelfer aus dem Westen (Westfälische Nachrichten), der Bürgermeister von Weesenstein (Sächsische Zeitung), eine Ärztin und ein Notfallseelsorger (die tageszeitung), der Landrat des Landkreises Sächsische Schweiz von der CDU (Stuttgarter Zeitung), der ehemalige Pfarrer von Weesenstein und Gemeindeabgeordnete (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Tagesspiegel), dessen Nachfolger im Pfarramt (Tagesspiegel), Nachbarn. Klare Standpunkte zeigen sich auch in der Bewertung handelnder Politiker und der Leistung der verschiedenen Helfer. Es ist wenig überraschend, dass im Osten der Stolz auf ein bürgerschaftliches, solidarisches Nachbarschaftsverhalten überwiegt: „Die meisten Wohnungslosen sind bei Verwandten untergekommen“ (Sächsische Zeitung); im Westen dagegen wird die Hilfe staatlicher Institutionen betont und der Brückenschlag zwischen Ost und West herausgehoben, „An manchen Tagen meldeten sich bis zu 400 freiwillige Helfer aus ganz Deutschland“ (FAZ). Das Bild, das von der Kirche und ihren Vertretern in Weesenstein gezeichnet wird, trägt dem besonderen Umstand Rechnung, dass der frühere Pfarrer von Weesenstein zugleich im örtlichen Gemeinderat sitzt. Er wird als „Träumer“ (Tagesspiegel) bezeichnet, umtriebig, aber auch hilflos (ebenfalls Tagesspiegel). Ein Jahr nach der Flut enthüllt er ein Gedenkkreuz für die Toten und spricht davon, durch Solidarität sei „viel Leid gemildert“ (Sächsische Zeitung 2003) worden. Sein Nachfolger im Pfarramt von Weesenstein ist der „Traurige“ (Tagesspiegel), ein Zugereister, ein Dichter, mit „halber Stelle“ (Tagesspiegel). Kirchliches Handeln kommt darüber hinaus nur vereinzelt in den Blick, wie etwa im Einsatz der Notfallseelsorger, mit der Feststellung verbunden: „Ich erzähle den Leuten jetzt nicht vom kommenden Himmelreich“ (die tageszeitung).

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Kirchliche Flutrede

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In diese Einzeldiskurse ist die Wahrnehmung von Natur und der öffentliche Diskurs über das Hochwasser hinein verwoben. Überlegungen über mögliche Gründe für die epochale Flut werden nur vereinzelt angestellt. Was auffällt, ist, dass die religiöse Metaphorik unmittelbar nach der Flut noch deutlich stärker ausgeprägt war als ein Jahr später : „Wir waren in der Hölle“ (Westfälische Nachrichten), „Der Regen macht sie heulen wie Hunde“ (die tageszeitung). Im Osten ist sie von Beginn an so gut wie nicht vorhanden. Vereinzelt fallen noch anthropomorphisierende Formulierungen über den Fluss ins Auge: „Als sei ein Tier mit einem gewaltigen Pflug über das Tal hergefallen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung). 2.1 Kirchliche Flutrede Es überrascht wohl nicht, dass auch die Kirchen am öffentlichen Diskurs über die Elbeflut teilnahmen. Festzustellen ist, dass ihre öffentlichkeitswirksame Bedeutung für den gesellschaftlichen Gesamtdiskurs im Augenblick der Krise stieg. Das hat gute Gründe: im kommunikativen Normalfall, das zeigen entsprechende Studien des Medieninstituts Tenor, finden kirchliche Themen und Positionen, insbesondere auf evangelischer Seite, zunehmend weniger Aufmerksamkeit und Platz in nichtkirchlichen Medien.5 Im Kampf um mediale Aufmerksamkeit erreichen sie nur noch Ausschnitte einer „zerstreuten Öffentlichkeit“6 ; erst unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes und unter der Voraussetzung eines allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Interesses, hat die veröffentliche Position der Kirche Anteil an der „operativen Fiktion“7 einer homogenen Gesellschaft mit klaren funktionalen Zuschreibungen. Einen klaren Beleg für die wechselnden Öffentlichkeiten kirchlicher Rede liefern die Äußerungen und Beiträge des Bischofs der Evangelischen Kirche in Sachsen, Volker Kreß.8 Zwischen dem 18. 08. 2002 und dem 25. 08. 2002 wandte er sich mehrfach in seiner Funktion als Bischof an die Menschen. Ein Vergleich der Texte zeigt, wie sich Naturverständnis und theologische Deutung des Hochwassers den unterschiedlichen Adressaten jeweils anpassen. In der Kanzelabkündigung für den 18. 08. 20029 wendet er sich an die ÖfVgl. Medien-Tenor-Institut für Medienanalyse (Hg.), Medien, 26 f. Werber, Kommunikation, 44 ff. Ders., 51. Kreß war zwischen 1994 und 2004 Landesbischof der Evangelisch Lutherischen Landeskirche Sachsens. Zu den wichtigsten Äußerungen von ihm gehört in diesem Zusammenhang die Kanzelabkündigung aus Anlass der Flutkatastrophe in Sachsen für Sonntag, den 18. August 2002 (12. Stg. nach Trinitatis) in allen Gemeinden der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, dazu: ders., Der Herr hat seinen Thron über der Flut. Was wir aus unserem Glauben zum Hochwasser sagen können, in: ideaSpektrum 34/2002, 3, ders., Die Flut und Gottes Gründe, in: Welt am Sonntag, 18. 08. 2002, 1. 9 Der vollständige Text lautet: „Liebe Schwestern und Brüder, die unheimliche Flut, die sich in diesen Tagen über weite Teile Sachsens ergossen hat, beschäftigt unsere Gedanken und unsere Herzen. Ein Ende der Auswirkungen der Flut und das Ausmaß des entstandenen Schadens sind

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Das Hochwasser im Rückblick

fentlichkeit der Gottesdienstbesucherinnen und –besucher und damit an eine kircheninterne Kommunikationsgemeinschaft. Der Text besteht aus zwei Teilabschnitten. In einem ersten Teil beschreibt Kreß die aktuelle Situation. Er appelliert an das Gemeinschaftsgefühl der Menschen („ich denke dabei auch an unsere Bauern“) und vermeidet eine Thematisierung der Schuldfrage. Schließlich fordert er zu finanzieller Hilfe für die Opfer des Hochwassers auf. Im zweiten Abschnitt des Textes wird von Kreß die Frage nach der Deutung des krisenhaften Geschehens aufgebracht („Was aber sagen wir von unserem Glauben her zu dem allen?“). Durch den Hinweis auf Ps 29,10 wird die Auffassung eines geschichtsmächtigen Gottes, der auch für das Hochwasser verantwortlich ist, bekräftigt und die gegenwärtige Situation durch Ps 29,10b in eine eschatologische Perspektive gerückt. Das damit verbundene Weltbild charakterisiert Kreß positiv, auch in Abgrenzung zu anderen Vorstellungen, die er wohl in einer kirchenferneren Öffentlichkeit ansiedelt („Wir meinen, heute klügere Weltbilder zu haben. Und doch: Das, was uns betroffen hat, bringt uns in die Nähe solch alter, großer Schriftworte“). Wohl mit Blick auf eine andere Öffentlichkeit ist ein Text geschrieben, der am selben Tag sowohl in der Zeitschrift ideaSpektrum10 erschien, als auch, mit Kürzungen versehen, als „Gastkommentar“ auf der Titelseite der Zeitung Welt am Sonntag11 (WamS). Hier wird Ps 29,10 als Ausdruck eines „alten Weltbildes“ eingebracht, freilich ohne seine eschatologische Spitze. Stattdessen formuliert Kreß konfrontativ, wenn er nun damit die Schuldfrage verbindet: „Unserer westlichen Welt werden da bitterernste Fragen gestellt“. Schließlich noch nicht übersehbar. Leider sind auch Menschenopfer zu beklagen. Die Ängste, die unmittelbar von der Flut Betroffene durchgemacht haben, können wir nur erahnen. Bedrückende Ungewissheit vor der Frage, wie es nun weitergehen kann, treibt viele Menschen um. Ich denke dabei auch an unsere Bauern. Der Vorschlag, die Gottesdienstkollekte dieses Sonntages für die Opfer der Katastrophe zu sammeln, ist sicher nur ein erster, spontaner Versuch, unserem Mitgefühl mit den Betroffenen Ausdruck zu verleihen. Wir haben Nachrichten, dass auch andere Landeskirchen zu Kollekten aufgerufen haben. Lasst uns offen sein für alle Möglichkeiten, zu helfen. Was aber sagen wir von unserem Glauben her zu dem allen? In Psalm 29, 10 steht der Satz: „Der Herr hat seinen Thron über der Flut, der Herr bleibt ein König in Ewigkeit“. Hinter einem solchen Satz steht die uralte Erfahrung von der bedrohenden Gewalt des Wassers. In der Offenbarung des Johannes heißt es darum im Blick auf den erwarteten neuen Himmel und die erwartete neue Erde, dass da das Meer, also die bedrohende Gewalt des Wassers, nicht mehr sein wird. Bis dahin gilt der Glaube, dass Gott seinen Thron über der Flut hat. Wir meinen, heute klügere Weltbilder zu haben. Und doch: Das, was uns betroffen hat, bringt uns in die Nähe solch alter, großer Schriftworte. Es ist aber auch voller Fragen, nicht nur an von Menschen verschuldete Ursachen. Die Betroffenen werden auch nach Gott fragen, der nach unserem Glauben über den Fluten ist. Wir wollen uns hüten vor schnellen Antworten. Aber wir wollen uns mit aller Hoffnung für die Zukunft gründen im zweiten Teil dieses Psalmwortes, das bekennt: „Der Herr bleibt ein König in Ewigkeit“. In der Verbundenheit unseres Glaubens bin ich mit vielen Grüßen, auch im Namen der Schwestern und Brüder des Landeskirchenamtes, Euer Volker Kreß, Landesbischof“ (Manuskript). 10 Kreß, Herr, 3. 11 Kreß, Gründe, 1.

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Kirchliche Flutrede

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rückt er das Gebet in den Fokus eines angemessenen Umgangs mit der Krisenerfahrung. Man wird vermuten können, dass Kreß mit den Themen Schuld, Gebet und der expliziten Betonung eines „über die Fluten gebietenden Gottes“ das besondere Profil des kirchlichen Diskursbeitrages hervorheben will. Einen expliziten Bezug zur Sintflutgeschichte in Gen 6 – 9 stellt dann die Predigt her, die Kreß am 25. 08. 2002 im Rahmen des zentralen Ökumenischen Gottesdienstes in Dresden gehalten hat.12 Er greift auf das Sintflutmotiv insofern zurück, da er zu einem Zeitpunkt sprach, als mit den ersten Aufräumarbeiten längst begonnen worden war und das fallende Hochwasser weitreichende Deutungsperspektiven einforderte. In dem Kreß die gegenwärtige Situation mit der Taube gleichsetzt, die einen Ölzweig bringt und Hoffnung auf neues Leben verheißt, wird das zurückliegende Geschehen auch konsequent als eine „unheimliche Zornesgebärde der Natur gegen den Menschen“ gedeutet. Er perpetuiert damit den Gedanken einer schuldig gewordenen westlichen Welt. Dies geschieht, ohne durch einen reflektierten Naturbegriff das Verhältnis zwischen Gott und Natur oder gar das zwischen Mensch und Natur näher zu beleuchten. So sehr sich also Gastkommentar, Predigt und Kanzelabkündigung hinsichtlich ihrer theologischen Semantik unterscheiden, ihr Naturverständnis bleibt blass und unspezifisch. Die Analysen und Reportagen der regionalen Kirchenpresse, wie der Wochenzeitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Der Sonntag, thematisieren zunächst die Schäden und Reparaturen – mit besonderem Fokus auf die kirchlichen Gebäude.13 und die besondere Solidarität der Menschen mit den Opfern des Hochwassers. Naturgemäß steht dabei kirchliches Handeln im Vordergrund.14 Daneben gibt es vereinzelt auch einen Diskurs über die Ursachen des Hochwassers. Hierbei fällt auf, dass der Diskurskontext „Weltbilddiskussionen“ mittransportiert, dass die hier vorgeführte Perspektive durch und durch rationale Züge trägt. Kritisiert wird eine theologische Personalisierung der Natur.15 Stattdessen wird nachhaltiges Handeln im Geiste der Bibel eingefordert.16 Erstaunlich dabei ist auch hier das Fehlen eines reflektierten Naturbegriffes. Auch im Moment der Krise bleibt die Natur stumm. Für die folgende Untersuchung wurden nun deshalb Diskursparteien ausgewählt, die für die Vielschichtigkeit des Gesamtdiskurses stehen und zugleich für die Berichterstattung über das Hochwasser im August 2002 eine prägende Rolle eingenommen haben. Die Sächsische Zeitung ist die für das Hochwas12 Kreß, Taube (Manuskript). 13 Vgl. Bildunterschrift zu einem Bild des überfluteten Grimma: „Menschen, die sich in die Frauenkirche geflüchtet hatten, wurden dort von den Wassermassen eingeschlossen und mussten sich bis auf die Empore retten“, zitiert nach: Der Sonntag vom 11. 08. 2002, 1. 14 Vgl. Reuther, Anfang, 5. 15 „Die Natur schlägt nicht zurück, sie folgt nur blind ihren eigenen Gesetzen“ (Seidel, Gut, 4). 16 Vgl. ebd. und epd, Signal, 1.

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Zur Wahl der Methode

sergebiet verbreitetste Regionalzeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine der profiliertesten überregionalen Tageszeitungen (West-) Deutschlands mit einem konservativ-bürgerlichen Hintergrund. Beide Zeitungen haben während des Untersuchungszeitraums zahlreiche und umfangreiche Artikel zum Thema publiziert und lassen einen kontrastiven Vergleich ihrer Diskursposition zu. Zugleich repräsentieren beide ein Spektrum von Deutungsmustern, das in Beziehung zu kirchlichen Presseorganen der thüringischen und sächsischen Landeskirche gesetzt werden kann. Als Untersuchungszeitraum wird die Zeit zwischen dem 13. 08. 2002, der Ausrufung des allgemeinen Notstandes in Sachsen-Anhalt, und dem 30. 08. 2002, dem Tag der abschließenden Bundestagsdebatte gewählt. Vor und nach dieser Zeit können nur noch vereinzelte, allgemeine Beiträge, in der Regel über andere Hochwassergebiete (Tschechien, China) festgestellt werden, das belegen auch Inhaltsanalysen der Medienberichterstattung, die das Medieninstitut Tenor vorgelegt hat.17 Gerade durch die zeitnahe Bundestagswahl (22. 09. 2002) wanderte der Fokus der Berichterstattung nach dem 30. 08. 2002 von den Flutereignissen und ihren Folgen zurück zu diesem Themenfeld.

3. Zur Wahl der Methode Wie zu erwarten, ist der öffentliche Diskurs über Natur im Fall einer Katastrophe besonderen Diskursregeln unterworfen. Normalisierung scheint einen solchen Diskurs zum Verstummen zu bringen. Seine religiösen Dimensionen sind vielfach untergründig und treten nur vereinzelt an die Oberfläche. Und: Die öffentliche Wahrnehmung von Natur erfolgt in den Medien immer im gleichzeitigen Thematisieren anderer Diskursstränge, man denke im Fall der Berichterstattung über Weesenstein an die Rolle der Politik, an Opfer und Helfer, an Umweltschutz und finanzielle Entschädigung. Um die öffentlich verbreitete Rede über Natur genauer wahrzunehmen und ihre religiösen Implikate zu beschreiben, werden des Weiteren zwei profilierte Diskursteilnehmer ausgewählt und ihre Beiträge werden in Form der inhaltsanalytischen Diskursanalyse näher untersucht. Die Diskursanalyse gehört zum Methodenensemble der qualitativen Sozialforschung18. Sie versteht sich als Form der phänomenologischen Lebensweltanalyse, indem sie die Praktiken vornehmlich gesellschaftlich relevanter 17 Im Untersuchungszeitraum verdrängte demnach die Medienberichterstattung über die Elbeflut die zuvor und danach wieder dominierenden Themen Arbeitsmarktpolitik, Außenpolitik und Bundestagswahlkampf deutlich, vgl. Medien Tenor Forschungsbericht Nr. 124 – 15. September 2002, 14, Bonn 2002. In der Zeit zwischen dem 17.08 und 23. 08. 2002 entfielen dabei allein 40,9 % aller Berichte der Fernsehberichterstattung auf das Thema Elbeflut, vgl. Medien-TenorInstitut für Medienanalyse, Medien Nr. 139. 18 Vgl. Keller, Diskursanalyse, 309 ff.

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Zur Wahl der Methode

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Kommunikation aufzudecken hilft.19 Als Diskurs versteht man „eine inhaltlich-thematisch bestimmte, institutionalisierte Form der Textproduktion“20 ; an ihm nehmen verschiedene Diskurspartner teil, in unserem Fall verschiedene Tageszeitungen; sie vertreten dabei unterscheidbare Diskurspositionen und sind gemeinsam Ausdruck einer gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. Der Diskursanalyse liegt die Einsicht zugrunde, dass solche Wirklichkeitskonstruktionen überhaupt den relevanten Zugang zur Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit ermöglichen. Die dabei oft untergründig wirkenden Ideologien des Alltages bzw. die strukturell wirkenden Ermächtigungen, wie sie Michael Foucault21 zuerst genauer beschrieben hat, fordern dabei besondere Aufmerksamkeit. So ist die Diskursanalyse per se ideologiekritisch. Gerade im Hinblick auf den zu untersuchenden Naturdiskurs sind einzelne Diskursstränge zu unterscheiden, die sich im Hinblick auf die Begleitung und Bewertung des Hochwassers zu einem Deutungsmuster verdichten.22 Grundlegende Techniken der Diskursanalyse sind die Zusammenfassung einzelner Diskursbeiträge unter inhaltsrelevanten Kriterien, ihre qualitative Explikation an ausgewählten Textbeispielen und ihre Strukturierung als Beitrag für das Verstehen eines Diskurses unter einer bestimmten Fragestellung.23 Methodische Anleitungen, bislang in der verhältnismäßig jungen Forschungsgeschichte nur vereinzelt vorhanden, sind dem Untersuchungsgegenstand entsprechend zu modifizieren. Die weiteren Untersuchungen greifen auf die Methode der inhaltsanalytischen Diskursanalyse von Siegfried Jäger24 zurück und ergänzen sie um die struktural-hermeneutische Bildinterpretation, die sich der Lesart einer Visual Sociology ebenso verdankt wie dem volkskundlichen Umgang mit fotografischem Quellenmaterial.25 Die inhaltsanalytische Diskursanalyse vollzieht sich nun in drei Bearbeitungsschritten: Zuerst geht es um die Auswahl und Sichtung inhaltsrelevanter Artikel einer Zeitung. Zeitraum und Datenbasis werden festgelegt. Nach der Materialsich19 20 21 22

Vgl. Hitzler/Eberle, Lebensweltanalyse, 109 – 118. Keller, Diskursanalyse, 311. Vgl. Foucault, Archäologie. Vgl. Lüders/Meuser, Deutungsmusteranalyse, 57 ff. Deutungsmuster sind hier das „verbindende Glied zwischen objektiven gesellschaftlichen Handlungsproblemen und deren subjektiver Bewältigung“ (ebd. 59). 23 Vgl. Mayring, Inhaltsanalyse, 56 ff. 24 Jäger, Methoden, 544 ff. 25 Vgl. Rose, Methodologies. Aus volkskundlicher Perspektive: Hartinger, Umgang, 79ff, sowie Hägele, Folklore, 317 ff. Die Bildinhaltsanalyse steht hierbei im Vordergrund. Wichtig ist die Beziehung zwischen Bild und Text. Entsprechend den Interpretationsmodellen von M. Imdahl, E. Panofsky und R. Barthes werden in der Regel drei Analyseschritte voneinander unterschieden: die Deskription, die Bedeutungsanalyse und die soziokulturelle Interpretation. Im Hinblick auf das Diskursgeschehen bedeutet dies die Beschreibung des Phänomens auf dem Bild, sein Bedeutungs- bzw. Symbolgehalt und schließlich seine Funktion für den entsprechenden Bild/Text-Zusammenhang im Kontext des Diskursstranges.

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tung und -aufbereitung erfolgt die Spezifizierung in einzelne Diskursstränge mit besonderer Relevanz und die Konzentration auf den Diskursstrang, der näher zu untersuchen ist. Schließlich werden in einem dritten Untersuchungsschritt Einzelanalysen ausgewählter Artikel und Bilder vorgenommen. Die hier ausgebreitete Detailanalyse nimmt im Wesentlichen die Überlegungen von Siegfried Jäger auf.26 Das Analyseschema setzt sich aus folgenden Schritten zusammen: 1) Bestimmung des institutionellen Rahmens (Begründung und Auswahl des Artikels, Anlass des Artikels, Ressortzugehörigkeit, Genre, Länge und Platzierung auf der Seite. Dabei wird auch die Korrespondenz zwischen Bild und Text berücksichtigt.) 2) Textoberfläche (Grafische Gestaltung des Artikels, Bebilderung, Überschriften, Zwischenüberschriften, Gliederung des Artikels in Sinneinheiten, im Artikel angesprochene Themen, d. i. Diskursfragmente, Beziehungen zu anderen Diskurssträngen) 3) Sprachlich-rhetorische Mittel (Art und Form der Argumentation, Hinweis auf Informationsquellen, Logik, Anspielungen, Kollektivsymbole, Redewendungen, Wortschatz, Akteure, Referenzbezüge) 4) Inhaltlich-ideologische Aussagen (Z.B. Verhältnis zur Natur, zu technischen Problemlösungen, zum Menschenbild) 5) Diskursverschränkungen (Vergleich mit anderen Diskurssträngen, Parallelen, Bezüge und Abgrenzungen)

4. Inhaltsanalytische Diskursanalyse: Frankfurter Allgemeine Zeitung 4.1 Der publizistische Ort der Zeitung Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (= FAZ) wurde in der Nachfolge der Frankfurter Zeitung 1949 gegründet und versteht sich als überregionale Tageszeitung mit konservativ-liberaler Grundrichtung.27 Die Herausgeber leiten die Redaktion nach dem rotierenden Kollegialprinzip.28 Das tägliche Erscheinungsbild wird von den vier Hauptsparten Politik, Wirtschaft, Sport und Feuilleton geprägt. Dazu kommt im Rhein-Main Gebiet eine regionale RheinMain-Zeitung. Im wöchentlichen Abstand erscheinen die Beilagen „Technik und Motor“, „Natur und Wissenschaft“, sowie das „Reiseblatt“. 26 Vgl. Jäger, Konstituierung, 132ff, sowie ders.: Wege, 168 ff. 27 Im redaktionellen Kodex der FAZ.net heißt es dazu: „Die Redaktion tritt für eine freiheitliche und soziale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ein.“ 28 Vgl. Frankfurter Allgemeine ZeitungGmbH, Zielgruppe, 7.

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Diskursstränge

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Die Zahl der verkauften Auflage lag 2002 bei ca. 390000 Exemplaren.29 Die Verbreitung der Zeitung zeigt deutschlandweit signifikante Unterschiede. Das Stammland ist eindeutig Hessen. Größte überregionale Tageszeitung im Vergleich zu Frankfurter Rundschau, Handelsblatt, Süddeutsche Zeitung und Die Welt ist sie ebenfalls in Nordrhein-Westfalen (Nielsen II) und BadenWürttemberg (Nielsen III).30 In Sachsen und Thüringen (Nielsen VII) liegt die Zahl der verkauften Auflage zwar ebenfalls über der anderer überregionaler Zeitungen, fällt aber wie in Berlin insgesamt gering gegenüber Regionalzeitungen aus.31 Auffällig ist die geringe Verbreitung in Brandenburg und Sachsen-Anhalt (Nielsen VI). Hier wie in Schleswig-Holstein liegt von den genannten Zeitungen Die Welt nach verkaufter Auflage vor der FAZ.32 Bei der soziodemografischen Struktur der Leserschaft fällt auf, dass rund 2/ 3 der Leserschaft männlichen Geschlechts ist und nur 1/3 weiblich. Ebenfalls auffallend ist, dass unter den verschiedenen Altersgruppen die Gruppe derjenigen, die sechzig Jahre und älter sind, am stärksten vertreten ist. Am geringsten ist die Gruppe der vierzehn bis neunundzwanzig Jahre alten Leser vertreten.33 Ca. 60 % der Leserschaft gehört dem Sektor mit dem höchsten Bildungsgrad an. Unter den Berufsgruppen der Selbstständigen, leitenden Angestellten und Beamten ist die Zeitung besonders stark vertreten.34 Soweit sich aus diesen Berufsgruppen Führungs- und Entscheidungskräfte rekrutieren, lässt sich feststellen, dass diese in ungewöhnlich hohem Maß zu einer vermehrten Reichweite der Zeitung beitragen. 4.2 Diskursstränge Die Berichterstattung über das Elbehochwasser im August 2002 unterteilt sich in eine Vorgeschichte (Zeitraum: 15. 07. 2002 – 12. 08. 2002), mit im Schnitt einem redaktionellen Artikel pro Ausgabe über das Hochwasser in Österreich, Tschechien und Bayern, und den eigentlichen Untersuchungszeitraum, der mit der Meldung über die Auslösung des Katastrophenalarms in Sachsen in der Ausgabe vom 13. 08. 2002 einsetzt. Entsprechend der großen Ressorts der Zeitung verteilen sich die Berichte, Reportagen und Kommentare auf die erste 29 Vgl. Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (=IVW) II/ 2002, Mo-Sa. 30 IVW-Verbreitungsanalyse 2002, zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Zielgruppe, 14. 31 Vgl. ebd., 14. 32 Einen Sonderfall stellt Bayern dar : hier liegt die Süddeutsche Zeitung weit vor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (36000 gegen 296000 verkaufte Exemplare), dies erklärt, warum bundesweit insgesamt die Süddeutsche Zeitung über eine höhere Auflage als die Frankfurter Allgemeine Zeitung verfügt, vgl. ebd., 14. 33 Vgl. dazu Allensbacher Werbeträger-Analyse (=AWA) 2002, zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Zielgruppe, 15. 34 Vgl. ebd., 15.

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Lage mit den Seiten Titelseite, Politik und „Deutschland und die Welt“, dazu auf die Ressorts Feuilleton und Wirtschaft. Typisch für die Medienberichterstattung insgesamt ist natürlich die Vielzahl an ortsgebundenen Reportagen und Berichten auf den Seiten 1 – 9. Dabei lassen sich solche aus dem In- und Ausland unterscheiden. Typische Merkmale der Berichterstattung sind in der FAZ wie folgt zu beschreiben: Berichte und Reportagen über Politiker, die die Hochwassergebiete besuchen bzw. konkret als Krisenmanager unterwegs waren, müssen vor dem Hintergrund der nahenden Bundestagswahl im September 2002 gelesen werden. Bewertungsmaßstab für ihr Handeln ist zusammengefasst der Typus des nüchternen Politikers, der von zumeist militärischen Beratern umgeben, sachorientiert und entscheidungsfreudig agiert.35 Das Katastrophenmanagement staatlicher Stellen und Einrichtungen wird insgesamt positiv und frei von einem Generalverdacht beschrieben.36 Auffallend ist die Hervorhebung der Hilfsmaßnahmen, die durch die Bundeswehr und das Technische Hilfswerk (THW) geleistet wurden.37 Dagegen wird das solidarische Helfen der Anwohner kaum erwähnt. Das Engagement der Jugendlichen besonders aus Westdeutschland wird unter dem Blickwinkel eines überraschenden Verhaltenswandels beschrieben.38 Ansonsten gilt der Schwerpunkt der Berichterstattung über die Helfer den kirchlichen und staatlichen Hilfsorganisationen.39 Auch die besondere Ost-West-Problematik kommt am stärksten durch staatliche Institutionen in den Blick.40 Die Hilfsmaßnahmen werden von einer ausführlichen Berichterstattung über Schadensmeldungen begleitet. Besonders die betroffenen Kulturgüter in Dresden finden dabei Beachtung.41 Reportagen über unmittelbar betroffene Hochwassergeschädigte finden sich so gut wie gar nicht, am ehesten noch im Rahmen von Reportagen über einzelne Städte und dort auch nicht mit der letzten Suche nach Intimität und Emotionalität.42 Ebenfalls einen breiten Raum nehmen die technischen Informationen über das Geschehen ein. Fragen des Hochwasserschutzes werden dabei allgemein und weniger unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Hilfe für die Betroffenen gegeben. Dort, wo meterologische Fragestellungen verhandelt werden, kreisen die Berichte um das Problem fehlender Vorhersagekraft.43 Bei der Suche nach Gründen für das Hochwasser werden verschiedene Begründungsmuster erkennbar. Die Kritik an fehlenden Rückstauflächen der 35 Vgl. Burger, Sintflut, 3 und Leithäuser, Aber, 3. 36 Einzige gravierende Ausnahme ist der Bericht über die chaotischen Zustände in der Dresdner Universitätsklinik, vgl. Ehninger, Krise, 40. 37 Vgl. etwa Lohse, Soldaten, 7. 38 Vgl. Schmoll, Null, 3. 39 Vgl. Deckers, Netz, 1. 40 Vgl. Pergande, Oderflut, 7. 41 Vgl. Menasse, Flut, 38. 42 Stadler, Grimma, 7. 43 Müller-Jung, Kachelmann-Effekt, 37.

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Elbe wird nicht mit einer allgemeinen Kritik an Behörden oder Anwohnern in Verbindung gebracht. Typisch ist die Suche nach rationalen Erklärungen, die dabei auch die Grenzen der Vorhersagbarkeit benennt.44 Zu der Deutungsarbeit gehört aber auch das Angebot der emotionalen Krisenbewältigung durch die Strategien der Distanzierung und Poetisierung. So lassen sich die Schilderung technischer Verfahren, aber auch Historisierungen der Elbeflut als stabilisierendes Leseangebot an die Leserinnen und Leser der Zeitung verstehen.45 Typisch ist daneben die Beschreibung des Geschehens durch Schriftsteller, die nicht der Redaktion der FAZ angehören und die damit verbundene Poetisierung, die eine nicht technisch-institutionelle Wahrnehmung der Elbeflut einfordert.46

4.3 Detailanalyse Einzelartikel 4.3.1 „D. Deckers, Festtag für Fischreiher“ 4.3.1.1 Institutioneller Rahmen Der ausgewählte Artikel47 ist repräsentativ für eine Vielzahl von raumgebundenen Reportagen über Städte und Dörfer, die vom Hochwasser des Sommers 2002 betroffen waren. Spezifisch und damit besonders zu untersuchen ist die vorliegende Reportage über ein Hochwasser aber deshalb, weil sich das Geschehen, das sich am 18. 07. 2002 in Osterwieck im Harz ereignete, fast einen Monat vor dem Kernberichtszeitraum des Hochwasser im August 2002 liegt. Ziel der Detailanalyse ist es daher, zu untersuchen, welcher Deutungsmuster sich der Artikel in einem „normalen“, noch nicht von einem öffentlichen „Katastrophendiskurs“ geprägten Zustand bedient. Der Artikel wurde aus Anlass des Hochwassers in Osterwieck im Harz am 18. 07. 2002 von Daniel Deckers verfasst. Wie auch bei anderen „Hochwasserreportagen“ üblich, ist der Artikel im Politikressort, also der ersten Lage der Zeitung, angesiedelt, auf der „Seite 7“, „Deutschland und die Welt“. Die Gesamtseite wird aufgeteilt in zwei längs laufende Fahnen kleinerer Meldungen am linken und rechten Rand. In der Mitte der Seite sind drei Artikel angeordnet. Davon nehmen der Artikel über das Hochwasser in Osterwieck und ein oberhalb davon abgedrucktes Foto zusammen mehr als die Hälfte dieses Mittelteils ein. Foto und Artikel sind mit einer Fläche von jeweils ca. 14x25 cm gleich groß. Zusammen nehmen sie ca. 35 % der Gesamtseite ein. Die beiden übrigen Artikel des Mittelteils, ein Bericht über eine Panne 44 45 46 47

Möhring, Wasser, 3. Vgl. z. B. Breidenich, Fluten, 9. Vgl. Bernig, Warum, 35, Czechowski, Wasser, 35. Deckers, Festtag, 7.

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beim Mittwochslotto und über einen archäologischen Kaffeekannenfund in Belize, sind um 3 % bzw. 2 % kürzer. 4.3.1.2 Die Textoberfläche Foto und Artikeltext korrespondieren in ihrer Breite und Höhe. Auffällig ist der große Hell-dunkel-Kontrast zwischen Text und Bild, das die Nachbarstadt Osterwiecks, Ilsenburg bei Nacht im schwach erleuchtenden Scheinwerferlicht zeigt, versehen mit der Bildunterschrift: „Die ganze Nacht regnete es wie hier in Ilsenburg in Sachsen-Anhalt. Am Morgen gab es ein böses Erwachen“. Sichtbar ist eine schmale, überflutete Straße, links und rechts von Häusern umgeben, eine einzelne Person, ein Feuerwehrmann, geht mit dem Rücken zum Betrachter auf eine Gruppe von weiteren, an ihren Uniformen erkennbaren Hilfskräften der Feuerwehr zu. Der Artikel weist keine textstrukturierenden Zwischenüberschriften auf und hat insgesamt sieben Absätze. Da die Reportage das Geschehen chronologisch begleitet, lässt sich der Text in folgende drei Sinnabschnitte untergliedern: a) Am Abend vor dem Hochwasser (Abs. 1 – 3): Vorbereitungen auf das Hochwasser, Überflutung des Nachbarortes; b) Der Morgen des Hochwassers (Abs. 4 – 5): Entstehende Schäden und Hilfsmaßnahmen; c) Der Mittag in Osterwieck (Abs. 6 – 7): Das Hochwasser geht zurück, Bilanzierung. In einem chronologischen Berichtsstil werden mehrere Themen des „Hochwasserdiskurses“ angesprochen. Dazu zählen das Warten auf die Flut und die damit verbundenen Evakuierungsmaßnahmen, die Schilderung der Flut selbst, das Agieren von Helfenden, das Verhalten der Opfer sowie die Folgen der Flut. Im Einzelnen: 4.3.1.3 Sprachlich-rhetorische Mittel Die Wahl des reportierenden, chronologischen Stils ist zwangsläufig mit dem Verlaufsschema des Hochwassers verknüpft. Auffällig ist, wer zu den handelnden Personen gezählt wird. Namentlich genannt werden der Pfarrer von Osterwieck, der die Feuerwehr benachrichtigt, und der Polizeihauptkommissar, der die Schadenslage in Osterwieck abschließend erläutert und versucht, zu beruhigen. Weiterhin agieren die Polizei, der Zoll und die freiwillige Feuerwehr. Die Bevölkerung dagegen wird als passiv geschildert, besonderes Merkmal ist dabei, dass die Rettungsmaßnahmen nicht behindert werden („Kein Geschrei, keine Flüche“, Z. 6748). Der Stil ist durch die zuweilen ironisch gebrochene Nähe zu den Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern geprägt, deren Sprachwendungen an mehreren Stellen durchschimmern: „Retten, was zu retten ist“ (Z. 59), „Bezahlt wird später. Man kennt sich in Osterwieck“ (Z. 73 f), „In Osterwieck hat man trotz allem nicht den Humor 48 Zitiert wird nach der im Orginallayout vorgenommenen Zeilenzählung.

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verloren“ (Z. 121 f). Gerade diese letzte Äußerung lässt sich als Beleg für die Logik des geschilderten Geschehens begreifen: Das Hochwasser kommt, richtet Schäden an, aber durch konzentrierte, professionelle Hilfsmaßnahmen ist die Ordnung schnell wieder hergestellt.49 Der Verfasser bedient sich verschiedener sprachlicher Mittel, um das besondere dieses Zwischenfalls und seine Bewältigung herauszustellen: So weist Abs. 5 bei der Schilderung der ersten Hilfsmaßnahmen eine Reihung kurzer, verbal dominierter Sätze auf, wohingegen Abs. 1und Abs. 6 ihren beschreibenden Charakter durch eine Vielzahl präpositioneller Reihungen unterstreichen und durch das Zitieren von handelnden Personen kommt ihr reflexiver Stil zum Ausdruck. Insgesamt fällt auf, dass der Fluss, die Hochwasser tragende Ilse, kaum näher beschrieben wird. Einzig findet sich in Abs. 2 die Formulierung „Mit der Gewalt eines reißenden Wildbachs sucht sich die Ilse neue Wege talabwärts“ (Z. 34 f). 4.3.1.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen a) Osterwieck steht für eine verlässliche, dörfliche Ordnung Der untersuchte Text weist verschiedene Kennzeichen der chronologischen, ortsgebundenen Dorfreportage auf. Zitathafte Wendungen dörflicher Kommunikation und der Bezug auf dörfliche Autoritäten (Kirche, Polizei) unterstreichen dies. Ein Pfarrer und ein Polizeihauptkommissar treten als handelnde Personen auf; zugleich „beruhigen“ sie die Dorfbevölkerung. Vieles in Osterwieck ist so, wie es schon immer war. Der Ort ist eine „malerische Fachwerkstadt“ (Z. 19), mit pittoreskem Charme, soziale Bindungen sind stark ausgeprägt: „Bezahlt wird später. Man kennt sich in Osterwieck.“ Bewohner geben Hinweise auf frühere Hochwasser und dokumentieren damit historische Kontinuität. Die Einwohner haben das Wohl des ganzen Ortes im Blick („Nun ist alles auf den Beinen und den Rädern, was sich bewegen kann“, Z. 75), stellen die angeordneten Rettungsmaßnahmen nicht in Frage („Noch immer geht es ruhig zu in Osterwieck“, Z. 66) und nutzen weiterhin Orte notwendiger Versorgung („Und während das Mehlsilo des Beckers an der Straßenecke voll Wasser läuft, gibt es oben Brötchen“, Z. 70ff). Der Aufbau des Artikels spiegelt das Hochwassergeschehen in seinen abfolgenden Phasen. Dem Einbruch des Unerwarteten wird doppelt entgegengesteuert: einmal durch den chronologischen Berichtstil, der vom „Leerlaufen“ Osterwiecks am Mittag berichtet, zum anderen, weil im letzten Absatz der Vertreter der staatlichen Ordnung (Polizei) das Geschehen einordnet („,Derb‘ habe es die Stadt erwischt, sagt Polizeihauptkommissar Rieckmann“, Z. 123ff) 49 Eine ganz ähnliche Logik beinhaltet der unter dem Text platzierte Artikel über eine Panne beim Ziehen der Zahlen des Mittwochslottos im ZDF. Auch hier gerät durch einen unerwarteten Zwischenfall eine verlässliche Ordnung für kurze Zeit aus den Fugen.

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und ihm einen höheren Sinn abgewinnt („Für die Fischreiher sei heute ein Festtag“, Z. 129). b) Ohne die durch die deutsche Einheit veränderten Strukturen wäre eine Bewältigung der Krise nicht möglich Der Text charakterisiert Osterwieck im Nordharz und seine Bewohner als altmodisch und rückständig: „Früher, als die Stadt noch so aussah wie auf dem Stich von Merian, hätten Torwächter Alarm geblasen, die Glocken aller Kirchen Sturm geläutet. Noch immer ist es still in der Stadt. Zu still“ (Z. 55). Professionelle Hilfe verdankt sich Polizei, Zoll, Technischem Hilfswerk und einem modern ausgestattetem Feuerwehrfuhrpark, der sich von DDR-Relikten abhebt: „Vor der Feuerwache warten neueste Gerätewagen und altersschwache, aber liebevoll gepflegte Feuerwehrfahrzeuge aus DDR-Zeiten“ (Z. 100ff). c) Das Hochwasser wird als selbstverständlicher Teil des ortsgebundenen Lebens gedeutet Besonders aussagekräftig sind nun die Aussagen über das Hochwasser selbst. Wie bereits festgestellt, wird der Hochwasser tragende Fluss nicht weiter semantisch aufgeladen. Die chronologische Schilderung der Ereignisse betont den Rhythmus von Vorher und Nachher und unterstreicht dies durch den Hinweis auf frühere Hochwasser. Suggeriert wird, Überschwemmungen gehörten zum Leben am Fluss dazu. Menschliches Versagen oder technische bzw. meteorologische Auffälligkeiten finden keine Erwähnung. Dieser Kreislaufgedanke des Lebens mit der Natur wird am Ende des Textes noch einmal besonders deutlich: In der Bezugnahme auf den Polizeihauptkommissar, der die Schäden des Ortes gegen den Nutzen für einzelne frei in der Natur lebende Tiere aufwertet. Das unterstreicht auch die Überschrift des Artikels „Festtag für Fischreiher“. Freilich verstärkt der Verfasser des Artikels die leisen Zweifel, die angesichts dieses Hochwassers auch dem Polizisten an dieser Alltagslogik kommen („Um sogleich von den Anstrengungen der zurückliegenden Stunden und seinem überfluteten Garten abzulenken und das Gespräch auf die Fischreiher zu bringen“, Z. 125 f). Mit der Hervorhebung in der Überschrift bricht der Verfasser ironisch dieses „ganzheitliche“ Deutungsmuster von Natur, ohne es jedoch wirklich in Frage zu stellen. 4.3.1.5 Naturdiskursfragmente Wahrnehmungsmuster werden also im Zuge eines Hochwassers sichtbarer als im Normalfall. Dem Rhythmus von steigendem und fallendem Flusspegel entsprechend begleitet die Zeitungsreportage den Ort während des Hochwassers. Ganz parallel zu dem darunter platzierten Artikel und dem darüber platzierten Foto wird eine plötzliche Unterbrechung des Alltags beschrieben und seine in Kürze wahrscheinliche Wiederherstellung. Der Feuerwehrmann,

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der die vom Hochwasser überflutete schmale Gasse entlang schreitet, suggeriert, wie die Schilderung einer Panne beim Ziehen der Lottozahlen, eine Unterbrechung alltäglicher Ordnungen, die aber offenbar keine grundlegende Krise des Lebens nach sich zieht. Die Wahrnehmung von Naturkreisläufen wird im Kontext der Ost-West-Problematik ironisch gebrochen und trägt für den Verfasser antiquierte Züge.

4.3.2 K. Pfaffenbach „Geöffneter Himmel“ 4.3.2.1 Institutioneller Rahmen Für den gesamten Untersuchungszeitraum fällt der sparsame Bildgebrauch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf. Fotos werden zwar zahlreicher und großflächiger als sonst verwendet, sind aber im Vergleich zu anderen Presseorganen insgesamt zurückhaltend. Durchgehend sind alle Fotos schwarzweiss gedruckt, Nahaufnahmen von Opfern oder entsprechend emotional aufgeladene Fotos finden sich nicht. Das vorliegende Bild wurde ausgewählt, weil es in Größe, Dramatik und Platzierung eine Ausnahme in der Berichterstattung darstellt. Es wurde in der Ausgabe vom 17. August 2002 veröffentlicht, also auf dem Höhepunkt des Hochwassers. Die verwendeten bildsprachlichen Mittel sind in ihrer religiösen Symbolik für den zu untersuchenden Naturdiskurs zentral. Das Foto wurde von dem Fotografen Kai Pfaffenbach für die Agentur Reuters aufgenommen. Es ist mit der Bildzeile „Freiwillige Helfer am Deich der Mulde bei Bitterfeld: die Stadt wurde am Freitag schon teilweise evakuiert“ unterlegt. Es findet sich auf der Seite 7 „Deutschland und die Welt“, der Reportageseite in der ersten Lage, also dem Politikressort der Zeitung. Seine Größe beträgt 24 cm x 24,5 cm. Im Aufbau der Seite nimmt es einen zentralen Ort ein. Zwischen zwei jeweils am linken und rechten Rand verlaufenden Artikelfahnen ist auf der Seite in der oberen Hälfte das Foto platziert, darunter in gleicher Größe der Artikel von F. Pergande, „Man kennt sich von der Oderflut. Die kleine brandenburgische Stadt Mühlberg im Ausnahmezustand“. In diesen Artikel ist eine geografische Karte integriert. Das Foto nimmt fast 60 % des oberen Seitenteils ein, bezogen auf die ganze Seite 29,4 %. 4.3.2.2 Deskription Der erste, synthetisierende Bildeindruck wird durch die Bildunterschrift angeregt und bestätigt: Menschen befinden sich auf dem Deich eines Flusses, über ihnen ein bewölkter Himmel mit durchscheinender Sonne, dazwischen ein Hubschrauber. Das SW-Foto baut sich aus fünf parallelen, horizontal verlaufenden Bildregistern auf. Register I („Der Fluss“): Im untersten Bildregister ist Wasser zu erkennen.

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Fig. 1: Kai Pfaffenbach/Reuters: „Geöffneter Himmel“

Die verzerrten Schatten auf seiner Oberfläche weisen auf eine Bewegtheit hin. Zu erkennen sind die gespiegelten Oberkörper der auf dem Deich sich befindenden Personen. Der Bildunterschrift nach handelt es sich bei dem Fluss um die Mulde. Zum rechten Bildrand hin vergrößert sich das Register. Am rechten, unteren Bildrand ist auf dem Wasser, wohl schwimmend, ein isolierbarer Gegenstand auszumachen, wahrscheinlich ein Schlauchboot oder ein Sandsack. Register II („Sandsäcke“): Register I und II gehen ineinander über. Der Fluss wird durch aufgeschichtete Sandsäcke nach oben hin abgegrenzt. Korrespondierend mit Register I wird Register II zum rechten Bildrand hin schmaler. Einzelne Sandsäcke sind erkennbar, insgesamt wirken diese aber durchnässt und dadurch nicht mehr klar zu differenzieren. Zusammengeschichtet sind diese zu einem nach oben ansteigenden, den Fluss begrenzenden Deich. Register III („Personen auf dem Deich“): Über die ganze Bildbreite verteilt,

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befinden sich auf dem Deich insgesamt zweiundzwanzig Personen in überwiegend sitzender Körperhaltung. Davon unterschieden ist die dritte Person von links, die auf dem Deich steht und mit der Vorderansicht zum Betrachter stehend, den Oberkörper so gedreht hat, dass er in das rechte Bildfeld sieht. Parallel dazu hat sich eine leicht erhöht wirkende Person am rechten Bildrand nach links gedreht. Die Personen, durch die Bildunterschrift als Helfer eingeführt, sind in ihrer Flächigkeit und ihren Umrissen zu erkennen und von einander abzugrenzen. Register IV („Himmel und Hubschrauber“): Der Übergang von Register II/ III zu Register IV markiert den Horizont etwa im Verhältnis 1/4 zu 3/4. Der großflächige Himmel ist im unteren Teil (ein weiteres Bildviertel) dunkler und wirkt hier noch wolkenlos. Besonders auffällig ist das Bilddetail des fliegenden Hubschraubers. Dieser „markiert“ mit dem sichtbaren, nach oben weisenden Rotorblatt den horizontalen Übergang zu Register V. Erkennbar sind weiter die beiden Landekufen des Hubschraubers, ein stabilisierendes Querblatt sowie das Seitenruder. Als Flugrichtung ist der rechte Bildrand auszumachen. Parallel zu den beobachtenden Personen auf dem Deich fliegt der Hubschrauber in einer Linksbewegung. Register V („Himmel“): Im obersten Bildregister, der oberen Fläche des ganzen Bildes, ist eine stark bewegte Wolkenkonstellation zu sehen. Einzelne, in Umrissen voneinander abzugrenzende Wolken sind nach oben hin um eine kreisförmige Mitte hin angeordnet. Diese im obersten Registerteil zu sehende Mitte ist durch ihre Helligkeit von den sie umgebenden Wolken klar abgegrenzt. Das SW-Foto weist insgesamt starke Hell-dunkel-Kontraste auf. Die drei unteren Bildregister sind in der vorliegenden Zeitungsabbildung fast ganz schwarz, lediglich im Wasser (Register I) spiegelt sich das einfallende Licht. Dunkel dagegen wirken die Schatten aus Register I/II. Nach oben hin baut sich im Bereich des Himmels stärker werdende Helligkeit auf, die ihre größte Intensität in der „Sonnenöffnung“ im obersten Bildfeld erreicht. Die Bildkomposition lebt von zwei Blicklinien. In der klaren vertikalen Anordnung einzelner horizontaler Register entsteht durch den Hell-DunkelKontrast eine Blickrichtung zum mittig angeordneten Sonnenkreis im obersten Bildfeld. Daneben liegt der Fluchtpunkt der horizontalen Blickrichtung bei dem rechts vom Hubschrauber sich öffnenden Bildraum, auf den der Betrachter durch die markante Person am linken Bildrand geleitet wird. Dadurch entsteht ein kompositorisches Dreieck der Aufmerksamkeitspunkte zwischen stehender Person (links unten), Hubschrauber (rechts unten) und Lichtkreis (oben Mitte). Zwischen diesen drei Koordinaten bewegt sich der Blick des Betrachters. Der „heruntergezogene“ Horizont verstärkt die „Dramatik“ der sichtbaren Szenerie: Das über den Köpfen der Helfer sich Ereignende nimmt einen überdimensionierten Raum ein.

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4.3.2.3 Bedeutungsanalyse Das Foto, welches auf dem Höhepunkt des Hochwassers publiziert wird, ist in seiner Dramatik Ausdruck einer aktuellen Krisensituation. Es kreist um die Bedeutungsdimensionen Gefahr und Rettung. Die akute Gefährdung geht von einem unmerklich, aber stetig steigenden Wasserpegel des Flusses aus. Das Foto dokumentiert dies durch ein Bild vom Wasser, das diese Ambivalenz zum Ausdruck bringt. Weder reißende Fluten oder hoch spritzende Gischt ist zu sehen. Stattdessen sickert das Wasser eher ein, wofür der unscharfe Rand zwischen Fluss und Sandsackdeich steht. Die Gefahr, die von diesem Gewässer ausgeht, drückt sich stattdessen durch den Blickwinkel des Fotografen aus : Der Fluss beschreibt nach rechts hin eine Biegung, wodurch ihm, der Blickrichtung nach rechts folgend, stetig mehr Raum zukommt. Das besondere Ineinander von Gefahr und Rettung spiegeln die horizontal verlaufenden Register in ihrer vertikalen Schichtung wieder. Register I – III, die im deutlichen Helligkeitskontrast zu den oberen Bildregistern mit Himmel stehen, berichten von der Gefährdung durch den steigenden Fluss. Die Helfer, vermutlich in einem Augenblick der Erschöpfung aufgenommen, dokumentieren zusammen mit dem fragilen Sandsackdeich den Ort der Bedrohtheit. Im obersten Bildregister, also über den Köpfen der Helfer, ist eine dramatische Szenerie eingefangen, die eine große Ambivalenz ausstrahlt. Die steigenden Wasserpegel, in Folge heftiger Regenfälle entstanden, stehen in kausaler Beziehung zu einem wolkenverhangenen Himmel. Durch diese Wolkenschicht hindurch, in der Bildmitte platziert, strahlt die Sonne hindurch. Im Themenfeld Rettung kommt diesem Hell-Dunkel-Kontrast besondere Bedeutung zu. Auf dieser Bedeutungsebene ist die Rettung von dort her zu motivieren. Die besondere Dynamik, aber auch die Platzierung zwischen den unteren und dem oberstem Register sprechen für die besondere Bedeutung des Hubschraubers. Dieser vermittelt zwischen Hell und Dunkel, Himmel und Erde, zwischen Gefahr und Rettung. Auf ihm liegt, betont durch die eindeutige Blicklenkung, besonderes Augenmerk. Ob nun gewollt komponiert oder unbewusst gestaltet, durch die Auswahl und Platzierung des Fotos wird nicht nur eine aktuelle Dramatik bebildert. Vielmehr weist das Foto durch seine bewusst vorgenommene Kontextualisierung zahlreiche Bezüge zu der christlichen Ikonografie, besonders der Sintfluttradition, auf. Im Wesentlichen lassen sich zwei ikonografische Themenbereiche dabei unterscheiden: In den weit verbreiteten Sintflutdarstellungen ist der sich öffnende Himmel während der Flut fester Bestandteil des Bildprogramms, wenn auch in enger Anlehnung an Gen 8,1 – 14 das Schwergewicht in der Regel auf das rücklaufende Wasser und die Arche gelegt wird. Der starke Helligkeitskontrast, die vertikale Bildachse und der verschobene Horizont weisen dem sich öffnenden Himmel besondere Bedeutung zu. Iko-

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nografisch entspricht dies einer Theophanie.50 Entsprechend der Sintfluttradition kann diese Theophanie als Strafgericht vor der Flut oder als Zeichen der Gnade Gottes nach der Flut gedeutet werden. Für beide Lesarten gibt es ikonografische Vorbilder. Während J. M. Turner in seinem Gemälde Evening of the Deluge (1843)51 den Hell-Dunkel-Kontrast durch am Wolkenrand aufziehende dunkle Vögel unterstützt und damit die Vorahnung baldiger Verdunkelung und damit Gefahr illustriert, öffnet sich die Wolkenwand in G. F. Watts spätviktorianischem Gemälde After the deluge: The forty-first day (1885/ 1886)52 nach der Flut. Die strahlende Sonne wird hierbei für Watt zum Symbol für Gottes Allmacht und Gnade. Diese Deutungsoffenheit entspricht nun präzise der konkreten Hochwassersituation, weil abfließendes Wasser und möglicher Deichbruch parallel wahrgenommen wurden. Die Ambivalenz eines bedrohenden wie auch beschützenden Himmels wird durch ein weiteres Stilelement unterstrichen: Herrschte in mittelalterlichen Bildprogrammen der anthropomorph illustrierte Gotteszorn vor, wie etwa bei L. Lottos Die Sintflut (1524), gewinnt seit Poussin das naturkundliche Interesse an der meterologischen Dimension von Sonne und Wolken in diesen Darstellungen die Oberhand. Insofern ist die eindeutige Platzierung des geöffneten Himmels auf dem Foto mit einer fast grafischen Hell-Dunkel-Kontrastierung eine eindeutige Betonung dieses Zusammenhangs. Überdies betont die heruntergezogene Horizontlinie, ganz ähnlich dem Bild von Watts, die Dramatik des wechselnden Wettergeschehens. Auf eine zweite ikonografische Tradition wird durch die Lenkung des Betrachterblicks angespielt. Seit Antike und Barock dient die am Bildrand postierte Rückenfigur dazu, den Blick des Betrachters auf ein bestimmtes Bildelement zu lenken und damit eindeutige Bedeutungsvorgaben zu geben. In den Blick gerät der Hubschrauber, der dem Aufbau des Bildes folgend, zum Vermittler zwischen bedrohter Erde und Himmelstheophanie wird. Seine Bedeutung für die Vermittlung von Gefahr und Rettung erschließt sich ikonografisch aus der Figur des Blicklenkenden. Die Körperhaltung dieses Helfers, die dieser im Moment der Aufnahme eingenommen hat, weist zwei Elemente auf. Zum einen zeigt das vorwärts gedehnte Knie und die Körperdiagonale aus gestrecktem Bein und angewinkeltem Arm die typische Körperhaltung des vorwärts drängenden Führers in gefahrvoller Situation auf, wie etwa bei E. Delacroix’ Bild Die Freiheit führt das Volk an (1830)53, zum anderen ist die an den Kopf angelegte Hand Ausdruck einer ins Betrachten vertieften Figur wie in der Tradition der Naturbilder C. D. Friedrichs. Bei Friedrich dient 50 Vgl. Gerade im Barock wird dieses Bildelement zur Steigerung der Bildwirkung eingesetzt, so etwa bei Tintorettos Bildern Der heilige Georg und Das Mannawunder; vgl. auch die biblischen Belege, die von einem redenden und handelnden „Gott aus den Wolken“ sprechen wie Ex 16,10 oder Mt 3,16. 51 76 x 76 cm, Washington, National Gallery of Art. 52 104,2 x 177,8 cm, London, The Watts Gallery. 53 260 x 325 cm, Paris, Mus¦e du Louvre.

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die Blicklenkung auch der besonderen Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Natur zwischen Vereinigung und Überwältigung. Der Blick auf den fliegenden Hubschrauber drückt nun in besonderer Weise die Hoffnung auf Rettung durch die Luftunterstützung aus, hebt aber zugleich die Verbundenheit zwischen passiven Helfern, Einzelperson und Hubschrauber hervor. 4.3.2.4 Diskursanalyse Auffällig platziert und durch seine Größe dominierend, nimmt das Foto im Hochwasserdiskurs der Zeitung weit mehr als einen dokumentierenden Rang ein. Die eindeutige Aufnahme ikonografischer Traditionen der biblischen Sintflutgeschichte, verbunden mit einer klaren Lenkung der Blickrichtung lassen sich wie folgt in den Diskurs integrieren: 1) „Deutung und Bewältigung der Katastrophe sind dem Menschen im Letzten entzogen.“ In der Wahrnehmung des Hochwassers bleibt bei aller Einordbarkeit des Geschehens das Unerwartete, das beängstigend Neue. Zurückgeworfen auf banges Warten und den archaischen Einsatz von vieler Hände Arbeit bei der Errichtung eines Deiches aus Sandsäcken thematisiert der Diskurs durch dieses Bild die religiöse Dimension des dem Menschen entzogenen Geschehens. Der sich öffnende Himmel ist ambivalent. Zugleich kommt die schuldhafte Verstrickung der Menschen in den Blick, aber auch die Hoffnung auf unerwartete Rettung. Die Natur wird in ihrer Größe und Bedrohung wahrgenommen, ein religiös grundierter Naturdiskurs ist vernehmbar, wird aber in der stummen Sichtbarkeit des Bildes bewusst verborgen. 2) „Moderne Technik und staatliches Katastrophenmanagment können die Krise dennoch bewältigen.“ Der untergründige Sintflutdiskurs wird ergänzt und korrigiert durch die im Gesamtdiskurs der Zeitung favorisierte Krisenlösung. Diese besteht eindeutig im professionellen, staatlich verantworteten Handeln, besonders durch den Technischen Hilfsdienst und die Bundeswehr. Besonders signifikant wird dies in F. Pergandes Artikel in der FAZ vom 19. 08. 2002, Nach klaren militärischen Grundsätzen. 10000 Soldaten im Fluteinsatz kommuniziert. Pergande beschreibt dort den Katastropheneinsatz der Bundeswehr als genau geplanten und durchgeführten militärischen Einsatz („wie im Gefecht“, Z. 13) und legt dadurch nahe, dass genau so die gegenwärtige Krise am ehesten zu meistern sei. Die Bewohner bzw. Zivilisten finden in ihrer Hilfsleistung nur marginale Erwähnung. So „haben die Leute Kaffeekannen für die Soldaten herausgestellt“ (Z: 71ff). Schließlich führt der Text als wichtigste Referenz das Erinnerungsbuch eines Generals vor, in dem die logistischen Leistungen staatlicher Stellen ebenso hervorgehoben werden, wie die technische Ausstattung der Helfer westdeutscher Provinienz. Hier drängt sich ein Vergleich mit dem Bild auf: Die kompositorische Bildfeldverknüpfung von Sonne, Einzelfigur und Hubschrauber unterstreicht dabei noch einmal eindrücklich, dass die Bewältigung der Krise weniger durch solidarisches,

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bürgerschaftliches Handeln Vieler gelingt, als vielmehr durch die weitsichtige Koordinierung verschiedener Hilfsstellen nach hierarchischem Muster. Insgesamt also laufen hier zwei Naturdiskurse erstaunlich parallel: moderne, technische Krisenbewältigung der Kräfte einer als stummes Gegenüber gedachten Natur und ein gleichsam vormoderner Diskurs über abgründige Deutungsmuster einer den Menschen beherrschenden Umwelt und Natur.

4.3.3 „J. Bernig, Warum tut sie uns das an?“ 4.3.3.1 Institutioneller Rahmen Der ausgewählte Artikel, der auf dem Höhepunkt allgemeiner Krisenerfahrung während des Hochwassers verfasst wurde, weist in mehrfacher Hinsicht einen Sonderstatus in der Berichterstattung auf und ist doch zugleich repräsentativ für ein zentrales Diskursfragment.54 Die Berichterstattung des Tages ist zum einen von unmittelbaren Geschehnissen geprägt55, zum andern finden sich bereits mehrere Artikel, die das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven resümieren, einordnen und bewerten.56 Der Beitrag von J. Bernig ist im Feuilletonteil der Zeitung platziert. Thematisierung des Hochwassers und Sprachstil unterscheiden sich signifikant sowohl von den übrigen Beiträgen an diesem Tag57 als auch von der sonst nüchternen und technisch-institutionellen Berichterstattung der FAZ. Der Autor des Artikels, Jörg Bernig, ist kein fester oder freier Mitarbeiter der Zeitung, sondern Schriftsteller. Dem Text ist eine redaktionelle Notiz angefügt, die die näheren Umstände der Publikation durch den Wohnort Bernigs in Radebeul (bei Dresden) nahelegt.58 Damit wird Bernig zwar als Ortskundiger bzw. unmittelbar betroffener Anwohner charakterisiert, aber es ist anzunehmen, dass über seine Augenzeugenschaft hinaus ein poetisierender Blick auf das Geschehen seinen Platz an dieser Stelle der Zeitung finden soll. Dafür spricht auch, dass zusätzlich zu dem Artikel Bernigs ein Gedicht von ihm abgedruckt wird, das bereits 2001 entstand (vgl. Z. 197 f).59 Mag also der unmittelbare Anlass für den Artikel die Elbeflut in Sachsen gewesen sein, zeigt bereits die Überschrift („Warum tun Sie uns das an?“) und die wohl redaktionelle Unterschrift („Die Elbe verschlingt die 54 55 56 57 58

Bernig, Warum, 35. Vgl. Freund, Nacht, 8. Vgl. N.N., Solidaritätszuschlag, 1 f, Burger, Regalen, 7, N.N., Osten, 8. Mit Ausnahme von Rathgeb, High noon, 35. „Er (d. i. J. Bernig) schrieb diesen Text in der Nacht zum 17. August 2002 in Erwartung des Höchststandes der Elbflut.“ Vgl. auch im Text selbst: „Ob ich etwas über das Hochwasser schreiben könne, kam die Anfrage heute Nachmittag. Etwas zu tun – Gott sei Dank.“ (Z. 182ff). 59 Jörg Bernig wurde 1964 in Wurzen/Sachsen geboren und lebt als freier Schriftsteller seit 1996 in Radebeul bei Dresden. Nach einer Promotion über deutsche Kriegsromane 1996 veröffentlichte er mehrere Romane und Lyrikbände, u. a. den Band billet zu den göttern (2002), aus dem das hier abgedruckte Gedicht stammt.

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Landschaft und rächt die Natur für Kränkung, Demütigung, beleidigten Stolz“), dass es Bernig primär um eine Deutung des Geschehens selbst geht. Das beweist auch die Mischung von zwei Gattungsmustern, indem er Reportageelemente mit dem Sprachstil einer Glosse verknüpft. Bernigs Text thematisiert in expliziter Weise den Naturdiskurs der FAZ während des Hochwassers und ist für den nichttechnischen Deutungsrahmen dieser Naturkatastrophe von besonderer Bedeutung. Seine auffällige Platzierung und Größe machen stellvertretend für andere Diskursbeiträge diesen Subdiskurs in besonderer Weise sichtbar. Ebenso trägt zu seiner Auswahl bei, dass der Artikel zu einem Zeitpunkt publiziert wurde, in dem sich Geschehens- und Deutungsphase begannen abzulösen. Der Artikel ist auf der Seite auffällig platziert. Die Überschrift („Warum tun Sie uns das an?“) ist exakt auf der Mitte der Seite angeordnet. Die Seite ist ganz auf diese Textzeile hin ausgerichtet. Vertikal verlaufende Textfahnen am linken und rechten Seitenrand rahmen den Artikel und das auf der oberen Hälfte platzierte Foto.60 Artikel und Foto nehmen zusammen den gesamten Mittelteil der Seite ein. Das Bild (24,5x27 cm) nimmt gegenüber dem Artikel (24,5x23 cm) prozentual eine geringfügig höhere Fläche an der Gesamtseite ein (33,1 % zu 28,2 %).61 Auffallend für die grafische Gestaltung sind das integrierte Gedicht sowie die Textverbindung zu dem Bild durch eine Bildunterschrift. Diese lautet in Aufnahme zweier Zitate aus dem Artikel: „Mürbe gespült: Der Sandsack hat die Überflutung des Zwingers in Dresden nicht aufhalten können. Man wird den Fluß künftig siezen müssen.“62 4.3.3.2 Textoberfläche Der Text gliedert sich in vier, senkrecht verlaufende Textspalten; bis auf die rechte Spalte sind sie durch das Gedicht jeweils geteilt. Im fortlaufenden Text sind keine Zwischenüberschriften vorhanden. Die Mischung aus gattungstypischen Merkmalen der Reportage und der Glosse gliedern den Text in seiner Grobstruktur : I (Z. 1 – 32): Die gegenwärtige Lage in Radebeul In Abschnitt I vermittelt Bernig durch den Blick über die Elbe hinüber nach Gohlis einen Eindruck von der gegenwärtigen Lage im gegenüberliegenden 60 Bei diesen Artikeln handelt es sich auf der linken Seite um eine feuilletonistische Reportage über das Dorf Lenzen bei Wittenberge und seinen Pfarrer (Rathgeb, High noon, 35) und auf der rechten Seite einen Bericht über Spendenzahlungen und ihre Verteilung bei der Oderflut 1997 (Mönch, Oderland, 35), sowie eine Kurzmeldung über Hilfen der Bundeskulturstiftung für Kulturgüter in Dresden. 61 Wenn man die Fläche des in den Artikel integrierten Gedichts abzieht, verbleibt ein Anteil an der Gesamtfläche von 24,8 %. 62 „Mürbe gespült“ – vgl. Z. 135; „Man wird den Fluß künftig siezen müssen“.

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Radebeul. Er beschreibt das Ausmaß der Überschwemmung und weist auf den erwarteten Höchststand der Elbe am folgenden Tag hin. II (Z. 33 – 87): Suche nach Gründen für das Hochwasser – Warum geschieht, was geschieht? Der Abschnitt baut sich aus drei wahrnehmend-argumentierenden Gedankengängen auf. Zunächst (Z. 33 – 45) greift er die verbreitete Frage nach den Ursachen des Hochwassers der Elbe auf: „Warum macht sie das?“ (Z. 43). An dieser Formulierung entfaltet er seine These (Z. 46 – 58), dass die Elbe belebte Natur ist, ein Subjekt: „Man spricht von ihr als einer Person“ (Z. 46). Mit den Z. 59 – 87 zeigt Bernig am Beispiel von Dresden, dass diese „Persönlichkeit“ der Elbe von den Bewohnern Dresdens und der Elbe überhaupt völlig übersehen worden sei. III (Z. 88 – 111): Die gegenwärtige Lage: das eigene Haus Bernig kehrt in diesem Abschnitt zur Ebene der Beschreibung zurück. Er berichtet von einem Haus in Radebeul, in das er und seine Familie in Kürze umsiedeln wollten. Dieses Haus ist bedroht, deshalb sollen Bernig und seine Familie es auf Anordnung der Behörden verlassen. IV (Z. 112 – 161): Die gegenwärtige Lage in anderen Städten An drei anderen Orten beschreibt Bernig, für welche Zerstörungen und Bedrohungen die Elbe und ihre Nebenflüsse, die Hochwasser von Müglitz und Mulde jeweils verantwortlich sind. Im ersten Fall (Z. 112 – 129) handelt es sich um Weesenstein an der Müglitz. Bernig schildert die Lage für die letzten Bewohner des Ortes, die auf dem Dach ihres Hauses ausharrten, bis sie gerettet wurden. Seine Kenntnis ist offensichtlich medial vermittelt („Er schaute, als er das sagte, verwundert in die Kamera.“, Z. 124). Bei der zweiten Stadt, von der er berichtet, handelt es sich um das sächsische Grimma, das ebenfalls besonders schwer durch das Hochwasser in Mitleidenschaft gezogen wurde (Z. 130 – 137). Der Zustand der Stadt hat exemplarischen Charakter für andere. Die dritte Stadt, die Bernig exemplarisch beschreibt, ist Kötzschenbroda an der Elbe. Hier berichtet Bernig offensichtlich wieder aus eigener Anschaung. Sinnbild für die dortige Bedrohung ist die gefährdete Kirche des Dorfes. V (Z. 162 – 192): Ausblick auf die nächsten Tage Mit dem letzten Abschnitt schließt Bernig an den Beginn des Textes an und bringt die beiden Stilebenen noch einmal zusammen. Der Ausblick auf die unmittelbare Zukunft wird zum einen informierend ausgedrückt. Zum anderen greift er die verbreitete Auffassung von der sich „rächenden Elbe“ auf und warnt vor den Folgen falschen Verhaltens. Bei den im Artikel angesprochenen Themen handelt es sich zunächst um zwei zentrale Diskursfragmente des Gesamtdiskurses. Bereits durch seinen Enstehungs- und Publikationszeitpunkt ist deutlich, dass Geschehensschil-

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derung (Hochwasserschäden, bedrohte Städte und Menschen, besonders in Sachsen) und Deutung (Verbindung zu anderen Deutungsmustern: Flussbegradigung, vgl. Z. 171ff) besonders signifikant sind. Zu ersterem gehört auch die Frage nach Evakuierungen (Z. 98ff) und medial vermitteltes Geschehen (Z. 112ff), letzterem ist, wie bereits herausgestellt, eigen, dass mit der Personalisierung der Elbe der Text eine Nähe zu dem religiös aufgeladenen Bildfeld der „verschuldeten Sintflut“ aufweist. Auffällig ist, dass das Diskursfragment Hilfsmaßnahmen kaum Erwähnung findet. 4.3.3.3 Sprachlich-rhetorische Mittel Bernigs Text folgt in seiner Suche nach den Ursachen für das Hochwasser der Elbe und ihrer Nebenflüsse einer für den Zeitungskontext der FAZ ungewöhnlichen Argumentation. Bereits mit der Überschrift („Warum tut Sie uns das an?“) wird auf dieses Deutungsdefizit abgezielt. Bernig stellt fest: „Die Elbe ist nicht einfach ein Fluß wie jeder andere“ (Z. 48 f). Auffällig ist nun, dass diese Besonderheit nicht nur in ihrer Größe und ihrem Flusslauf begründet liegt, sondern für Bernig das „Personsein“ des Flusses selbst betrifft: „Sie will eben mit ,Sie‘ angeredet werden. ,Warum macht sie das?‘ weinte eine Frau. Ja, warum? Sie – das ist die Elbe“(Z. 42ff) – „Man spricht von ihr als einer Person“ (Z. 46). Diese Personalisierung der Elbe ist für Bernig der Deutungsrahmen für das Hochwasser. In diesem sieht er eine sich rächende Natur, einen Fluß, der nicht geachtet worden ist und nun „zurückschlägt“. So heißt es in der Unterüberschrift: „Die Elbe verschlingt die Landschaft und rächt die Natur für Kränkung, Demütigung, beleidigten Stolz“. Diese Personalisierung der Elbe findet ihren Ausdruck in zahlreichen metaphorischen Aussagen: „Der Fluß ist zu uns gekommen“ (Z. 11 f); „Das hat sie bisher noch nie getan“ (Z. 36 f); „Kein falsches Wort über sie“ (Z. 164 f). Ausdruck dieser „gekränkten Persönlichkeit“ ist nun laut Bernig ihr gewalttätiges, zerstörerisches Handeln, durch das die Menschen unmittelbar betroffen werden: „Als hätte mir die Elbe die Hand an die Gurgel gelegt. Ein falsches Wort und ich drücke zu“ (Z. 156ff).63 Auffällig an Bernigs Argumentation ist zweierlei: Zum einen natürlich die Personalisierung der Elbe und die Publikation dieses Textes im Feuilleton der FAZ. Zum anderen aber fällt auf, dass das Verhalten der Menschen gegenüber der Elbe als gestörtes Beziehungsgeschehen aufgefasst wird. Auffallend allgemein, um nicht zu sagen, blass, sind die Referenzbezüge des Textes. Personen, die als handelnd beschrieben werden oder stellvertretende Deutungsmuster vortragen, werden an keiner Stelle namentlich genannt, entsprechend heißt es: „sagten die Archivare“ (Z. 41) oder „sagte ein Einsatzleiter“ (Z. 31). Einzig in der Schilderung des Hochwassers in Weesenstein (Z. 112ff) schwingt eine mediale Vermittlung und damit indirekte Referenz 63 Typisch sind auch Wendungen, die der Militärsprache entlehnt sind, vgl. Z. 12ff oder 112 ff.

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an. Stattdessen stellen Bernigs eigene Wahrnehmung des Geschehens und seine individuelle, poetisch formulierte Deutung zentrale Autoreferenzen dar. Seine These von der sich „rächenden Elbe“ führt er über Äußerungen von abstrakt bleibenden Personen ein („,Was macht sie?‘ war die Frage, die hörte ich oft“, Z. 33 f). Überhaupt ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung aufzugreifen, dass neben den als handelnd eingeführten Personen, die allesamt namenlos bleiben, die eigentliche Akteurin die Elbe selbst ist. Die Referenzialität des Textes wird durch das mitabgedruckte Gedicht „salut“ aus dem Jahr 2001 unterstrichen. Es besteht aus insgesamt elf Zeilen und ist reimlos. Metrisch lässt es Anklänge an das Versmaß des Alexandriners erkennen, also einem Versmaß, wie es in antiken Erzählungen wie etwa der Illias verwendet wurde. Bereits durch seine Platzierung inmitten des Artikels wird die enge Verbindung beider Texte wahrnehmbar. Es handelt sich hier um ein durchaus komplexes Beziehungsgefüge von gegenseitig aufeinander verweisenden Texten, oft auch als Transtextualität bezeichnet.64 Diese zeichnet sich dadurch aus, dass eine syntagmatische Integration eines Praetextes (d. i. das Gedicht) in den Text vorgenommen wurde, die freilich erst im Zuge der redaktionellen Zusammenstellung von Artikel und Gedicht für die Leser manifest wird. Beide Texte unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Gattung und ihres Sprachstils von einander, sondern markieren deutlich, dass das Hochwasser im August 2002 eine radikale Diskontinuität in der Wahrnehmung Bernigs mit sich brachte. Zugleich erweist sich das Gedicht als Vorhersage dessen, was nun, 2002, eingetreten ist. Zunächst lässt sich Bernigs Gedicht auf der semantischen Ebene strukturieren und dadurch mit dem Artikel vergleichen. Gedicht: „salut“ (2001)

Artikel (19. 08. 2002)

„mühle von gohlis“ (Gz. 1)

Windmühle von Gohlis (vgl. Z. 6)

„hinter der spanischen Wand aus pappeln“ (Gz. 2)

Pappelwäldchen hinter der Windmühle (vgl. Z. 6)

„der brachenweg zu ihr ist längst gefressen“ (Gz. 3)

Verwilderter Weg ist jetzt überschwemmt (vgl. Z. 15ff)

„zum frühjahr tritt der Fluß übers ufer“ Hochwasser im Sommer unerwartet und (Gz. 5) – „schaut nach dem rechten füllt höher als jemals in der Geschichte der eine steinerne wanne mit wasser“ (Gz. 6) Flusspegelaufzeichnungen (vgl. Z. 38ff) – „geht dann zurück in sein bett so ist das schon immer“ (Gz. 7)

64 Als ein solches bezeichnet man „alles das, was einen Text in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“ (Genette, Palimpseste, 9).

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(Fortsetzung) Gedicht: „salut“ (2001)

Artikel (19. 08. 2002)

„doch ein sterbender krieger hält jetzt die mühle zur abwehr der stadt die armreste hin“ (Gz. 7)

Die Mühle von Gohlis ist durch das Hochwasser bedroht (vgl. Z. 20ff/Z. 191 f)

„haus um haus so geht das offene land übern jordan zu acht prozent zinsen“ (Gz. 9)

„Von neun Häusern fehlt jede Spur. Sie sind weg. Alle anderen sind schwer beschädigt“ (Z. 114 f)

„am abend wühlen die kähne vom meer Die Elbe verbindet auch Überschwemsich heimwärts nach Böhmen“ (Gz. 10) mungsgebiete in Sachsen und Böhmen – „still salutierend den ärmlichen resten (vgl. Z. 87) gießt sie (d. i. die Mannschaft) etwas pils ins wasser“ (Gz. 11)

Es wird deutlich, dass beide Texte den gleichen Raum vor Augen zeichnen und darin der Elbe eine besondere Bedeutung zumessen. Auffällig ist nun, dass das Gedicht nicht einfach von der Wirklichkeit des Hochwassers überholt wird, sondern dass die semantische Differenz65 dem Text des Gedichts in appellativer Form bereits innewohnt. So ist die jährliche Ordnung von schwankenden Elbpegelständen bereits hier trügerisch. Mit dem Bild der „mühle von Gohlis“ benennt das Gedicht ein Mahnmal für einen ausbeuterischen Umgang mit dem Fluss. Die Betonierung und Verbauung von Überschwemmungsflächen, der Logik des Gedichts zufolge „Eigentum des Flusses“, ist im Profitstreben begründet („so geht das offene land übern Jordan zu acht prozent zinsen“, Gz. 966). Durch die Anspielung auf das lasterhafte Verhalten des Macbeth in Shakespears gleichnamigem Drama (die Mühle „kommt wie der wald zu Macbeth und bringt nichts gutes“, Gz. 8) wird das Verhalten der Menschen, Macbeth entsprechend, als grundfalsch charakterisiert. Leitmotivisch klingt bei Shakespeare an, dass als Folge von Untaten natürliche Ordnungen ins Widernatürliche verkehrt werden, wie eben der wandernde Wald von Birnam. Damit benennt das Gedicht ein Deutungsmuster, das seine Entsprechung im Artikel vom 19. 08. 2002 findet: Für das Hochwasser der Elbe ist der Mensch durch sein Verhalten in der Vergangenheit selbst verantwortlich. Während der Gedichttext also das Deutungsmuster Bernigs betont und poetisch umschreibt, erreicht das oberhalb des Textes durch die FAZ-Redaktion abgebildete Foto diese Verstärkung durch bildsprachliche Mittel, die den Text Bernigs aber darüber hinaus bereits kommentieren. Wie bereits erwähnt, zitiert die redaktionelle Bildunterschrift Bernigs Text und wiederholt 65 Gegenüber der beschriebenen Hochwassersituation heißt es im Gedicht über die Elbe: „schaut nach dem rechten […] geht dann zurück in sein bett“ (Gz. 7). 66 Vgl. Shakespeare, Macbeth, 179 f.

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seine „Kernthese“: „Man wird den Fluß künftig wieder siezen müssen“. Laut Bildunterschrift zeigt das Foto den hochwassergeschädigten barocken Zwinger in Dresden. Bereits durch diese Auswahl des Bildes wird deutlich, dass es sich nicht um eine informative Illustration zu dem von Bernig geschilderten Geschehen in Radebeul handeln kann. Vielmehr hebt das Bild in seiner direkten Beziehung zu Bernigs Text die Dramatik des Hochwassergeschehens hervor und ironisiert durch die Bildunterschrift und die Bildkomposition zugleich auch seine Kritik am menschlichen Verhalten, das zum Hochwasser geführt hat. Das SW-Bild weist drei klar abgegrenzte Bildebenen auf. Im Vordergrund sind Sandsäcke zu erkennen, die von unten, aus dem unmittelbaren unteren Bildrand heraus, vom Wasser unterspült werden. Im Bildhintergrund ist ein Ausschnitt des Dresdner Zwingers zu sehen, den das Wasser, wie auch das vor ihm liegende Feld, bereits erreicht hat. Zwischen diese beiden Bildebenen ist eine Begrenzung eingezogen. In horizontaler Linie verläuft ein Eisengitter durch das gesamte Bildfeld, dessen obere Begrenzung die Mittelachse des Bildes bildet. Am linken und rechten Bildrand verlaufen in vertikaler Linie dunkle, flächige, vorhangartige Planen. Eisengitter und Planen bewirken den Theatereffekt des Bildes, der auf eine inszenierende Hervorhebung des Hauptakteurs „Elbe“ zielt und dabei die Begrenzungen, die menschlichen Versuche, das Wasser aufzuhalten, in ihrer Vergeblichkeit darstellt. Indem Wasser sowohl im Bildvordergrund als auch im Mittelfeld zu erkennen ist, zugleich aber eine Ruhe über dem Bild liegt (kein Mensch ist zu sehen), wird der Fluss zu einer „handelnden Person“. Gerade in dieser inszenatorischen Verstärkung des Geschehens liegt aber auch die ironische Brechung von Bernigs These. 4.3.3.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen Bernigs Aussagen über das Hochwasser sind nur in dem besonderen Kontext unmittelbarer Bedrohung zu verstehen. Der Text formuliert am Übergang von Geschehensberichterstattung zur Deutung dieses Geschehens zentrale Positionen eines Subdiskurses, der an verschiedenen Stellen den Zentraldiskurs der FAZ unterläuft, zugleich aber mit ihm eng verbunden ist. Hauptmerkmal dieses Diskurses ist das nicht funktionale Verständnis von Natur. Bernigs Naturverständnis bestimmt daher auch vollständig seine Deutung des Hochwassers. Folgende inhaltlich-ideologischen Aussagen sind dabei von besonderer Relevanz: a) Die Elbe hat personalen Charakter In vielfach variierenden bildhaften Wendungen beschreibt der Text den Elbefluss als personales Wesen, als Gegenüber mit einer eigenen Handlungslogik. Allein damit bietet der Text auch eine Deutung des Hochwassers an. Das außergewöhnliche Hochwasser liegt in der Person der Elbe begründet. Um zu verstehen, wie es zu der Elbeflut kommen konnte, bedarf es dem Text zufolge

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des Verstehens der Elbe als Person. Das Handeln der Elbe unterliegt dabei Gesetzmäßigkeiten, die die Menschen durch ihr Verhalten mitbestimmen können. „Kränkung, Demütigung, beleidigte(r) Stolz“ sind Züge dieser Persönlichkeit. Dagegen verblasst das gegenwärtige Handeln der Menschen völlig. b) Die Elbeflut ist durch das Verhalten der Menschen zu erklären Der Logik der Elbe als einer gekränkten Person folgend, zeigt der Text Bernigs, dass das Verhalten der Menschen unmittelbare, beziehungsstiftende Auswirkung auf den Fluss hatte und weiter hat. Schon mit der Überschrift schwingt das Motiv der Rache an. Das wird ebenfalls an der Anspielung des Gedichts auf die Figur des Macbeth deutlich. Im Kontext von Bernigs Artikel wird der wandernde Wald wie das Hochwasser zum Beleg einer durch menschliches Fehlverhalten hervorgerufenen Widernatur. Der Text kritisiert also zweierlei: Zum einen den unverantwortlichen Umgang mit der Natur (Bedrohung durch Begradigung, Ausweisung der Überschwemmungsgebiete als Bauland, Zubetonierung der Uferflächen, Einleitung von Giften), zum anderen eine generell gedanken- und respektlose Beziehung zu diesem Fluss. Bernigs Kritik geht also weit über die Einforderung umweltschutzpolitischer Standards hinaus. Vielmehr kritisiert er den funktionalen Umgang mit der Natur, der diese zum stummen Gegenüber macht, wie etwa als „schmückende Kulisse“ (Z. 70 f) vor der Altstadt von Dresden. Entsprechend negativ werden im Text die üblichen Schutzmaßnahmen bewertet: „Jetzt helfen auch die Sandsäcke nicht mehr, hieß es heute. Geht nach Hause, sagte ein Einsatzleiter. Jetzt können wir nur noch warten“ (Z. 178ff). c) Die Personalisierung der Elbe hilft, ein kontingentes Geschehen verständlich zu machen Das Hochwasser der Elbe trifft die Menschen, die in ihrer Nähe leben, unvorbereitet und lässt ganz zwangsläufig die Frage nach den Ursachen aufkommen („,Was macht sie?‘ war die Frage, die hörte ich oft […] ,Warum macht sie das?‘ weinte eine Frau“, Z. 33 f/Z. 43 f). Indem Bernig die Elbe personalisiert, schafft er verständliche Begründungen für das Hochwasser und formuliert eine Logik des Geschehenszusammenhangs zwischen menschlichem Fehlverhalten und Reaktion der Natur. Indem er einen Verhaltenskodex aufstellt, der weit über den aktuellen Erfahrungszusammenhang hinausreicht („Sie will eben mit ,Sie‘ angeredet werden. Das ist wohl das mindeste“, Z. 190 f), entlastet er den Verhaltensdruck in der gegenwärtigen Situation. 4.3.3.5 Diskursstrangverschränkungen Die aufgeführten zentralen inhaltlich-ideologischen Aussagen des Textes kommunizieren in spannungsvoller Beziehung den markierten Subdiskurs mit noch drei weiteren FAZ-Artikeln:

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a) „E. Rathgeb, High noon“ Rathgebs Text67 findet sich auf der gleichen Zeitungsseite wie Bernig im linken, vertikal verlaufenden Register platziert. Gemeinsam ist beiden Texten ihre in Bezug auf das Geschehen ganz ähnliche Ausgangssituation. Während Bernig das Warten und das andernorts bereits eingetroffene Hochwasser in und um Dresden und Radebeul vor Augen hat, beschreibt Rathgeb die Situation im nördlicher gelegenen Ort Lenzen (bei Wittenberge). Der reportagehafte Stil wird mit historischen Hintergrundinformationen gemischt. Zentrale Referenz in Rathgebs Text ist der Pfarrer des Ortes, dessen Gedankenwelt am Tag vor der herannahenden Flut einen zentralen Ort einnimmt. Mit den Worten des Pfarrers wird eine von Bernig divergierende Lesart für das Hochwasser gegeben: „Er werde, sagt der Pfarrer, morgen in der Kirche davon reden, dass der Mensch nicht mehr alles im Griff habe. Er werde davon reden, dass eine ,andere Zeit‘ anbreche“ (Z. 15ff). Anders als bei Bernig liegt hier also eine Deutung vor, die den Menschen in den Mittelpunkt der Deutungsarbeit rückt. Die Sintflutmetapher klingt nur entfernt an („andere Zeit“), auch die Schuldfrage wird ausgeklammert. Statt einer Aufwertung der Natur findet eine Depotenzierung des Menschen statt. Die Natur bleibt dabei weiter sprachloses Gegenüber. Auffällig für den Artikel von Rathgeb ist, dass die Äußerung des Pfarrers, anders als in dem Text von Bernig, nicht unkommentiert bleibt. Rathgeb hinterfragt die Deutungsangemessenheit (und wohl auch die soziale Relevanz) und ironisiert die Äußerung des Pfarrers, indem er zugleich die Lebensumstände dieses Menschen und seiner Kirche als gestrig („als rühre sich die Zeit nicht vom Fleck“, Z. 20 f) beschreibt, den Kirchraum als Ort der Toten charakterisiert (Z. 93ff) und insgesamt zeigt, dass die Probleme, vor die das Kirchengebäude gestellt ist, denen anderer Gebäude im Ort ganz gleich sind – die Kirche hat Normalstatus. Damit erweist sich Rathgebs Text als typisch für den technokratisch geprägten Katastrophendiskurs, der sich eine gesunde Skepsis gegenüber „Überbautheorien“ als Erklärung des Hochwassers behält. b) „gey, Flut“ Bei dem vorliegenden Text68, vier Tage nach Bernigs Text im Feuilletonteil der FAZ abgedruckt, handelt es sich um eine Glosse, die an einer kritisch zitierten Äußerung des Literaturwissenschaftlers Wolf Lepenies der Frage nach dem Verhältnis der Intellektuellen zum Elbehochwasser nachgeht. In diesem Zusammenhang wird dann eine bemerkenswerte Feststellung getroffen, die sich wie eine Replik auf Bernigs Text lesen lässt: „Dass wir Heutigen über die Natur nicht anders als ,funktional‘ reden können, ist ja erst so, seit sie aufgehört hat, von sich aus zu uns zu sprechen. Als Stimme Gottes […] hatte die Natur die Gedankenwelt dereinst bewässert und befruchtet, wie es eigentlich nur ein 67 Rathgeb, High, 35. 68 gey, Flut, 33. Bei der aufgeführten Signatur handelt es sich um ein Redaktionskürzel.

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Buch vermag, aus dem man lesen kann. Heute hat uns die Natur nichts mehr zu sagen, auch wenn sie tosend und schäumend durch unsere Straßen schießt“ (Z. 80ff). Es geht hier also um die zentrale Frage nach dem kommunikativen Zusammenhang, in dem Mensch und Natur überhaupt stehen. Nicht anders, als von der Natur „funktional“ zu reden, das markiert den Unterschied zwischen beiden Diskursebenen in diesem Katastrophendiskurs in der FAZ im August 2002. c) T. Rietzschel, Erinnerung an eine heitere Elbe. Trotz der zweiten sächsischen Sintflut ist nichts so unsinnig wie der Vergleich des Hochwassers mit dem Krieg (FAZ, 27. 08. 2002, 38) Rietzschels Artikel69 weist allein schon durch seinen Veröffentlichungszeitpunkt (27. 08. 2002) auf die Endphase des Gesamtdiskurses hin. Typisch hierfür ist der resümierende Blickwinkel, der auf die Schilderung konkreter Geschehenszusammenhänge verzichtet und stattdessen das Vorangegangene einordnet und nun die Elbe mit dem „Filter der Geschichte“ (Z. 21) sehen will. Gegenüber Bernig fällt auf, dass Rietzschel die Elbe allein unter dem Gesichtspunkt des „Opferstatus“ wahrnimmt, so etwa, wenn er die fehlenden Elbwiesen für die Überschwemmung verantwortlich macht (vgl. Z. 23ff). Gegenüber der Personalisierung der Elbe bei Bernig und ihrer Funktionalisierung bei „gey“ und Rathgeb führt Rietzschel den Wert metaphorischer Rede für die Elbe vor. Der Fluss selbst ist nicht handelnd („Dass er fortan zu fürchten sei, können sie (d. i. die Menschen) nicht glauben“, Z. 265ff) und die Aufzählung historischer Fakten will einer ahistorischen „Flussmythologie“ wehren.70 Dennoch wird die Elbe in Rietzschels Darstellung zur wirkmächtigen Metapher, nämlich für die Verbindung der Städte und Regionen, die an ihr liegen. So wird die Elbe zum gesamtdeutschen Strom, an dessen Ufer in der Aufzählung Rietzschels die Reformation, die Aufklärung, die Romantik, das Bauhaus und nicht zuletzt die Erfahrungen der deutschen Teilung zu Höhepunkten einer Geschichte werden. Dazu erweitert Rietzschel das Bild des Zerstörung bringenden Flusses um das einer „heiteren Elbe“.

69 Rietzschel, Erinnerung, 38. 70 Zwar erwähnt Rietzschel das Hochwasser von 1845, das in damaliger Lesart zur „sächsischen Sintflut“ wurde, bemerkt dazu aber: „Nur mit dem biblischen Bild der Heimsuchung ließ sich noch fassen, wofür die Geschichte keinen Vergleich anbot“ (Z. 34ff). So wird in der historischen Betrachtung, die er selbst anstellt, das biblische Urdatum nicht mehr notwendig.

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4.3.4. „M. Breidenich, Über allen Wassern“ 4.3.4.1 Institutioneller Rahmen Der ausgewählte Artikel71 repräsentiert den Übergang vom unmittelbaren Beschreiben der Elbeflut und ihrer Bewältigung zu einer ersten Bilanzierung der Schäden und der Suche nach Gründen, die mit dem 21. 08. 2002 einsetzt.72 Dies belegt auch der Quervergleich zu den anderen Artikeln des Tages.73 Diese Akzentverschiebung belegt ebenfalls die Themenverlagerung der Seite „Deutschland und die Welt“ (7 – 9), wo der Artikel platziert ist: Neben der verbreiteten ortsgebundenen Reportage finden sich hier nun zunehmend auch andere Genres bzw. Themen.74 Anlass ist die wissenschaftliche Fotodokumentation der Hochwasserschäden aus der Luft. Dazu wird von dem Flug eines Kleinflugzeuges am 22. 08. 2002 berichtet. Der Autor des Artikels, Markus Breidenich, widmet sich im vorliegenden Untersuchungszeitraum (13.08 – 30. 08. 2002) vor allem der naturwissenschaftlichen Hintergrundberichterstattung.75 Unter der eigens markierten Überschrift „Das Hochwasser“ nimmt der Artikel auf der Seite mit einer Länge von 1330 Worten einen zentralen Platz ein. Eingerahmt wird die Reportage „Über allen Wassern“ von Markus Breidenich durch zwei von oben nach unten verlaufende Textfahnen am linken bzw. rechten Seitenrand. Während rechts ein Bericht über die finanzielle Folgen einer Evakuierungsweigerung betroffener Bewohner („Bleiben und doch nicht zahlen“) platziert ist, ist am linken Seitenrand die tägliche Rubrik „Kleine Meldungen“ zu finden, ebenfalls mit Nachrichten rund um das Hochwasser.76 Im unteren Seitendrittel sind ein Kreuzworträtsel (!) und eine Schachaufgabe abgedruckt. Der Artikel umschließt ein SW-Bild mit den Maßen 12x18 cm, im Hochformat. Insgesamt nimmt der Artikel zusammen mit dem Foto den Platz von 31x25 cm ein, was einem Anteil an der Gesamtseite von 38,8 % entspricht. Legt man die reine Textfläche zugrunde, verbleibt ein Anteil von 28 %. Damit gehört der Artikel auf dieser Seite zu den umfangreicheren Reportagen während des Untersuchungszeitraums.

71 Breidenich, Wassern, 8. 72 Vgl. die Schadensbilanz der Dresdner Kunstschätze bei Stadler, Feucht, 37, sowie eine Chronik des Hochwassers bei Geiger, Flut, 8, Harms/Kern u. a., Flut, 31 und Riechelmann, Tierreich, 32, eine zoologische Schadensbilanz. 73 Vgl. Leithäuser, Phase, 3, Burger, Gewalt, 7, Pergande, Neckar, 7, Thielbeer, Deiche, 7. 74 Vgl. Schäufler, Angst, 7. 75 Vgl. Breidenich, Fluten, 9. 76 Fett gedruckt und damit hervorgehoben ist der jeweilige Anfang der Meldung: „Hilfsangebote aus dem Ausland“, „In Mühlberg“, „Koordinationsprobleme“, „Weitgehend verschont“, „Liebhaber“, „Die Nachfrage nach Sandsäcken“, „Bayrische Landräte“ bzw. „ Vor einer Rattenplage“.

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4.3.4.2 Textoberfläche Der Text gliedert sich in vier, senkrecht verlaufende Textspalten, die mittleren zwei sind durch das Bild jeweils geteilt. Im fortlaufenden Text sind keine Zwischenüberschriften vorhanden. Seine Struktur erhält der Text durch die chronologische Schilderung eines Flugs, bei dem das vom Hochwasser überschwemmte Gebiet zwischen Magdeburg und Wittenberge fotografiert werden wird. Den Gattungsmerkmalen der Reportage folgend, wechseln sich geschehenszentrierte Passagen mit Hintergrundinformationen ab. Der Artikel lässt sich in fünf unterschiedlich lange Sinneinheiten unterteilen: I (Z. 1 – 52): Vor dem Abflug („morgens kurz nach halb acht“, 2) Vorbereitungen auf den Flug (Z. 1 – 11); Hintergrundinformation (Z. 11 – 18): Auftraggeber für die Luftbilder ist die „Wasser- und Schiffahrtsdirektion Ost“; weitere Vorbereitungen (Z. 19 – 52): Ausrüstung wird geprüft. II (Z. 53 – 91): Start und Anflug („gegen acht Uhr“, 53) Flugzeug ist startklar (Z. 53); Hintergrundinformation (Z. 54 – 57): Bedeutung des „Fliegerkürzels“; Flugzeug auf 2600 Meter (57 – 63); Hintergrundinformation (Z. 64 – 65): „Die Luft an dieser Stelle ist eng geworden in den vergangenen Tagen“, ebd.; andere Flugzeuge, die in dem Luftraum anzutreffen sind (65 – 77); Hintergrundinformation (Z. 77 – 82): Luftraum ist nur mit besonderer Erlaubnis der Behörden zu nutzen; Pilot schildert Tricks, um dieses Verbot zu umgehen (Z. 82 – 91). III (Z. 92 – 182): Fotografieren am Mittag und frühen Nachmittag Beginn des Fotografierens auf Höhe Magdeburg/Tangermünde über Havelberg und Stendal (Z. 92 – 131): Ortswahrnehmungen; Flug zurück nach Süden (132 – 146, „Mittag“, Z. 139); Hintergrundinformation (Z. 146 – 182): Das technische Verfahren der Luftaufnahmen, die Auswertung und frühere Einsatzorte. IV (Z. 183 – 215): Weiterflug am Nachmittag („Am Nachmittag“, Z. 183) Flug über Havelberg/Wittenberge zurück (Z. 183 – 196); Hintergrundinformation (Z. 197 – 215): Auswertung der Luftbilder, spätere Schadensvorhersage soll dadurch möglich werden. V (Z. 216 – 221): Rückflug und Landung („Pünktlich um vier“, Z. 219) Landung auf dem Flughafen Münster-Osnabrück. Inhaltlich ist die Reportage über diesen Flug dadurch mit mehreren anderen Diskurssträngen über die Elbeflut verbunden: beim Überfliegen einzelner Städte werden Schäden wahrgenommen (z. B. Z. 107 f) bzw. bilanziert (Z. 134ff), es wird Fehlverhalten Einzelner, wie etwa der „Gaffer“ benannt (Z.

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82ff), die Hilfsmaßnahmen von Bundeswehr und Technischem Hilfswerk werden wahrgenommen (Z. 65ff) und die defizitären Vorhersagetechniken kommen in den Blick (Z. 207ff). Das SW-Foto nimmt ca. ein 1/3 der gesamten Textoberfläche des Artikels ein. Dennoch wird der Blick des Lesers bzw. Betrachters durch die Mittelposition des Bildes besonders angezogen. Dafür sorgt auch der ungewohnte Aufnahmestandort des Bildes, der weit oberhalb eines erkennbaren Dorfes liegen muss. Es handelt sich um eine Luftaufnahme. Das Foto, dem der Herkunftsvermerk „Foto ddp“ beigegeben ist, trägt die Bildunterschrift: „ElbeHavel-Hochwasser bei Jederitz von oben“. Bei dem Foto handelt es sich um keines der in der Reportage beschriebenen Luftbilder und auch nicht um ein typisches Reportagefoto, das in einem Bildausschnitt einen Teil des Flugzeugs zeigt, sondern um ein bei anderer Gelegenheit aufgenommenes Foto aus der Vogelperspektive. Eine erkennbare Straße im untersten Bildregister führt den Blick des Betrachters in ein Dorf. Der gewählte Bildausschnitt begrenzt das Dorf am linken und rechten Bildrand und erzeugt den Eindruck einer Enge. Im oberen Bildregister, oberhalb des Dorfes, ist eine überflutete Ebene sichtbar. Einzelne, aus dem Wasser herausragende Bäume schließen das Bild im obersten Register ab. Kein einziger Mensch ist zu erkennen. 4.3.4.3 Sprachlich-rhetorische Mittel Der Wechsel von geschehenszentrierten Beschreibungen und einordnenden Hintergrundaussagen findet seine Entsprechung im spezifischen Reportagestil des Autors. Mit dem Einstieg in das Flugzeug werden die beiden Piloten faktisch zur einzigen, das Geschehen erklärenden Instanz, dies gilt in besonderem Maß für die technischen Informationen, die dem Leser über Art, Umfang und Zweck des Luftbildfluges gegeben werden. Hinterfragt werden die Äußerungen der Piloten nicht.77 Mitunter gehen ihre Äußerungen in eine Hintergrundinformation sogar über und umgekehrt.78 Auffällig ist dabei natürlich auch, dass die Piloten als einzige Personen, sieht man einmal von einem Fluglotsen ab, als wirkliche Akteure geschildert wird: „,Schluß für heute‘, sagt Sträter“ (Z. 218). Typisch für den Blick von oben ist die Flächigkeit der Oberfläche: „Überall schauen die Baumkronen wie grüne Farbkleckse aus dem Einheitsbraun der Elbbrühe heraus“(Z. 95ff), und ungewohnte Größenverhältnisse: „An man77 Vgl. z. B. Z. 123: „,Schon gut, dass es (d.i. das Atomkraftwerk in Stendal) nie fertig geworden ist‘, sagt Fiedler.“ 78 Vgl. z. B. Z. 79ff: „Nur Flugzeuge, die eine Erlaubnis besitzen, dürfen bis in eine Höhe unter 3000 Fuß (ungefähr 1000) Meter in den Luftraum über der Elbe einfliegen. „Die Behörden wollen Kleinflugzeuge mit Touristen und Kamerateams aus dem Luftraum fernhalten“, sagt Fiedler (d. i. der Pilot).“

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chen Stellen hebt sich das strahlende Blau eines Swimmingpools von der umgebenden Wassermasse ab“ (Z. 102ff). Insgesamt ist die verwendete Sprache wenig bildhaft oder gar symbolisch aufgeladen. Technischer Ausdruck dominiert. Vielfach wird die Genauigkeit des technischen Verfahrens sprachlich variiert: „Details in Zentimetergröße“ (Z. 44), „genauer als Satelliten“ (Z. 46), „einprogrammiert“ (Z. 49), „genau, automatisch“ (Z. 151), „systematisch“ (Z. 139). Wichtigste Referenz ist daher auch die Technik selbst. Präzise werden das Flugzeug79 und das technische Verfahren80 beschrieben und tragen zum Wirklichkeitsverständnis des Textes entscheidend bei. Einzige, allerdings bedeutende, Ausnahme von dem nüchternen Stil ist die Überschrift des Artikels. Die Formulierung „Über allen Wassern“ gibt zunächst wieder, worum es in dem Artikel geht, nämlich die wissenschaftliche Fotografie der Hochwasserschäden, von oben, aus dem Flugzeug heraus. Zugleich ist damit aber auch eine Anspielung an einen bekannten lyrischen Text verbunden. So heißt es in Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied: „Über allen Gipfeln/ Ist Ruh,/ In allen Wipfeln/ Spürest du/ kaum einen Hauch;/ Die Vöglein schweigen im Walde./ Warte nur! balde/ Ruhest du auch.“81 In seiner bekannteren Fassung, in der Ausgabe letzter Hand, ist dies ein Todesgedicht, das der Sehnsucht des baldigen Sterbens Ausdruck verleiht.82 Die Überschrift „Über allen Wassern“ legt also einen Zusammenhang zwischen dem reinen Augenschein während des Fluges und dem todbringenden Hochwasser nahe. 4.3.4.4 Inhaltlich ideologische Aussagen a) Der technisch vermittelte Blick von oben ordnet und bewältigt Krisenerfahrungen Am 23. 08. 2002 liegen hinter den Lesern der Zeitung bereits zehn Tage der Krisenberichterstattung. Eine Reportage über wissenschaftliche Luftaufnahmen zur gegenwärtigen, besonders aber zukünftigen Hochwasservorhersage hat daher eindeutig stabilisierenden Charakter. „Der Blick von oben“ ist daher auch Sinnbild für einen nüchternen, um Überblick ringenden Betrachter, der Abstand zu dem unmittelbaren Krisengeschehen sucht: „Von oben wirken die Elbe und alles um sie herum wie ein ruhiges Gewässer, dessen Wellen im Gegenlicht der Sonne schillern.“ (Z. 188ff) Der Blick von oben vermittelt Distanz, hält sich an die technische Dokumentation, in der zugleich eine Be79 Vgl. Z. 38ff: „Das Innere der Cesna ist voll mit Computern. Die Kamera ist in ein Loch im Boden des Flugzeugs gebaut.“; Z. 53ff: „Gegen acht Uhr ist Delta, India, Bravo, Golf, Foxtrott startklar.“ Flughöhe und Geschwindigkeit werden mehrmals genau angegeben. 80 Vgl. Z. 41: „Zwanzig Zentimeter groß ist der Durchmesser ihres Objektivs, mit dem Fiedler und Sträter (d. i. die Piloten) noch aus einem Kilometer Flughöhe Details in Zentimetergröße am Erdboden erkennen können.“ 81 Goethe, Gedichte, 142. 82 Vgl. Segebrecht, Gedicht, 34 ff.

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wältigung der allgemeinen Situation intendiert ist. Technische Lösungen gibt es also, so suggeriert der Artikel, Krisen und unerwartete Naturkatastrophen lassen sich vermeiden, wenn technische Möglichkeiten genutzt werden. Beispielhaft ist dies an einem kurzen Gespräch zwischen einem „Hobbypiloten“ und der Flugsicherheit abzulesen, das im Text wiedergegeben wird: „Ein Pilot tönt aus dem Sprechfunkgerät: ,Ick hab völlig die Orientierung verloren. Können sie mir mal helfen?‘ Der Fluglotse beruhigt den Verirrten. ,Das kriegen wir schon hin.‘“ (Z. 72ff) Dieser technisch vermittelte Blick von oben ist kein Wunsch eines Einzelnen, nach Übersicht und Distanz strebenden Individuums, sondern geschieht im Auftrag einer Behörde. Damit werden der Staat und seine Einrichtungen zur stabilisierenden Instanz. Der Blick von oben nimmt daher auch nur allgemeine Bewegungen wahr, menschliche Schicksale oder solidarisches Helfen geraten fast ganz aus dem Blick. So heißt es erst gegen Ende des Artikels lapidar : „Dort, in der Nähe der Stadt, erkennt man zum ersten Mal auch Menschen, die gerade dabei sind, einen Deich zu verstärken.“ (Z. 186ff) b) Der technisch vermittelte Blick von oben macht die Natur wieder zur gestaltbaren Oberfläche Bedenkt man den emotionalen, bild- bzw. symbolhaft aufgeladenen Sintflutdiskurs, so fällt in diesem Artikel der erstaunlich nüchterne, distanzierte Blick auf die Natur und das Hochwasser auf. Dies beginnt bei der räumlichen Strukturierung, die aus dem Flugzeug heraus vorgenommen wird: Höhenangaben und Himmelsrichtungen stehen für den Wunsch nach nachprüfbarer, präziser Verortung. Die Elbe ist vermessbar („Elbstücke“, Z. 94) und nicht länger unkontrollierbar, menschliche Lebensräume beherrschend. Raumbestimmend sind weniger natürliche Gegebenheiten, sondern vielmehr vom Menschen geschaffene Bauten und Infrastruktur. Strukturierend wirken industrielle Anlagen, Häfen, Straßen, ein Atomkraftwerk und natürlich Städte, die überflogen werden. Die Folgen des Hochwassers werden nüchtern und summarisch aufgezählt.83 Typisch ist auch die Betonung des Nutzwertes von Naturprodukten. Natur gerät also nicht länger als unbestimmbare, zerstörerische, ja dämonische Macht in den Blick, sondern wird nüchtern und distanziert bilanziert – als funktionale Größe. c) Der technisch vermittelte Blick von oben bekommt in der Gestalt der Piloten ein identifikationsstiftendes Gesicht Die beiden Piloten Fiedler und Sträter werden in ihrer bedächtigen, kontrollierten Arbeitsweise, besonders aber in ihren Äußerungen zu Garanten einer neuen, stabilisierenden Ordnung, ja zu stillen Helden mit Überblick. Schon durch die Wahl des Genres entsteht eine besondere Nähe zu den beiden. Allein ihre Äußerungen haben das Gewicht, das ihre wörtliche Wiedergabe lohnenswert erscheint: festgestellt wird, dass die Fotos „genauer (sind) als Sa83 Vgl. Z. 127ff: „In den Feldern ringsherum erkennt man filigrane, schwarze Verästelungen, dort, wo das Wasser bis vor kurzem noch stand und mittlerweile wieder zurückgeflossen ist.“

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telliten“ (Z. 46); es wird kritisiert, dass unbefugte Flugzeuge in den Flugraum eindringen (Z. 82ff); begrüßt wird, dass das Atomkraftwerk bei Stendal nicht fertig gebaut wurde (Z. 123); die Überfluggebiete werden näher charakterisiert (vgl. z. B. Z. 139ff); Schadenseinschätzungen werden bewertet (Z. 194 f), schließlich wird das Ende des Fluges bestimmt (Z. 218). Menschlich und individuell, dabei aber nüchtern und der Technik vertrauend, so sieht das Identifikationsangebot für die Leser aus. 4.3.4.5 Diskursstrangverschränkungen Während Breidenichs Text durch die Wahl seines Themas, die nüchtern-distanzierte Sprache und den „Blick von oben“ beanspruchen kann, noch einmal ganz und gar typisch für den „offiziellen“ Hochwasserdiskurs der FAZ zu sein, kommuniziert ein drei Tage später abgedrucktes Bild noch einmal den Subdiskurs mit völlig anderen Perspektiven auf die Natur. Beide Beiträge sind durch ihre konträre Blickrichtung, die ihnen innewohnende Leserichtung aufeinander bezogen, kommentieren sich im Rahmen des Gesamtdiskurses gegenseitig. Im Feuilletonteil der FAZ vom 26. 08. 2002 findet sich ein Artikel über Perspektiven globaler Umweltpolitik.84 Darüber ist die Abbildung eines mittelalterlichen Holzschnitts platziert. Die Bildunterschrift lautet: „Nie war die Welt von Planbarkeit, Vernunft und Sicherheit weiter entfernt als heute: Arche-Noah-Holzschnitt aus der Lübecker Bibel von 1494.“85 Zu erkennen ist unzweideutig die Arche mit Noah und der heranfliegenden Taube nach Gen 8, 11, die als Zeichen der nachlassenden Sintflut einen Zweig im Schnabel trägt. Die im Gesamtdiskurs erstaunlich anmutende Bildunterschrift ist ein fast wörtliches Zitat aus dem Text von Sieferle.86 Dieser stellt die These auf, tiefgreifende Eingriffe in die Natur, wie sie wesenstypisch für die gegenwärtige westliche Welt sind, stellten eine Umweltpolitik, die im globalen Maßstab Gefährdungen und Katastrophen zu verhindern trachtet, vor bislang unlösbare Aufgaben. Auch im Hinblick auf die Elbeflut stellt er fest, dass diese Einsicht sogar zu einem „Widerruf des ,Projekts der Moderne‘, das auf ein bewusstes Machen der Geschichte setzte“ führen sollte.87 Der illustrierende Holzschnitt der Lübecker Bibel konkretisiert diese pessimistische Einsicht Sieferles in die Grenzen menschlicher Einfluß- und Gestaltungschancen angesichts der biblischen Sintflutgeschichte. Der Holzschnitt liest sich auf dieser 84 Siefele, Natur, 33. 85 Die Lübecker Bibel von 1494 wurde von Steffen Andres gedruckt und gehört mit ihren farbigen Bibelillustrationen zu den bedeutensten deutschen Bibelübertragungen vor der Lutherbibel. Die Künstler sind unbekannt geblieben. Verbunden mit den Glossen des Nicolaus von Lyra bilden die Illustrationen das biblische Geschehen nicht nur ab, sondern kommentieren es auch, vgl. Volz, Bibel, 22. 86 „Noch nie war die Welt von einer „Herrschaft der Vernunft“, von Planbarkeit, Berechenbarkeit, Rationalität und Sicherheit weiter entfernt als heute“ (zit. nach Sieferle, Natur, Z. 219ff). 87 Ebd., Z. 226 ff.

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Zusammenfassung: Der Naturdiskurs in der FAZ

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Verstehensebene als Beleg für die Überschrift zu Sieferles Artikel: „Die Natur treibt uns in die Defensive“. Darüber hinaus kommuniziert der Holzschnitt und die ihm beigefügte Bildunterschrift den durchgängigen Subdiskurs der FAZ im Untersuchungszeitraum noch in zweifacher Weise. Zum einen dokumentiert die Auswahl einer Bibelillustration von Gen 8, 11 eine Parallelität zwischen biblischem und aktuellem Geschehen. Am 26. 08. 2002, also am Ende der unmittelbaren Gefährdungs- und Zerstörungsphase der Elbeflut, geht das Hochwasser, wie in der Sintflutgeschichte auch, langsam zurück, die Aufräumarbeiten beginnen, „man sieht wieder Land“. Zum anderen, und damit zeigt sich nun in besonderer Weise die Verbindung zu Breidenichs Artikel, legt die Abbildung des mittelalterlichen Holzschnitts einen zu Breidenich konträren Blickwinkel auf das Hochwasser frei. Bei Breidenich ist es der Blick von oben, die technisch vermessende Perspektive, die die Natur begrenzt und funktionalisiert und den Lesern die Identifikation einer modernen Krisenbewältigung anbietet. Anders der Holzschnitt. Bildbeherrschend ist die Arche Noah, die noch völlig von Wasser umgeben ist. Im rechten, oberen Bildregister ist die Taube zu erkennen. Darunter aber, mit dem Meer eng verbunden, lassen sich verschiedene Meeresungeheuer ausmachen, die nach mittelalterlicher Vorstellung personalisierter Ausdruck dieser menschenfeindlichen Umgebung insgesamt waren.88 Der Blick des Betrachters wird auf das „Oberdeck“ der Arche gelenkt, den Teil, in dem Menschen das Ende der Sintflut erwarten. Zweierlei fällt auf und divergiert gänzlich zu Breidenichs Text. Am offenen Fenster stehend erwartet Noah die Taube zurück, Ausdruck einer Bewältigung der Krise, die nur von außen kommen kann. Zum anderen sind die anderen Menschen (einige sehen den Betrachter direkt an) hinter Fenstersäulen verborgen wie in einem Gefängnis zur Passivität verdammt. Damit kehrt sich die Leserichtung der Krise bei Breidenich gleichsam um. Der Mensch ist der Natur nicht entzogen. Die Bildunterschrift unterstreicht dies noch einmal: „Nie war die Welt von Planbarkeit, Vernunft und Sicherheit weiter entfernt als heute“.

4.4 Zusammenfassung: Der Naturdiskurs in der FAZ Für die Dauer der Hochwassers gerät der Blick auf Natur in den Hintergrund, der üblicherweise die Wahrnehmung von Natur prägt: Sie ist ein unhinterfragter Teil des alltäglichen Lebens mit seinen immer wiederkehrenden Rhythmen, also den Jahreszeiten, Tag und Nacht, Trockenheit und Regen. Leichte Störungen dieser Ordnungen führen nur dazu, dass diese Rhythmen wieder stärker wahrgenommen werden.89 Die Natur wird dabei eher bedroht 88 Vgl. Corbin, Meereslust, 13 ff. 89 Vgl. Deckers, Festtag, 7.

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wahrgenommen als bedrohend. Eine intensivere Beschäftigung mit einer in die eigenen Lebensvollzüge hineinreichenden Natur wird als unurban bewertet. Das ändert sich im Augenblick der Krise. Diese durchbricht gewohnte Alltagserfahrungen. Ein Abgrund des Unerklärlichen und der Lebensgefahr wird sichtbar. Im Zuge der Krisenbewältigung wird der untergründige Naturdiskurs, den die FAZ auch stellvertretend für gesamtgesellschaftliche Kommunikationspartner führt, sichtbar. Das Hochwasser fordert die technische Rationalität heraus und zeigt ihre Grenzen auf. Die Berichterstattung über technische Erklärungen, Krisenlogistik und Meterologie sind dafür sichere Anzeichen. Zur Bewältigungsstrategie gehört dabei auch eine Naturdistanzierung, etwa in Form einer dezidiert technischen Perspektive, eines Blicks von oben90, der die Natur wieder zu einer kontrollierbaren, menschlich geformten Oberfläche zurückstuft oder schließlich der Betrachtung der Elbe als Kulturgut. Dabei wird erkennbar, dass für beinahe alle Beiträge der Zeitungen ein funktionales Naturverständnis leitend ist, d. h., Natur wird nicht als selbstständiges Gegenüber, als Wesen oder als Geschehenszusammenhang begriffen, sondern als „stummes Woraufhin“ menschlicher Interessen. Daneben transportiert die FAZ noch eine weitere Diskursstimme, die angesichts der für die Dauer der Krise problematisch gewordenen technischen Rationalität als Subdiskurs der Zeitung wahrzunehmen ist. Dieser bricht sich zunächst durch die ironisch gebrochene Rezeption der traditionell verankerten Sintflutmetapher Bahn. Beide Diskurse stehen in Konflikt zueinander und lassen sich auch als Differenz zwischen Politikressort und Feuilletonteil der FAZ begreifen. Der Subdiskurs zieht die technische Problemlösung als Bewältigung der Krise in Zweifel und kritisiert das darin favorisierte funktionale Naturbild.91 Angeregt wird dies durch eine Poetisierung der Krisenerfahrung.92 Dieser Subdiskurs greift nur vereinzelt auf religiös geprägte Sprache zurück.

5. Kontrastiver Vergleich – Inhaltsanalytische Diskursanalyse: Sächsische Zeitung 5.1 Der publizistische Ort der Zeitung Die Sächsische Zeitung wurde 1946 als SED-Bezirkszeitung für den Bezirk Dresden gegründet. Seit 1989 hat sie wechselnde Kooperationspartner besessen, seit 1992 hielt der westdeutsche Medienkonzern Gruner & Jahr die 90 Vgl. Breidenich, 8. 91 Dies bleibt innerhalb der FAZ-Berichterstattung nicht unwidersprochen, vgl. Rietzschel, Erinnerung, 38. 92 Vgl. Bernig, Warum, 35.

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Diskursstränge

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Mehrheitsanteile an der Zeitung. Im Jahr der Wende gab sich die Mitarbeiterschaft ein demokratisches Redaktionsstatut, welches zunächst u. a. eine weitreichende Mitbestimmung bei der Wahl der Redaktionsmitglieder vorsah. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Sächsische Zeitung eine unabhängige Regionalzeitung mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen lokaler und überregionaler Berichterstattung. Die Sächsische Zeitung versteht sich als „liberal, sozial und frei von parteilichen und klerikalen Einflüssen“93. Die Sächsische Zeitung hat naturgemäß ihre Stammleserschaft im Großraum Dresden und ist in ganz Sachsen verbreitet. 1988 lag die Zahl der verkauften Auflage bei 566000, im Jahr 2002 lag diese noch 390000.94 Entsprechend sank in diesem Zeitraum die Zahl der Leser von ca. 1000000 im Jahr 1992 auf nun 823000. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die Zeitung damit über 60 % aller Haushalte im ehemaligen Bezirk Dresden.95 An diesem Wert dürfte sich 2002 nur geringfügig etwas geändert haben. 96 % aller Leser bindet die Zeitung durch ein Abonnement.96 Die soziodemographische Struktur der Leserschaft weist ein fast ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen und männlichen Lesrinnen und Lesern aus. Leser, die älter als sechzig Jahre stellen mit 40 % die größte Gruppe innerhalb der Leserschaft. Ca. 60 % der Leserschaft verfügen über höchste Bildungsabschlüsse. Stark vertreten ist die Zeitung in der Berufsgruppe der Beamten, Angestellten und hochqualifizierten Facharbeiter in der High-TechBranche und der Automobilindustrie.97 5.2 Diskursstränge Typische Merkmale der Berichterstattung sind wie folgt zu beschreiben: Berichte und Reportagen über Politiker, die die Hochwassergebiete besuchen bzw. konkret als Krisenmanager unterwegs sind, müssen wie bei der Berichterstattung der FAZ vor dem Hintergrund der nahenden Bundestagswahl im September 2002 gelesen werden, auch wenn hier der regionale Bezug stärker ausgeprägt ist als bei einer deutschlandweit erscheinenden Zeitung. Die SZ geht kritischer mit dem staatlichen Krisenmanagment um und beurteilt die Leistung der Politiker nach ihrer Kongruenz von Denken und Handeln, typisch für ein Publikationsorgan, das seinen besonderen Schwerpunkt auf die „Nähe zu den Lesern“ legt.98 Auffallend ist, anders als in der FAZ, dass 93 94 95 96 97 98

Zitiert nach Busche-Baumann, Rechtsextremismus, 131. Vgl. MA 2002, zitiert nach www.sz-online.de/includes/Anzeigen/Mediadaten.html (28. 10. 2002). Busche-Baumann, Rechtsextremismus, 131. Vgl. MA 2002, ebd. Vgl. ebd. Das zeigt sich auch in dem umfangreichen Serviceteil, den die SZ in den Tagen des Hochwassers in Form von praktischen Tipps, Ansprechpartnern und Interviews gibt. Diese Nähe wird zusätzlich noch unterstrichen, dass die Redaktionsräume der SZ in Dresden ebenfalls vom

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die Hilfsmaßnahmen, die durch die Bundeswehr und das Technische Hilfswerk (THW) geleistet wurden, nüchtern bis kritisch beurteilt werden.99 Der besondere Schwerpunkt bei den Berichten und Reportagen liegt in diesem Zusammenhang bei der SZ ganz eindeutig in dem solidarischen Helfen der Bevölkerung, also dem bürgerschaftlichen Engagement für die Opfer des Hochwassers.100 Dazu gehörte auch die Initiierung der Spendenaktion „Aktion Lichtblick“101, mit deren Spendengeldern Opfern des Hochwassers unbürokratisch geholfen werden sollte. Die SZ berichtete in den Folgetagen über Empfänger entsprechender Zuwendungen.102 Entsprechend scharf wird deshalb auch das Verhalten der Schaulustigen kritisiert, ein Sachverhalt, der in der Berichterstattung der FAZ völlig fehlt. Hilfsmaßnahmen der kirchlichen und staatlichen Hilfsorganisationen werden nur am Rande erwähnt.Reportagen über unmittelbar betroffene Hochwassergeschädigte finden sich in der Berichterstattung der FAZ so gut wie gar nicht, am ehesten noch im Rahmen von Reportagen über einzelne Städte und dort auch nicht mit der letzten Suche nach Intimität und Emotionalität.Das ist in der SZ allein schon durch ihren lokalen Bezug anders.103 Bei der Suche nach Ursachen für die Schäden, die durch das Hochwasser entstanden sind, wird besonders ein Begründungsmuster erkennbar : die in-

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Hochwasser betroffen wurden und zu einer Beeinträchtigung der Arbeit führten, vgl. Marschner, Weißeritz, 1. In einer Reportage über die Aufräumarbeiten in Schmiedeberg (Erzgebirge) heißt es etwa: „Bundeswehr ist in dem verwüsteten Ort nicht zu entdecken. ,Im ganzen Tal ist keiner von denen‘, ruft ein Mann aufgebracht. ,Wir sind hier vergessen worden‘, sagt ein anderer bitter“ (zitiert nach: Tausch, Geburtstag, 22). Die Haltung gegenüber den als westdeutsch wahrgenommen staatlichen Hilfskräften ist sicherlich in den nach wie vor vorhandenen Ost-/Westkonkflikten zu sehen. Besonders signifikant ist dies an der Titelseite der SZ vom 17./18. 08. 2002 abzulesen. Es dominiert im oberen Seitenteil ein Foto des überschwemmten Zentrums von Dresden, darüber ist als Titelzeile platziert: „Unser Elbtal ist verwüstet“. Gleichsam als Antwort auf diese existenzielle Krisenerfahrung platziert die Redaktion der SZ darunter ein Bild von Menschen, die beim Aufschichten und Weiterreichen der Sandsäcke zum Zeichen einer solidarischen Gemeinschaft werden. Am rechten Seitenrand ist zudem der Hinweis auf die „Aktion Lichtblick“ angebracht, überschrieben mit den Worten „Welle der Solidarität“. Schließlich bildet ein Artikel im unteren Bildregister der Seite, der über spontane Hilfe von Anwohnern berichtet, ebenfalls einen Gegenpol zu dem dominierenden Bild der Krise. Vgl. stellvertretend für viele andere Beiträge in der SZ auch: Schirmer, Gang, 1. Vgl. SZ vom 15. 08. 2002. Vgl. etwa Jörg Marschner, „Dass es so etwas gibt“ – Bernd und Annegret Kohl, die ihr ganzes Hab und Gut verloren, danken den Lesern für ihre Hilfsbereitschaft“, SZ vom 20. 08. 2002, 1. Vgl. etwa der Bericht über den Schadensregulierer einer Versicherung (Schirmer, Regulierer, 8) oder die Reportage über das schwer geschädigte Grimma (Schade, Schrecken, 13). Das beigefügte Bild zeigt eine vom Hochwasser betroffene Person und ist mit folgender Bildunterschrift versehen: „Lutz Körner steht resigniert vor den Trümmern seiner Existenz“. Als Beleg können auch die Fotoserien gelten, die in der SZ dramatischer als in der FAZ ausfallen und regelmäßig auch hier Menschen in den Mittelpunkt der Berichterstattung rücken, vgl. etwa die Fotoseite der SZ vom 15. 08. 2002, 12.

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dividuelle Schuld einzelner Personen in Behörden und Krisenstäben.104 Die Kritik an fehlenden Rückstauflächen der Elbe wird in den Berichten der SZ unterbelichtet. Technische Erklärungsmuster überwiegen. Kirchliches Handeln gerät bei der SZ besonders durch die Erwähnung des diakonischen Wirkens und der Notfallseelsorge sowie von finanziellen Zuwendungen an Opfer in den Blick. Der Deutungsbeitrag der Kirche und ihrer Vertreter wird wiedergegeben bzw. „akzeptiert“, wo dies im Kontext konkreter Hilfe für die Hochwassergeschädigten geschieht.105

5.3 Der Naturdiskurs in der Sächsischen Zeitung 5.3.1 Religiöse Sprache Anders als in den Berichten und Reportagen der FAZ legen entsprechende Artikel der SZ die Vermutung nahe, dass die Leserschaft dieser Zeitung den Vergleich des Elbehochwassers mit der biblischen Sintflut nur zitathaft benutzt und keinen ursächlich religiös aufgeladenen Bezug zum biblischen Weltbild mit dieser Rede intendiert, bzw. die biblische Wurzel dieser Krisenmetapher gar nicht kennt. So weist insbesondere der Artikel des SZ-Redakteurs Oliver Reinhard „Dann kommt die Flut. Das Wasser trägt auch das uralte Motiv von der Sintflut wieder in die Köpfe“106 auch einen entsprechend aufklärerischen Gestus auf. Reinhard ist bemüht, den Begriff der Sintflut zu erklären. Auffallend ist bereits die Platzierung des Artikels im Kulturteil der Zeitung unter der Rubrick „Mythos“. Reinhard hinterfragt die Historizität der biblischen Sintfluterzählung und weist darauf hin, dass diese bereits auf Traditionen in babylonischer Zeit zurückreicht. Beide Aussagen stehen für Reinhards Interesse einer distanzierten, christentumskritischen Auseinandersetzung mit der im Kontext des Hochwassers genutzten Sintflutrede: So deutet er etwa die kunstgeschichtliche Darstellung des Sintflutmotivs als Emanzipation von biblisch-kirchlicher Bevormundung (vgl. Z. 79ff). Reinhards kritische Haltung an einer neuerlichen Aufnahme der Sintflutrede hängt mit der ihr innewohnenden Schuldthematik zusammen. Darauf weisen bereits die beiden Zwischenüberschriften des Textes hin („Zorn der 104 Vgl. Tausch, Männer, 3. 105 Vgl. Schubert, Licht, 18. Vgl. auch den Bericht über einen Gottesdienst in Radebeul: „Die Bänke im Schiff der Kötzschenbrodaer Friedenskirche sind zum Sonntags-Gottesdienst gut besetzt. Mehr als einhundert Bürger sind da, auch Menschen, die sonst nicht in die Kirche gehen […] Die Pfarrer Brigitte Schleinitz und Wolfram Salzmann ermutigen die Bürger, nicht aufzugeben und sich zu helfen. In der Kollekte wurden über 2000 Euro für Hochwasseropfer gesammelt“ (Redlich, Gottesdienst, 13). 106 In: SZ vom 17./18. 08. 2002, 24. Der Titel spielt auf einen Popsong „Wann kommt die Flut, die mich berührt“ des ostdeutschen Sängers Joachim Witt an, der als populäres Deutungsmuster die Brücke zwischen Religionsgeschichte und Gegenwartskultur schlägt.

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Götter“ und „Wer hat gesündigt“). Reinhard sieht in dem Rekurs auf den Gott der Sintfluterzählung eine problematische Mythisierung rationaler Erklärungsprozesse des Hochwassers („Zorn des Gottes oder der Götter – oder welcher Kraft auch immer“, Z. 70ff, „oder, wer’s glauben möchte, die Götter“, Z. 124 f) und zieht damit auch in Zweifel, dass ein Leben nach der Naturkatastrophe die Hoffnungselemente in sich birgt, wie sie die Sintfluterzählung durch die Schilderung über die Taube eröffnet. Gerade dies liest sich wie der Gegenentwurf zu der Predigt von Bischof Volker Kreß auf dem Dresdner Schlossplatz, über die die SZ ebenfalls berichtete.107 Erstaunlich ist nun, dass neben eine mythenkritische, technische Deutungsperspektive, wie bei Reinhard, eine mythisch aufgeladene Sprach- und Vorstellungswelt tritt, die den Naturdiskurs begleitet, so etwa in der Überschrift „Die Flussungeheuer sind aufgewacht“108 oder – bereits vor der Flut – in einem Artikel des SZ-Redakteurs Ulf Mallek über einen von Pilzen befallenen alten Baum, genauer eine Eibe, deren Fortbestand durch eine nahe wurzelnde Esche bedroht wird, abgedruckt auf der Titelseite.109 Was zuerst noch referierenden Charakter besitzt, erschließt sich dann einige Zeilen weiter als eigene Position Malleks: „Immerhin ist die Eibe nach germanischer Mythologie der ursprüngliche Weltenbaum, dem sogar eine Heilwirkung für Krebskrankheiten zugeschrieben wird“ (Z. 47ff).110 Daneben weisen auch abgedruckte Leserbriefe an die SZ auf den Sachverhalt eines vereinzelt mythisch aufgeladenen Naturdiskurses hin: „Einseitig kopflastige Entscheidungen ohne das Gespür für Pflanzen, Tier und Seelenleben der Natur und Mutter Erde provozieren eine Reaktion der Naturwesen und der Erde.“111

5.3.2 Krisenbewältigung Vergleicht man die vielfältigen diskursiven Strategien der Krisenbewältigung in den Berichten und Reportagen der FAZ mit der SZ, so ist insgesamt zu beobachten, dass die ostdeutsche Regionalzeitung das krisenhafte Geschehen weniger ausdeutet, sondern viel eher durch die Schilderung solidarischen Handelns bewältigt sieht. Dieser Sachverhalt gründet sich zunächst natürlich in der größeren räumlichen und damit konkret auch emotionaleren Nähe zum Hochwasser als auch in der Grundausrichtung der Zeitung, serviceorientiert, 107 Vgl. dpa/sz, Signal, 1: „Landesbischof Kreß kritisierte eine ,Welt der Zerstörung der Natur‘ in der westlichen Welt und deutete die Taube als Symbol dafür, wie die Natur dem Menschen nach einer Zornesgebärde wieder die Hand reicht.“ 108 Großmann/Marschner, SZ 15. 08. 2002, 3. 109 Mallek, Meißen, 1. 110 Zu den Helfern des alten Baumes wird auch ein evangelischer Superintendent gezählt. Dieser weist keine Kennzeichen einer religiösen Kompetenz auf und wird zum sinnvollen Helfer des Baumes allein durch seine botanischen Kenntnisse, vgl. ebd., Z. 18 ff. 111 Vgl. Hirschburger, Leserbrief, 14.

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schnell und konkret zu berichten.112 Dennoch sind Muster einer Krisenbewältigung sehr wohl vereinzelt – und eher untergründig kommuniziert – wahrzunehmen. So bietet sich die selbst in eine Krise geratene technische Rationalität im Fortgang der Elbeflut als Bewältigungspotential an. So formuliert stellvertretend der Leiter des Instituts für Meteorologie der Universität Leipzig in einem Interview auf die Frage nach der menschlichen Schuld an dem Hochwasser : „Eine Beeinflussung ist sicher vorhanden. Aber die Debatte wird sehr in Richtung eines Gruselkabinetts geführt, nach dem Motto: Jetzt schlägt die Natur für eure Umweltsünden zurück. Das ist eine weltanschauliche Einordnung […] Wir müssen die Klimaveränderungen differenzierter sehen“113.

Dieses ungebrochene Verhältnis zu einer alltagsdiskursiven Form technischer Rationalität zeigt sich auch in der Anwendung gesellschaftlich tradierter Diskursmuster. So berichtet die SZ-Redakteurin Heike Markus114 von dem ersten Schultag nach der Wiedereröffnung eines Gymnasiums und schildert, wie dort zu einer schülergemäßen Krisenbewältigung konkret angeleitet wird. So wird die Frage einer Lehrerin wiedergegeben, die ihre Schüler fragt, wie denn ein solches Unglück hätte vermieden werden können. Ein Schüler antwortet: „Man müsste weniger Kohlendioxid ausstoßen […] und sollte lieber mehr Windenergie nutzen“115 Der Artikel von Markus zeigt damit zweierlei besonders deutlich. Zum einen spielt eine religiöse Dimension der Krisenbewältigung keine Rolle, so in der geschilderten Deutungsarbeit einer „Ethikstunde“, zum anderen suggeriert die von Markus vorgenommene Auswahl von Schüleräußerungen, dass das Vertrauen in „technische Lösungen“ auch repräsentativ für Leserinnen und Leser der SZ insgesamt sei. 5.3.3 Subdiskurs Die Krise löst in der SZ anders als in der FAZ keinen Subdiskurs aus, der auf die Infragestellung einer alltagsdiskursiven technischen Rationalität zielt und während der ersten Bewältigungsphase ein anderes, religiös aufgeladenes Bild der Natur kommuniziert. Eine dem „westdeutschen“ Diskurs eher unvertraute Form religiös aufgeladener Diskurse (so im Fall einer Baummythologie) ist institutionell nicht kommunizierbar. So überrascht es nicht, dass Deutungs112 Vgl. etwa das diskursive Phänomen der Historisierung der Elbeflut. Anders als in der FAZ ist der historische Vergleich mit dem Hochwasser von 1845 untrennbar mit dem lokalen Bezug zum jetzigen Dresden verbunden. Thema ist hier also die Zerstörung der Baukultur, die für eine städtebauliche Identifikation bis in die Gegenwart hinein bemüht wird, vgl. Großmann, Weg, 3. 113 Stadler, Klimasünden, 7. 114 Markus, Was, 11. 115 Ebd.

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perspektiven eher im konkreten Handeln einer „Volksgemeinschaft“ gesehen werden bzw. in der technischen Lösbarkeit. Beides unterstreicht das funktionale Naturbild, das in den Beiträgen der SZ erkennbar wird. Seinen sichtbarsten Ausdruck findet es im Blick auf die wirtschaftliche Nutzung von Kleingärten, die ebenfalls durch das Hochwasser betroffen wurden.116

6. Deutungsperspektiven Die Untersuchung des Natur- und Krisendiskurses sowohl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als auch der Sächsischen Zeitung belegt die außerordentliche Bedeutung des Elbehochwassers für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation im August 2002. Die Zeitungen haben dabei nicht nur Anteil an einer medialen Vermittlung des Geschehens selbst, sondern treten durch ihre Reportagen, Kommentare, Analysen und Berichte als Mittler zwischen Alltagsdenken und wissenschaftlichem Diskurs auf. Dieser Grundaufgabe des Journalismus kommen die beiden Zeitungen nun in besonderer Weise dadurch nach, dass sie zum einen eine Decodierung der Katastrophe vornehmen, in dem sie etwa zur Komplexitätsreduktion beitragen, erklären und verstehbar machen, was geschehen ist. Zum anderen codieren sie aber auch das Geschehen für ihre Leserinnen und Leser, dort wo sie Deutungen vorlegen und zu einer Bewältigung der Hochwassererfahrungen beitragen.117 Daran ist nun aus praktisch-theologischer Perspektive Folgendes besonders interessant: der Hochwasserdiskurs legt als Krisendiskurs Strukturen einer öffentlichen Naturwahrnehmung frei, die im Normalfall verborgen bleiben. Damit lässt sich genauer erklären, welchen Diskursregeln die Rede über Natur folgt. Diesen Diskurs kann man unter formalen wie inhaltlichen Gesichtspunkten näher beschreiben. Einerseits folgt dieser dem Muster von Krise und Krisenbewältigung und ist damit auch religiös aufgeladen, andererseits findet eine modernetypische Auseinandersetzung um die Plausibilität einzelner Deutungssysteme selbst statt. Das gilt sowohl für die Rolle einzelner Diskurspartner wie auch das Verhältnis von offiziellem und Subdiskurs. Nun ein Blick auf die Krise selbst: Es dürfte unbestritten sein, die Elbeflut 2002 als Naturkatastrophe zu bestimmen.118 Die unmittelbare Katastrophenerfahrung zielt natürlich auf die ebenso unmittelbare Rettung. Daneben löst die kollektive Erfahrung einer den Menschen in kaum für möglich gehaltener 116 Vgl. Müller, Kleingärtner, 11. 117 Zu der Aufgabe des Decodierens und Codierens vgl. Schmidt, Wolken, 5. 118 Schmidt, Wolken, 5 f benennt hier als Kennzeichen, dass diese „a) in von Menschen bewohnten und damit auch bewerteten Räumen stattfindet; b) überraschend die sozial und kulturell eingeschliffenen Lebensentwürfe der Menschen zerstört oder nachhaltig ins Wanken bringt […]; c) die körperliche Existenz der Menschen bedroht […]; im Verlauf keine offensichtliche Möglichkeit des Schutzes davor einschließt“.

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Weise bedrohenden Natur Deutungsreflexe aus.119 Religionsphänomenologisch wird man daher von einem klassischen Typus der Kontingenzerfahrung und ihrer bemühten Bewältigung sprechen können. Bekanntlich hat bereits Hermann Lübbe in der Kontingenzbewältigung den entscheidenden Beitrag der Religion für eine moderne Gesellschaft gesehen.120 Gerade im Hinblick auf die Rolle kirchlicher Institutionen ist dabei zwischen einer „tatkräftigen“ und einer „darstellend-symbolisierenden“ Kontingenzbewältigungspraxis121 zu unterscheiden, wie etwa das Nebeneinander von Notfallseelsorge und diakonischer Hilfe einerseits und Gottesdienst andererseits beweist. Dass die Religion überhaupt diese Aufgabe erfüllen kann, wird systemtheoretisch, wie bei Niklas Luhmann, durch die Annahme einer funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in autopoietisch operierende Teilsysteme erklärt. Die Funktion der Religion besteht laut Luhmann darin, „die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare“122 zu garantieren. „Die Ambition der religiösen Codierung scheint dahin zu gehen, jeder Unterscheidung, die beim Beobachten (Erkennen, Imaginieren, Handeln usw.) benutzt werden, den Gegenwert der Transzendenz gegenüberzustellen“123.

Das erklärt zwar ansatzweise die erstaunliche Stabilität institutionalisierter Religion – auch und gerade in Ostdeutschland, wird aber der gegenseitigen Durchdringung verschiedener Handlungslogiken (und der sie repräsentierenden Institutionen) nicht gerecht.124 So finden sich in kirchlichen Diskursbeiträgen Deutungsmuster einer technischen Rationalität und umgekehrt erweist sich ein ästhetisch aufgeladener Subdiskurs als Ausdruck einer religiös bebilderten Gegenmoderne. Gerade im Fall des Elbehochwassers erweist sich daher ein streng funktionales Religionsverständnis als zu kurz greifend. Vielmehr kommt das jeweilige Spezifikum von Natur und Religion in der Krisenerfahrung erst in Angrenzung zu Alltagserfahrungen in den Blick. Diese Erfahrungen von Alltäglichkeit und der ihr innewohnenden Handlungsmuster werden durch die Naturkatastrophe unterbrochen. Damit gerät ein Denken, das sich pragmatisch ausrichtet und zugleich historisch determiniert ist125, in eine schwere Krise. Dadurch, so scheint es, wird Natur selbst überhaupt erst wahrgenom119 Vgl. Bernig, Warum, 35: „,Warum macht sie das?‘ weinte eine Frau. Ja, warum? Sie – das ist die Elbe“. 120 Lübbe, Religion, 58. 121 Zur Unterscheidung vgl. Zippert, Notfälle, 237 f. 122 Luhmann, Religion, 127. 123 Ebd., 126. 124 Vgl. Münch, Dynamik, 69 f. 125 Konstitutive Handlungsmuster des Alltagslebens sind nach Schmidt die Wiederholung, die Normativität des Handelns, die symbolische Interaktion mit Objekten der Alltagswelt und die Ökonomie des Handelns im Rückgriff auf kommunikative Bräuche (ebd., 5 f).

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men. Ist sie sonst ein selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens oder gehorcht ihr öffentlicher Diskurs feststehenden „Kommunikationsbräuchen“, also etwa der alltäglichen Rede einer ökologischen Krise, so wird Natur nun außeralltäglich wahrgenommen. Dieses Aufleuchten des Außeralltäglichen im Alltäglichen ist nun auch typisches Merkmal eines Religionsverständnisses, wie es durch Henning Luther vertreten worden ist. Krisen- und Naturerfahrung sind im religiösen Sinn also von ihrem Gegenpol, der Alltagserfahrung, her zu verstehen. Diese ist der Rahmen für das, was im Alltag momenthaft aufleuchtet und Differenzerfahrungen erst ermöglicht, so H. Luther.126 Religion, die den Alltag begleitet, thematisiert also gerade in Krisenerfahrungen, die den Alltag durchbrechen, die Differenzerfahrungen zu den Handlungslogiken dieser Welt. Beleg für diese momenthafte Durchbrechung scheinbar unumstößlicher Handlungslogiken im Angesicht der Naturkatastrophe ist der Subdiskurs der FAZ, der als Ausdruck gesellschaftlicher Bewältigungs- respektive Deutungsprozesse gelten kann, die in ihrer je eigenen Deutung der Wirklichkeit spannungsreiche Konfliktlinien des Gesamtdiskurses aufdecken. Offensichtlich entsteht ein solcher Subdiskurs, weil die wissenschaftlich-technische Wertsphäre mit ihrer Handlungslogik auf dem Höhepunkt des Hochwassers kurzfristig in eine Vertrauenskrise gerät.127 Stattdessen scheint nun der Natur selbst eine untergründige Dynamik innezuwohnen, welche den Lauf der Welt bzw. das individuelle Schicksal des Menschen bestimmt.128 Merkmale des Subdiskurses sind seine augenfällige Spannung zum „Normaldiskurs“, sein plötzliches Entstehen wie Verschwinden und schließlich die Tatsache, dass er jenseits der erwartbaren Dichotomie von Technik und Religion verläuft.129 Damit zeigt sich dieser Subdiskurs als typisch für die gegenwärtige Beschreibung einer Phänomenologie der Moderne und der ihr innewohnenden Gegenwelten. Denn ein wichtiges Merkmal der Moderne ist ja die Ausbildung stabiler Systeme, die gesamtgesellschaftliche Funktionen der alltäglichen Wirklichkeitsbewältigung übernehmen. Die diskursanalytische Methode erweist sich damit insgesamt als geeignet, massenmedial erzeugte, verbreitete und gedeutete Erfahrungen angesichts dieser Naturkatastrophe zu beschreiben. Der Fokus dieser Methode liegt nun in der Unterscheidung diverser Diskursstränge, wie sie besonders öffentlich relevante Themen wie eine Naturkatastrophe bestimmen. Damit erhellt sie im vorliegenden Untersuchungsfeld die Komplexität der Kommunikation über Natur. Ebenfalls gelingt es, das „Religionsthema“ näher zu beschreiben, etwa in 126 Vgl. Luther, Religion, 246 f. 127 Man denke an die mangelhaften Wettervorhersagen, die Bebauung von Uferflächen, die sich als schwerer Fehler erwies und die Grenzen technischer Hilfe beim Zurückdämmen des Wassers. 128 Vgl. Horatschek, Natur, 391 f. 129 Den Abschied von der Vorstellung einer allzu simplen historischen Abfolge dieser Diskurse mahnt ebenfalls Walter, Katastrophen, 10 f an.

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der Analyse der Kommunikation religiöser Symbolsysteme und ihrer Sprachspiele. Beinahe erwartbar war dabei die Bedeutung religiöser Diskursstränge für eine Verarbeitung der Naturkatastrophe. Einzelne Diskurspartner traten dabei direkt in den Diskurs ein, andere variierten je nach Teilöffentlichkeit ihren Diskursstil. Im kontrastiven Vergleich zweier Tageszeitungen wurde nicht nur der große Unterschied zwischen einzelnen Diskursregionen deutlich, sondern auch ihr publizistisches Profil. Freilich zeigen sich insgesamt für eine empirische Theologie auch die Grenzen dieser Methode. Die genaue Wahrnehmung zielt am Ende eben nicht auf das Phänomen („Elbeflut“) bzw. naturräumliche Erfahrungen selbst, sondern auf die Diskurse dieser Erfahrungswirklichkeit. Ebenso erwies sich, dass damit gerade Wahrnehmung selbst noch einmal auf den methodologischen Prüfstand gerät und schließlich ist ebenso zu fragen, wie es gelingen kann, methodologisch die Leiblichkeit dieser naturräumlichen Erfahrungen stärker als bislang einzuholen.

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B. Der Blick aufs Meer 1. Einleitung Das Meer „trägt nicht wie die Erde die Spuren der Werke der Menschen und des menschlichen Lebens. Nichts hat in ihm Bestand, alles durchzieht es nur flüchtig, und wie schnell verschwindet doch die Schaumspur der Schiffe, die es durchkreuzen! Daher rührt jene große Reinheit des Meeres, die den Dingen der Erde fehlt.“1 Das Meer „erfrischt unsere Einbildungskraft, denn es lässt uns nicht an das Leben der Menschen denken, und es erfreut unsere Seele, denn es ist wie sie unendliches und ohnmächtiges Streben, sich aufschwingende und immer wieder gebrochen hernieder sinkende Kraft, ewige und sanfte Klage.“2

Wie kaum ein anderer Ort der Natur weckt das Meer Grundfragen des menschlichen Selbstverständnisses. Als stummes Gegenüber ist es Projektionsfläche für Sehnsüchte und Grenzerfahrungen. Der Blick aufs Meer führt zu einem anderen Blick aufs Land. Der Blick aufs Meer rückt den Randblick in den Mittelpunkt. Der Übergang von Land zu Wasser, der Strand und sein biotopisches und soziales Umfeld konzentrieren diesen Blick. Der Blick aufs Meer ist die Verdichtung der menschlichen Meereserfahrungen. Was man nun am Meer zu sehen scheint, das ist man in Wirklichkeit selbst. In der Reihe prägender Naturerfahrungen kommt dem Meer damit eine besondere Bedeutung zu. Das Meer ist kein natürlicher Lebensraum des Menschen. Von ihm geht Gefahr und Fremdheit aus.3 Deshalb ist der Übergang vom Land zum Wasser auch mehr als eine geografische Grenze, das Meer ist also der Ort besonderer Wahrnehmungen. Um diese Wahrnehmungen geht es. Erfahrungen in und mit Natur verdichten sich im Angesicht des Meeres bei demjenigen, dessen Blick dem Wasser gilt. Auf der Landkarte religiös geprägter Naturerfahrungen will damit nun ein Fixpunkt erschlossen werden, der einen Ort der Naturerfahrung (das Meer) mit einer Form des Naturkontakts (der Blick) verbindet. Damit verdichtet sich noch einmal, was Wahrnehmung selbst ausmacht. Sie ist leibbezogen und an die Sinne gebunden. Ganz bewusst steht am Beginn der folgenden Überlegungen zunächst eine eigene Erfahrung. Sie reflektiert, dass in den Prozess der methodischen Profilierung immer auch eigene Wahrnehmungsmuster und Geschichten mit dem 1 Proust, Meer, 195 f. 2 Ebd., 196. 3 Vgl. Jona 1,11: Denn das Meer ging immer ungestümer.

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Einleitung

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Meer verbunden sind. Die folgende Schilderung nimmt ihren Ausgang bei einem abendlichen Aufenthalt am Strand der Ostsee: Nachdem der Strand eines Badeortes den Tag über dicht bevölkert war von Touristen, die im Meer badeten, am Strand entlang spazierten oder in Strandkörben, kleinen Zelten oder auf ausgebreiteten Handtüchern die Zeit verbracht hatten, leerte sich zum Abend hin der Ort zwischen Düne und Meer zunehmend. Fast, so schien es, fand ein allmählicher Austausch der Strandbesucher statt. Denn zeitgleich kamen Menschen, die es sich nun, bei nachlassender Temperatur, in ihren Strandkörben bequem machten und vielfach lasen. Gegen neun Uhr abends hatte sich eine Anzahl von mindestens fünfzig Strandkörben nun nach einer Seite hin ausgerichtet. Nicht wie den Tag über üblich, standen die Strandmöbel nun alle in Richtung der untergehenden Sonne zum Meer hin ausgerichtet. Wer im Strandkorb saß, sah das Meer, die untergehende Sonne, nicht aber seine Nachbarn. Ich selbst setzte mich ein wenig abseits, seitlich und konnte erkennen, dass die meisten Strandbesucher entweder lasen oder dem „Naturschauspiel“ zusahen. Ich wollte solange am Strand bleiben, bis die Sonne untergegangen war. Zugleich wollte ich die anderen Besucher beobachten. Genau in jenem Augenblick, in dem die Sonne am Horizont unterging, sah ich, dass die allermeisten derer, die in ihren Strandkörben die Sonne beobachtet hatten, nun eine Kamera nahmen und fotografierten. Das Restlicht der Dämmerung führte nun dazu, dass reihenweise Blitze an den Kameras ausgelöst wurden. Für etwa eine Minute entstand ein regelrechtes „Blitzlichtgewitter“. Vieles von dem, was die folgende Untersuchung bestimmt, ist hierin angelegt. Der Blick auf die Natur, hier auf das Meer, ist vielschichtig und von sozialen Bedingtheiten geprägt. Der Blick auf das Meer ist rätselhaft, überraschend, er lebt von Erinnerungen und steht im Austausch mit einer mehrdimensionalen Fotopraxis. Was, so fragte ich mich, würde wohl auf den fertigen Fotos zu sehen sein, worin würden sie sich unterscheiden, was würde ganz gleich an ihnen sein und welcher weiteren Verwendung würden sie zugeführt? Der Blick verbindet nun dabei immer Nahes und Fernes, gerade so, wie das Meer selbst erscheint. Wer am Ufer steht, der sieht vor sich eine Oberfläche: gleichmäßig geformt, sich in rhythmischen Bewegungen vollziehend, dem menschlichen Auge erschlossen. Der Blick wandert zum Horizont, erahnt die Weite des Meeres, vertieft sein Nichtwissen an dem, was unter der Oberfläche verborgen bleibt. Der Blick aufs Meer ist also ein Grenzblick und nicht nur einer äußerer Grenzen.4 Dieser Blick ist die Augenlust am Banalen, am Heiteren und am Alltäglichen, aber eben auch „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“, Blick bis zum Horizont und weiter. Und noch etwas zeichnet das Meer als besonderen Erfahrungsraum von Natur aus. Es ist die zeitliche Dimension. Es gibt Naturräume, die sich vor den 4 Vgl. Heimbrock, Gott, 123 ff.

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Einleitung

Augen des Betrachters verändern, weil er sich in ihnen bewegt oder weil Bewegung, dramatische Veränderungen hier selbst erfahren werden: ein Unwetter, Wolken, die am Himmel vorüberziehen. Daneben gibt es das ganze Gegenteil: Natur wirkt auf ihre Betrachter unveränderlich wie ein Berg im Gebirge. Das Meer hat von beidem etwas. Der Blick aufs Meer lässt die ungeheure Dynamik und Bewegtheit des Wassers erkennen, zugleich aber findet sich in dieser Bewegung eine Rhythmik wieder, die – selbst eine „ewige Gegenwart“ erzeugt.5 Grenze, Gefahr, Gegenwart: Der Blick aufs Meer ist, so lautet die Grundannahme der folgenden Überlegungen, als wesentliches Merkmal einer prägenden Naturerfahrung religiös aufgeladen. Nun wird man mit Recht einwenden, der Blick aufs Meer sei in erster Linie konkreten Alltagsvollzügen verhaftet, flüchtig und schwer zu beschreiben. Zudem seien im Meeresblick allenfalls Sedimente des Religiösen erkennbar, und diese könnten als verschüttet oder bestenfalls als verborgen gelten. Das alles ist zweifellos richtig. Den Blick aufs Meer zudem praktisch theologisch zu beschreiben, damit betritt man also fast automatisch Neuland. Die Forschungslage ist fast zwangsläufig disparat. Direkte thematische Bezüge, wie bei Matthias Morgenroth6 geschehen, bleiben die Ausnahme. Theologisches „Strandgut“ findet sich noch in der Religionsphänomenologie und –psychologie, in Kirchenhistorischem wie der Auseinandersetzung mit den Uferpredigten Ludwig Gotthard Kosegartens.7 Der Blick aufs Meer lässt sich nur schwer in Worte fassen. Dennoch lassen sich die Blicke und ihre religiöse Dimensionen in den Reflexen der Naturerfahrung genauer wahrnehmen. Dazu gehört ein Blickwechsel: Von dem Akt des Sehens zum Resultat der Wahrnehmung.

5 Niemand hat diese Erfahrung wohl eindrücklicher beschrieben als Max Frisch. In seiner Erzählung Montauk schreibt er: „Einmal ist er aufgestanden und zur Brandung gegangen, hat seine Hosen weiter aufgekrempelt, so weit es nur geht, und genießt es, im Wasser zu stehen. Alle Kleider abzulegen, und in die Brandung zu laufen, wie er grad Lust hätte, wagt er nicht […]. Er findet ein Holz und schleudert es hinaus, weit hinaus. Er ist froh, wenn er nicht weiß, woran er denkt, und wenn ihn die Gischt, das seichte Wasser mit Schaum, der Sand an niemanden erinnern. Er möchte bloß Gegenwart. Das Holz, inzwischen wieder auf den Sand geschwemmt, greift er ein zweites Mal und schleudert es ein zweites Mal weit hinaus. Er möchte bloß sehen“ (ebd., 96 f). 6 Morgenroth, Meer, 187 ff. 7 Kosegarten, Pfarrer in Altenkirchen auf Rügen und Brieffreund Herders, Goethes und Jean Pauls, steht für die theologische (Wieder-) Entdeckung der Natur am Ende des 18. Jahrhunderts. Weil seine Predigthörer, zumeist Heringsfischer, mit und von dem Meer lebten, verlegte er den Ort seiner Predigten direkt an das Ufer der Ostsee. 1807 wurde eine Strandkapelle bei Vitt errichtet, die bis heute existiert. Kosegartens Uferpredigten wären eine eigene Untersuchung wert, vgl. Coblenz, Uferpredigten.

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Der Blick aufs Meer

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1.1 Der Blick aufs Meer – Wahrnehmungsgeschichte(n) So unveränderlich dieser Blick auf den Rhythmus von An- und Ablandung des Wassers am Strand auch sein mag, der Blick selbst gewinnt bei näherem Hinsehen eine historische Tiefenschärfe, eben eine zeitbedingte Perspektivik.8 Besonders eindrücklich hat dies Alain Corbin gezeigt, dessen mentalitätsgeschichtliche Erforschung des Meeres eine tiefgreifende, sich stetig wandelnde Wahrnehmung der europäischen Meere und ihrer Küsten freilegte. So hat der heutige, vielfach touristisch geprägte Blickwinkel des Meeres, eine Geschichte, eine die klare Brüche und verborgene Kontinuitäten aufweist.9 Einige Schlaglichter mögen dies belegen. Im September 1712 schreibt der englische Politiker, Schriftsteller und Mitherausgeber der berühmt gewordenen Wochenschrift „The Spectator“ Joseph Addison: „Bei allem, was ich je gesehen habe, hat nichts meine Phantasie so angeregt wie das Meer oder der Ozean. Wenn ich sehe, wie diese gewaltigen Wassenmassen sich selbst bei ruhigem Wetter erheben, kann ich nicht umhin, angenehme Überraschung zu empfinden; und wenn der Sturm sie erst so aufwühlt, dass der Horizont nach allen Seiten nurmehr aus schäumenden Wellen und schwimmenden Bergen besteht, ist das köstliche Grauen, das ein solches Schauspiel auslöst, schier unbeschreiblich. Ein wogendes Meer stellt für den Menschen […] meiner Ansicht nach das Ungeheuerlichste dar, was er in Bewegung sehen kann, und vermittelt seiner Phantasie infolgedessen eine der höchsten Freuden, die Größe überhaupt erwecken kann. Ich muss gestehen, dass ich dieses Universum aus flüssiger Materie nicht betrachten kann, ohne unwillkürlich an die Hand zu denken, die es dereinst ergoss und ein tiefes Becken schuf, es aufzunehmen. Ein solcher Gegenstand lässt in meinem Geist ganz von allein die Idee eines Allmächtigen Wesens aufkommen und überzeugt mich ebenso von seiner Existenz wie eine metaphysische Beweisführung.“10

Addisons Text ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Stellvertretend für seine gebildete Leserschaft übt er einen Blick aufs Meer ein und betont damit, dass die Betrachtung seinem Gegenstand besonders angemessen ist. Dieser „Primat des Sehens“11 ist typisch für diese Zeit. Im Betrachten fließt das Alte und Neue zusammen. Das Sehen bewahrt die Reste einer traditionsverbundenen Weltwahrnehmung und verstärkt dabei die Bedeutung tatsächlicher, sinnlicher Erfahrungen. Addisons Wahrnehmung des Meeres dokumentiert einen bemerkenswerten Wandel. Noch Endes des 17. Jahrhunderts sah der Blick aufs Meer gänzlich anders aus. So oder so war das Meer eine Spiegel8 Vgl. Rolshoven, Blick, 191 – 212. 9 Der erste, der nachdrücklich auf den Zusammenhang von Mentalitätsgeschichte und gesellschaftlicher Konstruktion von Natur hingewiesen hat, ist Joachim Ritter gewesen, vgl. ders., Landschaft, 108 ff. 10 Zitiert nach Corbin, Meereslust, 163. 11 Ebd., 164.

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Einleitung

fläche religiöser Wirklichkeit. Das bedrohliche Meer erklärte sich wie selbstverständlich aus den klassischen Texten der Bibel. Der Blick aufs Meer war ein Blick durch die Erfahrungen der Texte der Genesis, des Hiob und der Propheten hindurch. An der Meeresküste konnte man die Trennung von Meer und Land als Trennung von guter Schöpfung und sinntflutartigen Resten erkennen. Das Meer galt als Rest ungeformter, im theologischen Sinne rückständiger Schöpfung.12 Dieses negative Bild des Meeres und seiner „Monster der Tiefe“13 wurde im Norden Europas durch die reale Zerstörungsgewalt des Meeres, wie etwa bei schweren Stürmen und Überschwemungen immer aufs Neue bestätigt.14 Demgegenüber gab es dort, wo das Meer gefahrlos in das Leben und Arbeiten der Menschen einbezogen war oder gar dem aufkommenden Gestaltungswillen eingegliedert wurde, wie bei der Küste der Niederlande15, auch eine aus antiken Quellen schöpfende Allegorisierung des Meeres, die Ende des 18. Jahrhunderts sogar zu ersten Begehungen der Meeresstrände führte.16 Zurück zu Addison: Seine Betrachtung des Meeres mündet in eine typische Deutung des Meeres als Beweis für das Göttliche ein. Darin lebt ein Reflex auf, der die Meereswahrnehmung des 18. Jahrhunderts entscheidend prägte. Solange die Meere allein aus den biblisch-antiken Texten verstehbar waren, gab es kein Bedürfnis, darüber hinaus eine individuelle Erfahrung dieses Lebensraumes theologisch zu deuten. Das änderte sich mit der Epoche machenden Krise der Bibelautorität, die ihrerseits ein Kind des konfessionellen Zeitalters war.17 Schlägt man den Bogen von Spinozas berühmtem theologisch-politischem Traktat von 1670 zu dem Beginn einer „Biblischen Theologie“ bei Johann Philipp Gabler18 1787, so hat man eine Zeit vor sich, die sich ihrer selbstverständlichen theologischen Deutungsmuster der Natur gründlich beraubte. Auf diese Krise der Bibelautorität und die damit verbundene Krise der Naturwahrnehmung reagierte zuerst die in England entstehende Physikotheologie. Theologen wie Robert Boyle oder William Derham oder dann in Deutschland Johann Christoph Wolff oder der Dichter Barthold Hinrich Brockes trugen, wie wir sahen, zur raschen Verbreitung bei. Die Physikotheologie, so wurde bereits hinreichend deutlich, einte ihr neuer Blick auf die Natur. Angetrieben von den Erkenntnissen der aufkommenden Naturwissenschaften, wurde die genaue Kenntnis der Natur und ihrer Zusammenhänge 12 Zu dieser Auffassung trugen die die stark rezipierten Werke von William Whiston und Thomas Burnet besonders bei. 13 Man denke nur an die überragende Tradition des Wals im Jonabuch und an die biblische Leviathantradition (Jes 27,1). 14 Vgl. Kopp, Mythos, 3. 15 Vgl. Corbin, Meereslust, 52 ff. 16 Ein Widerschein dieser Haltung zeigt sich besonders in den Gemälden Jacobs van Ruisdael. 17 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 384 ff. 18 Vgl. Smend, Begründung, 345 ff.

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Der Blick aufs Meer

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zur Möglichkeit, in der wohlgeordneten Natur den Beweis für die Ordnungen der Schöpfung und ihres Schöpfers zu erkennen. Die Natur wurde bekanntlich so zu einem neuen „Buch“ der Offenbarung, das neben das Buch der Bibel trat und so die unterhöhlte Autorität der Schrift stabilisieren half. In dem in der Folgezeit dieser Naturraum zum Schauplatz für eine sinnlich fassbare Schöpfungstheologie wird, wandelt sich auch der Blick auf das Meer selbst. Dieses erscheint nun nicht länger als bedrohliches Erbe einer zurückgedrängten Sintflut, sondern wird zum staunenswerten „Sammelbecken göttlicher Wunder“19, das in seiner schieren Größe aber auch der Vielfalt seiner Lebewesen Anlass zu immer neuen Entdeckungen gibt. Die Folge ist ein breites Spektrum neuer Erfahrungen. Besonders Adel und wohlhabenes Bürgertum begeben sich an die Meeresküsten, um die Natur mit neuen Augen zu sehen. Der Physikotheologie gelingt es tatsächlich für einige Jahrzehnte, zwischen naturkundlichem Interesse und Frömmigkeitsgestus zu vermitteln. Jedes Tier, jede pflanzliche Gestalt oder Gesteinsstruktur gibt einen weiteren Hinweis auf die wunderbare Ordnung von Gottes Schöpfung. Wer es sich leisten kann, schärft den eigenen Blick vor Ort, seine meereskundlichen Entdeckungen werden zum neuen Gottesdienst – bzw. verändern bestehende Gottesdienstformen, wie Corbin anhand der Morgengottesdienste gezeigt hat.20 Noch einmal zurück zu Addison: Sein Blick aufs Meer hat etwas eigenartig Ambivalentes. Die Erfahrung einer übermächtigen Natur in Form des Meeres ist für ihn „köstliches Grauen“. Genau damit wird er nun zum Vorläufer einer Mitte des 18. Jahrhunderts rasch um sich greifenden Erfahrung des Erhabenen. An antiken Vorbildern geschult, unterschied etwa Edmund Burke zwei ästhetische Qualitäten als Reflex sinnlicher Eigenschaften. Das Schöne, welches klein, zart, rein und hell ist, und das Erhabene, das entsprechend groß, mächtig, dunkel und schroff ist. Bei Burke sind es insbesondere die Größe und Gewalt des Meeres, die zunächst Schrecken und Erstaunen („astonishment“) auslösen.21 Erst durch die Einsicht, dass eine Gefahr für das eigene Leben nicht unmitttelbar gegeben ist, wird der Schrecken zum Gefühl des Erhabenen. Die Suche nach diesem „köstlichen Grauen“ treibt schon bald unzählige Künstler in die Berge und ans Meer, um genau diesen Gefühlsumschwung immer aufs Neue zu fixieren. Das Gefühl des Erhabenen, heute wohl eher im Horizont technischer Phänomene festzumachen22, erhält dann durch Kant seine prägende Form. Die Verschiebung, die hier stattfindet, ist für die weitere Geschichte der Naturwahrnehmung zentral. Kant überwindet den Sensualismus von Burke und läßt das Erhabene erst im Subjekt selbst entstehen. Die Natur und mit ihm auch der 19 20 21 22

Corbin, Meereslust, 41. Ebd., 43. Burke, Enquiry, 116. Vgl. Bartels, Technisch-Erhabene, 295 – 318.

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Einleitung

Blick aufs Meer werden zum Schauplatz und Resonanzraum von Ideen. Typisch für Kants Theorie des Erhabenen ist ebenfalls die Ambivalenz, mit der das menschliche Vermögen besonderen Naturphänomenen begegnet.23 Das Gefühl, das diese Konfrontation im empfindenden Subjekt hervorruft, ist eine „negative Lust“24, ein Gefühl des Erhabenen als Anziehung und Abstoßung. Die wahrgenommene Natur, so Kant, führt durch seine ordnungssprengende Größe das Subjekt in einen Zustand der Schwäche und der Angst. Dann aber entsteht eine gegengelagerte Lust, weil das Subjekt die übermächtige Natur an den reinen Ideen der Vernunft misst und damit dessen gleichzeitige Beschränkung begreift.25 Beides zusammen, Lust und Unlust, Chaos der überwältigenden Natur und Ordnung der reinen Ideen, machen das Gefühl des Erhabenen aus – oder auch „die Bezwingung der Leidenschaften durch Grundsätze“26. Der Kern von Kants Theorie des Erhabenen hat damit auch unmittelbaren Einfluss auf den Blick aufs Meer. Im Zeitalter der großen Entdeckungen und einer ins Bewußtsein tretenden Größe noch unbekannter Ozeane sublimert dieser das Gefühl menschlicher Begrenztheit und macht die übermächtige Natur zum Widerpart des Subjekts auf Augenhöhe.27 Wo reale Ängste den reinen Ideen weichen, wird das Meer zum Lustobjekt des Sehens. Zugleich, ebenfalls kaum zu unterschätzen, verlagert sich der Fokus endgültig vom Lob des Schöpfers und Urhebers großer Natur auf die Natur selbst.28 Die Naturbetrachtung emanzipiert sich – die Natur wird um ihrer selbst willen interessant. Parallel zu dieser Geschichte der Meereserkundung und doch mit dieser eng verbunden, verläuft die reale, sinnliche und oftmals auch kommerzielle Eroberung der Meeresküste durch den beginnenden Tourismus. Anfangs integrieren die Reisenden der „Grand Tour“ die theologisch aufgeladene Betrachtung des Meeressaumes auf ihren Reisen.29 Dann aber wird das Meerbad, der Spaziergang am Ufer, die einsame Betrachtung des Wellenspiels zunehmend eine sich selbst genügende Massenvergnügung. Die ersten Seebäder, wie etwa im englischen Brighton, entstehen und kultivieren eine Mischung aus Casinounterhaltung und Körperkräftigung. 1793 fordert Lichtenberg nach seinen Erfahrungen in England auch für Deutschland ein erstes Seebad. Auch 23 Solche übermächtigenden Naturphänomene sind für Kant „kühne, überhängende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurücklassenden Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl.“ (Kant, Kritik, B 104). 24 Ebd., B 76. 25 Vgl. ebd., B 85. 26 Berressem, Erhabene, 125. 27 Vgl. Böhme/Böhme, Vernunft, 215 ff. 28 Vgl. H. Böhme, Steinerne, 160 ff. 29 Vgl. Corbin, Meereslust, 168.

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Der Blick aufs Meer

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wenn im Mittelpunkt seiner Bestrebungen der gesundheitliche Aspekt steht, klingen wiederum auch bekannte Meeresmotive an: „Was aber außer der Heilkraft jenen Bädern einen so großen Vorzug vor den inländischen gibt, ist der unbeschreibliche Reiz, den ein Aufenthalt am Gestade des Weltmeers in den Sommermonaten, zumal für den Mittelländer hat. Der Anblick der Meereswogen, ihr Leuchten und das Rollen ihres Donners […]; die großen Phänomene der Ebbe und Flut, deren Beobachtung immer beschäftiget ohne zu ermüden […]; und der Gedanke, dieses sind die Gewässer, denen unsre bewohnte Erdkruste ihre Form zu danken hat, nunmehr von der Vorsehung in ihre Grenzen zurückgerufen, – alles dies, sage ich, wirkt auf den gefühlvollen Menschen mit einer Macht, mit der sich nichts in der Natur vergleichen läßt, als etwa der Anblick des gestirnten Himmels in einer heiteren Winternacht. Man muß kommen und sehen und hören.“30

Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis sich der Gang zum Meer auch in Deutschland fest etablieren konnte. Noch war der Spaziergang am Ufer, das Studium von Ebbe und Flut oder das Baden im Meer ein fremdartiges Vergnügen, das Wenigen vorbehalten war. Entgegen harmloser Zerstreuung geriet die Erfahrung des Erhabenen angesichts der Weite des Meeres bald in eine Krise. Parallel zu diesem Totaleindruck und Spiegel menschlicher Urerfahrungen wuchs zugleich, angestoßen durch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften das Interesse an einem genauen Studium des Meeres und seiner Küsten. Spiegelbild dieser neuen Entwicklung ist die Romantik. Sie beschränkt sich nicht darauf, den Diskurs über das Erhabene weiterzuführen, in dem sie die Meeresküste zum „priviligierten Ort der Selbstentdeckung“31 macht. Daneben ist ihre allfällige Suche nach dem Ganzen und Heilen – auch mit dem Blick aufs Meer – ein zeittypischer Reflex auf die Erfahrungen zerbrochener Einheiten in Religion und Staat. Die Romantiker (man denke an Turner, Byron oder in Deutschland Caspar David Friedrich) entdecken den Himmel und Horizont, der das Meer zum Sinnbild des Unendlichen werden läßt und so zum Inbegriff sowohl von Freiheit als auch zugleich von Heimatlosigkeit wird. Der romantische Blick aufs Meer steht damit geistesgeschichtlich an einem Endpunkt. Das letzte Mal wird hier der ernstzunehmende Versuch einer synthetisierenden Totalschau des Meeres versucht.32 In der Folge werden sich zwei Blicke nebeneinander her entwickeln und sich immer weiter von einander entfernen. Der sinnstiftende Blick des affizierten Subjekts einerseits und der nüchtern zergliedernde Blick des sinnlich-kategorial wahrnehmenden Subjekts andererseits.33 30 Lichtenberg, Deutschland, 95 f. 31 Corbin, Meereslust, 214. 32 In seinen Ansichten der Natur (1808) hat der Naturforscher und Philosoph Alexander von Humboldt dieses „Projekt der Romantik“ auf seine gültige Formel gebracht, indem er versuchte, der Landschaftskunst die Aufgabe zuzuweisen, die Einzelerkenntnisse der Naturwissenschaften ästhetisch wieder zusammenzuführen, vgl. Böhme, Wissenschaft, 17 ff. 33 Mit als erster hat wohl Johann Georg Hamann die Folgen dieses doppelten Blicks erkannt und

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Einleitung

Der moderne, gegenwärtige Blick aufs Meer speist sich also aus vielen Quellen. Eine entscheidende Bedeutung für seine millionenfache Realisierung kommt dabei natürlich dem Tourismus zu. Der Blick aufs Meer ist heute gerade in Deutschland ein touristischer Blick. Während sich die Kunst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Projekt einer realistischen Meeresdarstellung verschreibt, man denke an die Meeresbilder Gustave Courbets, auf die noch einzugehen sein wird, knüpft die touristische Massenbewegung zunächst noch an die Vorbilder der Romantik an. Die Verdichtung der Arbeit und die damit entstehende fast innere Notwendigkeit der Erholung, die wachsende Mobilität und die soziale Infrastruktur der Erholungsorte führen zu einer paradoxen Erfahrung. Obwohl sich die Natur immer weniger als realer Sehnsuchtsort anbietet, wird die touristisch genutzte Landschaft gerade deshalb immer stärker auch zum symbolisch verdichteten Raum. Mit dem Aufkommen des Massentourismus wird diese Symbolisierungsleistung zum gesellschaftlich genormten und industriell verwerteten „Symbolkonsum“34 von Sehenswürdigkeiten. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Lenkung des Blicks leisten auch die Reiseführer, die in den 1830er Jahren in Deutschland aufkommen.35 Im Hinblick auf den Blick am Strand hat John Urry für die Gegenwart zwei touristische Blicke unterschieden, den „romantic gaze“ und den „collective gaze“.36 Verbindet sich mit ersterem „solitude, privacy and a personal, semispiritual relationsship with the object of the gaze“37, steht letzterer für die Aufwertung eines Reiseziels durch seine massenhafte Frequentierung. Der Strandurlaub, als erfolreicher Ferientypus der Prototyp für den Blick aufs Meer, verdankt wohl seinen Erfolg gerade der Verbindung beider Blicke, des romantischen und des geselligen.38 Der gelenkte und nach Symbolisierung ausgreifende Blick aufs Meer

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theologisch als Verhängnis gewertet. Dazu immer noch lesenswert ist seine Schrift Aestetica in nuce (1762), vgl. dazu Einleitung 4.2. Vgl. zu dieser Formulierung Gyr, Touristenverhalten, 41 ff. Bahnbrechend für die Entwicklung der Gattung der massenkompatiblen Reiseführerliteratur wird der Baedecker-Reiseführer. Seit 1832 (vgl. Hinrichsen, Baedecker-Katalog, 12 f) boten die einzelnen Führer nicht nur Informationen über die entsprechenden Rieseziele an, sondern strukturierten bereits früh den Blick der Reisenden durch die Vergabe von Sternchen für Sehenswürdigkeiten. Das späte 19. Jahrhundert wird so zu einer Epoche der gesellschaftlich gewollten Blicklenkung. So vermerkt z. B. der Baedecker Die Schweiz von 1905 über die Zugfahrt von Bern nach Lausanne eingangs „Links sitzen“ (ebd., 253), um dann den Höhepunkt der Reise so zu schildern: „Die Bahn biegt rechts um in den 493 m l. Cornallaz-Tunnel; beim Austritt öffnet sich plötzlich eine überraschende **Aussicht über den größten Teil des Genfer Sees und die ihn umgebenden Berge […] Nun zwischen Weinbergen und durch einen 400 m l. Tunnel (im Hochsommer scheint die untergehende Sonne ganz hindurch) zur […] Stat(ion) Grandvaux“ (ebd.). Urry, Gaze, 43 ff. Ebd., 150. Zu dieser Einschätzung gelangt Pagenstecher, Tourismus, 469, der sich ebenfalls auf Urry bezieht.

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Methodenfragen

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spiegelt daher bis heute immer auch untergründig die Wahrnehmungs- und Visualisierungsgeschichte des Meeresblicks wieder. Er bedient sich je nach Standort und Habitus des Betrachters einzelner Traditionen des Blicks. Und so schließen die weiteren Überlegungen hier an: Der Blick aufs Meer geschieht auch gegenwärtig nicht ohne untergründig weiter wirkende Bezugnahmen, Muster und Verweise. Der Blick aufs Meer decodiert sich wesentlich immer auch im Spektrum seiner Traditionen. Das ist nun in der empirischen Analyse heutiger Meeresblicke einzuholen. 1.2 Methodenfragen So sehr die Wahrnehmung des Meeres in Form gelenkter Blicke erkennbar wird, weil jeder Blick aus dem Arsenal der Tradition schöpft, so sehr hat es die empirische Arbeit mit Meeresblicken zu tun, für die eben nicht nur die Aufarbeitung historischer Formationen zu leisten ist, sondern der je typische, individuelle Eigensinn des Quellenmaterials. Bei der Suche nach Zeugnissen religiös decodierbarer Dokumente der Lebenswelt fällt nun, wenig überraschend, die überragende Bedeutung von Bildern sofort ins Auge. Diese sind das empirische Material, mit dem der Blick aufs Meer aus praktisch-theologischer Perspektive analytisch Gestalt gewinnen kann. Bekanntlich bestimmen Bilder unsere gegenwärtige Alltagswelt und sind untrennbar mit allen Formen sozialer Lebensäußerung verbunden. Diese grundlegende Visualisierungstendenz unserer Kultur, von der Kamara im Smartphone über die Verbreitung des Markenkultes und seiner Logos bis hin zur Ausprägung einer neuen Medienelite, die ihre Macht allein der ständigen Sichtbarkeit ihrer Akteure verdankt, prägt gegenwärtiges Leben. Dabei ist das Spektrum dieser Bilder ebenso groß wie ihre Verwendung – man denke an den Einsatz von Bildern in der Werbung, an das private Erinnerungsfoto oder die Nutzung von Bildern zur schnellen, Sprachgrenzen überschreitenden Information. Die Unübersichtlichkeit dieser Medien scheint vielen so beunruhigend wie die Inszenierungsabsichten ihrer Produzenten. Zudem gilt das Visuelle als Antipode einer Kultur des Textes und beschwört die Sorge um den Untergang der „Gutenbergzeitalters“39 herauf. Diese Sorge ist, wenig verwunderlich, gerade im Raum des Protestantismus besonders verbreitet, weil gerade das Bild jenseits theologischer Texturen ein Leben im Untergrund einer neuen natürlichen Theologie spielt. Das Bild visualisiert, hat ans Licht zu bringen, was im Text bereits vorhanden ist. Will es mehr, sieht es sich und seine Produzenten noch immer eines massiven Legitimationsdrucks ausgesetzt. Zugleich entdecken die Kirchen aber auch, dass dieser Kultur des Sehens und Sichtbarmachens große schöpferische Kräfte innewohnen, die einem umfassenden Austausch und Dialog neue Perspekti39 McLuhan, Gutenberggalaxis, 194.

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Einleitung

ven eröffnen.40 Insgesamt gilt es nun zwischen dem Bild als Abbild des Heiligen (und seiner ikonoklastischen Rückseite) einerseits und dem Bild als Medium menschlicher Selbstkundgabe andererseits zu unterscheiden. Im Folgenden geht es fast ausschließlich um den zuletzt benannten Bildgebrauch. Das Bild als sichtbare und alltägliche Selbstmitteilung im Zeitalter des iconic turn41 wird zunehmend auch zum Thema der Praktischen Theologie, wie mehrere Beiträge zum Verhältnis zwischen Kino und Religionskultur beweisen42, aber auch die Diskussion um die Kasualfotografie.43 Zentrales Anliegen der Praktischen Theologie sollte es daher in Zukunft sein, auch in Bildern eine ernstzunehmende Weise religiöser Selbst- und Weltäußerung zu erkennen – und im Hinblick auf eine phänomenologisch orientierte Methodik diese Visualisierungen des Glaubens auch wertzuschätzen. Die zweifellos größte Herausforderung stellt dabei das Medium Foto dar. Längst ist es sowohl im öffentlichen Raum wie in der privaten Verwendung zum Leitmedium unserer Bildkultur geworden. Dabei ist natürlich zwischen öffentlicher und privater Fotografie zu unterscheiden. Auch wenn Werbeoder Kunstfotografie durch ihre massenmediale Verbreitung auf Plakatwänden, in Zeitschriften oder Prospekten die Bildwahrnehmung auf diese Form der Fotografie besonders stark lenkt und zu dem Eindruck einer Übervisualisierung unseres Alltags geführt hat, so bilden doch zweifellos die privaten, nicht professionellen Fotos den größten Anreiz für eine Würdigung und Analyse im Hinblick auf religiös angelegte Selbstexplikationen. Das hat zwei Gründe: Zum einen besteht bei privater Fotografie die Chance, in ihnen ein Dokument zu erhalten, das dauerhafter Ausdruck gegenwärtiger, oftmals sehr flüchtiger Lebenswelt ist. Die empirische Analyse gegenwärtiger Phänomene gelebter Religion setzt hierin also bei Dokumenten der Alltagswelt an. Zum anderen bieten solche Fotos aber nun gerade die Gelegenheit, den stummen und verborgenen Formen religiöser Selbstexplikation näher zu kommen und diese näher zu beschreiben. Für die hier zu interessierende Fotogattung hat sich der Begriff der Knipserfotografie etabliert. Eingeführt von Timm Starl, von dem die erste grundlegende Studie über private Fotografie stammt44, werden damit jene Fotos neu gewürdigt, die üblicherweise nur über ihre technische, formale oder gestalterische Defizienz definiert werden. Gerade diese Wertung ist aber für den 40 Vgl. als beispielgebend können die Kunstgottesdienste im Sprengel-Mueum in Hannover gelten, die auf Hans Werner Danowski zurückgehen, vgl. Dannowski/Helmke/Sand, Ausblicke, 150 ff. 41 Vgl. zum Begriff Boehm, Bild, 13. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von einem „pictorial turn“ gesprochen. Vgl. Majetschak, Turn, 44 ff. Eine kritische Würdigung des Bildparadigmas aus religionswissenschaftlicher Sicht bietet noch immer Gladigow, Lesbarkeit, 107ff, weiterhin Seip, Sprache, 36ff, sowie die theologisch-ästhetische Online-Zeitschrift, die von Andreas Mertin verantwortet wird (www.theomag.de). 42 Vgl. Kirsner/Wermke, Religion u. Herrmann, Sinnmaschine. 43 Vgl. Grevel/Kretzschmar, Kasualfotografie, 280 ff. 44 Starl, Knipser.

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Methodenfragen

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vorliegenden Analysezusammenhang völlig uninteressant. Es geht also nicht um eine inhaltliche oder künstlerische Bewertung dieser Bilder, sondern allein um ihr Potenzial als Quelle der Lebenswelt und der ihr eingeschriebenen Wertmaßstäbe und Haltungen.45 Knipserbilder sind nämlich Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, ohne diese in der Regel näher zu problematisieren oder zu hinterfragen.46 Daraus erwächst nun auch das wohl wichtigste Merkmal privater Fotografie, ihr breit aufgefächertes Spektrum sozialer Funktionen, das sich nicht allein in der Erinnerungsarbeit des Fotoakts widerspiegelt.47 Vielmehr lässt der private Rahmen dieser Fotografie ebenfalls eine sozialintegrative Funktion dieser Fotos vermuten. Pierre Bourdieus These, private Fotografie diene vorrangig der Stabilisierung von Familienverhältnissen48, sollte zwar in dieser Ausschließlichkeit kritisch hinterfragt werden49, aber der Kommunikation mit den Partnern des sozialen Nahfeldes kommt in diesen Bildern tatsächlich eine wesentliche Bedeutung zu, wie der Bildsoziologe Stefan Guschker überzeugend gezeigt hat.50 Nun zu einem weiteren wichtigen Merkmal privater Fotografie: Betrachtet man diese Dokumente der Lebenswelt näher, dann fällt zunächst auf, wie auffällig Motivähnlichkeiten und Gestaltungsmuster entsprechender Fotos sind. Offensichtlich gibt es klare Korrespondenzen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und ihren individuellen Aneignungsprozessen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass eine qualitative Analyse dieser Dokumente Rückschlüsse für verbreitete und gesellschaftlich relevante Muster der Naturwahrnehmung eröffnet. Dazu bedarf es aber zunächst der generellen Klärung, wie die Beziehung zwischen Alltagsäußerungen, wie sie in solchen Fotos sichtbar werden können, und verallgemeinerungsfähigen Aussagen über eine religiöse Perspektive von Naturwahrnehmung überhaupt beschaffen ist. Es geht also um einen Praxis-Theorie-Transfer oder genauer um das Verstehen 45 Der Quellenwert solcher Fotos wird zunehmend auch in der Volkskunde erkannt, vgl. Hägele, Folklore, 277 ff. 46 Vgl. ebd., 12 f. 47 Dieses Erinnern ist zwangsläufig subjektiv geprägt und auf die eigene Biografie ausgerichtet. Umstritten ist in der Fototheorie, wie die Auswahl von Motiven im Fotoakt und der Umgang mit fertigen Bildern (man denke daran, welche Bilder archiviert werden) zu analysieren ist. Positiv wird man von einer Inszenierung des eigenen, privaten Lebens sprechen können, wie etwa Timm Starl (vgl. Starl, Knipser, 24 f); kritisch dagegen, wie Susan Sontag, dass die Erinnerungsleistung des Fotos durch den Akt des Fotografierens und der damit verbundenen Selbstdistanzierung des Fotografierenden von seiner ihn real umgebenden Umwelt nachhaltig unterlaufen wird (vgl. dies., Fotografie, 15). Diese Korrespondenz von Erinnerungsarbeit und Erinnerungsverlust begegnet man besonders in der privaten Kasualfotografie. Der Fotograf wird als Gottesdienstbesucher und Fotografierender zum „fremden Gast“, vgl. Grevel/Kretzschmar, Kasualfotografie, 289 f. 48 Vgl. Bourdieu, Kunst, 31 ff. 49 Starl, Knipser, 144 ff. 50 Vgl. Stefan Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, Frankfurt a. M. 2002, 119 ff.

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eines Zusammenhangs zwischen Praxis und den gesellschaftlichen Strukturen, die diese Praxis mittelbar hervorrufen. Als entsprechender Theoriehintergrund bietet sich die Habitus-Lehre des Soziologen Pierre Bourdieu an. Dieser versteht den Habitus als „ein System verinnerlichter Muster […], die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen.“51 Diese Dispositionen laufen in der Regel als „vorreflexive Orientierungen“52 weitgehend unbewusst ab. Der Habitus wirkt dabei freilich nicht als „Willenslenker“, sondern stellt eher den gemeinsamen Vorrat an Mustern dar, mit deren Hilfe sich immer neue Handlungspraktiken erschließen. Der Habitus vermittelt also als reproduktives System zwischen Struktur und Praxis, in diesem Fall also zwischen Fotopraxis und allgemeiner (religiöser) Naturerfahrung.53 Übertragen auf die private Fotografie bedeutet dies nun die „unbewusste Übernahme von Vorbildern, praktische Nachahmung und damit Reproduktion der Dispositionen“54 bezogen auf Motivwahl, sozialen Blick, Intention und Präsentation der jeweiligen Fotopraxis. Damit soll die Individualität der subjektiven Fotopraxis nicht bestritten werden, ebenso wenig die bewusst kommunizierte soziale Ordnungsfunktion privater Fotografie. Aber in der Korrespondenz zwischen Foto und Wahrnehmungsmuster ist der intentionale Kern einer gesellschaftlichen Visualisierungstendenz gegeben, die zur eigentlichen praktisch-theologischen Deutung drängt. Um nun Naturerfahrungen und die damit verwobene empirisch nachweisbare gegenwärtige Bildpraxis auf ihre religiöse Grundierung zu untersuchen und damit praktisch-theologische Deutungsarbeit am Blick aufs Meer zu verrichten, bedarf es zunächst einer historischen Tiefenschärfe, ganz im Sinne einer phänomenologisch-hermeneutischen Zugangsweise. Den Blick aufs Meer in seinen kulturgeschichtlichen Wandlungen darzustellen, verschafft der nachfolgend qualitativen Analyse die notwendige Profilierung und ermöglicht es, den prägenden Bildpraktiken und ihren ikonografischen Dispositionen auf die Spur zu kommen. Will man die bisherigen methodologischen Überlegungen zusammenfassen, so ergibt sich also folgendes Bild: Der Blick aufs Meer ist nur dann in seiner ganzen Komplexität zu beschreiben, wenn man sich der Mühe unter51 Bourdieu, Soziologie, 143. Bourdieu zeigt dies an der Auseinandersetzung um die Frage nach dem Einfluss scholastischer Theologie auf gothische Architektur. Den Einfluss geprägter Muster und Strukturen auf die individuelle Ausgestaltung künstlerischer Arbeit bezeichnet er als Habitus (ebd., 132). Bourdieu entwickelte seine Habituslehre dann im Rahmen einer gesellschaftlichen Strukturanalyse und bezog den Habitus zunächst auf die Theorie ökonomischen Handelns in einer Gesellschaft. Dabei hat sein Verständnis einer konkurrierenden Praxis unterschiedlicher Handlungs- und Geschmacksmuster auch Kritik hervorgerufen (vgl. Honneth, Welt, 147ff). Dieser Aspekt ist freilich für die hier anzustellenden Überlegungen sekundär. 52 Willems, Rahmen, 91. 53 Vgl. Müller, Kultur, 163. 54 Guschker, Bilderwelt, 406.

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zieht, in die Schule der Wahrnehmungsgeschichte zu gehen. Im Zuge einer Würdigung der gegenwärtig anzutreffenden Kultur des visuellen Ausdrucksverlangens trifft man auf einen maßgeblichen Zusammenhang zwischen Bildtradition, Bildproduktion und sozialem Habitus der Bild- vornehmlich Fotoproduzenten. So sind nun jeweils drei Schritte der weiteren Analyse zu beschreiten: die Bildproduktion und ihre Bedingungen, der Bildinhalt und seine Traditionen und die Bildrezeption in seinen religiösen Implikationen. Dabei ist es maßgeblich, nun auch dem einzelnen Bild methodisch angemessen zu begegnen.55 Das überzeugendste Modell einer dementsprechenden Bildhermeneutik hat Mitte der 1990er Jahre Stefan Müller-Doohm56 vorgelegt. Es lehnt sich an die ikonografische Interpretation des Kunsthistorikers Erwin Panofsky an und erweitert es um die semiologische Lesart des französischen Strukturalismus. Es ist in der Folgezeit breit rezipiert worden. Entscheidend ist: Müller-Doohm unterscheidet drei unterschiedliche Untersuchungssebenen eines Bildmediums, nämlich den Phänomensinn, den Bedeutungssinn und den Dokumentsinn. Folgerichtig besteht seine Methode aus drei aufeinander aufbauenden Analyseschritten der Bildinterpretation: A. Vorikonografische/Ikonische Analyse: „Der Phänomensinn“ Zunächst werden die einzelnen Bildelemente wahrgenommen und genau beschrieben. Dazu gehören Objekt- und Personenbeschreibungen, eine Zusammenstellung der dargestellten Objekte, die Beschreibung szenischer Relationen und das Zusammenspiel der sichtbaren Personen und Objekte, ihrer Interaktionen und Beziehungen. Die Beschreibung der bildräumlichen Komponenten setzt mit dem Bildformat ein und stellt die allgemeinperspektivischen Bedingungen wie das Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund, Fluchtlinien, Perspektiven, Zentralität, geometrische Figuren und Flächen in den Mittelpunkt. Eine für die weitere Analyse besonders wichtige Komponente ist der zu beobachtende Blickwinkel („point of view“) abgebildeter Personen, besonders aber der des Bildproduzenten auf das dargestellte Geschehen insgesamt. Zu den wichtigen bildästhetischen Elementen gehört dann die Beschreibung von Licht-Schattenverhältnissen, Stilmomenten, Stilgegen55 Die folgende Methodenskizze fasst zusammen, was ich bereits unter dem Stichwort der „Qualitativen Bildanalyse“ ausführlich vorgestellt und in die theologische Diskussion eingebracht habe, vgl. Grevel, Bildanalyse, 279 ff. Eine methodisch kontrollierte qualitative Bildanalyse ist in der gegenwärtigen Praktischen Theologie noch immer faktisch ein Desiderat. Ein wichtiger Grund dafür ist zunächst, dass eine solche Bildanalyse in der Regel auch echtes theologisches Interesse an Dokumenten der Alltagswelt aufbringt, also dort, wo es etwa um die genauere Beschreibung und Deutung gelebter Religion geht. Dass diese Wertschätzung bislang noch nicht in der Praktischen Theologie Verbreitung gefunden hat, liegt wohl gegenwärtig weniger an einer typisch protestantischen Bilderdistanz, sondern vielmehr an den disparaten Einzeldiskursen dieser Disziplin. 56 Müller-Doohm, Verstehen, 438ff, u. ders., Bildinterpretation, 57 ff.

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sätzen, aber auch die Beschreibung der Farbgebung bzw. von Farbnuancen. Schließlich geht es um die Auflistung der im Phänomensinn zu erschließenden fotografischen Praktiken und der „Materialität“ des Bildes insgesamt, also besonders die Druckart und den Druckträger. Weiterhin spielt das Bild-TextVerhältnis eine wichtige Rolle. Zu unterscheiden sind hier die Beschreibung einzelner Textelemente von dem eigentlichen Verhältnis von Bild und Text insgesamt. Der Charakter dieser einzelnen Beschreibungsschritte ist in sich von zirkulärer Art. Dabei bleibt entscheidend, dass die sinnliche Wahrnehmung einzelner Bildaspekte immer in besonderer Weise an den Bildtotalitätseindruck rückgebunden ist. Erst wenn die einzelnen Beobachtungen und das Ganze des Bildes zu einem kongruenten „Stimmungseindruck“ gelangen, ist der Phänomensinn des Bildes angemessen erfasst. B. Rekonstruktionsanalyse /Ikonografische Analyse: „Der Bedeutungssinn“ Die sich anschließende Bedeutungsanalyse rekonstruiert den eigentlichen Bildinhalt, untersucht die „Mechanismen der Wirklichkeitstransformation“, die die Voraussetzungen für die notwendige Veränderung eines ursprünglichen Seherlebnisses bilden. Sie kann als das Ergründen der „Um-zu-Motive“ begriffen werden. Ziel dieses Methodenschrittes ist die Kongruenz zwischen formalen und inhaltlichen Bildaussagen. Entsprechend der Wahrnehmung des Phänomensinns analysiert sie die einzelnen Bildelemente und entsprechenden Konnotationen, also die die Grundbedeutung begleitenden Vorstellungen, etwa zu den dargestellten Personen und Objekten. Fasst man diesen Analyseschritt zusammen, so wird deutlich, dass in der Regel eine nur synchrone Lesart dem komplexen ikongrafischen Charakter von Bildern nicht gerecht wird. Vielmehr ist eine diachrone, mit historischen Tiefenschnitten verfahrende Bedeutungsanalyse, insbesondere bei Dokumenten gelebter Religion, wesentlich angemessener. C. Kultursoziologische Interpretation /Ikonologische Analyse: „Dokumentsinn“ Der Dokumentsinn eines Bildes erschließt sich, indem zunächst die Produktionsbedingungen des Bildproduzenten erhellt werden. Gerade wenn es sich um Fotos handelt, sind die Produktionsbedingungen für die Gesamtanalyse von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Darüber hinaus sind die Bilder aber nun auch Chiffren gesellschaftlicher Sachverhalte. Bourdieu spricht, wie bereits ausgeführt, in diesem Zusammenhang von einer Kongruenz zwischen Bildstilen und einem kulturellen Habitus. Entsprechende Bildmuster („Person vor Urlaubskulisse“) sind einerseits Ausdruck einer geschichtlich sich verändernden Struktur gelebter Religion. Andererseits erscheinen solche Dokumente auch als Teil eines öffentlich geführten Diskurses, der modernetypisch, eine religiöse Dimension immer miterkennen lässt. In der vorliegenden Analyse wird nun ausgehend von einer privaten Fo-

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tosammlung, die mittlerweile auch im Internet öffentlich gemacht wird, sowohl ein qualitativer wie quantitativer Zugriff versucht, dabei werden Einzeldiskurse, wenn möglich, zusammengefasst.

2. Erkundung und Analyse des Phänomens 2.1 Die Quelle Seit dem Jahr 2002 ruft die Firma „Foto-Brenner-Versand“ in der hauseigenen „Brenner Foto Zeitung“ zu der Aktion „Ihr Lieblingsfoto in einem Buch“ auf. In einer in jeder Ausgabe gleichen Seite der Zeitung heißt es dazu: „Haben Sie nicht immer schon davon geträumt, Ihr Lieblingsfoto in einem Bildband zu veröffentlichen? Jetzt ist es soweit! […] Der Bildband geht in Druck, sobald die ersten 20.000 Fotos eingegangen sind.“57 Dazu werden die Leserinnen und Leser aufgefordert, jeweils ein Bild über e-mail an die Internetseite http:// www.mein-lieblingsfoto.de zu senden. Mit der Veröffentlichung des Fotos tritt der Fotograf bzw. die Fotografin sämtliche Bildrechte an Foto-Brenner ab. Die Seite ist direkt mit der „Einkaufsseite“ von Foto-Brenner verlinkt.58 Bei der Einzelbildanalyse wird auf den jeweiligen link auf der Internetseite verwiesen, dort befinden sich die Bilder gegenwärtig noch immer.59 Insgesamt befanden sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung60 auf der Homepage 3420 Fotos, angeordnet auf 137 Einzelseiten. Beim Laden der Seite werden nach dem Zufallsprinzip Fotos ausgewählt. Dazu lassen sich alle vorhandenen Bilder alphabetisch nach dem Nachnamen des Fotografierenden ordnen oder nach der Postleitzahl des angegebenen Wohnorts. Jeweils etwa 25 Fotos befinden sich auf einer Seite in mehreren Spalten und Zeilen angeordnet. Den Fotos ist als Bildunterschrift die Information über Vornamen (abgekürzt), Nachnamen und Wohnort mit PLZ beigefügt. Bei vereinzelten ausländischen Fotografierenden wird dieser noch eine Länderkennung (A, CH etc.) vorangestellt. Jedes Foto ist zunächst nur als kleines (ca. 5kb großes) Vorschaubild sichtbar. Klickt man dieses an, öffnet sich das jeweilige Bild in Originalgröße.61 57 Vgl. Brenner Foto Zeitung, 2009, 9. Mit dieser „Zeitung“ geht Brenner einen in der Branche ungewöhnlichen Weg. Das gesamte Sortiment mit ca. 10000 Einzelartikeln wird viermal im Jahr in Form einer zeitschriftenähnlichen Publikation an entsprechenden Verkaufsstellen und Kiosken verkauft und weist somit einen hohen Bekanntheitsgrad auf. 58 Diese lautet: http://www.alles-foto.de. 59 Leider war es nicht möglich, Foto-Brenner dazu zu bewegen, die Abdruckrechte der einzelnen Fotos für diese Arbeit zu gewähren. 60 Der genaue Zeitpunkt war der 19.–21. 05. 2004. 61 Die Größe des Bildes bedingt auch die Dateigröße des „thumbnails“, typisch sind Größen zwischen 50 und 130 kb.

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2.1.1 Auswahl Aus der Gesamtmenge aller Fotos (n = 3420) wurden insgesamt 135 Bilder ausgewählt, die dem übergeordneten Motivstrang „Der Blick aufs Meer“ zugeordnet werden konnten. Kriterien für die Auswahl war ein eindeutiger Bezug zum „Bilderkanon“ des Meeres. Abgegrenzt wurde dieser wie folgt: Nicht aufgenommen wurden Bilder, die zwar einen Strand zeigten, aber ohne logische oder visuelle Beziehung zum Meer bzw. Meeresufer. Ebenfalls nicht aufgenommen wurden Bilder, die Seen, Fjorde, Buchten oder andere unspezifische Wassergebilde zeigten. Nicht berücksichtigt wurden reine Strandszenen, die mit dem Meer in enger Verbindung stehen, dieses aber nicht visualisieren. Schließlich fielen Tiermotive heraus, die die Tiere ganz aus ihrem ursprünglichen maritimen Lebensraum herausgelöst hatten. Bewusst einbezogen wurden solche Bilder, die den Blick aufs Meer vom Meer aus selbst vornahmen (z. B. von einem Schiff aus). 2.1.2 Soziodemografischer Hintergrund Die Firma Foto Brenner wendet sich offensichtlich an zwei Zielgruppen: die engagierten Hobbyfotografen, die bestimmte Artikel oft nur hier erwerben können, und Menschen, die das bequeme Versandgeschäft der (in ländlichen Regionen oftmals weiten) Reise zu einem Fotogeschäft vorziehen. Diese beiden Gruppen von Konsumenten lassen sich auch in den eingesandten Fotos selbst wieder finden. Sowohl in Motivwahl als auch technischer Gestaltung der Bilder gibt es Unterschiede. Neben den sog. „Knipserbildern“ stehen die Fotos engagierter Fotografen. Während in der ersten Gruppe die Visualisierung privaten Lebens im Mittelpunkt steht (Kinder, Familie, Haustiere, Urlaub, Freizeit und Auto) und in der Regel „Schnappschusscharakter“ besitzt, fallen daneben Fotos auf, die sich klassischen Fotosujets wie Stillleben, Makro- und Aktfotografie verschrieben haben. Sie weisen typische Merkmale verbreiteter „Kunstmerkmale“ auf, wie sie in Form von „Profitipps“ in der Zeitung selbst von Ausgabe zu Ausgabe wiederholt werden. Dennoch ist für die weitere Analyse eine völlige Trennung der beiden Bildproduzenten wenig sinnvoll, weil die Übergänge zwischen reiner Knipserfotografie und engagierter Hobbyfotografie fließend sind. Sinnvoller ist es, die Fotopraxis, soweit sie einordbar ist, den jeweiligen sozialen Funktionen des Bildes nachzuordnen. Die Aktion hat marketingtechnisch sicher die Aufgabe, die Kundenbindung und Kundenzufriedenheit zwischen Konsument und Unternehmen zu stärken. Diese Zufriedenheit und damit auch weitere Kaufbereitschaft wird, durchaus branchentypisch, dadurch gepflegt, dass die beworbenen und verkauften Artikel ja einem Zweck dienen, nämlich Fotos zu produzieren. Das Ausstellen von Fotos, deren entscheidendes Kriterium nicht eine objektive

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fotoästhetische Qualität ist, sondern die Zugehörigkeit zur „Brenner-Familie“, zeigt dies besonders deutlich. Die Aktion „Mein Lieblingsbild“ spielt bewusst mit den Bedürfnissen und Fähigkeiten der angesprochenen Zielgruppen. Das Ziel einer Veröffentlichung mit 20000 Fotos setzt ja zugleich eine ebenso große Zahl an veröffentlichungswilligen Kunden voraus. Der technische Vorgang des Einstellens im Internet ist einfach und elementar gehalten, dürfte aber dennoch für manche Fotografen ein Hindernis sein. Daneben aber profiliert sich durch die massenhafte Verbreitung der digitalen Fotografie eine immer stärkere Computisierung der Fotografie. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass die Aktion vielen Kunden von Brenner die einmalige Möglichkeit eröffnet, eigene Fotos einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren, sind doch die verbreiteten Fotowettbewerbe der anderen marktgängigen Fotozeitschriften für viele eine zu hohe Hürde. Der besondere Quellenwert der Fotos für die Selbstexplikation von Naturerfahrungen und ihrer religiösen Dimensionen zeigt sich im Vergleich zu ambitionierten Fotowettbewerben, die von anderen Fotozeitschriften regelmäßig veranstaltet werden. Gerade unter formalen Gesichtspunkten gibt es hier ja deutliche Parallelen: Zu einem bestimmten Thema werden Leserinnen und Leser aufgefordert, ein Bild auszuwählen und an die Zeitschrift zu senden. Freilich will der Fotowettbewerb nicht allein Kundenbindung erzielen, sondern seine Leser auch „erziehen“. So sind den prämierten Bildern oft redaktionelle Bewertungen beigegeben, die den nichtplatzierten Fotografen ein klares Signal für künftige Visualisierungsstrukturen geben wollen.62 Die vorliegende Quelle reflektiert diesen Ausleseprozess nur in unbewusster Weise. Der bewusste Verzicht auf eine redaktionelle Bewertung auch in Form einer im Internet üblichen Kommentierung der Bilder durch andere User63, verbunden mit der Aufforderung nach der Zusendung des „Lieblingsfotos“ verschafft den Fotos einen Quellenstatus für den Habitus seiner Produzenten. Damit treffen die Fotoproduzenten nun eine auch für ihr eigenes Leben und dessen Deutung herausragende Auswahl: die Veröffentlichung des Lieblingsbildes hilft also, die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens zu manifestieren. Dazu gehört natürlich auch der besondere Öffentlichkeitsstatus der Internetseite, der die Fotos im Sinne einer fiktiven öffentlichen Wahrnehmung aufwertet und zugleich die Inszenierungsstrategie des eigenen Lebens und seiner im Bild abgebildeten Sinnstruktur manifestiert.64 62 Vgl. Sigrist, Deep, 58 ff. Zu der Aufnahme, die den ersten Platz im Wettbewerb erzielte, heißt es dort: „Das berühmte Tüpfelchen auf dem „i“ der sorgfältig gestalteten Aufnahme ist die Sonne, die sicher den Weg durch den Nebel bahnt und einen kleinen Kontrapunkt zum Farbtupfer des blauen Bootes setzt“; zum Zweitplatzierten wird festgestellt: „Hier hat sich das Warten auf die blaue Stunde, die für die attraktive Lichtstimmung sorgt, gelohnt. Auch der Standort ist klug gewählt und beschert dem Foto eine imposante Tiefenwirkung“ (ebd., 59). 63 Vgl. etwa http://www.foto-community.de. 64 Die Veröffentlichung privater Fotos im Internet folgt einer neuen Erfahrung von Öffentlichkeit.

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2.1.3 Motivgruppen Nun zu den signifikantesten Ergebnissen der Datenerhebung: Die formalen Bildaspekte belegen die Vermutung über den Zusammenhang zwischen Bild und unbewusst ausgeführten Leitmustern der Wahrnehmung: So sind 83 % aller Bilder querformatig und entsprechend nur 17 % hochformatig, was den üblichen Sehgewohnheiten und der Benutzungspraxis normaler Kameras entspricht.65 Ebenfalls typisch ist die Dominanz von Farbfotografien (96,3 %). Gerade dieser Wert belegt noch einmal, dass den Fotos ein besonderer Erinnerungs- und Realitätswert zuerkannt wird. Ganz offensichtlich sind beinahe alle ausgewählten Fotos in Urlaubssituationen entstanden. Bis auf wenige Aufnahmen ist also das Meer als Wirtschafts- und Verkehrsraum, als Ursache für Sturmschäden oder Beleg für Umweltschäden konsequent ausgeblendet. Das gilt auch für Hinweise auf Massentourismus oder soziale Konflikte in Urlaubsländern. Das Bildmaterial (n = 137) lässt sich nun wie folgt ordnen: In einem ersten Schritt werden allen Fotos ein Haupt- und bis zu zwei Nebenmerkmale zugeordnet, um sogenannte Familienähnlichkeiten innerhalb des Bildmaterials näher zu beschreiben.66 Das methodische Vorgehen folgt, wie oben beschrieben, der struktural-hermeneutischen Bildanalyse von Stefan MüllerDoohm. Nach einer ersten Untersuchung auf die vertretenen thematischen Bildmerkmale ergaben sich schließlich fünfzehn verschiedene Motivgruppen, auf die sich das gesamte Material verteilen lässt. Es sind dies: Motivgruppe Sonnenuntergang (SU) Auf 28,5 % aller Fotos findet sich diese Motivgruppe als Haupt- oder Nebenmerkmal. Auf jedem fünften Bild des Materials ist diese sogar Hauptmerkmal. Auffällig sind die klar erkennbaren Bildachsen: Eine Horizontale trennt in beinahe allen Fällen Strand, Wasser und Himmel. Auf einer zumeist bildmittigen Vertikalen befinden sich Sonne und Lichtreflexionen des Wassers. Der Betrachterstandort ist also in den meisten Fällen frontal vor Meer und Sonne. Vereinzelt befinden sich innerhalb des Lichthofs der Sonne Personen oder Gegenstände (z. B. Liebespaar, Pferde mit Reitern, Fischerboot).

Diese ist eng mit den sozialen Ansprüchen an eine „Aufmerksamkeitsökonomie“ verbunden, die die Grenzen des Intimen nachhaltig verschiebt, vgl. Thomas, Strukturwandel. 65 Vgl. Flusser, Philosophie, 20 ff. 66 So kann etwa ein Bild mittels seiner Formensprache (Belichtung, Schärfe, Kontrast, Größe) ganz eindeutig „Gegenstände am Strand“ in den Mittelpunkt rücken und daneben im Hintergrund des Bildes als Nebenmerkmal besondere Lichteffekte zeigen.

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Motivgruppe Lichteffekte (SSp) Im Vergleich zu der ersten Motivgruppe sind hier Lichtstimmungen zusammengefasst, die eine breitete Varianz aufweisen: Sonnenlicht hinter Wolken, Licht, das sich, über die ganze Bildfläche verteilt, auf dem Wasser spiegelt, bzw. Licht deutlich vor Sonnenuntergang und Mondlicht. Motivgruppe Strandleben (SL) Typisch für die Motivgruppe Strandleben sind Personen, die am Übergang zwischen Strand und Wasser in sozialer Interaktion stehen, so z. B. spielende Kinder, ohne dass es sich im eigentlichen Sinn um Personenfotos handelt. Fast ausschließlich kommt diese Motivgruppe als Hauptmerkmal vor. Motivgruppe Tiere (T) Typisch sind die Tierarten, die sich am Strand ohnehin aufhalten, wie Möwen. Daneben gibt das Motiv eigenes (Haus-) Tier am Meer und Fische, die sich im Meer bewegen und an der Wasseroberfläche sichtbar werden. Bis auf eine Ausnahme war überraschenderweise der Bereich Unterwasserfotografie in dieser Motivgruppe nicht repräsentiert. Motivgruppe Explizite religiöse Symbolik (ERS) Bei den hier zusammengefassten Bildern findet sich ein direkter Bezug zum christlichen Symbolkanon. Das ist bei insgesamt drei Bildern der Fall. Es sind ein Kruzifix vor Meer und Steinen im Gegenlicht, ebenfalls ein Kreuz, einmontiert in einen Sonnenuntergang und schließlich ein Friedhof mit Grabkreuzen und im Hintergrund das Meer. Motivgruppe Maritime Details Hierbei richtet sich der Blick aufs Meer auf die kleinen Gegenstände, die zwischen Strand und Meer zu finden sind, wie etwa Strandgut, Poller und einzelne Steine. Der Vergrößerung dieser Gegenstände im Rahmen der Fotopraxis entsprechend, findet sich diese Motivgruppe nur als Hauptmerkmal. Motivgruppe Steinformationen/Steilküsten (SK) Auch hier gerät der Grenzbereich zwischen Strand und Meer in den Blick. Der Betrachterstandpunkt ist in der Regel oberhalb der Küstenlinie positioniert oder in großer Entfernung so gewählt, dass das Gestein gleichsam im Profil erscheint. Bildsprachlich liegt der Schwerpunkt auf einer Herausarbeitung der Größe und dem „stofflichen Gegensatz“ zwischen Gesteinsoberfläche und Wasser. Lediglich ein Bild füllt dieses Bildmotiv noch zusätzlich mit einem markanten Bildthema auf, einem mittig platzierten Leuchtturm. Motivgruppe Personen (P) Neben der Motivgruppe Sonnenuntergang ist das explizite Personenbild am zweithäufigsten vertreten. Haupt- und Nebenmerkmal finden sich bei insge-

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Erkundung und Analyse des Phänomens

samt 26,3 % aller untersuchten Fotos. Zu unterscheiden sind Bilder, die überhaupt eine oder mehrere Personen teilweise oder ganz zeigen. Zu unterscheiden sind Ganzkörperbilder von Porträts (mit dem Meer als reinem Hintergrund), Gruppen, Paar und Einzelpersonkonstellationen. Die abgebildeten Personen werden von vorne fotografiert, im Profil oder von hinten. Motivgruppe Touristische Strandmöblierung (TSM) Kennzeichnend für diese Motivgruppe ist die enge Verbindung aus Meeresblick und touristischer Nutzung des Strandes. Der Blick aus dem Hotelfenster oder vom Liegeplatz ist typischerweise künstlich, da er ganz auf die Abbildung von Menschen verzichtet. Der Strand ist im Zuge seiner touristischen Nutzung für die Urlauber „hergerichtet“, z. B. mit Strandkörben oder Sonnenschirmen. Motivgruppe Strandmöblierung mit diverser Nutzung (SM) Davon zu unterscheiden sind solche Bilder, die eine „Strandmöblierung“ als Haupt- oder Nebenmerkmal aufweisen, die sich einer touristischen Nutzung nicht eindeutig zurechnen lässt, wie etwa ein stillgelegtes Boot, das zum einen der Fischerei gedient haben mag, zugleich aber als Auflockerung und bewusster Blickfang der Urlauber dienen kann. Motivgruppe Schiffe/Boote auf See (S) Dieser Blick aufs Meer erfasst vor allem ruhende Verkehrsmittel oder solche, die vom Strand aus sichtbar sind. Nur wenige Bilder weisen einen Betrachterstandpunkt auf dem Verkehrsmittel selbst aus. Die Boote bzw. Schiffe sind, soweit nicht als touristische Strandmöblierung genutzt, funktionstüchtig. Auffallend ist, dass die Motivgruppe Boot/Schiff als Nebenmerkmal doppelt so häufig vertreten ist als als Hauptmerkmal. Motivgruppe Wassersport (WS) Bedenkt man, wie beliebt moderne Wassersportarten wie Surfen oder Kiting mittlerweile bei der Gestaltung des Urlaubs am Meer sind, überrascht es, wie gering diese Bildthematik bei dem untersuchten Material insgesamt vertreten ist. Motivgruppe Baum/Bäume am Strand (B) Bäume stehen in einem natürlichen vegetativen Gegensatz zur Flora des Strandes. Als formsprachliches Mittel eingesetzt, unterstreichen Bäume zwei Bildintentionen: Sie dienen der Blickbegrenzung und heben die Grenzziehung zwischen Land und Wasser hervor. Motivgruppe Sand/Sandstrand (Sd) Obgleich fast alle untersuchten Bilder auf einen Betrachterstandort am Strand schließen lassen, sind Aufnahmen mit Hauptmerkmal Strand selbst praktisch nicht vertreten. Bestenfalls kann ein leerer, in der Totalen aufgenommener

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Die Quelle

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Strand das Gefühl von Weite auslösen, faktisch gilt er wohl vielen Fotografierenden als „Bühne“ für andere Motive wie Personen oder Strandaktivitäten. Motivgruppe Meer und Gebäude (MA) Gebäude werden dort mit dem Grundmotiv Meer verbunden, wenn sie den Erwartungen einer exotischen „Möblierung“ entsprechen und sich weit genug von der realen Urlaubsarchitektur entfernen.

2.1.4 Erste Schlussfolgerungen Diese ersten Strukturierungen eröffnen nun weitere Hinweise auf die Korrespondenzen von Fotopraxis, sozialer Funktion und Naturerfahrung. Auffällig ist der eindeutige Urlaubsbezug fast aller untersuchten Bilder. Der Blick aufs Meer ist ein fremder, ein per se nicht alltäglicher Blick. Diese Vermutung wird auch durch jene Bilder unterstrichen, deren Fotografen durch ihren Heimatort auf eine größere Vertrautheit mit Küste und Meer schließen lassen. Wer mit dem Meer lebt, dessen Blick scheint nüchterner und realistischer zu sein. Das Meer wird dabei einerseits in seiner wenig pittoresken, aber eben alltäglichen Bedrohung wahrgenommen.67 Andererseits wird der Blick aufs Meer in diesen Fällen auch ein Blick ins Normale. Das Meer wird so zum unspektakulären Bildhintergrund. Diese unübersehbare Verbindung aus touristischer Fotopraxis und Motivwahl spiegelt sich natürlich nun auch im Ausblenden bestimmter Wirklichkeitsdimensionen wider. Eine Phänomenologie der Naturerfahrung führt damit fast zwangsläufig zu einer Hermeneutik des unterdrückten Blicks. Mittels der bisher durchgeführten Untersuchung kann man diesen „Wunsch nach heiler Welt“ nun näher beschreiben. 2.1.4.1 Grenzerfahrungen Der Fotoakt hält im Blick aufs Meer auch fest, dass sich das Wahrgenommene vom Alltäglichen unterscheidet. Der Blick vom Strand zum Meer ist eben deshalb immer auch ein Blick auf die Grenze. Es gibt vereinzelte Fotos, die diese Grenze eindrucksvoll unterlaufen. Überwiegend aber finden sich solche Motive, die diese Grenze unterstreichen, wie dies die Motivgruppen Bäume und Steilküsten zeigen. Diese Grenze kann wie im Fall der Steilküste Reste einer Erfahrung des Erhabenen transportieren. Im Zeitalter einer technischen Beherrschbarkeit dieser Grenze durch satellitengestütze Navigation und einer touristischen Erschließung durch vollständige Begehbarkeit wirkt der Blick auf diese Felsen allerdings daneben immer wie ein wehmütiger Blick auf ein 67 Als Wohnort eines Bildes wird „28327 Bremerhaven“ genannt. Hier wird das Meer als Verkehrsraum der Seefahrt sichtbar. Ganz anders dagegen der Blick aus dem Flugzeug (Bild 90455 Nürnberg), das den Urlaubern einen gefahrlosen und weiten Blick aufs Meer verschafft.

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bedrohtes Stück Natur, wie z. B. den Kreidefelsen auf der Insel Rügen oder die „Lange Anna“ vor Helgoland. Dort, wo die Grenze keine reale Lebensgefahr mehr markiert, wächst die Lust der Grenzinszenierung. 2.1.4.2 Symbolische Verdichtung Die Fotos legen eine intensive emotionale Beziehung zwischen Fotografierenden und ihren Motiven nahe. Obgleich es sich bei dem untersuchten Material um private Fotografie mit einem hohen Anteil an Knipserbildern handelt, wird die Wirklichkeit nicht einfach abgebildet, so wie sie zu sein scheint. Stattdessen fällt auf, dass viele Bilder dem unbewussten Wunsch nach symbolischer Verdichtung der Urlaubserfahrung und des jeweiligen Naturraums Rechnung tragen. Am offensichtlichsten liegt diese Absicht bei den Bildern vor, die der Motivgruppe „explizite religiöse Symbolik“ zugeordnet werden konnten. Nun überrascht es wenig, dass diese offensichtliche Aufladung von Natur mit dem Symbol Kreuz nur ganz vereinzelt auftritt. Man kann eine bewusste religiöse Haltung dahinter vermuten oder den Wunsch, diese ikonografische Tradition zu zitieren. Zweifellos entscheidender ist die „stille Symbolisierung“, die ungleich häufiger auftritt. Untersucht man das vorhandene Bildmaterial auf die Motivgruppen hin, die umgekehrt besonders stark vertreten sind, so fällt etwa auf, dass Bilder, die einen Sonnenuntergang oder starke Sonneneindrücke zeigen, auf insgesamt 40 % aller untersuchten Meeresfotos zu erkennen sind und fast ausschließlich durch die Wahl bildsprachlicher Mittel wie Bildausschnitt, Kontrast oder Linienführung die symbolische Bedeutung von Licht ganz allgemein unterstreichen. 2.1.4.3 Der blinde Fleck Neben den Bereichen von Wirklichkeit, die ganz ausgeblendet werden, fallen die Motivgruppen auf, die erstaunlich wenig vertreten sind, so etwa die Motivgruppen Strandleben, Tiere und maritime Details. Der genaue Blick aufs Kleine rückt an den Rand. Fehlt die Kenntnis und Ruhe für die große Natur im Kleinen, im Strandläufer oder den anlandenden Tangen? Das geringe Interesse an den maritimen Details, so scheint es, ist die Kehrseite einer symbolischen Verdichtung des maritimen Raums.68

68 Das belegt ein Vergleich mit der Kunstfotografie des Meeres in den dreißiger Jahren des 20 Jahrhunderts. Fotografen wie Laszlo Moholy-Nagy oder Alfred Ehrhardt suchten in Steinen, Wellen, Sand und Sträuchern die Strukturen des Meeres und gelangten damit zu neuen Formen des Sehens, vgl. Klingbeil, Bilder, 197 ff.

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2.1.4.4 Blickwinkel Besonders aussagekräftig ist die Wahl des Beobachterstandorts, der Ort, von dem aus der Meeresblick seinen Gang durch die Kamera antritt. Die affektive, direkte Fotopraxis vieler Bilder spiegelt sich im gleichsam natürlichen Blickwinkel wieder. In die „Hocke“ geht man nur für Hunde und Kinder, typischer Reflex einer sozialen Nahbeziehung prinzipiell unterlegener Partner. Daneben wird der Strand zur Fotobühne. Von hier aus tritt das Meer dem Fotografierenden gegenüber, Personen, Gegenstände oder sonstige Attraktionen treten also zwischen Kamera und Meer. Neben diesen räumlich bestimmbaren Blickwinkel tritt noch ein unverhohlen sozialer. Der Reiz des Fremden mag im Urlaub manche Sehnsucht wecken und führt zum Blick auf das Exotische.69 Neben diesen Blick für das „Unnatürliche“ tritt zugleich aber auch die Suche nach der „Natürlichkeit“ der Natur, in der Regel das Resultat kunstvollen Arrangements seitens der Strandbäder und Reiseveranstalter.

2.2 Qualitative Bildanalysen: Meeresblicke auf Licht und Menschen Die gewonnenen Einsichten über fotopraktische Dispositionen können nun mit dem Ziel einer Analyse religiöser Sedimente fortgesetzt werden, die in die transponierten Naturerfahrungen eingewoben sind. Zu unterscheiden ist im Hinblick auf die nun folgende praktisch-theologische Deutungsarbeit zunächst die genaue Beschreibung und der ikonografische Vergleich des jeweiligen Bildmotivs und der damit verbundene soziale Gebrauch der Fotos. Daneben und gleichsam noch einmal jenseits dieser phänomenologisch-bildhermeneutischen Arbeit ist dann aber das Aufdecken erkennbarer religiöser Grundierungen der hier jeweils transportierten Naturerfahrung. Dieses Sediment des Religiösen ist natürlich unterschiedlich stark ausgeprägt, man denke an das Spektrum zwischen expliziter religiöser Symbolik und zwangloser, ganz dem Alltäglichen verhafteten Urlaubsfotografie. In den meisten Fällen bedarf es daher des Umwegs über die sozialen Gebrauchsweisen der Bilder, um diese Sedimente zu entschlüsseln. Aus den isolierten und zuvor näher beschriebenen fünfzehn Motivgruppen werden nun zwei ausgewählt und näher beschrieben. Die Gründe für ihre Auswahl liegen nach der bislang durchgeführten Analyse auf der Hand. Es sind solche Motivgruppen, die besonders häufig als „Lieblingsfoto“ innerhalb des untersuchten Materials auftauchen und daneben eine besonders aussagekräftige religiöse Dimension aufweisen. Es handelt sich um die Motivgruppen „Sonnenuntergang“ und „Personen“. 69 Vgl. Die Mischung aus sexueller Tabuüberschreitung und kolonisierendem Blick steht zu Recht unter Ideologieverdacht, vgl. Thurner, Grauenhaft, 27 ff.

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2.2.1 Sonnenuntergang Besonders auffällig ist in der Tat die Vielzahl der Sonnenuntergänge. Dieses Bildmotiv gilt geradezu als Idealbild der Urlaubsfotografie schlechthin.70 Die untersuchten Fotos weisen eine klaren und festen Mustern folgende Bildsprache auf, was Farbe, Motivwahl und Format angeht. Für die nun folgende genauere Analyse werden zwei Fotos ausgewählt, die eine Reihe solcher typischen Merkmale aufweisen und daneben aber besonders interessante zusätzliche Akzentsetzungen erkennen lassen, die für die Suche nach einem religiösen Sediment von Fotopraxis und Naturerfahrung Erfolg versprechen. 2.2.1.1 Bild „Sonnenuntergang mit Person“ Das Bild „K. Baldauf DE-09405 Zschopau“71 zeigt eine im Profil aufgenommene Person, die am Strand steht. Hinter ihr ist das Meer sichtbar. Über dem Meer hat die untergehende Sonne fast die Horizontlinie erreicht. Besonderes Merkmal des Bildes ist eine eigentümliche Bewegung der Person im Vordergrund des Bildes. Ihr ausgestreckter rechter Arm, im rechten Winkel zum Körper angewinkelt, erzeugt durch den Blickwinkel des Fotografierenden die „Illusion“, die Sonne werde durch die Hand der abgebildeten Person gehalten, wodurch die Bildtiefe nachhaltig verkürzt wird. Das Foto ist farbig und im Querformat aufgenommen. Auf der Internetseite findet sich die Bildunterschrift „K. Baldauf 09405 Zschopau“. Das Bild hat die Größe 640 x 480 und weist eine Datengröße von 56 kb auf. Das Bild wurde am 14. 10. 2003 auf der Internetseite eingestellt. Das Bild baut sich aus drei klar abgegrenzten und parallel verlaufenden Bildregistern auf. Das unterste Register, der Strand, ist in sich durch einen tangartigen Bewuchs noch einmal zweigeteilt und verläuft vom Betrachter resp. Fotografierenden her gesehen in einem leichten Bogen. Die sichtbare Person wird als Dreivierteldarstellung präsentiert, d. h., abwärts der Kniee endet das Bild. Der von einer gedachten Mittelachse aus Sonne und Betrachter abweichende Blickwinkel erklärt sich vermutlich aus dem Interesse, die Hand der Person „direkt unter“ der Sonne zu platzieren. Die Horizontlinie teilt das Bild in zwei gleich große Bildfelder. Unterhalb davon ist das bläulich schimmernde Wasser zu erkennen mit einem kaum vorhandenen Wellengang. Oberhalb des Horizonts ist der fast wolkenlose Himmel zu erkennen. Die (vertikale) Mittelachse des Bildes verläuft zwischen Sonne (links davon) und Person (rechts davon). Auf dieser Achse ist auf Horizonthöhe ein kaum erkennbares Segelboot mit heruntergenommener Takelage sichtbar. Das Licht 70 Schneider, Capri, 13 ff. 71 Vgl. http://www.mein-lieblingsfoto.de/dyn/bildgross.asp?lngNummer=0002814&name=Bald auf&vorname =K&plz=09405&wohnort=zschopau&land=DE&strPfadBild=frei/gross/.

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der untergehenden Sonne reflektiert auf der Oberfläche des Wassers und unterstreicht die Wirkung dieser Blickachse. Die hellste Bildfläche ist natürlicherweise die abgebildete Sonne. Ihre besondere Form mag ein Anlass für die Aufnahme insgesamt gewesen sein. Oberhalb des fast kreisrunden „Sonnenballs“ strahlt die Sonne in Form eines „Pilzhutdachs“, was der Sonne durch eine angestrahlte Wolke das Aussehen eines Pilzes verleiht. Der Himmel ist um die Sonne herum heller, das insgesamt fast rosafarbene Aussehen geht hier ins Gelbe. Dazu sind parallele Lichtstreifen zu sehen. Die im Profil aufgenommene Person steht in weitgehend gerader Körperhaltung, den rechten Arm ausgestreckt, den Kopf zur Sonne gewandt. Der untere Bildrand begrenzt die Darstellung auf Kniehöhe. Ob es sich bei der Person um ein Kind oder eine junge Frau resp. einen Jugendlichen handelt, ist schwer zu entscheiden. Die Kleidung besteht aus einem ärmellosen Stoffoberteil und einer kurzen, mit einem markanten hellen Streifen versehenen Hose. Dies legt eine Urlaubssituation sehr nahe. 2.2.1.2 Bild „Sonnenuntergang mit Reitern“ Auch dieses Bild72 weist zahlreiche Merkmale dieses Bildtypus auf. Das Licht der untergehenden Sonne wird auf der Wasseroberfläche reflektiert und bildet eine markante vertikale Blickachse als Mittelachse. Der Bildvordergrund wird von zwei Personen bestimmt, die auf einem dem Meer vorgelagerten Strandbereich auf Pferden reiten. Das Bild ist in Farbe aufgenommen und weist ein Hochformat auf. Seine Größe beträgt 640x926, die Dateigröße beträgt 105 kb. Als Bildunterschrift ist auf der Internetseite vermerkt: „R. Müller, 45529 Hattingen“, Datum der Veröffentlichung ist der 08. 01. 2004. Auch dieses Bild gliedert sich in klar voneinander abgegrenzte horizontal verlaufende Bildregister. Die Horizontlinie liegt im oberen Bilddrittel des Bildes. Den größten Raum nimmt ein mittleres Bildregister ein, vermutlich ein Wattbereich, aus dem sich bei Ebbe das Wasser zurückgezogen hat. Hierin sind die beiden Pferde mit Reitern im Profil zu sehen. Die Bewegungsrichtung erfolgt von links nach rechts. Die beiden Reitenden befinden sich links und rechts der Mittelachse. Innerhalb dieses Bildregisters ist der Boden nur leicht wellig. Die Reflexionen der Sonne bilden rund um die gedachte Mittelachse einen unterschiedlich stark ausgeprägten Lichthof. Die Lichtreflexionen enden am Übergang zum untersten Bildregister, also dem Strandbereich. Horizontal verlaufene Lichtlinien lassen auf leichten Wellengang schließen. Die Reflexion des Lichts ist hier weniger ausgeprägt. Das oberste Bildregister, jenseits der Horizontlinie, macht den Himmel sichtbar. Klar voneinander abgrenzbare Wolken sind nicht zu erkennen, die Sonne (hell und kreisrund) dominiert dieses Bildfeld und strahlt in Form eines umgekehrten Dreiecks 72 http://www.mein-lieblingsfoto.de/dyn/bildgross.asp?lngNummer=0003071&name=M%FCl ler&vorname=R& plz=45529&wohnort=Hattingen&land=DE&strPfadBild=frei/gross/.

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umliegende Wolken mit großer Intensität an. So wirken insgesamt die linke und rechte Bildhälfte wie spiegelentsprechend. Das Bild wird von drei Farben dominiert. Vom golden glänzenden Gelb der Sonne und ihrer Reflexionen, vom tiefen Rot des Himmels und des Watts und schließlich von dunklen Bildbereichen, die dunkelrot bis schwarz sind. Wie beim ersten Bild bestimmt die Wahl des Aufnahmestandorts ganz wesentlich die Gestaltung des Motivs. Während zuvor typische Formaspekte der Sonnenuntergangsfotografie wie Zentrierung der Mittelachse und Symmetrie zugunsten einer gewollten „optischen Täuschung“ durch die Verringerung der Bildtiefe aufgehoben wurden, ist hier erst die weite Entfernung (bzw. zusätzlich der Einsatz eines kurzbrennweitigen Objektivs) Voraussetzung für eine Symmetrie aus Sonne, Meer und Reitern. 2.2.1.3 Bedeutungssinn Beide Aufnahmen belegen den hohen Grad an Disposition, der vielen der Sonnenuntergangsbildern innewohnt. Die Visualisierungsstrategien dieses Bildsujets sind Teil einer tradierten Bildkultur, belegen aber die zumindest unbewusste Tendenz einer verstärkenden Inszenierung durch die genaue Wahl des Aufnahmestandorts. Innerhalb des Zeitablaufs eines Sonnenuntergangs am Meer scheint dieser Ausschnitt besonders reizvoll: Die Sonne ist als ganze gut erkennbar, zugleich lässt sie hier ein Maximum an Lichtreflexion auf dem Wasser erkennen. Dem entspricht der klare, wie geschichtete Bildaufbau mit einer trennenden Horizontlinie. Die Farben sind intensiv und verwandeln einen Naturraum für kurze Zeit nachhaltig. Gelb- und Rottöne dominieren. Auffallend ist nun die Tendenz einer zusätzlichen symbolischen Verdichtung dieses Motivs. Nicht allein die Sonne wird durch formsprachliche Mittel symbolisch aufgeladen, wie etwa die Betonung der Mittelachse, sondern in diese Komposition hinein werden andere Bildelemente integriert, die ebenfalls durch die Fotopraxis zu einer symbolischen Verdichtung von Wirklichkeit führen. Dieses Bild erreicht dies durch den scheinbaren Kontakt zwischen Person und Sonne, durch die geöffnete Hand, in der die Sonne zu ruhen scheint. Dem entsprechen die beiden reitenden Personen im genauer analysierten Sonnenuntergangsbild. Was bedeuten diese symbolischen Verdichtungen und welchen Mustern kulturspezifischer Visualisierung folgen sie? Wo zeigen sich alte Prägemuster, wo sind diese Bilder Ausdruck einer zeittypischen Form der Naturerfahrung? Und was sagen diese Bilder über religiöse Sedimente heutiger Naturerfahrungen und des Blicks auf das Meer aus? – Um dies beantworten zu können, wird der ikonografischen Analyse die spezifische Aufgabe des kontrastierenden Vergleichs zum untersuchten Bildmaterial zugewiesen. Weniger die zum Klischee erstarrte Ikonografie gegenwärtiger Sonnenuntergangsbilder in Werbung und Massenmedien ist hier geboten, sondern folgenreiche Kunst, deren Entstehungsbedingungen den Epochenbruch des Meeresblicks zu Be-

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ginn des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Gerade in der Romantik sollte die Kunst ja noch einmal sichern und zusammenführen, was zuvor bereits auseinandergefallen war : den affektiven, sinnsuchenden Blick einerseits und den technisch-divergierenden Blick andererseits. Die These lautet, dass die heutige private Fotopraxis diese Grunderfahrung der Moderne mit der Romantik teilt, aus dieser aber verständlicherweise andere Schlüsse zieht. Als Referenzpunkt bietet sich die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich geradezu an. Nicht nur innerhalb akademischer Kunstbetrachtung genießt sein Werk bis heute überragende Bedeutung. Seine bekanntesten Werke sind selbst zu viel rezipierten Mustern der Wahrnehmung von Natur geworden.73 Besonders signifikante Entsprechungen gibt es zu den Bildern Mondaufgang am Meer74 und Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar).75 Die berühmteste Darstellung eines symbolisch verdichtenden Sonnenuntergangs in Friedrichs Werk ist sicherlich das Bild Frau vor der untergehenden Sonne76, das wie so oft bei Friedrich von einer Rückenfigur dominiert wird.77 Obgleich es keinen Sonnenuntergang am Meer sichtbar macht, sondern vor einer für Friedrich so typischen Berglandschaft, versammelt es sein Verständnis dieses Bildmotivs in umfassender Weise. Das Bild zeigt eine Frau in Rückenansicht vor einer von ihr verdeckten, untergehenden Sonne. Sonne und Rückenfigur liegen exakt auf der Mittelachse des Bildes. Die Frau steht am Ende eines Weges, um sie herum im Bildvordergrund der von großen einzelnen Steinen gesäumte Weg, im Bildmittelgrund eine grasbewachsene Ebene mit vereinzelten Bäumen und schließlich schemenhaft im Bildhintergrund angedeutete Hügel. Das Bild gliedert sich durch die Horizontlinie in zwei Bildregister, Erde und Himmel. Während im unteren Bildregister Braun- und Grüntöne dominieren, erstrahlt der Himmel in einem intensiven Orangeton. Das Besondere des Bildes ist sicherlich die Darstellung der Person als 73 So bietet die Hansestadt Greifswald, Geburtsort von Friedrich und Schauplatz vieler seiner Bilder, einen Bildführer für Touristen an, der nicht allein diese Bilder mit Orten in und um Greifswald in Verbindung bringt, sondern auch genau lokalisiert, welchen Standort und Blickwinkel man einnehmen muss, um den „Blick“ von Friedrich heute zu wiederholen. 74 Entstanden um 1822, Berlin, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. 75 Entstanden 1807/1808, Dresden, Gemäldegalerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. 76 Essen, Museum Folkwang. Öl auf Leinwand, 22 x 30 cm (um 1818). In der Friedrich-Forschung ist seit langem umstritten, ob es sich auf dem Bild um einen Sonnenuntergang handelt, wie etwa von Börsch-Supan glaubhaft gemacht (vgl. Jähnig, Gemälde, Nr. 249) oder doch um einen Sonnenaufgang (entsprechend wird dann der Titel Frau in der Morgensonne gewählt). Für die weiteren Überlegungen kann dieser Streit aber vernachlässigt werden. 77 Ob es sich bei der bilddominierenden Person um Friedrichs Frau Caroline Friedrich handelt, ist umstritten. Dies hat Auswirkungen auf die Datierung des Bildes. Es wird entweder auf die Zeit um 1808 eingegrenzt oder nach 1818, dem Jahr der Eheschließung, vgl. Hofman, Kunst, 222. Die Kleidung der Frau galt schon zu dieser Zeit als altmodisch und lässt vermuten, dass Friedrichs Konservatismus hier eine bewusst antifranzösische Haltung zum Ausdruck bringt.

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Fig. 2: Caspar David Friedrich, Frau vor der untergehenden Sonne

Mittelpunkt des Bildes. Bereits vor Friedrich hatten Rückenfiguren die Funktion einer Blicklenkung und Tiefenwirkung.78 Vor einer Landschaft lenken sie bei Friedrich aber nun nicht allein den Blick auf die dargestellte Natur, sondern visualisieren die Kommunikation zwischen Betrachter und Natur. Dafür ist gerade das Bild Frau vor der untergehenden Sonne ein sichtbares Beispiel. Was wir auf dem Bild sehen, ist nicht der Sonnenuntergang, sondern die Wirkung, die dieser auf die Frau selbst hat. Friedrich zeigt Naturerfahrung als responsiven Akt. Das wird besonders an der Körperhaltung der Frau deutlich. Ihre vom Körper abgewinkelten Arme und Hände scheinen sich hin zu der Sonne zu öffnen und lassen viele Interpreten von einer regelrechten „Orantengeste“ sprechen.79 Die Nähe zu einer panentheistischen sakramentalen Verbindung von Mensch und Natur ist offensichtlich und findet ihre Entsprechung auch in August Wilhelm Schlegels Vorstellung des Lebens als beständigem Abendmahl.80 Zwei Merkmale des Bildes sind für den Vergleich mit dem empirischen Fotomaterial nun besonders wichtig: Friedrichs Bild ist beinahe „übertrieben

78 Vgl. Jensen, Leben, 182 ff. 79 Vgl. Sumowski, Studien, 23. Anders aber als in der Zeichnung „Erschaffung Adams“ des calvinistisch geprägten Jan Luyken von 1712 wirkt hier die ganze Körperhaltung weniger beschwörend oder segnend als vielmehr empfangend und passiv, vgl. Syamken, Jahrhundert, 443. 80 Vgl. Sumowski, Studien, 23.

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symbolistisch“81 und eröffnet durch die Bildmotive Sonne, Frau, Körperhaltung, Weg, Berge und Steine fast undurchschaubare und unabschließbare Möglichkeiten der Symbolrezeption. Hierin ist durchaus eine Korrespondenz zu dem Kulturmuster der symbolischen Verdichtung von Wirklichkeit in touristischer Naturerfahrung zu sehen. Daneben zeigt Friedrichs pathetische Vereinigungsgeste von Mensch und Natur ja durchaus nicht die damalige erfahrene Wirklichkeit, sondern will eine bestimmte, religiös aufgeladene Naturerfahrung in seinem Bild besonders plausibel machen. Das hängt sicher mit Friedrichs Naturfrömmigkeit und seinem Selbstverständnis als Maler zusammen.82 Wie immer man dieses auch im einzelnen interpretieren mag, fest steht, dass Friedrich in der Natur ein reales Gleichnis für göttliches Wirken zu erkennen meinte und diese göttliche Nähe erfahrbar machen will.83 Die Korrespondenz zwischen Sonne und Mensch ist auch in den untersuchten Fotos unverändert stark affektiv aufgeladen. Die Lenkung des Blicks folgt aber nun anderen Zielen. Keine direkte Kommunikation mit einer als Widerschein des Göttlichen angesehenen Natur wird angeregt und ausgemalt, sondern vielmehr ein distanziertes Zitieren einer Bildtradition, affektiv aufgeladen, aber ironisch gebrochen durch ein typisch modernes Interesse an dem richtigen Zeitpunkt und Ort einer solchen Erfahrung.84 Was bei Friedrich also ganz der Totalschau eines transzendierenden Subjekts gilt, ist in den Fotos einer Gleichzeitigkeit von distanziert inszenatorischem und affektgeladenem Blick gewichen. Gerade diese Gleichzeitigkeit – mit dem Blick des Lichtkundigen und zugleich symbolisierend – macht das Spezifikum dieser Naturerfahrung nun aus. Was bewegt die Fotografierenden aber in so großer Zahl, gerade dieses Motiv so zu gestalten und es als „Mein Lieblingsfoto“ zu apostrophieren? Zunächst ist damit natürlich der habituelle Charakter dieser Fotopraxis ausgesprochen. Leitbilder der Massenmedien, eine jahrzehntelange Verbreitung dieser Motivgruppe durch Urlaubsbilder und natürlich Urlaubspostkarten machen diese Fotopraxis geradezu selbstverständlich. Es lassen sich aber noch weitere Gründe als Abbildungsintentionen benennen: Der Sonnenuntergang gilt als natürlicher Höhepunkt der Dämmerungsfotografie. Hier ist der ambitionierte Fotograf besonders gefordert. 81 82 83 84

Wolf, Friedrich, 51. Vgl. Koerner, Landschaft, 30 f. Vgl. Busch, Ästhetik, 159 ff. Diese grundlegende Differenz zwischen Friedrichs Gemälden und dem modernen Blick aufs Meer macht ein Vergleich mit den Meeresbildern des Impressionisten Claude Montes noch einmal deutlicher. Ebenfalls längst Ikone der Moderne, belegt gerade Monets Serie von Sonnenuntergangsbildern beim berühmten Porte d’Aval nahe des normannischen Seebades Etretat, wie viel sich bereits hier gegenüber Friedrich im Hinblick auf die sinnliche Erfahrung von Natur geändert hatte. Die Bilder verdanken sich dem äußeren Anlass touristischer Attraktion und spiegeln bereits die Verbindung aus Tourismus und Natur wieder, vgl. Wildenstein, Monet, 304. Monet hatte dabei ein besonders Gespür für den richtigen Zeitpunkt und schuf mit dieser Reihe von Sonnenuntergängen ein Zeugnis des seriellen Charakters dieser Naturwahrnehmung, vgl. Sagner-Düchting, Spätwerk, 46 f).

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Zugleich ist dieser Ausschnitt des Tages und seiner wechselnden Lichtverhältnisse besonders abwechslungsreich und damit attraktiv für immer erneute Variationen – das zeigt auch die Geschichte der Fotokunst insgesamt.85 Darüber hinaus vermittelt der Sonnenuntergang aber auch eine schwer fassliche Stimmung, die eine regelrechte „Sehsucht“ hervorruft. Auf- und Untergang der Sonne stehen nun auch ganz selbstverständlich für unzählige Prozesse des Werdens und Vergehens. Diese universelle Symbolik lässt sich religionsphänomenologisch näher beschreiben. So besteht bereits in prähistorischer Zeit ein klarer Zusammenhang zwischen primitiven Bestattungsriten und dem Lauf der Sonne.86 Zahlreiche Sonnenkulte sind in der altorientalischen Kultur anzutreffen. Hier fällt die Verknüpfung von Natureindruck und privatem Frömmigkeitsgestus auf. Besonders wichtig war der Sonnenrhythmus für die ägyptische Kultur. In ihr ist – besonders für ihre Frühzeit gilt dies – die Vorstellung prägend, dass sich im Auf- und Niedergang der Sonne ein tägliches „göttliches Drama“ zwischen dem Reich des Re, dem Sonnengott und dem Gott des Jenseits, Osiris, vollzieht.87 Zwar ist nach alttestamentlicher Vorstellung die Sonne ein Geschöpf Gottes, aber ihre Bedeutung für die grundlegenden Rhythmen des Lebens zeigt besonders Ps 104 eindrucksvoll.88 Der Übergang von Tag und Nacht findet daneben noch in unserer Kultur seine vielfache Entsprechung im Lebenslauf der Menschen. Wenn dies im gegenwärtigen Erfahrungshorizont nicht mehr als religiös kommuniziert wird, so dürfte doch die „affektive Betroffenheit“89 – wie in der Einzelbildanalyse besonders deutlich sichtbar – weiterhin religiös aufgeladen sein.90 Erhellend aber ist dabei nun der soziale Gebrauch dieses Motivs durch das Fotografieren selbst: Mit der Motivgruppe „Sonnenuntergang“ verbindet sich nicht nur eine allgemeine Repräsentanz der Natur und ihrer im Augenblick des Sonnenuntergangs verdichteten Zeiterfahrung. Daneben drückt sich im Akt des Fotografierens vermutlich auch die Symbolisierung eines Wechsels grundlegender Lebensrhythmen, wie etwa Arbeit und Freizeit aus. Dabei wird der Sonnenuntergang zum im Urlaub aufgenommenen Erinnerungsbild für geglücktes Leben im Horizont bedrohender Alltäglichkeit. Was nun für die Urlaubsfotografie insgesamt gilt, vollzieht sich im Akt des 85 Vgl. Sachsse, Dämmerlicht, 3 ff. 86 Vgl. Paus, Sonne, 721 ff. 87 Vgl. Koch, Geschichte, 168. Typisch ist die Vorstellung, die Sonne vollziehe ihre Bahn in einer Sonnenbarke, die Nachts den Jenseitsbereich („Dat“) durchzieht. Im Zeitalter Echnatons wird die Nacht zum Ausdruck der Gottesferne, vgl. ebd., 341. 88 Vgl. Ps 104, 19.22 f: Die Sonne weiß ihren Niedergang […] Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. So geht dann der Mensch an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend. Vgl. auch hierzu Keel, Welt, 189 ff. 89 Schneider, Capri, 14. 90 Freilich wird man sagen können, dass dieser affektive Gestus unterschiedlich stark ausgeprägt ist. So zeigt die Geste des „Sonnenhaltens“ ja weniger eine tiefgreifende Überhebung moderner Weltbeherrschung als vielmehr ein ironisches Zitat traditioneller Motivgestaltung.

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Fotografierens eines Sonnenuntergangs dann in besonderer Weise. Der Fotoakt wird zum Ritual.91 Die Rhythmisierung des Lebens braucht einen Zielpunkt, eine konkrete Handlung, die zugleich erinnerbar ist. Dieses Bedürfnis wird besonders dann nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass die touristisch motivierte Reise insgesamt auf das Stillen archaischer Glückshoffnungen zielt. So sieht die Tourismustheorie durchaus strukturelle Ähnlichkeiten zur alten Pilgerreise, deren Sinn ja nicht nur in der Unterbrechung des Alltags bestand, sondern auch in der Erlösung des Reisenden, dem Erwerb von stofflichen Erinnerungen (Reliquien) und einer Neustrukturierung häuslicher Lebensrhythmen.92 Will man den Urlaub, den am Meer allzumal, also als zeitgenössische Form der Pilgerreise auffassen, Matthias Morgenroth hat dies gezeigt,93 so wird das Wahrnehmen, die nachvollziehende Erfahrung des Sonnenuntergangs, zum heimlichen Ziel dieser Reise. Religionsphänomenologisch zeigen sich darin wichtige Elemente des Rituals versammelt: So findet eine Artikulation angesichts einer Grenzsituation statt, der Wahrnehmungs- und Fotoakt führt zu einer Stabilisierung des inneren Gleichgewichts, es findet eine konkrete, sinnlich erfahrbare Grenzvermittlung statt. Zugleich steht das Ritual für eine Dynamisierung des Lebens und schließlich für eine Transformation biografischer Grunderfahrungen wie die Abfolge von Urlaub und Arbeit. Unschwer lassen sich hierin funktionale, symboltheoretische, genetische und alltagsweltliche Zugänge zum Ritualhandeln wiederentdecken.94 Besonders wichtig ist dabei das auf A. v. Gennep zurückgehende Verständnis des Rituals als Übergang – „Passage“ – in eine neue biografische oder sozial angezeigte Phase95 und die Betonung der symbolischen Qualität ritueller Wiederholungsmuster.96 Auffallend an diesem stummen Ritual, dieser außeralltäglich-„alltäglichen Transzendenz“97 ist noch etwas: seine Deutungsoffenheit bei gleichzeitiger fast universeller Kommunizierbarkeit. Beides zusammen macht erst die besondere Attraktivität dieses Rituals und seine immer erneute Realisierung, ob am Strand oder als Abschluss des Diaabends, aus. Schauen wir nun auf den eigentlichen Umgang mit der Natur, in diesem Fall Sonne und Meer, Landschaft und Horizont. Bemerkenswert ist in der Kongruenz von sinnlicher Wahrnehmung und transzendierendem Rhythmus eine 91 Auf den rituellen Charakter des Fotografierens im Urlaub hat bereits Spitzing, Fotopsychologie, 100ff aufmerksam gemacht. Die Vielfalt der sozialpsychologischen Affekte führen zum regelrechten Auslösedrang, vgl. Thurner, Foto, 23 ff. 92 Vgl. Spode, Deutschen, 32. 93 Vgl. Morgenroth, Meer, 187 ff. 94 Einen Überblick über wichtige Merkmale des Rituals in der scheinbar uferlosen Diskussionslage geben Bellinger/Krieger, Einführung, 7 ff. 95 Vgl. Gennep, Übergangsriten, vgl. weiter Heimbrock, Eigengeschichte, 248 ff. 96 Diese Einsicht macht sich in der Praktischen Theologie vor allem die Liturgiewissenschaft zunutze, vgl. Volp, Liturgik, 68 f. 97 Luther, Religion, 212 ff.

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Analogiebildung, die weit über das augenblicklich Erlebte hinausgeht: Im genauen, affektgeladenen, wiederholenden Fotografieren des Sonnenuntergangs, so nun die These, liegt ein modernekritischer Sehnsuchtsreflex verborgen, der tiefreligiös aufgeladen ist. So kann das Ziel dieses Rituals nämlich im Kontext alltäglicher Erfahrungen einer „entzauberten Welt“ als symbolische Trauer um gerade diese Entzauberung verstanden werden – ob ironisch gebrochen oder nicht.98 2.2.2 Personen Wenden wir uns einer zweiten Motivgruppe zu: den Personenaufnahmen. Der soziale Gebrauch dieser Bilder versteht sich hierbei fast von selbst. Knipserbilder wollen Menschen ihres sozialen Nahfeldes nicht primär ästhetisieren, sondern durch das jeweilige Bild Erinnerungsarbeit an der eigenen Biografie leisten und die Beziehung zu den abgebildeten Personen stabilisieren, das gilt in abgeschwächter Form für alle Formen privater Fotografie. Dabei gibt es nun freilich, was die Darstellung von Personen auf den untersuchten Bildern angeht, dennoch signifikante Unterschiede. Bilder mit einer, zwei oder mehreren abgebildeten Personen resultieren in aller Regel wohl aus klar unterschiedenen Bildpraktiken und ihren sozialen Funktionen. Die bereits benannte Unterscheidung John Urrys von grundverschiedenen Blicken („gaze“), mit denen im Urlaub vornehmlich Natur wahrgenommen wird, kann diese Vielfalt erklären helfen. Bilder von Gruppen am Meer, zeigen diese zumeist in Aktivitäten interaktiv miteinander verbunden, Bilder von Einzelpersonen, sieht man einmal von porträtierten Kindern ab, zeigen die abgebildeten Personen eher inaktiv. Dem entsprechen der „romantic gaze“, einem Blick, der auf Privatheit und Umweltdistanzierung sowie einer „spirituellen Beziehung zum angeschauten Objekt“ besteht und andererseits dem „collective gaze“, dessen Blickrichtung der Vergemeinschaftung als Wert an sich gilt.99 Fast das gesamte Bildmaterial lässt sich einem der beiden Blicke zuordnen. Ganz überwiegend scheint nun bei den Einzelpersonenbildern der „romantische Blick“ zu sein. Dieser ist für die weitere Untersuchung besonders geeignet. Woran liegt das und was sagt es über religiöse Sedimente der dort kommunizierten Naturerfahrungen aus? Wieder sollen deshalb nun zwei Bilder aus dem Untersuchungsmaterial näher analysiert werden. 2.2.2.1 Bild „Junge am Strand“ Das Bild100 zeigt einen Jungen, der mit dem Rücken zum Betrachter am Strand sitzt. Vor ihm, fast die gesamte Bildfläche einnehmend, das Meer in abendli98 Vgl. Schneider, Reisefotografie, 452. 99 Vgl. Urry, Gaze, 43 ff. 100 http://www.mein-lieblingsfoto.de/dyn/bildgross.asp?lngNummer=0001134&name=Fichter&

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Qualitative Bildanalysen

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cher Stimmung, kurz vor Sonnenuntergang. Die bisherigen Untersuchungen zur Motivgruppe Sonnenuntergang können hier direkt anknüpfen. Auffallend an dem Bild ist die Tatsache, dass der Junge den Kopf vom Meer abgewandt, offensichtlich den Fotografen ansieht. Das Bild hat die Größe 640x485 und weit eine Dateigröße von 89 kb auf. Die Bildunterschrift auf der Internetseite lautet: „D. Fichter, 73230 Kirchheim/Teck“. Wie bereits zuvor analysiert, weist auch dieses Bild eine klare Formensprache der Sonnenuntergangsfotografie auf. Es handelt sich um eine Farbfotografie im gebräuchlichen Querformat mit der horizontalen Dreiteilung Himmel, Meer und Strand. Das unterste Bildregister weist dabei den geringsten Anteil an der Gesamtfläche des Bildes auf. Sichtbar ist ein schmaler Sandstreifen Strand, auf dem der Junge sitzt. Er befindet sich am rechten unteren Bildrand und sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, im „Schneidersitz“. Die Arme ruhen auf den Oberschenkeln, die linke Hand ist zu sehen. Über der Hose trägt der Junge einen gestreiften, langärmeligen Pullover. Der Übergang zum mittleren Bildregister wird durch einen weiteren Sandstreifen, über dem das Wasser anlandet, markiert. Über die Hälfte der Gesamtfläche wird durch das mittlere Bildregister bestimmt. Es zeigt das Meer in pastellfarbenem Blauton mit ruhigem Wellengang. Darüber im oberen Bildregister weist der Himmel die für einen Sonnenuntergang typische Rot- und Gelbfärbung auf. Lediglich oberhalb des Horizonts und verstärkt am linken Bildrand sind einzelne kleinere Wolken zu erkennen. Die Sonne, noch deutlich vom Horizont abgesetzt, ist als leuchtender Farbpunkt gut sichtbar. Sie liegt genau auf der Mittelachse des Bildes. Bildvordergrund und Bildhintergrund sind klar aufeinander bezogen. Das Meer trennt durch seine Farbigkeit und Flächigkeit den Jungen im unteren Bildregister und die Sonne im oberen Bildregister. Beide ziehen den Blick des Betrachters in je verschiedener Weise auf sich. Himmel, Meer und Strand folgen in ihrer parallelen Flächigkeit einer fast geometrischen Anordnung, verstärkt durch die farbig markierten Registerübergänge beim Horizont und Strand. Die auf der Mittelachse positionierte Sonne fügt sich in diese Ordnung ein. Zugleich lässt sie sich als Scheitelpunkt eines gleichschenkligen Dreiecks verstehen. In dieser planimetrischen Anordnung nimmt der Junge am rechten unteren Bildrand den zweiten Punkt dieses Dreiecks ein. Durch die Mittelstellung der Sonne wird der Blick auf dieses Bildelement gerichtet. Der Junge, am Bildrand positioniert, ist nicht nur durch diese Fluchtlinie, sondern auch durch seine Körperhaltung auf die Sonne bezogen. Zugleich aber wird durch die Wendung des Kopfes ein direkter Augenkontakt hergestellt. Dieser gilt wohl dem Fotograf, der in kurzem Abstand zum Jungen, in einer Blickachse zur Sonne wohl mit kurzer Brennweite von oben auf den sitzenden Jungen herabblickt. In diesem Bild überlagern sich also zwei Blickstrategien, eine vorname=D&plz=73230&wohnort=Kirchheim%20/%20Teck&land=DE&strPfadBild=frei/ gross/.

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ikonografisch-symbolische und eine soziale. Dieser doppelte Blick findet sich auch – wenn auch in ganz anderer Weise visualisiert – im nächsten Bild wieder. 2.2.2.2 Bild „Rückenfigur am Strand“ Ein zweites Bild101, das aus dem vorliegenden Datenbestand ausgewählt wurde, zeigt ebenfalls eine Person am Strand, dennoch weist es erkennbar andere Bildthemen auf. Die Bildunterschrift lautet: „K. Schmidt, 13507 Berlin“. Es hat die Größe 640x1007 und wird auf der Internetseite mit einer Dateigröße von 110 kb angegeben. Die Aufnahme weist einige formale Bildelemente auf, die es erkennbar von anderen Fotos dieser Motivgruppe abheben. Es ist im Hochformat aufgenommen, zudem ist es ein SW-Foto. Ein Junge, der direkt an der Wasserkante steht, ist bildbeherrschend und nimmt eine Mittelpunktstellung ein. Das Meer, obgleich unscharf und im Bildhintergrund abgebildet, ist aber ebenfalls dominierend. Dieser Eindruck entsteht, weil das Wasser drei der vier Bildränder berührt und den schmalen Strandstreifen, auf dem die Person dem Meer zugewandt steht, scheinbar noch zurückdrängt. Die Bewegtheit des Wassers kontrastiert mit der Körperhaltung des Jungen. Im oberen Bildregister sind Steine zu sehen, die aus dem Wasser herausragen und umspült werden. Im unteren Bildregister zeigen einzelne Blasen die Gischt des Meeres an. In seinem Bildaufbau orientiert sich das Bild, erkennbar auch mit einem künstlerischen Interesse aufgenommen, weniger an den horizontalen Parallelzonen anderer Bilder, sondern arbeitet seine Bildaussage über die Spannung aus Bildvordergrund und Bildhintergrund heraus. Das Meer, unscharf und ohne Horizontbegrenzung wird zum Kontrast der ruhigen, scharf aufgenommenen Person im Bildvordergrund. Eine echte Fluchtlinie, auf der der Blick des Betrachters ruhen kann, fehlt freilich. Die Aufnahme zeigt die Person von hinten, der Fotograf steht auf einem leicht erhöhten Punkt schräg rechts von dieser. Die Kleidung und Körperhaltung des Jungen wirken altmodisch. Er steht gerade, mit angelegten Armen vor dem Wasser. Die Arme wirken wie zum soldatischen Appell am Körper angelegt. Oberkörper und Kopf sind gerade. Über einem weißen Hemd sind Hosenträger zu erkennen. Die Hose ist knöchellang. Alles dies zusammen erzeugt den Eindruck eines ironischen Bildzitats. Fragt man auch hier nach ikonografischen Vorbildern, so ist zunächst wie zuvor eine Bezugnahme auf romantische Bildtraditionen naheliegend. Bei beiden Aufnahmen ist der Bezug zu Friedrichs wohl bekanntesten Meeresbild, Der Mönch am Meer102, schon allein unter formalen Bildaspekten evident. Friedrichs Gemälde zeigt ja ebenfalls eine einzelne Person am Strand stehend, 101 http://www.mein-lieblingsfoto.de/dyn/bildgross.asp?lngNummer=0000685&name=schmidt& vorname=k&plz= 13507&wohnort=berlin&land=DE&strPfadBild=frei/gross/. 102 Entstanden 1808 – 1810, Berlin, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

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vor sich, im Bildhintergrund Meer und Himmel. Ihre mönchsartige Bekleidung hat dem Bild seinen Namen gegeben. Der Bildaufbau in Friedrichs Gemälde ist außergewöhnlich. Drei Bildregister sind als farblich abgegrenzte Flächen wiederum parallel zueinander angeordnet. Etwa 5/6 des Bildes nimmt das oberste Bildregister ein, der Himmel. Die Farbwahl Friedrichs ist ebenfalls erstaunlich, das gilt besonders für den dunklen, fast schwarzen Farbton des Meeres und eine von Schwarz zu Weiß changierende Himmelstönung, erzeugt durch feinste Lasuren. Das unterste Bildregister, der Strand, wirkt leicht hügelig und ragt in der linken Bildhälfte wie in Form einer Landzunge weiter ins Meer als der übrige Teil des Strandes. Der Mönch steht in aufrechter Haltung links versetzt von der Mittelachse des Bildes, vermutlich Richtung Meer schauend, mit einer am Kinn abgestützten Hand. Die Forschungsgeschichte dieser „Ikone der Moderne“103 kann hier nicht nachgezeichnet werden.104 Typisch ist aber der komplexe Werkprozess, was sich besonders in der mehrfachen Veränderung des Himmels und dem Übermalen ursprünglich vorhandener Segelboote im Bildhintergrund zeigt.105 Beides diente der Betonung des Bildeindrucks eines einsamen Menschen vor einem gewaltigen Himmel. Der religiös aufgeladene Pessimismus Friedrichs wird durch zwei Umstände maßgeblich gestützt: Zum einen sprengt Der Mönch am Meer in bemerkenswerter Weise formale Bildprinzipien des klassischen Bildes und macht es zur „Negativform“106. Der tiefgezogene Horizont, ein Bildhintergrund, der keinen wirklichen Fluchtpunkt mehr bietet, die Größenverhältnisse zwischen Mensch und Natur, resp. Himmel sowie der Standort des Mönchs, links von der Mittelachse, aber rechts vom „Goldenen Schnitt“107, weisen darauf besonders hin. – Zum anderen weist die Darstellung des Mönchs selbst auf dessen grüblerische Haltung hin. Antithetisch zu Friedrichs Gemälde Abtei im Eichwald108 drückt sich in der Naturerfahrung des Betrachters hier für Friedrich selbst eine demutsvoll-resignative Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Möglichkeiten inmitten des Kosmos aus.109 103 Schon Friedrichs Zeitgenossen erkannten das verstörend Neue in diesem Bild. Von Heinrich v. Kleist stammt in diesem Zusammenhang die berühmt gewordene Formulierung, das Bild wirke auf seine Betrachter, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten worden wären“ (Kleist, Werke, 327). Zum Typus des modernen Bildes vgl. hier Dickel, Sehnsucht, 159 f. 104 Vgl. Busch, Ästhetik, 46 ff. 105 Vgl. Börsch-Supan, Bemerkungen, 63 ff. 106 Jensen, Friedrich, 86. 107 Werner Busch hat in diesem Zusammenhang auf die große Bedeutung einer „romantischen Geometrie“ bei Friedrich hingewiesen, deren Ordnungsprinzipien einen Übergang von Gottes Schöpfungswillen zu der als ungeordnet wahrgenommenen Welt eröffnen, vgl. ders., Ästhetik, 128 ff. 108 Entstanden ebenfalls 1808 – 1810, Berlin, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. 109 Dieser „Antifaust“ (Busch, Ästhetik, 64) kann daneben freilich noch zum Kritiker politischer Zeitläufe werden. Wir können diesen Aspekt hier aber vernachlässigen.

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Der einsame Mensch inmitten der Natur ist hier also Anlass für einen modernekritischen Reflex Friedrichs. Die Kritik an der Selbstüberhebung des aufgeklärten Zeitgenossen (nicht zu Unrecht ist hierin ja auch die gerne wiederholte Nähe zum Frühwerk Schleiermachers angedeutet) mündet also in dem Hinweis auf die eigentliche Stellung des Menschen in der Natur. Dennoch ist das Bild ja von besonderem Pessimismus geprägt. Vom Epochenschmerz der Romantik, der sich in Friedrichs Gemälde beispielhaft zeigt, ist freilich heute nichts mehr zu sehen.110 Dennoch teilen die untersuchten Bilder eine symbolische Verdichtung des Horizonts. Der Blick der Romantik ist ein Blick in die Ferne und die Tiefe des Raumes und ein Blick auf den Blickenden selbst. Das zeigt sich besonders in den Rückenfiguren Friedrichs.

2.3 Rück-Blick auf das Meer Mit dieser Kontrastfolie lässt sich nun die Bildwirkung heutiger Fotos genauer beschreiben. Personen werden vor einer Landschaft aufgenommen, die oftmals diesen sehnsuchtsvollen Fernblick zitiert und zugleich aber die Flächigkeit von Natur abbildet. Dies belegen die Bilder auf je eigene Weise. Beide zitieren den Formenkanon des romantischen Landschaftsbildes und thematisieren den Blick in die Ferne. Dieses Bild verzichtet auf den Horizont, macht aber die Rückenfigur zur unzeitgemäßen Persönlichkeit. Das Sonnenuntergangsbild belegt den Widerstreit zwischen klassischer Mittelachsenorientierung und sozialem Blick. Beiden ist der Horizont als reales Gegenüber gleichsam abhanden gekommen. Es gibt keine utopischen Orte mehr, die in der Ferne warten, aber es gibt die Sehnsucht, es gäbe sie noch. Die Darstellung des Horizonts macht dies nun besonders deutlich. In seiner Geschichte des Horizonts hat Albrecht Koschorke festgestellt, dass anders als in der Romantik geschehen, der Blick des Horizontbetrachters nicht mehr auf eine Verschmelzung von Himmel und Erde zielt (oder den Schmerz artikuliert, dass dies nicht mehr möglich ist), sondern an seine Stelle nun „eine Psychologie des in sich verschlossenen, beständig und endgültig auf seine empirische Existenz zurückgeworfenen Ichs“111 tritt. Die Natur hilft ganz offensichtlich diese Erfahrung sowohl sichtbar zu machen als auch das Fehlen eines alten Verweissystems anzuzeigen. Was für die Naturerfahrung allgemein gilt, gilt für den Meereshorizont besonders. Das Meer ist, wie wir sahen, der Ort der Grenzerfahrung, ein Ort also der besonderen Horizonterfahrungen. 110 Dies belegt bereits die Rezeption Friedrichs beim französischen Maler Gustave Courbet. Seinem 1854 entstandenen Bild Le bord de Mer ‚ Palavas (Montpellier, Mus¦e Fabre) sieht man nicht mehr den Schmerz des einsamen Meeresbetrachters am Strand an, sondern den enthusiastischen Bürger, dessen befreiter Blick nicht mehr die Erfahrung des Erhabenen wiederholt, sondern sich den sinnlichen Erfahrungen hingibt, die der Schlüssel für eine neue Realisierung von Wirklichkeit werden, vgl. Herding, Landschaft, 50. 111 Koschorke, Geschichte, 255.

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Rück-Blick auf das Meer

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Daran schließt sich nun noch einmal die Frage nach dem sozialen Gebrauch der untersuchten Bilder an. Offensichtlich sind zunächst die Stabilisierung des sozialen Bezugsystems und die jeweils konkrete Erinnerungsarbeit. Dazu kommt aber nun noch Folgendes: Die eigenwillige Mischung aus Selbstreferentialität der Naturbetrachter und den Verweisen auf utopische Naturaffekte erklären sich aus dem Bedürfnis nach „gelingendem Leben“, das sich in diesen Bildern nachhaltig manifestiert. Der Blick aufs Meer artikuliert noch einmal (wie bei der Motivgruppe der Sonnenuntergänge) die symbolische Trauer vor einem entvölkerten Himmel. Es ist eine Trauererfahrung, die typisch für moderne Lebenswirklichkeiten ist. Der Blick auf Naturräume eröffnet dabei Gelegenheiten, in eine „korresponsive“112 Beziehung zur Natur zu treten und dabei über existenziellen Fragen des eigenen Menschseins nachzudenken. Die Fotos bilden diesen offenen und oftmals vorsprachlichen Prozess daher in mehrfacher Weise jeweils ab. Eine solche Phänomenologie der Natur rückt noch einmal den Zusammenhang zwischen Natur und Erfahrungssubjekt in den Mittelpunkt. Aber dies gilt nun nicht allein für die Fotoproduzenten, sondern eben auch für die Betrachtung der Bilder selbst. Diese bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern produzieren eine neue im Auge der Betrachter. So gehört es zur Eigenart phänomenologisch-hermeneutischer Arbeit am Bild, dass Bedeutungsanalysen stets an Grenzen ikonografischer Eigentümlichkeit und Individualität stoßen. Bilder sind, gerade wenn man an ihre postfotografische Nutzung denkt, oftmals nicht das, wofür wir sie halten. Hans-Günther Heimbrock, der, wie gezeigt werden konnte, in der praktisch-theologischen Diskussion gegenwärtig sicher am stärksten den unverrechenbaren Wert des Phänomensinns gegenüber der „Wut des Verstehens“113 in Schutz nimmt, plädiert daher auch folgerichtig für ein zirkuläres Erkenntnisverfahren aus Beschreibung und Deutung, dass immer wieder mit dem „opaken“114 Blick des Phänomens rechnet. Der Zusammenhang zwischen Bildpraxis, Motivwahl und sozialer Funktionszuweisung liegt gerade bei dem vorliegenden Quellenmaterial, nun abschließend betrachtet, in der Verbindung von Naturerfahrung und Sinnthematisierung. Dies wird noch einmal eindrucksvoll durch folgende kirchensoziologische Beobachtung unterstrichen: die Urlauberseelsorge. In den letzten Jahren wird sie kirchenamtlich zunehmend beachtet und gefördert. Fast, so scheint es, finden Menschen im Urlaub eher zur Kirche als im Alltag. Die Kirchen reagieren auf diesen Trend mit Personalaufstockung, geöffneten

112 Seel, Ästhetik, 89 ff. 113 Vgl. Jochen Hörischs erhitzte Philippika gegen den oftmals anmaßenden Automatismus der hermeneutischen Textzurichtung, die seiner Auffassung nach gerade und besonders Theologen befällt. Als Ahnherrn dieser Haltung macht er Schleiermacher aus, vgl. ders., Wut, 82 ff. 114 Heimbrock, Given, 71.

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Erkundung und Analyse des Phänomens

Kirchen, vielfältigen kulturellen Angeboten und seelsorgerlichen Sprechstunden. Eine von Ingrid und Wolfgang Lukatis initiierte und begleitete empirische Untersuchung fragte nach dem Verhältnis von Tourismus und Kirche in Ostfriesland und ermittelte ihre Werte durch Umfragen auf den sieben ostfriesischen Inseln und an der Küste, jeweils in Haupt- und Nebensaison.115 Zwei Ergebnisse sind besonders signifikant. Auf die Frage „Was gehört für sie zu einem guten Urlaub?“ antworteten 54 % der Befragten mit dem mehr oder weniger expliziten Verweis auf Natur. Dass ein guter Urlaub auch eine religiöse Dimension aufweisen sollte und mit Erwartungen an Kirche verbunden ist, äußerten allerdings nur 3 % von sich aus.116 Anders bei einer vom Evangelischen Arbeitskreis für Freizeit, Erholung und Tourismus 1994 durchgeführten Erhebung, wo auf die Frage, ob der Urlaub auch eine Gelegenheit sei „einmal über Sinn und Gestaltung des Lebens nachzudenken“ von rund 40 % positiv beantwortet wurde.117 Naturerfahrungen spielen im Urlaub am Meer also ebenso eine große Rolle wie das „Sinnthema“. Kirchen werden vor Ort zwar wahrgenommen und ihre Angebote genutzt, die Sedimente des Religiösen sind dabei in den Begegnungen mit Natur aber noch nicht hinreichend erklärt und wahrgenommen. Mit Blick auf die Ergebnisse der Fotoanalyse und ihres sozialen Gebrauchs wird man vermuten können, dass die eigentlichen Aufgaben einer Urlauberseelsorge erst beginnen, wenn die fertigen Fotos zu Hause betrachtet werden können.

115 Lukatis/Lukatis, Schöpfung, 219ff und Kirchlicher Dienst, Tourismus. 116 Ebd., 82 ff. 117 Zitiert nach Lukatis/Lukatis, Schöpfung, 219.

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C. Gartenparadiese in der Kleingartenkolonie 1. Einleitung Die bisherigen empirischen Analysen haben gezeigt, dass alltägliche wie außeralltägliche Naturerfahrungen dem modernen Subjekt eine primär kompensatorische Erfahrungswelt eröffnen, durch die modernetypische Verlusterfahrungen gedeutet, neubestimmt oder zumindest erinnert werden können. Ob im Blick auf das Meer oder im Angesicht einer Flussüberschwemmung, bislang galten die Untersuchungen jenen Phänomenbereichen, die das vornehmlich städtisch geprägte Individuum gleichsam von außen ereilten. Im folgenden Abschnitt wird daher ein Phänomenbereich religiös aufgeladener Naturerfahrung empirisch untersucht, bei dem sich moderntypischer Reflex und Naturerleben untrennbar verbinden und Ausdruck von Lebenskonzepten insgesamt werden: der Garten. Kaum ein Ort, an dem Menschen Natur so intensiv wahrnehmen, gerade in der Stadt. Wie aber sieht es mit Spuren gelebter Religion in diesem Erfahrungsraum aus? Gibt es im Zusammenhang mit dem Leben im Garten tatsächlich auch religiös geprägte Naturerfahrungen oder erschöpfen sich gegenwärtige Gartenkulturen im ausdifferenzierten Reflex auf die Segnungen der Freizeitgesellschaft und gilt daher letztlich die apodiktische Aussage: „Der moderne Garten […] entbehrt jeder Transzendenz.“1? Die Untersuchung nimmt nun bei Beobachtungen von Alltagsdokumenten seinen Ausgang und fragt nach der Bedeutung von kulturell prägenden Symbolen und zielt dabei auf die exemplarische Analyse eines Gartentyps, seiner sozialen Praktiken und Kommunikationsformen, in dem Transformationsprozesse besonders sichtbar werden, den Kleingarten. In ihrer breit angelegten Studie über die Vorstellungswelt von Gartennutzern hat die Volkskundlerin Nana Hartig im Rahmen ihrer Interviews die Frage gestellt: „Hat der Garten für sie etwas mit Religion oder Spiritualität zu tun?“2 Die Antworten belegen eindrucksvoll, wie weit die kommunikative Selbstexplikation der Gartennutzer von einer expliziten Bezugnahme auf das Religionsthema entfernt zu sein scheint. Repräsentativ hierfür mag folgender Interviewausschnitt gelten:

1 Clemens Alexander Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, 420. 2 Nana Hartig, Mensch im Garten. Gartenerfahrungen als Spiegel mythischen Denkens, Noderstedt 2004, 338.

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Einleitung

Hat der Garten für sie etwas mit Religion oder Spiritualität zu tun? Frau U.: „Weniger eigentlich.“ Herr U.: „Da kann ich auch sagen: nein. Das muss man auseinander halten.“ Fau U.: „Ja, was heißt …“ Herr U.: „Mit der Schöpfung. Vom Hintergrund gesehen. In Verbindung …“ Frau U.: „Das ist vielleicht alles eine Einheit oder so.“ Herr U.: „Das ja. Aber nicht so, dass ich meinen Glauben dran aufhänge an den Pflanzen und am Garten und sag, das muss so sein, das ist von der Schöpfung und das ist die Religion und das … Ich glaube, da haben wir beide nix am Hut.“ Frau U.: „Ja also schon, dass die Spiritualität nicht was Negatives … Es ist halt eine Einheit, die ganze Schöpfung als Einheit. Und es gehört mit in die Einheit dazu.“ Herr U.: „Aber dass das die Bibel ist – das ist nicht Religion.“3 Die weiteren Untersuchungsgänge begeben sich auf Spurensuche und sind von der Vermutung geleitet, auf gelebte Religion auch jenseits ihrer bewussten kommunikativen Thematisierung zu stoßen. Nähern wir uns dem Phänomenbereich Garten deshalb zunächst wiederum über Dokumente der Alltagswelt. Als besonders aussagekräftig für Wertvorstellungen und Handlungslogiken von Menschen, die dem Garten als Lebensbereich eng verbunden sind, können Gartenzeitschriften angesehen werden.4 Die Vielfalt unter den gegenwärtig sich auf dem Markt befindlichen Publikationen spricht für einen hohen Verbreitungsgrad dieser Zeitschriften wie natürlich auch für die vielfältigen Garteninteressen, die sich darin spiegeln. Die Wahrnehmung des eigenen Gartens bzw. der damit verbundenen Einstellungen verbindet sich, das zeigen nun beinahe alle marktgängigen Gartenzeitschriften, mit dem besonderen Erlebniswert dieses Naturraumes.5 Dieser Erlebnismehrwert des Gartens differenziert sich natürlich in die jeweils milieutypischen Ausdrucksformen auf. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die nähere Untersuchung der Mediadaten der einzelnen Zeitschriften, da durch sie auch Auskünfte über die jeweiligen soziodemografischen Einstellungen der Leserinnen und Leser zu erheben sind.6 Das Distinktionsbedürfnis der Lese3 Ebd., 252 f. 4 Rezeption wie Produktion von Gartenzeitschriften haben auch im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition. Angeregt durch französische und vor allem englische Vorbilder entstanden Ende des 18. Jahrhunderts erste Publikationen. Das seit 1804 erscheinende Allgemeine Teutsche Garten Magazin gehörte hierbei zu den ersten wichtigen Veröffentlichungen; eine allgemeine Popularisierung – nicht zuletzt wegen des moderaten Preises – setzte mit der ab 1823 erscheinenden Allgemeinen Deutschen Gartenzeitung ein, vgl. Drewen, Quellen, 83 ff. 5 Auch hier ist ein Vergleich mit den frühesten Gartenzeitschriften in Deutschland erhellend: Ihre ursprünglich aufklärerische Absicht, vorhandenes Gartenwissen im Bürgertum zu verbreiten, verband sich schon früh mit der bürgerlichen Lesekultur und der Erlebnisteigerung von eigenen Gartenerfahrungen, etwa in Form von kolorierten Zeichnungen, Gedichten, Erzählungen oder Spielevorschlägen für Kinder, vgl. Dülmen, Paradies, 30 ff. 6 So belegt etwa die Mediaanalyse 2004 der Gartenzeitschrift kraut & rüben das besondere In-

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rinnen und Leser dürfte in diesem Bereich besonders ausgeprägt zu sein. Der eigene Garten ist Teil der eigenen Persönlichkeit – bzw. wird als solche inszeniert.7 Dabei kann sogar der sozioökonomische Status betont werden. So wird etwa im Editorial von Garten Träume feststellt: „Wie schön, dass es noch ein Leben jenseits von Massenware und Plagiaten gibt! Zwar ist es im Zeitalter hemmungsloser Kopie schwer, sich schnöder Trittbrettfahrer zu erwehren, das Original bleibt […] aber in der Regel unerreicht. So ist beispielsweise das herbstliche Gartenfestival des belgischen Landsitzes Beervelde noch heute eines der schönsten seiner Art und der Victorian Garden Style wird in seiner Vielfalt immer einzigartig bleiben. Originelle Ideen haben die Tendenz, Trends auszulösen, insofern dürfen wir gespannt sein, welche Kreise der römische Lifestyle rund um die Villa Borg […] ziehen wird.“8

Zwar gibt es daneben auch solche Publikationen, die sich augenscheinlich auf den Nutzwert für die gärtnerische Praxis beschränken, aber auch hier gilt, dass dies oftmals im Kontext einer inszenierten sozialen Gartenpraxis erfolgt. So verbirgt sich hinter der Zeitschrift Mein Paradies ein Kundenmagazin des Verbandes Deutscher Garten-Center, die den Einkauf und die Beratung für viele Gartenbesitzer zum zentralen Erlebniswert ihrer Leidenschaft gestalten.9 Neben der Inszenierung der sozialen Distinktionspraxis fällt auf, dass gegenläufig zu den objektiv richtigen „Ratschlägen“ über konkrete Gartenpraxis viele Zeitschriften dem Leserbedürfnis nach Individualität nachkommen und das Leben in und mit dem Garten mit dem Sinnthema aufladen. In einer Anzeige stellt die Redaktion von Eden. Magazin für Gartengestaltung fest: „,Ich will mich selber finden!‘ ,Mein Garten ist ein guter Anfang.‘ Jeder Mensch ist auf der Suche nach Lösungen, Perspektiven, Zufriedenheit. Ihr Glück hat einen Namen: der Garten. Er macht Lust und Laune. Hier können Sie leben, feiern, entspannen und die Natur unbeschwert genießen. Ein Garten der individuell auf Sie und Ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, kann ein Spiegel Ihrer Seele sein. Wir planen, bauen und pflegen für Sie. Deshalb sieht jeder Garten anders aus. Gut, dass es Unterschiede gibt.

teresse der Leserinnen und Leser für gesunde Ernährung und die erstaunlich hohe Zahl von Grundbesitz- und Garteneigentümern. 7 Die Zeitschrift Eden – Das Magazin für Gartengenießer kennzeichnet seine Leserschaft so: „,Eden‘-Leser sind Gartenbesitzer mit höchsten Ansprüchen. Keine Selbermacher. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung zeigen sie einen deutlich erkennbaren Hang zu individuellen Lösungen.“ (Zitiert nach: Eden, Mediadaten 2004). Überall dort, wo die Inszenierung des Gartens als Erlebnisraum besonders ausgeprägt sichtbar wird, ist der Anteil der weiblichen Leserinnen besonders hoch, vgl. Mediaanalyse Eden. Das Magazin für Gartengenießer, hier sind es 77. 8 Garten Träume. Das internationale Garten-Magazin von Garten & Wohnen 3/2004, 3. 9 Mein Paradies erscheint in einer regelmäßigen Auflage von 280000 Exemplaren und wird sowohl über den Zeitschriftenhandel wie Gartencenter vertrieben.

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Und Ihren ,Gärtner von Eden‘, der aus Ihren Wünschen naturnahe Lebensräume macht. Ihr Zuhause ist der Garten – wir machen das Beste daraus.“10

Überraschend ist nun freilich doch, dass es neben Gartenpraxis, Erlebniswertinszenierung und ökologischer Wertedebatte („Natürlich Gärtnern“) auch ein bislang kaum im Zusammenhang wahrgenommenes religiöses Gartenvokabular gibt, das sich in vielfältigen Variationen in beinahe allen marktgängigen Zeitschriften nachweisen lässt. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang bereits die Titel der entsprechenden Zeitschriften. Sie tragen Namen, in denen die Metapher des Paradieses mehr oder weniger deutlich anklingt: „Eden – Das Magazin für Gartengenießer“, „Mein Paradies“ oder „Garten Träume“. Der eigene Garten wird hier also nicht nur als Ort gärtnerischer Praxis wahrgenommen, sondern mit der Sehnsuchtstradition einer Gegenwirklichkeit verbunden und zumindest emotional damit stark aufgeladen. Beispielhaft für diese Praxis kann der Artikel Farbe, Duft und Sinnlichkeit von Mara Kaemmel aus der Zeitschrift „schön + grün“ gelten. Thema des Beitrags ist die Frage, wie ein Garten zu einem „romantischen Garten“ umgestaltet werden kann: „Ist Ihr Alltag nüchtern und stressig? Sehnen Sie sich nach ein wenig Verzauberung? Dann legen Sie sich doch einen romantischen Garten an. Die Gartengestalter Gregor Alexander Zimmer und Siegmar Gurth erklären, wie das geht – und stellen ein eigenes Projekt vor.“11 Die beiden Gartengestalter üben dabei die in Gartenzeitschriften so wichtige Funktion des Gartenexperten aus, dem sich der Konsument anvertrauen kann. Ihre Autorität wird durch wörtliche Zitate („,Bei der Auswahl der Pflanzen dürfen die Gartenbesitzer aus dem vollen schöpfen‘, sagt Gregor Alexander Zimmer“12) und ein Fotoportrait unterstrichen. Die beiden Gartengestalter, die weniger als typische Gärtner denn als Künstler beschrieben werden („das kreative Duo“13) wird zum Führer ins neue Gartenparadies. Über diese romantischen, neu zu gestaltende Gärten heißt es dann: „Romantische Gärten sind zauberhafte, ja paradiesische Orte. […] Orte, um die Seele baumeln zu lassen und sich den Tagträumen hinzugeben.“14 Nach einem expliziten Hinweis auf die Verbindung zwischen romantischem Garten und Paradies15 fährt Kaemmel fort und fragt: „Wie lässt sich das heimische Grundstück in ein Paradies verwandeln?“16 Der gegenweltliche 10 11 12 13 14 15

Eden (6/2004), Anzeige. Zitiert nach schön + grün (3/2004), 30. Ebd., 32. Ebd., 31. Ebd., 31. „Seit Jahrtausenden schaffen Gärten eine Verbindung zwischen den Fantasien der Menschen und der Wirklichkeit […] Begriffe wie „Arkadien“, „Oase“ oder „Paradies“ beschreiben solche Orte voller Sinnlichkeit, in denen Menschen träumerisch und idealisierend der Wirklichkeit begegnen“ (ebd., 32). 16 Ebd., 32.

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Der Garten als Paradies

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Charakter dieses Gartens, unterstrichen durch mehrere Farbfotos, entsteht also nicht durch äußere Kräfte, sondern lässt sich selbst herstellen. Als wichtigste „Elemente“ eines solchen Gartens empfehlen daraufhin die beiden Gartengestalter das Anlegen einer Wasserfläche, die Möblierung des Gartens durch „Sitzmöbel aus Holz […], schmiedeeiserne Stühle […] oder eine Sitzmauer“17, eine aufwendige Lichtinstallation, besondere Pflanzengefäße, Schattenspender und natürlich eine entsprechende Bepflanzung: „Wohin mag der Weg führen? Vom Alltag fort ins Paradies.“18 Gartenträume bilden also offensichtlich die Metaphorik eines gegenweltlichen, paradiesischen Ortes aus und schaffen dabei eine erlebnisintensive Erfahrungswirklichkeit, zumindest im Sinne eines religiösen Vokabulars. Mitunter ist der Kontext dieser Rede freilich redundant und zitathaft. Mit dem Gebrauch des Bildes vom Garten als Paradies wird nun nicht allein ein emotionaler Ausdruck für eine bestimmte Form des Gartens gefunden, sondern auch eine tief verwurzelte Tradition und Kultur aufgerufen. In ihr vermischen sich religiöse Grundierungen mit Alltagserfahrungen und handfesten kommerziellen Interessen. In den Paradiesrekurs verwoben ist dabei ein bestimmtes Verhalten oder Handeln im Garten. Dieser ist ein „Ort des Träumens“, eine Gegenwirklichkeit. Religiöse Erfahrung in und mit Natur im Garten vollzieht sich neben, mit und jenseits dieses kulturellen Codes. Aber was ist damit genau gemeint? Auf welche kulturellen Praktiken und Codes der Paradiestradition rekurrieren sie dabei? Um heutige Erfahrungsmuster angemessen beschreiben zu können, wird man nicht einfach das Gärtnern zur Suche nach dem verlorenen Paradies erheben können, viel eher dürfte evident sein, den Traditionen des Paradiesgartens eine wichtige Bedeutung für jene Erfahrungenstränge zuzuweisen, deren religiöse Semantik zu beschrieben und kritisch zu reflektieren ist. 1.1 Der Garten als Paradies – kultur- und religionsgeschichtliche Traditionen „Was den Garten Eden – wie alle Paradiese – recht eigentlich ausmacht, ist ein Doppeltes: die beglückende Fülle an grünender, blühender, sprudelnder Lebenskraft und Lebensfreude zum einen und die Abgrenzung dieses Inneren und Eigentlichen gegenüber einem […] unwirtlichen Äußeren und Anderen.“19

Die Vorstellung vom Paradies als Garten geht biblisch auf Gen 2,8 zurück. Bei der Ausprägung eines zweiten, neuen Paradieses erweitert sich der Vorstellungsbereich in Aufnahme von Apk 21 – 22 um die Bilder von Himmel und Stadt.20 Dabei hält sich der Garten als eschatologische Größe in der prophe17 18 19 20

Ebd., 32. Ebd., 33. Mayer-Tasch, Garten, 14. Vgl. Nitz, Paradies, 1363.

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tischen Überlieferung des AT in Texten wie Jes 11,6 – 9 oder Ez 36,35 durch. Bereits in vorbiblischen Überlieferungen ist von diesem Zusammenhang die Rede, so im Gilgamesch-Epos und dem akkadischen Adapa-Mythos aus dem 15. vorchristlichen Jahrhundert.21 In der hebräischen Textfassung bezeichnet der Garten Eden eine Richtungsangabe (in Eden). Erst die Septuaginta (LXX) bringt diesen Urgarten mit dem Paradies sprachlich zusammen. Das griechische paradeisos (als wortverwandte Wurzel bereits im altpersischen und akkadischen nachweisbar22), im wörtlichen Sinne „das Umzäunte“, wird mit dem Garten Eden gleichgesetzt. Der Sache nach trifft diese Neudeutung des Gartens als abgegrenztes Gebiet den theologischen Deutungsrahmen von Gen 2 – 3 in bestechender Weise.23 Ihren reinsten Ausdruck hat die biblische Tradition des Paradieses als Garten im Kreuzgang des Klosters und der mittelalterlichen Vorstellung vom hortus conclusus gefunden. Beide Gartenformen sind beinahe vollständige Symbolisierungen der hortitheologischen loci Gen 2,4ff und Hdl 4,12 ff. Die christliche Verkörperung des Paradiesgartens nimmt nicht zufällig im karolingischen Kreuzgang ihren Anfang.24 Die karolingische Bildungsreform des 9. Jahrhunderts führte nicht nur zu einer erneuten Lektüre antiker Texte und damit der antik-paganen Gartenliteratur, sondern etablierte überhaupt erst eine feste Kultur des Gartenanbaus.25 Dies geschah im Kontext einer allgemeinen Wiederentdeckung der Natur.26 Neben der Wiederentdeckung gärtnerischer Techniken, wie dem Anbau von Obst, Gemüse und den klösterlichen Kräutergärten zur medizinischen Versorgung der Mönche, verkörpert der benediktinische Kreuzgang eine herausragende Form theologischer Gartendeutung: Der Kreuzgang als das Zentrum des Klosters wird zum Sinnbild für das Paradies als Garten. Nirgends wird dieser Sachverhalt so deutlich wie in dem um 825 entstandenen St. Gallener Klosterplan. Entstanden auf der Klosterinsel Reichenau, bietet sie den idealen Grundriss einer Klosteranlage dar und hat die Baukultur des mittelalterlichen Klosterwesens maßgeblich mitbestimmt.27 Neben einem Gemüse-, einem Obst- und einem Baumgarten (mit Begräbnisstätten der 21 Mayer-Tasch, Garten, 14. 22 Vgl. Pezzoli-Olgiati, Paradies, 910. 23 Vgl. Dohmen, Paradies, 1360. Der Begriff findet sich im „profanen“ Gartenverständnis bereits in Koh 2,5 und Jer 2,8. Das deutsche „Garten“ leitet sich wohl von dem indogermanischen Wortstamm *gherdh = umfassen, umzäunen ab, vgl. Pfeiffer, Garten, 399. 24 Nicht unerwähnt sollte freilich bleiben, dass sich die mittelalterliche Gartenarchitektur auch anderen Einflüssen verdankt. So hat der Kreuzgang, der die „Gartenfläche“ umrahmt, seinen Ursprung sicherlich im römischen Peristyl ein wichtiges Vorbild gefunden. Zudem dürfte die islamische Gartenkultur in der Verwendung von Brunnen und Wasser prägend gewesen sein. 25 In der 812 entstandenen Verordnung Karls des Großen „Capitulare de villis et curtis imperialibus“ wird erstmals minutiös aufgeführt, welche Obst- und Pflanzensorten in den Klostergärten angepflanzt werden sollen, vgl. Heckmann, Hortulus, 124. 26 Vgl. Pizzoni, Kunst, 11. 27 Vgl. zur Einführung Hecht, Klosterplan.

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Mönche) gibt es im Zentrum der Anlage einen Kreuzgang, der auf den ersten Blick durch seine quadratische Form und den Säulengang Ähnlichkeit mit einem römischen Atrium aufweist.28 Sein innerer Hof ist zweifelsohne ein Garten.29 Diesem Gebilde gilt besondere theologische Aufmerksamkeit innerhalb des Klosterplans. Vermutlich dachte man hier lediglich an ein einfaches Rasenstück, auf dem sich vier Wege kreuzten, die von den jeweils mittleren Arkadenbögen des Kreuzgangs ausgingen. In der Mitte war wohl ein Sadebaum vorgesehen.30 In dieser auffälligen Inszenierung der Mitte kommt das besondere Konzept des mittelalterlichen Gartens als Paradies zum Tragen. Entsprechend Apk 21 wird das Kloster zum Abbild des himmlischen Jerusalems, der endzeitlichen Vision des neuen Paradieses. Inmitten dieser vollkommenen Stadt der Endzeit befindet sich bezeichnender Weise keine Kirche, sondern ein Platz.31 Der im Kreuzgang imaginierte paradiesische Ort wird durch eine reiche Zahlensymbolik ausgedrückt. So ist die Vierzahl (d. i. das Quadrat) Ausdruck für kosmische Ordnung32 und Hinweis auf Gottes Dasein in der Welt.33 Der im Kreuzgang meditierende Mönch sollte damit also mit Blick auf die Mitte des inneren Gartens dieser Neuschöpfung des Paradieses gewahr werden als dem Mittelpunkt klösterlichen Lebens und vertikaler Verbindung zwischen irdischem Garten und himmlischen Paradies.34 Dazu gehört auch der häufig in der Mitte des Gevierts anzutreffende Brunnen mit fließendem Wasser. Dieses symbolisiert als Mitte des Paradieses das Wasser der vier Paradiesströme, von denen in Gen 2,10 – 14 die Rede ist.35 Besonders starken Ausdruck hat die Tradition des fließenden Wassers als Merkmal des paradiesischen Gartens auch in der islamischen Gartenkultur gefunden.36 Neben dem Kreuzgang ist die ikonografische Tradition des hortus conclusus die zweite wichtige Quelle für eine Untersuchung der mittelalterlichen Vorstellung vom Paradies als Garten. Als Gegenstück zum Minnegarten, dem hortus amoenus, knüpft der verschlossene Paradiesgarten an die im Mittelalter überaus populäre Auslegung des Hohelieds als Liebesbeziehung zwischen Maria und den Gläubigen bzw. der Kirche an.37 Dabei wird in Aufnahme von Hld 4,12 – 15 die jungfräuliche Gottesmutter Maria mit dem verschlos28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Vgl. hierzu Haudebourg, Glück, 27 f. Gegen Wimmer, Geschichte, 13. Vgl. Sörrensen, Gärten, 196. Vgl. Apk 21,21 f. Man denke an die vier Himmelsrichtungen oder andere, seit persischer Zeit gebräuchliche Naturordnungen. Die Zahlensymbolik wurde im St. Gallener Klosterplan auch in den anderen Gärten der Klosteranlage durchgehalten. Vgl. Apk 7,1, vgl. ferner Haudebourg, Glück, 33. Vgl. Schmidt, Kreuzgang, 31 ff. Vgl. Mayer-Tasch, Garten, 20. Vgl. Pizzoni, Kunst, 13 ff. Vgl. Stadler, Garten, 470.

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senen Garten gleichgesetzt.38 In der Folge entstehen im 15. Jahrhundert eine Reihe bedeutender Paradiesgartendarstellungen, wie etwa Stefan Lochners Maria im Rosenhag von 1410 oder Jan van Eycks Genter Altar von 1432.39 Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang das Frankfurter Paradiesgärtlein, das vermutlich auf einen nicht näher bekannten oberrheinischen Meister zurückgeht und um 1410 entstanden sein dürfte.40 Es steht stellvertretend für eine vollständig theologische Deutung der Wirklichkeit bei einem gleichzeitig einsetzenden Interesse an einer genauen Wahrnehmung der Natur.41

Fig. 3: Oberrheinischer Meister, Paradiesgärtlein

Bereits durch seine geringen Ausmaße (26x33 cm) wie seine Komposition erfüllt dieses Kunstwerk die Funktion eines Meditationsbildes. Es ist der Blick des Betrachters in einen von hohen Mauern umgebenen Garten, in dessen Zentrum Maria als Himmelskönigin von Jungfrauen und männlichen Figuren

38 39 40 41

Vgl. die entsprechenden Zitate bei Vetter, Paradiesgärtlein, 104. Vgl. auch Krauss, Paradies, 80. Vgl. Haudebourg, Glück, 39 ff. Zu Datierung und Zuschreibung Vetter, Paradiesgärtlein, 131. Im Hintergrund steht sicherlich auch die neutestamentliche Überlieferung Jesu als Gärtner (vgl. Joh 20,17), vgl. Haudebourg, Glück, 17 f.

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umgeben ist.42 Entsprechend der Körperhaltung und Gestik der Maria wird auch der Bildbetrachter zur Gartenschau eingeladen. Dieser Garten zeichnet sich durch einen überbordenden Reichtum an Farben und Formen, Pflanzen und Vögel aus. Alle Herrlichkeiten der Schöpfung scheinen hier versammelt zu sein und wollen zum Nachdenken über Gottes Schöpferhandeln einladen. Erstaunlich ist nun, dass jedes naturkundliche Detail des Gartens nicht allein in den Kontext einer theologischen Symbolisierung eingefasst ist, sondern zugleich höchst real wirkt, so dass es bis heute sogar Rückschlüsse auf mittelalterliche Botanik zulässt.43 Zwischen theologischer Deutung und naturkundlicher Beobachtung gibt es dann auch vielfache Entsprechungen: So spielen die vielen verschiedenen Blumenarten (wie z. B. die Pfingstrose) auf die Tugenden Marias an, der in der Bildmitte sichtbare Tisch mit einer Obstschale, Apfelstücken und einem Weinglas verweist auf die Eucharistie44 und das Brunnenwasser, das die Heilige Barbara aus einem Brunnen schöpft, steht im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Reliquienkult45, der das Gedeihen von Pflanzen zu beeinflussen suchte. Alles dies steht im Dienst einer universalen Heilsökonomie. Maria wird zur persona majestatis, in der die Verbindung von protologischem und eschatologischem Paradies erfahrbar wird. Der fruchtbare, geordnete und überquellende Garten bewahrt als Paradiesgärtlein die Spuren einer fruchtlosen „Zwischenzeit“, in der sich die mittelalterlichen Betrachter des Bildes wähnen, genau auf. Neben einem abgestorbenen Baumstumpf ist eine Teufelsfigur zu erkennen. Dies symbolisiert das sündige, fruchtlose Tun der Menschen. Aus diesem Stumpf erwächst nun neues Grün. Der grünende Garten wird zum Bild für heilvolles Leben und bewahrt die Spuren des Alten. Dies spiegelt sich noch einmal in den beiden Paradiesbäumen wider, die am linken und rechten Rand des Bildes den Garten begrenzen. Durch ihre Früchte, ihr Laub und ihren gewundenen Stamm sind sie Ausdruck einer Ambivalenz des Paradiesischen und machen den Übergang vom Unheil zum Heil offensichtlich.46 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die mittelalterlichen Paradiesvorstellungen den Garten nicht nur als Ganzes symbolisch aufladen, sondern einzelne Aspekte und Bestandteile sowohl einzeln mit Bedeutung aufladen wie dann auch zu einem System neuer Ordnung bringen. Diese Beziehung zwischen Paradiesgarten und weltlichen Gärten sowie zwischen Einzelaspekten innerhalb des Systems eines Gartens hat Dzevad Karahasan so beschrieben:

42 43 44 45 46

Vgl. Vetter, Paradiesgärtlein, 104. Vgl. Haudebourg, Glück, 72 ff. Vgl. Vetter, Paradiesgärtlein, 130. Vg. ebd., 110. Die genaue Deutung und Unterscheidung der beiden Bäume ist bis heute umstritten. Die stichhaltigsten Argumente finden sich nach wie vor bei Münzel, Paradiesgärtlein, 14 ff.

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„Zum Paradiesgarten bildet der irdische Garten […] eine vertikale Opposition, komplementär zu der horizontalen Opposition, in der er sich zur Natur einerseits und den kulturellen Systemen andererseits befindet […] So sind die Natur oder die Welt Gottes und das Paradies durch den irdischen Garten miteinander verbunden (der Garten ist die Art, wie das Paradies in dieser Welt anwesend ist).“47

Vermutlich wird die Beziehung zwischen Garten und Paradies bei aller Liebe der Gärtner zu ihrem „Umzäunten“ gegenwärtig weniger emphatisch zu sehen sein und viel eher einer untergründig wirkenden Grundierung dieser Lebenswirklichkeit gleichen.48 Wichtig ist nun aber Folgendes: Im Kontext gelebter und mitunter durchlittener Modernitätserfahrungen erweist sich das verlorene Paradies noch immer als heimlicher Bezugspunkt für den eigenen Garten.49 Die tiefergehendere Analyse dieses für unser Thema so wichtigen Einsicht setzt daher bei der Untersuchung der Bedeutungsverlagerungen des Garten als Paradies ein und analysiert die Einzelaspekte dieses Systems im jeweils historischen Kontext seiner Veränderungen. Er bietet die Vorgeschichte für die Gartentraditionen, die in gegenwärtigen Gartenkulturen sichtbar werden. Die wichtigsten Bestandteile, gleichsam die Matrix, die den Garten beschreiben, sind die Grenze, das Wasser, die Pflanzen und die Arbeit im Garten. Sie stellen gleichsam das Vokabular einer Gartenanalyse dar und werden deshalb der empirischen Analyse auch vorangestellt.50

1.2 Das Vokabular des Gartens: Grenze, Wasser, Pflanzen, Gartenarbeit Die Grenze Der Garten ist das Umzäunte. Seine Grenze definiert ihn. Der Garten ist das, was die übrige Umwelt nicht ist. So ist die Grenze das wichtigste Merkmal des Gartens. Die Kultur des Gartens entfaltet sich im Spannungsfeld theologischer, sozialer, juristischer und pragmatischer Grenzen. Der Paradiesgarten, den der hortus conclusus nachbildet, dokumentiert durch seine Grenzziehung die scharfe Trennung zwischen Welt und Heil. Innerhalb von Klostermauern oder in andächtiger Versenkung eröffnet der verschlossene Garten eine mittelalterliche Gegenwelt. Die hohen Mauern des Paradiesgartens schützen zugleich 47 Karahasan, Buch, 41. 48 Vgl. Krauss, Paradies, 9. 49 Vgl. die treffende Bemerkung Hemma Bonebergs: „Die archetypische Strahlkraft eines paradiesischen Gartens, in dem sich das liebliche und das Gute mit dem Nützlichen und Unvergänglichen vereint, wird wohl auch eine zukünftige globale Zivilreligion auratisch grundieren“ (Boneberg, Garten, 441). 50 Üblicherweise würde man hier eine andere Reihenfolge der Analyseschritte erwarten und könnte die Skepsis formulieren, eine Phänomenanalyse werde durch zuvor festgelegte historisch bedingte Analyseraster eingeengt. Wenn nun aber die Untersuchung der Kleingärten am Ende darauf zielt, durchsichtig zu machen, auf welche Traditionen und Wahrnehmungsmuster sich diese Gartenkultur bezieht, ist es angemessen, dies von Beginn an transparent zu machen.

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Das Vokabular des Gartens

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alle die Geschöpfe, die von der aushäusigen Umwelt bedroht sind. Das starke hierarchische Denken des Mittelalters schlägt sich immer wieder in Grenzziehungen räumlicher Art nieder, man denke nur an die Funktion des Lettners.51 Als Sache des Rechts erweist sich die machtvoll gesetzte Grenze ebenfalls. Nach römischer Tradition trennte die Grenze benachbarte Grundstücke. Unterschieden werden die Begriffe finis, die Grenze eines Gebiets, zugleich äußerster Teil dieses Gebiets und limes, ein Grenzweg, der zwischen zwei Grundstücken verläuft.52 Die Wahrung der Grenze ist fundamental für private Rechtssicherheit. So wurde den Grenzsteinen in römischer Zeit, keineswegs unüblich, sakrale Geltung zugesprochen. So feierte man sogar das Fest der „Grenzsteine“, der Termalien.53 Mit der frühneuzeitlichen Ausbildung privater Gärten wurde an diese Tradition des Gartens als garantiertem Rechtsraum wieder angeknüpft. Dabei kam der Grenze des Gartens zunächst die Funktion des Schutzes vor Einbruch, einfallenden Tieren oder Fremden zu. Gerade kleinere Gärten außerhalb der Stadtmauern bedurften dieses Schutzes in besonderer Weise. Interessanter freilich wird die zunehmend symbolische Grenzziehung zwischen Garten und Umwelt, die im 16. Jahrhundert in Italien einsetzt und das mittelalterliche Konzept des hortus conclusus revolutioniert. Mit der Renaissance werden wieder antike Gartentraditionen lebendig, die den Garten zum Ort der Kommunikation und der bukolischen Naturerfahrung machen. Nicht länger geht der Blick nach innen, sondern nach außen. Gärten, wie die der der Medicis werden auf Anhöhen angelegt, die Öffnung von begrenzenden Mauern macht Panoramablicke möglich.54 Eingebunden in die zeittypische Landhauskultur entfaltet sich vor den Toren der Stadt ein gesellschaftlicher Austausch in bewusst herbeigeführter Halböffentlichkeit. Die Grenzen des Gartens werden jetzt sogar begehbar. Zugleich experimentiert man mit Blickachsen, die das Auge des Gartenbesuchers über den Garten hinaus in die Landschaft lenken. Gegenpol zu dieser Öffnung des Gartens ist in Wiederaufnahme der mittelalterlichen Tradition der hortus conclusus als Garten im Garten. Mit dem „giardino segreto“, dem geheimen Garten, entsteht inmitten des neu geschaffenen Kommunikationsraumes ein Ort der abgestuften Öffentlichkeit, ein Raum der Privatsphäre, typisch für den zu beobachtenden Individualisierungsschub der städtisch geprägten Renaissance.55 Dieser abgeschlossene Garten, in der englischen Gartenarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts noch einmal dezi51 Aber bereits die Motivgeschichte des locus amoenus zeigt, dass hinter verschlossenen Mauern auch Weltliches verborgen bleiben will. 52 Vgl. Scattola, Grenze, 37 ff. 53 Vgl. ebd., 40. 54 Erstmals findet sich dieses gartenarchitektonische Konzept, dass Leon Battista Albertis Traktat De re aedificatoria von 1485 aufgreift bei der Villa Medici in Rom, vgl. Wimmer, Geschichte, 456. 55 Vgl. Küster, Gärten, 137.

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diert aufgegriffen, wird zum Ort der geheimen Treffen und des zurückgezogenen Lebens.56 Zurück zur Weitung des Blickes: Dieser bestimmt ganz wesentlich die hortikulturellen Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Gartenarchitektur des absolutistischen Herrschers bedient sich der Zentralachse, die den Blick und den Gang in die Weite lenkt, um eine Herrschaftsgeste zu kommunizieren. Zeigt sich im Garten von Versailles die „gute“ Ordnung des Königs, so greift dieser Garten zugleich auf die umliegenden Park- und Landschaftsräume über, dokumentiert die Grenzenlosigkeit königlicher Macht. Dieser „Übergriff“ des Gartens zeigt sich in Deutschland mit Beginn des 18. Jahrhunderts, wie Cornelia Jöchner am Beispiel von Kassel eindrucksvoll gezeigt hat.57 Hier findet also eine im Vergleich mit dem hortus conclusus umgekehrte Perspektivik statt. Der Garten wird wiederum zum Ort unendlicher Blicke, aber nun eben nach außen. Das Konzept des englischen Landschaftsgartens greift den Wunsch nach dem unendlichen Blick auf, demokratisiert ihn aber und wird so zum Auslöser einer Naturbewegung, die durch Rousseau vermittelt für das Naturverständnis des frühen 19. Jahrhunderts prägend wird.58 Dieser Gartenblick ist natürlich und künstlich zugleich. Er passt sich dem Gelände an, will es nicht länger umformen, sondern den Eindruck ursprünglicher Natürlichkeit erfahrbar machen. Dazu bedurfte es aber einer Verlegung der Gartengrenzen aus dem Blickfeld. Das Resultat sind die berühmten „ha-has“, nicht sichtbare Stützmauern in trocken gelegten Gräben.59 Diese schützten die Gartenanlage besonders vor wilden Tieren ohne als Gartengrenze sichtbar zu werden. Die Gartenbezäunungen des kleinflächigen Privatgartens, die massenhaft im 19. Jahrhundert angelegt wurden, haben in ihrer Zeit das ästhetische Anliegen einer neuen Natürlichkeit und Weite mit dem gestiegenen Bedürfnis nach Privatsphäre verbunden. Der Bretterzaun, blickdicht oder besser noch mit Öffnungen für den Blick nach draußen, ersetzte zunehmend auch aus Kostengründen steinerne Mauern oder kunstvoll angelegte Hecken.60 So fasst der bürgerliche Gartenzaun jahrhundertelange gartenarchitektonische Entwicklungen zusammen: Die Grenze „umfriedet“ einen ausgewählten Bereich, macht ihn für andere als fremdes Eigentum kenntlich. Diese Grenzziehung soll aber zugleich den Gartenblick transzendieren, über sich hinausweisen. Schließlich ist der Gartenzaun nur mehr eine symbolische Grenze, eine, die den Gartennutzern soziale Interaktionen ermöglicht.

56 57 58 59 60

Vgl. Pizzoni, Kunst, 30. Jöchner, Stadt, 264 ff. Vgl. Böhme/Böhme, Vernunft, 45 ff. Vgl. Willis, Landscape, 19 ff. Vgl. Dülmen, Paradies, 59 ff.

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Das Vokabular des Gartens

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Wasser Grundlegende Voraussetzung für den dauerhaften Erhalt eines Gartens ist die ständige Verfügbarkeit von Wasser. Die Anlage eines Gartens ist davon elementar abhängig, insbesondere dann, wenn exotische Pflanzen besonders viel Wasser benötigen. Gerade dort, wo klimatisch bedingt nur wenig oder gar kein regelmäßiger Wasserfluss zur Verfügung steht, wird der Brunnen seit jeher zum wichtigsten Wasserspender. Religiöse Traditionen, wie etwa im Judentum und im Islam, an deren Anfang Überlieferungen des Lebens in der Wüste stehen, erkennen im fließenden Wasser einen Ausdruck göttlicher Zuwendung und Lebensspendung.61 Das fließende Wasser, oft genug auch als lebenszerstörend erfahren, wird im Kontext des Gartens zum Vorbild paradiesischer Fülle. Die Idee der im Gartenzentrum entspringenden Paradiesströme ist persischen Ursprungs62 und pflanzt sich in alttestamentlicher63 und islamischer Tradition fort, wie besonders die Sure 83,25 – 28 eindrucksvoll belegt. Typisch für die islamische Gartenarchitektur ist die daraus resultierende Vierteilung des Gartens, Symbol für Himmelsrichtungen und Elemente. Der islamische Typus des „Caharbagh“64, Vorbild auch für die karolingischen Gartenanlagen, wird dann im Spätmittelalter über die maurische Gartenkultur weiter rezipiert.65 Überall dort, wo der Zusammenhang zwischen Wüstenerfahrung und Wasser lebendig bleibt, lassen sich vielfältige Symbolisierungsleistungen dieses Lebenserhalts feststellen, so in der mitunter kunstvollen Ausgestaltung der Brunnen. Daneben gibt es eine zweite, nicht weniger prägende Wassertradition im europäischen Garten, nämlich die römische. Insbesondere für die Renaissancegärten wird sie zum wichtigsten Vorbild. Typisch ist hier das ruhende Wasser, umschlossen in einem schmalen Becken, dem Euripus. Dieser ist Teil einer Gartenanlage, die das Wasser ästhetisierend als Raumordner und Größenverstärker einsetzt.66 Daneben hat das Wasser aber noch eine weitere Funktion. Sie erschließt sich über den soziokulturellen Kontext römischer Gartenkultur. Zumeist am Stadtrand angelegt, gestaltet sich im Übergang von häuslicher Sphäre und gestalteter Natur die Vorstellung, die ursprünglich wild und bedrohlich erfahrene Natur, besonders natürlich das Meer, im eigenen Garten unterworfen zu haben. So gelingt es etwa, in den Wasserbecken Meeresfische zu züchten. Die Gartennatur wird zum „nobile servitium“67 und der Garten zum Königreich im Kleinen. Das politisch desillusionierte römi-

61 62 63 64 65 66 67

Vgl. etwa Jes 58,11. Vgl. Margueron, Gärten, 45. Vgl. wiederum Gen 2,10 ff. Vgl. Wescoat, Wasser, 109 ff. Dies vermutet zu Recht Pizzoni, a. a. O., 14 ff. Salza Prina Ricotti, Importance, 135 ff. Meier, Garten, 98.

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sche Bürgertum der Kaiserzeit greift eine aus hellenistischer Zeit bekannte Herrschaftsgeste auf und macht die Natur zum ersten Untertanen.68 Repräsentative Funktion kommt dem Wasser in der europäischen Gartengeschichte immer wieder in herrschaftlichen Gartenanlagen zu. Sei es als Ausdruck schierer Größe und Pracht einzelner Wasserstraßen, Bassins oder Kanäle wie im französischen Barock oder den niederländischen Gartenanlagen des Manierismus, dort mit dem Vorzeigen neuer technischer Möglichkeiten der Hydraulik verbunden. Wasser macht im Garten oftmals die natürliche Ambivalenz von Bewegung und Statik sichtbar, so in den Wasserketten des römischen Manierismus.69 Der Springbrunnen, bereits römischen Ursprungs, Sinnbild einer „verkehrten“ Natur, verknüpft Herrschaftsgeste und Gartendynamik. Dass dieser sich im bürgerlichen Garten des 19. Jahrhunderts zu behaupten wusste, hängt wohl, wie Andrea van Dülmen zu Recht vermutet, mit der Vorliebe der Romantik für das geheimnisvolle Fließen des Wassers zusammen, das sich in das Bild eines lieblich-paradiesischen Rückzugsort einfügen ließ.70 Zugleich lässt sich immer wieder entgegen dieser Monumentalität öffentlicher Wassergärten der Hang zur Miniaturisierung feststellen. Mit Hilfe von Bassins oder Teichen, bei Rousseau immerhin Ausdruck neuer Natürlichkeit, wird vielmehr bewusst auf eine symbolische Repräsentanz ausgelagerter Natur angespielt, sei es in der Anlage und Verwendung von Nymphen und Grotten, der Gestaltung von Meeresmotivik oder dem Hinweis auf die bukolische Idylle des Goldenen Zeitalters. In dieser Traditionslinie steht dann auch die gegenwärtig zu beobachtende Vorliebe für Gartenteiche. Pflanzen Kaum etwas ist im mittelalterlichen Garten so stark symbolisch aufgeladen wie die einzelne Pflanze. Wie das Frankfurter Paradiesgärtlein zeigte, sind Name, Aussehen und Funktion einzelner Blumen, Sträucher oder Bäume in religiöse Verweissysteme integriert. Natürlich gab es, wie der St. Gallener Klosterplan ja zeigt, neben dem hortus conclusus auch immer Nutzgärten. Aber selbst diese waren festen Ordnungsmustern unterworfen. Dass sich daraus ein aus reinem Ertragskalkül gestalteter Nutzgarten entwickelte, der viele Gärten vollständig überformte, liegt auf der Hand. Interessanter ist aber nun wiederum, wie Pflanzen innerhalb des Symbolsystems Garten begriffen wurden – und, was sie über die religiöse Grundierung der Naturerfahrung im Garten aussagen können. Überall dort, wo sich Bepflanzungen aus überwiegend ästhetischen Gründen im Garten durchsetzen, fällt auf, dass sie bis ins 18. Jahrhundert hinein wesentlich die Ordnungen des Gartens Gestalt gewinnen lassen. Ob nun 68 Vgl. ebd., 103. 69 Vgl. Pizzoni, Kunst, 54 ff. 70 Dülmen, Paradies, 66.

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Das Vokabular des Gartens

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in Form aufwändiger Ornamentik, gestalteter Wege, geometrisch angelegter Beete oder im Nachahmen natürlicher Formen, immer tragen die Bepflanzungen zur Künstlichkeit des Gartens bei.71 Gartenarbeit Die Bedeutung, die der Garten in der mittelalterlichen Kultur erhält, spiegelt sich in der Reflexion eines sinnvollen, adäquaten Tuns darin. Von entscheidender Bedeutung für die klösterliche Gartenanlage war der Kontakt zu Gott. In Aufnahme des Ordo-Gedankens sah man im hortus conclusus ein Abbild der geordneten und vollkommenen Schöpfung Gottes.72 So diente dieser Ort der reinen Kontemplation, war Ausdruck der vom Alltag losgelösten vita passiva. Die symbolischen Ordnungsmuster dienten zur Veranschaulichung dieser Vorstellung und leiteten zu einer Durchdringung jener Vorstellung an. Freilich gab es neben und vor diesem Gartenmodell immer auch den lebenspraktischen Umgang mit dem Garten. Anlage und Pflege einer Gartenanlage machte zu allen Zeiten einen wesentlichen Aspekt gärtnerischen Handelns aus. Freilich ist solches Tun in diesem Zusammenhang nur dort weiter erwähnenswert, wo es sich in den Kontext symbolischer Ordnungen fügt. Dies kommt etwa in der Freude und Zufriedenheit an gärtnerischer Arbeit zum Ausdruck, die durch die Rezeption von Vergils Georgica ein Idealbild der „vita activa“ bereithielt. Bereits in Parallelität zum hortus conclusus entstanden Gärten, die sich die Abgeschiedenheit der Anlage für „sinnliche Vergnügungen“ zu Nutze machten. In Gärten wurde gegessen und getrunken, wurden (und werden) Feste gefeiert, Gespräche geführt kleinere Spaziergänge durchgeführt. Freilich gab es auch in nachmittelalterlicher Zeit eine Weiterführung jener Gartenhandlungen, die in direkter Beziehung zur symbolischen Ordnung des Gartens standen. Diesen folgt nun die weitere Darstellung. Wesentliche Impulse gingen hierbei von den gartentheoretischen Abhandlungen des Humanismus aus. Hierfür ist zunächst Erasmus von Rotterdam zu nennen. In seiner 1522 publizierten Schrift Convivium religiosum vollzieht er den geistesgeschichtlich hoch bedeutsamen Übergang vom mittelalterlichen hortus conclusus klösterlicher Prägung zum Renaissancegarten christlicher Prägung. Erasmus beschreibt ein Gartenideal, das sich an die römische Gartenarchitektur anlehnt und durch seine symbolische Ordnung dem Gartennutzer hilft, zu einer Gotteserkenntnis zu gelangen.73 Dabei dient der Garten dazu, dass sich das einzelne Individuum seiner Stellung vor Gott bewusst wird. So sind dem Garten des Erasmus dann auch konsequenterweise biblische Mahnworte beigefügt, die denjenigen, der die Anlage betritt, auf diesen Zusammenhang hinweisen wollen.74 71 72 73 74

Vgl. Wimmer, Geschichte, 464 f. Vgl. Pizzoni, Kunst, 10. Vgl. Wimmer, Geschichte, 48. Erasmus von Rotterdam, Convivium, 24 ff.

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Einleitung

Den Schritt zum Garten als exemplarischem Ort der Einübung in Vernunft und Tugend vollzieht dann Justus Lipsius in seiner 1584 veröffentlichten Schrift De Constantia. Dies geschieht in einer Verbindung aus christlicher und neostoischer Ethik.75 So versucht Lipsius zu zeigen, wie sehr die genaue Kenntnis natürlicher Ordnungen des Gartens zum Beleg einer inneren Ordnung Gottes guter Schöpfung dienen kann. Und gerade diese Kenntnis führe dann zu einem vernünftig-tugendsamen Leben des Gelehrten.76 Damit verbunden ist die für die reformiert geprägten Niederlande typische Auffassung einer Erweiterung göttlicher Offenbarung auf das „Buch der Natur“.77 Dieser Analogieschluss zwischen göttlicher Vollkommenheit und Sittlichkeit des Betrachters wird dann, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, zum Gegenstand sinnlicher Erfahrung. Gegen eine zur reinen Künstlichkeit erhobene Gartenkultur des französischen Barock, in der die Gartenanlage zur Bühne feudaler Spiele wird und die Gartennatur die Herrschaft des Menschen über die Natur auszudrücken hat, entwickelt sich der Typus des englischen Landschaftsgartens heraus. Zwei Impulse gehen von diesem Modell aus. Zum einen wiederholt sich bei Shaftesbury der bereits im Humanismus formulierte Zusammenhang zwischen göttlicher Vollkommenheit und menschlicher Tugend. Nun aber vollzieht sich diese neoplatonische Analogiebildung auf dem Boden des aufkommenden Empirismus Locke’scher Prägung. In seiner auch in Kontinentaleuropa stark rezipierten Schrift The Moralists von 1709 benennt Shaftesbury als Ziel des Menschen die Nachahmung der Perspektive Gottes als Schöpfer aller Dinge. Weil laut Shaftesbury Gott der Schöpfer einer wohlgeordneten Welt ist, so müsse zwangsläufig diese Idee von Ordnung dem Menschen selbst eingegeben sein und ihn dann mittels äußerer Erfahrungen von Naturordnung zu einem geordneten Lebenswandel und damit zu eigenen Erfahrungen von Tugend verhelfen.78 Neben Shaftesbury gewinnt ein zweiter Impuls für die Gartenkultur des 18. und dann vor allem 19. Jahrhunderts überragende Bedeutung: das Programm Jean-Jaques Rousseaus. Seine Kritik an der Künstlichkeit damaliger Gartenanlagen beruhte nicht allein auf der sozialen Symbolkraft französischer Herrschergärten, sondern auch in seinem leidenschaftlich vorgetragenen Weg zurück zu einer als real erlebbaren Natur. Ausgeführt in seinem Briefroman 75 „Woher haben wir die Lehre von guten Sitten/ als aus der Schattichten Academia? Vnd aus den Gärten sein die vollen quellen der Weisheit heraus geflossen/ daruon wir noch jetzt trincken/ vnd die mit jhrem fruchtbarem Vberguß die gantze Welt vberschwemmet haben. Denn das Gemüt kan sich viel mehr vnd besser zu den hohen Sachen erheben vnd auffrichten/ wann es frey vngebunden seinen Himmel ansihet: als wann es in dem Gefengnis der Heuser oder der Stadt beschlossen ist. In den Gärten solt jhr Poeten ewre Vers machen/ sollen sie anders künfftiger zeit vnd nach ewrem Todt gelesen werden. In den Gärten solt jhr Gelehrten meditiren vnd schreiben. In den Gärten solt jhr Philosophi von der Ruhe/ von der Bestendigkeit/ vom Leben vnd Todt disputieren“ (zitiert nach Wimmer, Geschichte, 66). 76 Vgl. hierzu auch Lauterbach, Gärten, 106 ff. 77 Wiederum Blumenberg, Lesbarkeit, 68 ff. 78 Shaftesbury, Moralists, 107 f.

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Paradiesgärten in der Moderne

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Julie oder die neue Heloise tritt Rousseau für einen neuen Umgang mit der Natur des Gartens ein, der vom sinnlichen Erleben des Einfachen geprägt ist.79 So sehr Rousseau damit auch für die natürliche Gestaltung des Gartens eintrat und einen ausgewogenen Umgang mit den natürlichen Ressourcen jener Orte forderte, so erklärt sich sein großer Einfluß auf die bürgerliche Gartenkultur aus dem utopischen Ziel realer Gärten. Sie werden zu Gegenräumen sozialer wie städtebaulicher Realität. Natürlichkeit steht demnach für die Kritik an staatlicher Bevormundung, an Enge, städtischer Kultur und Eingriffen in gewachsene Ökosysteme. Folgendes lässt sich zusammenfassen: Das 18. und weiterhin auch das frühe 19. Jahrhundert erleben eine Blüte europäischer Gartenkultur unter dem Vorzeichen weiterer Individualisierung. Reale Gärten werden zu Mustern ersehnter Naturräume und das in die Kultur tief eingeprägte Symbol des Paradies-Gartens wird weiter transformiert. Nun sind Gärten immer auch an nüchtern abzuwägende ökonomische Mittel gebunden. Die Sehnsucht nach einem Paradies im Garten setzt den Besitz eines realen Gartens eben zwingend voraus. So sind die Gärten des Mittelalters und der frühen Neuzeit immer herrschaftliche Gärten gewesen, die Gärten der Aufklärungsepoche bestenfalls Naturräume des Bürgertums. Dort, wo sich Gärten eng an eine bäuerliche Kultur anlehnen, zielen sie dagegen immer zuerst auf den reinen Versorgungsaspekt ihrer Nutzer.

1.3 Paradiesgärten in der Moderne Wie also verändert sich die Rezeption ebenjenes Zentralsymbols für den Garten, die Vorstellung vom Paradies, angesichts solcher Lebensverhältnisse, die denkbar weit von einer „müßigen“ Gestaltung und Nutzung ihres Gartenraums entfernt leben? Ist die Einschätzung richtig: „Die Erinnerung an den Urgarten des Paradieses, in dem Menschen und Tiere friedlich miteinander lebten […] ist heute erloschen“80 oder verläuft die Erinnerung an einen solchen Sehnsuchtsraum weiter, vielleicht transformiert oder gar miniaturisiert? Einen bemerkenswerten Einblick gewährt in diesem Zusammenhang die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts massenhafte Verbreitung des auf den englischen Botaniker Nathaniel Bagshaw Ward zurückgehenden „Wardian Case“, ein aus Glas und Metall gefertigtes Pflanzenterrarium. Ward, 1791 in London geboren, nahm die sich ausbreitende industrielle Revolution im England seiner Zeit genau wahr. Durch die vielfältigen Formen von Umweltverschmutzung, man denke an die Folgen der rücksichtslos betriebenen Kohlegewinnung, stellte Ward fest, wie sehr das Wachstum vieler Pflanzen unter diesen neuen Verhältnissen litt. Zunächst als Aufbewahrungsmöglichkeit zum 79 Vgl. Rousseau, Julie, 505. 80 Steingräber, Erinnerungen, 264.

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Der Kleingarten als Garten der Moderne

Transport seltener Pflanzen konzipiert, erwies sich der Wardian Case sehr bald als Möglichkeit, die Pflanzen in diesem geschützten Raum zu neuem Wachstum zu bringen.81 Angesichts der drangvollen Enge, die in vielen Londoner Mietshäusern herrschte, wurde das Terrarium von Ward schnell zu einem überaus erfolgreichen Miniaturgarten auf der Fensterbank.82 Ward sah in der Welt der Pflanzenbeobachtung und Aufzucht im Kleinen gar die Möglichkeit einer „hortikulturellen Therapie“ und verband diese mit der Hoffnung, die Nutzer seines Kastens könnten angesichts ihrer Lebensumstände nun den wohl nur mehr verborgen wahrzunehmenden Zusammenhang zwischen Gartenkunst und religiöser Naturerfahrung neu erlernen.83

2. Der Kleingarten als exemplarischer Garten der Moderne Aber auch außerhalb jener Zimmergärten bietet der Anbruch des industriellen Zeitalters einen wichtigen Hinweis auf die Transformation früherer Gartenideale angesichts veränderter realer Lebensverhältnisse. Dort, wo nun neue Gartenkulturen entstehen, sind in ihnen oftmals modernetypische Sehnsuchtsreflexe nur mehr verborgen sichtbar. So zeigt sich am Ende dieses ersten Untersuchungsdurchlaufs ein fast paradoxes Bild: Zum einen sind Gartenerfahrungen wie die Analyse repräsentativer Alltagsdokumente, also der Gartenzeitschriften, ergab, gegenwärtig allein schon durch ihren Rekurs auf das „Sprachbild“ des Paradieses religiös aufgeladen, zum anderen scheint ebenjene Gartenerfahrung, die tief mit den Bedürfnissen realer Lebensvollzüge verbunden ist, gerade diese Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimension nicht oder nur sehr unscheinbar aufzuweisen. Im Zuge einer genaueren Analyse gegenwärtig gelebter Religion steht die weitere Untersuchung im Zeichen eines Gartentypus, der gleichsam als Gegenbild des Sehnsuchtsortes Garten entworfen wurde, der moderntypisch als Kind des technischen Zeitalters gilt84 und dessen Nutzer schon seit dem 19. Jahrhundert die denkbar größte Distanz zu traditionellen Formen von Kirchlichkeit pflegen. Die Rede ist vom Kleingarten.85 Seine Wahl als hervorgehobener Forschungsgegenstand 81 Vgl. Ward, On, 207 f sowie ebenfalls Loudon, Growing, 162 f. 82 Vgl. Wimmer, Geschichte, 290 f. 83 „There is no possible no study which leads the mind of the pursuer more directly to the „Author and Giver of all good things,“ and fills the heart of man with joy and thankfulness, than the study of that branch of Natural History which comprehends the vegetable kingdom.“ (Ward, On, 62). 84 Anders als der Gartentheoretiker Willy Lange traten Leberecht Migge und Harry Maaß, beide maßgeblich für das deutsche Gartenwesen in der Zeit von Kaiserreich und Weimarer Republik, vehement im Rahmen ihrer funktionalen Gartentheorie für Volks- und Kleingärten ein und schufen damit wesentliche Voraussetzungen für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz dieser Gartenkultur der „Kleinen Leute“, vgl. Migge, Gartenkultur, 7 ff. 85 Kleingärten entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Nachfolger sog. Armengärten, die den Besitzlosen ein Minimum landwirtschaftlicher Eigenversorgung in den Städten ga-

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Der Kleingarten als Garten der Moderne

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im Kontext dieser Studie über religiös aufgeladene Naturerfahrungen im Naturraum Garten lässt folgende Gewinne erwarten: Der sozio-kulturelle Ort des Kleingartens ist eng mit seinen Entstehungsverhältnissen zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbunden. Das macht ihn für die vorliegende Untersuchung besonders wertvoll. Bis in die Gegenwart hinein verbinden sich mit der sog. Schrebergartenkultur Formen dort entstandener Lebens- und damit Naturdeutung. Der Kleingarten gewinnt damit als „Laboratorium der Moderne“ exemplarischen Charakter als Gartentypus heutiger, zugleich historisch vermittelter Naturräume.86 Historisch geht dieses Konzept auf die Ideen des Leipziger Arztes Daniel Gottlob Moritz Schreber zurück, der stark von Rousseau inspiriert war.87 Die Gartennutzung war in ein erzieherisches Gesamtkonzept von Körperertüchtigung, Kinderbewegung und Festkultur eingebettet, dass der „Versöhnung des Kulturlebens mit der menschlichen Natur“ dienen sollte88 und den Rousseauschen Leitgedanken eines „Zurück zur Natur“ massentauglich umsetzte. Der Kleingarten diente auch in der Folgezeit nicht allein der Versorgung mit Lebensmitteln, sondern blieb ein religiös aufgeladener Ort einer bewusst erlebten Gegenwelt, wie etwa bei der deutschen Lebensreformbewegung, deren Gartennutzung überraschend viele konzeptionelle Gemeinsamkeiten mit dem zionistischen Kibbuzzimprogramm aufweisen.89 Kein vergleichbares Gartenkonzept ist bei ähnlicher Verbreitung90 so reglementiert und damit entsprechend gut zu untersuchen. Das Bundesklein-

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90

rantieren sollten und dies hing eng mit der sozialen Situation der Arbeiterschaft im deutschen Kaiserreich zusammen. Infolge akuter Wohnungsnot arbeitssuchender Städter und einer sozialen Verelendung in innerstädtischen Wohnquartieren suchten viele Menschen einen agrarischen Rückzugsraum, der Versorgung und Erholung für wenig Geld ermöglichen sollte. Die Suche nach billigem Pachtland, von den städtischen Kommunen in der Regel mit Argwohn und wenig Entgegenkommen begleitet, führte fast immer an die städtische Peripherie, besonders typisch sind Freiflächen neben Eisenbahnanlagen. Einen guten Überblick über diese Entstehungsbedingungen des deutschen Kleingartenwesens gibt Warnecke, Laube, 11 ff. Warnecke hebt einen weiteren wichtigen Grund für die Ausbreitung des Kleingartenwesens in der Hochzeit der frühen Industrialisierung hervor : den Paternalismus. Fabrikbesitzer banden Arbeiter dauerhaft an ihre Firma, wenn sie ihnen neben Werkswohnungen auch Pachtgärten zur Verfügung stellten und damit ganz wesentlich auch die Arbeitskraft ihrer Belegschaft erhielten (vgl. ebd., 41). So besonders eindrucksvoll von Jensen, Kleingarten, 316ff vorgeführt. Vgl. Steins, Inseln, 96 ff. Steins, Inseln, 99. Vgl. Warnecke, Laube, 33. Der Kleingarten als Sehnsuchtsort wird auch in der Metapher der „Kolonie“ lesbar : Es geht um gemeinsame Aufbrüche ins Unbekannte, Neue und ein Leben an einem neuen Ort. In Berliner Kleingartenkolonien hat sich hierzu ein Kuriosum erhalten. Dortige Kleingartenanlagen besitzen bis heute reale Kolonienamen, die auf die Zeit des deutschen Imperialismus in Afrika zurückgehen („Togo“), vgl. ebd., 25. Die Zahl der in Deutschland gepachteten Kleingärten liegt gegenwärtig bei ca. 1,3 Millionen, entsprechend dürften ca. 2,5 Millionen aktive Kleingärtner diese Gärten bewirtschaften, vgl. dazu Bundesministerium, Bedeutung, 7.

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Der Kleingarten als Garten der Moderne

gartengesetz vom 28. Februar 1983, dass den Ordnungsrahmen für jede lokale Gartenordnung abgibt, definiert den Kleingarten als einen Garten, „der 1. dem Nutzer (Kleingärtner) zur nichterwerbsmäßigen gärtnerischen Nutzung, insbesondere zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf, und zur Erholung dient (kleingärtnerische Nutzung) und 2. in einer Anlage liegt, in der mehrere Einzelgärten mit gemeinschaftlichen Einrichtungen, zum Beispiel Wegen, Spielflächen und Vereinshäusern, zusammengefasst sind (Kleingartenanlage).“91

Gerade weil sich in der Anlage bzw. Nutzung eines Gartens immer die höchst individuellen Ausrichtungen und Interessen, also gleichsam der kultursoziologische Standort manifestiert, verspricht eine Untersuchung mittels Kleingärten eine sonst nicht anzutreffende Homogenität der Gartenprofile, die es ermöglicht, die Unterschiede in Gartenanlage und Gartennutzung genauer als sonst vor diesem Hintergrund zu beleuchten. Da der einzelne Kleingarten immer in Verbindung zu einer Kleingartenanlage bzw. einem Verein steht, verspricht die Analyse dieses Gartentyps wichtige Erkenntnisse über die Verschränkung von Naturerfahrungen mit Formen sozialer Interaktion. Als Folge der Verrechtlichung und der historischen Begleitumstände sind Kleingärten in hohem Maße sozialkommunikativ. Gartenkonzepte prallen aufeinander, bedingen und beeinflussen sich, Gartennutzer interagieren. Insbesondere für die Frage nach einer angemessenen methodischen Bearbeitung erweist sich dies als hilfreich. Schließlich gilt innerhalb der Gartenforschung das Kleingartenwesen als besonders gut erforscht. Gerade in den letzten Jahren seit Gründung eines deutschen Kleingartenmuseums in Leipzig und infolge sinkender Pächterzahlen versteht sich die Vereinsforschung auch als Selbstvergewisserung und Stabilisierung bestehender Vereinsstrukturen.92 Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang jene Studien, die mit den Methoden qualitativer Sozialforschung arbeiten, hier ist vor allem die Arbeit von Sabine Verk zu nennen.93 Verks volkskundliche Studie gibt Auskunft über Gartenkonzepte Münsteraner Kleingartensiedlungen und ihrer Pächter und gewinnt diese anhand von Interviews, Fragebögen, Vereinsdokumenten und Archivmaterialien. Verks Untersuchung macht zudem deutlich, wie wichtig die Beachtung regionaler Unterschiede bei der Kleingartenanalyse ist. So ist es kein Zufall, dass die wesentlichen Forschungsbeiträge von Ingrid Matthäi und Hartwig Stein jeweils ein städtisches Ballungszentrum in Deutschland und mit diesem eine eigene Kleingartenkultur in den Mittelpunkt stellen, nämlich Berlin und Hamburg.94 Praktisch-theologisch verbindet sich nun mit der Wahl des Gartentypus 91 92 93 94

Zitiert nach § 1 Bundeskleingartengesetz (=BkleinG) zuletzt geändert am 13. 9. 2001. Zur Einbettung in die Vereinsforschung vgl. Matthäi, Inseln, 18 ff. Verk, Laubenleben. Einen exzellenten Überblick über die Kleingartengeschichte der DDR gibt Dietrich, Hammer.

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Die Wahl der Methode

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Kleingarten die Hoffnung, in der Analyse dort anzutreffender Formen religiös aufgeladener Naturerfahrungen einen weiteren Beitrag zur Ausleuchtung gegenwärtiger gelebter Religion beizutragen. Ausgehend von der bisherigen Untersuchung des „Zentralsymbols“ Paradies wird also gefragt, wie dieses sich in Kleingartenkulturen transformiert und Naturerfahrungen religiös auflädt. Genauer soll die weitere Untersuchung klären, wo sich kulturelle Kontinuitäten zu anderen, früher entwickelten Gartenformen und den in ihnen angelegten Naturerfahrungen verbergen, wo es deutliche Neustrukturierungen gibt und wie sich der Zwang zum Realen, der Kleingärten ja von Beginn an bestimmt, auf die freie Wahl zum Gegenort auswirkt.

2.1 Die Wahl der Methode Will man nun eine solche Analysearbeit empirisch durchführen, so begibt man sich, wenn die Lebenswelt der Kleingartennutzer in ihrer Multitextualität selbst zu Wort kommen soll, auf das Feld der Religionsethnologie, ein „multimethodisches Verfahren der Beschreibung und Analyse […] religiöser Lebenswelten aus der Binnenperspektive […], das sich durch Beobachtung, Interviews, aber auch audiovisuelle Aufzeichnungen und Dokumentensammlungen auszeichnet.“95

Entsprechend dem Anliegen einer methodisch kontrollierten Erkundung gegenwärtiger Formen gelebter Religion ist es also entscheidend, den Analysehorizont von der reinen Interviewsituation zu lösen und auf die Vielfalt lebensweltlich ausgerichteter Religionsethnologie hin zu erweitern.96 Damit sind folgende methodische Grundentscheidungen zu treffen: Zum einen ist die Feldforschung als zentrale Methode jeder Religionsethnologie immer an eine konkrete Datenerhebung im Feld selbst gebunden. Empirische Arbeit gründet sich hier also auf eine „leibhaftige“, vom Forschersubjekt nicht unabhängige Analyse, die in der Regel dabei auch qualitative und quantitative Verfahren kombiniert und sie forschungspragmatisch auf ihren jeweiligen Nutzen für das vorliegende Erkenntnisziel hin befragt.97 Zum anderen weist 95 Knoblauch, Religionsforschung, 12 f. Knoblauch selbst benennt das Interesse seiner Disziplin an der theologischen Deutung von Formen gelebter Religion (ebd., 24 f), macht es sich aber mit der genaueren Bestimmung eines tragfähigen Religionsbegriffs zu einfach, wenn er schlicht von jeweils dem ausgeht, was als Selbstdefinition von den Teilnehmern des „Feldes“ ausgewiesen wird (ebd., 14). Hierin zeigt sich die Grenze eines „neutralen“ Religionsethnologen. 96 Von einer sozialwissenschaftlich arbeitenden Religionsforschung kann seit den 1930er Jahren gesprochen werden, vgl. dazu die bahnbrechende Arbeit der sog. „Middletown-Studie“ von Lynd u. Lynd, von 1929/1937 (Lynd/Lynd, Middletown). Noch einmal Knoblauch: Für ihn ist anders als im deutschsprachigen Kontext die Ethnologie gar die „Mutter der qualitativen Methode“ (Knoblauch, Religionsforschung, 28). 97 Vgl. Beer, Feldforschuungsmethoden, 12.

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Der Kleingarten als Garten der Moderne

die Feldforschung über einen rein induktiven oder andererseits deduktiven Erkenntnisfortschritt hinaus. Wohl arbeitet sie, ausgehend von empirischen Datenbeständen, mit dem Ziel einer Verallgemeinerungsmöglichkeit ihrer Erkenntnisse und untersucht andererseits die Transformation bestehender Symbole und Traditionen im Einzelfall, strenggenommen aber ist ihr Vorgehen am ehesten „zirkulärer Art“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen analytischer und interpretativer Ethnologie. Während letztere davon ausgeht, dass es keine Gegenstände an sich gibt, sondern ihre Realität allein durch entsprechende Bedeutungszuweisung als „symbolische Realität“ entsteht und dazu neigt, Forschungsergebnissen einen Einmaligkeitscharakter zuzusprechen, bemüht sich eine analytische Ethnologie primär um eine kontrollierbare, rezipierbare Methodik und stellt deshalb standardisierte, oftmals quantifizierende Verfahren in den Mittelpunkt ihres Forschungsdesigns. Grund dafür ist die generelle Annahme, menschliches Verhalten verdichte sich in generalisierbaren Verhaltensweisen, die sich in exemplarischen Verhaltensweisen manifestieren.98 Die weiteren methodischen Überlegungen nehmen bei der interpretativen Ethnologie ihren Ausgang, suchen aber nach vermittelnden Positionen, die beide Anliegen miteinander verbinden. Ziel einer lebensweltlich orientierten Erkundung gelebter Religion im Kleingartenkontext ist es, Bedeutungsstrukturen von sozialer Kommunikation und ihrer Settings herauszuarbeiten und sie in den „Naturdiskurs“ zu integrieren. Hierfür bietet sich unter den eingeführten und arrivierten Methoden der Religionsethnologie, die auch in der Theologie rezipierte Methode einer „Dichten Beschreibung“ an, die auf den Ethnologen Clifford Geertz zurückgeht.99 Seine am balinesischen Hahnenkampfritual klassisch durchgeführte Methode ist der interpretativen Ethnologie zuzurechnen und greift folgerichtig auch auf einen semiotischen Kulturbegriff zurück: „Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um die Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.“100

Geertz will also Symbolsysteme im Rahmen ihrer eigenen Bedingungen wahrnehmen und diese dann herausarbeiten. Erst sie eröffnen einen ad98 Vgl. dazu auch Stellrecht, Ethnologie, 34 f. 99 Geertz, Beschreibung, 7 ff. Um diese Methode zu kennzeichnen, wird von Dichter statt dichter Beschreibung gesprochen. 100 Ebd., 9.

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Die Wahl der Methode

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äquaten Zugang zu der Eigenlogik der untersuchten Subjekte.101 Ziel sind „Konstrukte zweiter Ordnung“102. Mit dem Vorhaben einer 1973 erstmals publizierten „Thick Description“ verbindet Geertz die an Gilbert Ryle anknüpfende besondere Anstrengung bei dem Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen mit dem Ziel einer „Freilegung eines in den Daten zum Ausdruck kommenden kulturellen ,Textes‘“103. So formuliert Geertz im Hinblick auf die Zielrichtung einer dichten Beschreibung: „Unsere Aufgabe ist eine doppelte: Sie besteht darin, Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen – das ,Gesagte‘ des sozialen Diskurses –, aufzudecken, und zum anderen ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln, das geeignet ist, die typischen Eigenschaften dieser Strukturen […] gegenüber anderen Determinanten menschlichen Verhaltens herauszustellen.“104

Wichtiger Bestandteil dieser genauen Lektüre der Textualitäten der Lebenswelt sind dabei, wie beschrieben, Symbole, die einerseits eine weitreichende Verknüpfung von Wahrnehmung und Bedeutung herstellen, andererseits entscheidende Informationen über den Sozialraum geben, in dem sie kommunikative Geltung besitzen, weil sie Fühlen und Denken ihrer Mitglieder beeinflussen. Die konkrete Durchführung der von Geertz vorgeführten Methode der Dichten Beschreibung steht vor dem Problem, dass Geertz selbst keine anwendungskonsistente Methodentechnik formuliert hat, die es ermöglichen, in fest formulierten Schritten vorzugehen.105 Dennoch finden sich in seinen Arbeiten vier wichtige, aufeinander aufbauende Merkmale dieser Methode, wie Stephan Wolff106 herausgearbeitet hat: Geertz setzt in der Regel bei einer übergreifenden Problemstellung ein, die sich aus Forschungsdiskursen oder allgemeinen Fragestellungen herleitet. Diese wird dann mit ethnologischem Material konfrontiert – und dies bei Geertz besonders typisch – mit Hilfe sog. „Schlüsselsituationen“, exemplarischer Fallgeschichten, wie dem bereits genannten Ritual des Hahnenkampfes auf Bali. In diesen lässt sich das soziale Feld mit dem Ziel verdichtet beschreiben, nicht die Gesamtheit aller Beziehungsmuster des Systems Kultur analysieren zu müssen. Allgemeinheit entsteht für Geertz dabei durch die Genauigkeit des beschriebenen Einzelnen.107 Diese erste Phase der Beschreibung geht einher mit der Etablierung ethnologischer Autorität. Der eigentli101 102 103 104 105 106 107

Ebd., 35. Koblauch, Religionsforschung, 33. Wolff, Anatomie, 344. Geertz, Beschreibung, 39. Vgl. Ziegler, Überlegungen, 54 f. Wolff, Anatomie, 345 ff. So Geertz, Beschreibung, 35. Genauigkeit entsteht für Geertz auch in der Schilderung exemplarischer Situationen und ihrer „anekdotenhaften“ Verbalisierung, vgl. ders., Spurenlesen, 78.

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Der Kleingarten als Garten der Moderne

che Erkenntnisfortschritt vollzieht sich im Laufe der weiteren Beschreibungsund Deutungstätigkeit in Folge weiterer „Anreicherungen“. Geertz überprüft seine Beobachtungen durch das Hinzuziehen weiteren Materials. Dieses bildet die Komplexität des jeweiligen Feldes ab. Eingehen können hier Dokumente, Listen, Chroniken, Interviews. Sie drängen sich dem Forschersubjekt oftmals vor Ort im Feld auf oder entspringen Forschungsdiskursen. Entscheidend ist dabei, dass sie selbst keine höhere Wertigkeit als die unmittelbaren Beobachtungen für sich beanspruchen sollen, sondern vielmehr die gefundenen Hypothesen in immer erneuten Anläufen validieren sollen. Dahinter verbirgt sich bei Geertz eine Nähe zum abduktiven Verfahren des Erkenntnisgewinns.108 Diese von dem Semiotiker C. S. Pierce erstmals genau beschriebene Modell der Bedingungen von Erkenntnismöglichkeiten basiert auf einem Schlussverfahren, bei dem eine probeweise eingeführte allgemeine Regel, die einen Sachverhalt in der Lage zu erklären ist, als vorläufig angemessene Regel anzusehen ist.109 Entscheidend bei Pierce ist die Frage, wie es zu dieser „neuen“ Regel, also dem eigentlichen Erkenntnisgewinn kommen kann. Man kann hier zusammenfassend von „Handlungsdruck“ oder „Tagträumerei“ sprechen, wie Jo Reichertz hervorhebt.110 Beides zusammen beschreibt damit Merkmale kreativen Denkens. So versteht Geertz das immer erneute Einspielen weiterer Beobachtungen und Dokumente als eben diesen kreativen Akt der immer genaueren Interpretation einer anfangs beschriebenen Schlüsselszene. Entscheidend ist – so noch einmal Reichartz – der Fluchtpunkt des abduktiven Schlusses, nämlich der Erkennntisnutzen.111 Bei aller Wertschätzung der innovativen Leistung dieses ethnologischen Verfahrens hat sich an Geertz’ Methode der Dichten Beschreibung auch Kritik entzündet. Diese konzentriert sich auf drei wesentliche Aspekte: Am Ende einer im Sinne Geertz’ angelegten Interpretation stellt sich unweigerlich die Frage nach ihrer Validität. Wie also kann es gelingen, gute von schlechten Interpretationen zu unterscheiden? Ohne den journalistischen Wert einer guten Reportage schmählern zu wollen, muss genau hier die Differenz zu einer wissenschaftlich verantworteten dichten Beschreibung deutlich werden.112 Weiterhin ist, wie bereits skizziert, die analytische Schärfe bei der Durchführung der Methode kritisiert worden.113 Schließlich hat das von Geertz beschriebene Vorgehen im Feld ihm den Vorwurf eingetragen, er schaffe mit dieser Methode gegenüber den dortigen Menschen intransparente Machtstrukturen.114 Geertz’ Methode der „Dichten Beschreibung“ soll nun wie folgt an das 108 109 110 111 112 113 114

Ziegler, Überlegungen, 56. Vgl. hierzu die knappe Darstellung in: Reichertz, Abduktion, 276 ff. Ebd., 283. Ebd., 284. Vgl. hierzu wiederum Wolff, Anatomie, 60 ff. So etwa bei Shankman, program, 261 ff. Zu dieser Debatte um Geertz vgl. zuletzt Gottowik, Kritik, 207 ff.

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vorliegende Untersuchungsphänomen angepasst werden: Die weitere Analyse unterscheidet grundlegend zwei Diskurs- bzw. Darstellungsebenen. Zum einen, gleichsam im Haupttext, geht es um das, was im Feld geschieht. Zum anderen, im Subtext, wird dies methodenkritisch begleitet und im Sinne stetiger Vergewisserung reflektiert. Davon unterschieden wird die Bedeutung, die abstrahierenden Texten innerhalb des Beschreibungsvorgangs selbst zukommen. Damit soll sichergestellt werden, dass es zu keiner Hierarchisierung divergierender Wissensmodi kommt, wohl aber, dass Theoriewissen zu einer insgesamt genaueren Beurteilung eigener Wahrnehmung führt. Dies schlägt sich auch in der Kernaufgabe angemessener Beobachtung im Feld selbst nieder. Die Ethnologin Bettina Beer hat dies im Begriff der „Systematischen Beobachtung“ pointiert zusammengeführt. Ziel ist hier eine Verbindung aus Beobachtung und Befragung. Beides geschieht „mit allen Sinnen“115 und wird systematisch angelegt bzw. ausgewertet. Damit verbunden ist ein weitreichendes Beobachtungsverfahren, dass Formen sichtbarer Beobachtungsschritte immer auch mit solchen verknüpft, die verdeckt geschehen. Hier gilt es gut austariert zwischen methodischer und ethischer Notwendigkeit zu unterscheiden, zeigt doch die Praxis im Feld oftmals, dass offene Beobachtungsverfahren selbst bei entsprechender Kooperationsbereitschaft zu ungewünschten Verhaltensveränderungen führen können, wie die Diskussion um die Methode der teilnehmenden Beobachtung immer wieder beweist. Andererseits bietet die direkte, offene Befragung die Gelegenheit, die Wahrnehmung im Feld zu systematisieren und zu präzisieren. Beer weist darüber hinaus noch auf einen weiteren, nicht minder wichtigen Aspekt konkreter Feldforschungspraxis hin: Steht bei Geertz die genaue Beobachtung von Verhaltensweisen im Mittelpunkt, zeigt Beer, dass diese oftmals erst als Verhaltensspuren wirklich in den Blick geraten.116 Die Wahrnehmung solcher Verhaltensspuren vollzieht sich in methodischer Varianz, besonders in der Berücksichtigung verschiedener Quellenmedien, so also in der gemeinsamen Berücksichtigung von verbalisierenden und visualisierenden Dokumenten. Dies entspricht auch dem Anspruch an jede qualitative Sozialforschung nach sinnvoller Triangulation.117

115 Beer, Beobachtung, 119. 116 Beer, a. a. O., 119 f. 117 Vgl. Flick, Triangulation, 309 ff.

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Arbeit am Paradies

3. Arbeit am Paradies: Dichte Beschreibung des Kleingartenvereins „Neue Hoffnung“ 3.1 Auswahl des Untersuchungsgegenstandes Hinreichend große und vielfältige Kleingartenanlagen finden sich besonders in großen Städten. Außerdem spielt die aktuelle wirtschaftliche Lage bei der Analyse des Nutzungsprofils und damit der Beschreibung möglicher Naturerfahrungen eine wichtige Rolle. Für die Festlegung auf einen Kleingartenverein sprechen die größere soziale Homogenität und das breitere Spektrum kommunikativer Interaktionsformen. Eher durch Zufall als durch systematische Recherche machte ich im Rahmen der Untersuchung eine wichtige Erfahrung. In Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, durchstreifte ich die Kleingartensiedlung „Am Lankower-See“. Die Anlage hatte meine Neugierde erregt, weil sie sich von anderen Anlagen, die ich bisher kennengelernt hatte, unterschied. Die Umgrenzungszäune der einzelnen Gartenparzellen bestanden aus dicht bewachsenen Ligusterhecken, die mindestens achtzig Zentimeter hoch gewachsen waren. Zum Zeitpunkt meiner Erkundung war es früher Abend und ich fand die meisten Gärten verlassen vor. Ein Gartentor stand offen, ich blickte in einen Garten, der durch zwei große Kiefern, eine Lerche, Tuja und Farne geprägt war. Ich ging weiter. Aus einem Gartenareal hörte ich Stimmen, mehrere Kleingartennutzer saßen hier offensichtlich zusammen und feierten. Ich machte einige Fotos von Wegen und Gärten und wollte die Siedlung wieder verlassen. Da hörte ich hinter mir Schritte und ein großgewachsener Mann packte mich und wollte mir die Kamera entreißen. Nur mit Mühe konnte ich den Kleingärtner wieder beruhigen. Er hielt mich für einen „Spion“, einen Eindringling – der ich ja in gewisser Weise auch war. Ich erklärte ihm meine Absichten und sprach ihn auf die Unterschiede zwischen ost- und westdeutscher Kleingartenkultur an. „Die da oben wollten uns hier nie haben, schon damals nicht“, sagte er. Später hörte ich, die besonders idyllische Lage am Lankower See und die geringe Größe der Anlage habe immer wieder den Bestand der Kolonie gefährdet. Insgesamt wurden seit den frühen 1960er Jahren auf dem Gebiet der ganzen DDR Kleingärten in großer Zahl aufgelöst, weil sie als Relikt bürgerlichen Lebens galten. Weil daneben die Versorgungslage mit Lebensmitteln sich zudem weiter verbesserte, fürchteten sich die staatlichen Behörden eher vor der fehlenden politischen Kontrolle dieser Gruppen. Die Anlage, die ich hier in Schwerin entdeckt hatte, spiegelt dies noch heute wieder. Die Gärten haben etwa sehr Privates, sehr Abgeschlossenes, der landwirtschaftliche Nutzungsaspekt ist dazu, auf ehemaligem DDR-Gebiet besonders überra-

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Der Zugang zum Feld

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schend, kaum ausgeprägt. So also zeigt sich die Schwierigkeit der Datensammlung als ein inhärentes, dem Gegenstand selbst innewohnendes Problem. Innen und außen, privat und öffentlich verbinden sich im Konzept des Kleingarten und prägen die Naturerfahrung wesentlich mit. Die Wahl auf eine Kleingartensiedlung in Hannover als Erkundungsareal hat nun dann auch zwei wesentliche Gründe: Die Bedeutung Hannovers als großer westdeutscher Kleingartenstadt und die Möglichkeit einer direkten Kontaktaufnahme mit einer engagierten Kleingärtnerin, die in dem Kleingartenverein „Neue Hoffnung“ in Hannover-Spannhagen seit über dreißig Jahren einen Garten gepachtet hat und mit der ich entfernt verwandt bin. Die Wahl gründet sich nach den bisherigen Erfahrungen also auf das Vorhandensein einer dort eingewobenen Kleingartenkultur und damit typischer Strukturmerkmale dieser einen Gartenanlage in Hannover, zum anderen aber vor allem mit der methodischen Frage nach geeigneten Formen des Feldzugangs.118 3.2 Der Zugang zum Feld: Erste Beobachtungen Zum Zeitpunkt der Untersuchung (August 2005) gab es in Hannover insgesamt 20.403 Kleingärten.119 Damit gehört Hannover zu den großen Kleingartenstädten in Deutschland.120 Zum städtischen Grund gehören 14.482 Gärten, das entspricht einem Anteil von 70,1 %. Die gesamte, kleingärtnerisch genutzte Fläche liegt bei 1.009 ha, etwa 5 % der Fläche des gesamten Stadtgebiets. Der vom Deutschen Städtetag empfohlene Richtwert von Kleingärten zu Geschosswohnungen ist in Hannover mit einem Verhältnis von 1:11 fast erreicht. Hannover nimmt damit im Verhältnis zu vergleichbaren Großstädten wie Leipzig, Hamburg oder Berlin einen Spitzenplatz ein. Die 102 Kleingartenvereine Hannovers sind organisatorisch und räumlich in 270 Kolonien aufgeteilt. Die überwiegende Zahl der Kleingartenvereine ist im Bezirksverband „Hannover der Kleingärtner e.V.“ organisiert. Dieser ist Generalpächter 118 Vgl. zum weiteren auch Grevel, Gott, 199 ff. Dieser Aufsatz stellt eine frühere Reflexion dieser Dichten Beschreibung dar und wurde auf die Gesamtperspektive des Sammelbandes hin ausgrichtet, die vorliegende Fassung resultiert aus weiteren Überarbeitungen. 119 Die statistischen Daten sind entnommen aus: http://www.hannover.de/deutsch/kultur/nah_park/klgakult.htm. (eingesehen am 30. 09. 2007) 120 Mit großem Abstand ist Berlin mit über 76000 Kleingärten auf einer Fläche von ca. 3.150 ha das städtische Ballungsgebiet mit der größten Zahl von Kleingärten. Im Vergleich zu Hannover fällt auf, dass hier der Anteil der kleingärtnerisch genutzten Fläche bezogen auf das gesamte Stadtgebiet lediglich 3 % beträgt, vgl. http://www.stadtentwicklung.berlin.de/umwelt/stadt gruen/kleingaerten/de/daten_fakten/index.shtml (30. 09. 2007) Große Verbreitung hat die Kleingartenkultur traditionell auch in Leipzig mit 39.000 Gärten auf einer Fläche von ca. 1.240 ha. Bei annähernd gleicher Nutzungsfläche ergibt sich damit gegenüber Hannover eine sicher für den gesamten Osten im Durchschnitt deutlich geringere Kleingartengröße pro Nutzungseinheit. Hierzu auch www.leipzig.de/de/buerger/freizeit/leipzig/kleingaerten (eingesehen am 05. 10. 2007).

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für die auf den städtischen Flächen angesiedelten Kleingartenanlagen. Behördlich verwaltet wird das Kleingartenwesen durch den Fachbereich Umwelt und Stadtgrün der Landeshauptstadt Hannover. Der Zugang zum Feld gehört zu den großen Herausforderungen jeder ethnologischen Untersuchung und damit auch zu der Aufgabe einer dichten Beschreibung. Methodisch sind zwei Aspekte genauer zu reflektieren: Einerseits, wie kann es gelingen, einen Zugang zu erhalten, der eine valide Datenbasis eröffnet und andererseits, wie kann sichergestellt werden, dass das gewählte Verfahren der Datengewinnung ethischen Standards der Feldforschung gerecht wird. Die bisherigen Erfahrungen machen deutlich, dass insbesondere im Feld der Kleingartenkolonie hohe Hürden eine Kontaktaufnahme erschweren. Neben Schwierigkeiten, wie sie bereits geschildert wurden, bestenfalls einer latenten Peinlichkeit und Distanzierung, andererseits unverhohlener Aggressivität und Ablehnung, bedarf es in diesem Feld eines grenzüberschreitenden Zugangs, der zunächst einen physischen Zugang („getting in“) zum Feld ermöglicht. Davon ist das eigentliche „getting on“, der soziale Zugang zu unterscheiden.121 Dies wird in der Regel erst durch eine Kontaktperson möglich, die einen Einlass gewährt. Diese Person, gerne auch „Türsteher“ genannt, ist in der Regel nicht mit den weiteren Informanten identisch. Sie erteilt in der Regel das Beobachtungsrecht und vermittelt den weiteren Kontakt mit anderen Schlüsselpersönlichkeiten der Gruppe.122 Mit dem aktiven Zugang zum Feld erfahren viele derer, die hier angetroffen werden, dass durch Beobachtung und Befragung ihre als selbstverständlich angesehene „Raumsouveränität“123 nun zumindest teilweise in Frage gestellt wird. Typisch für eine verdeckte oder unbewusste Distanzierung gegenüber dem fremden Gast ist eine abwartende Grundhaltung, der Verweis auf andere, im Gruppenverband höher gestellte Mitglieder, aber auch der umgekehrte Versuch, den Forschenden zu einem Gruppenmitglied eigener Art zu machen und ihm so die notwendige (professionelle) Distanz zum beobachteten Geschehen zu rauben, oftmals kritisch als „going native“124 bezeichnet. In diesem Austarieren zwischen Formen offener, aber konfliktbehafteter Beobachtung und solchen verdeckter Datengewinnung spielt die Frage nach 121 Wolff, Wege, 340. Geertz beschreibt diesen Übergang in seinem „Hahnenkampf-Essay“ treffend so: Auch Wochen nach seiner Ankunft konnte er sich zwar frei bewegen, wurde aber konsequent sozial ausgegrenzt. Erst durch die gemeinsame Flucht anlässlich einer Polizeirazzia änderte sich das Verhältnis zu den Dorfbewohnern und sie gewährten ihm auch sozialen Zugang: „Am nächsten Morgen erschien uns das Dorf wie umgewandelt. Wir waren nun nicht nur nicht länger unsichtbar, wir waren plötzlich Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit, man überschüttete uns förmlich mit Herzlichkeit, Interesse, und – das ganz besonders – Spott. Jeder im Dorfe wusste, dass wir genau wie alle anderen die Flucht ergriffen hatten.“ (Geertz, Beschreibung, 206) 122 Vgl. Knoblauch, Religionsforschung, 82 f. 123 Wolff, Wege, 335. 124 Vgl. Knoblauch, Religionsforschung, 97.

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den ethischen Standards der Untersuchung eine wichtige Rolle. Unbestritten ist zunächst das Einhalten rechtlicher Bestimmungen, wie etwa der Schutz der Privatsphäre oder das strikte Vermeiden eines Hausfriedensbruchs. Wichtig ist das generelle Einverständnis der beteiligten Personen, die haltbare Zusicherung, dass durch die Untersuchung niemandem ein Schaden entsteht. Dies gilt es besonders bei der Weiterverarbeitung der gewonnen Daten zu beachten. Generell gelten somit das Prinzip der informierten Einwilligung und das Prinzip der Nicht-Schädigung.125 Ethisches Handeln im Feld besteht darüber hinaus ganz wesentlich in der Offenlegung des Forschungsinteresses. Das gilt zumindest dort, wo ein klares Interesse danach besteht. Schließlich sollte ein guter Kontakt nicht mit der abgeschlossenen Datengewinnung abgeschlossen werden, sondern weiter gepflegt werden.126 Vor diesem Hintergrund ist also die erste, explorative Phase im Feld von ständigen Güterabwägungen zwischen Grenzüberschreitung und Grenzachtung bestimmt. Dazu kommt ein psycho-sozialer Aspekt. Ablehnende Reaktionen erzeugen beim Forscher im Feld oftmals Frustration und Unsicherheit, fördern aber zugleich einen randständigen Blick, eröffnen Fremdheitserfahrungen, die für eine vertiefte Wahrnehmung dringend erforderlich sind. Indem sich erste Kontakte mit Einzelpersonen ergeben, wird schnell deutlich, ob und ggf. wie diese Personen in innergruppale Konflikte eingebettet sind. Davon ist dann auch abhängig, wie sehr sich diese Personen unabhängig von ihrer eigenen Kooperationsbereitschaft als Schlüsselinformanten eignen. Hier gilt es genau abzuwägen. Wie bereits zuvor in anderen Kleingartenanlagen, stand auch hier, in „Neue Hoffnung“ am Anfang ein erster Gang durch das Vereinsareal.127 Im August 2005, in dem die Untersuchung begann, hielten sich auch an diesem frühen Nachmittag viele Kleingärtnerinnen und –Gärtner in ihren Parzellen auf. Die Vereinsanlage ist von den sie umgebenden Straßen klar getrennt, mit hohem Drahtgitter versehen. Dann ein Parkplatz, ein Vereinsschild, hier also muss der Eingang sein, denke ich. Ein erster Gartenweg ist sichtbar, so breit, dass ein Auto hindurchfahren könnte. Direkt am Eingang befindet sich eine die ganze Wegbreite durchmessene massive Schranke. Zwischen ihr und der angrenzenden Hecke einer Gartenparzelle ist gerade soviel Platz, dass ein Fußgänger oder Radfahrer hinein gelangt. In der Sonne leuchtet das Rot dieser Schranke, gibt zu verstehen, dass hier eine Grenze ist. Kurz hinter der Schranke befinden sich noch einmal zwei Grenzpfähle, rot und weiß und im Boden verankert. Die große Schranke ist mit einem Schloss versehen, öffnet man es, ist die Schranke vom Weg weg zu bewegen. Als Nächstes fällt der Blick auf zwei Gebotsschilder. Vor spielenden Kindern 125 Vgl. hierzu Hopf, Forschungsethik, 591 ff. 126 Vgl. Wolff, Wege, 336. 127 Um die Lesefreundlichkeit zu erhöhen, sind die Passagen unmittelbarer Beobachtung in der Folge kursiv gesetzt.

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Fig. 4: Kleingartensiedlung „Neue Hoffnung“

wird gewarnt, Autofahrer werden aufgefordert, „Schritttempo zu fahren“. Mit dem Durchschreiten dieser Schrankenanlage entsteht der Eindruck einer Grenze. Ich blicke mich um, niemand ist auf dem Weg zu sehen, niemand hat mich beobachtet. Statt einer Ligusterhecke entdecke ich wilde Johannesbeere, die die Gärten vom Weg trennt. Sofort fallen die hochgewachsenen Kiefern auf, die vom Eingang her sichtbar waren. Farne und Tuja wachsen an der Grenzlinie, stellen in mehreren Gärten einen Sichtschutz her. Die Buche, die mir direkt am Eingang ins Auge fällt, ist durch den heißen Tag mitgenommen, ihre Blätter haben eine gelbe Farbe angenommen. Der erste Garten, den ich auf der linken Seite des Weges ausmache, erweist sich nach einem späteren Rundgang als der vielleicht gepflegteste der ganzen Anlage. Vom Weg her betrachtet, fällt auf, dass eine leere Gartenbank inmitten einer größeren Rasenfläche zum beherrschenden Garteneindruck wird. Ich grüße einen Mann, der in dem hinteren Teil des Gartens mit kleineren Arbeiten beschäftigt ist und gehe weiter. Im Vergleich zu der Gartenanlage in Schwerin wirkt diese auf den ersten Blick größer, weniger privat. Die Gärten wirken mit ihren Lauben links und rechts des breiten Weges wie Grundstücke einer eigenen kleinen Stadt. Ein nächster Garten zieht mich an, auch er ist mit viel Aufwand gestaltet. Ich trete ans Gartentor. „Suchen sie jemanden?“ – von der gegenüberliegenden Seite des Weges werde ich angesprochen. Ich drehe mich um, sehe einen Kleingärtner mit

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einer Schaufel in der Hand. Ich spüre das Misstrauen, sein Gartengerät wirkt wie ein Verteidigungsinstrument. Er trägt eine kurze Hose, festes Schuhwerk und hat einen freien Oberkörper. Dann fährt eine Radfahrerin an uns vorüber, beide grüßen sich herzlich, nennen sich beim Vornamen. Ich sage kurz, ich suche nichts Bestimmtes, und gehe weiter. Viele der Gärten greifen bekannte Gartentraditionen auf. Alles ist auf das Format des Kleingartens reduziert, Miniaturisierung des Gartens: kleine Windmühlen, ca. 1 m hoch stehen in mehreren Gärten. Der kleine Kiesweg zur Laube zitiert den Zugang zum herrschaftlichen Anwesen. Ein Garten fällt mir besonders ins Auge: Den Weg zur Laube säumen kunstvoll barock beschnittene Buchsbäume, direkt vor der Laube haben zwei marmorne Gipslöwen Aufstellung bezogen. Dann ist eine erste Wegeskreuzung erreicht. Die Wege haben Namen: „Amselweg“, „Finkenweg“, „Drosselweg“ usf., jeder Garten trägt eine Nummer, jeder Garten hat eine eigene Hausnummer. Viele der Adressschilder sind mit einer Botschaft verbunden. Drei Gruppen sind auszumachen. Alle drei kreisen um die Frage der Grenzziehung zwischen innen und außen. Die erste Gruppe grenzt aus: „Vorsicht bissiger Nachbar!“ steht auf einem Schild, andere zeigen Hunde, comicartige Polizisten. Viele dieser Eingänge sollen verschlossen wirken. Sie sind mit einer Pforte gesichert, weisen Schlösser auf. Eine zweite Gruppe wirkt wie das genaue Gegenteil. Die Gartentür ist in einen niedrigen Zaun oder eine Hecke eingelassen, hier lese ich Schilder mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ oder ähnlichem. Eine dritte Gruppe bietet eine eigenartige Mischung aus beiden Formen, der Aus- und der Eingrenzung. Es sind die Gärten, die den Blick des Vorübergehenden einladen, indem sie an der Grenze des Gartens oder aber sogar innerhalb des Gartenareals Zierobjekte ausstellen, die Aufmerksamkeit erregen wollen, näheres Hinschauen provozieren. Ein Garten, der direkt an dem Hauptweg der Kolonie liegt, illustriert dies besonders anschaulich. Die vom Weg einsehbare Anordnung und Auswahl der Pflanzen wirkt zunächst nicht ungewöhnlich: Apfelbäume und eine Kiefer sind ebenso in der Anlage verbreitet wie Hortensien, Dahlien und Tujasbüsche. Auffallend ist vielmehr ein Ziergegenstand, der sofort ins Auge fällt, wenn man an diesem Garten vorübergeht. Direkt hinter der Gartenhecke aus Liguster befindet sich eine an einem Pfahl befestigte Holztafel, an die ein bedrucktes Blatt Papier angebracht ist. Unterhalb des Papier befindet sich ein Haken und an diesem frei beweglich eine Metallkugel, die über eine etwa 40 cm lange Eisenkette mit dem Haken verbunden ist. Das beschriebene Papier fällt sofort ins Auge, die Schriftgröße ist so gewählt, dass es zum Lesen einlädt, zugleich aber ein Herantreten an die Hecke notwendig macht. Die Gartenpächter spielen also mit der Grenzerfahrung der Passanten. Sie locken an, machen die Grenze ebenso erfahrbar wie ihre Überwindung. „Das Schreiben“ gibt Auskunft über die Funktion dieses Gegenstandes und ironisiert offensichtlich ernsthafte Methoden der Wettermessung, wie sie vermutlich tatsächlich in einzelnen Gartenlauben anzutreffen sind: „Wetter-Stein: Stein steht still – Windstille / Stein

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bewegt sich – Wind / Stein schaukelt – Sturm / Stein ist nass – Regen / Stein ist weiß – Schnee / Stein sieht man nicht – Nebel / Stein fällt runter – Erdbeben“. Augenzwinkernd verlagert sich die Botschaft des Steines für die Grenzgänger außerhalb des Gartens vom distanzschaffenden Messinstrument zum nähesuggerierenden Ende in der Pointe „Stein fällt runter – Erdbeben“. Die Ambivalenz der Grenze begegnet bei näherem Hinsehen noch in weiteren Formen. Die Kleingartenanlage grenzt sich gegenüber der Umwelt ab, bildet einen Raum eigener Art ab. Jede Gartenparzelle für sich grenzt sich von Wegen und Nachbargrundstücken ab. Daneben gibt es gewollte oder erzwungene Grenzöffnungen. Gartentore stehen offen, Gartenhecken lassen sich überwinden, Radfahrer nutzen die Hauptwege zur Durchfahrt innerhalb des angrenzenden Wohnquartiers. Grenzziehungen und ihre Überwindung sind ein Grundthema jeder Gartenkultur. Die Grenze definiert überhaupt erst, wie wir gesehen haben, den Garten. Der reglementierende Ordnungsrahmen geltender Kleingartenordnungen ermöglicht eine weitere Bestätigung, dass hier um Grenzen gerungen wird. Gartenordnungen bilden dabei divergierende Interessenslagen zwischen privater Nutzung und städtischem Grund ab, zwischen Eigennutz und Gemeinnutz. Auch die „Gartenordnung Hannover“ bildet dies ab. Besonders aussagekräftig sind dabei Verschiebungen, die sich zwischen der Fassung von 1995 und 2004 zeigen. Diese dokumentieren die aktuelle Diskussionslage und belegen den Wunsch auch nach erneuten „Grenzziehungen“. Es geht um die Außensicherung wie um die Privatheit des einzelnen Gartens. So heißt es 2004 etwa: „Die Gärten sollen als Bestandteil des Öffentlichen Grüns von den Vereinswegen einsehbar sein.“128 Dies präzisiert und verschärft die Formulierung des gleichen Passus von 1995. Statt von den Vereinswegen, soll Einsehbarkeit „von außen“129 gewährleistet sein. Ebenfalls festgelegt ist die Höhe der Gartenzäune, sie darf „die Höhe von 1,20 m nicht übersteigen. Hecken oder freiwachsende Sträucher zur Einfriedung an den Wegen sollen die Höhe von 1,20 m (ebenfalls) nicht übersteigen“130. Die Ambivalenz, die strukturell angelegte Verbindung aus Verborgenem und Offenem, die so charakteristisch auch für diese Kleingartenanlage ist, legt einen Vergleich – keine vorschnelle Ineinssetzung – mit dem „Zentralsymbol“ des Paradiesgartens nahe. Erst durch die Grenze wird der Garten zum „paradiesischen“ Gegenort. Welche Bedeutungen kommen in diesem Gartenkonzept den Grenzen für eine bestimmte Art der Naturerfahrung zu und was daran transformiert den kulturellen Leitgedanken des Gartens als paradiesischem Naturraum? 128 Bezirksverband Hannover, Gartenordnung 2004, 1. 129 Bezirksverband Hannover, Gartenordnung, 1. 130 Ebd. 2004, 1. Gegenüber 1995 wurde aufgehoben, welche Heckenpflanzen vorgeschrieben werden und wie die Breite des Heckenschnitts festzulegen ist.

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Die Grenzen eines Gartens formen den Garten aus seiner Umgebung erst heraus. Sie definieren einen neuen Raum im alten. Sie beschreiben, definieren, was innerhalb der Mauern gelten soll. Aber sie definieren damit auch, wie innerhalb des Gartens die Welt außerhalb gesehen wird. Das gilt für Kleingartenanlagen besonders. Sie entstanden in schnell wachsenden Städten, sie sind ein Kind der Moderne und damit auch der modernen Stadt des 19. Jahrhunderts. Welchen äußeren, städtischen Raum projizieren nun die Gartengrenzen der Kleingartenanlage „Neue Hoffnung“ ins Innere? Das Areal der Kleingartenanlage „Neue Hoffnung“ liegt im Nordosten Hannovers, ca. 7 km von der inneren Stadt entfernt. Zusammen mit zahlreichen anderen Kleingartenanlagen bilden diese einen „grünen Kranz“ von Gärten am früheren Stadtrand der Landeshauptstadt, auch wenn dieser in den letzten Jahrzehnten ausgedünnt worden ist.131 „Neue Hoffnung“ befindet sich wie die Nachbarkolonien „Flora e. V.“ und „Buchholz e. V.“ noch jenseits der größten innerstädtischen Grünanlage, Eilenriede, mit dem Zoologischen Garten. Die Errichtung der Anlage reagierte besonders auf die wirtschaftliche Lage, der Name des Vereins sollte von Beginn an Programm sein.132 In unmittelbarer Nähe befindet sich das Autobahnkreuz Hannover-Buchholz, dessen Abzweigungen, überstädtische Fernstraßen, den Bereich gabelförmig umschließen. Die drei nebeneinander liegenden Kleingartenanlagen werden in ihrer südlichen Ausdehnung vom Mittellandkanal begrenzt. Dieser bildete in den Nachkriegsjahren, als wirtschaftlicher Transportweg von großer Bedeutung, eine klare Grenze als Stadtrand. Zumindest zum Zeitpunkt seiner Entstehung, also 1931, war dieser Kleingartenverein somit eindeutig in die städtische Peripherie eingegliedert. Die heutige Umgebung wird von zwei stark befahrenen Ausfallstraßen bestimmt.133 Sie sind besonders für die Gartenparzellen, die unmittelbar an sie münden, eine deutliche Lärmbelastung. So sind die Gärten zur Hauptstraße hin besonders dicht mit Hecken bepflanzt und mit hohen, stacheldrahtverstärkten Zäunen versehen. Die Kleingartenanlage umfasst neben einem Vereinsheim und einer Vereinswiese zur Zeit 210 Gärten; der Leerstand liegt bei ca. 3 %. In Nord-Süd-Ausrichtung ist das Areal etwa doppelt so groß wie in Ost-West-Richtung. Das Innere der Kleingartenanlage spiegelt den städtischen Außenraum und entwirft zugleich einen Gegenort par exellence. Reglementiert wie kaum ein anderer Raum innerhalb des städtischen Grüns, wirken die Gärten mit ihren 131 Vgl. hierzu die Fachbereich Umwelt und Stadtgrün, Kleingärten, 39. 132 In der Chronik zum fünfzigsten Bestehen von „Neue Hoffnung“ 1981 heißt es dazu: „In Wirtschaftskrisen, Kriegen und Hungerszeiten hat sich der Wirtschaftsertrag durch die Schrebergärten bestens bewährt. Der vielseitige Wunsch in diesen Zeiten, ein Stück Gartenland erwerben zu können, war oft nicht anders erfüllbar.“ 133 Das Areal grenzt im Norden und Osten an die General-Werner-Straße bzw. den Saalkamp, im Westen an eine weitere Kleingartensiedlung und im Süden an den Mittellandkanal.

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großen Lauben wie eine eigene kleine Stadt. Betritt man das Areal von „Neue Hoffnung“, so fällt der breite Hauptweg auf. Er ist von Kraftfahrzeugen befahrbar, „Straßenschilder“ reglementieren die Zulässigkeit einzelner Verkehrsteilnehmer, Praktibilität herrscht vor. Innerhalb der Gartenanlage ist es ruhiger, der Verkehrslärm der Hauptstraßen dringt nur gedämpft nach innen. Die großstädtische Anonymität weicht innerhalb des Areals einer fast dörflich nachbarschaftlichen Verbundenheit. „Wir achten hier gegenseitig darauf, dass niemand Unbefugtes die Gärten betritt, gerade, seitdem sich Fälle von Einbruch häufen oder Landstreicher nachts in den Lauben Unterschlupf suchen“, sagt mir später ein Gartennutzer. Die Kleingartenanlage erweist sich freilich nicht unbedingt als kleinstädtisches Gegenstück zur großen Stadt. Vielmehr, so scheint es, ist die Ordnung der Anlage, das klare Regelwerk gerade dem unübersichtlich wuchernden großstädtischen Lebensraum „abgetrotzt“. Mehrere Gartennutzer machen mich auf die unmittelbar an die Kleingartenanlage sich anschließende Hochhaussiedlung aufmerksam, verweisen auf deren Charakter als sozialer Brennpunkt innerhalb des ganzen Stadtteils. 3.3 Querschnitte und Strukturen 3.3.1 Der Garten von Herrn B. Am nächsten Tag erweist sich meine Schlüsselinformantin als „Türöffnerin“. Mit ihrer Hilfe wird mir nicht nur ein Blick in ihren eigenen Garten möglich, den sie, anfangs mit ihrem Mann gemeinsam, seit 1973 bewirtschaftet, sondern auch ein weiterer von Herrn B. Dieser gehört zum Vorstand des Kleingartenvereins und hat sich nach anfänglicher Skepsis zu einer Gartenbesichtigung bereit erklärt. Die rein funktionale Raumaufteilung des Kleingartens, also die anteilige Verteilung in Nutz-, Zier- und Erholungsbereiche scheint immer häufiger einer Gliederung des Gartens in Intimitätszonen gewichen zu sein. Privatheit ist also auch ein wichtiges Thema. Die Parzelle liegt zentral, in unmittelbarer Nachbarschaft zum vereinseigenen Heim. Von außen ist der Garten nur schwer einsehbar, wieder sind Farne und Tuja in größerer Zahl als Sichtschutz gepflanzt. Zusammen mit Frau F. betrete ich an einem warmen Sommernachmittag den Garten und werde freundlich begrüßt. Auch Frau B. befindet sich im Garten, sie hat bei unserem Eintreffen, so erzählt sie, „Hausarbeit“ in der Laube gemacht. Typisch ist ein Hauptweg, der das Gartenareal gliedert und alle wesentlichen Teile zugänglich macht, er stellt gleichsam die Verbindung zwischen außen und innen her. Er hat nichts Repräsentatives, kein Kies ist aufgebracht. Vielmehr ist er aus dem Rasenbereich einfach herausgearbeitet. Verglichen mit meinen bisherigen Beobachtungen, erweist sich der Flächenanteil des Rasens als überdurchschnittlich hoch. Apfel- und Birnenbäume finden sich nur vereinzelt,

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Ziersträucher machen den Garten an einer Breitseite bunt und abwechslungsreich, zur Gartenmitte hin entdecke ich Buschrosen. Dominiert wird dieser Bereich von einem ca. 5 qm großen Schwimmbassin, dass den Enkeln, so Herr B., zum Spielen dient. Da die Gartenordnung ein fest mit dem Boden verbundenes Bauwerk dieser Größe eigentlich nicht gestattet, verweist Herr B. mit Nachdruck darauf, es sei mit wenigen Handgriffen – „im Prinzip“ sofort abzubauen – und lacht dabei. Neben dem Schwimmbecken befinden sich zwei Hasengehege. Als Frau B. uns von den Hasen erzählt und von einer bevorstehenden Tierarztbehandlung berichtet, nimmt sie die Tiere auf den Arm und streichelt sie. – Dann werden wir weiter durch den Garten geführt. Nun gerät der andere Teil des Gartens, der nahe der Laube liegt, in den Blick. Ehepaar B. zeigt uns nun gemeinsam den künstlich angelegten Teich. Er ist deutlich kleiner als das Schwimmbassin. Der Teich fällt durch die aufwendige Gestaltung seiner Begrenzungsfläche auf. Zahlreiche kleinere Kunstgegenstände säumen den „Uferbereich“, ton- und steingefertigte Tiere, Kugeln und eine bekleidete Vogelscheuche erzeugen das Bild größter Künstlichkeit. Ehepaar B. erzählt von der Schwierigkeit, diesen Teich und die in ihm schwimmenden Fische vor fremden Übergriffen zu schützen. Frau B. berichtet, wie sehr ihr die stetig wachsende Zahl von Zierfiguren ans Herz gewachsen sei. Wir sprechen zum Ende des Gartenrundgangs noch eine Weile über das Vereinsgelände, über das Verhalten anderer Gartenfreunde. Als wir kurze Zeit später wieder aufbrechen, haben wir nur die Laube von Herrn und Frau B. nicht angesehen, offensichtlich ist dies der Teil des Gartens, den man Fremden nicht zeigt.134

3.3.2 Vereinskultur Gleichsam der öffentlichste Raum im Gartengefüge der gesamten Anlage ist das Vereinsheim mit einer „Vereinswiese“. Jeder Gang durch die Kleingartenanlage führt irgendwann hier hin. Die Wiese, in deren Mitte eine größere Grillstelle 134 Es wäre zu fragen, ob diese „Intimitätsstufen des Gartens“ typisch sind und bestimmten Funktionen in der sozialen Kommunikation dienen. Diese Vermutung geht auf Roland Barthes zurück. In einer Beschreibung seines mütterlichen Gartens heißt es: „In einem Stück enthielt der Garten […] symbolisch unterschiedene Räume (und die Grenze eines jeden Raumes zu überschreiten, war eine bemerkenswerte Tat). Man durchquerte den ersten Garten und gelangte zum Haus; das war der mondäne Garten, an dem entlang die Bayonner Damen trippelnden Schritts und bei ausgedehnter Rast zurückbegleitet wurden. Der zweite Garten vor dem Hause selbst bestand aus winzigen Gängen, die sich um zwei Rasenbeete wanden; dort wuchsen Rosen, Hortensien […]; dort machten es sich im Sommer, ungeachtet der Mücken, die Damen B. in den tiefen Stühlen bequem.[…] Am anderen Ende der dritte Garten, abgesehen von einem kleinen Obstgarten mit Pfirsichbäumen und Himbeersträuchern war er unbestimmt […], er wurde kaum aufgesucht, und nur im mittleren Gang. Der Mondäne, der Häusliche, der Wilde: ist das nicht gerade die Dreiteilung des gesellschaftlichen Begehrens?“ (ders., Über, 12).

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ausgehoben ist, wird von Hecken umsäumt und an der Längsseite mit Steinen und Pfosten begrenzt. Einzeln sind Buchen und eine Birke gepflanzt. Bänke laden zum Verweilen ein. Daneben teilt eine kleine Tujahecke die Wiese vom Vereinsheim. Ein kleiner Kinderspielplatz und einige Tische bilden den Übergangsbereich zwischen Wiese und Vereinsheim, dominiert wird dieser Ort durch eine große Eiche, die bei Sonne einen angenehmen Schatten wirft. Bei meinem ersten Besuch begegnen mir die „Gartenfreunde“, die sich an jenem Abend eingefunden haben, sehr distanziert, wieder stellt sich das Phänomen der gestuften Öffentlichkeit ein. Wiese und Haus sind die Kernzone des Vereinslebens. Ein Schaukasten neben dem Hauseingang eröffnet hierfür weitere Einblicke in die Kleingartenkultur von „Neue Hoffnung“. Es finden sich Hinweise auf den gewählten Vorstand, besonders wichtige Regelungen (Einhaltung der täglichen Mittagsruhe, „Zur Reinigung der Gärten gehört auch, dass jeder Pächter vor seiner Hecke bis zur Mitte des Weges/der Kreuzung Ordnung hält und den Weg/ die Kreuzung von Unkraut befreit), die Einladung zur Gartenpacht („Garten frei“). Die Öffnungszeiten der Mülldeponie werden ebenso mitgeteilt wie eine Einladung zur Gartensprechstunde. Besonders gut sichtbar ist die Einladung zum jährlich stattfindenden Gartenfest des Kleingartenvereins. Das Programm zeigt das Verwobensein von sozialer Kommunikation, Vereinskultur und Naturerfahrung: „Freitag: „gemütliches Zusammensein mit Tanz“ – Samstag: „Der Wichtelexpress fährt“ – Sonntag: 10.30 Uhr Frühstücksteller (Kartenverkauf durch die Wegewarte), Verleihung der goldenen Ehrennadel, Prämierung der schönsten geschmückten Gärten […].“ Der Charakter des Festes zeigt die Nähe zur Schrebergartenkultur. Die starke jugendpädagogische Ausrichtung, in früheren Jahren noch stärker durch Jugendvolkstänze, die bei solchen Gelegenheiten aufgeführt wurden, verankert, erklärt auch, warum die Vereinswiese diese Größe hat. Der „Wichtelexpress“, der am Festtag durch die Anlage fährt und als Kinderumzug angesehen werden kann, zeigt, dass ein wesentliches Festelement den Kindern gilt. Daneben dient das Fest der vereinsinternen Hierachisierung. Ehrungen werden vorgenommen, Gärten prämiert. Die regelmäßige Teilnahme an diesen Festen dokumentiert den Grad der Vereinsverbundenheit. Das Gartenfest hat in den Augen vieler Vereinsmitglieder den höchsten Stellenwert aller Vereinszusammenkünfte. Andere Veranstaltungen, so erzählt es Herr B. in einem weiteren Gespräch, hätten in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Dazu gehört auch das Erntefest, das gleichsam seinen Charakter als eigenständiges Fest eingebüßt hat und in das Gartenfest integriert wurde.135 135 In der Chronik zum fünfzigsten Bestehen von „Neue Hoffnung“ 1981 werden noch als feste Bestandteile der Festkultur „Fasching, Tanz in den Mai, Osterfeuer, Laubenfest, Tag der Schreberjugend, Erntefest, Mutter- und Vatertag“ aufgeführt.

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Dort, wo wie in ländlicheren Kleingartenregionen, sich eine lebendige Erntefestkultur erhalten hat, lädt dieses zu einer genauen Analyse ein, zeigt sich doch hier eine selten so offenkundige Verbindung von Kleingartenkultur und religiös aufgeladener Naturerfahrung. Noch immer gibt es zahlreiche Beispiele für eine vielschichtige Transformation dieses alten kirchlichen Gottesdienstes innerhalb des Kirchenjahrs, der evangelischerseits traditionell am Sonntag nach Michaeli gefeiert wird.136 Ursprünglich als Dank für eine gute Ernte in einen komplexen kultischen Opferritus eingewoben und mit dem Darbringen von Erntegaben verbunden, knüpft das Erntefest im Kleingartenkontext zunächst ebenfalls an die Feier der gelungenen Gemüse- und Obsternte an. Erntefeste gehörten zu Beginn des Jahrhunderts zu den Höhepunkten des Kleingartenjahres, ihre Tradition verdankt sich der bäuerlichen Provenienz vieler damaliger Kleingärtner.137 Zweierlei Gestaltungsformen des Festes sind dabei von Beginn an zu unterscheiden. Zum einen steht das Erntefest für die gemeinsame Freude an der erbrachten Ernte, die in früherer Zeit ja oftmals ein Überleben ärmerer Gartenpächter erst ermöglichte. Damit war vielfach ein karitatives Element verbunden, wurde doch ein Teil der am Erntefest ausgestellten Ernteerzeugnisse im Anschluss an Ältere und Bedürftige weitergegeben.138 Daneben lässt sich freilich nachweisen, dass das Erntefest auch zur willkommenen Gelegenheit für rauschhafte Tanzfeste geriet, weil damit die Gelegenheit zum Verkauf von Alkoholika für Pächter verbunden war.139 Entsprechend den Erntegaben, den kunstvoll mit Ähren geschmückten Altären, die noch immer die agrarische Herkuft des Festes belegen, gelten hier nun Erntekränze bzw. Erntekronen aus Blumen als besonders typisch.140 Frau F. berichtet, „früher“ habe man eine solche Erntekrone „mit anderen Frauen“ gemeinsam gestaltet und später im Vereinsheim aufgestellt, später in ein nahe gelegenes Altenstift verschenkt. Diese Erntefesttradition ist in „Neue Hoffnung“ ganz offensichtlich fast vollständig verloren gegangen. Gleichwohl spielen die Feste für die Rythmisierung des Kleingartenjahres weiterhin eine wichtige Rolle. 136 Vgl. Bieritz, Kirchenjahr, 155. 137 Vgl. Warnecke, Laube, 20. 138 Eindrucksvolle Belege für diese sich eng an die kirchliche Tradition anlehnende Sitte finden sich auf den Fotografien des Berliner Fotografen Willy Römer, vgl. ders., Erntefest. 139 „Fast auf jeder Laubenkolonie werden Erntefeste veranstaltet, aber Erntefeste im wahrsten Sinne sind es niemals, denn auf den Laubenkolonien werden diesselben zu einer Zeit veranstaltet, wo an eine Ernte nicht zu denken ist, mit einzelnen Ausnahmen; denn Mitte August sind die Veranstaltungen der Erntefeste größtenteils vorbei, und die eigentliche Ernte […], vielleicht Kartoffeln, Kohl, Kürbisse, Obst und dergl. – ist doch erst im September /Oktober.“ (Der Laubenkolonist, Nr. 14, 1913). 140 Geläufig ist etwa eine Erntekrone aus Schleierkraut, Spargelkraut, Dahlien, Astern und kleinen Sonnenblumen, eben den verbreiteten Sommerblumen deutscher Kleingärten.

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3.3.3 Ordnung und Natürlichkeit Fester Bestandteil der sozio-kommunikativen Interaktion zwischen den Gartennutzern ist das Thema Ordnung. Die starke Reglementierung erzeugt Gruppenzwänge und individuelle Widerstände. So regelt der Kleingartenpachtvertrag der Siedlung auch Formen der Gemeinschaftsarbeit und bestimmt, wie dies einzuhalten ist: „Der Pächter hat an den vom Verein beschlossenen Gemeinschaftsarbeiten teilzunehmen oder als Ersatz ein vom Verein festgesetztes Entgelt an diesen zu entrichten.“141 Enttäuscht sagt Frau F. dazu: „Viele bezahlen lieber 15 Euro pro Stunde und kaufen sich von der Arbeit frei“ – und stellt anschließend fest, dies belege, wie sich einige von der Gemeinschaft der „Gartenfreunde“ distanzierten. Ordnung, das Einhalten von vertraglich festgehaltenen Regelungen, aber auch das Resultat dieser Ansprüche in der festgelegten Gestaltung der Gärten macht normale Gruppenprozesse sichtbar. Im Laufe der Untersuchung wird dies immer wieder auch an konkreten Gartenfragen zum Gesprächsgegenstand. Stilmuster und Gestaltungselemente prägen sich aus, die andere Gestaltungsideen als von der Gruppe abweichend wirken lassen. Ein Garten steht dabei in den Äußerungen der Kleingärtner immer wieder in der Kritik. Die Pächterin hat vom Weg gut sichtbar Kunstwerke aufgestellt, die sie „wohl selbst gemacht hat“, wie eine Gartennachbarin bemerkt. Stein des Anstoßes ist eine Skulptur aus zwei Figuren aus Gips oder Stein. Die beiden sind als menschliche Akte erkennbar. Eine weibliche Figur liegt ausgestreckt auf dem Rücken, inmitten des Grases, davor, kniend ein männlicher Torso ohne Kopf und Arme und einem Fuß. Gesäß und Rückenpartie, dem Spaziergänger keineswegs verborgen, sind gut sichtbar herausgearbeitet. Der männlichen Aktfigur gegenüber befindet sich ein künstlich gestaltetes Baumgebilde, dem das umgekehrte Ende eines Baumstumpfes als Grundlage dient. Der andauernde Konflikt mit anderen „Gartenfreunden“ entzündet sich nicht allein an „moralischen Vorhaltungen“ und dem fehlenden Verständnis für die funktionale Nutzung dieser Aktgruppe („Ist das etwa eine Freizeitbeschäftigung? – So ein weiterer Gesprächspartner“), sondern auch und vermutlich zuerst eine Auseinandersetzung zwischen Gruppe und Individuum. Der Vergleich der Gartenordnung von 2004 mit der früheren Fassung von 1995 ist hierbei aufschlussreich. Neu hinzugenommen wurde 2004 die Passage „Skulpturen und Objekte, die der künstlerischen Gestaltung dienen oder an-

141 Kleingartenpachtvertrag „Neue Hoffnung e.V.“ mit Bezugnahme auf das Bundeskleingartengesetz und die Gartenordnung Hannover.

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deren Gartentraditionen entstammen, dürfen aufgestellt werden“142. Diese neu hinzugekommene Regelung setzt ganz sicher eine zunehmend konfliktreiche Praxis voraus, die mit dem Bedürfnis nach Individualität und Selbstexplikation vermutlich am besten zu erklären ist. Die Gartenordnung legt weiterhin den Rahmen für die Gestaltung und Auswahl von Bepflanzungen fest: „Obst, Sträucher, Gemüse, Blumen und Rasen sollen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen […]. Die kleingärtnerische Nutzung ist gegeben, wenn der Kleingarten zur Gewinnung von Gartenerzeugnissen für den Eigenbedarf und zur Erholung dient“.143

Besonders verbreitet ist daher die Flächenaufteilung der Gärten nach Nutzungsdimensionen. Das Ordnungskonzept überträgt also Nutzungsvorschriften auf die Auswahl und Anordnung von Pflanzen und sonstigen Gartenelementen. Viele Gärten wirken daher künstlich. Neben einem Beet ein Weg, zwischen Laube und Hecke ein Rasenstück u.s.f. Ausnahmen, so genannte „Naturgärten“ fallen innerhalb der Anlage besonders ins Auge. Besonders signifikant belegt dies der Garten von Ehepaar S. Zwar gibt es eine räumliche Trennung zwischen Erholungs- und Arbeitsbereich – der hintere „privaten Zwecken“ vorbehaltene Teil des Gartens mit Laube, Liegestühlen und Zierrasen wird durch Säulenbuchen vom vorderen, vom Weg aus einsehbaren Gartenareal abgetrennt, aber innerhalb des vorderen Gartenteils lässt sich eine bemerkenswerte Bepflanzung registrieren. Hinter einer Hecke aus wilder Orchidee wird ein Beet sichtbar, in dem Nutzund Zierpflanzen nebeneinander wachsen. Eingefasst von Apfel-, Kirsch- und Birnenbäumen wachsen innerhalb des Gevierts Kohlrabi und Dill neben Calendula, Stockrosen und einem Johannesbeerbusch. Diese Form „natürlicher Bepflanzung“ wirkt auf viele Gesprächsteilnehmer, die sich im Laufe der Untersuchung zu diesem Garten äußern, erstaunlicherweise eher künstlich, weniger der Ordnung entsprechend.

3.4 Fragebogenaktion Bislang speiste sich die Dichte Beschreibung aus genauen Beobachtungen, Erkundungen der Kleingartenanlage, Experteninterviews und dem Kontakt mit Schlüsselinformanten. Um die Datenbasis zu erweitern und die Einstellungen möglichst vieler weiterer „Gartenfreunde“ kennenzulernen, entschloss ich mich in den darauf folgenden Tagen zu einer Fragebogenaktion. Frau L. 142 Gartenordnung Hannover (Beschluss vom 06. 03. 2004), a. a. O., 1. 143 Ebd., 1.

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und Herr B. besprachen sich mit weiteren Mitgliedern des Vereinsvorstandes und willigten kurze Zeit später ein. Die von Bettina Beer postulierte systematische Beobachtung verknüpft verdeckte und offene Beobachtungsverfahren. Die Erweiterung der Datenbasis geschieht also zunächst mit dem Interesse einer neuen Art von Erkenntnisgewinn, weil nun die Beteiligten selbst dezidiert angesprochen werden. Zugleich wechselt gleichsam die Beobachterperspektive: Die Beobachteten werden nun aufgefordert, selbst Beobachtende, nämlich ihrer selbst zu werden. Die Validierungsstrategie zielt damit auf ein „biperspektivisches Wahrnehmen des Forschungsgegenstandes“144 und sichert eine InvestigatorTriangulation. Die Verwendung von Fragebögen gegenüber Leitfadeninterviews oder gar längeren, qualitativen Interviews liegt zunächst in der weiteren Verbreitungsmöglichkeit, besonders aber in der Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit ferner Stehenden.145 Daneben fällt der kurze Erhebungszeitraum ins Gewicht. Viele der Angesprochenen signalisierten, sie seien zu dem Ausfüllen eines Fragebogens bereit, zu einem längeren Interview nicht. Zugleich darf die Sprachfähigkeit vieler Kleingartenpächter nicht überschätzt werden. Somit hat dieses Instrument so oder so nur einen begrenzten Erkenntniswert und entfaltet seine Bedeutung erst im Zusammenspiel mit anderen Methoden der Datengewinnung. Die Konstruktion von Fragebögen setzt in der Ethnologie den Zugang zum Feld voraus und geht sinnvollerweise von bereits durchgeführten Feldforschungen aus, die zur Auswahl vernünftiger Items führen sollten.146 Bewährt hat sich eine gleichmäßige Gewichtung von offenen und geschlossenen Fragen. Um einen Datenschutz zu gewährleisten, wurden die Fragebögen anonym ausgefüllt. Um gleichwohl eine ansatzweise Repräsentativität der Befragten anstreben, wurde der Vorstand des Kleingartenvereins und Frau F. gebeten, die Fragebögen an solche Gartenfreunde auszugeben, die allgemein als „engagiert“ gelten, zugleich aber auf eine gewisse Streuung zu achten. Die Ergebnisse spiegeln dies, wie sich zeigen lässt, dann auch wider. Versehen mit einem Begleitschreiben, wurden insgesamt sechzehn Fragebögen ausgegeben und bearbeitet. Der Fragebogen weist zwei Teile auf: Zunächst wird nach quantifizierbaren Aspekten der Gartennutzung gefragt, wie der Gartengröße, der Anzahl der im Garten pro Woche verbrachten Stunden und der prozentualen Verteilung einzelner Tätigkeiten im Garten. Dieser Fragekomplex lehnt sich an das Frageraster von Sabine Verks Studie Laub-

144 Flick, Triangulation, 310. 145 Knoblauch, Religionsforschung, 112 ff. Fragebögen als Datengewinnungsbasis sind zumindest im angelsächsischen Raum als eingeführte qualitative Methode anerkannt, vgl. Werner/ Schoepfle, Fieldwork, 344 ff. Davon sind freilich die sog. „ethnographischen Interviews“ zu unterscheiden, die während der explorativen Phase zur ersten Informationsbeschaffung dienen. 146 Sökefeld, Interviews, 100.

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enleben147 an, was einen Vergleich mit den Ergebnissen der Münsteraner Kleingärtnerbefragung eröffnet (Frage 1 – 7). In einem zweiten Teil (Frage 8 – 18) dominieren die offenen Fragen, die die verstärkte Möglichkeit zu individuellen Äußerungen gaben. Hierbei wird weitgehend auf den Fragekatalog zurückgegriffen, der der qualitativen Studie Mensch im Garten von Nana Hartig zugrunde liegt.148 Dieser Teil wird mit einer assoziativen Frage eingeleitet. Es schließen sich Fragen nach der Nutzung des Gartens an, wie sie bereits im ersten Teil nachgefragt wurden. Die folgenden Fragen bereiten das „Religionsthema“ vor, indem sie den Fokus auf einzelne Wahrnehmungsaspekte lenken. Gefragt wurde nach Erfahrungen der Zeitlichkeit (Frage 14), dem Verhältnis zur „freien“ Natur (Frage 11), dem Bild des Wunschgartens (13). Dezidiert nach religiösen bzw. spirituellen Erfahrungen im Garten wurde in Frage 17 gefragt. Der Fragebogen endet mit der Frage nach biografischen Prägungen (Frage 18) und wurde auch deshalb an das Ende gestellt, weil mit der Beantwortung in der Regel positive Erinnerungen verbunden sind, die zur Bearbeitung des Fragebogens insgesamt noch einmal motiviert und weil beim „Erzählen“ nun auf bereits erinnerte und formulierte Äußerungen der Bearbeiterinnen und Bearbeiter zurückgegriffen werden kann. Die Fragen lauten wie folgt: Erster Teil 1) Welche Größe hat Ihr Kleingarten (in qm)?149 2) Wie häufig besuchen Sie Ihren Kleingarten in der Woche? 3) Wieviele Stunden verbringen Sie in etwa für nachstehende Tätigkeiten in Ihrem Garten in der Woche? (Gartenarbeit, Arbeiten an Laube, Zäunen etc., Erholen, Entspannen, geselliges Treffen mit Freunden und Nachbarn, Sonstiges) 4) Wie ist die prozentuale Nutzungsaufteilung in Ihrem Garten? a) Nutzgarten (Obst-, Gemüseanbau etc.), b) Ziergarten (Sträucher, Stauden, Teich etc.), c) Erholungsbereich (Rasenfläche), d) Spielbereich (Sandkasten, Schaukel etc.) 5) Haben Sie vor fünf bzw. mehr Jahren in Ihrem Garten mehr Obst und Gemüse angebaut als heute? 6) Haben Sie Ihren Garten mit Zierobjekten ausgeschmückt (z. B. Flaggen, Wagenräder, Gartenzwerge, Straßenschilder etc.)? Bitte geben Sie die Art dieser Zierobjekte an. 7) Aus welchen Gründen haben Sie einen Kleingarten gepachtet? (Mehrfachnennungen möglich) & Zur Entspannung in der Freizeit 147 Verk, Laubenleben, 230 ff. Verk führte 1990 insgesamt 24 Leitfadeninterviews durch, was einem Anteil von ca. 10 % der in der Kolonie vorhandenen Kleingärten entsprach, vgl. ebd., 21. 148 Hartig, Mensch, 337 f. 149 Frage 1 und folgende = F 1 f.

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Um meinem Hobby der Gartenarbeit nachgehen zu können Weil ich mich in meiner Wohnung eingeengt fühle & Um Kontakte zu schließen & Um zusätzlich etwas zu erwirtschaften & Weil ich Wert auf gesundes Obst und Gemüse lege & Aus gesundheitlichen Gründen & Wegen des Aufenthalts in der Natur & Wegen der Spielmöglichkeiten für meine Kinder/Enkel & Als Ersatz für fehlenden Balkon oder Terrasse an der eigenen Wohnung & Weil bereits meine Eltern einen Kleingarten besaßen & Wegen der Teilnahme am Vereinsleben & Sonstiges &

&

Zweiter Teil 8) Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort Garten hören? 9) Wozu nutzen Sie Ihren Garten? Was machen Sie alles darin? 10) Was machen Sie im Garten besonders gern? Was machen Sie besonders ungern? 11) Was unterscheidet nach Ihrem Ermessen einen Garten von der freien Natur? 12) Welche Bedeutung hat der Garten als Ganzes für Sie? 13) Wie sieht Ihr Traum- oder Wunschbild von einem Garten aus? Inwiefern entspricht Ihr Garten dem Bild? 14) Welchen Unterschied machen die Jahreszeiten für Sie in der Wahrnehmung Ihres Gartens? 15) Haben Sie eine persönliche Beziehung zu den Pflanzen und Tieren in Ihrem Garten? 16) Welche Qualität hat für Sie das Alleinsein im Garten? Und welche das Zusammensein mit anderen? 17) Hat der Garten für Sie etwas mit Religion oder Spiritualität zu tun? 18) Haben Sie eigene Erfahrungen und Erinnerungen mit Gärten aus Ihrer Kindheit? Zunächst zum ersten Teil des Fragebogens: Als durchschnittliche Gartengröße wurden 439,4 qm ermittelt, ein Wert, der über der durchschnittlichen Kleingartengröße in Westdeutschland von 350 qm (ohne anteilige Gemeinschaftsfläche) liegt.150 Die durchschnittliche Verweildauer im Garten beträgt bei den Befragten 29 1/2 Stunden pro Woche an bis zu sechs Tagen in der Woche, jeweils auf die gartenintensiven Monate außerhalb des Winters bezogen. Die Fragebögen wurden, so zeigt auch ein Vergleich mit den Werten der Unter-

150 Vgl. Bundesministerium für Raumordnung, Bedeutung, 7. Im Osten Deutschlands weisen die Kleingärten durchschnittlich eine ca. 40 qm kleinere Fläche auf.

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suchung von Verk, offensichtlich von Intensivnutzern ausgefüllt, die mit ihrem Garten besonders verbunden sind.151 Ein signifikanter Unterschied gegenüber den Ergebnissen bei Verk zeigt sich bei der prozentualen Flächennutzungsaufteilung der Gärten. Während bei der Münsteraner Kleingartenuntersuchung von 1990 die für Obst- und Gemüseanbau genutzte Fläche noch ca. 40 % betrug und den größten Anteil an der Gesamtfläche ausmachte152, weist nunmehr für „Neue Hoffnung“ der Erholungsbereich mit Rasenfläche und Sandkasten einen Wert über 40 % aus.153 So wenig hier von einer repräsentativen Untersuchung gesprochen werden kann und die Werte ja allein auf Schätzungen der Gartennutzer beruhen, belegen sie doch eindrucksvoll zumindest eine Nutzungspräferenz der Gärten zugunsten des Erholungsaspekts. Insgesamt gilt, dass der Flächenanteil des Ziergartens gegenüber der Nutzgartenfläche besonders in den städtischen Ballungsräumen stetig zunimmt.154 Die Vermutung, das Nutzungsverhalten der Gartenpächter zeige insgesamt, dass der regenerative Aspekt der Gartennutzung gegenüber dem Anpflanzen und Ernten von Obst und Gemüse zugenommen habe, zumindest aber in dieser Kleingartenanlage stark ausgeprägt ist, belegt noch einmal die Auswertung der Pachtmotive (Frage 7: „Aus welchen Gründen haben sie einen Kleingarten gepachtet“). Ordnet man die Ergebnisse zunächst nach der Häufigkeit der jeweils ausgewählten Einzelaspekte ergeben sich folgende Cluster : Cluster I: Hohe und höchste Zustimmung (100 % – 85 %): „Zur Entspannung in der Freizeit“ (100 %), „Wegen des Aufenthalts in der Natur“ (93,7 %), „Um meinem Hobby der Gartenarbeit nachgehen zu können“ (87,5 %). Cluster II: Ausgeprägte bis mittlere Zustimmung (65 % – 50 %): „Um Kontakte zu schließen“ (62,5 %), „Weil ich Wert auf gesundes Obst und Gemüse lege“ (56,3 %), „Wegen der Spielmöglichkeiten für meine Kinder/Enkel“ (56,3 %), „Weil bereits meine Eltern einen Kleingarten besaßen“ (56,3 %), „Wegen der Teilnahme am Vereinsleben“ (56,3 %). Cluster III: Unterdurchschnittliche bis schwach ausgeprägte Zustimmung (25 % – 10 %): „Aus gesundheitlichen Gründen“ (25 %), „Um zusätzlich etwas 151 Vgl. Verk, Laubenleben, 167 ff. 152 Vgl. ebd., 126. 153 Die Auswertung ergab: Nutzgarten 25,4 %, Ziergarten 26,4 %, Erholungsbereich 37,6 % und Spielbereich 4,9 %. 154 Freilich erwies sich die Frage nach gewandelten Nutzungsformen („Haben sie vor fünf bzw. mehr Jahren in ihrem Garten mehr Obst und Gemüse angebaut als heute“) als wenig aussagekräftig. Da auf diese Frage lediglich 18,7 % % mit „Ja“ antworteten, liegt die Vermutung Verks nahe, eine Nutzungsverschiebung habe bereits in den 1970er Jahren stattgefunden, vgl. Verk, ebd., 125.

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zu erwirtschaften“ (25 %), „Weil ich mich in meiner Wohnung eingeengt fühle“ (18,7 %), „Als Ersatz für fehlenden Balkon oder Terrasse an der eigenen Wohnung“ (12,5 %).155 In Cluster III fällt sofort der geringe Grad an Zustimmung zu dem Pachtmotiv „Um etwas zusätzlich zu erwirtschaften“ ins Auge. Er belegt noch einmal, dass die ursprüngliche Hauptmotivation, für eine gesicherte private Lebensmittelversorgung Obst und Gemüse anzubauen, stärker in den Hintergrund getreten ist. Die höchste Zustimmung gilt dagegen dem Pachtmotiv „Zur Entspannung in der Freizeit“ (100 %). Daneben gibt es weitere Auffälligkeiten zu beobachten: Wenn sich der Kleingarten als Gegenort zum städtischen Wohnen deuten lassen soll, so kann sich dies nicht auf die noch in der Nachkriegszeit oftmals anzutreffenden großstädtischen Wohnverhältnisse beziehen. Wohnungsgröße, Emissionsbelastung und fehlender Hausgarten scheinen als Pachtmotiv jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, wenn auch – trotz zugesicherter Anonymität – das Benennen eines mangelhaften Wohnumfelds sicher auch einige Scham bedeutet und ggf. zu einer abgeminderten Angabe führt. Weiterhin fällt auf, dass die sozialkommunikativen Möglichkeiten, die sich durch die Vereinszugehörigkeit innerhalb der Kleingartenanlage ergeben, auf mittlere Zustimmung stoßen. Von besonderem Interesse sind freilich besonders die Pachtmotive, die die stärkste Zustimmung fanden. Neben der Möglichkeit der Entspannung werden zwei weitere Motive genannt: „Wegen des Aufenthalts in der Natur“ (93,7 %) und „Um meinem Hobby der Gartenarbeit nachgehen zu können (87,5 %)“. Die Zustimmungswerte mögen für sich genommen wenig überraschen, wohl aber in ihrer Verbindung: Ist nicht der entspannte Aufenthalt in der Gartenparzelle nicht diametral entgegengesetzt zum tätigen und oft stundenlangen Arbeiten im Garten? Offensichtlich, so lässt sich vermuten, ergeben erst beide Aussagen zusammen ein genaueres Bild von dem gesteigerten Erfahrungshorizont, der sich mit dem Aufenthalt in der Natur verbindet. Die Entspannung im Garten hängt an der kunstvoll und mühsam gestalteten Gartennatur, die Arbeit an diesem Naturraum wird zugleich von dem Ziel der Entspannung erst wirklich motiviert. Es ist die Arbeit am Paradies in moderner Gestalt, der man hier begegnet. Vertrieben aus dem ersten Paradies machen sich die Menschen arbeitend auf die Suche nach dem zweiten Paradies, ganz im Typus des modernen Menschen, arbeitsteilig, rationell, technisch unterstützt und ohne Aussicht, dass sich am Zustand der arbeitsteiligen Welt von sich aus etwas ändert. Dieser Eindruck wird auch durch die Antworten bestätigt, die die Befragten Kleingärtnerinnen und Kleingärtner im zweiten Teil des Fragebogens gaben. Auf die Frage „Was fällt ihnen ein, wenn sie das Wort Garten hören?“ (F 8), antworteten mehrere Teilnehmer kurz und prägnant: „Erholung, Gemüse, 155 Zusätzlich wurde noch einmal „Der Garten ist freisein“ angegeben.

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Obst, Blumen, Arbeit“156 oder gar „Erholung und Arbeit“157, nur vereinzelt wurde diese Bipolarität zugunsten einer Hauptnutzung unterlaufen („Erholung, Beschäftigung, Kreativität“158 bzw. (nur) „Entspannung“159). Bei der Frage nach dem, was besonders gern bzw. ungern im Garten getan wird (F 10), gilt fast durchgehend das „Unkrautjäten“ als besonders unbeliebt.160 Fast könnte man sagen, dass das Unkraut den Garten vom Paradies unterscheidet, den vollkommenen Naturraum von der künstlich angelegten Freifläche, die aus sich heraus immer wieder in einen unordentlichen, wuchernden Zustand zurückfällt. Auf der Suche nach einer Bestätigung für diese These vom „Arbeiten am Paradies“, dieser eigenartigen Verbindung von Arbeit und Erholung im Naturraum Garten, wurde ich bei einem weiteren Gang durch die Kleingartenanlage auf einen unscheinbaren Garten aufmerksam. Vom Weg aus fällt eine größere Rasenfläche auf, die den vorderen Teil des Gartens beherrscht. An der seitlichen Umzäunung sind Farne, ein Tujabusch und eine kleinere Kiefer angepflanzt. Innerhalb der Rasenfläche befinden sich drei hintereinander kunstvoll angeordnete Apfelbäume. Dazwischen, als Blickfang für alle Vorübergehenden gut sichtbar in der Mitte dieses Schaustücks aufgestellt, fällt ein kleiner, altertümlicher Pflug ins Auge, dessen Oberseite aus dunklem Holz gearbeitet ist. Fein ausbalanciert, an der äußersten Kante des Pflugs stehend, haben die Gartennutzer einen Gartenzwerg aufgestellt, die eine Hand in der Jackentasche, natürlich mit Bart und roter Mütze, die eine Hand wie zum Gruß erhoben. Auf die Frage nach Ziergegenständen, die die Kleingärtnerinnen und Kleingärtner in ihrem Garten aufgestellt haben (F 6), antworteten ein wenig überraschend lediglich zwei der sechzehn Befragten, dass unter diesen Gegenständen auch Zwerge seien. Auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass der klassisch gewordene Gartenzwerg zuweilen schamhaft verschwiegen wurde, bestätigte sich bei den ersten Rundgängen durch die Anlage die Anfangsvermutung zunächst nicht, das Aufstellen der Zwerge sei der Schlüssel für das Naturverständnis der Gartennutzer. Die Gründe für das Aufstellen von Ziergegenständen im Garten, so hat es Sabine Verk gezeigt, liegen im wesentlichen 156 157 158 159

Interviewte Person Nr. 9 = I/9. I/14. I/1. I/8. Offensichtlich wecken solche monofunktionale Gartenkonzepte innerhalb des Kleingartenvereins Argwohn. Frau F. zeigt mir auf einem Rundgang durch die Kleingartenanlage den Garten von Herrn P. Der Garten wird von einem Gemüsebeet dominiert, auf dem Kolrabi, Kartoffeln, Buschbohnen und Erdbeeren angebaut werden. Auch im Zierbereich, der den Garten von den Nachbargrundstücken abgrenzt finden sich neben Rosenstöcken und Gladiolen und einer Hibiskusstaude auch ein Kirschbaum, ein Apfelbaum, Himbeeren und Dill. Der Garten gelte als „altmodisch“, sagt mir Frau F. später. „Einfach zu viel Arbeit“, werden sich die jüngeren Gartenpächter denken, die ihren Garten vornehmlich als Erholungsfläche nutzen. 160 So bei I/3, I/4, I/6, I/7, I/9, I/13.

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im sozialpsychologischen Bereich. So ist die gruppenspezifische Orientierung an zeittypischen Modetrends von der bewussten Anknüpfung an die persönliche Vergangenheit der Gartennutzer zu unterscheiden.161 Daneben gibt es – und das dürfte das Aufstellen von Zwergenfiguren am ehesten erklären – das Bemühen, durch die Installation bestimmter Ziergegenstände „Assoziationsobjekte“162 zu schaffen, die gerade beim Zwerg Gartenthemen wie z. B. „Arbeit und Entspannung“ aufzurufen in der Lage sind. Die Deutungsangebote der Gartenliteratur wie der Ethnologie sind hierzu breit gefächert.163 Der durchaus gewollte Anklang an die Welt der Sagen und Märchen weckt für viele Besitzer Erinnerungen an eine ferne, kindliche Zeit und schafft im Garten eine „sentimentale Enklave“164, zugleich aber in der männlichen, geheimnisvollen Figur des trollähnlichen Zwerges Assoziationen zu einem „Hüter von Haus und Hof“165. Folgt man der Traditionslinie, die in den Zwergen Wesen erkennen will, die im Auftrag und zum Wohle der Menschen in Stollen, Bergwerken und unterirdischen Höhlen wertvolle Metalle abbauenso wird die Verbindung zur Natur sinnfällig. Die Gartenzwerge machen die Natur kontrollierbar, sie beuten sie aus, bringen den Menschen Nutzen und schützen sie durch ihre Arbeit vor Gefahr. Der reale, aufgestellte Gartenzwerg ist wie ein Sehnsuchtsreflex, wie eine Erinnerungschiffre an diese Helfer, die den Kreislauf von nicht enden wollendem Arbeiten am zweiten Paradies unterbrechen könnten: So „bevölkern den Kleingarten […] Gartenzwerge, kleine, sinnbildliche Verkörperungen nützlicher, kontrollierter Naturkräfte, die arbeitsteilig organisiert, bald mit Schubkarre oder Rechen, bald mit Gießkannen oder Spaten, immer aber mit männlichem Ernst ihrer Arbeit nachgehen.“166

Bislang wurde das Religionsthema in den Selbstaussagen der Gartennutzer ausgeklammert. Die Analyse konzentrierte sich auf Beobachtungen und Selbstaussagen, die die Transformation eines ursprünglich christlichen Gartensymbols, des Paradieses untersuchten. Im Sinne der bereits eingeforderten Beobachtertriangulation sollen nun zu diesem Thema die Gartennutzer selbst zu Wort kommen. Frage 17 des Fragebogens lautete daher präzise: „Hat der Garten für Sie etwas mit Religion oder Spiritualität zu tun?“ Von den sechzehn Befragten antworten 75 % deutlich mit „Nein“. Lediglich ein Viertel der Befragten the161 Verk, Laubenleben, 133. 162 Ebd., 133. 163 Die Gartenzwerge wurden 1873 im thüringischen Gräfenrode erstmals produziert und waren von Beginn an als industriell gefertigte Massenware gedacht. In ihrer spezifischen Gestalt werden sie gerne mit „Helferlein“ des amerikanischen „Father Christmas“ in Verbindung gebracht. 164 Hermann Glaser, Nutzgarten, 290. 165 Ebd., 290. 166 Steins, Inseln, 44.

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matisierte die Beziehung zwischen Garten und religiös aufgeladenen Naturerfahrungen überhaupt näher. Die hier gegebenen Aussagen lauteten: „Es ist ein Wunderwerk Gottes, wozu die Natur fähig ist, wir Menschen sind nur die Werkzeuge.“167 – „In der Natur, wie im Garten fühle ich mich Gott näher.“168 – „Ich empfinde im Garten eine tiefe Bewunderung für die Wunder der Schöpfung: Riesenblüten entwickeln sich auf noch so dünnen Stielen. – Die Löwenmäulchen-Blüte ist so eingerichtet, dass auch die dickste Hummel wieder herauskriechen kann. – Die Feuchtigkeit der Nacht lässt die erhitzten Pflanzen wieder durchatmen, und, und, und.“169 – „Die Sonntagsruhe ist im Garten meine Kirche“170. Die getroffenen Aussagen spiegeln ideengeschichtlich bedeutsame Verhältnisbestimmungen von Natur und Religion wider. Zum einen wird die bereits in der Physikotheologie formulierte Korrespondenz von Ordnung der Natur und göttlichem Schöpferwillen aufgegriffen („Wunderwerk Gottes“, „Die Löwenmäulchen-Blüte ist so eingerichtet, dass auch die dickste Hummel wieder herauskriechen kann“), andererseits schwingt die seit der Aufklärungsepoche postulierte Emanzipation von institutionellen Vermittlungsinstanzen zwischen Gott und gläubigem Subjekt mit, die zu einer Lesbarkeit der Natur als Zugang zu Gott führte („In der Natur […] fühle ich mich Gott näher“) und mit einer kirchenkritischen Volte einhergeht („Die Sonntagsruhe ist im Garten meine Kirche“). Dennoch ist das Ergebnis insgesamt auch deshalb so überraschend, weil trotz des Hinweises auf die institutionelle Verankerung der Studie insgesamt in die Arbeit einer theologischen Fakultät (und der damit intendierten Interessenlage) 3/4 der Befragten eine auf den ersten Blick negative Antwort gaben.171 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Antworten der befragten Kleingärtner auf Frage 13 („Wie sieht ihr Traum- oder Wunschbild von einem Garten aus? Inwiefern entspricht Ihr Garten dem Bild?“). Kein Sehnsuchtsort scheint da in den gegebenen Aussagen durch, sondern vielmehr die zufriedene, nüchterne Feststellung, der jetzige Garten sei mit dem Wunschbild von Garten weitgehend identisch.172 Dort, wo Differenzerfahrungen zum Traumbild des Gartens artikuliert werden, gehen sie auf

167 168 169 170 171

I/1. I/3. I/7. I/13. Die entsprechende Passage im Anschreiben des Fragebogens lautete: „Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität in Frankfurt untersuche ich, welche Bedeutung dem Kleingarten als Ort der besonderen Naturerfahrung für Menschen zukommt. So habe ich vor kurzem Ihre Kleingartenkolonie besucht, die ich mit Ihrer Hilfe nun gerne näher kennen lernen möchte.“ 172 „Unser Garten ist von uns so gestaltet, wie wir es möchten.“ (I/1); „Nach unserem Ermessen entspricht unser Garten unserem Wunsch.“ (I/13); „Ein ordentlicher und sauberer Garten. Ich bin mit meinem Garten zufrieden.“ (I/14).

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die Reglementierung der Kleingartenordnung zurück.173 Lediglich eine befragte Person beschreibt einen Traumgarten, der sich von dem bestehenden Garten unterscheidet und eine eigene bescheidene Gartenutopie beschreibt.174 Dass die Kleingartenerfahrungen von Natur dennoch im Kontext gelebter Religion175 aufgefasst werden können und damit eine religionsphänomenologische Dechiffrierarbeit legitimieren, wird nun wiederum eindrucksvoll zunächst durch die Antworten auf die den Teil 2 einleitende Frage 8 deutlich. Zu „Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort Garten hören?“ (F 8) wurde assoziiert „Begeisterung. Er ist mein Leben“176, „Freiheit“177, „Sternenhimmel“178. Noch signifikanter sind die Antworten, die zu Frage 12 („ Welche Bedeutung hat der Garten als Ganzes für Sie“) gegeben wurden. Hier lohnt ein genauerer Blick auf die Ergebnisse: Frage 12) Welche Bedeutung hat der Garten als Ganzes für Sie? I/1:

„Ein Hobby zu haben, das einem Arbeit und Entspannung an frischer Luft bietet.“ I/2: „Meine Welt“ I/3: „Das Gefühl von Freiheit“ I/4: „Ein Teil unserer Freizeit“ I/5: „Ein Teil unseres Lebens“ (I/6: keine Angabe) I/7: „Wie oben gesagt, ist er eigentlich mein Leben: Hier kann ich viele Dinge beobachten, die für reine Stadtmenschen verborgen bleiben. Ich kann mich körperlich betätigen oder auch nur schauen und genießen.“ 173 „Traumgarten = eng. Garden mit vielen Rosen + Blumenborden. Die Kleingartenordnung beschränkt den Traum.“ (I/15) 174 „Gern hätte ich einen von Stauden und Blumenbeeten reich bestückten Garten, eine gemütliche saubere Sitzecke mit Blick auf den Garten, der in jeder Jahreszeit eine Blüten- und Farbenpracht zeigt. Gern hätte ich auch, dass der Garten Treffpunkt für die Familie oder Freunde sein könnte, die spontan ohne besondere Einladung kommen. Die Realität entspricht nicht diesem Ideal. Derzeit kommt selten spontaner Besuch.“ (I/12). 175 Im Gegensatz zu dem Theorem der „impliziten Religion“, seit den sechziger Jahren von Edward Bailey im Kontext angelsächsischer Religionsphänomenologie ins Gespräch gebracht, konzentrieren sich die folgenden Analysen auf den Religionsbegriff, der für das Verständnis gegenwärtiger „gelebter Religion“ als Verbindung eines christlichen Symboluniversums mit der Erfahrung unterbrochener Alltagserfahrungen leitend ist. Eines freilich kann die Rede von der impliziten Religion auf Anhieb gut erklären: Bailey sieht bekanntlich in ihr „commitments“, die eine derart starke Eigenlogik entfalten, dass sie das Handeln und Fühlen Einzelner oder Gruppen stark in ihren Alltagshandlungen bestimmen (vgl. Bailey, Religion, 866 f). Das trifft durchaus auf die Intensivgartennutzer zu, deren intensive Gartenpflege den täglichen Gang in die Kleingartenanlage notwendig macht und dabei die Erfahrung eines „Sinnkosmos“ entstehen lässt. 176 I/7. 177 I/10. 178 I/11.

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Fragebogenaktion

I/8: I/9: I/10: I/11:

I/13: I/14: I/15: I/16:

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„Zur Entspannung; Erholungsort, Stressabbau, im Garten übernachten. Dann am nächsten Morgen draußen frühstücken.“ „Es ist mein Reich, ein Ort wo ich mich gerne aufhalte.“ „Ich kann dort meiner Fantasie freien Lauf lassen, immer wieder neu gestalten.“ „Er ist ein Platz, an dem ich mich entspannen kann. Trotz der Rückenbeschwerden, die ich oft nach Gartenarbeit habe, fühle ich mich zufrieden, wenn ich nach getaner Arbeit den Sonnenuntergang genieße. An keinem Ort ist das bewusste „Zur Ruhe kommen“ nach der Arbeit so befriedigend wie hier. Da dieser Garten schon seit ca. 45 Jahren im Besitz der Familie ist und auch meine Großeltern Ende der sechziger Jahre dort schon mitgewerkelt haben, kommen mir bei bestimmten Arbeiten Erinnerungen an Eltern und Großeltern und es entsteht irgendwie eine Verbundenheit.“ „Der Garten ist unser Leben.“ „Ein erholsamer Ort.“ „Er bietet Entspannung, Erholung, Freude.“ „Große-Familie-Freizeit-Bewegung; Vereinsleben“

Überraschenderweise wird der Garten nicht allein als Ort der Erholung und Geselligkeit beschrieben. Vielmehr wird die Gartenerfahrung mit Eigenschaften aufgeladen, die einen nicht zu leugnenden religiösen Charakter aufweisen: „Meine Welt“, „Gefühl von Freiheit“, „Ein Teil unseres Lebens“, „Mein Reich“, „Der Garten ist unser Leben“. Wie ist diese Differenz zwischen bewusster Negierung des Religionsthemas und dem unbewussten Rekurs auf „religionstypische“ Elemente nun zu erklären? Nana Hartig, die in ihrer Studie über Gartenerfahrungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt ist, greift auf die Archetypenlehre des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung zurück und erklärt religiös aufgeladene Gartenerfahrungen im Spiegel mythischen Denkens.179 Mythisches Denken vollzieht sich weitgehend unbewusst und vermittelt sich über kollektive, überzeitliche Muster eigenleiblicher Erfahrung und ihrer Deutung. Da Gärten für Hartig in besonderer Weise archetypische Raumerfahrungen ermöglichen, werden sie zu herausgehobenen Orten, an denen sinnlich-leibliches Leben erfahrbar wird und den Garten im Kreislauf von Natur und gestaltetem Raum zur Instanz eigener Sinnerfahrungen werden lässt.180 Leben im Garten als Sinnstiftungsinstanz, in der Terminologie der Religionshermeneutik Wilhelm Gräbs die „Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung“181, begegnet in den Antworten der Kleingärtnerinnen und Kleingärtner nun in der Tat.182 179 180 181 182

Hartig, Mensch, 33 ff. Vgl. ebd., 95 und 280. Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, 51. Das gilt auch für die ganz handfeste Sinnzuschreibungspraxis, die mit dem urbar machen des

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So etwa in den Aussagen zu Frage 12: Der Garten ist „Meine Welt“183, der Garten ist „mein Leben“184. Dennoch sind damit Gartenerfahrungen als Ausdruck gelebter Religion noch nicht hinreichend erklärt. Hartigs Bezugnahme auf Jungs Archetypenlehre muss der Schwierigkeit jedes ahistorischen Denkens begegnen. Gerade die Kleingartenkultur ist ein Kind der Moderne. Erfahrungen, die in dieser Form des Gärtnerns gemacht werden, tragen, wie wir gesehen haben, von Beginn an den Stempel der modernen Gegenwelt, so unbewusst diese auch in der Praxis kleingärtnerischer Erfahrung sein mag. Zudem verbleibt die Dimension der Sinnstiftung auf der Ebene rationaler, handlungslogischer Erfahrung. Entstehen in der Naturerfahrung nicht vielmehr Fluchten, Ausbrüche aus dieser Welt, Unterbrechungen des Alltags, die diesem modernetypischen Grundbezug zur Welt vielmehr entsprechen? Schauen wir hierzu noch einmal die Äußerung aus I/11 genauer an. Der Garten „verbindet“ sich hier mit Lebenserfahrungen, die außerhalb des Alltäglichen und Gegenwärtigen angesiedelt sind. Verknüpft wird das Erleben des Gartens mit „Erinnerungen an Eltern und Großeltern“, mit einer Zeit, die in die Kindheit des Befragten zurückreicht. Dazu wird in dieser Passage eine Erfahrung geschildert, die jenseits des Kreislaufs von Arbeit und Entspannung angesiedelt ist („den Sonnenuntergang genießen“). Keine große Gotteserfahrung oder gar Theophanie ist hiermit aufgerufen, sondern vielmehr eine kleine, unscheinbare, aber doch die Logik des Alltags durchbrechende Körper-Raum-Wahrnehmung. So erweist sich der Garten für die meisten der Befragten als geradezu klassischer Ort einer Gegenwelt, als Ort der „Freiheit“185, als „mein Reich“186, aber auch als Ort, der einen intensiven Kontakt zur Natur erlaubt, der letztlich freilich einer nüchternen Zweckrationalität der Moderne nur scheinbar entzogen bleibt:

183 184 185 186

Gartengeländes für die Vereinsmitglieder verbunden war : „Das Jahr 1930 bedrückte viele Beschäftigungslose in unserer Stadt mit Wirtschaftssorgen. Dieserhalb hatte die Stadtverwaltung die Vereinige Laubenkolonie „List“ beauftragt, das heutige Gelände der Kolonie für Kleingärten aufzuteilen. Der Zustand des Landstückes war grauenhaft. Unkraut, Quecken, Schachtelhalm, Schutt und Ortsstein waren zu beseitigen. Es gehörte ein Großes an Mut, Selbstvertrauen und Idealismus dazu, dort Hand anzulegen. […] Nach einem Jahr emsiger und mühevoller Arbeit wurde den Tätigen der Pachtvertrag ausgehändigt. […] Die Kolonie 39 war somit Mitglied der großen Organisation der Kleingärtner. Die neue Gartengemeinschaft beschloss, da sie mit Hoffnung auf bessere Zeiten beseelt war, ihre Kolonie NEUE HOFFNUNG zu benennen.“ (Zit. nach Vorstand, Chronik, 10) I/2. I/7. I/3. I/9.

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„Jede Pflanze wird im Frühjahr begrüßt und beobachtet, ob es ihr gut geht oder ihr etwas fehlt (Dünger, Wasser). Über den Winter werden natürlich auch die Vögel gefüttert. Sie danken es uns mit ihrer Anhänglichkeit.“187

Manifester Ausdruck dieser Gegenweltlichkeit sind auch die Zierobjekte in den Gärten. Sie verweisen jenseits aller Modetrends auf persönliche Erinnerungen und wecken Assoziationen, sind aber darüber hinaus als Ensemble geradezu ein nostalgischer, ja antimoderner Reflex auf die Inszenierungspragmatik sonstiger Gartengegenstände.188 Als gegenweltliche Erfahrung dienen nun auch die Erinnerungen an frühe biografische Prägungen. Immer wieder erzählen Gartennutzer, dass sie ihren ersten Zugang zur Welt der Kleingärten über ihre Eltern bzw. Großeltern erhalten haben, was bis heute nachwirkt: „Im Elterngarten wurde beim Erdbeerpflücken […] gesungen, damit auch Beeren in den Korb kommen!! – Im Großelterngarten hörten wir Kinder die Dampfer/ Schlepper auf dem Mittellandkanal kommen und eilten aus dem Garten, um sie zu sehen – und genau dieses Geräusch kann ich, wenn’s morgens und abends ruhig ist, hören, weil er genau so weit vom Kanal liegt, wie der der Großeltern seiner Zeit am anderen Ende Hannovers.“189

In der Generation derer, die siebzig Jahre und älter sind, so wurde berichtet, dominieren Hungererfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, die durch den Gartenanbau ein Gegengewicht erhielten. Das galt besonders dann, wenn der Garten als Ort der Heimat erlebbar wurde, dort, wo reale Heimaträume etwa in Folge von Krieg und Vertreibung verloren gingen: „Vor und nach dem Krieg ernährten uns die Eltern teilweise mit Obst, Gemüse, Hühnern und Kaninchen aus dem Garten. Auch vier Jahre nach der Vertreibung aus Schlesien diente uns eine Laube als Unterkunft.“190

In alledem erweist sich der Garten für die Befragten als ein Ort der versunkenen Frühzeit, verbunden mit intensiven, sinnlichen Erfahrungen, die bis heute im eigenen Garten momenthaft191 aufscheinen. Vielleicht liegt hier der intensivste Naturkontakt überhaupt für die Kleingartenbesitzer vor: 187 I/2 (F 15). Ein Türschild der Kleingartenanlage trägt den Titel „Unser Tara“ – ein direkter Bezug zu der zum modernen Mythos avancierten Südstaatensaga Gone with the Wind. In dem 1939 mit Starbesetzung verfilmten Roman der Hausfrau und Journalistin Margaret Mitchell ist Tara Haus, Hof und Land der handelnden Personen und wird zum umkämpften Stück Heimat während des amerikanischen Bürgerkriegs. 188 Jensen, Kleingarten, 329 bringt in diesem Zusammanhang die paradigmatischen Orte der Ruine und des Flohmarkts ins Spiel. 189 I/7 (F 18). 190 I/2 (F 18). 191 Diese Gartenerfahrung, in der sich das Verdrängen und das Sichtbarwerden dauerhaft verbinden und die zugleich von wahrhaft Proustschem Ausmaß ist, hat auch Roland Barthes fasziniert. In seinen Kindheitserinnerungen notiert er: „Der große Garten bildete ein doch

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„Ich kann mich an einen Garten meiner Großeltern erinnern (Ende der 50ziger Jahre; ich war ungefähr acht Jahre alt), in dem der Opa stundenlang zum Beeren pflücken mit einem Hocker in einem für mich unübersehbaren Johannesstrauch saß. An den Geruch des Saftes aus diesen Johannesbeeren, der mit Wasser vermischt getrunken wurde, kann ich mich noch gut erinnern. Wenn ich jährlich meine Johannesbeeren pflücke, kommen diese Erinnerungen zurück.“192

Der Garten ist hier also Paradies der Kindheit, Wunschraum, Gegenort („In unserer Kindheit waren Gärten immer Paradiese: groß und voller Überraschnungen“193). Damit verbunden eröffnet der Garten ganz allgemein solche Erfahrungen, die Grenzüberschreitungen innerhalb des Alltäglichen ermöglichen, die im sozialkommunikativen Geltungsbereich des Einzelnen verbleiben und sich mit raum-zeitlichen Veränderungen verbinden. Gerne spricht man in diesem Zusammenhang von „kleinen bzw. mittleren Transzendenzen“194. So antworten die Gartennutzer auf die Frage „Was machen Sie im Garten besonders gern?“ (F 10) u. a. mit „In der Sonne sitzen, die Wärme spüren“195 oder „Träumen, sofern Zeit dafür ist“196. Sie beobachten, erleben die sie umgebende Gartennatur und machen Erfahrungen von verdichteter Zeit: „Ich mag besonders die Zeit im Frühsommer, wenn die Vögel in besonderer Aktivität sind. Wenn sie zwitschern oder teilweise stundenlang in den unterschiedlichsten Arten singen, und wenn man etwas später beobachten kann, wie sie unermüdlich ihre Jungen füttern.“197

Überhaupt spielen Tiere für diesen Erfahrungsbereich eine wichtige Rolle: „Dass die Meisen mich auch in der Laube besuchen, weil Kuchen sie anlockt, ist ein sehr persönliches Erlebnis!!“198

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sehr fremdes Gebiet. Man hätte meinen können, dass er hauptsächlich dazu diente, die kleinen Katzen einzugraben, die in Überzahl geworfen wurden. Weit hinten ein dunklerer Gang und zwei hohle Buchskugeln: dort fanden einige Episoden aus der Kindersexualität statt“ (ders., Über, 14). I/12 (F 18). I/15 (F 18). Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 146 ff. Schütz und Luckmann unterscheiden zwischen kleinen Transzendenzen des Alltags, die im Erfahrungsbereich des einzelnen Erfahrungssubjekt liegen und mittleren Transzendenzen, die durch das Verhältnis zu anderen Menschen entstehen, deren Denken, Fühlen und Wollen bei aller Vertrautheit der Erfahrung des Einzelnen immer auch entzogen bleibt. I/2. I/7. I/12 (F 14). I/7 (F 15).

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Gartenerfahrungen

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3.5 Gartenerfahrungen: Transformation der Paradiessymbolik Fassen wir an diesem Punkt die bisherigen Untersuchungen nun zusammen: Die eingangs näher analysierten Gartenzeitschriften belegen eindrucksvoll, wie vital die zumindest metaphorische Rede vom Garten als Paradies bis heute ist. Massenmedial verbreitet und hunderttausendfach gelesen transportieren sie Gartensehnsüchte nach Privatheit, heiler Natur und individueller Gestaltung und spielen mit den Elementen der Gartenromantik. Heutige Gartenparadiese verweisen noch immer auf die Urgärten unserer Kultur. Mit dem mittelalterlich geprägten Klostergarten mit Kreuzgang wird ein Idealbild dieses Gartens geschaffen, der für die weiteren Jahrhunderte stilbildend wird. Die Zeit der großen Gartenkulturen, zwischen Renaissance und Aufklärung, transformiert dann die wesentlichen Gestaltungselemente dieses Gartentypus und schafft Vorgaben, die bis in die klischeehafte Nachahmung gegenwärtiger Gartentraditionen anknüpft. Zentrales Element des Gartens als Paradies ist von Beginn an sein Grenzcharakter. Der Garten trennt urbar gemachte Erde von Wildnis, gefährliche Welt von Schutzraum, Privates und Öffentliches. Das 18. Jahrhundert entdeckt im paradiesischen Schweifen des freien Blicks eine Öffnung der Grenze. Von nun an sollen Gartenhecken und Gartenzäune immer beides, nämlich Schutz und Freiheit ermöglichen. Mit dem Wasser, das in vielfältiger Form im paradiesischen Garten anzutreffen ist, gerät die Unverfügbarkeit natürlicher Ressourcen ebenso in den Blick wie der stete Versuch, durch die technische Beherrschung des Wassers die Natur des Gartens zu „zähmen“. Schließlich ist der paradiesische Garten immer ein bedrohter Raum. Er wird durch den überbordenden Müßiggang ebenso in Frage gestellt wie durch die reine Verzweckung, etwa in Form des Nutzgartens. Im Garten soll genossen werden, so fordert es das 19. Jahrhundert. Dabei bleiben die Ordnungen der Welt immer spürbarer im Garten präsent. Gartenlaube und Lehnstuhl werden zunehmend zur Gegenwelt. Aus der mittelalterlichen Kontemplation, die im 17. Jahrhundert der „sittlichen Reifung durch Gartenerfahrung“ weicht, wird nun die Erholung. Doch selbst die Gartenparadiese im Miniaturformat, ebenfalls Kinder des industriellen Zeitalters, vermögen Formkräfte für die Gärtner zu entfalten. Die Kleingärten, durch und durch von modernetypischen Krisenerfahrungen geprägt, bilden diesen steten Transformationsprozess ab und bieten dabei eine höchst eigenständige Binnendifferenzierung des Gartenthemas an: Grenzerfahrungen im Kleingartenparadies gehören zum beherrschenden Thema dieser Gartenkultur. Gestufte Öffentlichkeiten trennen die Kleingartenanlage von der Stadt, die passagere Öffentlichkeit von den Vereinsmitgliedern. Die Gärten markieren mit ihren Grenzen innerhalb der Anlagen den ambivalenten Wunsch nach Privatheit und Geselligkeit. Schließlich zeigen

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Sichtschutz, Flächenstrukturierung und Bepflanzungen, wie auch innerhalb eines einzelnen Gartens Grenzziehungen vorgenommen werden. Weiterhin belegen die Reglementierungen und der soziale Gruppendruck, dass die Gärten einem vielschichtigen Ordnungsdenken unterworfen sind, dass zu einer veränderten Wahrnehmung von Gartennatur insgesamt führt. Nicht mehr wie der ursprüngliche Paradiesgarten, sondern viel eher wie der mittelalterliche, künstlich gestaltete Gartenraum, muss der ideale Garten der Umgebung „abgetrotzt werden“, um seinen Zauber entfalten zu können. Wie bereits das biblische Paradies, werden auch heutige Kleingärten von der Spannung von Arbeit und Erholung bestimmt. Eine explizite religiöse Deutung dessen, was in den Gärten erfahrbar wird, nehmen die Gartennutzer der Kleingartensiedlung nur sehr begrenzt vor. Vielmehr finden aber oft unbewusst vorgenommene Sinnzuschreibungsprozesse statt, die Formen gelebter Religion in kleinen Transzendenzen oder Erfahrungen einer Gegenwelt sichtbar werden lassen. Der Garten, die Kleingartenparzelle allzumal, erweist sich damit als paradigmatischer Ort, an dem modernetypische Erfahrungen sichtbar werden und zugleich exemplarisch überwunden werden können. Widersprüchliche Naturerfahrungen, so Uffa Jensen, sind das Kennzeichen des Kleingartens: Gegenort zur städtischen Beschleunigung, neue Natürlichkeit inmitten einer entfremdeten Natur, individueller, privater Naturkontakt inmitten sozial vermitteltem Vereinswesen.199 Diese Ambivalenz bestimmt dann auch das Naturverständnis der Gartennutzer insgesamt. Als abstrakter Wert spielt das Naturerleben als Motiv der Gartenpacht eine überragende Rolle, wie wir gesehen haben.200 Der Kontakt mit den elementaren Gestaltungsformen der Pflanzen- und Tierwelt des Gartens ist durchgängig für alle Befragten von großer Bedeutung. Gleichwohl bleibt der Naturbezug vielfach blass und unreflektiert. Vielleicht spricht hieraus auch ein pragmatischer Zugang angesichts stark reglementierter Gartennutzungen. Als Gegenort bleibt der Kleingarten fest auf die Erfahrungswelt der Moderne bezogen. Arbeitsteiligkeit, Nützlichkeit und Gruppenakzeptanz haben eine besondere Bedeutung. Wiederum beweisen dies die Antworten zu der Frage „Was unterscheidet nach Ihrem Ermessen einen Garten von der freien Natur?“ (F 11). Noch einmal spielen Ordnung und Gestaltungswille eine große Rolle. Der Garten wird gestaltet („Hier wird alles geplant und geordnet“201), er fordert gärtnerische Aufmerksamkeit und Arbeit, wird dadurch aber zugleich zum privat erschlossenen Naturraum („Hier kann ich machen, was ich will, kann mich erholen und beschäftigen“202, „Der Garten ist mein Refugium“203), ein im wörtlichen Sinne wahrhaft antiromantisches Naturkonzept. 199 200 201 202

Jensen, Kleingarten, 322 f. Vgl. F 7. I/2 (F 11). I/10.

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Abschied: Ein letzter Blick in den Garten

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Freilich ist der Kleingarten alles andere als ein reiner Nutzgarten oder Balkonersatz. Gerade die Vielfalt kleingärtnerischer Nutzungskonzepte in der Anlage „Neue Hoffnung“ machen deutlich, dass der Kleingarten längst mehr ist als die sehnsüchtige Fortsetzung des agrarischen Lebens industriell geprägter Städter. Es finden sich Naturschützer neben Ackerbauern, Spieler und Ästheten neben Freunden des reinen Pflanzenpragmatismus. Vieles, was die Kleingärtner bewegt, was sie an Erfahrungen mit der Natur machen, zeigt sich eher in ihren „Verhaltensspuren“ (B. Beer) als in dem, was sie sagen. Naturerfahrungen sind in der Moderne immer krisenhaft, bergen eigene Strategien ihrer Überwindung immer in sich, der Kleingarten ist dafür ein beredtes Beispiel. 3.6 Abschied: Ein letzter Blick in den Garten Am Ende meiner Untersuchung gehe ich noch einmal mit Frau F. durch die Anlage. Noch einmal bleiben wir an einer Gartenhecke stehen. Der Garten, der hinter einer Lavendelhecke sichtbar ist, eröffnet mir in seiner überbordenden Künstlichkeit, in der Fülle einzelner Ziergegenstände ein nun lesbar gewordenes Stück Gartennatur. Das Eckgrundstück wirkt für die Passanten wie eine Bühne für diesen Kosmos der Zeichen. Der Gartenteil, der sich zwischen Laube und Hecke befindet, ist vollständig von Pflanzen bewachsen. Die Laube ist zwischen Petunien, Kletterrosen, Tujabüschen, Zinnie und Fuchsien, Gladiolen und Buchsbaum kaum mehr sichtbar. Inmitten der Blumen und Büsche befindet sich eine automatische Sprengleranlage. Das ganze Arrangement zielt auf Sichtschutz (Privatheit) wie Grenzinszenierung. Überbordende Bepflanzung verschafft Achtung innerhalb der sozialen Gruppe. Für manche der Gartenfreunde aus „Neue Hoffnung“ „steht hier einfach zu viel drin“, andere vermissen die klare Linie, „die Ordnung der Pflanzen“. Welche Bedeutung hat aber die an schwarzem Schnürwerk befestigte fast 40 cm große Spinne, die den Laubenunterstand zu bewachen scheint? Wiederum ein Hinweis auf das stets in der Siedlung präsente Grenzthema? Herr K., der diesen Garten bewirtschaftet, steht an diesem Nachmittag leicht bekleidet in seinem Garten, grüßt uns und wässert seine Blumen. Er muss ein Intensivnutzer sein. In aller Künstlichkeit sollen die Pflanzen diesen Gartenbereich entgrenzen, die bunte Mischung der Blumen signalisiert weniger den Wunsch nach geordneter Vollständigkeit, sondern vielmehr nach Naturverdichtung. Künstlichkeit und Ordnung des Gartenraums wirken im angrenzenden Gartenteil von Herrn K. noch einmal wie auf die Spitze getrieben. Kein Garten der Anlage weist so viele Ziergegenstände auf. Der Gartenschlauch – wenn er überhaupt noch in Gebrauch ist – wurde kunstvoll zu einem Notenschlüssel geformt, Umgeben von einer Hortensie befindet sich eine farbig hervorgehobe 203 I/11.

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stelzenbefußte Schale mit Sedum. Flache Steinplatten sind zu einem kleinen Turm übereinander geschichtet, an dem kleine, weiße Vögel aus Holz zu klettern scheinen. Davor sind kleinere und größere Kiesel zu einer Pyramide aufgeschichtet. In einem Birnbaum ist ein Windspiel aufgehängt, das nun in der Sonne Lichtreflexe in den Garten wirft. Der Baum ist von Standarten umgeben, die in kleine Sonnenfiguren münden. Blickfang des Gartens aber sind neun im barocken Stil beschnittene Buchsbäume, die den Mittelpunkt der Zierrasenfläche bilden und mit einer Gartenbank zusammen ein Ensemble entstehen lassen. Der Nutzbereich mit Dillstauden, Schafgabe, Wacholder sowie Apfel- und Birnenbäumen gerät dabei in den Hintergrund. Gartenzitate der Vergangenheit, wie die Beherrschbarkeit der Natur demonstrierende Beschneidung der Bäume wie in der absolutistischen Gartenkultur des 17. Jahrhunderts, wechseln sich ab mit sich mischenden Modetrends auf dem Weg einer individualistischen Durchdringung eines vorgefundenen Naturraums. Als Ensemble wirken die Ziergegenstände wie der Versuch, die Grenzen des Natürlichen immer neu in Frage zu stellen, ob in der totalen Ordnung oder der vollständigen Überwucherung mit Pflanzen. Der Garten scheint mit den Besuchern der Kleingartenkolonie zu kommunizieren, wirft beständig Fragen nach den Sinnstrukturen dieser Naturformung auf. Alles hier ist künstlich, denke ich, als ich mich verabschiedet habe und die Kleingartenanlage verlasse, aber so künstlich, dass Natur als Gegenraum überhaupt erst wirklich wahrgenommen werden kann. Der Kleingarten ist ein Paradies-Garten der Moderne.

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D. Gipfelwanderung zum Hohen Freschen 1. Einleitung In beinahe allen Kulturen und Religionen spielen Berge eine gewichtige Rolle als hervorgehobener Ort religiöser Erfahrung und sie gelten als Orte, an denen sich Himmel und Erde verbinden und für den Menschen zugleich die große Unterscheidung beider Sphären versinnbildlichen. Bedeutende Berge wie die tibetischen Kailash und Amnye Machen, der chinesische Wutai Shan und der Paha Mato in South Dakota gelten bis heute als Sitz der Götter und werden mitunter heftig gegen touristische Vereinnahmung verteidigt.1 Auch in der jüdisch-christlichen Tradition spielen Berge wie der Mosesberg am Sinai als Ort besonderer Gotteserfahrung eine große Rolle.2 Das zeigen auch zahlreiche Verweise im evangelischen Kirchenlied.3 In anderen altorientalischen Religionen hat sich diese Vorstellungswelt bereits früh ausgeprägt, wie etwa die Darstellungen des Götterhimmels in der Akkad-Zeit, in die Berge fest integriert sind.4 Die kritische Auseinandersetzung mit Kultpraktiken der in Israel bekannten Nachbarreligionen ist gängiger prophetischer Redetopos.5 Die Berge Athos, Monte Cassino oder Montserrat werden bereits in frühmittelalterlicher Zeit zu besonderen Orten der christlichen Meditation. Vereinzelt gelangen Berge gar in den Rang eines Wallfahrtsortes wie der polnische St. Annaberg oder werden als Orte der Begegnung mit Engeln verehrt, wie etwa der Mont-Saint-Michael in der Normandie. So mag es nicht verwundern, dass höhere, mit religiösen Traditionen aufgeladene Berge, anders als es die gegenwärtige Lust an der Bergbesteigung nahe legt, genau aus diesem Grund nur dann bestiegen wurden, wenn man gleichsam auch höheren Zwecken folgte. Dies war etwa im Jahr 183 v. Chr. der Fall, als König Philipp von Mazedonien den Berg Hämus bestieg, um eine Militäraktion koordinieren zu können. Bezeichnenderweise war das erste, was dem Herrscher der Überlieferung nach in den Sinn kam, die Errichtung eines Opferaltars für den Gott Jupiter.6 Durch das eigentlich widerrechtliche Be1 Vgl. Albus, Wohnungen. 2 Zu den wichtigsten Bergloci der Bibel gehören neben Ex 19 (Mose am Sinai), 1. Kön 19 (Elia am Horeb), die Wallfahrtspsalmen (besonders Ps 121) und im Neuen Testament Mt 17,1ff (Verklärung Jesu). Gerade in eschatologischer Perspektive gewinnen Berge in der biblischen Überlieferung eine zentrale Rolle, etwa der Karmel oder der Zionsberg (vgl. Jes 2,1ff). 3 Zu den bekanntesten gehören EG 7, 24, 69, 104, 150, 231, 278, 296, 426, 498, 503 und 515. 4 Vgl. Schroer/Keel, Ikonographie, 348. Vgl. insgesamt Popko, Berge, 282 ff. 5 Vgl. etwa 1.Kön 18. 6 Vgl. den Hinweis bei Scharfe, Blick, 41 f.

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Einleitung

treten eines dem Göttlichen vorbehaltenen Areals musste ein Opfer erbracht werden. So bleiben die anspruchsvollen, hohen Berge über Jahrhunderte für den Menschen gerade der alpinen Kultursphäre unerreichbar, ja nachgerade tabuisiert. Und so gelten Berge nicht nur abweisend und in ihrer Monumentalität Furcht einflößend, sondern in der Ästhetik der frühen Neuzeit geradezu als besonders hässlich.7 Die erste eindrücklich dokumentierte Bergbesteigung ist natürlich Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336. Die lustvolle, weil individuelle Auseinandersetzung mit den Bergen, also auch ihre Besteigung, ist erst ein Kind der Aufklärung und setzt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein. Grund hierfür ist die Suche nach unberührten, paradiesischen Naturräumen wie bei Albrecht v. Haller8 oder auch Horace B. von Saussure, dem auf seinen Reisen durch die Alpen 1787 die Besteigung des Montblanc gelang und der einen neuen, empfindsamen Ton bei der Betrachtung der Berge anschlug.9 Schließlich entstand in diesen Jahrzehnten auch die durch Kant und Burke angeregte Auseinandersetzung um das Erhabene, die in den Gipfelerfahrungen einen neuen Höhepunkt fand.10 Die touristische Erschließung der alpinen Bergregionen im 19. Jahrhundert eröffnete dann einer großen Zahl von Bergsteigern und Bergwanderern diese Erfahrung, führt aber auch gegenwärtig in die bislang schwerste Krise, die drohende Zerstörung dieses Naturraums. Ein erster empirischer Zugang zum Thema erschließt sich nun in der genauen Wahrnehmung eines Bergsettings mit besonderem Gipfelmobiliar. Typisch ist geradezu der Aufruf religiöser Traditionen, typisch auch, wie konfliktbeladen dies ausgetragen wird. Ein erster Gang auf einen Berggipfel macht dabei evident, welches methodische Geschick eine weitere Analyse aufweisen muss.

7 Vgl. besonders Burnet, Theory. 8 Eindrücklich ist besonders von Hallers Lehrgedicht „Die Alpen“, das die Alpen erstmals als Teil einer als ursprünglich anzusehenden Natur entdeckt, es entstand nach einer längeren Reise durch die Schweizer Alpen 1728: „Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, / Umschließt kein harten Zwang der Liebe holdes Reich. / Was liebenswürdig ist, wird ohne Scheu geliebet, / Verdienst macht alles wert, und Liebe macht es gleich. / Die Anmut wird hier auch in Armen schön gefunden, / Man wiegt die Gunst hier nicht für schwere Kisten hin, / Die Ehrsucht teilet nie, was Wert und Huld verbunden, / Die Staatssucht macht sich nicht zur Unglücks-Kupplerin: / Die Liebe brennt hier frei, und scheut kein Donnerwetter, / Man liebet für sich selbst, und nicht für seine Väter“ (Haller, Alpen, 36ff). 9 In seinem Hauptwerk, Voyages dans les Alpes, von 1779 heißt es etwa: „Jene unermesslichen und uralten Felsen, die das an ihren Flanken austretende Wasser hat schwarz werden lassen und zwischen denen immer wieder glitzernde Schnee- und Eisflächen zu sehen sind, bieten, erblickt man sie bei schönem Wetter in der durchsichtigen Luft jener Hochgebirgsregion, das großartigste Schauspiel, das man sich nur denken kann. […] Wer sich auf den Gipfeln der Alpenberge diesen Meditationen hingegeben hat, der weiß, um wie vieles tiefer, weiter und erhellender sie sind, als wenn man eingezwängt ist in die Wände einer Studierstube“ (vgl. Reichler, Entdeckung, 87). 10 Vgl. ebd., 96 ff.

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Erster Anweg zum Berg

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1.1 Erster Anweg zum Berg: Der Säntis und der Streit der Religionen Wer an einem klaren und nicht zu verschneiten Tag mit der Kabinenschwebebahn von der schweizerischen Schwägalp auf den Säntis gelangt, der entdeckt auf dem höchsten Berg des Appenzeller Landes auf 2500 m Höhe wenige Meter unterhalb des Gipfels seit wenigen Jahren ein kleines Metallkreuz. Mittels eines gut ausgebauten Weges, der auf dem Bergplateau zum Gipfel führt, kann man das Kreuz erst von unten, dann von oben her betrachten und findet an einem nahe gelegenen Metallzaun eine kleine Tafel, die in den Sprachen deutsch, französisch, italienisch und englisch jeweils Worte des Joahnnesevangeliums zitiert, nämlich: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ (Joh 3,16)

Ungewöhnlich ist es nicht, dass man im Alpenraum auf ein Kreuz am Gipfel eines Berges stößt, eher schon, dass dieses Kreuz nicht auf dem Gipfel selbst steht, sondern wenige Meter unterhalb. Der höchste Punkt des Säntis ist nämlich einer Wetterstation vorbehalten. Ungewöhnlich ist ferner, dass diesem schlichten Kreuz eine biblische Leseanleitung beigefügt ist. Und schließlich ist ganz und gar erstaunlich, dass wenige Meter neben diesem Kreuz ein Gedenkstein der tibetischen Gemeinde der Schweiz angebracht ist, verbunden mit einem stupa, einem buddhistischen Kultstein. Das alles auf einem Berg, der mit seinen 2502 m als der höchste und geschichtsträchtigste Berg der ganzen Ostschweiz gilt und dem gleichnamigen Säntisgebirge seinen Namen gegeben hat, also gleichsam von großer symbolischer Kraft zeugt. Auf den Säntis führt eine äußerst populäre Seilbahn, die pro Jahr über 400000 Besucher auf den Gipfel und wieder hinunter bringt. Besonders begehrt ist der Besuch des Säntis auch durch seine besondere Panoramasicht, die man bei klarer Sicht genießen kann. Nicht weniger als sechs verschiedene Länder sind vom Säntis aus sichtbar. Der Säntis vereinigt also hohe touristische Attraktivität mit einem ungewöhnlichen Mobiliar religiöser Zeichen. Beides hängt mit der naturräumlichen Struktur des Berges und einer besonders bemerkenswerten Religionsdebatte der letzten Jahre zusammen. Worum geht es? Die exponierte Lage und die beeindruckende Sicht vom Gipfel hat dem Säntis schon früh in der Besiedelung dieses Teils der Alpen eine zentrale Rolle zugewiesen.11 Das Jahr einer ersten Besteigung ist nicht überliefert, dafür ist dies trotz der widrigen Wetterumstände, die hier auftreten können, nicht anspruchsvoll genug. Die touristische Nutzung des Berggipfels beginnt 1846 mit dem Bau eines einfachen Gasthauses, das im Jahr seiner Einweihung immerhin bereits 600 Gäste beherbergt. Im Zuge einer gesamtschweizerischen 11 Der Name Säntis ist seit dem 9. Jahrhundert schriftlich überliefert. In der Zeit der Helvetischen Republik gab der Berg dem Kanton Säntis seinen Namen.

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Einleitung

Entwicklung der Meteologie wird 1882 der Gipfel des Säntis zur Wetterstation. Schließlich wird 1935 nach mehrjähriger Planungs- und Bauzeit die erste Schwebebahn von der Schwägalp zum Säntis fertig gestellt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gipfelareal des Säntis weiter ausgebaut. 1957 wurde ein Sendeturm für Radio- und Fernsehübertragungen gebaut, 1968 eine neue Schwebebahn.12 Heute beherbergt der Gipfel auch ein modernes, mehrstöckiges Gebäude mit einem großen gastronomischen Angebot. Inmitten dieses touristisch genutzten Gebäudekomplexes fand im August 2001 eine erstaunliche Veranstaltung statt. Die Tibeter-Gemeinschaft, vertreten durch ihren Präsident Kalsang Chokteng, eröffnete eine Ausstellung über Tibet innerhalb des Gebäudekomplexes auf dem Säntis und übergab eine Danktafel, die an die Aufnahme von Tibetern 1960 in der Schweiz erinnert.13 Das Areal um die Tafel wurde mit tibetischen Gebetsfahnen geschmückt und ein tibetischer Alpsegen wurde gesprochen. Was im Zusammenspiel dieser religiösen Zeichen tatsächlich religiös konnotiert ist, lässt sich schwer abschätzen. Der politische Anlass vermengt sich in dem Anliegen der Tibeter mit althergebrachter Volkskultur, aber eben auch mit einer der westlichen Kultur fremden Religiösität. In der publizistischen Nachbereitung des Ereignisses wird daher festgestellt, auch wenn die Errichtung eines stupa geplant sei sowie jährliche Gedenktreffen auf dem Säntis, so beabsichtige man keine „buddhistische Missionierung, wie vorsorglich betont wurde.“14 Der wenig später tatsächlich errichtete stupa stellt auf einem alpinen Gipfel ein Novum dar. Fest in die Erde einbetoniert und ca. 1,5 m hoch, greift der Stein eine alte buddhistische Tradition auf, die bis heute im gesamten asiatischen Raum weit verbreitet ist. Ein stupa hat in der Regel die Form einer Pagode und entstand ursprünglich, um einen Ort zur Aufbewahrung von Reliquien Buddhas zu schaffen. Als Hauptfunktionen gegenwärtiger Nutzung lassen sich stupas unterscheiden, die als Ziel einer Wallfahrt Reliquien verwahren, dann jene, die an ein Geschehen dankbar erinnern und schließlich jene, die einen heiligen Ort markieren.15 Es scheint, dass der öffentlichkeitswirksame tibetische Ritus und die Errichtung eines wenn auch unscheinbaren stupa zu einer, martialisch gesprochen, „Rechristianisierung“ des ja ursprünglich von religiösen Zeichen freien Gipfelplateaus des Säntis geführt hat.16 Tatsächlich wurde nämlich im Sep12 Vgl. http://www.saentisbahn.ch/pages/d/geschichte (eingesehen am 20. 09. 2010). 13 Der Text der Inschrift lautet: „Die Schweiz nahm als erstes Land im Westen ab 1960 Tausend tibetische Flüchtlinge auf. Inzwischen fanden 2000 Tibeterinnen eine neue Heimat. Die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz dankt der schweizerischen Bevölkerung und Regierung für ihre großzügige Hilfe.“ 14 Wehrli, Asyl, 10. 15 Vgl. Oberlies, Buddhismus, 191. 16 Einen Sonderfall ganz eigener Art stellt ein Kreuz dar, dass von einer Züricher Initiative zur

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tember 2005, im Rahmen des schweizerischen Bettags17, ein Kreuz eingeweiht, dass sich wenige Meter neben dem stupa auf einer Höhe mit diesem befindet. Im Bulletin des „Landeskirchen-Forums“, einer konservativ reformierten Kirchenzeitung, heißt es: „Am 21. Juli 2001 errichteten Tibetermönche auf dem Säntis einen stupa (nach buddhistischem Glauben eine Art Kraftort, der mit anderen stupas friedensspendend vernetzt wird). Sie taten dies mit Bodensegnung und Ritualen – als Zeichen der Dankbarkeit für die Aufnhame der Tibeter in der Schweiz. Dies weckte Christen um den Säntis auf. Die Frage erhob sich: Nimmt der Gast in unserem Land nun die Stelle des Hausherrn ein auf dem höchsten Berg? Sind wir als Kirche unsren freundlichen Gästen das Evangelium schuldig geblieben, die Botschaft der Liebe Gottes vom Kreuz?“18

Das schlichte Metallkreuz auf dem Säntis und die Tafel mit Worten aus Joh 3,16 sind also als eine direkte Antwort auf den stupa zu verstehen. Bemerkenswert ist die enge Verknüpfung von kirchlichem Anliegen und politischer Form, wurde doch das Kreuz bewusst an einem Bettag eingeweiht, eingerahmt von etwa zweihundert Fahnenträgern. Bemerkenswert ist das Gebet, dass anlässlich dieser Einweihung gesprochen wurde. Es beginnt mit folgenden Worten: „Du grosser gewaltiger Schöpfer Himmels und der Erde, Du Schöpfer unseres Landes, Schöpfer des Säntis und aller Schönheit, unser Schöpfer. Du bist so unendlich gross und doch sind wir Dir nicht zu klein. Danke, dass du Mensch wurdest in Jesus Christus wie wir. Du hast unser Leben mit uns geteilt bis zum Tod am Kreuz und Dich zum Opfer gebracht uns zugut. Danke, dass Dein Kreuz unser Bundeszeichen ist. Danke, dass nun ein Kreuz als Zeichen Deiner Liebe auch hier auf dem Säntis steht.

Unterstützung Arbeitsloser hergestellt und im April 2003 als Gebetsfenster im Inneren des Gebäudekomplexes auf dem Säntis an einer Wand angebracht wurde. Auf der beigegeben Hinweistafel ist zu lesen: „Dieses Schweizerkreuz ist ein Gebetsfenster gegen das Vergessen von existentiell Bedrohten und sozialen Randgruppen in unserem Land und möchte zur gelebten Solidarität mit ihnen aufrufen. Es hatte seinen Auftritt beim ökumenischen Bettagsgottesdienst an der Schweizerischen Landesausstellung EXPO.02, am 15. September 2002 in Murten. Die farbenen Glasscherben sind von einer Gebetsgruppe der Evangelisch reformierten Kirchgemeinde Zürich-Altstetten, Projekt Solidarität mit Arbeitslosen, während ihren wöchentlichen Fürbitte-Gebetszeiten gesammelt worden. Zusammengelegt im weissen Kreuz auf rotem Grund finden Hilflose zur Gemeinschaft mit Jesus Christus. Säntis, 30. April 2003.“ Offensichtlich steht im Vordergrund, den exponierten Ort des Säntis mit seinen vielen Besuchern als Forum für eine Bewusstseinsschärfung in Sachen Arbeitslosigkeit zu nutzen. 17 Der sog. Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wird in allen Schweizer Kantonen mit Ausnahme des Genfer Gebiets als ein staatlich angeordneter überkonfessioneller Feiertag begangen. Er findet seit 1832 immer am dritten Sonntag im September statt und beinhaltet Bettagsmandate, also Themen und Inhalte, die im jeweiligen Jahr im Mittelpunkt des Bittens und Dankens stehen. Ursprünglich von der staatlichen Gewalt verfasst, werden gegenwärtig aus einer reichen Tradition schöpfend auch kirchliche Texte verwendet. 18 Heyd, Kreuz, 6.

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Segne alle, die das in die Wege geleitet haben. Danke, dass wir über dem Kreuz Dich selber im Himmel ehren lernen.“19

Wiederum wird die enge Verbindung zwischen religiösem und politischem Vokabular deutlich. Kreuz Christi und Schweizerkreuz stehen hier in einem wechselseitigen Legitimationsverhältnis („Schöpfer unseres Landes“). Der angerufene Gott wird als Schöpfer angesprochen, dann aber wird das Kreuz als „Bundeszeichen“ benannt. So wird noch einmal der Zusammenhang zwischen Kreuz und Bibelvers sichtbar. Es fällt zudem auf, dass diejenigen, die für die Finanzierung und Aufstellung des Kreuzes verantwortlich waren, besonders hervorgehoben werden („Segne alle, die das in die Wege geleitet haben“). In alledem wird der Säntis als Ort sichtbar, an dem sich naturräumliche Gegebenheiten mit politischen und gesellschaftlichen Einflussnahmen mischen. Zum einen erhält der Säntis seine besondere Bedeutung durch seine Höhe und seine Dominanz gegenüber anderen Bergen des Appenzeller Landes. Zum anderen spielt jene natürliche Beschaffenheit des Säntis in den religiös wie politisch motivierten Statusfragen praktisch keine Rolle mehr. Der Berggipfel des Säntis ist eine offensichtliche Bühne – mehr nicht. So belegt der Zeichenstreit auf dem Säntis eindrücklich, wie konfliktreich und gegenwärtig die „Religion der Berge“ ist, sie zeigt freilich in noch größerem Maß, dass das, was diese Religion der Berge ausmacht, auf dem Säntis auf kaum zu überbietende Weise eher verschüttet als erhellt wird. Das hat drei klare Gründe: Erstens:. Die touristische Erschließung des Säntis hat früh verhindert, dass diejenigen, die den Berg besteigen wollen, dies auch wirklich tun. Die Seilbahn überbrückt mühelos innerhalb weniger Minuten fast tausend Höhenmeter und ermöglicht es, den Berg ohne jede körperliche Anstrengung in Kürze zu „bezwingen“. In Verbindung mit dem ausgebauten Gastronomiekomplex ist es möglich, sich mehrere Stunden auf dem Säntis aufzuhalten und dabei direkt von der Seilbahnkabine in das Innere des Gebäudes zu gelangen, ohne ins Freie zu gelangen. Die Berg- und Talwelt, die vom Gipfel des Säntis allgegenwärtig ist, bleibt so eine pittoreske Kulisse. Auf der Suche nach der Religion der Berge ist die Wahrnehmung also unbedingt dort anzusiedeln, wo sie in eine leibbezogene Erfahrung integriert ist. Diese Erfahrung und ihre methodisch genau zu reflektierende Wahrnehmung ist ausreichend komplex anzulegen: Bergaufstieg und Abstieg sind klarer zu unterscheiden, unterschiedliche Körperregionen werden jeweils zentral angesprochen (Atem, Blick, Hörsinn etc.). Zweitens. Der Gipfel des Säntis ist eingebettet in ein hochkomplexes Naturraumsetting, das touristische, politische, religiöse, aber nicht zuletzt auch 19 Ebd., 12.

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Zweiter Anweg zum Berg

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naturwissenschaftliche Sphären des Erlebens mischt und jeweils neu zusammenfügt. Institutionelle Einflussgebiete sind zu decodieren, Symbole zu deuten. Besonderes Merkmal hierbei ist die „inszenierte“ Naturerfahrung, etwa durch Blicklenkung auf den Aussichtsterrassen oder das Angebot an Ansichtskarten. Drittens. All dies wirft die Frage nach der religiösen Dimension des Berggipfels überhaupt erst auf. Welche Wirkung entfaltet ein Berggipfel auf Wanderer und Bergsteiger? Und welche kulturellen Traditionen spielen hierbei eine Rolle? Der Säntis überformt die Ursprünglichkeit jenes Gestus jedenfalls durch Bebauung und kommerzielle Nutzung. Aber wo liegen diese Elemente, die uns bereits in anderen Naturräumen begegnet sind, verborgen? Wie kann es gelingen, diese als gegenwärtig gelebte Religion auch und gerade empirisch einzuholen, ohne längst bekannten Stereotypen der Bergliteratur („Der Berg ruft!“) zu erliegen? Es geht also darum, in jeder literarischen Gestalt sich als abhängig von Traditionen dieser Textgattungen zu sehen, sich zugleich aber bewusst von diesen Traditionen abzusetzen und ihre zentralen Vorstellungen und Ideologien zu hinterfragen.

1.2 Zweiter Anweg zum Berg: Der Mont Ventoux und das Problem der literarischen Inszenierung Eine Schlüsselstellung für Bergerfahrungen am Beginn der Neuzeit und zugleich textus classicus und Referenzrahmen für unzählige spätere Schilderungen ist Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336.20 Dieser, in der französischen Provence, im Department Vaucluse gelegene 1912 m hohe Berg, gehört bis heute zu den prominentesten Bergen seiner Kategorie, nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er durch seinen besonders anspruchsvollen Anstieg, die karge Vegetation und das besondere Klima zu den Höhepunkten vieler Tour-de-France-Etappen gehört.21 Petrarcas Text nun erweist sich nicht allein deshalb als so bedeutsam, weil er am Anfang einer langen Reihe von Gipfelerfahrungen und literarischen Zeugnissen auch jenseits des Mont 20 Vgl. Petrarca, Besteigung. 21 Eindrucksvoll ist der Zusammenhang zwischen körperlicher Anstrengung und spiritueller Herausforderung in Roland Barthes’ kurzem Text „Die Tour des France als Epos“ beschrieben: „Die Etappe, die der stärksten Personifizierung unterworfen wird, ist die des Mont Ventoux. Die großen Gebirgspässe der Alpen oder Pyrenäen, so hart sie auch sind, bleiben trotz allem Übergänge, sie werden als zu überquerende Objekte empfunden […] der Ventoux hingegen hat die Fülle des Berges, er ist ein Gott des Bösen, dem man opfern muss. Als echter Moloch, als Despot der Fahrer, verzeiht er niemals den Schwachen, lässt sich einen ungerechten Tribut an Leiden bezahlen. […] Sein absolutes Klima […] macht aus ihm ein verdammtes Gelände, einen Ort der Prüfung für den Helden, etwas wie eine höhere Hölle, in der der Fahrer die Wahrheit über sein Heil festlegen wird“ (Barthes, Sport, 85).

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Ventoux steht.22 Zugleich nämlich zeigen sich an dem Text Petrarcas selbst genau jene Merkmale, die den ambivalenten Charakter einer jeden Literarisierung dieser Naturerfahrung am Berg bis heute ausmachen: Das Verhältnis von Natur und der je eigenen Leiblichkeit von naturräumlicher Erfahrung, die eben auch religiöse Deutung dieser Erfahrung und schließlich der Inszenierungsgestus dieser Erfahrung. In jenem als Brief gestalteten Dokument an Francesco Dionigi de Robertis von Borgo San Sepolcro, der Petrarcas Beichtvater war, schildert Petraca den Aufbruch von Malaucene aus, den er mit seinem Bruder Gherardo unternahm; als sicher kann mittlerweile gelten, dass Petrarcas „unmittelbares Nacherleben“ der Bergbesteigung eine literarische Fiktion ist und der sorgfältig komponierte Text erst 1353, also siebzehn Jahre später verfasst wurde.23 So ist das hier geschilderte Naturerleben, von welchen Vorarbeiten und Notizen auch immer ausgehend, ganz bewusst in die kunstvolle Aufnahme früherer Naturreflexionen eingewoben. Auffällig ist der sinnliche Eindruck, den der Mont Vontoux auf Petrarca machte. Es geht ihm um die Erfahrung des Sehens.24 Dieses Sehen ist aber eben zugleich auch auf historische Vorbilder bezogen, bei Petrarca durch die Lektüre von Livius’ Römischer Geschichte angeregt. Wahrnehmung ist in diesem vormodernen Kontext eben vor allem traditionsgeleitet. Ebenfalls bemerkenswert ist, um die körperliche Beanspruchung dieser Gipfelbesteigung einzuordnen, dass Petraca und sein Bruder von ihren jeweiligen Dienern, der Sitte ihrer Zeit folgend, begleitet wurden.25 Petrarca steht nun mit seinem Text genau an der Scheidelinie zwischen religiösem Tabu des Gipfels und der religiös aufgeladenen Schau der Gipfelerfahrung, die die Bergbesteigung nach sich zieht. Petrarcas Komposition enthält dann auch einen vertrauten Topos, die Warnung vor der Bergbesteigung am Morgen 26. April 1336: „Einen uralten Hirten trafen wir an den Hängen des Berges, der uns wortreich von der Besteigung abzuhalten suchte, indem er sagte, er habe vor fünfzig Jahren mit demselben Ungestüm jugendlichen Feuers den höchsten Gipfel erstiegen, habe aber nichts von dort zurückgebracht außer Reue und Mühsal und einen von Felszacken

22 Zu den ganz frühen Zeugnissen von Bergliteratur gehört auch Leonardo da Vincis Bericht aus dem Jahr 1510 über die Besteigung des 2556 m hohen Monboso und eine erste „realistische“, weil perspektivische Alpendarstellung und die Besteigung des Pilatus durch den Schweizer Bergforscher Conrad Gessner im Jahr 1555, der zuvor um eine Genehmigung durch den Luzerner Bürgermeister nachsuchte. 23 Vgl. Groh/Groh, Petrarca, 290 ff. 24 „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, „den Windingen“, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen […] Dieser Berg, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“ (5) 25 Vgl. 9.

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und Dornsträuchern zerfetzten Leib und Mantel, und weder jemals von jener Zeit noch nachher habe man gehört, dass irgendwer Ähnliches gewagt habe.“ (10)

So folgt dieser Warnung eine regelrechte Inszenierung des Aufstiegs als Zurücklassen vertrauter Lebenssicherheiten: „Wir lassen bei ihm alles zurück, was irgend an Kleidern oder sonst einem Gegenstand hinderlich sein könnte, machen uns einzig und allein für den Aufstieg fertig und steigen beschwingt in die Höhe. Aber wie es fast immer der Fall ist, folgt dem kolossalen Anlauf schnell die Ermattung auf dem Fuß.“ (11) „In der Tat liegt das Leben, das man das selige nennt, auf hohem Gipfel, und ein schmaler Pfad, so heißt es, führt zu ihm. Auch viele Hügel ragen dazwischen auf, und von Tugend zu Tugend muss man mit erhabenen Schritten wandeln; auf dem Gipfel ist das Ende aller Dinge und des Weges Ziel, auf das hin unsere Pilgerreise ausgerichtet ist.“ (13 f) „[…] Dieses Nachdenken hat mir in unglaublicher Weise Seele und Leib für den Rest des Weges aufgerichtet.“ (15)

Petraca parallelisiert den Gipfelaufstieg also mit einer religiösen Erfahrung der mystischen Schau, die sich im Bildfeld des „Aufwärtsstrebens“ zeigt. Der Aufstieg zum Berggipfel ist für ihn Eintreten in die Sphäre des Himmels. Auf dem Gipfel angekommen, wirkt das „Ich“ in Petrarcas literarischer Komposition vollständig benommen. Die Totalität dieses Natureindrucks wird aber schon bald literarisch transformiert. Es folgt die berühmteste Passage in Petracas Zeugnis, nämlich gleichsam die theologische Legitimation dieser Bergbesteigung. Das Unerhörte dieser Natureroberung wird mit der berühmtesten Selbstintrospektion seiner Epoche, den Confessiones des Augustinus26 korreliert: „Während ich dies eins ums andre bestaunte und bald an Irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in das Buch der Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen, eine Gabe, die ich Deiner Wertschätzung verdanke. […] Ich öffne es, um zu lesen, was mir gerade vor die Augen treten würde. Was denn könnte mir gerade vor die Augen treten außer Frommem und Gottergebenem? Zufällig aber bot sich mir das zehnte Buch dieses Werkes dar. Mein Bruder stand voller Erwartung, durch meinen Mund etwas von Augustinus zu hören, mit gespitzten Ohren da. Gott rufe ich zum Zeugen an und ihn eben, der dabei war, dass an dieser Stelle, auf die ich zuerst die Augen heftete, geschrieben stand: Und des gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ (23)

26 Augustinus, Confessiones, 10,8,15.

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Die Reaktion auf dieses Leseerlebnis ist eine weit reichende Verschiebung des äußeren auf den inneren Eindruck, eine Korrektur auf das gewohnte innere Bild des Betrachters, gleichsam Empirie im Geiste der reinen Anschauung: „Ich war betäubt, ich gestehe es […], schloss das Buch, zornig auf mich selber, dass ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß. Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst, und von jener Stunde an konnte keiner mich reden hören, bis wir ganz unten angelangt waren; jenes Wort hatte mir genügend stumme Beschäftigung gebracht.“ (25)

Die „stumme Beschäftigung“ ist das Resultat eines kritischen Dialogs zwischen exstatischer Naturerfahrung und tugendhaftem Leben im Geiste der Bibel. Auch wenn Petrarca diesen Dialog klar zugunsten der schriftgeleiteten Tradition entscheiden lässt, so ist doch das wirklich Neue daran die Tatsache, dass hier überhaupt der Berggipfel ein Ort der Erfahrung wird. Noch freilich tritt der Blick auf den Berg am Ende ganz hinter den Blick in die Bücher zurück.27 Es folgt der Rückweg, der zu jeder Bergwanderung mit Gipfelerfahrung dazugehört. Auch hier fällt der literarische Inszenierungsgestus noch einmal auf: „Wie oft, glaubst Du, habe ich an diesem Tag auf dem Rückweg mich umgewendet und den Gipfel des Berges betrachtet, und der schien mir kaum die Höhe einer Elle zu haben im Vergleich zur Höhe menschlicher Betrachtung, wollte man sie nur nicht in den Schmutz irdischer Gemeinheit eintauchen.“ (27)

1.3 Methodologische Klärungen Die weitere Analyse versucht nun, gegenwärtige Erfahrungsmuster im Naturraum Berg in diesen historischen Mustern von Erfahrung und Inszenierung ernst zu nehmen und sich zugleich der am Säntis und Mont Ventoux aufgeworfenen Fragestellungen methodologisch zu stellen. Jede angemessene Beschreibung einer solchen naturräumlichen Erfahrung hat also dem unbedingt literarischen Grundgestus im Lichte der Tradition Rechnung zu tragen. Zugleich aber hat sie unbedingt zu berücksichtigen, dass diese literarische Form bei aller Fiktionalität in ihrer ursprünglichen Wahrnehmungsschärfung leibgebunden ist. In eine systematische Beobachtung ist die genaue Wahrnehmung des ausgewählten Naturraumes eingebunden, intensive Befragungen, das Aufde27 „Unter solchen Bewegungen meines aufgewühlten Herzens kehrte ich in tiefer Nacht, ohne den mit spitzen Steinen besäten Weg wahrzunehmen, zu jener kleinen, bäuerlichen Herberge zurück, von wo ich vor dem ersten Sonnenstrahl aufgebrochen war.“ (29)

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cken von Verhaltensspuren und die im Sinne einer leibbezogenen Wahrnehmung auch teilnehmende Beobachtung nehmen ihren Ausgang bei einer im klassischen Sinn „Dichten Beschreibung“. Auf die methodenkritische Reflexion kann hier, wie gesehen, nach der ausführlichen Würdigung verzichtet werden. Im Sinn der heuristischen Funktion einzelner Methoden für den Gesamtzusammenhang dieser Arbeit ist es lohnend, die bislang erprobten Methoden Diskursanalyse und Dichte Beschreibung zu kombinieren, gerade im Hinblick auf die Verwendung von Alltagsdokumenten. Neu ist dabei die besondere Berücksichtigung der Räumlichkeit dieser Dokumente.28 Besonderes Augenmerk gilt dabei einer texttheoretisch fundierten Analyse von Gipfelbüchern. Schließlich intensiviert sich die Einbeziehung des „Forscher-Körpers“ noch einmal. Eine genaue Analyse des Gipfels ist fundamental mit der leiblichen Präsenz an diesem Ort verbunden.29 Ausgewählt wurde der Hohe Freschen, der höchste Berg des Bregenzer Waldes (2004 m), oberhalb von Laterns gelegen, ca. 20 km östlich von Rankweil. Der mehrtägige Aufenthalt in einer nahe dem Hohen Freschen gelegenen Pension, die Gespräche mit Einheimischen und mit Touristen, die Erkundung von Laterns, die Analyse der naturräumlichen Strukturen und natürlich die intensive Begehung mit Besteigen des Gipfels bilden die Grundlage der weiteren Analyse.

2. Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen 2.1 Laterns – im Tal Meine Anreise erfolgte im August 2008 über Autobahnen und Kreisstrassen nach Rankweil. Die Ankunft im Ort glich einer Reise durch ein Nadelöhr. Die Geschwindigkeit meines Autos verlangsamte sich, je weiter ich in das Laternser Tal einfuhr, die Straßen wurden kleiner, schmaler und kurvenreicher. Der Weg von Rankweil nach Laterns ist ein typischer Serpentinenweg in die Höhe. Links 28 Der Berggipfel ist eingebettet in ein hochkomplexes Naturraumsetting, das betrifft zunächst die unterschiedlichen Raumnutzungen, die abhängig von der jeweiligen Höhe sind. Dörflicher Lebensraum, Wirtschaftraum, touristischer Wirtschaftsraum und Naturschutzraum gehen ineinander über und „inszenieren“ Naturerfahrungen. Fragt man nach den religiösen Dimensionen dieser sich eröffnenden Naturerfahrung, so fällt zunächst die oftmalige Unverbundenheit zwischen Tal und Berg auf. Dies legt auch kontrastive Vergleiche beider Räume und ihrer Nutzer nahe. Im Zentrum der Analyse steht also nicht allein der losgelöste Gipfelaugenblick, sondern der Raum, in dem dies angelegt ist. 29 Die Leibbezogenheit der Wahrnehmung ist unbedingt zu unterstreichen. Sie wird daher intensiv ausfallen, aber vor allem vielschichtiger als bislang in den Blick gekommen. Auf- und Abstieg sind klarer zu unterscheiden, unterschiedliche Körperregionen werden jeweils zentral angesprochen (Atem, Blick, Hörsinn etc.).

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Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen

und rechts wurden tiefe Abhänge sichtbar. Jetzt, im Spätsommer, waren noch immer viele Touristen unterwegs. Auf einem Parkplatz unterhalb Laterns hielt ich kurz an, versuchte mich zu orientieren. Die Autos auf dem Parkplatz hatten Nummernschilder aus ganz Österreich und Deutschland. Laterns ist, so zeigen es die Skiliftanlagen, ein sicheres und daher beliebtes Skigebiet, aber durch den Hohen Freschen ist dieses Feriengebiet auch im Sommer beliebt. Im Zentrum von Laterns angekommen, fiel mir die alte Dorfmitte dieses überformten Straßendorfes sofort auf. Jetzt, in der Mittagszeit, waren wenig Menschen auf der Straße zu sehen und ich hatte die Gelegenheit, mich in Ruhe umzuschauen. An zentraler Stelle befinden sich die wichtigsten Gebäude des Dorfes, die zentrale Bedürfnisse der Bevölkerung widerspiegeln. Der alte Dorfgasthof „Gasthof Löwen“, auf dessen Internetseite ich gelesen hatte: „Hier trifft sich Bevölkerung des Dorfes“, empfängt die Besucher mit der einzigen Einkehrmöglichkeit. Wanderer und andere Touristen, die mir begegneten, essen hier, auf der Draußenterrasse des Gasthofes zu Mittag. Alle Autos, LKWs und Busse, die durch das Laternser Tal fahren, fahren hier vorüber. Augenblicke der Stille wechseln ab mit starkem Motorenlärm. Gegenüber vom Gasthof das Rathaus von Laterns. An dem weiß getünchten und mit Blumen geschmückten Haus bemerkte ich die grünen Fensterläden, die sich von der weißen Fassade abheben. In dem Haus befinden sich auch eine Bäckerei und eine Bank. Vor dem Haus ein Fahnenmast mit der Fahne des Bundeslandes Vorarlberg. Nur wenige Schritte entfernt von diesem „Dienstleistungszentrum“ befinden sich die Pfarrkirche von Laterns und der Friedhof des Ortes. Im Eingangsbereich des Rathauses befindet sich eine liebvoll gemalte Informationstafel, die über den Ort informiert. Über die Kirche lese ich in dieser Gemeindechronik: „Bereits 1411 wurde eine am Standort der heutigen Pfarrkirche erbaute Kapelle eingeweiht. Die Ende des 15. Jahrhunderts erbaute größere Kirche wurde von Pfarrer Franz Schratz (1881 – 1894) vergrößert, regothisiert und restauriert. Zu den namhaften Kunstwerken der Kirche zählt das Sakramentshäuschen aus grauem Sandstein mit der Jahreszahl 1509. – An die Herkunft der Walser erinnern eine am Hochaltar eingesetzte Theodulstatue aus dem 15. Jahrhundert, zwei an der Außenseite der Kirche eingesetzte Steine aus Sitten und ein an der Vorderfront angebrachter Serpentin aus dem Jahr 1892 mit der Inschrift: Gott zum Gruß – aus der alten Heimat Wallis.“ Beim Gang um die Kirche herum tut sich ein besonderer Blick auf: Jenseits einer Hütte und einer Wiese kann man bis ins Tal sehen. Dann schaue ich den Friedhof genauer an. Mir fällt an der Nordseite des Areals eine Urnenwand auf, später begegnen mir zwei ältere Frauen mit einer Gießkanne. Dieses Dorf, so geht mir durch den Kopf, könnte sich überall im ländlichen Raum befinden. Der Friedhof, überhaupt der ganze Raum um die Kirche herum ist zweckmäßig und schlicht angelegt. Als ich die Kirche betrete, fallen mir die Verteilschriften auf, die sich in erster Linie an die katholischen Gemeindeglieder von Laterns und Umgebung wenden, neben einem Kirchenblatt liegen dort Veranstaltungshinweise und dazu ein Fürbittblatt der Hl. Katharina Drexel, deren Großvater

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Laterns – im Tal

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aus dem benachbarten Dornbirn stammte. Die Heiligsprechung der 1858 geborenen Frau fand laut dieses Prospekts am 1. 10. 2000 statt, wie ich später erfahre, wird sie in Laterns als „Dorfheilige“ verehrt. Auf dem Blatt lese ich: „Sie gründete die Kongregation der ,Schwestern vom Allerheiligsten Altarsakrament für Indianer und farbige Völker‘ […] ihr Lebensmotto war Selbsthingabe durch ein Leben aus der Eucharistie.“ Am nächsten Tag findet dann der Aufstieg zum Hohen Freschen statt. Nachdem ich in einer örtlichen Pension mein Quartier bezogen hatte, entschied ich mich, das Angebot meines Wirtes anzunehmen, am nächsten Morgen von ihm bis zur Gafohler Alpe gefahren zu werden, dort wollte er mir, nachdem ich mich als berginteressierter Pfarrer vorgestellt hatte, mit dem Pächter dieser Alpe bekanntmachen. Im Sinne der Methodik der „Dichten Beschreibung“ diente er also als „Türöffner“.30 Die am Abend zuvor vereinbarte Fahrt bis zur Gafohler Alpe begann um 7.00 Uhr morgens. Nachdem ich meine Ausrüstung im Kofferraum des Autos verstaut habe, geschieht etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Mein Fahrer stellt fest, es sei nicht üblich, sich anzuschnallen! Durch eine Erkundung am vorangegangen Tag wusste ich, dass der Weg, der zu fahren war, wiederum steile Abhänge besaß. Der Wirt weist mich auf Marienplakette hin, die sich oberhalb seines Autoradios befindet. Dann fügt er hinzu: „Wir haben doch beide ein reines Gewissen, da kann uns doch nichts geschehen“. Kurze Zeit später, als ich mich beeindruckt von der „Landschaft“ gezeigt hatte, sagt er : „Wir, die wir hier leben, haben ein anderes Verständnis der Natur“. Währenddessen erfolgt die Fahrt über schmaler werdende Feldwege bis zur Alpe. Die Sichtverhältnisse wechseln während der Fahrt gleichsam mit den Höhenmetern, der Baumbewuchs verändert sich, die Zahl der Bäume nimmt ab, mehr steiniges Geröll, die Sonne scheint stärker ohne Schatten, als wir das Tal verlassen. Als wir wenig später kurz vor der Alpe aus dem Auto aussteigen, drängt sich als erster Eindruck auf, wie klar die Luft hier ist. Die Wiesen stehen noch vor Feuchtigkeit, der Morgennebel ist bereits abgezogen, jetzt scheint die Sonne bereits sehr kräftig. Mit den ersten Schritten denke ich an Ausrüstung für diesen Tag. Ist meine Kleidung, sind die Schuhe angemessen gewählt, habe ich alles in meinem Rucksack, was ich für den weiteren Aufstieg benötige? Auf der Alm angekommen, wird mir die Grenze zum Naturschutzgebiet bewusst, die Alm ist der Abschluss des Bewirtschaftungsraumes, Plakate und Tafeln laden zum sanften Tourismus ein. Bis zur Alm führt ein Feldweg, dann hört dieser plötzlich auf. Die Alm besteht aus einem Haupthaus, einem Stall und zwei Nebengebäuden, „es riecht nach Landwirtschaft“; der Kontakt zu der Sennerfamilie wird durch einen schwer verständlichen Dialekt erschwert. Ich werde eingeladen, Milch zu trinken und, gleichsam als Mutprobe, als ich erwähne, bis zum Gipfel zu gehen, ein starkes, alkoholhaltiges Getränk. Jetzt 30 Vgl. Kapt. 3.2.2.

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Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen

kreist das Gespräch um Wilderei, der man nonchalant begegnet, hier, so erzählt man mir, gelten nicht die Gesetze des Tales. Dann beginne ich zu gehen. Meine ersten Eindrücke beim Höhengehen gelten dem Eintreten in das Naturschutzgebiet. Schnell erfahre ich, dass der Aufstieg eine Sache vor allem des Oberkörpers ist. Der Blick geht nach oben und unten, ein Rhythmus des Gehens stellt sich ein, Schritt für Schritt. Bald schon, um mich herum sehe ich keine anderen Bergwanderer mehr, gilt der stete, bange Blick den Wegmarkierungen, hier verdichtet sich erstmals das Gefühl, allein zu sein. Die Natur um mich herum, die Wiesen und bewaldeten Flächen, Geröll und Tümpel stellen sich mir unvermittelt entgegen, also ohne „Zusätze“ von Verkehrsstrukturen, ohne Technik, ohne Seilbahn, ohne andere touristische Nutzungen. Ich wähle einen Seitenweg abseits von der markierten Route und erlebe das Gefühl des Verbotenen zugleich aber auch einen Orientierungsverlust, später versuche ich eine Orientierung an „Spuren eines Traktors“, die verschwommen im Morast kenntlich sind. Dann wähle ich einen ersten Haltepunkt. Etwa hundert Meter von einer kleinen Alm mit einer Pferdekoppel entfernt, entdecke ich einen kleinen Hügel mit einem Kreuz. Grenzen und Zäune bestimmen das Bild, da ich offensichtlich den markierten Weg verlassen habe, stellt sich ein Gefühl von Wildheit ein, ich sehe hier keine Menschen. Die letzten Meter bis zum Kreuz zurückzulegen bedeutet, Zäune und morastige Tümpel zu überqueren. In mir entsteht der unbedingte Wunsch, diesen Ort zu erreichen. Als ich das Kreuz erreicht habe, sehe ich, dass es sich um ein einfaches, in einen Betonblock eingelassenes Holzkreuz handelt, das mit einem Stahlschaft gesichert ist. Auf dem Querbalken ist die Zahl 1990 eingeritzt, darüber befinden sich die Initialen „I.R.“. Am Fuße des Kreuzes entdecke ich eine florale Verzierung. Inmitten des Anstiegs zum Hohen Freschen bietet sich hier eine erste Möglichkeit eines Rundblicks, die sogleich den Wunsch nach einem Foto in mir auslöst. Es folgt der weitere Aufstieg zum Freschenhaus. Die Hütte wirkt auf mich beim Gehen als Anker und Schutzort. Ich versuche, sie beim Wandern stets im Blick zu behalten. Ich bin erst wenige Schritte seitwärts vom Weg und das Haus verschwindet vor meinen Augen. Wieder beginnt die Suche nach dem richtigen Weg; plötzlich entsteht in mir die Vorstellung, von den Hüttenwirten bei meiner Ankunft bestraft zu werden, erst später werde ich bemerken, dass man von dort oben die ankommenden Wanderer gar nicht sehen kann. Das Freschenhaus liegt inmitten eines Gebäudeensembles. Dem Freschenhaus vorgelagert ist eine kleine Kapelle, eine Wetterstation, die in einem kleinen, schlicht und zweckmäßig gehaltenen Metallkasten untergebracht ist, und ein Alpingarten. Ich beschließe, nachdem ich für einige Augenblicke ins Tal zurück geschaut habe, nun zuerst die Kapelle zu besuchen.

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Die Kapelle

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2.2 Die Kapelle Der Fahrer, der mich zur Gafohler Alpe gefahren hatte, hatte gesagt, er habe bei der Kapelle wie andere aus dem Dorf hier mitgebaut, Steine und Baumaterial „hochgeschleppt“, im Winter auf dem Schlitten. Jetzt stehe ich vor diesem einfachen Steinbau, oberhalb davon liegt der Alpengarten, auf dessen farbige Bepflanzung jetzt die Morgensonne fällt. Der Eingang zur Kapelle liegt dagegen im Schatten. So ist es hier noch recht kühl um diese Uhrzeit. Auf dem Dachreiter befindet sich eine kleine Glocke, am Eingang dagegen ein Gitter, das zur Tür hin geöffnet werden muss, beim Eintreten fällt mir die florale Fassung des Christusmonogrammes an der Tür auf. Die Grundfläche des einfach und schlicht gehaltenen Kapelleninnenraumes beträgt etwa 5 x 8 m, der Boden erzeugt ein schwankendes Gefühl, da die Holzbohlen nachgeben. Die Wände sind weiß gekalkt, einfache Rundholzbalken tragen die Holzdachkonstruktion, überhaupt dominieren die beiden Materialien Holz und Stein. Man betritt die Kapelle von Süden und der erste Blick fällt auf das Zugseil der turmhohen Glocke und eine kleine Glocke im Innenraum. An der Westwand stehen zwei Bierbänke, an der Süd- und Nordseite des Innenraumes liegen auf Steinen lagernde Holzbalken als Sitzgelegenheit auf. Dominiert wird der Raum an der Ostseite von einem Altartisch, der sich auf einem dreistufigen Podest befindet. Davor befinden sich lediglich zwei Kniebänke. Der rötlich schimmernde Tisch ist mit einem weißen, gestickten Altartuch bedeckt, an dessen Vorderseite rot eingestickt zu lesen ist: „Hl. Bernhard, Patron der Bergwanderer, bitte für uns!“ Der Altar ist mit einem ebenfalls hölzernen Kruzifix geschmückt, links und rechts davon gedrechselte Holzvasen mit einem Zweig Tannengrün und daneben außen zwei Holzkerzenständer mit einer Kerze. Direkt neben dem Kreuz steht eine kleine Glasvase mit einigen verblühten, wohl aus dem nahen Alpengarten stammenden Blumen. Die Ostwand der Kapelle, die hinter dem Altar sichtbar ist, bietet in aufsteigender Höhe zunächst eine einfache Bank als Sitzgelegenheit, darüber ein Bord mit liturgischen Gegenständen, wie Kerzen und einer kleinen Bibel. Darüber befindet sich eine fast die ganze Wandbreite ausnutzende Wandmalerei, die insgesamt vierzehn aufrecht stehende Heiligenfiguren zeigt. In der Mitte, direkt über dem Kruzifix sichtbar, fällt der Hl. Christophorus auf. Oberhalb der Heiligenfiguren befindet sich ein kleines aus farbigem Glas gestaltetes Rundfenster mit einer Frontalansicht des auferstandenen Christus, der dem Betrachter seine Wundmale zeigt. Durch das farbige Glas fällt das Licht. Die Kapelle weist an der Nordseite, dem Berggipfel am nächsten, keine Fenster auf, an der Südseite befinden sich zwei einfache Rundfenster, die aus blickdichtem, starkem Glas nur wenig zusätzliches Licht in den Raum eindringen lassen und eine Sicht nach draußen ganz verwehren. Der nächste Blick fällt auf die an den Wänden angebrachten Bilder und Urkunden. Im Nordosten der Kapelle befindet sich auf einem weiteren, klei-

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Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen

neren Bord, neben zwei Kerzenständern ein Fotorahmen, der drei Dokumente aufbewahrt: Eine gedruckte Todesanzeige mit dem Text: „Zur Erinnerung K. H. […] Immer das Beste gewollt – das Beste gegeben – uns wurde das Beste genommen.“ Darüber ein Foto, aufgenommen vor der Freschenhütte, auf dem – offensichtlich – der Verstorbene mit zwei weiteren Personen aufgenommen wurde. Das dritte Dokument in dem Rahmen ist eine Fotokarte, die ein Kreuz inmitten einer Berglandschaft zeigt und darunter den Spruch „Einer der schönsten Wege zu Gott führt über die Berge.“ Auf der gegenüberliegenden Seite der Kapelle, befindet sich hier eine hölzerne Marienfigur. An der Nordwand, nun wieder Richtung Westen ist im Stil des Altardeckengemäldes eine große, bunte Bernhardsfigur angebracht, die einen Verletzten birgt. Darunter die Worte: „(Hl. Bernhard) Patron der Bergsteiger“. Besondere Beachtung schenke ich drei Andenkentafeln für Laternser Bürger, die mit dem Bau oder Unterhalt der Kapelle besonders verbunden waren. Auf einer der Tafeln heißt es über O. N.: „Mitbegründer des Alpengartens verbunden mit tagtäglichem Besteigen des Hohen Freschen (2004 m) zwecks Ausbaus des Alpengartens (über 37 Blumenarten) […] Mit Schlitten Steine hochgeschleppt, unter lobenswerter Mithilfe des Freschenwirts und anderer Mithelfer, nebst ständiger Betreuung des E-Werks Innerlaterns. Allen verbundenen Kameraden, Berg Heil!“ Ein Andenken besonderer Art ist ein 1944 aus einer Hütte im Freschengebiet entwendetes Kreuz, das laut einem Brief des Pfarrers von Rankweil an den Obmann der Sektion Rankweil des Österreichischen Alpenvereins vom damaligen Dieb wieder zurückgegeben wurde und nun „einen Ehrenplatz“ in der Kapelle finden soll. Ich verlasse nun die Kapelle und wende mich einige Meter nach Norden zum Alpengarten. Dieser ist mit einem Weidenzaun umgeben und wird durch ein kleines Gartentor betreten. Der Garten wurde, so erfahre ich später, Anfang der fünfziger Jahre angelegt und bietet insgesamt 37 Alpenblumen- und Straucharten, die sich in mehreren Steininseln inmitten von Grünfläche und Tannen zeigen. Der Garten steigt nach Nord-Westen hin an und an der höchsten Fläche steht eine Bank. Von dort hat man nicht nur einen Blickkontakt zum Hohen Freschen, sondern auch zum Freschenhaus und zur Kapelle. Zu den hier angesiedelten Alpenpflanzen, die sich in Gruppen um Steinformationen angeordnet zeigen und jeweils mit einem Schild versehen sind, gehören Seidelbast (Daphne mezereum), Echtes Alpenglöckchen (Soldanella alpina), Rostrote Alpenrose (Rhododendron ferruginium), Zirbe (Pinus cembra), Gletscher-Petersbart (Geum reptans), Türkenbund (Lilium martagon), Alpenmannstreu (Eryngium alpinum) oder auch Frauenschuh (Cypripedium calceolus). 2.3 Weiterer Aufgang zum Hohen Freschen Das Areal mit Freschenhaus, Kapelle, Alpengarten und Wetterstation, die verschlossen ist und wenig Informationen preisgibt, verlässt man als Wanderer

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Der Gipfel des Hohen Freschen

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in Richtung Gipfel durch ein „Drehkreuz“, das wohl zum Schutz der Tiere angebracht ist und den Mountainbikefahrern das Durchfahren erschweren soll, es wirkt wie der Einlass zu dem letzten Anstieg. Der Hohe Freschen ist nun stets sichtbar. Das Freschenhaus will ich, einer alten Bergwandersitte folgend, erst nach erfolgtem Abstieg zur Einkehr nutzen. Ein Vergleich der Bilder im Kopf mit der Wirklichkeit hier und jetzt drängt sich auf. Es folgt zunächst ein sanft ansteigendes Stück Weg, dann wird es steinig; im Hinterkopf sind mir die Minutenangaben, von denen Wanderer gesprochen hatten, die ich am Vorabend getroffen hatte. Es folgt nun ein steiles Zwischenstück an der Bergkante Richtung Westen, für mich eine größere körperliche Anstrengung, viel Kraft wandert in den Oberkörper, um den Bergstöcken Nachdruck zu verleihen. Mein Blick ist dabei zunehmend nach unten gerichtet, der Oberkörper in Spannung, Schritt für Schritt gehe ich vorwärts, unter der Sohle meiner Stiefel knirschen kleinere Steine und Geröllteile, die aneinander reiben. Hier ist es plötzlich kälter; vereinzelt höre ich Kuhglocken, allerdings schon weit entfernt. Die Sorge zu fallen und ein schneller werdender Atem dominieren diesen Wegabschnitt für mich; beim Eintritt in die Schlusspassage, nun wieder nach Norden wandernd, gehen vor mir nun, von Osten kommend, zwei Wanderer, der Mann hat seine kleine Kamera bereits in der Hand. Schließlich dann vor mir nun der letzte, sanfte Anstieg, der Weg zum Gipfelkreuz verläuft fast gerade, schmal, in die Grasnarbe sanft eingefurcht, vor mir tut sich ein blauer, was wolkenloser Himmel auf, mein Oberkörper strafft sich, der Blick geht fast nur noch nach oben, ich atme ein, die Luft ist von eindrücklicher Klarheit. Dann beugt sich der Oberkörper nach vorn, die letzten Schritte sind voller Kraft. Eine euphororische Stimmung verschafft sich in mir Raum, als ich endlich das kleine, erdige Gipfelplateau des Hohen Freschen erreiche. 2.4 Der Gipfel des Hohen Freschen Die erste Wahrnehmung gilt den Menschen um mich herum, ein Paar kommt mir entgegen, als ich wenige Meter vor dem Gipfel gehe; ein weiteres begibt sich bei meinem Ankommen auf die südlich gelegene sanft abfallende und grasbewachsene Gipfelfläche und telefoniert, als ich das Kreuz erreiche. Nach einigen Augenblicken der Orientierung steht die Erschöpfung ganz im Vordergrund, ich setze mich auf die Kreuzplattform und esse und trinke, ich schaue nun genauer umher und bin über die Gebetsfahnen überrascht; diese sind zwischen einer Stange und dem Kreuz angebracht. Die tibetischen Gebetsfahnen, die mir aus Abbildungen aus dem Himalaya vertraut sind, leuchten nun in den bekannten Farben gelb, grün, rot, weiß und blau und flattern sachte im Wind. Kurze Zeit später : Der Drang zu fotografieren verdrängt nun fast alles andere. Das Gipfelplateau hat eine Fläche von ca. 10 qm, es gibt neben dem Kreuz in Richtung des Aufstiegs über den Bindelgrat eine Stange mit einer an

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Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen

ihr befestigten Warntafel, auf ihr steht in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch: „Warnung! Alpine Erfahrung, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich!“ Gegenüber von Kreuz und Warntafel befindet sich ein Steinblock mit dem Gipfelbuchkasten. Als ich ihn öffne, ist der Kasten leer. Später erfahre ich von dem Wirt des Freschenhauses, dass das aktuelle Gipfelbuch gestohlen wurde. Der Metallkasten ist an einem Stein angebracht, der in eine ebene Steinplatte mündet. Am Fuß des Steins ist die Jahreszahl 2008 eingeritzt. Der Kasten besitzt eine Schiebevorrichtung und beide Teile, Kasten und Deckel sind mit einer kleinen Kette verbunden. Das Territorium des Gipfels wird durch besondere Sinneseindrücke erfahren: Ich sehe im Blick zurück, welche Strecke ich zurückgelegt habe, ich bekomme ein Gefühl des Höhenunterschiedes. Ich rieche eigentlich hier oben so gut wie gar nichts. Ich schmecke den mitgeführten Proviant besonders intensiv. Ich höre und spüre den sanften Wind, hier oben ist es allerdings weniger kalt als direkt unter dem Gipfel.

Fig. 5: Gipfel des Hohen Freschen mit Gipfelkreuz und Gebetsfahnen

Ich sehe die Berggipfel vor mir wie modelliert, Dunst und Mittagslicht geben den gegenüberliegenden Bergen etwas Flächiges. Der stärkste Eindruck von Höhe entsteht durch die Bergdohlen, plötzlich sind sie da, kreisen oberhalb des Gipfels, nutzen die Aufwinde, suchen nach Futter, angezogen durch die Gipfelwanderer, schwarz, lautlos kreisen am Ende fast vierzig Tiere um mich und die anderen Gipfelbesucher. Ein Mountainbikefahrer erreicht, für mich völlig überraschend, fahrend den

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Abstieg vom Hohen Freschen

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Gipfel und fährt gleichsam am Kreuz vorbei, hält seitlich versetzt an, springt vom Rad und, ohne sich umzuschauen, beginnt er, kleine Korrekturen an den Höhenverstellungen des Sattels an seinem Rad vorzunehmen; dann setzt auch er sich kurz, die verspiegelte Sonnenbrille erlaubt mir zunächst nicht, Alter und Gesicht des Mannes näher zu bestimmen; das kurze Gespräch dreht sich um die Kühe, die sich ihm auf dem Weg zum Gipfel in den Weg gestellt haben, er fordert, halb scherzhaft, ein Kuhverbot auf Bergpisten. Eine weitere Begegnung überrascht mich: von N_W her kommend, erst im letzten Augenblick sichtbar für mich, erreicht ein weiteres Paar den Berggipfel. Der junge Mann, der einen sehr trainierten Eindruck macht, greift als erstes, noch vor einem flüchtigen Gruß, in die Rucksacktasche und schaut auf seine Uhr und spricht seine Begleiterin knapp mit einer Zeitangabe an, die die Dauer des Aufstiegs zum Ausdruck bringt; nur mit Führungen und Klettereisen war dieser Aufstieg möglich; schnell zieht er sich, mit dem Rücken zum Kreuz um, wechselt seine durchgeschwitzte Hose und Oberteil und kleidet sich frisch ein, dann begeben sich die beiden Extremwanderer ebenfalls an den Hang zum Essen und Trinken. Das Kreuz ist in einen massiven Stein/Betonquader eingelassen, zusätzlich mit kurzen Seilen am Boden gesichert, es trägt die Aufschrift „Berg Heil – Grüß Gott“ und den Vermerk: Errichtet vom ÖAV-Rankweil 2002 unter Obmann E. A. (sein Name ist ausgekratzt), darunter : 2002 Internationales Jahr der Berge – Hergestellt von der HTL Rankweil. Das Holzkreuz ist auf einem Stahluntergrund angebracht und ist ca. 3 m hoch, in der Mitte zwischen Hoch- und Querbalken befindet sich eine stilisierte übergroße Edelweisblüte. Vereinzelt finden sich auch hier kleinere unleserliche Einritzungen. 2.5 Abstieg vom Hohen Freschen bis zum Freschenhaus Der Weg zurück beginnt nun sanft und ohne große Höhenunterschiede. Aber bereits nach wenigen Metern bemerke ich, dass sich meine Haltung verändert, ich gehe gleichsam mit den Knien, gestützt von den Stöcken, der Blick geht nicht mehr nach oben, sondern nach unten, der Atem strömt nun anders, andere Körperregionen werden nun belastet. War der Aufstieg ein Weg des Schauens, so verengt der Blick sich nun auf die vor mir liegenden Meter. Das Freschenhaus gibt eine erste, willkommene Gelegenheit zur Rast. Das vom Österreichischen Alpenverein (Sekt. Vorarlberg) errichtete Haus befindet sich auf einer Höhe von 1846 m. Der einfache Holz-/Steinbau und besitzt eine nach Süden hin geöffnete große Terasse mit Bierbänken. Hier sitzen einige Männer, als ich das Haus erreiche, und essen. Das Haus wurde 1874 erbaut und in den Jahren 1969 – 1973 umfassend renoviert und umgebaut. Es bietet den Bergwanderern einen Ort der Rast, es gibt einfache Speisen und Getränke, dazu Schlafgelegenheiten und Möglichkeiten zu telefonieren. Neben Küche und Toiletten befindet sich ein größerer Essraum, der zu dieser Zeit ganz leer ist. An

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Dichte Beschreibung: Der Hohe Freschen

den Wänden hängen Fotos von anderen Schutzhütten der Region, eine Dankurkunde für den früheren Pächter der Freschenhütte und einige Rustika. (Z.B. ein Knüppel mit der Unterschrift: „Hausordnung für Gäste“). Rechts vom Eingang fallen mir zwei Hinweisschilder auf, die verhaltensregulierend wirken wollen. Es heißt auf ihnen: „Haltet die Berge sauber. Lasst keine Abfälle zurück!“ und „Abschneider zerstören die Vegetation. Bitte auf dem Weg bleiben!“ 2.6 Zurück ins Tal Ich setze meinen Weg ins Tal nach einiger Zeit der Stärkung fort. Schnell wird der Weg steil abfallend und beschwerlich. Der Weg ist schmal und entgegenkommenden Wanderern muss ich förmlich ausweichen. Die Anstrengung ist ihnen ins Gesicht geschrieben, ein gegenseitiger Gruß („Servus!“) ist offensichtlich hier oben am Berg üblich. In der Wahrnehmung ihrer Anstrengung spiegelt sich noch einmal meine eigene. Ich bemerke, dass in der Stille die Stimmen anderer Wanderer, die miteinander sprechen, besonders auffallen und lange, auch wenn man die Wanderer nicht mehr sieht, hörbar bleiben. Als ich die Saluver Alpe erreiche, fällt mir ein Hinweisschild ins Auge, es klärt die Wanderer auf, man könne sich über den hier hergestellten Käse unter der Internetseite „freschengold.at“ informieren. Dazu ist eine Handynummer angegeben. Als ich selbst versuche, zu telefonieren, habe ich kein Netz. Am Übergang vom Naturschutzgebiet zum normalen Bergwirtschaftsraum fühle ich mich in einem Zwischenraum. Noch zwei weitere Schilder erregen hier meine Neugier. Auf der Rückseite des Naturschutzgebiethinweisschildes befindet sich eine eindrückliche Warnung. Dort heißt es in Rot und Schwarz: „Warnung – Danger – Attention: Alpiner Steig! Nur für Geübte mit Bergschuhen. […] Auf exponiertem Bergweg erhöhte Vorsicht bei Nässe! Bei Schnee und Vereisung Absturzgefahr!“ Unterhalb der Saluver Alpe öffnet sich der Blick ins Tal. Baumgruppen fallen stärker auf, Kühe hört man nun weithin durch deren Kuhglocken, einzelne Bergwiesenabschnitte sind von Gesteinsformationen durchsetzt. Der Weg verläuft sanft abfallend und mäandernd und verändert so ständig den Blick auf die Berge. Der Jeep eines Försters überholt mich, später ein Traktor, der Heu geladen hat. Bevor ich die Gapfohler Alpe aus den Augen verliere, steigt der Weg nochmals an, nun wiederum auf eine Höhe von über 1650 m. Zwischen zwei Felsvorsprüngen bemerke ich plötzlich eine Schranke, die ganz an den Stein gelehnt ist. Vermutlich ist sie im Winter geschlossen und gliedert den Höhenraum. Wenig später wiederum eine Warntafel: Mit den Worten „Respektiere deine Grenzen“ werden Wanderer, vor allem aber im Winter Skifahrer aufgefordert, die markierten Wege und ausgewiesen Flächen nicht zu verlassen. Hitze und Erschöpfung machen mir zu schaffen. Nur ein Gedanke hält mich besetzt: Ich will ganz nach unten ins Tal, dort ankommen, wo mein Weg am Morgen begann. Je näher ich diesem Punkt komme, umso euphorischer werde

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Erste Strukturierungen

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ich. Die Gerölllandschaft geht unmerklich in das satte Grün der Wiesen über, am Wegesrand nutze ich zur Erfrischung einen Trog, in den Wasser fließt. Ein Schild mahnt: „Kein Trinkwasser!“ – Die Bewegungen werden immer rhythmischer, der Gang zuletzt immer schneller, bis ich den Wald erreicht habe und durchquere. Ein Pilzsammler kommt mir entgegen, er hat nur Augen für das Unterholz. Eine Familie mit kleineren Kindern kommt mir entgegen. Ich mustere ihre Ausrüstung, frage mich bei jeder Begegnung, ob jene wirklich zum Freschengipfel wollen und überschlage die Zeit, die ihnen bei gutem Licht heute noch bleibt. Kurz vor dem Eintritt in den Laternser Höhenweg entdecke ich am Wegesrand ein Wegkreuz. Das Holz ist verwittert, der Kruzifixfigur fehlt ein Arm und in einer darunter angebrachten Blechvase steckt eine einzelne Wiesenblume, die längst verwelkt ist. Auf dem Querbalken ist die Jahreszahl 1949 eingeritzt, oberhalb davon klärt eine kleine Tafel auf, an dieser Stelle sei in jenem Jahr 1949 ein Jäger durch einen Unfall ums Leben gekommen. Schließlich erreiche ich mein Nachtquartier, müde, erschöpft und glücklich.

3. Erste Strukturierungen Hält man sich die lange Liste prominenter literarischer Zeugnisse vor Augen, die Bergerfahrungen zum Thema machen, so zeigt sich insbesonders mit Blick auf die Gründungsurkunde dieser Gattung, Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux, dass es den Berg als unverfälschte, gleichsam reine Form von Natur diesseits der Erfahrung nur im Auge des Betrachters geben kann. Methodenkritisch kann man sicher der Dichten Beschreibung vorhalten, sie verstärke diesen subjektiven Blick auf den Untersuchungsgegenstand noch und sei, wenn es sich um eine eigene Forschererfahrung handelt, als Quelle in diesem Fall nur bedingt geeignet. Freilich geht es hierbei vielmehr um die Einsicht, dass die nun folgende Aufarbeitung der Problemstellung religiös konnotierte Naturerfahrung des Bergwanderns eben gerade von dieser Art des subjektiven Erkenntnisgewinns nicht absehen kann. Unabhängig davon, ob es sich um eine sportlich anspruchsvolle Klettertour oder gar das Besteigen eines Extremberges handelt oder wie im vorliegenden Fall um einen besseren Spazierweg zum Gipfel, so geht es um die Feststellung, dass sich das Erleben des Auf- und Abstiegs, vor allem aber des Gipfels selbst von den sonstigen Alltagserfahrungen unterscheidet. Dies betrifft zum einen die Erfahrung des Zusammenhangs von Auf- und Abstieg, zum anderen natürlich das Erreichen des Gipfels selbst. Die Dichte Beschreibung benennt Naturbeobachtungen (Luft, Sonne, Himmel, Bewuchs) und verbindet diese mit Sinneseindrücken (Geräusche, Aussicht). Schließlich werden Stimmungen geschildert (Euphorie, Enttäuschung, Angst, Stolz). Zudem wird die Gipfelerfahrung in einen klar definierten Naturraum eingebettet, vorgegeben durch

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Erste Strukturierungen

das Höhenprofil, die Nutzungsdiemensionen (Tourismus, Wirtschaft, Naturschutz) und Wegesmarkierungen. Schließlich findet sich auf dem Gipfel des Hohen Freschen mit dem Gipfelkreuz ein Zeichen besonderer Art. Denkt man an die religionsgeschichtlichen Traditionen wie auch literarische Zeugnisse, so ist es gerade der Berggipfel selbst, der offen ist für, vorsichtig formuliert, religiöse Erfahrungen und ihre Kommunikation mittels religiös geprägter Symbolsprache. Daher soll es im Zuge der weiteren Analyse nicht darum gehen, diesem Strom der Tradition einen weiteren Beleg hinzuzufügen, sondern genauer und grundsätzlicher zu beschreiben. Attraktiv ist eine an dem Naturraum Berggipfel ausgerichtete Erfahrung ganz sicher schon deshalb, weil der Gipfel eines Berges ein natürlicher Fixpunkt des Menschen ist. Der Berg entspricht dem Bedürfnis, den Ort innerhalb eines größeren Raumes zu betreten, der eine natürliche Grenze darstellt. Zugleich eröffnet der Gipfel im metereologischen wie physikalischen Sinn eine besondere Erfahrung. Kälte, Luft und Aussicht sind hier anders als im Tal. Einen ersten Zugang zu dieser sinnenintensiven, verdichteten Erfahrung jenseits des ganz Alltäglichen ist die Decodierung dieser Erfahrung als „FlowErlebnis“. Der von Mihaly Csikszentmihalyi geprägte Begriff geht auf die Studien Abraham A. Maslows zurück, der in den 1960er Jahren „Peak Experiences“ insbesondere im Sport untersuchte und für die psychologische Forschung fruchtbar machte.31 Csikszentmihalyi populär gewordener Begriff versucht zu beschreiben, wie eine außergewöhnliche Erfahrung strukturiert ist, die mit dem Flow zu einem harmonischen Erlebnis führt, „bei dem Körper und Seele mühelos zusammenwirken, bis sich das Gefühl einstellt, dass etwas ganz Besonderes mit einem geschieht.“32 Csikszentmihalyi benennt sechs verschiedene Aspekte, die im Flow-Erlebnis zusammenwirken33 : 1) Eine Balance zwischen Anforderungen und Fähigkeiten, 2) eine besondere Konzentration auf ein Ziel hin, 3) Kontrollierbarkeit der Situation, 4) eindeutige Rückmeldung auf das, was man tut, 5) ein subjektives Empfinden von Zeit und schließlich 6) eine Form der Selbsttranszendierung. Vergleicht man diese sechs Aspekte des Erlebens mit der Schilderung der Gipfelbesteigung, so lassen sich leicht Entsprechungen aufzeigen: Der ausgewählte Berg entsprach in seinem Schwierigkeitsgrad den Möglichkeiten des Subjekts, jenseits von Unter- wie Überforderung. (1) Der Wunsch, den Gipfel des Hohen Freschen zu besteigen, gab ganz selbstverständlich das Ziel dieser Wanderung vor, dazu bedurfte es der ständigen Überprüfung von Weg, Ausrüstung und Umgebung (2); der Weg auf den Gipfel und wieder zurück ins Tal blieb stetig kontrollierbar, Vorgaben, die das eigene Tun beherrschten („Zu dieser Tageszeit will ich den Gipfel erreichen, das Freschenhaus will ich erst auf dem Rückweg aufsuchen, ich wähle die für mich beste Route zum Gipfel 31 Vgl. besonders Maslow, Religions. 32 Csikszentmihalyi/Jackson, Flow, 13. 33 Csikszentmihalyi, Flow-Erlebnis, 109 ff.

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Von der Dichten Beschreibung zur Deutung

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etc.“) bestimmten den Ablauf (3). Daneben verwies etwa der streckenweise geröllartige Untergrund beim Gehen direkt auf das eigene Gehen und jeder Schritt beim Gehen ermöglichte es, festzustellen, ob ich richtig ging oder danebentrat. (4) Dass Aufstieg und Abstieg zu einem spezifischen Zeitgefühl führen, ließ sich mehrfach beobachten, Aufstiege dehnten sich, die Zeit auf dem Gipfel wurde als verdichtete Zeit wahrgenommen. (5) Schließlich waren Augenblicke wie das Erreichen des Gipfels und die letzte Passage beim Rückweg ins Tal von starker Euphorie geprägt, die als klarer Abstand zum sonst umgebenden Alltag wahrgenommen wurden. (6) Gerade an diesem sechsten Aspekt des flow-Erlebnisses hat sich Widerspruch entzündet, weil einerseits der religiöse Deutungsrahmen der Selbsttranszendierung auf der Hand liegt und die Frage aufwirft, wie Csikszentmihalyi diese von anderen Formen von Religion unterscheidet. Andererseits ist es bezeichnend, dass Csikszentmihalyi im Zuge einer steten Popularisierung diesen sechsten Aspekt des flow-Erlebens seiner religiösen Dimension entkleidet hat, wie Christian Röhring in seiner Studie Religiosität und Bergsport eindrücklich nachgewiesen hat.34 Röhring stellt zudem zu Recht fest, dass peak experiences und flow-Erlebnisse in ihrer begrifflichen Anlage einen religionskritischen Zug tragen, weil sie als Kontrastbegriff zu sonst vertrauten Formen von Religionsausübung in Stellung gebracht werden.35 Zudem wird sich die Konstatierung eines flow-Erlebens bei aller augenscheinlichen Evidenz im phänomenologischen Zugriff die Frage nach notwendigen Präzisierungen gefallen lassen müssen. Diese sind folgende: Methodologisch bleiben die Schlüsselbegriffe Erfahrung, Leib, Raum und Natur in diesem Konzept unterbestimmt. Zudem wird nicht deutlich, wie die hier benannte Erfahrung historisch, kulturell bzw. religionstheoretisch verortet ist. Schließlich nimmt Csikszentmihalyis Konzept gleichsam eine Außensicht auf das Geschehen ein und will wohl am Ende weniger ein Phänomen beschreiben als es erwartbar herbeiführen. Insofern bedarf es nun einer profunden Kontextualisierung dieser Bergerfahrung. Diese betrifft nun die Schlüsselparameter von Erfahrung überhaupt, Raum und Leib.

4. Von der Dichten Beschreibung zur Deutung Erstens: Das Besteigen des Berggipfels geschieht zuallererst in einem speziellen Naturraum. Dieser trägt maßgeblich zu dem hier geschilderten Erleben mit bei. Freilich ist dieser Naturraum kein abstraktum, keine vom Menschen vollständig isolierte Umgebung, sondern in vielfältiger Weise eine durch den 34 Christian Röhring, Religiosität und Bergsport. Eine empirische Untersuchung biographischer Interviews, München 2000 (unveröff.), 12. 35 Ebd., 8 f.

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Von der Dichten Beschreibung zur Deutung

Menschen gestaltete Umwelt, die die Wahrnehmung überhaupt erst leitet und bestimmt. Und diese Überformung des ursprünglichen Naturraums in einen hochverdichteten touristisch geprägten Naturraum spielt nicht nur auf dem Gipfel eine Rolle, sondern in allen Phasen des Gangs vom Tal auf den Gipfel und wieder zurück. Zweitens: Weitergehend und im Anschluss daran zu sehen ist aber die Kontextualisierung des bewussten Erlebens am Berg durch die vertiefte Reflexion der eigenen Leiblichkeit. Dabei, so wird zu zeigen sein, bilden die Grenzen des eigenen Körpers und der diesen umgebende Naturraum keine Polaritäten, sondern einen vielschichtigen Begegnungsraum. Gerade hiermit wird dann der Versuch verbunden sein, Natur und Leiblichkeit als die entscheidenden Strukturgrößen der hier spezifischen religiösen Erfahrung zu benennen. Drittens: Die Wahrnehmung des Berggipfels wird dann auch wesentlich durch das sog. Gipfelmobiliar geprägt, das Gipfelkreuz und das Gipfelbuch. Das Gipfelkreuz steht in Verbindung zum Kreuz als zentralem christlichem Symbol und weist eine reiche ikonografische Tradition in den Alpen auf. Es ist in seiner Materialität, seiner symbolischen Tiefenbedeutung und seiner Funktionsbreite für diesen Ort ebenfalls zu analysieren wie die vielfältigen Nutzungsspuren, die über den Gebrauch dieses „Zeichens“ Auskunft geben. Von eben so großer Bedeutung, freilich in ganz anderer Art, ist das Gipfelbuch. Es dokumentiert ebenfalls Nutzungsspuren der Gipfelbesucher und eröffnet, wie noch zu zeigen sein wird, in vielfältiger Weise einen Zugang zu den Erfahrungen und ihrer Versprachlichung. 4.1 Den Raum wahrnehmen Hält man sich vor Augen, dass die Wanderroute ihren Ausgang in Laterns nimmt und dorthin zurückkehrt, so fällt auf, wie stark sich das Erleben zwischen Tal und Berggipfel unterscheidet. Insbesondere für die Formen gelebter Religion und ihre hier anzutreffende institutionelle Gestalt ist diese Differenz nun bezeichnend. Dies zeigt sich eindrücklich an der Pfarrkirche von Laterns. Im Zentrum von Laterns gelegen, neben den anderen für das tägliche Leben der Bevölkerung so wichtigen Gebäuden (Dorfgasthof, Rathaus, Bäckerei und Bank) trägt die Kirche deutliche Spuren dörflicher Selbstvergewisserung. Im Zuge der touristischen Erschließung des Laternser Tales Ende des 19. Jahrhunderts wuchs das Dorf und so wurde die Kirche im Stile der Zeit regothisierend erweitert und umfassend erneuert. Zugleich wurde an der Außenwand des Gebäudes mit einem Gedenkstein der regionalen Verbundenheit mit dem Wallis gedacht.36 Die gegenwärtige Nutzung der Kirche, so belegt es ja die 36 Der Serpentin aus dem Jahr 1892 trägt die Inschrift: „Gott zum Gruß – aus der alten Heimat Wallis.“ An die Herkunft der Walser erinnert ebenfalls eine am Hochaltar eingesetzte Theo-

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Den Raum wahrnehmen

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bisherige Untersuchung, ist ganz auf die Bedürfnisse der Dorfbevölkerung zugeschnitten. Das gilt für das Fürbittblatt der „Dorfheiligen“ Katharina Drexel und für die Veranstaltungen und Einrichtungen, für die auf dem kleinen Schriftentisch in der Vorhalle der Kirche geworben wird. Besonders signifikant war eine kleine Notiz, die sich inmitten des Opferkerzentisches befand. Dort war zu lesen: „Bitte keine OPFERKERZEN mitnehmen oder Sie bezahlen für eine Opferkerze Euro 1.60! Wer leere Kerzengläser zu Hause hat, bitte bringen. Danke für Euer Verständnis“. Dieser Text dokumentiert in unserem Zusammenhang zweierlei: Zum einen ist in der Pfarrkirche der katholische Brauch der Opferkerze lebendig und damit Beleg für eine vom Naturraum unabhängig sich ausdrückende Frömmigkeit. Zum anderen aber treten zwei Nutzergruppen in den Blick, die Einheimischen („Wer leere Kerzengläser zu Hause hat…“), mit denen hier ein vertrauter Umgang gepflegt wird („Danke für Euer Verständnis“) und dann die Gruppe der Touristen, die an die Geschäftsbedingungen des Opferkerzenbrauchs erinnert werden („Sie bezahlen für eine Opferkerze Euro 1.60!“). So wirkt die Kirche mit ihrem Gebrauchsinventar wie ein Schutzraum für die Religionsausübung des Dorfes und im Tal. Was hier geschieht und was auf dem Gipfel geschieht, wird als stark getrennt wahrgenommen. Das bestätigt sich noch einmal in den Eintragungen im öffentlich in der Kirche ausliegenden Fürbittbuch, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Der Befund, im Laternser Tal, dort, wo die Bergwanderungen auf den Hohen Freschen in der Regel beginnen und enden, sei von einer „Naturreligiosität“ noch nichts zu spüren, ist freilich noch differenzierter zu betrachten. In dem touristisch verdichteten Raum handeln die Bewohner den typischen Konflikt zwischen wirtschaftlicher Partizipation am Tourismus und notwendiger Abgrenzung auch ihrer gelebten Religion aus. Dafür gibt es inmitten des Dorfes einen weiteren eindrücklichen Beleg. In einem Wohngebiet zwischen den Dorfteilen Laterns und Innerlaterns gelegen befindet sich an einem Wegekruzifix, wie es für die gesamte Alpenregion typisch ist, eine Tafel, auf der zu lesen ist: „Im Wunderwerke der Natur / erkenne Du die Gottes Spur / und willst Du dies noch besser seh’n / so bleib bei seinem Kreuze steh’n.“ – Im Sinne einer diskursanalytischen Präzisierung könnte man daher sagen, dass hier, im Tal, religiös aufgeladene Naturwahrnehmungen, insbesondere im Streit zwischen Einheimischen und Touristen in den Kontext einer „offiziellen“ Kirchenfrömmigkeit gestellt werden. Natur soll an eine theologia crucis rückgebunden werden. Bezieht man diesen Befund nun auf die Freschenkapelle, die sich auf einer Höhe von ca. 1800 m in direkter Nähe zur Schutzhütte des Österreichischen Alpenvereins befindet, so ordnen sich die bisherigen Beobachtungen noch einmal neu: Die einfache und schlichte Kapelle ist ein eindrückliches Amaldulstatue aus dem 15. Jahrhundert und zwei an der Außenseite der Kirche eingesetzte Steine aus Sitten.

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gam katholischer Alpenfrömmigkeit verbunden mit den Spezifika dieses besonderen Ortes. Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass der Bau dieses Hauses nicht auf eine kirchliche Initiative zurückgeht, sondern auf das Engagement mehrerer Bürger von Laterns. Wie die Sektionschronik des Österreichischen Alpenvereins vermerkt, begann eine Spendensammlung für eine Kapelle bereits 1935, wurde durch die Kriegs- und Nachkriegszeit unterbrochen und führte 1951 zur Grundsteinlegung. Die Weihe fand im Juli 1953 statt. Die Kapelle ist dem Hl. Bernhard geweiht und insgesamt stark von der Heiligenfrömmigkeit geprägt. Der Hl. Bernhard ist der wohl bekannteste Schutzpatron der Bergsteiger.37 Hält man sich diesen Sachverhalt vor Augen und bezieht die besondere Möblierung der Kapelle mit ein, so wird von Beginn an im Zentrum dieses Ortes die Bitte um Schutz vor Gefahren beim Bergsteigen und der Dank vor überstandenen Gefahren gestanden haben. Sicher ist der Mauerbau den besonderen Witterungsverhältnissen geschuldet, die hier in den Wintermonaten typisch sind, aber auch darüber hinaus wirkt die Kapelle durch die kleinen Fenster, die sich zum Tal hin öffnen und ein oberhalb des Altars geostete Fenster mit einer segnenden Christusfigur, dem Berg eher ab- als zugewandt. Der Naturraum wird so ursprünglich zumindest eher in seiner Gefährlichkeit wahrgenommen worden sein als ein Ort besonderer „Gottesnähe“. So mischen sich in der Kapelle beide Elemente: „Talfrömmigkeit“, also eine tiefe Verwurzelung in den lokalen katholischen Bräuchen der Region, ein Ort der Einheimischen, die in ihren Familien immer wieder Unglücksfälle zu beklagen hatten und nun andererseits eine dem Ort geschuldete, auf private Initiative zurückgehende Installierung mit einer eher volksreligiösen Konnotation. Während die Pfarrkirche das Gedächtnis der Pfarrer in Tafeln und Bildern bewahrt, sind es hier Bürger des Dorfes, wie der Miterbauer der Kapelle, die besonders gewürdigt werden. Wenn sich nun das Erleben jener elementaren Höhendifferenz zwischen Berggipfel und Tal in einer dem Berg abgewandten Religionsausübung in Laterns zeigt, so wird durch die touristisch motivierte Infrastruktur der Höhenunterschied zumindest im Winter, wenn die Seilbahnen und Schlepplifte in Betrieb sind, bewusst nivelliert. Im Sommer fallen diese Anlagen beim Wandern besonders auf, weil sie als bewusst einkalkulierter Fremdkörper in der Landschaft dominieren. Dies wird ebenfalls noch einmal durch die Sommerrodelbahn unterstrichen, die sich am Rande des Dorfes auf ca. 1000 Höhenmetern befindet. Hier wird also, umgeben von großen Parkplätzen, die winterliche Überwindung der elementaren Höhendifferenz selbst noch einmal überboten und familientauglich gemacht. 37 Beim Hl. Bernhard handelt es sich um Bernhard von Aosta/von Menthon, dessen immer am 15.6. eines Jahres gedacht wird. Eine große Verbreitung des Bernhard-Kultes findet sich im Piemont, im Wallis u. in Tarantaise. 1923 wurde der Hl. Bernhard zum Patron der Bergsteiger und Alpenbewohner ernannt, vgl. Mayr, Bernhard, 370.

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Nun ist es bezeichnend, dass zwischen diesem touristisch geprägten Raumausschnitt und dem höher gelegenen Gebiet Richtung Gipfel kein wirklicher Gegensatz zwischen Überformung und Naturbelassenheit der Landschaft besteht. Vielmehr bleiben die Naturerfahrungen beim weiteren Aufstieg inszeniert und kulturell vermittelt, werden aber mit zunehmender Höhe subtiler. Dazu zwei Beispiele. Auf den ersten Wegmetern inmitten des bewaldeten Streckenabschnitts, noch unterhalb der Saluver Alpe befindet sich kein natürlicher, sondern ein eigens angelegter Weg. Dieser ist von Autos befahrbar. Blickt man über den Wegesrand hinaus, so entdeckt man vereinzelt, dass hier Stromkabel verlaufen, die für die Skistation bzw. die Almen Strom transportieren. Zum anderen fällt auf dieser Höhe auf, dass ein funktionierendes Abwassersystem vorhanden ist. Weitere Indizien für diese umfassende Naturinszenierung sind die präzisen Weghinweisschilder, die nicht einfach Zielpunkte angeben, sondern dazu Routenverläufe und Wanderzeiten, und vermerken, ob dieser Weg jeweils auch für Mountainbikes geeignet ist. Ein gewichtiger Einschnitt in diesem Höhenprofil der Naturraumnutzungen zwischen Tal und Gipfel ist das unmittelbar oberhalb der Saluver Alpe beginnende Naturschutzgebiet. Die Alpe, auf der meine eigentliche Wanderung begann, kann als ein erster Grenzort beschrieben werden. Einerseits verkehren bis hierher noch Autos und der Ort ist durch die Käseproduktion als wirtschaftlich genutzter Raum ausgewiesen, andererseits vermittelt die Lage des Gehöfts inmitten einer Weidefläche durch die klare Luft und die Dominanz der weithin hörbaren Kuhglocken selbst schon das Gefühl eines „Jenseits“ alltäglicher Talerfahrung. Das sich hieran anschließende Naturschutzgebiet „Hohe Kugel – Hoher Freschen – Mellental“ des Bundeslandes Vorarlberg wird durch eine sichtbare Beschilderung ausgewiesen, die sich auf dem Weg zum Gipfel nur wenige Höhenmeter oberhalb der Saluver Alpe befindet. In der Logik des Aufstiegs zum Hohen Freschen verengt sich damit die Nutzungsbreite des Raumes auf das, was nicht verboten ist. Das Schild vermerkt dazu: „Zum Schutz der Natur und der Landschaft ist es insbesondere verboten, Pflanzen zu beschädigen, zu pflücken oder mitzunehmen, Lärm zu erzeugen, Zelt- und Lagerplätze zu errichten, Bauwerke zu errichten oder zu ändern, Boden abzubauen oder Abbauanlagen zu errichten, Materialien aller Art abzulagern.“

Indem Kontaktmöglichkeiten untersagt sind, die einer alltäglichen Raumnutzung des Menschen entsprechen, wie Sesshaftigkeit, Produktion von Lebensäußerungen oder Gestaltung der unmittelbaren Umgebung, wird erkennbar, dass in Verbindung mit dem Besteigen des Berggipfels ein Erfahrungshorizont ermöglicht wird, der sich von dem übrigen, touristisch oder wirtschaftlich genutzten Raum unterscheidet. Spielt man nun noch einmal die Erfahrungsdimension beim Betreten dieses Gebietes an (Sorge und Angst, einen ausgewiesenen Weg zu verlassen), so wird deutlich, dass hier eine für die Gesamträumlichkeit „Hoher Freschen“ be-

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deutsame Raumgrenze erkennbar wird. Die durch die Schilder markierte Grenze zwischen Wirtschaftsraum und Naturschutzgebiet legt nun nahe, die Erfahrung mit diesem begrenzten wie begrenzenden Raum in entsprechende Theoriekontexte einzubinden. Davon ausgehend, dass dieser Raum bestimmte, alltägliche Erfahrungsdimensionen ausschließt (Lärm, Konsum, Bau etc.) eröffnet er ja andere, gleichsam nichtalltägliche Raumerfahrungen. Diese Grenzziehung spiegelt zunächst einmal ein politisch motiviertes Raumnutzungskonzept. Ein modernes Naturschutzgesetz verstärkte den Schutz besonders gefährdeter Naturräume und trat 1973 als „Vorarlberger Landschaftsschutzgesetz“ in Kraft. Es führte in der Folge auch im spannungsvollen Wechselspiel mit den jeweiligen Gemeinden, die an der Ausweitung des Tourismus Interesse hatten, zu einer vermehrten Ausweitung ausgewiesener Naturschutzgebiete.38 In diesem Zusammenhang wurde dann 1979 das Naturschutzgebiet „Hohe Kugel – Hoher Freschen – Mellental“ ausgewiesen.39 Hält man sich vor Augen, dass bereits 1870 sogenannte „nützliche Vögel“ unter Schutz gestellt wurden, 1904 ganz explizit die wohl berühmteste Alpenpflanze, das Edelweiß und schließlich 1932 mit dem ersten Naturschutzgesetz „Banngebiete“40 ausgewiesen wurden, so zeigt sich, dass der politische Diskurs über Schutzzonen schon lange mit dem Eindringen des Massentourismus in diesem Gebiet einherging. Dies ist freilich kein Zufall. In seiner verdienstvollen Studie über die Entstehung des Naturschutzes im deutschsprachigen Raum hat Friedemann Schmoll nachgewiesen, dass die überaus erfolgreiche Naturschutzbewegung auf eine krisenhaft sich verstärkende Naturzerstörung um 1900 reagierte.41 Schmoll zeigt auf, wie zunächst ein gesellschaftliches Unbehagen an der zunehmenden industriellen Verwertbarkeit der natürlichen Ressourcen Ausdruck in vielfachen publizistischen Zwischenrufen fand.42 Naturschutz wurde, ganz typisch, als ein notwendiges Amalgam von Heimat- und Naturschutz empfunden.43 Besonders wichtig für unseren Zusammenhang ist nun die Schlussfolgerung, die Schmoll daraus zieht. Durch die Analyse dieser Frühgeschichte des 38 39 40 41 42

Vgl. Naturschutz in Vorarlberg. Leistung, Angebote, Perspektiven. Hg. v., Bregenz 2007, 4. Vgl. Amt der Vorarlberger Landesregierung, Landesgesetzblatt, 7. Vgl. So Amt der Vorarlberger Landesregierung, Naturschutz, 2. Schmoll, Erinnerung. Zu den eindrücklichsten Belegen, die Schmoll hierzu anführt, gehört Ernst Schwalbes 1911 veröffentlichter Beitrag „Schutz der Tierwelt als Naturdenkmäler“: „Bei diesen Riesenschritten menschlicher Kultur muss die Befürchtung rege werden, dass auch manches vernichtet wird, was unwiederbringlich ist, ist es einmal verloren. […] Aus diesem Gefühl der Sehnsucht nach Natur und der Furcht vor der alles nivellierenden Kultur an Orten, die uns in ihrer natürlichen Schönheit teuer sind, aus diesem Gefühl heraus entstand erst bei einzelnen, dann in rascher Ausbreitung zu breitem Strome anschwellend der Gedanke des Naturschutzes, des Heimatschutzes. Zu dem Streben, die Natur zu schützen, gesellt sich der Gedanke der historischen Pietät für das, was unsere Altvorderen erschaffen. Pietät, dieses tief religiöse Gefühl, ist auch ein Hauptzug der Psychologie des Naturschutzes“, zit. n. Schmoll, Erinnerung, 20. 43 Vgl. hierzu Schmoll, ebd., 25 ff.

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Den Raum wahrnehmen

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Naturschutzes weist er nämlich eine kulturelle Logik der Naturbewahrung nach, die inmitten einer technisierten und auf Verwertbarkeit fokussierten Welt das Bedürfnis entwickelt, bestimmte Räume aus diesem Zusammanhang gleichsam auszulagern und als Gegenwirklichkeit erfahrbar zu machen. Dies geschieht, indem an ausgewiesenen Orten die alltägliche Naturnutzung tabuisiert wird. Schmoll verwendet diesen aufgeladenen Begriff bewusst, um kenntlich zu machen, dass der frühe Naturschutz inmitten einer entzauberten Welt Enklaven des „Sakralen“, so Schmoll44, schaffen wollte. Damit ist der Raum des Naturschutzgebietes eng auf die übrige Umwelt bezogen und Ausdruck einer krisenhaft erlebten Moderne. Schmoll stellt dazu fest: „Diese Praxis, Naturen mit Tabus und bestimmte Umgangsformen mit Sanktionen zu belegen, könnte in komplexen Gesellschaften als kulturelle Form verstanden werden, zwischen den beiden Polen modernen Naturumgangs – Anbetung und Ausbeutung, Verachtung und Verheiligung – zu vermitteln und die objektiven Spannungen, die sich hieraus ergeben, auszugleichen. […] Die alles entzaubernden Modernisierungsprozesse evozier(t)en eine Leidenschaft des Bewahrens.“45

Und, so lässt sich hinzufügen, diese Leidenschaft des Bewahrens hat eben nicht nur einen gegen- oder vormodernen Zug des sentimentalen, sondern eine ganz klare Funktion im „Maschinenraum der Moderne“: Als Vergewisserung des guten Anderen, als Erinnerungsstück und Fixpunkt inmitten steten Wandels.46 In diesem Kontext muss dann auch die Anlage eines kleinen Alpingartens am Fuße des Hohen Freschen gesehen werden, einem verglichen mit den großen Alpingärten in Österreich und der Schweiz kleinen Garten, der sich in direkter Nachbarschaft zur Freschenkapelle und dem Freschenhaus befindet.47 Die Entstehung alpiner Gärten geht auf das zunehmende Interesse an der Botanik der alpinen Pflanzenwelt Mitte des 19. Jahrhunderts zurück und ist natürlich wiederum im Zusammenhang mit dem sich ausweitenden Tourismus zu erklären. Angeregt durch Klassiker wie Anton Kerners Die Cultur der Alpenpflanzen48, nahm die Beschäftigung, aber auch kommerzielle Nutzung der oftmals sehr seltenen Pflanzen stark zu. Dabei wurden die Pflanzen nicht nur gesichtet und bestimmt, sondern eben auch gepflückt. Gerade das dadurch berühmt gewordene Edelweiß drohte dadurch in seinem Bestand binnen weniger Jahrzehnte fast völlig zu verschwinden.49 So wurden erste Gärten geschaffen, die die botanische Vielfalt der alpinen Flora und Fauna inventa44 45 46 47

Vgl. ebd., 45. Ebd., 53. Vgl. hierzu auch Schmoll, ebd., 462 ff. Der auf den berühmten Botaniker Henry Correvon zurückgehende Alpingarten Flore Alpe in Champex etwa umfasst heute 3000 Pflanzenarten. 48 Die Schrift, erstmals 1864 in Innsbruck erschienen, erlebte in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Auflagen und trug zur Popularisierung der Alpenbotanik maßgeblich bei. 49 Zur Bedeutung des Edelweiß siehe auch Straaß/Lieckfeld, Mythos, 108.

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risierten und der Öffentlichkeit zugänglich machten, dann aber zugleich auch ihren Schutz an den ursprünglichen Orten sicher stellen wollten.50 In Österreich wurde lange der inventarisierende wie repräsentative Aspekt des Alpingartens besonders betont wie im berühmten Belvedere in Wien. Zu Forschungszwecken angelegte Gärten wie der hochalpine Garten der Universität Innsbruck auf dem Patscherkofel entstand erst 1930. Dazwischen gab es mitunter Gründungen wie die des Alpengartens Bad Aussee 1913 durch Friedrich Selle, einen Geistlichen.51 Der Alpingarten nahe des Hohen Freschen befindet sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen touristischer Attraktion und dem Schutz vor touristischen Übergriffen. Damit ist er Teil des Naturschutzgebietkonzeptes rund um den Hohen Freschen, weil er den Tourismus zwar einerseits ermöglicht und die Voraussetzungen für eine weitere touristische Interaktion eröffnet, zum anderen aber darauf hinwirkt, dass Flora und Fauna dieser Alpenregion als schützenswert gelten. Jenseits dieser offensichtlichen Funktion des Alpingartens gibt es aber noch zwei weitere Aspekte: Der Garten ordnet und miniaturisiert Natur. Pflanzen werden nicht einfach wie in einem grünen Feld sichtbar gemacht, sondern werden in eine künstliche Steinlandschaft eingepasst. So wird inmitten der realen Berglandschaft eine zweite, verkleinerte „Spiellandschaft“ geschaffen, die Entdeckungserlebnisse gleichsam nachstellt. Hinzu kommt, dass dadurch seltene Pflanzenarten sichtbar werden, die sich sonst nur demjenigen zeigen, der sich in höhere Höhen und unwegsames Gelände begibt. Neben diesem „Zitat“ von Natur inmitten dieses Naturraums ist nun die besondere Lage des Alpingartens zu würdigen. Er befindet sich zwischen Kapelle und Freschenhaus und bedient nicht nur spezifische Nutzungsinteressen dieses Raumes, sondern tritt gleichsam in einen Diskurs über diesen Raum ein. Inmitten des die Alltagserfahrungen tabuisierenden (Schmoll) Naturschutzgebietes gelegen, liegt er an der Grenze zwischen bewusster Gestaltung und letztem Anstieg zum Berg. Beide Sphären sind durch eine Grenze voneinander getrennt und öffnen sich durch ein Drehkreuz. Dieses, so liegt es nahe, ist ein hochverdichteter Augenblick des Übergangs. Es fällt nun auf, dass in diese Raum- und Funktionsstrukturierung das Freschenhaus ebenfalls eingepasst erscheint. Gemeinsam mit dem Alpingarten und der Freschenkapelle bildete es ein Setting innerhalb des Naturschutzgebietes und auf 1846 Meter Höhe am Beginn des letzten Anstiegs zum Gipfel. Das Haus, 1874 vom österreichischen Alpenverein erbaut, bildete schon früh auswärtigen Touristen die Möglichkeit, bei schlechtem Wetter 50 Zunächst aus privater Initiative heraus entstanden, bildeten sich seit den 1880er Jahren erste Gruppierungen zum Schutz der Alpenflora wie zunächst die Schweizer Association pour la Protection des Plantes, später dann die Selborne Society in England oder der Deutscher Bund für Pflanzenschutz und Alpengärten, der 1900 in Straßburg gegründet wurde. 51 Vgl. Kriechbaum, Geschichte, 94 f.

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Schutz zu finden sowie im Haus zu essen und zu übernachten.52 Bemerkenswert ist bei aller erwartbarer touristischer Nutzung des einfachen Holzbaus nun die Anbringung diverser Hinweisschilder am Eingang. Hier werden ganz im Sinne des Naturschutzgebietes von Seiten des Österreichischen Alpenvereins Verbote ausgesprochen. Sie lauten: „Haltet die Berge sauber! Lasst keine Abfälle zurück! Aktion saubere Berge – Österreichischer Alpenverein“. Auf einem weiteren Schild steht: „Abschneider zerstören die Vegetation. Bitte auf dem Weg bleiben! Alpenverein.“ Hiermit werden nicht nur Handlungsmuster sanktioniert, sondern ein normgerechtes Verhalten im Kontext des Naturschutzgebietes ausgesprochen. Dabei ist auffallend, dass der Österreichische Alpenverein als Mittler zwischen staatlicher Ordnung und lokalen Nutzungstraditionen auftritt. Das entspricht nicht nur der gängigen Praxis im alpinen Raum, sondern belegt eindrücklich den besonderen Status dieses Vereins, der die touristische Erschließung des Hohen Freschen seit Ende des 19. Jahrhunderts kritisch begleitet hat, sondern die Deutungsmuster dieses Naturraums bis heute maßgeblich mitbestimmt. Im Zusammenhang mit der Errichtung des Gipfelkreuzes wird dies noch deutlich werden. Fassen wir zusammen: Zahlreiche Raumelemente strukturieren und inszenieren auf mehr oder weniger subtile Weise die Erfahrung der Bergbesteigung. Ob in der Differenz von Talkirche und Bergkapelle, ob in den dem Ensemble aus Schutzhütte, Wetterstation, Kapelle und Alpingarten auf 1800 m Höhe oder dem Grenzen markierenden Drehkreuz. Veränderte elementare Wahrnehmungen von Leiblichkeit, wie sie in der Dichten Beschreibung aufscheinen, sind also nicht isoliert zu sehen, sondern im Kontext eines in sich strukturierten Raumes, der bestimmte Erfahrungen verstärkt, andere unterdrückt oder abschwächt. Besonders deutlich wird dies natürlich in der „Verbotszone“ des Naturschutzgebietes. Hier wird ein Raum etabliert, der all dies in einem dem Alltag fremden Ort verdichtet. In der Ermöglichung kollektiver Naturerfahrungen jenseits des Alltäglichen gewinnt so der Naturschutzraum seine Funktion als anderer Ort. 4.2 Leiblichkeit wahrnehmen Innerhalb wie außerhalb des hier beschriebenen Raumkontextes erweist sich die genauere Analyse der Leibhaftigkeit sicher als Schlüssel für die gesamte Studie zum Berg als Naturraum. Die Begehung und ihre Dichte Beschreibung hatte gezeigt, in welcher elementaren Form die Wahrnehmung dieses Naturraumes von dem factum eigener Leiblichkeit abhängen und wie vielfältig einzelne Leibregionen wie Knie, Atem oder Füße beim Auf- und Abstieg zum Hohen Freschen in den Blick kommen. Ausgehend von dieser Erfahrung vermittelt der Körper nun zu allererst spezifische Grenzen. So erfährt alle 52 Die Freschenhütte wird bis heute von Pächtern im Auftrag der Sektion Rankweil geführt.

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Erkenntnis im Kontext eigener Körperlichkeit gerade in diesem Naturraum seine stets eigene Beschränkung. Ein vertiefter Blick auf Körper und Leib hat daher die Grenze als Begriff und Thema in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei erweist sich die Rede von der Grenze zuerst einmal als erkenntnistheoretisches Problem. Denn die Rede von der Grenze zeigt sich immer nur im Wechselspiel von Feld und Grenze. Grenzen machen Felder und Dinge erst sichtbar. Indem diese aber sichtbar werden, verschwinden die Grenzen zwischen ihnen immer wieder aus dem Blick, wenn die Grenze zur Schwelle zwischen Zuständen wird. Zum anderen aber hilft die Grenze, Identitäten auszubilden und dauerhaft zu bewahren.53 Wie im Bild der Haustür, wo diese den Unterschied zwischen Besitz-, Eigentums- und Wohnverhältnissen zwischen Drinnen und Draußen markiert, zugleich aber als Schwelle zum wechselseitigen Übertritt dieser Sphären erfahren wird. Dieses Changieren zwischen innen und außen, zwischen Präsenz und Verlust, das zugleich immer auch identitätsbildend wirkt, lässt sich auf die Grenzen des Körpers selbst übertragen. Schon in der Kultur des Alten Orients gibt es hierzu nämlich bereits Hinweise auf die Schwellenphänomene zwischen Körper und Umwelt. Am Beispiel der Inszenierung von Trauerritualen im Alten Testament hat Ulrike Bail gezeigt, wie eng bereits in dieser Kultur die körperliche Verfasstheit des Menschen und seine nach außen, auf seine Umwelt einwirkende psychische Situation verbunden sind.54 Bail beschreibt den Umgang mit Trauer durch den Umgang mit dem Verhaltensmuster der Minderung im Dialog von trauernder Person und Öffentlichkeit besonders anschaulich am sog. „Wundritzen“.55 Diese psychische Kompensationsleistung, in der heutigen Jugendkultur hochproblematisch geworden, wird im alttestamentlichen Trauerkontext als Möglichkeit verstanden, die Grenze zwischen Leib und Umwelt, zwischen Trauer-Ich und Trauer-Umwelt, zwischen Verschlossenheit und Öffnung bewusst zu inszenieren und neu wahrzunehmen. Das von Bail beschriebene Beispiel soll nicht dazu dienen, kritiklos dieses Körperkonzept zu aktualisieren oder gar als geheimen Fortschritt in die aktuellen Körperdiskurse von Seiten der Theologie einzuspeisen. Vielmehr geht es darum, in der Grenzanalyse von Körper und Umwelt einen angemessenen Begriff für das Verhältnis von Körper und Umwelt zu finden, der zum einen den hier benannten Körpererfahrungen Rechnung trägt und zum anderen das genaue Wechselspiel von Körper und Naturerfahrung tatsächlich einholt. Sowohl erste, am Phänomen der Grenze ausgerichtete Begriffsklärungen wie auch der Bezug auf die Leib- und Naturerfahrung bei der Begehung des Hohen Freschen haben drei Aspekte des Körperlichen freigelegt: die spezifischen Fragen nach der Grenze des Körpers im Kontext von Natur, die Erfahrung von Schmerz und Abhängigkeit und schließlich die Einsicht einer 53 Vgl. Bauer/Rahn, Grenze, 7 f. 54 Bail, Hautritzen, 54 ff. 55 Ebd., 63 f. vgl. besonders Jer 48,37 und 41,5.

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grundlegenden Kontextualisierung von Körpererfahrung im Raum. Alle weiteren Überlegungen nehmen nun ihren Ausgang bei der wichtigen Unterscheidung von Körper und Leib.56 Die Differenzierung beider Begriffe entstand bekanntlich bei Edmund Husserl durch das Unbehagen an einer kritiklosen Übernahme der Philosophie eines materialistisch-naturalistisch wie auch intellektualistischen Körperverständnisses, das von der intensiven Beziehung von Körper und Raumeinbettung absieht.57 Die entscheidende Klärung nahm dann Maurice Merleau-Ponty vor. Dieser weist immer wieder darauf hin, dass es eben keinen vom Leib und seinem Bewusstsein unabhängiges Raum-Kontinuum geben kann, was gerade für die sich anschließende Frage nach dem Verhältnis von Leib und Natur von großer Bedeutung ist.58 Denn das Subjekt im Raum ist ja ein den Raum überhaupt erst schaffendes Leib-Subjekt. Gerade für MerleauPonty ist nämlich der Raum das Produkt des handelnden Leibes und der Wahrnehmung des Leibes selbst.59 So ist laut Merleau-Ponty der Raum auch nicht euklidisch zu denken, absolut also, sondern so wie er dem wahrnehmenden Leib entspricht.60 Das hat Folgen für den Körper als Leib. Dieser erweist sich so „als Umschlagplatz, an 56 An dieser Stelle sei auf die überaus verdienstvolle Arbeit Eine Ästhetik der Natur des Frankfurter Philosophen Martin Seel hingewiesen. Seel untersucht das Wahrnehmen von Natur und unterscheidet nachvollziehbar jene Perspektive auf Natur, die die „dynamische Eigenmächtigkeit“ (ders., Ästhetik, 20) der Natur als vom Menschen nicht erzeugt von jenen unterscheidet, in der Natur als sinnlich Wahrgenommenes erscheint bzw. lebensweltlich kontextualisiert wird (ebd., 21 f). Natur erscheint dabei bei Seel bekanntlich in den drei an Kant ausgerichteten Grundkategorien Kontemplation, Korrespondenz und Imagination. Bemerkenswert ist dabei, dass dort, wo Natur als Raum der Kontemplation, als „sinnfremde phänomenale Individualität eines Gegenstandes“ (ebd., 39) aufgefasst wird, ihr eine „metaphysische“ Qualität laut Seel ganz fremd ist und sich damit gleichsam modernetypisch als ganz „profan“ (ebd., 70) erweist. Weiterhin fällt auf, dass Seels Formulierung eines existenziellen Naturbezugs („Natur als korrespondierender Ort“, ebd., 89ff) physiognomische, klimatische, historische und stimmungshafte Dimensionen einbeziehen will. Es ist in der Rezeption des Seelschen Anliegens freilich bemerkt worden, die so ausgerichtete Naturästhetik sei zu sehr an den transzendentalen Kategorien der Wahrnehmungskonstitution des Subjekts ausgerichtet und entbehre eines profunden Leibbezugs dieses Subjekts, vgl. Böhme, Ästhetik, 319 ff. Das ist der Grund, warum die weitere Begriffsklärung an dieser Stelle ohne Seels Begriffsinstrumentarium auszukommen meint. 57 Husserl trennt beide Begriffe nicht konsequent, vgl. zur Genese bei Husserl auch Thomas, Leibphänomenologie, 149. 58 Vgl. Bermes, Ort, 13 f. 59 Diese Auffassung vertritt Merleau-Ponty besonders in seinem Hauptwerk „Phänomenologie der Wahrnehmung“ und nachdrücklich noch einmal in seiner letzten Aufsatzsammlung „Signes“ 1960. 60 In seinem programmatischen Aufsatz Das Auge und der Geist stellt er hierzu fest: „Der Raum ist nicht […] ein Netz von Beziehungen zwischen Gegenständen, so wie ein Dritter als Zeuge meines Sehens erblicken würde, oder ein Geometer, der ihn rekonstruiert und überfliegt. Es ist vielmehr ein Raum, der von mir aus als Nullpunkt der Räumlichkeit erfasst wird. Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihn einbezogen“ (zitiert nach ders., Auge, 300).

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Von der Dichten Beschreibung zur Deutung

dem und durch den das Dasein von Welt und Sein überhaupt möglich ist.“61 Dieser, die Wahrnehmung von Welt überhaupt erst ermöglichende Leib, von Merleau-Ponty auch gerne als Eigenleib62 bezeichnet, ist zur Welt hin geöffnet und dies entspricht natürlich auch dem „In-der-Welt-Sein“ Heideggers; so also steht das Verwobensein des „Körpers“ als Leib mit der Welt im Vordergrund.63 Mit dieser von Merleau-Ponty vorgenommenen Unterscheidung von Körper und Leib ist für eine angemessene Beschreibung des „Körper-Leibs“ in Natur viel gewonnen, weil die Beziehung zwischen beiden in ihrer fundamentalen Verbundenheit zum Tragen kommt. Freilich ist der Widerspruch ernst zu nehmen, der nun die Hinwendung zum Leiblichen insofern theologisch für problematisch erklärt, weil doch das auf sich selbst sehende, von sich gerade nicht Abstand nehmende Leib-Ich im paulinischen Sinn der Ort der Sünde ist. In der Tat nämlich ist sarx Ausdruck und Ort der incurvatio des von Gott abgewandten Menschen und damit des Machtbereichs der Sünde. Freilich ist diese Dimension von Menschsein nun durch seine besondere Verletzbarkeit des Menschen nachgerade dazu bestimmt, der Ort zu sein, wo die Sünde gleichsam Zugriff auf den Menschen erhält.64 Neben dieser Tradition gibt es freilich die Möglichkeit, Verletzbarkeit und In-Beziehung-Treten des Leibes als Öffnung zur Welt durch die johanneische Tradition des locus classicus Joh 1,14 zu belegen. Genau diese Pointierung hat bezeichnenderweise auch Merleau-Ponty selbst vorgenommen.65 Merleau-Pontys enge Verknüpfung von Leib und Welt schlägt sich dann auch in seinem Denken von der Erde nieder. Er beschreibt die Erde, den „Boden“, als Grund des Erkennens, als Ausgangspunkt des Leibes, sich im Raum zu verhalten. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Husserl von der Erde als „Urarche“ des Eigenleibes.66 Der Begriff, von Merleau-Ponty stets in deutscher Sprache verwendet, hat etwas schillerndes, auch wenn man Merleau-Ponty wie auch Husserl ganz sicher nicht den Vorwurf einer Blut- und Bodenverherrlichung machen wird. Vielmehr wiederholt sich hier ein schon vertrautes Motiv in Merleau-Pontys

61 Heit, Körper, 225. 62 Der Eigenleib weist eine paradoxale Struktur auf: er steht nie ganz im Mittelpunkt, ist nie ganz auszuschalten, er ist kategorial gesehen subjektiv und objektiv zugleich; damit erfährt alles Wahrzunehmende einen „leiblichen Vorbehalt“ (Bermes, Ort, 15 f). 63 Vgl. Günzel, Merleau-Ponty, 40. 64 Vgl. mit Blick auf die phänomenologische Leibdiskussion besonders Stegemann, Fleisch, 38 ff. 65 Die für die deutsche Sprache mögliche Unterscheidung von Körper und Leib gibt es im Französischen so nicht, beides ist corps. Daher verwendet Merleau-Ponty stattdessen la chair (wörtl. Fleisch), belegt dieses aber ohne die negative Konnotation wie im corpus Paulinum, ebenfalls von Joh 1,14 inspiriert stellt Merleau-Ponty dann die Verletzbarkeit des „Körpers“ ohne Außenhülle in den Vordergrund. 66 Vgl. Merleau-Ponty, Cours, 116 ff. In diesem Band sind Merleau-Pontys Vorlesungen hierzu, die zwischen 1956 und 1960 gehalten wurden, versammelt.

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Natur und Leiblichkeit

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Denken. Die „Erde als Urarche“ bietet wie die Arche Noah Schutz, sie gewährt dem Leib Halt vor reiner Orientierungs- und Ortlosigkeit im Raum.67

4.2.1 Natur und Leiblichkeit Es wäre nun für die Naturerfahrung des Leibes stark verengt gedacht, wenn sich diese auf die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung von Leiblichkeit beschränken würde. Vielmehr erweist sich noch einmal Rede von der Grenze des Leibes als instruktiv. Denn präzise gesprochen geht es um die Grenze zwischen Leib und Natur. Merleau-Ponty betonte in seinen Arbeiten, wie wenig die Dimension des Leiblichen von der diesen umgebenden Natur als Außenwelt überhaupt zu unterscheiden ist. Vielmehr erweist sich der so als Leib konzeptualisierte Körper als Teil der Natur. Insofern ist die leibgebundene Rede von der Natur ein Paradox: zum einen in den Sprachspielen der Wissenschaft von der dem Menschen entzogenen, von ihm nicht erzeugten Wirklichkeit, zum anderen aber Teil seiner selbst und im Akt der Wahrnehmung nicht voneinander zu trennen.68 Philipp Thomas hat diesen Sachverhalt so beschrieben: „Kann sich das Ich-Gefühl, kann sich der Bereich, zu dem man „Ich“ sagen kann, momentweise oder auf Dauer auch auf Natur ausdehnen? Dann könnte man vielleicht in einem nicht mehr banalen Sinne davon sprechen, dass man selbst Natur ist. Wäre man einmal so weit, das eigene Natursein nicht mehr als neutrale äußere Tatsache, sondern als radikal unvertretbaren Modus des Selbstseins, als Teil der eigenen Identität beschreiben zu können, dann wäre von da aus erneut nach unserem Verständnis von der und Verhältnis zu der Natur zu fragen: Gibt es so etwas wie eine (zur neuzeitlichen Wissenschaft) alternative Naturerfahrung, die gerade dadurch zustande kommt, dass man sich selbst wieder als Natursein verstehen lernt?“69

In kritischer Durchsicht der Positionen Husserls, Heideggers, Merleau-Pontys und Hermann Schmitz’ formuliert Thomas dann ein Programm einer Leibphänomenologie als Naturphilosophie.70 Im Zentrum dieses Anliegens steht die Idee des Nachvollzugs von Natur im Leibsein des Menschen. Dieser 67 Vgl. Günzel, Boden, 52 ff. 68 Die Folge liegt dabei sofort auf der Hand: Natur kann damit eo ipso nicht mehr vollständig verzweckt und als das „Andere“ des Ich zum reinen Rohstofflieferanten herabgestuft werden. Ebenso wird der Hiatus zwischen individueller Naturerfahrung und modernetypischem Sinnentleerungsprozess der Natur kritisch hinterfragt. Ohne sich die Position von Gernot Böhme dabei ganz zu eigen machen zu wollen, wird man eine grundlegende Übereinstimmung mit Böhmes Projekt einer letztlich ethische ausgerichteten „Phänomenologie der Natur“ nicht bestreiten können (vgl. ders., Phänomenologie, 11ff), freilich ohne dem goetheanisch-anthroposophischen Überbau Böhmes folgen zu wollen. 69 Thomas, Leiblichkeit, 292 f. 70 Ders., Leibphänomenologie.

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Nachvollzug wird möglich, weil sich in der Dimension des Leiblichen innere und äußere Natur begegnen. Ein Nachvollzug wird möglich, so Thomas, weil die Wahrnehmung von „Naturtatsachen“ eine „Modifikation leiblicher Befindlichkeit“71 ist und sich nicht jenseits intellektuellen Benennens, kausalen Erklärens oder ästhetischen Genießens befindet, sondern vielmehr im Sinne der Phänomenologie ursprüngliche Intentionalität sein will.72 Für Thomas gliedert sich dieser Nachvollzug, der sich passivisch auf jene „Natur, die uns umfängt“73 bezieht, in drei Dimensionen des „Ich“: das leibliche Ich, das natürliche Ich und das Ich der natürlichen Existenz. Während ersteres für den leiblichen, unmittelbaren Mitgang mit anderen Verhältnissen in der Natur steht und auf den basalen Selbstbezug des Ich rekurriert, eröffnet sich im Naturnachvollzug des natürlichen Ich etwa eine Verbindung zur Zentriertheit des Tiers in seiner Umwelt und entspricht jener ursprünglichen Intentionalität. Bemerkenswert dann vor allem die dritte Ebene des leibhaftigen Naturnachvollzugs mittels der natürlichen Existenz. Hier entsteht ein analogon zwischen Formen des natürlichen Wuchses oder tierischen Verhaltens und Fragen der Existenz des Menschen überhaupt.74 Die Stärke dieses Ansatzes liegt auf der Hand: Die enge Verbindung zwischen Natur und Leib wird in das Ganze der Wahrnehmung eingebunden und in der Rede vom Nachvollzug zugespitzt. Freilich übersieht diese Leibphänomenologie als Naturphilosophie für unseren Zusammenhang wesentliche Tatsachen: Zum einen geriert sich die Leibphänomenologie als eine Wissenschaft vom Leib als absolutem Nullpunkt aller Erfahrung und blendet aus – ob bewusst oder unbewusst sei dahin gestellt – dass alle Rede vom Leib ebenfalls bestimmten Diskursregeln unterworfen ist.75 Zum anderen aber blendet sie aus, dass Natur eben nicht nur als das zum Eigenen dazu Gehörende erscheint, Ebd., 195. Ders., Leiblichkeit, 301. Ders., Leibphänomenologie, 172. Was damit gemeint ist, zeigt Thomas an folgendem Beispiel: „Auf einer Wanderung an der Baumgrenze begegnen wir einer vereinzelt stehendnen Latschenkiefer. Ihr verkrüppelter Wuchs, das Geduckte, Zähe, Harte verrät uns die Widrigkeiten ihrer Lebensbedingungen, die zähe Kraft ihres Wachstums, das kärgliche Lebensoptimum, das unter diesen Umständen möglich ist. Die Bedeutung von Luft und Kälte, von Boden und Licht, die Bedeutung der dicken Borke, der harten Zweige, der kräftigen Wurzeln ,verstehen‘ wir vielleicht intellektuell, wir können dies aber wohl nur vor dem Hintergrund einer Erfahrung unserer selbst als natürliche Existenz. Die Bedeutung der Kategorie ,Widrigkeit‘ oder ,lebenswidrige Umstände‘ ist nur vor dem Hintergrund des ganzen einer natürlichen Existenz möglich“ (ebd., 166 f). 75 Ein Vorwurf, dem sich Thomas ausgesetzt sieht, ist die Kritik an der phänomenologischen Haltung, die Leib und Natur als etwas ansieht, das „eben so und nicht anders ist, gerade, wenn er erklärt, eine solche Haltung schließe ein wirkliches Erklären ebenso aus wie den Impuls der Veränderung (vgl. ebd., 177ff). Thomas entgegnet diesem „Fatalismusvorwurf“ (ebd., 177), die Leibphänomenologie halte mit ihrer Konzentration auf die Wahrnehmungsakte des Leibes bewusst an der Unverfügbarkeit der eigenen Natur fest, thematisiere ein Selbstverhältnis und eröffne zwischen „Ich“ und „Natur“ eine, so lässt sich für unsere Überlegungen hinzufügen, eine Doppelsicht der Grenze des Leibes.

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sondern auch als Abstoßendes, als das, was sich dem Nachvollzug widersetzt, kurz das Fremde. Noch einmal: Während Thomas in der Denkfigur des Nachvollzugs zu beschreiben sucht, wie der Leib die Mitte der menschlichen Existenz Natur ist als das, was ihn umgibt und damit einen Kontakt zu der Natur als Totalität erhält. Diese Totalität setzt die Erfahrung des Fremden in der Natur gerade gegensätzlich an. Bernhard Waldenfels, der den Blick auf das Fremde für die Phänomenologie stark gemacht hat, betont daher, das Fremde definiere nun zunächst einmal Begriff und Sache der Grenze neu, weil durch das Fremde eine unendliche Ganzheit des Vertrauten ihre Ordnungskraft verliere.76 Das Fremde unterläuft also den Ganzheitsdiskurs, den Thomas nachhaltig beschwört.77 Es erscheint sinnvoll, Nachvollzug und Umgang mit dem Fremden als zwei wichtige Erfahrungsdimensionen der Natur zu begreifen, die sich, wenn man an die Beschreibung des Auf- und Abstiegs des Hohen Freschen denkt, wohl eher ergänzen als widersprechen. Daher also nun zum Fremden: Waldenfels benennt das Fremde zunächst einmal „als etwas, das nicht dingfest zu machen ist […], das uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht, so bedeutet dies, dass die Erfahrung des Fremden immer wieder auf unsere eigene Erfahrung zurückschlägt und in ein Fremdwerden der Erfahrung übergeht.“78

Waldenfels betont dabei die der Phänomenologie eigene Leibgebundenheit dieser Erfahrungen.79 Im Hinblick auf die Natureindrücke am Berg bestätigt sich, dass es nun nicht allein dem Erfahrungsleib äußere Fremdheiten durch fremde Orte80 gibt, sondern ihm eingeschriebene grundlegende Fremdheitserfahrungen der Zeit, des Körperlichen und der Sinne.81 Und weiterhin hält Waldenfels zu Recht fest, diese Fremdheitserfahrungen sollten nicht vorschnell „eingeholt“ werden oder gar moralisch gedeutet werden.82 Denn das Fremde ist für ihn, gerade in der Spannung vom Fremden in uns und Zonen bzw. Formen kollektiver Fremdheit eine Störung von Ordnung, die es „zu ertragen“ gelte. 76 Waldenfels, Grundmotive, 16 ff. 77 Waldenfels positioniert sich hier modernetypisch in der Rede von der Kontingenz, vgl. ebd., 19 f. 78 Ebd., 7 f. Für Waldenfels kann diese Verstörung unterschiedliche Intensität annehmen und wahlweise als alltägliche Fremdheit, als strukturelle Fremdheit oder als radikale Fremdheit erscheinen. Naturerfahrungen spiegeln alle drei Fremdheitserfahrungen wider. 79 Vgl. ebd., 78. 80 Was Waldenfels freilich auch nicht bestreitet, vgl. ders., Topographie, 24 ff. 81 Man denke an den Zustand der Angst und Euphorie, an den verstellten Blick beim Aufstieg und die verlagerung des Körperschwerpunktes auf die Knieregion beim Abstieg. 82 Diese Kritik richtet sich gegen die moralische Qualität des Fremden besonders in der Philosophie von Emmanuel Levinas, vgl. Waldenfels, Grundmotive, 7.

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Nun ist das Fremde nicht allein störend-verstörend, gewalttätig und gefährlich. Vielmehr lockt das Fremde auch, reizt, ist attraktiv.83 Und so erscheint also die Natur nicht nur als das Vertraute, das Teil von uns ist, sondern als das Fremde, was uns anzieht und abstößt. Immer aber macht das Fremde das Subjekt zum Patient, so Waldenfels, und fordert dieses in seiner Leibgebundenheit zum „nachträglichen Response“ heraus.84 Insofern erweist sich hier durchaus eine Brücke zur Rede vom Nachvollzug bei Thomas. Im Begriff der Grenze formuliert sich nun das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Leib und Natur. Erfahrungen der Fremdheit und der Entsprechung zwischen innerer und äußerer Natur werfen nun aber in großer Dringlichkeit die Frage nach der diskursiven Verwobenheit des Leiblichen auf. Es wäre nämlich verfehlt, wollte man die Rede vom Leib und der Leiblichkeit nicht wie die Rede vom Körper immer schon in Diskurse verwoben betrachten. Der Begriff der Leiblichkeit ist ebenso wie der der Körperlichkeit weder zeitungebunden noch ideologiefrei zu betrachten. Darauf hat bereits der Phänomenologe Hermann Schmitz in Ansätzen hingewiesen.85 Besonders Ulle Jäger hat sich um diese notwendige begriffliche Klärung verdient gemacht: „Auch der Leibbegriff erlaubt nicht den Zugriff auf den Körper, ,so wie er ist‘. Der Leibdiskurs ist ein Diskurs neben anderen. Er zeichnet sich aber durch eine grundlegende Differenz zum naturwissenschaftlich geprägten Körperdiskurs aus. Beim Leib geht es um den lebendigen Körper, während das körperliche Wissen aus der Erforschung des toten Körpers hervorgegangen ist […]. Dadurch hebt der Diskurs des Leibes auf Aspekte gelebter Körperlichkeit ab, die in naturwissenschaftlich ausgerichteten Körperdiskursen außen vor bleiben.“86

Nun sind auch für Jäger ebenjene Körperdiskurse zunächst einmal notwendig Diskurse von und über Wissenssysteme, die im Sinne Foucaults den Körpern eingeschrieben sind. Insofern ist zu bedauern, wenn Körper- und Leibdiskurse, für die stellvertretend Phänomenologie und (Post-) Strukturalismus stehen, keine Brücke des gegenseitigen Verstehens beschreiten können. Aus diesem Grund formuliert Jäger dann auch das Postulat nach einer Verschränkung beider Diskurse zu einer „Soziologie des körperlichen Leibes“.87 Damit will sie erreichen, dass der für die Soziologie sperrige Begriff des Leibes auch kulturtheoretisch deutungs- und damit anschlussfähig wird. Im Hinblick auf die Beoabchtungen zum Bergaufstieg ist dies ein wertvoller Beitrag, verstrickt sich der Leib doch permanent in den „Netzen der Lebenswelt“ (Waldenfels) ebenso wie in den Zeichen- und Symbolsysteme und ihren Diskursen. 83 84 85 86 87

Vgl. ders., Bruchlinien, 186 ff. Ders., Grundmotive, 49. Vgl. Soentgen, Wirklichkeit, 16 f. Jäger, Körper, 49 f. Ebd., 111 ff.

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Natur und Leiblichkeit

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Jäger greift nun auf das Habituskonzept Bourdieus zurück und verbindet es mit der philosophischen Anthropologie Helmut Plessners. Das dürfte große Evidenz für sich beanspruchen. Nach einer bereits erfolgten Würdigung des Habitus Bourdieu’scher Prägung in der qualitativen Bildanalyse sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass Bourdieu hiermit „ein System verinnerlichter Muster […] (versteht), die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen.“88 Habitus steht also gewissermaßen für innere, generative Tiefenstrukturen. Der Prozess der sog. Verinnerlichung läuft weitgehend unbewusst ab und schafft ein Dispositionssystem für das Handeln sozialer Akteure. Jäger interpretiert nun diesen Prozess der Verinnerlichung mit Hinweis auf Bourdieu selbst als Akt der Inkorporierung, weil jene Verinnerlichung, so Jäger, dem Menschen auf den Leib geschrieben wird. Soziale Ordnung macht also an der Leibaußengrenze nicht Halt.89 In einem zweiten Anlauf erinnert Jäger dann daran, dass die Phänomenologie Leiblichkeit als Offenheit zur Welt interpretiert. Hierin sieht sie eine Brücke zu Plessners berühmt gewordener Rede vom Menschen als exzentrischem Wesen.90 Anders als das Tier, das zentrisch in einem vorgeprägten und begrenzten Umweltbezug lebt, sprengt der Mensch diesen festgelegten Umweltbezug (ohne ihn ganz zu verlieren) und entwickelt sich zu einem exzentrischen Wesen, dessen wichtigstes Merkmal die Weltoffenheit ist. Indem nun der Instinkt als Leitinstanz abgelöst wird, muss nach Plessner der Mensch jene verlorene Sicherheit durch eine kulturelle Ordnung wieder herstellen, die sich aus seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion speist.91 Jäger erkennt nun in dieser kulturellen Ordnung jenen von Bourdieu eingeführten Habitus und erkennt im Leib jenen Ort, wo gesellschaftlich-kulturelle Dispositionen sowie individuelle Erfahrungsleistungen zusammenfallen. Fassen wir zusammen: Die Dichte Beschreibung der Besteigung des Hohen Freschen wurde in methodologischer Präzisierung in die theoriegeladenen Zusammenhänge der spezifischen Raumerfahrung und der Leiblichkeit eingebettet. Beide Kontexte unterstreichen, wie wichtig die Analyse der grundlegenden Erfahrungsstrukturen für die weitere Arbeit ist, hängt davon doch wesentlich ab, wie dann von einer religiösen Dimension dieser Erfahrung von Natur gesprochen werden kann. Die Raum- und Leibrede erweist sich dabei als anschlussfähig an Theoriekonzepte der Kulturwissenschaften und eröffnet eine Brücke zwischen Phänomenologie und Sozialwissenschaften. Gerade dann, wenn die Erfahrung von Natur zum einen auf den eigenen Leib bezogen bleiben soll, zum anderen aber auf eine grundsätzliche historische Wandel88 Bourdieu, Soziologie, 143. 89 Jäger, ebd., 169. Die so benannte Inkorporierung wird für Jäger zum Bindeglied zwischen Leibund Körperdiskursen. 90 Vgl. besonders Plessner, Stufen und ders., Augen. Zur aktuellen Diskussion um Plessner vgl. auch Gamm/Gutmann/Manzei, Anthropologie. 91 Plessner, Stufen, 288 ff.

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Von der Dichten Beschreibung zur Deutung

barkeit von Erfahrungsstrukturen rekurriert, ist diese Verbindung unabdingbar. 4.3 Brücken zum Religionsthema Will man nun nicht einfach in einer nachgeordneten Analyse einzelne Phänomene einfach als isoliert religiös benennen, sondern das Religionsthema auf allen Ebenen der bisherigen Untersuchung zur Sprache bringen, so lässt sich folgende These formulieren: Deutungslinien des Religiösen finden sich auf drei unterschiedlichen Ebenen, auf der Ebene der anthropologischen Polaritäten, wie sie durch den Begriff der Grenze zwischen äußerer und innerer Natur angelegt sind, zum zweiten in der spezifischen Zuspitzung des Leiblichen als diskursivem Körperkonzept und schließlich in der modernetypischen Verwendung und Deutung des religiösen Symbolsystems. Zum Ersten: die anthropologischen Polaritäten. Der schillernde Begriff der Grenze zwischen äußerer und innerer Natur erinnert nicht nur an das theologische Bildfeld der Grenze, sondern in besonderer Weise auf die Erfahrung, die sich in der Spannung zwischen Nachvollzug (Thomas) und Fremdheit (Waldenfels) angesichts von Naturerfahrungen für das Leibsubjekt einstellt. Thomas wie Waldenfels sprechen jeweils von einer Spannung, die sich dort entlädt, wo Natur als Totalität, als Fülle, als unbegrenztes Gegenüber wahrgenommen wird. Erfahrungen dieser Art vermitteln sich dem Leib in der Polarität von Totalität und Fragment, einer Begriffskonstellation, die in den letzten Jahren besonders durch den Beitrag Henning Luthers in der Praktischen Theologie regelrecht heimisch geworden ist.92 Während Luther besonders die Brüchigkeit und den fragmentarischen Charakter von Erfahrung im Kontext des Religiösen betont, beweist die Polarität von Fragment und Totalität den dialektischen Charakter stärker, der für Erfahrungen der Natur, ob im Nachvollzug oder der Vermittlung von Fremdheit wesentlich ist.93 Dies perpetuiert nicht einfach die romantische Rede vom „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (Schleiermacher), nimmt aber die leibhaftigen Erfahrungen im Kontext von Natur angemessen ernst. Zum Zweiten: die Leiblichkeit. Wiederum ausgehend von der Erfahrung der Grenze erweist sich die Rede vom Leib als ein der religiösen Erfahrung angemessenes Körperkonzept, dass gegenwärtigen Diskursen von Körper im 92 Luther, Identität, 110 ff. 93 Vgl. auch Klessmann, Ethik, 89 f. Klessmann führt noch eine weitere für unseren Zusammenhang nicht unwesentliche Polarität ein, die zwischen „Für-Sich-Sein und Bezogen-Sein“ (ebd., 88). Damit ist die grundsätzlich dialogische Perspektive auf Menschsein im Licht biblischer Traditionen benannt. Gerade im Anschluss an Plessners Rede von der Exzentrizität des Menschen ließen sich Verbindungen zu Pannenbergs Rede von der Gottoffenheit des Menschen herstellen, vgl. ders., Anthropologie, 63 ff.

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„Verlangsamtes Sehen“

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Kontext der Phänomenologie die Leiblichkeit an die Seite stellt. Die Rede vom Leib impliziert die Notwendigkeit eines reflexiven Körperkonzepts, das die Einbettung des „Ichs“ in die eigene Verfasstheit explizit zum Thema macht. Darüber hinaus aber betont die Rede vom Leib, wie porös die Grenze zwischen äußerer und innerer Natur des Menschen erlebt werden kann. Zum dritten: Das religiöse Symbolsystem und seine Diskurse. Halten wir uns vor Augen, dass sich Fragen der Leiblichkeit und der Erfahrung von Fremdheit und Nachvollzug von Natur im Gipfelerleben selbst verdichten. Hierzu sei noch einmal an die Dichte Beschreibung erinnert: Auf dem Gipfel befindet sich ein Gipfelkreuz, das in einen Betonsockel eingesetzt ist, auf dem man Platz nehmen kann. Gegenüber dem Kreuz befindet sich ein kleinerer Sockel, an dessen Südseite ein kleiner Metallkasten angebracht ist, der Ort für das Gipfelbuch. Typisch für einen Aufstieg und das Erreichen des Gipfels sind nun drei Phasen: Das Erreichen des Gipfel fällt mit einem kurzen Innehalten zusammen. Der Augenblick des Schauens ist gekommen. Oft werden Fotos gemacht. Dieses alles vollzieht sich sehr körperlich (Schritte verlangsamen sich, man richtet sich auf); es folgt eine kurze Erholung. Der zweite Teil der Gipfelzeit gilt dann dem Gipfelbuch, dem Lesen darin und einem eigenen Eintrag (sofern natürlich das Buch vorhanden ist). Nicht nur räumlich und materiell dominieren also das Gipfelkreuz und der Sockel für das Gipfelbuch. Beides, Kreuz und Buch laden zur Auseinandersetzung, zur Konzentration ein. Sie werden für die Bergwanderer zu Möglichkeiten der Kommunikation. Grenzerfahrungen von Leiblichkeit, Totalität und Fragment werden in diesen Zeichen sichtbar, verhüllt und permanent transformiert. Die Zeichen, so die weitere Annahme, sind die eigentlichen Referenzorte für das Religiöse im Erfahrungsraum von Natur. Darum soll es nun gehen. Es folgt daher zuerst eine eingehende Analyse des Gipfelkreuzes auf dem Hohen Freschen, danach der Gipfelbücher. Nachdem sich einer ersten Auswertung eine vertiefende Theorie geleiteten Deutung anschloss, kehren wir nun wieder in den Phänomenbereich des Hohen Freschen zurück.

5. Gipfelkreuze 5.1 „Verlangsamtes Sehen“ Das etwa 3 Meter hohe Gipfelkreuz des Hohen Freschen, das in einen massiven Betonsockel eingelassen ist und mit Seilen am Boden gesichert, wurde aus Lerchenholz gefertigt und ist mit einem Stahluntergrund verbunden. Es dominiert das oberste Gipfelareal des Freschen deutlich und steht in der iko-

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Gipfelkreuze

nografischen Tradition anderer Gipfelkreuze des Alpenraumes.94 Nirgendwo wird die Verbindung zwischen Naturraum, Naturerfahrung und religiösem Symbolsystem so evident wie hier. Insofern fällt es leicht, den Symbolsinn des Kreuzes im Kontext biblischer und kirchlicher Traditionen hier einzutragen. Aber genau hierin liegt die Schwierigkeit, dass der sich in den Vordergrund drängende Symbolsinn des Kreuzes, man denke an die massive „Kreuzestheologie“ auf dem Säntis, den subtilen und vielschichtigen Zusammenhang zwischen religiösem Zeichen und gegenwärtiger Kommunikation dieses Zeichens an diesem besonderen Ort eher erschwert. So gehört es zu der bereits mehrfach genutzten phänomenologischen Analyse, nicht der Versuchung einer vorschnellen Bedeutungszuschreibung zu erliegen und stattdessen, ganz im Sinne der Dichten Beschreibung, genaue Wahrnehmung an den Anfang zu setzen. Will man das Kreuz als Teil eines gegenwärtig so produktiven Religionsdiskurses begreifen, so hat man sich darauf einzulassen. Besonders nachdrücklich ist diese Forderung insbesondere für das „Kreuz“ von Hans Günter Heimbrock erhoben worden, der durch eine verlangsamte Wahrnehmung einzelner, empirisch auffindbarer Kreuze die Gestaltprägnanz des Kreuzes gegen sein oberflächliches „Sinn-Bild“ betont.95 Heimbrock unterstreicht dabei, dass diese Art der Annäherung nicht anders als durch das am Erkenntnisprozess beteiligte „Leib-Subjekt“96 geschehen könne. Gehen wir also noch einmal zurück auf die Diskursebene der Dichten Beschreibung: Das Kreuz erscheint hierbei zwar von Beginn an als traditionsverbunden, aber doch auch und im Zuge des Aufstiegs erst einmal als Markierungszeichen.97 Weithin sichtbar, macht es auf eigentümliche Weise er94 Bis auf die alten Wetterkreuze, die drei Querbalken aufweisen und generell ohne Christusfigur gearbeitet waren, unterscheiden sich die Kreuze in der Regel vor allem durch ihre Aufschriften, die oftmals einen Hinweis auf ihre Primärfunktion enthalten. So hat in der Zeit seit dem 2. Weltkrieg im Alpenraum die Zahl der Dankeskreuze für Kriegsheimkehrer zugenommen, die aber in der Regel unterhalb des Gipfels aufgestellt wurden. Sie stehen im engen Zusammenhang mit den Bergopfer-Gedenkkreuzen. Diese funktionale Verengung gegenüber dem klassischen Gipfelkreuz findet sich auf dem Weg zum Gipfel des Hohen Freschen auf ca. 1600 Meter Höhe bei dem Gedenkkreuz und bei den Kreuzen in der Freschenkapelle. 95 Heimbrock, Kreuz-Gestalten, 121, vgl. auch ders., Kreuz, 57 ff. 96 Ebd. 122. 97 Den höchsten Punkt einer Erhebung zu markieren, entspricht einem wohl uralten menschlichen Bedürfnis. In beinahe allen Bergkulturen finden sich an diesem hervorgehobenen Orten sog. Steinmännchen, übereinander gestapelte Steine, bzw. Steinplatten. Inwieweit diese Steinmarkierungen im alpinen Raum auch Ausdruck spezifischer Bergkulte waren, ist umstritten, vgl. dazu Haid, Mythos, 17 ff. Ein bekanntes Gipfelheiligtum, vermutlich aus römischer Zeit, befand sich etwa auf dem Großen St. Bernhard. Im Zuge der einsetzenden Christianisierung wurden solche Markierungszeichen christianisiert, ohne in der Regel ihren lokalen Bedeutungskern zu verlieren, vgl. ebd., 72 ff. Zur Verbreitung des Kreuzzeichens trug sicherlich besonders die sagenhafte Auffindung der Kreuzreliquie Christi im Jahr 327 durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins bei. Die Bedeutungsausweitung des Markierungszeichens ist bereits in mittelalterlicher Zeit enorm, nach und nach werden Aspekte von Status, Gemeindegrenze und vereinzelt auch Sühne für begangene Straftaten in traditionelle Bedeutungslinien integriert. Zu den ersten

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Gipfelkreuz und Gebetsfahnen

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fahrbar, wo der höchste Punkt des Berges liegt. Wer den Weg zum Gipfel wählt, orientiert sich an diesem Kreuz. Vieles hängt dabei von der Tageszeit, von den Lichtverhältnissen und der Witterung ab. Blickt man von Süden kommend am Morgen auf das Kreuz, wirkt es auf den Betrachter wie ein schwarzer Strich, schaut man am Nachmittag auf das Kreuz, wenn es das helle Licht durch seine teilweise metallene Oberfläche reflektiert, so leuchtet es förmlich. Das Kreuz ist der Gegenstand, dessen Berührung fast während eines ganzen Tages, eben unterhalb des Gipfels ausgeschlossen ist. Zugleich verändert es seine Größe und die Sicht auf den Querbalken je nach Ort. Schließlich erweist sich das Kreuz als etwas, das während des Aufstiegs, immer dann, wenn der Blick auf den Weg gerichtet ist, aus dem Blick fällt und doch stets gegenwärtig ist. Das Kreuz macht den Unterschied aus. Das Kreuz besitzt nun eine in diesem besonderen Naturraum wichtige Gestalt. Es ist scharfkantig, eben, glatt und hart und steht damit in Symbiose mit dem ihm umgebenen Untergrund aus Stein, Geröll und Erde. Das Kreuz wirkt also mit dem Berg verbunden und doch wie etwa Fremdes inmitten dieses Raumes. Es ist das Ergebnis einer Arbeit im Tal und es steht hier, weil es hierher hinaufgebracht wurde. Die Plakette am Kreuz weist darauf ja hin.98 Auf dem schmalen Gipfelplateau des Hohen Freschen dominieren zwei Teilflächen, die des Kreuzes und jene, die einen Steinsockel mit dem Gipfelbuch aufweist. Das Gipfelbuch, das bei der Besteigung ja fehlte, enthält, wie noch zu zeigen sein wird, auch Zeichnungen und Anspielungen auf das Gipfelkreuz. 5.2 Gipfelkreuz und Gebetsfahnen Noch etwas wurde nur für den sichtbar, der sich in der Nähe des Gipfels aufhielt. Von unten, während des Aufstiegs, waren die tibetischen Gebetsfahnen, die um den Längsbalken des Kreuzes geknotet waren, und bis zu der etwa 4 Meter entfernten Metallstange, an der ein Verbotsschild angebracht ist, nicht zu erkennen. Auf dem Gipfel angekommen, bildeten sie einen starken Kontrast zu der Kreuzgestalt. An einer Schnur waren die einzelnen Wimpel der Größe 20 x 20 cm auf einer Länge von ca. 7 Metern aufgehängt. Die Gebetsfahnen leuchteten in den bekannten Farben gelb, grün, rot, weiß und blau und bewegten sich im Wind. Die Gebetsfahnen standen in keiner direkten Verbindung zur Erde, zum Berg. Sie waren farbig und höchst beweglich. Sie wiederholten sich in Form, Größe und bedruckter Oberfläche.99 Gipfelkreuzen der Alpen zählen, so weit dies noch festzustellen ist, die drei (!) Kreuze, die die Erstbesteiger des Mont Aiguille 1492 dort errichteten. 98 Hergestellt unter Leitung des ÖAV, Sektion Laterns von der Höheren Technischen Bundeslehrund Versuchsanstalt Rankweil. 99 Die tibetischen Gebetsfahnen gehören zur religiösen Alltagskultur des Buddhismus und sind besonders im Himalaya oft anzutreffen. Die Fahnen finden sich in Klosteranlagen, aber auch

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Gipfelkreuze

Die Gestalt des Gipfelkreuzes erweist sich in besonderer Weise durch seine Materialität, seine Lage, seine Sichtbarkeit und schließlich seine Herkunft. Die Sinnhaftigkeit dieses Zeichens Kreuz wird nun daran fassbar, wie sehr es sich in einem kommunikativen Prozess mit seiner Umwelt befindet. So wird religiöse Erfahrung dort benennbar, wo das Kreuz sich wandelnden kulturellen Kontexten begegnet. Diese sind die überraschende Anbringung der tibetischen Gebetsfahnen, die Errichtung des Kreuzes durch die Initiative des ÖAV und schließlich die Beziehung des Gipfelkreuzes zum Gipfelbuch des Hohen Freschen. Das Anbringen von tibetischen Gebetsfahnen auf Gipfeln der alpinen Bergen ist gegenwärtig noch als Ausnahme zu bezeichnen, kann aber zu Recht als Ausdruck tief greifender kultureller Verschiebungen gedeutet werden. Christliche Symbolik, insbesondere das Kreuz, stoßen bei manchen Bergwanderern und Alpinisten auf Widerspruch.100 Zugleich werben diese für eine Öffnung der Berggipfel für außerchristliche Symbole.101 Auch wenn ein sichtbares Kreuz vielerorts eher als Teil heimischer Kultur wahrgenommen wird, hat die vereinzelte Verwendung außerchristlicher Gipfelzeichen zu einer Diskussion über den spezifisch christlichen Kern des Kreuzes geführt.102 Das hängt sicher auch mit dem Nachwirken des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv rezipierten Gedankengutes des Alpinismus selbst zusam-

dort, wo wie auf Bergen oder Gebirgswegen besonders verlässlich Wind geht. Seit dem 11. Jahrhundert nachgewiesen, symbolisieren die Gebetsfahnen eine Form der religiösen Kommunikation. Wer sie anbringt, verbreitet die Gebete, die sich auf ihnen befinden. Die fünf Farben stehen dabei für die im lamaistischen Kulturkreis übliche Vorstellung der fünf Himmelsrichtungen. Unterbrochen werden die Mantren von Darstellungen der Schutzgöttin „Tara“, des Schutzpatrons Tibets, Bodhisattva Avalokiteshvara, dem Religionsstifter Padmasambhava und schließlich des mythischen Windpferds „Lungta“, das die göttliche Ernergie des Windes symbolisiert, vgl. Bernhard, Medien, 403. 100 Immer wieder begegnet man in diesem Zusammenhang dem Vorwurf, das Errichten eines Gipfelkreuzes unterwerfe den Berg unter das Diktat des christlichen „Todeskult“: „Bergkreuze sind in meiner Wahrnehmung anmaßende Unterwerfungssymbole. Das Sinnbild der Todesüberwindung wird profanisiert und inflationiert. Berge als überdimensionierte Grabhügel […]. Zieht den Gipfeln den eingerammten Stahl aus dem Leib“ (Straaß/Lieckfeld, Mythos, 45). 101 Typisch ist für diese Haltung ist folgender Leserbrief aus der Mitgliederzeitschrift des Deutschen Alpenvereins: „Auf den Gipfeln vieler Alpenberge stehen Kreuze, die Symbole des Leidens. Zugegeben, manche Bergtouren bereiten viel Anstrengung und auch körperliches Leid, andere sind hingegen mehr oder weniger genussreich. Daher wäre es gut, wenn nicht nur Kreuze die Alpengipfel „zierten“. Vorstellbar wären beispielsweise auch Sonnenräder, so wie es die Inkas pflegten. Auch die buddhistische bzw. tibetanische Kultur besitzt Sonnenräder. Schließlich ist ein Sonnenaufgang auf einem Berggipfel etwas besonders Schönes“ (zit. nach DAV, Panorama, 120). 102 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines Gedenksteins für die verunglückten Bergsteiger auf dem Vorplatz der Saarbrücker Hütte unterhalb des Gipfels der Silvretta. Nach längerer Diskussion entschied sich die verantwortliche Sektion des DAV bewusst für einen Altartisch ohne ein Kreuz.

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Gipfelkreuz und Gebetsfahnen

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men, einer Bewegung, die zugleich abwehrende Reaktion wie vorwärtsdrängender Impulsgeber moderner Alpennutzung gewesen ist.103 Nun zurück zum Gipfel des Hohen Freschen: Die Gebetsfahnen auf dem Gipfel wurden auch in Laterns mitunter heftig kritisiert.104 Neben Kritik und Ablehnung an den Gipfelkreuzen gibt es eine ebenfalls lautstarke Bewegung

103 Der Alpinismus reagiert als Bewegung wie als Ideologie auf den ersten Schub massentouristischer Vereinnahmung der Alpen und kann als zeittypische Signatur krisenhaft erfahrener Moderne gedeutet werden. Das zeigt eindrücklich Tschofen, Aufstiege, 213 ff. Bereits Edward Whympers Schilderung der ersten Matterhornbesteigung im Juli 1865 trägt darüber hinaus deutliche Züge des heroischen Bergsteigers, der sich den Gefahren des Berges schicksalhaft aussetzt. In Anlehnung an eine popularisierte Lebensphilosophie und Nietzsches Menschenbild wird der Bergsteiger zum Einzelwesen, das in der Besteigung der Berggipfel Erfüllung und Freiheit findet und damit einem profunden Distinktionsbedürfnis nachkommt. Die Gefahr am Berg steigert die Lebensintensität, die Sorge um einen Unfall weicht einer Schicksalsgläubigkeit, vgl. auch Amstädter, Alpinismus, 91 ff. Als Wegbereiter dieser Haltung gilt besonders Eugen Guido Lammer, sein Werk bereitet dann auch konsequent der nationalsozialistischen Ideologie den Boden (vgl. besonders ders., Jungborn). Bemerkenswert ist dann die Bereitschaft in Teilen des Alpinismus, hierin eine Geisteshaltung und Bewegung zu erkennen, die Züge einer Religion trägt, in Abgrenzung zu einem kirchlichen verfassten Christentum wie auch anderen rein touristisch interessierten Bergsteigern: „Das alpine Erlebnis ist Selbstzweck […] Ein Erlebnis, das unmittelbar ist und das Selbstzweck ist, kann nur ein religiöses Erlebnis sein […] Der Alpinismus ist nur als religiöse Bewegung verständlich: Die Pioniere zu ihren übermenschlichen Leistungen anzuspornen, die nachflutenden Massen jahrein, jahraus in immer steigender Zahl in Bewegung zu halten, das vermag nur ein religiöses Motiv. Vom gottschauenden Eremiten oder wehrhaften Glaubensstreiter bis zum betrunkenen Kirchweihgast ist ein weiter Bereich, das Platz bietet für unzählige Zwischenstufen. Nicht anders verhält es sich mit den Gläubigen der Berge“ (Miller, Züge, 31). 104 Immer wieder wurde die Vermutung geäußert, das Anbringen der Gebetsfahnen gehe auf schamanistische Aktivitäten des Seminarhauses fibe in Laterns zurück (vgl. http://www.fibe. at). Einen Beweis für die Auffassung habe ich nicht gefunden. Wenige Wochen nach meiner Anfrage bezüglich der Gebetsfahnen erhielt ich eine e-mail aus Laterns mit dem Hinweis, die Gebetsfahnen seien abgenommen worden! Mit beispielloser Heftigkeit wurde 2005 ein Streit um eine Buddha-Figur auf dem Piz Badile, einem prominenten Kletterberg an der Grenze zwischen dem Kanton Graubünden und der Lombardei ausgetragen. Der Streit kann als Beleg für die zunehmenden Ressentiments gegenüber einer christlich geprägten Volkskultur in den vornehmlich italienischen Alpen gesehen werden. Im September 2005 betonierten Bergsteiger unweit des Gipfels des Piz Badile eine 70 cm hohe und 20 kg schwere Buddhafigur ein, um gegen die ihrer Auffassung nach zu zahlreichen christlichen Symbole in diesem Gebiet zu protestieren (vgl. Alpin. Magazin für Bergsteigen, 8 f). In einer von der katholischen Nachrichtenagentur kath.de verbreiteten Meldung wurde ein katholischen Priester daraufhin mit den Worten zitiert: „Unsere Berge dürfen nicht von anderen Religionen verunreinigt werden, die nicht zu unserer Kultur gehören. Die Buddhas sollen in Nepal bleiben.“ Einige Monate später wurde offensichtlich mutwillig ein Fuß der Buddhafigur abgeschlagen, 2007 verliert sich die Spur der Figur. Die bewusste Zerstörung von religiös motivierten Gipfelzeichen hat im Nationalsozialismus ein Vorspiel erfahren. Oftmals gegen den Widerstand der Bevölkerung versuchten nationalsozialistische Funktionäre, bestehende Gipfelkreuze zu zerschlagen und an ihre Stelle Schwerter bzw. Hakenkreuze zu installieren, vgl. Mathis, Himmel, 21.

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Gipfelkreuze

der Kreuzerrichtung im Alpenraum.105 In diesen Zusammenhang fällt dann auch die Frage nach dem Umgang der Gipfelbesteiger mit dem Kreuz. Gibt es, so lässt sich vernehmen, eine insbesondere auch leibgebundene Bezugnahme auf das Gipfelkreuz, die zu sanktionieren ist, also etwa das Besteigen des Kreuzes?106 In alledem wird nun sichtbar, dass die tibetischen Gebetsfahnen nicht nur im Sinne traditioneller Gipfelmöblierung eine Neuheit darstellen, sondern zuspitzen, was im theologischen Sinn gesprochen als das skandalon des Kreuzes zu sehen ist, wo es für den Gipfelbesteiger Anstoß erregt. Es ruft Leiden und Sterben in Erinnerung – oftmals bei den Bergsteigern mehr als bei den Errichtern der Kreuze – so scheint es zumindest. Anders als die Gebetsfahnen geht das Kreuz mit dem Berg nun eine Symbiose ein, es amalgamiert mit dem Stein, es ist auf Dauer angelegt, ist sichtbar. Weil es am höchsten Punkt des Berges angebracht ist, erweitert es diesen Höhenpunkt also, es erhöht den Berg. Und zugleich begrenzt es ihn sichtbar.107 Das Kreuz ist Haltepunkt auf dem Gipfel, anders als die im Wind sich bewegenden Gebetsfahnen.108 Aber, wie die Gebetsfahnen auch, kommuniziert das Kreuz mit seiner naturräumlichen Umgebung, wenn es vom Tal aus sichtbar ist oder auf dem Gipfel selbst in der Mittags- und Nachmittagszeit Schatten wirft. Schließlich benennt das Kreuz durch seine Gestalt, aber auch durch seine Aufschrift („Berg Heil – Grüß Gott“) einen Deutungsrahmen. Dieser wird zum einen durch den traditionellen Berggruss bestimmt, der sich an Reisende richtet und das Kreuz so als den Wendepunkt innerhalb eines naturräumlich bestimmten Weges zwischen Tal und Berg markiert. Wir werden diesem Sachverhalt bei der Frage nach dem Zusammenspiel von Gipfelkreuz und Gipfelbuch noch weiter nachzugehen haben. An dem 2003 neu errichteten Gipfelkreuz zeigt sich aber zum anderen die Bedeutungsverschiebung des Kreuzes auf dem Hohen Freschen insgesamt. 105 So errichteten z. B. Allgäuer Bergsteiger 2004 mit großem Aufwand in den Lechtaler Alpen, auf der Hinteren Steinkarspitze, ein Gipfelkreuz zu Ehren der Hl. Crescentia von Kaufbeuren. 106 Unter der Überschrift „Das Kreuz mit dem Kreuz. Die Vorliebe, im Freudenrausch auf ein Gipfelkreuz zu turnen, ist sehr umstritten“ führt die Zeitschrift Alpin 2006 unter ihrer Leserschaft eine Umfrage durch und eröffnete den so Gefragten die Wahl zwischen „Funsport oder Frevel“ (Alpin. Magazin für Bergsteigen, 86). Unter den abgedruckten Leserbriefen finden sich, und das ist wenig überraschend, beide Grundhaltungen. 107 Hält man sich daher die katholische Tradition des Niederkniens vor dem Kreuz vor Augen, so wird also derjenige, der den Gipfel erreicht hat aufgefordert, am höchsten Punkt nicht weiter zu gehen, sondern sich vor den letzten Metern zu verneigen. 108 Martin Scharfe hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, die Errichtung eines Gipfelkreuzes, insbesondere in den letzten zweihundert Jahren reflektiere dieses Tabu, indem es das Kreuz als „Deckerinnerung“ ausweise, also als Versuch, das Eindringen des Menschen in eine „göttliche“ Region zugleich stolz und demütig auszuweisen und den Schmerz über den Verlust dieser „göttlichen Sphäre“ mit dem Symbol für christliche Kultur zu überdecken, vgl. ders., Skizze, 119 f.

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Die Gipfelkreuze auf dem Hohen Freschen

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5.3 Die Gipfelkreuze auf dem Hohen Freschen Da ein altes, nicht näher beschriebenes Kreuz auf dem Gipfel des Hohen Freschen brüchig und marode geworden war, wurde 1959 an gleicher Stelle ein neues Kreuz errichtet. Anders als das heutige, neue Kreuz trug es die Inschrift: „Lobt den Schöpfer der Berge“. Fotos, die während der Kreuzweihe aufgenommen wurden, zeigen, dass am Kreuz eine Fahne des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg angebracht war und dass ein Priester in vollem Ornat vor dem Kreuz zelebrierte und davor eine größere Menschenmenge auf den Knien betete.109 Vierundvierzig Jahre später, 2003, anlässlich der erneuten Kreuzanbringung, ebenfalls von einem Priester begleitet, wurde in der örtlichen Vereinschronik festgehalten: „Als Bergsteiger und Wanderer in den Alpen betrachtet man die Kreuze, die auf den meisten Gipfeln zu finden sind, in der Regel als Selbstverständlichkeit. Ihr Fehlen verwundert schon einmal, aber Gedanken über ihren Sinn und Zweck geschweige denn über ihr Entstehen machen sich wohl die wenigsten. Dem ursprünglich religiösen Motiv gesellen sich im Laufe der Zeit andere Gründe dazu: Stolz auf die vollbrachte Leistung, Demonstration von Heldentum, Gedenken für verunglückte Bergsteiger, aber auch der Versuch, sich vor Gott zu rechtfertigen und ihn wegen des Vordringens in bisher unangetastete Höhen milde zu stimmen. Jedenfalls ist ein Gipfelkreuz mehr als ein bloßes Vermessungszeichen, das die Höhen eines Berges angibt.“110

Das Bemühen um Traditionswahrung und örtliche Kontinuität, aber auch die Transformationen fallen ins Auge. Das Kreuz wurde noch 1959 als das zentrale Symbol des christlichen Welt- und Gottesverhältnisses aufgefasst und mit seiner Gegenwart waren Erschließungserfahrungen Gottes verbunden („Lobt den Schöpfer der Berge“). Die spätere Kreuzesinschrift hinterfragt implizit diesen Zusammenhang und stellt die Wegerfahrung des reisenden Bergwanderers in den Mittelpunkt. Zudem zeigt der kurze Text von 2003 das gewachsene Verständnis einer Deutungserweiterung und Deutungsverschiebung („dem ursprünglich religiösen Motiv gesellen sich andere Gründe hinzu“). Gleichsam im Sinne einer Transformation des Religiösen werden traditionelle Konnotationen überlagert und zugleich treten nun die Funktionen Erinnerung, Auszeichnung und Leistungshinterfragung hinzu.111 109 Vgl. Vereinschronik der Sektion Rankweil, ÖAV, 2003. 110 Zitiert nach der Vereinschronik der Sektion Rankweil, ÖAV, 2003. 111 Nimmt man den historischen Wandel in der Wahrnehmung des Gipfelkreuzes ernst, so erscheint im Rückblick auf das Zeitalter der massenhaften Gipfelkreuzerrichtung seit 1800 die These Martin Scharfes bemerkenswert, Kreuze würden in dieser Zeit auch deshalb errichtet, um dem durch menschliche Leistung überwundenen Berg einen neuen, von Menschenhand errichteten neuen Gipfel in Form eines Kreuzes zu schaffen (vgl. Scharfe, Skizze, 103ff). In dieser Linie ist dann auch die Anbringung von Blitzableitern an Gipfelkreuzen zu sehen (vgl.

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Gipfelkreuze

Noch etwas ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Die Kreuzweihe von 1959 war im kirchlichen Sinn atopisch, also unabhängig von dem besonderen Ort. Die Weihe des Priesters, das Niederknien der Menge, all dies hätte sich auch an fast jedem anderen Ort ereignet. Entscheidend ist die Erfüllung der priesterlichen Aufgabe. Aber die Kirche ging mit der am Kreuz befestigten Fahne eine Verbindung zur weltlichen Herrschaft ein. Das Kreuz repräsentiert also die Markierung eines Gebietes, es markiert Einfluss und Herrschaft. Auch hier fällt eine Dispersion ins Auge. Aber der repräsentative Charakter des Kreuzes ist dadurch nicht vollständig verschwunden. Vielmehr ist er auf den „staatstragenden“ Österreichischen Alpenverein übergegangen.112 Initiative, Durchführung und Kostenübernahme liegen hier.113 Was sich also am Fuße des Gipfels bereits zeigte, das subtile Ringen um institutionell verankerte Einflusssphären, wiederholt sich hier durch das Kreuz also noch einmal. In allen diesen Einzelbeobachtungen erweist sich das Kreuz auf dem Gipfel des Hohen Freschen als vielschichtiges und historischen Wandlungen unterworfenes ortsgebundenes Zeichen. Es ist zunächst einmal Materialität auf dem Gipfelplateau, Ort des Verweilens, sinnenfälliges, sichtbares Zeichen des Gipfels selbst. Darin unterscheidet es sich auch maßgeblich von den temporär angebrachten tibetischen Gebetsfahnen. Freilich bleibt es als diskursives Zeichen, insbesondere in seiner christlichen Grundfunktion als Ausdruck von überwundenem Leid zumindest unterbestimmt. Gegenwärtig, das zeigt die letzte Neuerrichtung eines Kreuzes dort, ist das Gipfelkreuz auf dem Hohen Freschen in spezifische Subdiskurse eingebettet: Es geht um die Markierung einer institutionellen Einflusssphäre, um die Sichtbarwerdung des Gipfels selbst und natürlich um die Frage, wie das Kreuz im Dialog der Zeichen mit dem auf dem Gipfel ausgelegten Gipfelbuch korrespondiert.

ebd., 108ff); das Kreuz ist nicht mehr magisches Relikt religiöser Macht, sondern erhält diese „Wirkung“ erst durch menschliche Einwirkung. 112 Der Österreichische Alpenverein Anfang der 1860er Jahre entstanden, ist von Beginn an ein bürgerliches Sammelbecken zur Pflege, Bewahrung und Nutzung der Bergwelt gewesen. Im Kontext der frühen touristischen Erschließung der ursprünglich abgeschiedenen Bergregionen verband sich früh mit der praktischen Arbeit (Bau von Schutzhütten, Wegemarkierung) auch eine ausgesprochene Bergideologie. Der Alpenverein ist dabei ein Spiegel krisenhafter Zuspitzung im Zeichen von Nationalismus und Industrialisierung. So bot der Alpenverein schon früh das Forum für eine kollektive Schaffung eines Naturraumes, der Freiheit, Körperlichkeit und Entgrenzung versprach. Alpenverein und Alpinismus gingen daher schon früh eine oftmals unausgesprochene Allianz ein, vgl. Armbruster, Alpinismus, 41 ff. 113 Dies ist bezeichnenderweise nicht unwidersprochen geblieben. Der Name des Sektionsvorsitzenden, der als Initiator der Kreuzaufstellung auf einer Plakette am Gipfelkreuz vermerkt war, wurde ausgekratzt.

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Entstehung

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6. Gipfelbücher 6.1 Entstehung Gipfelbücher sind als ernstzunehmende, weil verbreitete Textgattung ein Kind des aufkommenden Alpentourismus Anfang des 20. Jahrhunderts. Erst eine Mindestzahl an Menschen, die einen Berggipfel besteigen, rechtfertigen den Aufwand eines Gipfelbuches. Fast ausnahmslos werden heute die Gipfelbücher von den zuständigen Sektionen der nationalen Alpenvereine verwaltet. Mitglieder sorgen dafür, dass Gipfelbücher ersetzt werden, wenn diese voll geschrieben sind oder Opfer von Vandalismus geworden sind. In der Regel werden als Gipfelbücher robuste „Kladden“ verwendet, mit stabilem Einband, oftmals sogar Wasser abweisend mit einer Folie überzogen. Verbreitet im gesamten alpinen Raum sind einfache Blechkästen, die sich an Betonfundamenten oder direkt am Gipfelkreuz befinden und das Gipfelbuch vor Wettereinflüssen schützen sollen. Oftmals befindet sich am Gipfelbuch ein mit einer Schnur festgebundener Stift. Der Vorgänger der Gipfelbücher wurde von englischen Bergsteigern eingeführt. Abgesehen von einzelnen besonders pittoresken Orten der Alpen, die bereits im 19. Jahrhundert ausgelegte Bücher kannten, in die etwas hineingeschrieben werden konnte, ist das Gipfelbuch ganz eindeutig als Sicherheitsmaßnahme von Bergsteigern eingeführt worden. Diese hinterließen auf den bestiegenen Gipfeln bereits um 1900 zunächst Flaschen, in die sie ihre Visitenkarten steckten. Der nächste Bergsteiger konnte dann diese Visitenkarte durch seine eigene austauschen und mit dem Vorgänger Kontakt aufnehmen. Eine Maßnahme, die im Ernstfall auch die Suche nach einem Vermissten erheblich erleichtern konnte.114 Schnell zeigte sich, dass gut gesicherte Gipfelbücher praxistauglicher waren, allein schon deshalb, weil die Zahl der Bergsteiger in dieser Zeit kontinuierlich zunahm.115 Diese alten Gipfelbücher sind heute, so weit sie noch vorhanden sind, von großem Wert, weil sie plastisch vor Augen führen, wer da die jeweiligen Gipfel bestieg und in welcher Frequenz dies geschah. Während auf den stark frequentierten Hausbergen zwischen 2000 und 3000 Höhenmetern oft mehrmals im Jahr ein neues Gipfelbuch hinterlegt werden muss, zeigen alte Gipfelbücher schwieriger zu besteigender Berge, dass zuweilen alle Einträge eines Bergjahres auf einer Seite des Buches Platz fanden.116 Ihren eigentlichen Wert für diese Untersuchung besitzen die Gipfelbücher 114 Vgl. Werner, Weinflasche, 17 ff. 115 In den Mitteilungen des Österreichischen Alpenvereins von 1911 findet sich folgende Notiz: „Neue Gipfelbücher der Sektion Gemünd in Kärnten sind in Zinkblechbüchsen im Sommer 1910 auf folgenden Gipfeln hinterlegt worden …” (Zitiert n. Werner/Werner, Materl, 46). 116 Vgl. z. B. das auch im Internet zugängliche Gipfelbuch der Mittleren Jägerkarspitze im Karwendelgebirge, das 1913 ausgelegt wurde (http://www.karwendel.org/docs/freizeit/freizeitbergsteigen-03.html).

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Gipfelbücher

natürlich dort, wo sie zu massenhaften und aussagekräftigen Zeugnissen jener Menschen werden, die einen Berg besteigen und ihre Eindrücke und Erfahrungen niederschreiben. So geht es im Zeitalter von GPS und Handy natürlich längst nicht mehr um die erleichterte Suche nach Vermissten, sondern um die Wahrnehmung jener Vielfalt von Eintragungen, die ganz unterschiedlichen Motiven geschuldet sind, um sie als weitere Dokumente einer besonderen Naturerfahrung zu lesen. In der nicht übermäßig umfangreichen Literatur zu diesem Thema „Gipfelbücher“ findet sich einiges, was als ein erster Hinweis durchaus hilfreich sein kann. So wird festgestellt, Gipfelbucheinträge seien nach ihrer Vorgeschichte als Sicherheitsmaßnahme nunmehr Dokumentationen landsmannschaftlicher Verbundenheit117, so wie eine Verstetigung und Dokumentation der eigenen Leistung und „Ausrufezeichen im Lebenslauf“118, zuweilen aber auch politischer Protest wie etwa in den Gipfelbüchern des Elbsandsteingebirges zur Zeit der DDR.119 Gipfelbücher sind überall dort von besonderem analytischem Wert, wo sie Gipfelerfahrungen mittlerer Art dokumentieren. In den Gipfelbüchern der hoch anspruchsvollen Berge beschränken sich die Einträge fast immer auf die Basisinformationen Name, Herkunftsort, Zeitpunkt der Ankunft, sowie Routenverlauf bis zum Gipfel und Mitgliedschaft in einem Alpinverein. Im Nachklang ursprünglicher Verwendung gilt es bis heute als Ausdruck eines alpinen Ehrenkodexes, „persönliche“ Bemerkungen tunlichst zu unterlassen. Andererseits gelten Berggipfel, die keine wirkliche Herausforderung für die unzähligen Bergwanderer der Alpen darstellen, als wenig lukrativ für einen Eintrag. So also konzentriert sich die weitere Analyse aus gutem Grund auf Gipfelbücher des Hohen Freschen, der genau jene Gipfelerfahrung mittlerer Intensität eröffnet. 6.2 Die Gipfelbücher auf dem Hohen Freschen Nach anfänglichen Schwierigkeiten, da weder ein aktuelles Gipfelbuch vorhanden war, noch Einsicht in frühere gewährt wurde,120 konnten in den Mo117 Schlösser/Noichl, Gipfelbuch, 70. 118 Straaß/Lieckfeld, Mythos, 187. 119 Vgl. Schindler/Uhlig, Gipfelbücher. Viele Einträge, die sich besonders am Beginn eines neuen Jahres finden und gleichsam als Leseanleitung und „Neujahrsgruß“ verstanden werden wollten, waren von der Erfahrung der politischen Unfreiheit geprägt: „Selbst ein Hund kann gehen, wohin er will!“, „Nur ein Gefangener, der sich bewegt, merkt seine Ketten.“ Vgl. Reinhart/ Krüger, Funktionen, 66. Äußerungen wie diese riefen natürlich die Staatssicherheit und die politisch gleichgeschaltete Bergsportpresse der DDR auf den Plan, vgl. ebd., 67. Reflexe auf diese politische Situation finden sich vereinzelt auch in Gipfelbüchern der Alpenregion. 120 Rechtlich ist die Arbeit mit den Gipfelbüchern oftmals ungeklärt. Eigentlich stellen die Dokumente allgemeinen Besitz dar, werden aber faktisch von den jeweiligen Sektionen der Alpenvereine verwaltet. Längst nicht alle Gipfelbücher werden aber ordentlich archiviert und erhalten sich über Jahrzehnte. Nicht selten verbleiben die Bücher auch in der Obhut der

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Die Gipfelbücher auf dem Hohen Freschen

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naten nach der Begehung dann doch noch vierzehn Gipfelbücher vom Hohen Freschen eingesehen werden, die sich im Besitz des Österreichischen Alpenvereins, Sektion Rankweil befinden. Sie repräsentieren mit großen Lücken drei Phasen der Bergbesteigung des Hohen Freschen, die Frühzeit (1927 – 1931), die Zeit der nochmaligen touristischen Verdichtung der 1960er und 1970er Jahre (1963 – 1971) und schließlich die Gegenwart (2003 – 2007)121, wobei 2007 durch die Sektion Rankweil beschlossen wurde, infolge des Vandalismus zunächst einmal von weiteren Gipfelbüchern abzusehen.122 Erste Einsichtnahmen fördern durchaus Einträge zu Tage, die sich gut in die bisherige Reflexion einbetten lassen. So heißt es in einem Gipfelbucheintrag aus dem Jahr 2006: „8. 9. 06 14.00 Mit Gottes Hilfe unser Tagesziel erreicht. Bei Nebel von zu Hause weg, dann war die Sonne unser ständiger Begleiter. Großer Gott, wir loben Dich!!“123

Der Eintrag beinhaltet den genauen Zeitpunkt der Gipfelankunft und gibt Hinweise auf die elementaren Bedingungen für den Aufstieg an diesem Tag: „Bei Nebel von zu Hause weg, dann war die Sonne unser ständiger Begleiter.“ Schließlich ist dieser Gipfelbucheintrag vom Hohen Freschen in das Zeichenund Symbolsystem des christlichen Glaubens einzuordnen. Einem traditionell verankerten Lobpreis Gottes geht eine Qualifizierung Gottes als Bewahrer und Schutz des Bergreisenden voraus. Die zwei Ausrufezeichen am Ende des kurzen Eintrags lassen auf eine der Situation geschuldete Emphase schließen. Hierin erweist sich das Gipfelbuch als direkter Reflex auf die Ankunft am Berghüttenwirte unterhalb des Gipfels, dann wieder gelangen sie in Archive wie dem bemerkenswert gut bestückten Deutschen Alpinen Museum in München. 121 Im Einzelnen handelt es sich um folgende Gipfelbücher, die eingesehen werden konnten: Gipfelbuch A (=GB-A): 26. 01. 1927 – 05. 04. 1931, GB-B: 07. 04. 1963 – 20. 10. 1963, GB-C: 04. 06. 1964 – 18. 07. 1965, GB-D: 23. 06. 1966 – 01. 05. 1967, GB-E: 24. 06. 1967 – 05. 09. 1967, GB-F: 10. 11. 1967 – 07. 06. 1970, GB-G: 07. 07. 1970 – 27. 06. 1971, GB-H: 22. 06. 2003 – 22. 08. 2003, GB-I: 14. 09. 2003 – 02. 08. 2004, GB-J: 03. 08. 2004 – 02. 12. 2004, GB-K: 12. 01. 2005 – 15. 09. 2005, GBL: 15. 09. 2005 – 10. 07. 2006, GB-M: 17. 07. 2006 – 09. 09. 2006, GB-N: 30. 06. 2007 – 24. 09. 2007. 122 Seit 2007 wurden mehrere Gipfelbücher beschädigt oder gestohlen, man ging von Seiten der Sektion Rankweil daher zunächst dazu über, „provisorische Gipfelbücher“ zu führen, einfache Notizbücher. 2008 wurde ein ganzes Gipfelbuch gestohlen. Dass durch diese Recherche angeregt, in Zukunft wieder neue Gipfelbücher ausgelegt werden, ist zu vermuten. Im Selbstverständnis des Alpenvereins haben die Gipfelbücher ihre Funktion als „Ort der Erinnerung“ und sind schützenswert. Freilich liegt die Verwaltung und Aufbewahrung der Bücher in den Händen weniger Mitglieder, die sich für die „Vereinschronik“ verantwortlich fühlen. Im sog. „4. (provisorischen Gipfelbuch) Hoher Freschen 2004 m“ findet sich dazu eine bezeichnende „Handlungsanleitung“ des Vorstandes der Sektion. Dieser vermerkt: „Das Gipfelbuch ist sozusagen ein „Ort der Erinnerung“ – es möge an die Besteigung des Berges erinnern und diese Erinnerung für die Nachwelt erhalten. Damit dies auch funktioniert, haben wir eine Bitte: (das folgende fett gedruckt) Schreibe nur das hinein, was du als wirklich wichtig erachtest. Für große Zeichnungen und „Gesudel“ ist zu wenig Platz! Der Gipfelstempel ist für das Tourenbuch und nicht für das Gipfelbuch gedacht. Das Herausreißen von Blättern entspricht nicht unseren Vorstellungen!“ 123 Zitiert nach GB-M.

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Gipfelbücher

Gipfel und einen Eindruck von der religiösen Selbstdeutung des Erfahrungsund Leibichs im Augenblick der Gipfelerfahrung.124 Nun zeigt eine Durchsicht und genauere Analyse des gesamten Datenmaterials, dass Einträge wie dieser zumindest in den letzten Jahren eher die Ausnahme als die Regel darstellen.125 Das wirft die Frage auf, welchen Erkenntniswert andere Gipfelbucheinträge besitzen und wie dieser methodisch reflektiert erhoben werden kann. Der methodische Fokus liegt nun bei der Analyse der Gipfelbücher nicht in einer wiederholten intensiven diskursanalytischen Analyse, sondern zunächst vor allem in der genauen Rekonstruktion der maßgeblichen Gattungselemente der Gattung Gipfelbuch im Kontext des Gesamtsettings „Hoher Freschen“ als Naturraum. Bei der Analyse der vorliegenden ausgewählten Datenbasis setze ich daher mit einer ausdifferenzierenden Inhaltstypik ein, wie sie von Christine Penzinger vorgeschlagen wurde.126 In einem zweiten Schritt werden dann komplexere Sinnstrukturen ausgewählter Einträge freigelegt und schließlich mit Hilfe einer weitergehenden Gattungsanalyse weitergehende Aussagen über den heuristischen Wert dieser Einträge gemacht. 6.3 Inhaltsanalyse Zunächst lässt sich feststellen, dass sich die Einträge auf der Ebene der Gattungsmerkmale unterschiedlich qualifizieren lassen: Penzinger unterscheidet in ihrer textlinguistisch angelegten Analyse zur „Textsorte Gipfelbücher“ vier Grundtypen von Inhalt bei Eintragungen in Gipfelbücher : Informativ, darstellend, belehrend und lobpreisend.127 Für alle vier Grundtypen gibt es zahlreiche Entsprechungen bei den Einträgen der Gipfelbücher des Hohen Freschen. 124 Vereinzelt wird diese leibliche Gestimmtheit, nicht selten dann ironisch gebrochen, selbst zum Thema eines Gipfelbucheintrags. Besonders eindrücklich ist ein Eintrag in einem Gipfelbuch des Guffert, eines südlich von München gelegenen „Hausberges“ vom 01. 09. 1961:„Meine erste […] richtige Bergtour. Einen Muskelkater hab’ ich beinand, aber auch einen schönen Durst! Es ging halt jetzt so, wie es einem Anfänger geht. Mein Bergführer rast teilweise wie eine Rennsau, und nunterwärts zieht er das Fahrgestell ein, wie er sagt. Heute laß ich mir von ihm noch ein paar Blasen (an den Zehen, nicht am Maul) aufschneiden, damit geht’s besser. Mein allgemeiner Zustand: erschöpft“ (Deutscher Alpenverein, Sektion München, im Besitz des Deutschen Alpinen Museums München). Das gilt vor allem für die intensiv wahrgenommenen Sinneseindrücke, insbesondere das Sehen. Die Öffnung des Leibes zur Welt vollzieht sich auf dem Gipfel durch die Verlagerung innerhalb der Leiblichkeit vom Gehen und Atmen zum Schauen. 125 Das gilt, so weit darüber gesicherte Aussagen zu treffen sind, auch für andere, vergleichbare Gipfelbücher. Im Gipfelbuch des Guffert heißt es in einem Eintrag vom 17. 10. 1959 noch: „Gott hat uns gestützt und hilft uns weiter. Heil St. Vinzenz.“ Explizit religiöse Äußerungen wie diese waren schon in den 1950er Jahren ungewöhnlich. 126 Penzinger, Textsorte, 175 f. 127 Ebd., 176.

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Inhaltsanalyse

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6.3.1 Informativ Penzinger versteht unter diesen Einträgen solche, die grundlegende Auskünfte zum Wetter, des Datums und Zeitpunkts, der Auf- und Abstiegsroute, des mitgeführten Proviants geben. Ebenfalls zählt sie Aussagen über die jahreszeitlichen Eigenarten des Naturraums (Nebel, Schnee, Hitze etc.) hinzu und Grüße.128 Diese nüchtern wirkenden Einträge sind natürlich gerade in den frühen Gipfelbucheinträgen zu finden, sie können daher zunächst einmal eine „Frühform des Eintrags“, bestehend aus den Basisdaten des Gipfelbesteigers, repräsentieren. So bestehen die frühesten Einträge in GB-A in der Regel lediglich aus Name, Datum und Sektionszugehörigkeit. Vereinzelt tragen sie aber auch noch Spuren einer Rettungsaktion, die durch das Gipfelbuch festgehalten wurde: „Schiriege Turnverein Bregenz 18.III.30 – 2 Herren verschüttet u. nach einstündiger Arbeit ausgegraben.“129 Freilich finden sich auch in späteren Einträgen Schwerpunkte mit informierendem Charakter, die dann aber über den reinen Nachweis des „DaGewesenseins“ mitunter hinausgehen: „8. 4. 63 Bei Sonnenschein den Gipfel erreicht“130 oder „23. 7. 06 Zum Sonnenaufgang um 5 Uhr 30 am Gipfel“131. Informationen über die Sicht vom Freschengipfel aus sind dabei besonders ausgeprägt. So heißt es in einem Eintrag vom 12. 08. 2006: „Zum Glück bot sich vom Freschenhaus Sicht auf den opal-schimmernden Bodensee. Hier auf dem Gipfel um 14.50 leider in den Wolken.“132 Bemerkenswert ist eine Eintragsseite in GB-B vom Juni 1963. Zu dieser Zeit bestand jenes schwerpunktmäßig informierende Eintragsschema fort. Inmitten von über zwanzig eng kollationierten Einträgen mit Datum, Name und Herkunft findet sich der Eintrag vom 29. 06. 1963: „Ich bin auch hier gewesen.“ 6.3.2 Darstellend Gegenüber informierenden Einträgen gibt es für Penzinger nun solche, die von der Person des Berichtenden nicht absehen, sondern über sich selbst bzw. Begleiter ebenfalls informieren. Diese Inhaltstypik wird als darstellend bezeichnet.133 Die Grenze zwischen Information und Darstellung ist fließend, weil in den darstellenden Einträgen sich auch Äußerungen über Datum, Route und Wetter finden. Aber eben nicht nur und nicht unter dem primären Blickwinkel des erlebenden Gipfelbucheinträgers. Die wesentliche Unter128 129 130 131 132 133

Ebd., 176 ff. Zit. n. GB-A. Zit. n. GB-B. Zit. n. GB-L. Zit. n. GB-M. Ebd., 178 ff.

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scheidung besteht zwischen Selbstdarstellung und Darstellung anderer. Wir finden Äußerungen zu Person, Alter, Herkunft, Gruppenzugehörigkeit, aber auch persönliche Erfahrungen wie etwa Mühen und Plagen des Aufstiegs. Zunächst einige Beispiele für Formen der Selbstdarstellung: „14. 8. 66 Ich war oben!“134 – „28. 7. 06 bei Sonnenschein 12.30 Uhr Wunderbar!!“135 Nicht selten finden sich auch objektivierend-ironisierende Kurzdarstellungen wie: „15. 08. 06 Andi aus Senden war da [email protected]“136, „5. 9. 06 Borat war hier“137 oder auch „22. August 2004 Wir waren hier!!!!!!! Die Weekend Runner […] Liebe Grüße und schön ist es“.138 Daneben legen einige Einträger besonderen Wert auf ihre (nichtösterreichische) Herkunft: „01. 07. 07 10.30 Als Schweizerin wurde mir von Einheimischen die hiesige Bergwelt erklärt“139 ; „Susanne aus der Slowakei“ malt gar neben ihren Namen eine slowakische Flagge im August 2004.140 Ein weiterer Eintrag lautet: „14. 8. 63 Wir waren die drei vom Schwabenland und wollten blicken ins Österreicherland doch leider war hier oben keine Sicht, es war eine Waschküche vor unserem Gesicht. Wir ließen uns deshalb nicht betrüben und sind eine Stunde hier oben geblieben. Pakten das Brot aus und versperten richtig, denn das ist für den Rückweg wichtig. Langsam ziehen wir jetzt heim und lassen es uns dort gemütlich sein!“141

Zu den besonderen Herausforderungen einer Gipfelbesteigung gehört es in den letzten Jahren zunehmend, diese mit einem Mountainbike zu bewerkstelligen, auch dieser Tatsache tragen Einträge Rechnung: „23. 06. 07 Geschafft! Mit […] Bike am Gipfel!“142 In GB-N findet sich auch eine Zeichnung, die ein Mountainbike zeigt, das an das Gipfelkreuz gelehnt ist. Während die Umgebung des Fahrrades nur in Konturen sichtbar ist, wird dem Gefährt eine genaue Markierung zuteil: „Cannondale Gary Fischer“. Auch andere „Mühen“ werden benannt: „Blitzschaden behoben am 30. 06. 07 16.00 – Jetzt können wir 134 135 136 137

138

139 140 141 142

Zit. n. GB-D. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M. Der ironisierende Selbstdarstellungscharakter des Eintrags wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es sich bei „Borat“ um eine Filmkunstfigur handelt. Der popkulturelle Kontext wird auch durch folgenden Eintrag in GB-N sichtbar : „14.2.07 16.49 Mit dem Stock in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Bergziegen sein.“ Die Äußerung greift den zur Fußball-WM 2006 in Deutschland bekannt gewordenen Popsong der Sportfreunde Stiller auf, welcher in dem Refrain mündet: „Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft am Ball werden wir Weltmeister sein!“ Zit. n. GB-J. Kurze Grußformeln finden sich ebenfalls zahlreich, besonders oft „Berg-Heil!“, aber auch „Griatsi mitanand, der Gipfel ist unser“ (GB-M). Oder nicht näher datiert aus dem Jahr 2004 (GB-J): „Wir wünschen dem FC-Montlingen zum Meisterschaftsstart einen Sieg. Hopp Muntlaga!!!“ Zit. n. GB-N. Zit. n. GB-J. Zit. n. GB-B. Zit. n. GB-N.

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es auch geniessen […] Stempel mitgenommen (ausgetrocknet).“143 Und schließlich spielt auch das Alter der Gipfelbesteiger bei der Selbstdarstellung eine Rolle: „5. 09. 06 Ich bin hier rauf gestiegen um den Gipfel zu besiegen M. R. Jahrgang 1995.“144 Formen der Darstellung anderer Bergwanderer finden sich als (Fremd-) Darstellung ebenfalls. In einem frühen Eintrag von 1929 (GB-A) findet sich ein karikierendes Doppelportrait zweier Männer mit der Bildunterschrift: „Sailer Zitronenschüttler – Sport Mayer“; oft mischen sich Darstellung und Selbstdarstellung: „23. 7. 2006 Nach morgendlichen Wetterängsten haben wir uns dazu entschlossen, uns doch auf den Weg zu machen. Die Mühe hat sich gelohnt. Bei strahlend blauem Himmel haben wir dann den Gipfel erreicht. Ganz beeindruckt von dieser wunderbaren Bergwelt ist unser Gast aus Solingen! Bergheil!“145

6.3.3 Belehrend Als dritten Typus führt Penzinger solche Gipfelbucheinträge auf, die primär belehrenden Charakter aufweisen.146 Penzinger unterscheidet jene Einträge, die sich auf andere Äußerungen innerhalb des Gipfelbuches beziehen, also eher dialogischen Charakter haben, gegenüber solchen, die eine gleichsam „ideologische Ausrichtung“ besitzen und auf spezifische Wertvorstellungen der Schreibenden abzielen. Für beides gibt es in den Gipfelbüchern des Hohen Freschen ebenfalls Beispiele. Zunächst zum ersteren: „17. 06. 07 14.30 Buch ist voll! Neues hertun! Faule Bande!“147 Häufiger noch sind jene Äußerungen, die die Lesenden der Gipfelbücher direkt und eben belehrend ansprechen wollen. Es gibt solche, die einen ironisierenden Grundzug aufweisen: „26. 9. 66 Nun haben wir das Ziel erreicht, der Weg hierher war nicht ganz leicht. Drum raten wir von Herzen Dir, nimm nicht viel mit an Wein und Bier, sonst mußt Du rauf und runter schwitzen, und feste auf den Stock Dich stützen, eventuell gar viel absitzen.“148

143 144 145 146 147

Zit. n. GB-N. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M. Ebd., 180 ff. Zit. n. GB-N. In mehreren Gipfelbüchern findet sich der Hinweis des Obmanns der Sektion Rankweil, ein vollgeschriebenes Gipfelbuch am Freschenhaus abzugeben oder bei der Sektion Rankweil. Beide Äußerungen belegen den dialogischen Charakter. 148 Zit. n. GB-D.

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Oder auch „23. 09. 07 Menschen, die die Berge lieben / widerspiegeln Sonnenlicht, / andre die im Tal geblieben / kennen diese Sprache nicht. Die drei Bergziegen aus dem Allgäu.“149 Von anderer Intensität ist der folgende Eintrag: „Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt in dieser Welt – SIEH SIE DIR AN!“150 Hier wird deutlich, dass Einträge mit belehrendem Charakter eine Anleitung für das Gipfelerleben sein wollen, hier mit dem Fokus auf das durchaus mehrschichtige „Sehen“, das auf dem Gipfel des Berges im Zentrum des Erlebens steht. Auf diesen Vorgang wird noch zurückzukommen sein. Ebenfalls bemerkenswert ist dieser Eintrag: „Und willst du Gott noch näher sehen, so bleib an diesem Kreuze stehn.“151 Auch hier wird noch zu fragen sein, wie religiöses Erleben die Wahrnehmung des Gipfels tatsächlich steuert. 6.3.4 Lobpreisend Der für unseren Untersuchungszusammenhang auf den ersten Blick wichtigste Inhaltstypus ist sicher jener der Lobpreisungen. Penzinger fasst hierunter Einträge, die gereimt oder auch ungereimt sind, Zitate und jene Äußerungen, die Anekdotisches berichten.152 Neben vereinzelten ironisierenden Einträgen153 überwiegen solche, die sich im peripheren154 oder engeren Sinn eines religiösen Vokabulars bedienen: „16. 8. 67 WENN WIR IN DIR / DU SCHÖPFER ALLER STERNE / IN DIR DU EWIGE SONNE / UNS GANZ VERLIEREN / LICHT IN DEINEM LICHTE / IST UNSER DEINE HERRLICHKEIT.“155 149 Zit. n. GB-N. 150 Der Eintrag findet sich auf der letzten Seite des Gipfelbuches GB-L ohne Datum und Namensnennung. 151 Zit. n. GB-E. Der Eintrag stammt aus dem Jahr 1967 ohne genaues Datum und Namenseintrag. 152 Penzinger, ebd., 181 ff. 153 „Der die Berge hat gegipfelt, / Die Männer hat gezipfelt / Die Weiten hat gespalten / Der möge uns erhalten. Aus Bregenz, 17./III.28“ (Zit. n. GB-A); Eintrag vom 19. September 1963: „Bergpsalm. Ehre sei Gott in der Höh. / Er hat die Berge so hochgestellt / Und tat damit seiner Weisheit kund / Daß nicht jeder Lumpenhund / mit denen die Täler so reichlich gesegnet / Dem fröhlichen Wanderer hier oben begegnet. / Ehre sei Gott in der Höh“ (Zit. n. GB-B). 154 Vgl. den mit einer Zeichnung vom Freschenhaus und dem Gipfel des Hohen Freschen versehenen Eintrag aus dem frühesten erhaltenen Gipfelbuch GB-A: „Eins ist auf der Welt, was uns am besten gefällt. / Hoch auf dem Berge zu stehen und hinaus in die Runde zu sehn. / Dort wo die Gemse am steilen Felsen weilt, / wo hoch in den Lüften der Reiher kreist, / wo die Sonne uns zum Abschied grüßt / und der Berge Gipfel muss im Abendrot erglühn, / wo Ruhe und Friede sich (unleserlich) / und die (unleserlich) über uns Wache hält, / das ist unsere Welt. 25.II.29“ Es liessen sich beliebig viele Einträge anderer Gipfelbücher anführen: „21.08.59 Was soll ich schreiben bei diesen Bergen voll Sonnenschein mir fällt nichts ein als in Ehrfurcht schweigen und selig sein.“ 155 Zit. n. GB-E, durchgehend mit Versalien und im Eintrag mit einem nebenstehenden gezeichneten Kreuz. Eine Besonderheit stellt ein Eintrag von 1929 im Gipfelbuch GB-A dar. Innerhalb

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Am deutlichsten ist dies natürlich, wenn Gott als Schöpfer angesprochen wird: „25. 8. 63 […] Gott, wir danken dir für die Schönheit der Berge.“156 „Wir waren gemeinsam hier oben um den Schöpfer der Berge zu loben.“157 „27. 7. 06 9.30 Lob dem Schöpfer“158 „16. 07. 07 10 h Lobet und benedeiet meinen Herrn […] Saget Dank ihr Geschöpfe alle!“159 „11. 10. 06 Oh Gott! Wie groß bist Du! Bei sehr guter Sicht durften Hans und Metele die Bergwelt entdecken.“160 „8. 9. 06 14.00 Mit Gottes Hilfe unser Tagesziel erreicht. Bei Nebel von zu Hause weg, dann war die Sonne unser ständiger Begleiter. Großer Gott, wir loben Dich!!“161 Penzingers Inhaltsanalyse der Textsorte Gipfelbücher ist gerade bei diesem letzten Typus der lobpreisenden Einträge zu undifferenziert. So fallen bei der Durchsicht der Einträge – wenig verwunderlich – Mischformen ins Auge, die besonders lobpreisende Elemente mit jenen der Selbstdarstellung verknüpfen. Besonders auffällig ist dies, wenn Einträge in den Blick kommen, die Psalmensprache verwenden. In einem Gipfelbucheintrag von 1967 schreiben zwei Ordensschwestern: „12. 9. 67 Meine Augen heb’ ich zu Dir, du wohnst in den Himmelshöhen – Ps 122. Die Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde erschaffen – Ps 120. Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam! Zwei glückliche Ordensschwestern.“162

156 157 158 159 160 161 162

der kurzen und knappen Einträge ragt der Text einer Gruppe des Berliner Lienhardbundes nicht allein durch seine Länge, sondern durch seinen zeittypischen Stil hervor. Diese Vereinigung propagierte die Freikörperkultur und vertrat völkisch-theosophisches Gedankengut: „21.2.5.29 Der Berg / Steige, Seele, mit diesem / Trutzigen Urweltriesen! / Recke dich! / Strecke dich! / Wie Ihr entschlossen / Seid emporgeschossen / Das Steinherz in der Brust / Das zu sehen ist Lust. / Ihr seid nicht fröhlich und fein / Und liegt nicht weich zu sein. / Euch macht nicht Sorge und Rücksicht bang / Ihr bückt euch nicht, Ihr fragt nicht lang. / Die Losung heißt: Durch. Die Losung heißt Kraft. / So habt ihr euch Platz in der Welt verschafft. / So wird Nacht / Fort ist die Farbenpracht. / Finster und schwer / Stehen sie umher / Schwarzblau mit düsteren Stirnen / Selbst die weißen Firnen / Leuchten nicht mehr / Aber, o sieh, schau empor! / Ein Haupt ragt vor / Über alle und taucht / In des Lichtquells letzten fliehenden Schein / Den Scheitel hin / Zart milchweiß und rosig angehaucht. Wandergruppe des Lienhardbundes zu Berlin mit frohem Wanderheil!“ Vgl. auch Chatelier, Lienhard, 114 ff. Zit. n. GB-B. Zit. n. GB-B ohne näheres Datum und Namenseintrag. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-N. Es handelt sich vermutlich um die letzten Worte des Sonnengesangs Franz v. Assisis. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-E.

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Hier dominiert der lobpreisende Inhaltstypus eindeutig. Anders dagegen ist das bei dem folgenden Eintrag: „5. 8. 04 Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Au(e)n und führt mich zum Ruheplatz an Wassern. Er stillt mein Verlangen … Bin mit dem M.-bike von Lustenau zur Unterfluhalpe, v. dort zu Fuss a. d.h. Freschen. […] Der Friede sei mit Euch.“163

Lobpreisende Elemente (Gott als Beschützer und Helfer) werden mit selbstdarstellenden Elemente verknüpft („Bin mit dem M.-bike von Lustenau zur Unterfluhalpe“). Bemerkenswert ist der gewählte Textausschnitt aus Ps 23. Die V 1 – 3a zielen mit dem zitierten „Er stillt mein Verlangen“164 genau auf jenen Aussagefokus, der es dem Schreibenden ermöglicht, seine eigene Erfahrung in das Psalmenwort einzuschreiben, nämlich der Berggipfel als Ziel einer mühevollen, nicht ungefährlichen Reise, der Augenblick des Innehaltens und Ausruhens sowie der leiblichen Stärkung und ebenfalls die Erfahrung, einen inneren Drang befriedigt zu sehen, diese Reise zu bewältigen. Schließlich wird der Eintrag mit der religiösen Grußformel „Der Friede sei mit Euch!“ beendet; diese trägt ebenfalls noch einmal der Verbindung beider Inhaltstypen Rechung: der Gruß verweist auf den Grüßenden im Modus der Selbstdarstellung, zugleich verweist der Friedensgruß auf einen Kontext der im Erleben des Eintragenden gesteigerten Gottesnähe. Neben dieser Vermischung von Inhaltstypen fällt bei dem vorliegenden Datenmaterial ebenfalls auf, dass in Penzingers Unterscheidung das Stilmittel der ironischen Brechung des jeweiligen Inhaltstyps unterbelichtet bleibt. Das gilt, wie gesehen, besonders für den Inhaltstypus der Lobpreisung.

6.3.5 Inhaltsmischung Eine erste Begutachtung der Gipfelbucheinträge des Hohen Freschen zeigt, dass die vier Typen informativ, (selbst-)darstellend, belehrend und lobpreisend sehr wohl geeignet sind, die wesentlichen Inhaltsmerkmale dieser Äußerungen zu benennen. Zugleich ist damit aber der Wert der Gipfelbucheinträge als Beitrag zu einer Analyse religiös wahrzunehmender Naturerfahrungen noch zu wenig bestimmt. Dies soll nun geschehen. „Leider waren wir erst oben als der Nebel schon hochgezogen kam. Und wir hatten nicht die Sicht zum Bodensee, wo ich wohne! Linda ,Ich suche (eigentlich: finde!) dich in allen Dingen / denen ich gut wie ein Bruder bin. / Als Same sonnst du dich in den Geringen / und in dem Großen gibst du groß dich hin. / Dies ist das wundersame Spiel der Kräfte / die dienend durch die Dinge gehn – / in 163 Zit. n. GB-J. 164 Zit. hier nach den Worten der katholischen Einheitsübersetzung.

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Wurzeln wachsend, / schwindend in den Schäften / und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.‘ R. M. Rilke – Mutter von Linda – vor 33 Jahren faßte ich auf der Mörzelspitze den Entschluß, auch mal zum Hohen Freschen zu wandern.“165

Der Eintrag ist aus mehreren Gründen besonders interessant. Zunächst einmal haben hier zwei Personen nacheinander einen Eintrag vorgenommen, es handelt sich offensichtlich, wenn man der Zuschreibung Glauben schenken mag, um Mutter und Tochter. Folgender Aufbau läßt sich festhalten, wenn man die wesentlichen Inhaltsmerkmale des Eintrags differenziert: I01 Leider waren wir erst oben, als der Nebel schon hochgezogen kam. I02 Und wir hatten nicht die Sicht zum Bodensee, I03 wo ich wohne! I04 Linda I05 „Ich suche dich in allen Dingen / denen ich gut wie ein Bruder bin. / I06 Als Same sonnst du dich in den Geringen / und in dem Großen gibst du groß dich hin. / I07 Dies ist das wundersame Spiel der Kräfte / die dienend durch die Dinge gehn – / I08 in Wurzeln wachsend, / schwindend in den Schäften / I09 und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.“ I10 R. M. Rilke – I11 Mutter von Linda I12 vor 33 Jahren fasste ich auf der Mörzelspitze den Entschluß, I13 auch mal zum Hohen Freschen zu wandern.“

Im Sinne der Inhaltstypik liegt wiederum eine Inhaltsmischung vor. Selbstdarstellung (I3,I4,I12,I13) und Darstellung anderer, „wir“ (I1,I2), mischen sich. Auffälliger als das aber ist, wie unterschiedlich und doch aufeinander bezogen beide Einträge nach ihren Inhaltsmerkmalen sind. Eintrag A (I1-I4) stellt die Selbstdarstellung und Darstellung anderer in den Mittelpunkt. Eintrag B (I5-I13) ist in sich zweigeteilt; Abschnitt Ba (I5-I10) hat im Zitat des Gedichts166 den Charakter des Lobpreises, Abschnitt Bb (I11-I13) wiederum den der Selbstdarstellung. Abschnitt B verweist zudem auf Abschnitt A, 165 Der nicht näher einzugrenzende Eintrag stammt vom August 2004 aus dem Gipfelbuch GB-J. 166 Es handelt sich um ein Gedicht aus dem Gedichtzyklus „Stunden-Buch“ des Dichters Rainer Maria Rilke.

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kommentiert und schreibt diesen fort. Am auffälligsten natürlich die Bezugnahme auf den Namen aus: „Linda“ (I04) – „Mutter von Linda“ (I11). I11 verweist den Lesenden also zurück an das eigentliche „Subjekt des Eintrags“, I04, ohne mit dem eigenen, davon unabhängigen Namen zu unterschreiben. Folgt man dieser Spur, so finden sich weitere Entsprechungen: I03 („wo ich wohne“) ist als Ausdruck der Selbstdarstellung ein wenig überraschend, aber findet seine Entsprechung in I12 („faßte ich auf der Mörtelspitze den Entschluß“). Weiterhin gibt I13 den Grund dafür an, warum es zu dieser Wanderung aus der Perspektive des in Abschnitt B schreibenden Ichs gekommen ist („auch mal zum Hohen Freschen zu wandern“). Kommentierend dazu das schreibende Ich in Abschnitt A in I01 („Leider waren wir erst oben, als der Nebel schon hochgezogen kam“). Beide Abschnitte spielen mit der Gegenüberstellung von Äußerung und Unterschrift oder, anders ausgedrückt, zwischen Typik und Subjekt. Die Beziehung zwischen beidem ist freilich spiegelbildlich: I01-I03 wird abgeschlossen mit „Linda“ (I04); Abschnitt Ba beginnt mit dem Gedichtzitat und endet ebenfalls mit einer „Unterschrift“, „R.M. Rilke“ (I10), es folgt aber mit I11 („Mutter von Linda“) die Vorwegnahme von I12-I13. Wieder, wie so oft, trägt sich ein schreibendes Ich in einen literarischen Text ein, reagiert gleichsam mit den Worten Rilkes auf die Äußerungen von „Linda“.167 Beide Subjekte beziehen die naturräumliche Umwelt des Gipfels auf sich. Während in Abschnitt A die Enttäuschung überwiegt, das es keine Sicht dorthin gibt, „wo ich wohne“ (I03), deutet das schreibende Ich aus Abschnitt B seine Gipfelerfahrung mit Mitteln religiösen Vokabulars („Das ist das wundersame Spiel der Kräfte“, I07; „und in den Wipfeln wie ein Auferstehn“, I09). Somit kreisen beide Äußerungen um das Sehen dessen, was vor ihnen steht. Abschnitt A beklagt das Nichtsehen im physischen Sinn, Abschnitt B antwortet darauf mit einem Sehen-Können im symbolhaften, tieferen Sinn: „Dies ist das wundersame Spiel der Kräfte / die dienend durch die Dinge gehn / in Wurzeln wachsend, / schwindend in den Schäften / und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.“ (I07-I09). Beide Einträge vermitteln den Eindruck eines dem Alltag der schreibenden Subjekte enthobenen Augenblicks, den es hiermit festzuhalten gilt. Was nun sagen die Einträge darüber aus, was diesen Augenblick des Erreichens des Gipfels des Hohen Freschen so besonders macht? Es ist die Erfahrung einer ungewöhnlichen Übersicht, die es bei gutem Wetter ermöglicht, den eigenen Wohnort zu sehen (I01-I03). Der Gipfel ist der Ort, wo der Alltag entfernt ist und doch betrachtet werden kann. Weiterhin findet eine Auseinandersetzung um den dieser Situation angemessenen „Ton“ statt, zwischen 167 Bezeichnenderweise ist das Gedicht Rilkes in einem Wort abgeändert, ob bewusst oder unbewusst mag dahin gestellt sein. Bei Rilke heißt es: „Ich finde dich in allen Dingen“ (zit. n. Rilke, Werke, 22) in dem Gipfelbucheintrag wird daraus: „Ich suche dich in allen Dingen“ (I05).

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„Geschärfte Sinne“

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pragmatisch („Leider waren wir erst oben“, I01) und dem hohen Ton des Gedichts („Als Same sonnst du dich in den Geringen / und in dem Großen gibst du groß dich hin“, I06). Schließlich findet die im Gipfelbuch festgehaltene Besteigung des Hohen Freschen ihre Entsprechung in einem „Entschluß“, dessen Zeitpunkt innerhalb eines Lebenslaufes („vor 33 Jahren“, I12) mit genauer, dabei korrespondierender Ortsangabe („auf der Mörtelspitze“, I12) festgehalten wird. So gesehen ist dieser Gipfelbucheintrag Beleg und Ausdruck für die Verbalisierung „geschärfter Sinne“ („nicht sehen“) und besondere Leiberfahrungen (zum Hohen Freschen wandern“). Beides leitet zu komplexen und kulturell vermittelten Alltagstranszendierungen und somit biografischen Verdichtungen an. Gerade dieser letzte Punkt verdient noch einmal besondere Beachtung. Der Eintrag in ein Gipfelbuch lässt sich also als „biografisches Lesezeichen“168 deuten, weil in der Biografie eines Bergwanderers das Erreichen eines Gipfels etwas Besonderes ist: „6. 9. 06 Mein erster 2000er! HURRA!!!“ Martina Vehlein + Mama Vehlein + Papa Vehlein“169 ; eine biografische Verdichtung erfährt eine solche Erfahrung durch die Aufwertung des unmittelbaren Kontextes: „18. 08. 2006 17.00 Mein erster Gipfel! Yeah Geschafft Toller Ausblick! War hier mit den 2 liebsten Menschen.“170 Man wird darüber hinaus freilich sagen können, dass dies wesentlich am Eintrag selbst hängt. Erst der Akt des Schreibens (oder Malens) vollendet diese Erfahrung und verstetigt sie für den Bergwanderer. So ist ein weiterer Eintrag wie eine Vignette gestaltet: „10. 10. 06 Von der Unterfluh-Alp zum Hohen Freschen – wunderbare Sicht!! Wir haben heute einen wunderschönen Tag. Wir feiern heute unsere SILBERHOCHZEIT Moni und Alois aus Leutkirch im Allgäu“171

Der Eintrag enthält eine Rahmung mit Herzen und einer Sonne, die Worte „Silberhochzeit“ und „Wir“ sind besonders hervorgehoben.

6.4 „Geschärfte Sinne“: Leiblichkeit, Fremdheit und Entgrenzung als Themen des Gipfelbucheintrags Nach einer Verengung des Blicks beim Aufstieg öffnet sich der Blickwinkel des Wanderers auf dem Gipfel des Hohen Freschen. Viele Einträge kreisen um die Frage, ob „die Sicht“ gut ist. Der Rund- und Ausblick wird als ein wesentliches Ziel der Bergwanderung formuliert, wie aus folgenden Einträgen deutlich wird: 168 169 170 171

Vgl. Straaß/Lieckfeld, Mythos, 187. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M. Zit. n. GB-M.

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Gipfelbücher

„Wir genießen diesen schönen Aussichtspunkt !! 30. 6. 07 16.00“172, „6. 7. 2007 Guten Morgen! Wir sind um 5 Uhr losgelaufen und sind heute die Ersten. Um 8 Uhr kamen wir hier an. Genießen den Ausblick den wir schon 3 x genießen durften aber leider ohne xxx (unleserlich).“173

Dieser geschärfte Blick kann zwischen informativen, darstellenden und lobpreisenden Inhaltsmerkmalen changieren, wie ein Beispiel des Gipfelsbuchs vom Guffert von 1960 besonders gut belegt: „3. 7. 60 Um 3 Uhr von Steinberg aus aufgestiegen, um 12 6 auf dem Gipfel. Sicht könnte besser sein. Die Tegeruser Berge liegen im Morgendunst, doch das Rofangebirge strahlt in der Morgensonne. Weiter im Westen werden Karwendel, Wetterstein und Zugspitze allmählich sichtbar. Zum vierten Mal sitze ich jetzt auf dem Guffertgipfel – es ist jedesmal ein neues Erlebnis.“

Es findet sich Information („3 Uhr“, „Karwendel, Wetterstein und Zugspitze“), Darstellung („Zum vierten Mal sitze ich jetzt auf dem Guffertgipfel“) und Lobpreis („Das Rofangebirge strahlt in der Morgensonne […] jedesmal ein neues Erlebnis“). Es geht also bei den Einträgen nicht allein um eine möglichst genaue Schilderung tatsächlicher Wetter- und Sichtverhältnisse. Vielmehr belegen diese Einträge, dass die Erfahrung des erreichten Gipfels die Sinne und hier besonders den Augensinn schärft. Mitunter werden diese Eindrücke in einen Deutungsrahmen, etwa eine poetische Verdichtung, eingepasst: „11. 09. 07 […] Kein Mensch ist mir begegnet, den ganzen Tag! Wo seid ihr, Wanderer? Doch jetzt, hier, einmalige Abendstimmung, voll Wolken weiß bis schwarz, und – Nebel. Ein Hauch von Herbst in der Luft… das Gedicht fällt mir ein: ,Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen…‘ Ich danke meinem Vater im Himmel für die wunderbaren Erlebnisse.“174

Schließlich zeigen die Einträge, dass das Sehen auf dem Gipfel zu einer veränderten Raum- und Zeiterfahrung führt. Der Blick bleibt in seiner Rundsicht an einzelnen Details hängen, er „zwingt“ den Leib gleichsam zur Verlangsamung und kommt zur Ruhe, wie es Michel Serres in seiner Untersuchung der Sinne hervorgehoben hat.175 Dieses verlangsamte Sehen, dieses Verweilen,176 Ausdruck einer Aneignung des Fremden (Waldenfels) kommt zur Ruhe, auch das belegen viele Einträge, wenn eine Parallelisierung zwischen „geübten Bildern“ wie Postkarten oder Fotos und selbst gesehenen Bildern stattgefunden hat. Der Eintrag im Gipfelbuch benennt die Erfahrung des Schauens 172 Zit. n. GB-N. 173 Zit. n. GB-N. 174 Zit. n. GB-N. Bei dem eingespielten lyrischen Text handelt es sich um das Gedicht Septembermorgen von Eduard Mörike. 175 Serres, Sinne, 413. 176 Vgl. Röhring, Vernunft, 201 ff.

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„Geschärfte Sinne“

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und verweist dabei auf die dialektische Beziehung zwischen Leiberfahrung und Diskursivität (Jäger).177 Die besondere Intensität des Blicks auf dem Gipfel findet seinen habituellen Kontext in der Tradition des Panoramas. Diese, um 1800 entstandene Kunstgattung galt als Sehhilfe für die Erfahrung einer den ganzen Raum umfassenden Transformation in die Zweidimensionalität.178 Zugleich steht das Panorama für den Versuch des „Überblicks“, dem es gelingt, das sehende Ich aus der Erfahrung des totalen Bildeindrucks heraustreten zu lassen. Welche epochale Wirkung Panoramen lange Zeit auf ihre Betrachter entfalteten, wird man im Zeitalter von GoogleEarth wohl nur noch erahnen können.179 Gipfelbucheinträge spiegeln vereinzelt wieder, wie diese Gesamtschau, diese Integration des Leibes in eine erfahrende Totalität reformuliert wird: „28. 7. 06 bei Sonnenschein 12.30 Uhr Wunderbar!!“180 Freilich wird man vermuten können, das die Erfahrungsqualität des Totalen, der partiellen Entgrenzung doch stark von der Frage abhängt, wie frequentiert der Gipfel des Berges ist, um Raum für eine solche Erfahrung überhaupt erst zu schaffen. In den Sommermonaten wird es wohl kaum einem Gipfelwanderer gelingen, für einige Minuten allein auf dem Gipfel zu verweilen.181 Die Emphase, mit der solche Entgrenzungserfahrungen rudimentär182 mitgeteilt werden, kontrastiert aber nun auffällig mit einer überaus deutlichen und in der Tendenz zunehmenden Ironisierung. Sowohl bei Penzinger als auch bei Matthis findet diese Beobachtung zu wenig Aufmerksamkeit. Folgende Einträge weisen, wie viele andere, unverkennbar einen ironischen „Ton“ auf: „14. 2. 07 16.49 Mit dem Stock in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Bergziegen sein.“ Oder auch bereits: „Bergpsalm. Ehre sei Gott in der Höh. / Er hat die Berge so hochgestellt / Und tat damit seiner Weisheit kund / Daß nicht jeder Lumpenhund / mit denen die Täler so reichlich gesegnet / Dem fröhlichen Wanderer hier oben begegnet. / Ehre sei Gott in der Höh.“ 177 Darauf macht auch der Beitrag des Volkskundlers Martin Scharfe aufmerksam (ders., Blick, 41ff). Scharfe zeigt, wie der panoramische Blick vom Gipfel der Berge historischem Wandel unterliegt und tief in die jeweiligen Diskursthemen der Zeit einverwoben ist; das zeigt er u. a. an der Schilderung von Petrarcas Aufstieg auf den Mont Ventoux auf. Damit bestätigt sich noch einmal, wie notwendig die Verknüpfung einer phänomenologischen und einer historischsoziologischen Perspektive für diese Untersuchung des Leibes ist. 178 Zu Geschichte und Entwicklung dieser Bildgattung vgl. die umfassende Studie Oettermann, Panorama. 179 Vgl. Keller, Gipfelstürmer, 27 ff. 180 Zit. n. GB-M. 181 In einem der ganz frühen Gipfelbucheiträge auf dem Hohen Freschen, aus dem Jahr 1927, also im Zeitalter vor der Durchsetzung des Massentourismus, wird der Kontrast zwischen damals und heute deutlich: „18./19. April 1927 „Einsam und allein.“ Zit. n. GB-A. 182 Ein weiterer Beleg lautet: „11.8.69 Bin […] auf dem Freschen angekommen, freue mich der Gottes-Natur, wünschte, ich könnte für ewig hier bleiben.“ Zit. n. GB-F.

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Gipfelbücher

Fasst man den Ironiebegriff nun weiter und fragt nach der Funktion dieses rhetorischen Tropus jenseits der unmittelbaren Wirkung eines erzeugten semantischen Gegensatzes, so fällt auf, wie sehr die Ironie dazu beiträgt, eine bestimmte Erfahrung durch einen Eintrag in das Gipfelbuch zu dokumentieren und zugleich durch das Stimittel der Konstrastierung aufzuheben. Gipfelwirklichkeit und Alltagserfahrung werden, so lässt sich insgesamt festhalten, aufeinander bezogen und so gegenseitig erträglich. Poetologisch betrachtet begegnet diese Ambivalenz der Wirklichkeit in der romantischen Ironie, von Friedrich Schlegel zum literarischen Programm erhoben.183 Der Gipfelbucheintrag hilft also, das Changieren zwischen Totalitätseindruck und fragmentarischer Alltagserfahrung erfahrbar zu machen und erfahrbar zu halten – in genau dieser Spannung.

6.5 Transtextualität von Gipfelbucheinträgen Die einzelnen Gipfelbucheinträge belegen in großer Zahl, dass der Eintrag nicht als direkter Reflex auf eine religiöse Erfahrung angesichts der Gipfelbegehung zu begreifen ist. Explizite, das traditionelle religiöse Vokabular ausschöpfende Wendungen sind selten und finden sich, im Ganzen betrachtet, eher bei früheren Gipfelbüchern der 1950er und 1960er Jahre. Freilich sind die Einträge gerade deshalb so aufschlussreich, weil sie sich auf Erfahrungen im Naturraum Berg beziehen, die sich auf religiöse Deutungskontexte anwenden lassen. Bislang belegte die Analyse den Zusammenhang zwischen Sprachlichkeit und Leiblichkeit, die Auseinandersetzung mit einer Erfahrungsdimension jenseits alltäglicher Raum- und Zeitstrukturen und schließlich die Bedeutung des Eintrags für die Bewältigung dieser Situation als Ganzer. Zu den diskursiven Kontexten des Gipfelbuches gehört nun ganz wesentlich auch die Frage nach der Interaktion zwischen den einzelnen Gipfelbucheinträgen, texttheoretisch gesprochen, die Frage nach der Intertextualität, denn natürlich reagieren Einträge auf den unmittelbaren und den rahmensetzenden sprachlichen Kontext. Das bezieht sich zuerst auf die dem Gipfel des Berges innewohnende erfahrene Wirklichkeit: „11. 09. 07 […] Kein Mensch ist mir begegnet, den ganzen Tag! Wo seid ihr, Wanderer?“ Aber wesentlich ist die direkte oder indirekte Bezugnahme auf andere Gipfelbucheinträge. Wie die Analyse von Penzinger ergab, ist hier der „belehrende“ Ton prägend. Ganz direkt und auch direktiv ist etwa dieser Eintrag: „Buch ist voll! Neues hertun!“184 In der Regel aber sind die Bezugnahmen auf andere Texte weniger direkt und beziehen sich oftmals auch nicht auf einzelne Einträge, sondern spiegeln eher Textmuster wieder. Eine präzisere Beschreibung dieses Sachverhaltes 183 Darauf hat Müller, Ironie, 244 aufmerksam gemacht. 184 Der Eintrag stammt vermutlich von Juli 2006, zit. n. GB-L.

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Transtextualität von Gipfelbucheinträgen

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ermöglicht die Untersuchung von Texten auf Merkmale der Intertextualität, also der Beziehung zwischen Texten. In Weiterführung des Intertextualitätsbegriffs von Julia Kristeva hat dazu G¦rard Genette den Begriff der Transtextualität eingeführt, um alles das zu benennen, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt.“185 Genette unterscheidet fünf Typen der Transtextualität, die sich durch einen unterschiedlichen Grad der Abstraktion auszeichnen: Er spricht erstens von Intertextualität im Sinn einer „effektiven Präsenz eines Textes in einem Text“186, also etwa einem Zitat, man denke bei den Gipfelbucheinträgen an die Vielzahl von zitierten Gedichten und Sinnsprüchen. Zweitens zählt Genette die Paratextualität hinzu, also den Bezug eines Textes zu seinem Rahmen, der durch eine Überschrift oder ein Motto gegeben ist. Hier ist an die Einträge zu erinnern, die das Muster eines Eintrages (Zeit, Name) aufgreifen und variieren. Mit der Metatextualität benennt Genette jene Form der Beziehung zwischen Texten, die eine Auseinandersetzung darstellen, etwa in Form eines Kommentars.187 Auf den gedruckten Eintrag des Obmannes der Sektion Rankweil „Wenn das Buch voll ist, bringe es bitte zum Freschenhaus oder dem OEAV Rankweil – Obmann Ernst Abbrederis“188 bezieht sich der Kommentareintrag: „Wieso dein Name auf dem Gipfelbuch?“189 Als wichtigste und zugleich komplexeste Typen von Transtextualität sieht Genette die Hypertextualität und Architextualität an. Diese Typen der Transtextualität liegen nach Genette vor, wenn es, wie bei Hypertextualität, zu einer Überlagerung von Texten kommt, die allerdings gegenüber der Metatextualität noch jenseits des Kommentars angesiedelt ist. Dies ist bei bestimmten Formen der Transformation bzw. Nachahmung eines Textes der Fall, etwa bei ironischen Bezugnahmen. Bemerkenswert ist aber nun der fünfte Typus, die Architextualität. Diese liegt vor, wenn eine mehr oder weniger unausgesprochene Beziehung zwischen Textgattungen, Textsorten bzw. ihren Schreibweisen zu erkennen ist.190 Die Belege für diesen Typus von Transtextualität sind nun für unseren Untersuchungszusammenhang besonders wichtig. Zunächst fallen daher Einträge auf, die in ihrer Wortwahl am ehesten an einen Brief erinnern. So heißt es etwa: „30. 09. 06 16.00 Ich liebe Dich, Carsten […] danke für die wunderbare Zeit mit Dir! Deine Anja“191; oder dann: „02. 9. 07 Etwa eine Woche nach deinem Todestag (Kreuz Aug. 2003) Klaus, denke ich an dich, wie du vor 20 Jahren als einzigster von uns den Aufstieg

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Genette, Palimpseste, 9. Ebd., 10. Ebd., 10. Zit. n. GB-I. Zit. n. ebd. Vgl. Genette, Palimpseste, 14 ff. Zit. n. GB-M.

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Gipfelbücher

gewagt hast. Heute bist du mir wieder mal was näher! Tschüss Klaus!“192 Beide Einträge sind für sich betrachtet sicher Ausdruck einer biografischen Verdichtung, also der Versprachlichung einer für den Lebenslauf prägenden Erfahrung, die an diesem besonderen Ort manifest wird. Darüber hinaus setzen sie aber eine bestimmte Form von Öffentlichkeit für das Gipfelbuch voraus. Jeder Eintrag weiß um die Einsehbarkeit des Eintrags, kommuniziert damit also mit anderen Einträgen, stellt eine intertextuelle Beziehung her. Aber bemerkenswert ist ja nun, dass die Einträge, die sich an diesem Ort in diesem Gipfelbuch befinden, einer bestimmten Wirkung sicher sein können. Die Liebe zu einem Menschen wird an diesem Ort gleichsam hinterlegt, bestätigt und festgehalten. damit kommt ein ganz wesentliches Merkmal der Gipfelbücher in den Blick. Seinem besonderen Ort verdankt sich eine Aura der Einmaligkeit, die dem, was geschrieben wird, besonderen Nachdruck verleiht und Kontakt, Beziehung zu anderen Menschen herstellt, der auf dem Gipfel eines Berges offensichtlich stärker ist als anderswo. Nimmt man diese Einzelbeobachtungen zusammen, so drängt sich im Sinne der Architextualität eine subtile Bezugnahme auf die Textgattung des Fürbittbuches auf. Gemeinsamkeiten und Differenzen sind dabei entscheidend. Beiden Textgattungen ist bei erster Betrachtung gleich, dass sie öffentlich ausliegende Bücher sind, die die Besucher dazu animieren, einen Text hierin zu notieren. Ebenfalls ist die Motivation, einen Eintrag vorzunehmen von dem besonderen Ort bestimmt, an dem sie ausliegen. Und ähnlich wie ein Gästebuch dokumentieren die Eintragenden damit auch, dass sie diesen Ort überhaupt besucht haben. Das Gipfelbuch ist also eine Variation des bekannten „Ich bin hier gewesen!“. Schauen wir nun noch genauer hin: Der Eintrag in ein Gipfelbuch, wie einem Fürbittbuch geschehen natürlich freiwillig, aber im Gegensatz zum Fürbittbuch ist das „Ich bin hier gewesen!“ an Bedingungen geknüpft, nämlich die Leistungsfähigkeit, diesen Ort mit eigenen Körperanstrengungen erreicht zu haben. Wollte man diesen Sachverhalt in den Kontext gegenwärtiger Religionskultur stellen, so käme wohl am ehesten der Pilgerbucheintrag in Frage.193 192 Zit. n. GB-N. 193 Die Pilgerreisen nach Santiago de Compostella setzen einen Pilgerausweis (credencial del peregrino) voraus, wenn man eine offizielle Bestätigung für seine Pilgerreise erhalten möchte. Über Jakobusgesellschaften oder in der Stiftskirche von Roncesvalles sind diese zu beantragen, die Stempeleinträge dienen dem Nachvollzug der Pilgerreise. Ursprünglich war dieser Ausweis ein Schutzbrief mit örtlichen Empfehlungsschreiben, etwa der Pfarrei. Der Pilgerausweis ermöglicht die Nutzung öffentlicher Pilgerherbergen und den Rabatt bei Eintrittsgeldern. Bei der Vorlage des Ausweises und Nachweises, die letzten 100 km bis Santiago de Compostela zu Fuß oder die letzten 200 km per Fahrrad zurückgelegt zu haben und bei einer (schwer zu kontrollierenden) christlichen Motivation, erhalten Pilger die „Compostela-Urkunde“ vgl. Drouve, Lexikon, 115. Diese Urkunde dokumentiert die körperliche Anstrengung und ist an die leibhaftige Gegenwart an einem besonderen Ort gebunden. Der Unterschied ist natürlich, dass dieser Text zwar von den Pilgern zitiert und in ihre individuelle Lebensumstände übersetzt

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Transtextualität von Gipfelbucheinträgen

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Natürlich unterscheiden sich Gipfelbuch und Fürbittbuch auch hinsichtlich ihrer primären Funktion, also der bei dem Fürbittbuch bewusst angelegten Bitte zu Gott. Noch etwas kommt hinzu: Vergleicht man die Einträge der Gipfelbücher des Hohen Freschen mit jenen des in der Pfarrkirche von Laterns ausgelegten Fürbittbuches, so spiegeln die Spezifika der Fürbittgebete noch einmal die Tatsache einer „Talfrömmigkeit“ wieder, die zwischen den Anliegen der Bevölkerung (im Tal) und den Touristen strikt unterscheidet. Stellvertretend für viele andere seien hier zwei Einträge zitiert: „Dürfte das alles nicht vorkommen was heute in der Kirche geschieht. In Jesu u Maria (Namen) Der Priesterberuf fordert den ganzen Priester. Fangen wir an mit den Gläubigen mehr zu beten in den Pfarreien. So wie der Priester so das Volk.“

Darunter auf der gleichen Seite: „Um eine gute Lösung für das Ferienheim […] bitten viele, die dort den Segen von oben erlebt haben! 6.8.07.“ Der zweite Eintrag lautet: „Mein […] ist krebskrank. Lieber Herr JESUS, Du bist der Schöpfer Himmels und der Erden. Er ist 41 Jahre alt und ob Du sein Leben erhalten wirst, liegt allein in Deiner Hand. […] Segne ihn und führe ihn zu Dir. Dein Wille geschehe. […] 31.08.07“194

Natürlich liegen die Unterschiede zu den Einträgen des Gipfelbuches auf der Hand. Die Fürbitten sind in die kirchliche Wirklichkeit des Dorfes und ihrer Bewohner verwoben. Aber neben diesen unbestreitbaren Unterschieden gibt es eine ebenso auffällige Gemeinsamkeit. Mit den Untersuchungen von Gerhard Schmied195 und Daniela Berger-Künzli196 liegen zwei empirische Studien vor, die im Kontext der qualitativen Sozialforschung einzelnen Fürbittkorpora intensive Aufmerksamkeit geschenkt haben und diese in der Forschung sonst eher unterbelichtete Textgattung nachhaltig ausgeleuchtet haben. Beide betonen den ursprünglich katholischen Kontext und die starke Verbreitung der Gattung Fürbittbuch erst innerhalb der letzten Jahrzehnte.197 Der Eintrag in das Fürbittbuch ist Ausdruck einer veränderten Gebetskultur (zumindest im untersuchten deutschsprachigen Raum) und drückt sich im Bedürfnis nach eigenständigen Formulierungen und biografischen Kontextualisierungen aus.198 Die starke Verbreitung der Fürbittbücher und ihre rege Nutzung (besonders in großen, touristisch genutzten Kirchen) spricht eher für eine Verschiebung bzw. Transformation religiöser Bedürf-

194 195 196 197 198

werden kann, aber nicht wie das Gipfelbuch zur eigenen Textproduktion an einem besonderen Ort ermöglicht. Die auf der Pilgerstrecke ausliegenden Gästebücher haben deshalb auch im Sinn dieser Untersuchung nachgeordneten Charakter. Beide Beispiele stammen aus dem Fürbittenbuch der Pfarrkirche von Latens und wurden aus Datenschutzgründen persönlich unkenntlich gemacht. Schmied, Gott. Berger-Künzli, Analyse. vgl. besonders Schmied, ebd., 21 ff. Berger-Künzli, ebd., 295 ff.

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Gipfelbücher

nislagen. Schmied hebt nun hervor, bei dem Eintrag in ein Fürbittbuch handele es sich um eine passagere Handlung, dergestalt, dass dem Eintragenden ermöglicht werde, in kurzer Zeit und mit wenigen selbst gewählten Worten sowie mit einer freien Wahl der Intensität des Anliegens als einzelner Teil einer kollektiven Schreib- und Erfahrungsgemeinschaft zu werden.199 Hierin zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele zu den Einträgen in die Gipfelbücher. Sie beziehen ihren zunehmenden Reiz und ihre ebenfalls erst wenige Jahrzehnte andauernde Popularisierung aus der Tatsache, dass der Eintrag ein individuelles Erleben in einen kollektiven Erfahrungszusammenhang integriert, ohne dabei die Individualisierungsbedürfnisse aufzulösen. Eigensinn und Gemeinschaft verbinden sich sowohl im Fürbittbuch als auch im Gipfelbuch. Betrachtet man nun im Licht dieser Analyse noch einmal das Verhältnis von Gipfelkreuz und Gipfelbuch, wird Folgendes sichtbar : Gemeinsam dominieren beide das Gipfelareal und verwickeln die Gipfelbesteiger in Handlungen. Das Kreuz ist der höchste Punkt des Gipfels, es ist die erste „Anlaufstelle“, wenn der Aufstieg geglückt ist. Das kleine Betonfundament ermöglicht es, hier zu sitzen und etwas abzulegen. Das Gipfelbuch dagegen motiviert natürlich, so weit vorhanden, im Buch zu lesen, es auf den Steinquader zu legen und einen Eintrag vorzunehmen. Im Sinne der Transtextualität lässt sich festhalten, dass beide Gipfelzeichen nicht nur eine räumliche Nähe aufweisen, sondern wie zwei Texte in einem komplexen Beziehungsgeflecht verbunden sind und gemeinsam Reflektoren des Erfahrungsraums Berg sind. Die ambivalente Leiberfahrung von Fremdheit und Nachvollzug des Naturraums Berg spiegelt sich in dem Ausdrucksbedürfnis der Gipfelwanderer. Dabei zeigte sich, dass die Funktion des Gipfelkreuzes tiefgreifenden historischen Wandlungen unterworfen ist, zugleich aber das skandalon des Kreuzes bis heute bewahrt. In Beziehung treten die beiden Gipfelzeichen nun nicht nur durch das direkte Zitat des Kreuzes im Gipfelbucheintrag200, sondern auch durch die Inter- bzw. Metatextualität über die Frage nach Leiden, Leistung und Tod. Viele Einträge, so war zu erkennen, feiern die eigene Leistung, reden vom Bezwingen des Berges oder zählen stolz die Minuten, die bis zum Gipfel benötigt wurden. Andererseits bietet das Gipfelsetting, in das das Kreuz mit dem Material des Berges gleichsam amalgamiert ist, die Möglichkeit, Alltagserfahrungen perspektivisch zu deuten und diese besondere Art der Naturerfahrung angesichts des Kreuzes als Referenz für biografische Integrationsleistungen zu verstehen. Schließlich eröffnet der Gipfelbucheintrag, über ein 199 Schmied, ebd., 134 ff. 200 Beinahe durchgehend findet sich in kleinen Zeichnungen vom Hohen Freschen, so weit sie in Gipfelbucheintragungen integriert sind der Gipfel des Hohen Freschen immer mit einem stilisierten Kreuz.

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Transtextualität von Gipfelbucheinträgen

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sprachlos gewordenes religiöses Symbol hinaus nachträglich zu kommunizieren. Dabei weisen sowohl das Kreuz wie auch das Gipfelbuch auf einen produktiven Umgang mit der Spannung zwischen individuellen und kollektiven Deutungsmustern hin. Dem individuellen Gipfelbucheintrag geht die Wahrnehmung eines Kollektivsymbols Kreuz voraus, der individuellen leibhaftigen Beziehung zur materialen Kreuzesgestalt folgt ein Eintrag in ein öffentliches, kollektiv genutztes Gipfelbuch. So ist es dann auch folgerichtig, dass sich diese Spannung noch einmal in der Aneignung von Kreuz und Gipfelbuch selbst noch einmal wiederholt, sei es in der konfliktträchtigen Anbringung von tibetischen Gebetsfahnen am Gipfelkreuz, sei es in der strukturellen Nähe des Gipfelbuchs zum Fürbittbuch als Ausdruck einer, wie Gerhard Schmied festgestellt hat, „passageren Handlung.“201 All dies wirft dann die Frage auf, wie ein ursprünglich offensichtlich religiöses Zeichen wie das Gipfelkreuz in einem nunmehr neuen Kontext von Leiberfahrung, Deutung und Versprachlichung überhaupt noch zur Sprache kommt. Betrachtet man den religionsproduktiven Gestus der Gipfelbucheinträge, so wird man wohl am ehesten von einer zeittypischen Transformation ehemals manifester christlicher Symbolik und Sprache sprechen können. Religion mischt sich, wie wir gesehen haben, demnach auch hier unter Profanes, wird „liquide“ und wandert aus traditionellen Orten seiner Kommunikation aus hin zu Rocksongs, Kinofilmen, Kleingärten und eben auch Berggipfeln.

201 Schmied, ebd., 134.

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Kapitel 3 Systematisierung und Weiterführung 1. Methodenreflexion im Hinblick auf die Studie und den Ertrag für die Praktische Theologie Bereits der erste naturräumliche Erkundungsgang hinsichtlich der Elbeflut und ihrer Diskurse warf weitreichende Fragen auch für die Diskurse der Praktischen Theologie auf. Der empirische Zugang bestätigte einen an Krise und Krisendeutung orientierten Religionsbegriff und zeigte sich anschlussfähig an gegenwärtige Debatten der Praktischen Theologie über das Sinnthema und einen subjektivitätstheoretisch grundierten Religionsbegriff der Theologie, wie man ihn etwa in den Arbeiten Wilhelm Gräbs antrifft.1 Freilich wurde in dieser ersten Phänomenanalyse die Notwendigkeit evident, die bisherigen Grenzziehungen von gegenwärtig gelebter Religion methodologisch weiter zu fassen, stand doch der massenmediale Diskurs über Natur im Vordergrund. So wurden in den drei weiteren Untersuchungsgängen die Leibhaftigkeit der naturräumlichen Erfahrungen immer weiter ausgedehnt bis sie bei der Gipfelbesteigung überhaupt zur Voraussetzung dieser naturräumlichen Erfahrung wurde. Dies schlug sich ebenfalls in dem induktiven Umgang mit den Methoden der Volkskunde, Bildanalyse und qualitativen Sozialforschung nieder. Sie wurden nicht einfach rezipiert, sondern an den Untersuchungsgegenstand angepasst, für ihre Arbeit im Kontext theologischer Traditionen erweitert und gerade in der letzten der vier Analysen zusammengeführt. So gelten die vier Phänomenanalysen auch als hoffentlich instruktiver Beitrag für eine Praktische Theologie, die sich nicht einfach, wie gegenwärtig üblich, empirischer Arbeit als Gegenwartsanalyse gelebter Religion verschrieben hat2, sondern ihre Methoden gemäß ihres Untersuchungsgegenstandes wählt und gerade solche Methoden erprobt, die jenen Formen gelebter Religion angemessen sind, die in vorsprachlicher Weise sichtbar werden und dem klassischen Zugriff etwa über Leitfadeninterviews3, biografische Interviews4 oder Gruppeninterviews5 entzogen sind.6 1 Vgl. Gräb, Sinnfragen, vgl. ders., Sinnsuche, 9 – 22. Zu Gräbs Religionsbegrif immer noch ders., Lebensgeschichten, 39ff sowie ders., Religion. 2 Vgl. zusammenfassend für die Praktische Theologie zuletzt: Weyel, 328 ff. 3 Vgl. etwa Herrmann, Sinnmaschine. 4 Vgl. besonders Kretzschmar, Kirchenbindung. 5 Vgl. Hermelink, Gemeindeleitung, 197 ff.

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Methodenreflexion

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Ebenfalls ist festzuhalten, dass die Reflexion phänomengeleiteter Methoden zwar zu einer theologisch angemessenen Deutung von Erfahrung-, Alltags-, und Lebenswirklichkeit führt, dabei aber als Praktische Theologie zugleich immer auch auf Texte bezogen bleibt. Diese Texte begegnen ihr in der Vielfalt der Phänomene, also wie gesehen z. B. in Fürbittbüchern, Flyern, Kleingartenordnungen oder auch auf Internetseiten. Aber ihre hermeneutische Grundausrichtung, also ihr Beitrag zu einer Kultur des Verstehens, basiert für alle Theologie zuerst in der methodisch reflektierten Fähigkeit, Texte zu verstehen, die für religiöse Praxis, vornehmlich der christlich-jüdischen Tradition maßgeblich sind. Sie ist theologische Wissenschaft, wenn sie methodisch nachvollziehbar, die Einseitigkeiten einer reinen Texthermeneutik vermeidend, zugleich aber mehr ist als eine reine Lebenswissenschaft im Konzert der Kulturwissenschaften. Praktische Theologie gründet sich in der dialogischen Gesprächsbereitschaft, Texte der Bibel und ihrer Auslegungsgeschichte im Kontext gegenwärtiger Formen gelebter Religion in ihrer ganzen phänomenologischen Bandbreite wahrzunehmen, zu deuten und auch als neue Texte zu verstehen.7 So leistet eine solche methodenkontrollierte Praktische Theologie einen wichtigen Beitrag für ihre Selbstverständigung als empirische Wissenschaft. Und damit ist natürlich die Grundfrage berührt, welches Selbstverständnis von Empirie und Methode die Praktische Theologie überhaupt hat. So sehr ein rein kirchliches Paradigma der Praktischen Theologie überholt sein dürfte8, zeigt gerade das Naturthema so einen wichtigen Beitrag an, den die Praktische Theologie als Wahrnehmungsleistung für Theologie und Kirche erbringen kann. Dies gilt besonders dann, wenn die Wahrnehmung Voraussetzung einer „Differenz-Kompetenz“9 ist, die die Theologie – durchaus auch im Sinne des Schleiermacherschen Zielpunktes der Kirchenleitung10 als Aufgabe der Theologie, zur Theologie als „Wirklichkeitswissenschaft“11 führen kann. Jede 6 Über die Reflexion des Zusammenhangs von Sinndeutung und Alltag in der Praktischen Theologie informiert Merle, Alltagsrelevanz, 43 ff. 7 Den methodologischen Zusammenhang zwischen Lebens- und Textwissenschaft hebt für die gesamte Theologie zu Recht auch Ulrich H.J. Körtner hervor, vgl. ders., Verstehen, 21 – 36. 8 Vgl. Dietrich Rösslers wichtige Unterscheidung der dreifachen Gestalt des neuzeitlichen Christentums, der sich die Praktische Theologie eben in dieser Vielfalt zuzuwenden hat, ders., Grundriß, 60 ff. 9 So das religionspädagogische Leitkriterium bei Klie/Korsch/Wagner-Rau, Differenz-Kompetenz. Die dort ausgerufene Schlüsselkompetenz schlägt sich nicht nur in didaktischen oder professionstheoretischen Perspektiven in der Praktischen Theologie nieder, sondern hat heuristische Qualität für alle wirklichkeitsbeschreibenden wie wirklichkeitsdeutenden Aufgaben, vgl. Klie, Passworte, 303 – 314. 10 Vgl. Schleiermacher, Darstellung. Schleiermachers Unterscheidung zwischen einer philosophischen Theologie, die Begriffe für eine kirchenleitende Beurteilung von positiver Kirche bereitstellt, einer praktischen Theologie, die die Techniken der Kirchenleitung beschreibt und einer historischen Theologie, die das Verhältnis zwischen wahrer Idee und gegenwärtiger Ausprägung des Christentums beschreibt, kann hier nicht weiter erörtert werden. 11 Rieger, Theologie, 462 ff.

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Impulse für Reflexionsperspektiven

Empirische Theologie hat sich also gerade auf die Gesamtheit aller Äußerungen und Phänomene gelebter Religion einzulassen und dabei auch ihr (kirchen-) kritisches, innovatives Potential ebenso zu würdigen, wie ihre Bedeutung für kirchliches Handeln als Praxis immer neu zu reflektieren.

2. Impulse für Reflexionsperspektiven der Praktischen Theologie In der Vielzahl von Arbeiten, die sich der Erkundung von gelebter Religion verschrieben haben, geht es nicht nur um Beiträge zur Kartografie religiöser Gegenwartsphänomene und ihrer grundlegenden methodischen Erschließung. Vielmehr kann eine Studie wie die vorliegende gerade innerhalb der Praktischen Theologie zur Selbstverständigung über Wesen und Zielsetzungen der Praktischen Theologie beitragen. Dies gelingt zunächst durch die Arbeit an Begriffen.12 Diese Begriffsarbeit wird dem kommunikativen Vermittlungsgestus der Praktischen Theologie besonders gerecht.13 So wird die Praktische Theologie weniger von einem Programm oder gar einem ihr eigenen Wesen her neue Impulse erhalten, sondern vielmehr durch die Arbeit an der spezifischen Neuausrichtung zentraler Reflexionsperspektiven, die den binnentheologischen Diskurs dieses Faches gegenwärtig tragen.14 Mit diesen Impulsen wird zum einen Rechenschaft darüber abgelegt, was die gegenwärigen Diskurse der Praktischen Theologie bestimmt oder bestimmen sollte. Vor allem aber wird im Rückgriff auf die Erkundungsgänge selbst deutlich, wie sehr diese Reflexionsperspektiven das Praktisch-theologische Verstehen leiten und sich dabei als historisch wandelbar erweisen. Damit bekommt die Praktische Theologie die geschichtliche Tiefe, die ihr angemessen ist. 2.1 Reflexionsperspektive Lebenswelt In den zurückliegenden vier empirischen Untersuchungen zu naturräumlichen Erscheinungen gelebter Religion ist erkennbar geworden, wie sehr na12 Typisch für die Arbeit an Begriffen und besonders eindrücklich ist dies in letzter Zeit etwa mit dem Begriff der Schwelle gelungen, vgl. Wagner-Rau, Schwelle. Wagner-Rau arbeitet allerdings die historische Tiefendimension des Schwellenbegriffs nur unzureichend heraus und tritt zu wenig in Dialog mit anderen Nachbardisziplinen, die hier Begriffsarbeit leisten. Auf den Zusammenhang zwischen Begriff und Erfahrung hat der Begründer des Archivs für Begriffsgeschichte, Reinhart Koselleck aufmerksam gemacht und dabei hervorgehoben, dass Begriffsgeschichten nicht allein im Sinne Foucaults auf Machtdiskursen gründen, sondern eben auch auf Erfahrung, vgl. ders., Geschichte, 3 ff. 13 Vgl. Meyer-Blanck, Rede, 414 ff. 14 In der Praktischen Theologie hat die Betonung der Reflexionsperspektiven als strukturierendes Diskursmerkmal durchaus Tradition, vgl. besonders Otto, Grundlegung, 68 ff.

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Reflexionsperspektive Lebenswelt

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turräumliche Erfahrungen als beispielhaft für Formen gelebter Religion gelten können. Dabei zeigen sich jene Formen zunächst dort, wo ein enger Bezug zum Alltag agierender Subjekte besteht, wie am Beispiel der Kleingartensiedlung evident wird. Die Gartenpflege, die Integration in Tagesrythmen, die selbstverständliche Arbeit und ihre Kommunikation darüber sind eng mit den Alltagsprozessen verbunden. Es bleibt festzuhalten, dass Formen gelebter Religion bereits hier zu beschreiben sind. Das gilt in der zitathaften Transformation alter Gartendiskurse, die tief in das kulturelle Gedächtnis eingegraben sind, aber auch in der Sehnsucht der Gartennutzer nach einem Leben im Garten als Ausgleich zu Arbeit und Fremdbestimmung. Gewinnbringend ist diese Analyse sicher vor allem dort, wo religiöse Erfahrung an Orten sichtbar gemacht werden kann, die sich dem Vokabular religiöser Kommunikation und der Einbettung in tradierte religiöse Symbolformen tendenziell verschließen. Es mag daher überraschen, dass sich die Analyse naturräumlicher Phänomenanalysen nicht allein auf die Formen konzentriert hat, die in der Natur allein die Gegenwart des Fremden, Mächtigen, Überwältigenden wie im massenmedialen Diskurs über die Elbeflut zu sehen glauben und ihren analytischen Mehrwert in der Differenz zu Alltag und „Normalität“ beschreiben. Freilich wird erst im Zusammenspiel beider Analyseperspektiven, Alltag und Außeralltäglichkeit, der heuristische Wert der bisherigen Erkundungsgänge sichtbar. Worum es hier im Näheren geht, macht nun der Begriff der Lebenswelt deutlich. Er dient im folgenden Gedankengang dazu, die empirischen Analysen miteinander ins Gespräch zu bringen und ihren jeweiligen Wert für gegenwärtige Debatten besonders in der Praktischen Theologie zu zeigen.15 In den methodologischen Vorbemerkungen der Einleitung wurde festgehalten, die Lebenswelt sei das Unhintergehbare, Gegebene all dessen, in das das einzelne Leib-Subjekt eingebunden sei, ein von Husserl geprägter Terminus, der die vorprädikative Begegnung mit der Welt“16 meint. Die Leistungsfähigkeit des Lebensweltbegriffs für unsere Fragestellung besteht nun darin, dass sich das Erfahrungssubjekt selbst als leibgebunden begreift und dass analytisch nachvollziehbar wird, wie sich das eigene Handeln bzw. Erleben bereits vor voluntativen bzw. kognitiven Prozessen in einem Strom des „Es ist so“ manifestiert. Weiterhin geht es darum, wie religiöse Subjekte in kommunikative Prozesse von Einbettung, aber auch Unterbrechung oder Neubestimmtsein auf diese Lebenswelt bezogen sind. Schauen wir nun im Lichte der Phänomenanalysen nun genauer, was Lebenswelt ist und wie sie für die Formen gelebter Religion fruchtbar zu machen ist. Die weiteren Überlegungen nehmen bei Hans Blumenberg ihren Ausgang, der Husserls Rede von der Lebenswelt konzeptionell weitergeführt hat.17 15 Vgl. zur Debattenlage allgemein Kubick, Wahrnehmung, 126 f. 16 Heimbrock, Kontext, 216. 17 Husserl entwickelte die Gedankenfigur von der Lebenswelt im Kontext seiner phänomenlogi-

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Impulse für Reflexionsperspektiven

Blumenberg verweist zunächst ganz im Sinne von Husserl auf jene Formulierungen, die den besonderen Charakter der Lebenswelt ausmachen. Diese ist „der lebendige Strom, in dem ich schwimme“, der „Boden der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegeben Welt“18, das „Universum der Selbstverständlichkeit“19. Die Lebenswelt ist also nicht einfach die Welt, in der wir leben. Vielmehr inkludiert für Blumenberg die Lebenswelt die Alltagswelt: „Die Lebenswelt ist nicht identisch mit der Alltagswelt; aber die Alltagswelt ist eine Lebenswelt.“20 So wird deutlich, warum die eigentliche Herausforderung darin besteht, methodisch Zugänge zur Lebenswelt zu eröffnen, ohne der scheinbaren Faktizität ihrer Lesbarkeit vorschnell zu erliegen. Vielmehr ist die Lebenswelt im Sinne Husserls und dann vor allem Blumenbergs eine „Wachstumsgrundlage“21 für systematische Erkenntnis und Ausgangspunkt für wissenschaftliche Erkenntnis.22 Das Selbstverständliche soll, ganz im Sinne der Phänomenologie verständlich werden, wie in der Dichten Beschreibung der Kleingartenkultur zu erkennen war. Die Rede von der Lebenswelt erweist sich unter diesen Voraussetzungen für Blumenberg durchaus als erkenntniskritisches Problem. Er sieht die „Theorie als Widersacher von Lebenswelt“ an, spricht zugleich aber davon, es sei notwenig, diese immer wieder neu zu beschreiben.23 Ja, die Lebenswelt ist für Blumenberg die Sphäre, „in der sich leben lässt und von der aus ganz unvorstellbar bleibt, es könne ein Außerhalb dieser Sphäre geben, um sie von dort zu betrachten.“24 Blumenbergs Pointe besteht nun darin, in der Nahwelt der Lebenswelt einen Fernhorizont zu erblicken, der die Ränder des Selbstverständlichen markiert.25 Anders als in utopischen Denkmodellen, von denen sich Blumenberg hier abgrenzt26, besteht das Ferne und Unbekannte der Lebenswelt nicht permanent, sondern bricht gleichsam als Fremdes in sie hinein. An den Rändern der Lebenswelt also ereignet sich die Infragestellung

18 19 20 21 22 23 24 25 26

schen Reduktion, vgl. ders., Philosophie (1923/24). Der geistesgeschichtliche Kontext ist die Lebensphilosophie der Jahrhundertwende und Husserls Erfahrung der Bedrohung des Lebens und seiner letztlichen Unverfügbarkeit im 1. Weltkrieg. Husserl setzte sich damit im akademischen Diskurs seiner Generation vehement von den herrschenden philosophischen Schulen des Psychologismus und Neukantianismus ab. In Hans Blumenbergs Werk finden sich zahlreiche Bemerkungen zur Lebensweltthematik. In dem posthum herausgegebenen Band Theorie der Lebenswelt (2010) sind erstmals alle relevanten Texte Blumenbergs zur Lebensweltthematik versammelt. Blumenberg, Theorie, 70. Ebd., 80. Ebd., 55. Vgl. Strasser, Phenomenology, 71. So Husserl, Krisis, 142. Dieser Hinweis auf Husserl findet sich bei Blumenberg. Blumenberg, Theorie, 27. Ebd., 49. Vgl. ebd., 52 ff. Ebd., 86.

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des Selbstverständlichen, die so Blumenberg wörtlich, „Invasionen von Unbekanntem“27, das als das Fremde erfahren wird. Diese Charakteristik der Lebenswelt, die letztlich überhaupt erst durch ihre Begrenzung und momenthafte Befremdung zugleich eben auch in ihrer Verlässlichkeit fassbar wird28, findet sich in allen vier empirischen Untersuchungen: Die Untersuchung der religiösen Semantik bei Auftreten und Bekämpfen der Elbeflut 2002 zeigte eindrücklich, wie sehr die steigenden Wasserpegel der Elbe und ihrer Nebenflüsse als Einbruch in die Alltagswelt der betroffenen Menschen wahrgenommen wurden. Die Erfahrung des Fremden generierte gleichsam zwangsläufig ein kulturell-religiös aufgeladenes Bündel an Erklärungsversuchen, die in der Einbettung des Elbehochwassers in die ausdifferenzierte Diskurstradition der biblischen Sintflutgeschichte gipfelten. Während sich in der Elbeflut die einmalige, unvorhergesehene „Ausfransung der Lebenswelt“29 ereignete, zeigte sich in der Erkundung des Meeres im Urlaub eine auf das ganze Jahr hin komponierte Herbeiführung des Fremden im Vertrauten mit jedem Spaziergang am Meer, mit jeder anlandenden Welle am Ufer. Deutlich wurde hier vor allem, wie sehr diese Erfahrungen die Analyse der Lebenswelt begründen und ihr zugleich Struktur und Richtung verleihen. Bemerkenswert erscheint an diesem Beispiel vor allem, wie sehr das Bedürfnis ausgeprägt ist, diese Erfahrung wohl dosierter „Invasion des Unbekannten“ religiös aufgeladen zu kommunizieren, gerade im Hinblick auf die Urlaubsfotos. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, wenn man sich die dritte empirische Analyse über Gärten vor Augen führt. Hier, so war das Ergebnis, entstehen im Sinne Luckmanns „kleine Transzendenzen“ auf der Bühne des Naturraums Garten, der zwischen Arbeit und Entspannung, Arbeitsprodukt und Spiegelfläche der Lebensgrenzen schillert. Am deutlichsten wird die Lebensweltthematik und die von Blumenberg beschriebene „Invasion von Unbekanntem“ sicherlich im Naturraum „Berg“. Explizit scheint die herausfordernde Dominanz des Fremden auf, kaum sonst ist sie zwischen Gipfel und Tal so sehr auch leiblich aufgeladen. Die Ränder der Lebenswelt, in der empirischen Analyse bildhaft greifbar in Höhenmetern, Naturschutzgebieten und Wanderpfaden, konstituieren eine zutiefst religiös aufgeladene Erfahrung des momenthaft erfahrenen Fremden. Zurück zu Blumenberg: So fremd und bedrohlich, aber auch berückend und entgrenzend diese „Invasionen des Unbekannten“ in die Lebenswelt einfallen, Blumenberg weigert sich zu Recht, in ihnen einfach Manifestationen des Göttlichen zu erkennen.30 Offenbarungsqualität haben sie nicht. Aber welche Qualität haben sie dann? Und in welchen theologisch qualifizierten 27 Ebd., 135. 28 Diesen Zusammenhang von „Stabilisierung und Labilisierung“ im Lebensweltkonzept Blumenbergs hat bereits Stoellger, Metapher, 202ff luzide herausgearbeitet. 29 Blumenberg, Theorie, 135. 30 Diese Haltung verwundert nicht, wenn man das ganze Werk Blumenbergs betrachtet, vgl. bes. ders., Schiffbruch, 55 f.

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Sprachspielen werden sie beschreibbar? Wichtig ist zunächst, sich noch einmal bewusst zu machen, dass der Horizont der Lebenswelt, in dem Stabilisierung und Invasion des Fremden geschehen, bei Blumenberg durchgehend von Sprache selbst bestimmt wird. Es sind die Redehorizonte, die für Blumenberg als Modus des Rhetorischen zugleich Irritation und Verständigung ermöglichen.31 Es ist aber sofort evident, dass gerade diese Konzentration auf alles Sprachliche in einem Lebensweltkonzept, das Naturraumerfahrungen integriert, an Grenzen stößt. Genau deshalb ist es auch angemessen, trotz der Skepsis von Blumenberg im theologischen Deutungshorizont nun die Denkfigur der Epiphanie aufzurufen, die sich gerade außerhalb der Theologie in den letzten Jahren zunehmender Debattenbeliebtheit erfreut. Der Begriff der Epiphanie, wörtlich die „Erscheinung“, beschreibt die mitunter plötzliche Anwesenheit des Heiligen bzw. Göttlichen im Unterschied zu einer sonstigen Abwesenheit. Abzugrenzen ist der Begriff im religionswissenschaftlichen Sinne von zeitlichen Qualifizierungen wie beim adventus, der Näherbestimmung einer Anwesenheit des Göttlichen (Theophanie) bzw. des Heiligen (Hierophanie). Epiphanien können einzelne Sinne ansprechen und durch kultische Praktiken beeinflusst werden.32 Von diesem kultischen Zusammenhang haben sich die gegenwärtigen Verwendungen des Begriffs der Epiphanie offensichtlich so weit gelöst, dass Kulturwissenschaftler bereits wieder meinen, an den religiösen Ursprung dieser ästhetischen Kategorie erinnern zu müssen.33 Freilich kann sich der Umweg über die Rezeption des Epiphaniebegriffs in den Kulturwissenschaften auch für die Theologie in diesem Zusammenhang lohnen, zeigt sich doch, dass die Epiphanie als Erfahrung des Unbekannten, als Horizont der Lebenswelt nicht das Resultat einer Praktik ist, sondern einzelne Menschen oder ganze Gruppen multisensuell erreicht.34 Bereits in der sinnlichen Wahrnehmung dieses Geschehens zeigt sich, dass dieses Einfallen in die Lebenswelt korezeptiv zu sehen ist. Daher ist Henning Nörenberg zuzustimmen, wenn er festhält:

31 Vgl. Blumenberg, Annäherung, 104 ff. 32 Vgl. Gladigow, Epiphanie, 1367 f. 33 Wilken, Maschinen, 7 ff. Wilken zeigt auf, dass der Begriff der Epiphanie ursprünglich ganz im religiösen Kontext beheimatet war (vgl. Acta 9) und in den letzten zwanzig Jahren verstärkt auf die Kunstwerke mit „starker affektiver Wirkung“ (ebd., 7) bezogen wird. 34 Hierin liegt auch eine bemerkenswerte Parallelität zur theologischen Rehabilitierung des „Heiligen“ vor, das sich quer zur Versprachlichung des Religiösen stellt und in seiner Unbedingtheit vor einer Verdinglichung und der Gefahr eines puren Subjektivismus bewahren hilft. Angestoßen durch Manfred Josuttis hat sich auch eine phänomenologisch orientierte Praktische Theologie vehement für eine methodologisch reflektierte Wiederentdeckung des „Heiligen“ ausgesprochen, vgl. Heimbrock/Failing, Heilige, 193. Das „Heilige“, man denke an die Arbeiten Rudolf Ottos, hat Seinsqualität, aber wird erfahrbar nur in den Wahrnehmungs- und Deutungsakten des Menschen.

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„Epiphanie im religiösen Sinne ist kein Geschehen, bei dem die Rollen von Agens und Patiens klar verteilt wären: Trotz seines rückhaltlosen Ausgeliefertseins an ihm vorgängige, unverfügbare und überlegene Mächte ist der Mensch doch nicht deren besinnungsloser Spielball. Ebenso ist er reines Subjekt der Anschauung, das dazu verdammt wäre, sein Heil zu suchen in einer bloßen Rezeptivität, dem gegenüber, was mit ihm passiert. Er muss schon zum Mitspieler werden, damit das Ereignis einer Epiphanie für ihn religiöse Bedeutung gewinnen kann.“35

Daher gewinnt nun auch der Phänomencharakter der Epiphanie als Denkfigur an neuer Bedeutung, gerade auch in der Aufnahme phänomenologischer Forschung. Neben Jean-Louis Chr¦tien und Jean-Luc Marion, an die Nörenberg in diesem Zusammenhang erinnert36, sind hier vor allem die Phänomenologen zu nennen, die mittlerweile in der Praktischen Theologie breit rezipiert werden, besonders Bernhard Waldenfels und Hermann Schmitz. Wie bereits gezeigt, geht auf Waldenfels vor allem die Idee des Fremden als säkularisierte Fassung des Göttlichen zurück, das sich, so Waldenfels im Sinne des Hyperphänomens zugleich zeigt und entzieht.37 Kann man nun im Geflecht jener Ausdrucksmedien am Ende tatsächlich eine Erscheinung des Unbekannten (Blumenberg), des sich zeigend verhüllenden Fremden (Waldenfels) so beurteilen, dass es sich als religiöse Epiphanie zweifelsfrei erweist? Es ist nach der empirischen Analyse diverser Erfahrungshorizonte in wechselnden Naturräumen wohl offensichtlich, dass sich Zuschreibungs- und Deutungsprozesse nicht einer alleinigen Norm unterwerfen dürfen, wie sie etwa Hermann Schmitz vorgeschlagen hat.38 Vermutlich ließe sich eine solche Norm im Rückgriff auf biblische Traditionen gewinnen, aber eben um den Preis, die besondere Bedeutung religionsproduktiver Neutradierungen nicht mehr angemessen würdigen zu können.

2.2 Reflexionsperspektive Religion Bevor wir nun fragen, welchen Beitrag die vorliegenden Ergebnisse für eine produktive Weiterführung gegenwärtiger praktisch-theologischer Religionsdebatten haben kann, sollte der besondere Zusammenhang zwischen Religion und epiphaner Unterbrechung des Selbstverständlichen in der Lebenswelt deutlich werden: Erfahrungen, die sich gerade in Naturräumen im Spannungsfeld von Leiblichkeit, Vernunft und modernetypischen Deutungsprozessen abspielen, werden eben nicht aus einem bereits festgestellten Religionsbegriff abgeleitet, abgeglichen oder bestätigt. Vielmehr dienten die em35 36 37 38

Nörenberg, Erscheinung, 119 f. Ebd., 107 ff. Waldenfels, Topographie, 18. Schmitz sieht in Liebe und Gewissen die entscheidenden Kriterien, um zu entscheiden, ob es sich um eine religiöse Epiphanie im engeren Sinn handelt oder nicht, vgl. ders., Gott, 17 – 28.

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pirischen Erkundungsgänge dazu, in einem zirkulären Prozess des Verstehens von Religion (Waardenburg), in einem Verlangsamen der Wahrnehmung (Heimbrock) und in der Suche nach den produktiven Elementen von Religionspraxis Religion überhaupt erst auf den Begriff zu bringen. So ist es auch konsequent, zunächst mit der Denkfigur der Lebenswelt einzusetzen, die sich nicht auf ein tradiertes Symbolsystem von Religion bezieht, sondern auf den Grundgestus von religiöser Erfahrung, den der Fragmentierung und Unterbrechung des erwartbar Alltäglichen. Eine bemerkenswerte, freilich noch immer unterschätzte Brücke zwischen der religionstheoretischen Selbstvergewisserung der Theologie und der Integration gelebter Religion im Kontext der Lebenswelt stellt nun Schleiermachers frühes Religionsprogramm der „Reden“ dar. Dies erklärt sich nicht allein aus der überragenden Stellung, die Schleiermachers Theologie für die Selbstvergewisserung der evangelischen Theologie bis heute besitzt, sondern vor allem auch durch die Verknüpfuung des Religionsthemas mit Naturerfahrungen der Romantik, man denke an die Bildsprache der Knipserbilder vom Meer, die ikonografisch der romantischen Tradition eines Caspar David Friedrich verbunden ist. Besonders die Frühschriften Schleiermachers lassen sich als Nahtstelle zwischen Naturerfahrung und Religion lesen. Bemerkenswert bleibt zudem bis heute, wie sich aus dieser Konstellation dann schon bald eine regelrechte Naturvergessenheit in der Theologie einstellte. Sucht man nach den Anfängen dieser Verschiebungen innerhalb der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, also einer Theologie, die im besonderen Rechtfertigungsfokus gegenüber Naturwissenschaft, moderner Soziologie und Kirchenkrise stand, so wird deutlich, dass sich bei Schleiermacher selbst, zwischen seiner frühen Religionsphilosophie und dem späteren Werk ein bemerkenswerter Unterschied feststellen lässt.39 So findet sich in der 1. Auflage der epochemachenden Frühschrift Schleiermachers, „Reden über die Religion“ von 179940, noch eine naturphilosophische Ausgestaltung des Themas, das eine Nähe zum Pantheismus Spinozas vermuten lässt und ihm den Vorwurf eines heterodoxen Spinozismus eingetragen hat.41 Diese Nähe zu einer Theologie der Natur hat Schleiermacher in späteren Auflagen

39 Es dürfte evident sein, dass die Naturvergessenheit der neueren evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts mitverantwortlich war für das anfängliche Schweigen angesichts grassierender Umweltzerstörungen und tiefgreifender Krisenmomente, die unter dem Stichwort der „Ökologischen Krise“ später Epoche gemacht hat. Vgl. Hasler, Natur, 17 ff. Hasler nennt als Grund für diese Entwicklung mehrere Perspektivverschiebungen an: einerseits die industrielle Revolution und einen damit verbundenen tiefgreifender Wandel des Naturerlebens selbst, aber andererseits eben auch den Anpassungsdruck, der durch die neue Leitkultur naturwissenschaftlichen Denkens entstand, vgl. ebd., 299 ff. 40 Schleiermacher, Religion, 185 ff. 41 Zum Verhältnis zu Spinoza und der Bedeutung für Schleiermachers Theologie vgl. Cramer, Anschauung, 118 ff.

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seiner Schrift und insbesondere in seiner Glaubenslehre nach und nach unterdrückt.42 Schleiermachers Frühschrift ist ohne ihre besonderen Entstehungsbedingungen kaum mehr angemessen zu verstehen.43 Und es kann erst recht nicht darum gehen, diese genialische Schrift der deutschen Frühromantik44 kritiklos in heutige Debatten über Religion zu verpflanzen. Es bleibt eben eine bis heute vielfach wiederholt kritisierte dogmatische Schwäche dieses Programms, dass es einen persönlichen Gott der Bibel erst auf der Ebene vermittelter religiöser Kommunikation verhandelt.45 Dagegen zeigt sich die Stärke von Schleiermachers Denken unverändert gerade in der Beschreibung religiöser Erfahrung. In diese webt Schleiermacher die herausfordernden Themen Sprache, Lebenswelt und Natur ein. Eine Rekonstruktion seiner Theologie der Reden nimmt hier ihren Ausgang. Zur Verständigung: Unterhalb der Programmformel von der Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“46 erweist sich Schleiermachers Denken für unseren Zusammenhang deshalb als anschlussfähig, weil es bekanntlich zunächst einmal religiöse Erfahrung überhaupt und in Abgrenzung von Moral und Metaphysik thematisiert. Damit gerät religiöse Erfahrung als Thema von Wahrnehmung in den Blick. Religion „begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“47

Diese Erfahrung verbindet sich für Schleiermacher aus heutiger Sicht mit Lebensweltthemen. Da ist nämlich zum einen jene mit der religiösen Erfahrung untrennbar verbundene Dimension des Horizontes dieser Erfahrung. Schleiermacher nennt sie das Universum. Man kann dieses als „unfassbare Totalität des Wirklichkeitsgeschehens“48 begreifen. Entscheidend ist nun, dass sich diese Ganzheitserfahrung nur momenthaft einstellt, im augenblicklichen Unterlaufen von Alltagserfahrungen und der Kommunikation über und mit religiösen Symbolsystemen. Dort, wo sich in der Lebenswelt plötzlich das Fremde „invasorisch“ (Blumenberg) einstellt, erfährt das „Ich“ bei Schleiermacher die unio mystica zwischen Ich und All. Dieser Moment wird im romantischen 42 Vgl. Graf, Gefühl, 147 ff. 43 Vgl. Barth, Modernisierungsprogramm, 441 ff. Vgl. ferner auch Meckenstock, Aufnahme, 1 ff. 44 Die Reden müssen daher auch als ein durch und durch romantisches Literaturprodukt gelesen werden, „genialisch und gewagt, empfindungsreich und zugleich paradox pointiert, voll jugendlicher Aufbruchsstimmung und spekulativem Selbstvertrauen“ (Ringleben, Reden, 238). 45 Vgl. dazu besonders Pannenberg, Schwierigkeiten, 7 f. 46 Schleiermacher, Reden, 223, 20 ff. 47 Schleiermacher, Reden, 211, 29 ff. 48 Vgl. Ringleben, Reden, 246.

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Sprachduktus so beschrieben: „Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung“.49 Diese Erfahrung ist momenthaft und fragil: „Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung.“50 Neben Flüchtigkeit und Fragilität erinnert das religiöse Erleben hier explizit an naturräumliche Erfahrungen, weil Schleiermacher selbst dieses Momentum nicht allein mit den Metaphern der Natur beschreibt („Thau der erwachten Blumen“), sondern selbst die Frage aufwirft, wie sich diese Erfahrung manifestiert. Dazu stellt er fest, es seien vor allem drei konzentrisch gedachte Kreise, nämlich Natur, Geschichte und perspektivisch das Eschaton, in denen sich das „Unendliche“ manifestiere und zum Stoff religiöser Anschauung werden könne, so Schleiermachers Sprachgebrauch. Damit redet er nicht einer natürlichen Theologie das Wort, vielmehr sieht er in der Natur nur eine Ahnung, einen äußeren Hof, einen Anlass für religiöse Kommunikation: „Zur äußeren Natur, welche von so Vielen für den ersten und vornehmsten Tempel der Gottheit, für das innerste Heiligthum der Religion gehalten wird, führe ich Euch nur als zum äußersten Vorhof derselben […] Nicht im Donner des Himmels noch in furchtbaren Wogen des Meeres sollt ihr das allmächtige Wesen erkennen, nicht im Schmelz der Blumen noch im Glanz der Abendröthe das liebliche und Gütevolle. Es mag sein, daß beides Furcht und freudiger Genuß die roheren Söhne der Erde zuerst auf die Religion vorbereitete, aber diese Empfindungen selbst sind nicht Religion. Alle Ahnungen des Unsichtbaren […] (sind nur) Suchen und Forschen nach Ursach und erster Kraft.“51

Greift man nun auf die vier empirischen Erkundungsgänge in den Naturräumen Fluss (Elbeflutdiskurs), Meer (Urlaubsfoto), Kleingarten und Berg zurück, so wird der heuristische Wert der Schleiermacherschen Pointen evident, sie liegen nämlich vor allem in der Frage nach den Grenzen der Vernunft und dem Zusammenhang von religiöser Erfahrung und religiöser Kommunikation. Widmen wir uns zuerst dem letzten der beiden Aspekte. Die heilige, keusche Umarmung, der Duft des Morgenthaus, alles das sind Metaphern religiöser Unmittelbarkeit, die nicht aus Zufall in das Bildfeld der Natur fallen, weil sie nämlich zum Ausdruck bringen, dass sie eindeutig vorsprachlicher Art sind. Religiöse Erfahrung in dieser Zuspitzung ist jenseits der Sprache angesiedelt. Nun hat Wessel Stoker in seiner verdienstvollen relecture der Schleiermacherschen Reden nicht allein die Aspekte religiöser Erfahrung rekonstruiert, sondern im Hinblick auf die Vorsprachlichkeit dieser religiösen Erfahrung festgestellt, sie führe gerade deshalb dann auch zwangsläufig zum Drang religiöser Mitteilung. Vorsprachlichkeit und reli49 Schleiermacher, Reden, 221,74 ff. 50 Ebd., 221,76. 51 Ebd., 223, 20 ff.

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giöse Kommunikation bedingen sich.52 Wobei im Sinne Schleiermachers deutlich zwischen der religiösen Mitteilung als mündlichem, dialogischem Geschehen einerseits und der Sprache des Religiösen als Möglichkeit der Kommunikation einer Gruppe, in der diese Erfahrungen zirkulieren, andererseits, zu unterscheiden ist. Der Zusammenhang zwischen einer religiösen Erfahrungen im Modus des Vorsprachlichen, und dem Drang zur Kommunikation darüber begegnet nun in vielfacher Weise auch in den Erkundungsgängen. Die Zerstörungskraft von über ihre Ufer tretenden Flüssen macht nicht nur sprachlos, sondern generierte, so konnte gezeigt werden, einen vielstimmigen und religiös höchst unterschiedlich aufgeladenen Katastrophendiskurs. In der Aufarbeitung eines massenmedialen Diskurses wurden Spuren religiöser Kommunikation sichtbar, aber auch selbstständig auf religiöse Sprachspiele verweisen. Das Urlaubsfoto kann ebenso als religiöses Ausdrucksmedium aufgefasst werden. Der Drang, ein Foto zu machen entspricht dem Bedürfnis nach Kommunikation der Erfahrung insbesondere im Medium „veröffentlichtes Buch“. Ebenso typisch ist sicherlich die Verbindung von Gipfelerfahrung und religiöser Mitteilung im Eintrag des Gipfelbuchs. Die kulturgeschichtlich nachgezeichnete Entwicklung dieser Textgattung Gipfelbucheintrag macht deutlich, dass Erfahrung und Kommunikation des Unmittelbaren in enger und zunehmender Verbindung zueinander stehen. Einzig die religiösen Erfahrungen des Gartens scheinen dagegen weniger auf religiöse Mitteilung, sondern eher auf Kommunikation des Unmittelbaren abzuzielen. Freilich ist Sprache in der Sphäre des Kleingartens so oder so kein vollständig probates Mittel der Kommunikation. Kommuniziert wird dagegen oft vielmehr im Gestus des Zeigens. Wortreich, in der Gartenführung, im gemeinsamen Staunen über Ernte und Zier oder in der Anordnung des Naturraums zwischen öffentlichem Sichtbarmachen und kunstvollem Verbergen hinter der Gartenbegrenzung. Dieser Drang zur religiösen Mitteilung lässt sich nun auch als Wesensmerkmal gelebter Religion aufrufen. Dass diese nicht nur unterschiedliche Formen ausbildet, die an einem Ideal religiöser Orthodoxie zu messen wären, sondern sich als genuin religiös erweist, weil sie produktiv ist, gehört zu den wichtigen Erkenntnissen der jüngeren Erforschung von gelebter Religion heute. Insofern ist mit Blick auf die naturräumlichen Erfahrungshorizonte den Äußerungen des Philosophen Georg Simmel einerseits unbedingt zuzustimmen, wenn er formuliert: „Das religiöse Sein aber ist nun kein ruhiges Dasitzen, keine qualitas occulta, kein bildhaftes Ein-für-alle-mal, wie die Schönheit eines Stückes Natur oder Kunst, sondern es ist eine Form des ganzen, lebendigen Lebens selbst, eine Art, wie es seine

52 Stoker, Religion, 100 f.

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Schwingungen vollzieht, seine einzelnen Äusserungen aus sich hervorgehen lässt, seine Schicksale erfüllt.“53

Andererseits aber bleibt festzuhalten, dass Simmel ähnlich wie Schleiermacher Metaphern der Natur zum Vergleich heranzieht und dabei dem wechselvollen Charakter momenthafter religiöser Erfahrung in der Natur gerade nicht gerecht wird. Es wird also verstehbar, warum sich gelebte Religion nicht nur im Kontext eines sich kirchlich ausdifferenzierenden Religionspluralismus als religionsproduktiv erweist, sondern kategorial als Folge einer Vorsprachlichkeit religiöser Erfahrung selbst zu begreifen ist. Freilich bleibt nun praktisch-theologisch zu fragen, welche Kriterien die Theologie selbst im Dialog der Kulturwissenschaften bereit und in der Lage ist zu benennen, zwischen jenen religionsproduktiven Tendenzen und Strömungen zu unterscheiden, die in kritischer Distanz zu tradierter religiöser Kommunikation tatsächlich religionsproduktiv sind und solchen, die es nicht sind. Ist der Eintrag in ein Gipfelbuch auf dem Hohen Freschen bereits gelebte Religion, ist es das Foto vom letzten Meeresurlaub oder die Ernte im Kleingarten? Wenn es also einen qualitativen Verweiszusammenhang zwischen der vorsprachlichen religiösen Erfahrung und der Ausbildung eines religiöskommunikativen Symbolsystems gibt, so kann man feststellen, dass die vier Erkundungsgänge namhafte biblische Text- und Bildtraditionen zitieren und weiterführen. Aufgerufen wurde der „Sintflutdiskurs“ (Elbeflut), die Paradiestraditionen der Genesis und der Offenbarung (Gärten), sowie das Schöpfungslob in der Sprache der Psalmen (Meeresbilder und Bergwandern). Man kann nun zeigen, dass diese biblischen Text- und Bildtraditionen keineswegs zufällig gewählt sind, sondern sich an Kerne biblischer Überlieferung anbinden lassen. Diese sind für eine biblische Rede von Natur ganz sicher zentral. Es sind dies die Traditionslinien „Aufbruch“ und „Verwandlung“. Unter dem signum „Aufbruch“ versteht vor allem das Alte Testament die grundlegende Befreiungserfahrung des Volkes Israel aus Ägypten (Ex 12 – 14). Diese Befreiungserfahrung wird später zum existentiellen Zugang von Gottes heilvollem Handeln in der Geschichte Israels und bildet eine ortsunabhängige Theologie des Wortes aus. Dieser Veränderungsgestus entspricht nicht nur dem religionsproduktiven Grundanliegen gelebter Formen von Religion in Naturräumen, sondern nimmt die biblische Kritik an Erstarrung und Ideologie ernst, wie sie die Propheten Israels daraufhin geäußert haben.54 Unter dem signum „Verwandlung“ spricht das Neue Testament in zentraler christologischer Zuspitzung von der Verwandlung Gottes in der Inkarnation (Joh 1) und im Abendmahl (1. Kor 11). Gerade im Abendmahl ist die Verwandlung Gottes Voraussetzung der Verwandlung des Menschen als „fröhlicher Wechsel“.55 Und zudem zeigt sich in der Abendmahlstradition, wie ent53 Simmel, Problem, 39 ff. 54 Vgl. z. B. Am 5,21 – 25. 55 Vgl. EG 27,5.

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scheidend die Leiblichkeit Christi und die der Menschen an die Wahrnehmung dieses Geschehens gebunden ist, so in der Ostergeschichte der Emmausjünger.56 Natürlich wäre es unredlich und auch fahrlässig einengend, wollte man bestimmte religionsproduktive Formen einfach unter Ideologieverdacht stellen, aber gegenwärtig scheint die gegenteilige Gefahr einer kritiklosen Rezeption und Würdigung aller jener Formen weitaus größer zu sein. Dazu zwei kritische Stimmen: Christan Albrecht stellt in seiner kategorialen Analyse gegenwärtiger Religionsdiskurse zwar fest, die Wahrnehmung religiöser Gegenwartsphänomene sei ein wichtiger Bestandteil theologischer Arbeit, sieht in ihr aber letztlich nicht mehr als den Versuch, religionspolitische Interessen durchzusetzen, weil in der Beschäftigung mit religiösen Gegenwartsphänomenen die Disziplin der Praktischen Theologie so allein Aufmerksamkeit und Anschlussfähigkeit signalisiere.57 Von einer ganz anderen Warte aus hat der Religionssoziologe Martin Riesebrodt seine Kritik formuliert. Er bemängelt bei der theologischen Würdigung der Lebenswelt und der vielfältigen Formen gelebter Religion fehlende Trennschärfe und Plausibilität und setzt sich von jener Position ab, „die so unterschiedliche Phänomene wie Grillabende mit Gitarrenmusik, Fußballspiele, das Einkaufen in einem Supermarkt oder Kunstausstellungen für religiöse Phänomene hält.“58 Riesebrodt kritisiert die Ausweitung einer Religionspraxis bis zur Unkenntlichkeit und bezweifelt stark ihren dann noch verbleibenden heuristischen Wert.59 Beide Einwände werden allerdings erkennbar von einem je eigenen Interesse in den Religionsdiskursen der Gegenwart bestimmt. Und beide operieren 56 Vgl. dazu insgesamt Grevel, Predigt, 248 ff. 57 Der „weitverbreitete Programmgestus des „Wahrnehmens“ gegenwärtiger nichtkirchlicher und nichtchristlicher, aber religiöser oder religionsverdächtiger Phänomene entpuppt sich bei Lichte besehen allzu oft als ein nur mühsam mit kulturhermeneutischer Tarnfarbe überzogenes Waffenstillstandsangebot in den religiösen Verteilungskämpfen nach dem trivialrelativistischen „Ich-bin-ok-du-bist-ok“-Muster : Nehm’ ich dich wahr, musst du mich auch wahrnehmen.“ So Albrecht, Perspektivenerwartungen, 296 f. 58 Riesebrodt, Cultus, 11. 59 Ebd., 117. Riesebrodt selbst grenzt sich ebenfalls von einem funktionalen Religionsbegriff ab, da hier s. M. zu Recht eine Abgrenzung von nichtreligiösen Formen ebenfalls kaum noch gelingt und hält fest, dass viele religiöse Praktiken und Muster eben gar nicht auf Bewältigung zielen! – Freilich überzeugt sein religionssubstanzieller Ansatz ebenso wenig, weil dieser den Kern von Religion bestimmen will und dabei die Vielfalt religiöser Formen und Transformationen völlig übersieht. Seine These lautet dabei: „Allen Religionen ist das Versprechen gemein, dass Menschen durch die Pflege ihrer Beziehungen zu übermenschlichen Mächten Unheil abwehren, Krisen bewältigen und Heil empfangen können“ (ebd., 12). Die Stärke in Riesebrodts Darstellung bleibt freilich, dass sie ihren Ausgang bei Formen gelebter Religion nimmt und nicht bei einem theologischen System, etwa dem Interesse an Liturgien und sog. Volksfrömmigkeit. Sein Problem bleibt dabei aber eben durchgehend, dass die historische Wandelbarkeit von Religion und damit das Faktum von Religionsproduktivität viel zu wenig in den Blick kommt, vgl. ebd. 137.

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mit einem stark aufgeladenen Religionsbegriff. Eine Praktische-Theologie, die wagt, in diesem Umfeld empirisch zu arbeiten ist so oder so natürlich nur ernstzunehmen, wenn sie dies methodisch gründlich reflektiert tut. Dies ist auch der Grund, warum in der vorliegenden Studie mehrere methodische Zugänge zum Feld der Phänomene gewählt wurden, also Diskursanalytik nach Jäger, Dichte Beschreibung, qualitative Fotoanalyse, Auswertung von Alltagsdokumenten und Feldforschung mit Interviews. Dennoch, so sehr man mit einem „weichen“, zirkulären Religionsbegriff, der nicht spekulativ, sondern lebensweltlich bezogen entfaltet wird, operiert, wird man gut daran tun, Trennlinien zu formulieren, jenseits derer dann vernünftigerweise nicht mehr von einem diskursiven Interesse an Formen gelebter Religion ausgegangen werden kann.60 Unter diesen Bedingungen hat sich die Praktische Theologie zur Aufgabe zu machen, religionsproduktiven Elementen gegenwärtiger Kulturäußerungen neugierig, kritisch und methodisch reflektiert zu begegnen. Sie soll sich dabei aber durchaus widerständig auf die religionsförmigen Deutungen nicht-religiöser Lebensbezüge einlassen und weder einseitig kritiklos noch umgekehrt konfessionalistisch verfahren, sie soll weder das Comeback noch das Ende der Religion ausrufen, sondern sich tatsächlich auf die Suche nach Orten des Religiösen machen. In diesem Zusammenhang hat Hans-Joachim Höhn vorgeschlagen, nicht bei einer vertieften Wahrnehmung, Wertschätzung und strukturanalytischen Arbeit am Phänomen stehen zu bleiben, sondern vielmehr Verfahrensschritte inhaltlich zu qualifizieren. Im Hintergrund steht bei Höhn dabei eine Auseinandersetzung mit der These der Postsäkularität.61 Man wird diesen Theorierahmen der Postsäkularität, bekanntlich mit angestoßen von Jürgen Habermas, nun nicht unbedingt teilen müssen. Höhn will aber den komplexen Transformationsprozess, in dem sich Religion ganz sicher gegenwärtig befindet, in Anlehnung an die katholisierende Rede von Zerstreuung in 1 Petr 1,1 durch eine „Theorie religiöser Dispersion“ beschreiben: „Wir leben insofern in einer ,postreligiösen‘ Zeit, dass Religion in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft nicht mehr als soziales Bindemittel oder moralische Letztinstanz gelten kann. Aber dieses Ende bedeutet nicht das Ende alles Religiösen. Vielmehr ist sein Fortbestand außerhalb religiöser Institutionen (mit nunmehr 60 Volkhard Krech hat in diesem Zusammenhang von einem regelrechten Phantomschmerz der modernen Kultur gesprochen, der alle jene Begründungsfiguren, Sprachspiele, Gemeinschaftserlebnisse und Sachverhalte dergestalt religiös auflädt, dass sie im Gewand des Religiösen sakral werden. Diese „Sakralität“ steht für Krech unter unbedingtem Ideologieverdacht, vgl. ders., Gesellschaft, 267. 61 Höhn konstatiert, es gebe gegenwärtig sowohl Anzeichen für eine fortschreitende Säkularisierung der (deutschen) Gesellschaft wie andererseits eben auch für eine „Respiritualisierung“ (Höhn, Postsäkular, 10), zugleich Exkulturation und Inkulturation des Religiösen (ebd., 31).

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nichtreligiösen Funktionen) zu registrieren. Das ,postsäkulare‘ Moment dieses Prozesses der Dispersion des Religiösen besteht darin, dass sich eine kulturelle Permanenz der Religion an den nicht-religiösen Aneignungen religiöser Stoffe und Traditionen in den nicht religiösen Segmenten der Gesellschaft […] festmachen lässt.“62

Religion mischt sich für Höhn demnach unter Profanes, wird „liquide“ und wandert aus traditionellen Orten seiner Kommunikation aus (hin zu Rocksongs, Kinofilmen, Kleingärten, etc.). Hier bieten sich natürlich zahlreiche Strukturparallelen zu Wahrnehmungen gelebter Religion. Höhn gibt daher auch als Ziel dieser neuen Wahrnehmungskultur dispersiver Religionselemente eine „Kritische Phänomenologie der Religion“63 aus. Dies bedeutet eine Sichtung des Phänomenbestands und der sozio-kulturellen Funktion disperser Religiösität (d. h. der Dekonstruktion, Dekontextualisierung und Inversion religiöser Traditionen, Stoffe, Motive), eine (Ideologie-) Kritik der ökonomischen, politischen oder ästhetisch-medialen Instrumentalisierung des Religiösen, die Freilegung des Resistenzvermögens des Religiösen angesichts seiner nicht-religiösen Aneignungen und Verzweckungen und schließlich die Demonstration der Modernitätskompatibilität eines originär religiösen Verhältnisses zu modernen Lebensverhältnissen. Was das konkret heißen kann, lässt sich im Hinblick auf die untersuchten Phänomene gut beschreiben: a) Die Sichtung des Phänomenbestands Gerade im Phänomenbereich „Natur“ liegt eine religiöse Dimension von Erfahrung allein kulturgeschichtlich auf der Hand. Nicht nur ist Religion in früheren Kulturen eng mit Natur verbunden, sondern zeigt sich in den früheren theologischen Debatten über natürliche Theologie. Vor allem aber ist gegenwärtig ein breites Spektrum naturräumlicher Erfahrungen allein sprachlich religiös konnotiert. In diesem Spannungsfeld von theologischer Deutung, religiösen Symbolsystemen und kulturellen Ausformungen, mitunter sogar in bewusst gewählter kritischer Distanz zu offiziellen Deutungstraditionen innerhalb wie außerhalb der Kirchen, wird evident, warum in diesem Bereich die Sichtung des Phänomenbestands besonders fruchtbar ist. Dabei zeigten die vier empirischen Analysen wie unterschiedlich religiös aufgeladen diese Phänomene sein können. Die Kleingartenkultur bewahrt vor allem zitathaft frühere Gartentraditionen des Paradiesischen, zeigt aber tiefe Sehnsüchte nach der Transzendenz des Alltäglichen zwischen Gartenarbeit und Erholung. Die Diskursanalyse der Oderflut konzentriert sich auf ein Phänomen, das seinen Reiz in der offensichtlichen modernespezifischen Aufarbeitung im Kontext religiöser Kommunikation betreibt und dabei, das macht sicher den Reiz dieses Phänomenbereichs aus, Unterschiede zwischen 62 Ebd., 10. 63 Ebd., 56.

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Ost- und Westdeutschland offenbart. Während die Urlaubsfotos ihren Reiz als Phänomen in der Decodierung religiöser Semantik im Habitus des Fotoproduzenten besitzen und sich das Foto als Alltagsdokument methodisch gut fassen lässt, ist die empirische Analyse der Gipfelwanderung auf den Hohen Freschen im doppelten Sinn dergestalt zugespitzt, das sie ihren heuristischen Wert im kontrastiven Vergleich erhält. Die Abgrenzung des Phänomenbereichs geschieht durch die Gegenüberstellung mit den Fürbittbüchern im Tal und die leibhaftige Erschließung dieses Naturraums. b) Ideologiekritik Historisch gesehen, steht jede Form naturräumlicher Erfahrung, die religiös aufgeladen ist, unter Ideologieverdacht.64 Aber darum kann es hier gerade nicht gehen. Formen gelebter Religion emanzipieren sich von dogmatischen Traditionen und unterlaufen kirchliche Handlungsnormen. Gerade in der Blüte der Kleingartenkultur wird das deutlich. Freilich wirft der Kult des starken Leibes in den Bergen Fragen nach dem biblischen Menschenbild auf und sollten auch Teil einer kirchlichen Kommunikationskultur bleiben. Insgesamt sind hier weniger ideologische Kulturtransformationen zu beobachten als in anderen Feldern gelebter Religion. c) Resistenzvermögen des Religiösen Insgesamt weisen alle markanten naturräumlichen Erfahrungen das Signum der Resistenz gegenüber den herrschenden Attitüden einer technisierten Welt auf. Zwar werden Erfahrungen dieser Art, so belegen es die Einzeluntersuchungen eindrücklich, von den je eigenen Prägungen und Wahrnehmungsperspektiven des einzelnen Individuums bestimmt. Aber gerade an den Rändern zwischen religionsproduktiver Ausprägung und kirchlicher Handlungsnorm, wie beim Gipfelgottesdienst resp. der Freschenkapelle wird deutlich, wie sehr sich die naturräumlichen Erfahrungen einer einfachen Verrechenbarkeit des Religiösen entziehen. Zudem erweisen sich diese Orte als der Alltagswelt entzogen, sie werden zu religiös aufgeladenen heterotopen Orten des Fremden. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte auch die Leibgebundenheit dieser Erfahrungen sein. Schließlich erweisen sich die Katastrophendiskurse anlässlich der Elbeflut als Ventilfunktion in einer modernen Welt. d) Modernekompatibilität Es gehört zum Untersuchungsfokus, wie sich die Auseinandersetzung mit Natur im Zeichen der Moderne gestaltet. Besonders erhellend ist hier natürlich der Versuch einer Funktionalisierung von Religion als Deutungs- und Bewältigungsinstanz in Krisen wie der Elbeflut. Zu unterscheiden ist hier zwischen der Erfahrung als solcher und ihrer Kommunikation durch die 64 Vgl. vor allem Kock, Theologie, 28 f.

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Medien. Ein exemplarischer Charakter kann den Untersuchungen in allen vier naturräumlichen Feldern besonders dort zugeschrieben werden, wo sichtbar wird, wie Natur als Gegenort modernetypischer Rationalität Modernität geradezu ermöglichen hilft.

2.3 Reflexionsperspektive Vernunft und Leiblichkeit Alle vier Untersuchungsgänge haben gezeigt, wie sehr sich naturräumliche Erfahrungen mit den Grenzen von Sprache und Kommunikation verbinden. Wohl gibt es einen Drang zur deutenden wie explizierenden Kommunikation, aber die Erfahrung selbst bleibt oftmals merkwürdig sprachlos. Ebenfalls entziehen sich viele der formulierten Phänomene einer sie strukturierenden Rationalität. Das hat bereits Kant gesehen.65 Jenseits reiner und praktischer Vernunft sind es für Kant vor allem Geheimnisse, Wunder und Erfahrungen von religiöser Gemeinschaft, die von ihm so gewürdigt werden, gerade auch dann, wenn sie sich einer Sagbarkeit letztlich völlig entziehen.66 Es ist bemerkenswert, wie stark diese Formen des Religiösen nicht nur jenseits von Sprache und Vernunft angesiedelt sind, sondern umgekehrt, wie stark sie in der Leiblichkeit des Menschen verwurzelt sind. Als Ergebnis aller vier Untersuchungsgänge, vor allem aber bei der Analyse der Gipfelbesteigung des Hohen Freschen wurde evident, wie sehr das Wahrnehmungssubjekt auf die eigene – verletzbare, begrenzte – Leiblichkeit zurückgeworfen ist. Wenn nun Leiblichkeit für die Formen gelebter Religion in den untersuchten Naturräumen so prägend ist, so stellt sich schon die Frage,

65 Für Kant stand bekanntlich fest, dass ein metaphysisch aufgeladener Religionsbegriff, wie ihn die Theologie seiner Zeit noch wie selbstverständlich voraussetzte und weiter propagierte, einer kritischen Philosophie nicht standhalten könne. Stattdessen entwirft Kant den Rahmen, innerhalb dessen religiöse Erfahrung der Vernunft zugänglich sein kann. In seinen Parerga, den „Allgemeinen Anmerkungen“ zu der von ihm formulierten epochemachenden Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 (zit. n. ders., Religion, 649ff) greift er dann eben auch jene oft verkannten Bereiche des Religiösen auf, die weder von der reinen Vernunft erkannt werden können, noch Eingang in den Bereich der praktischen Vernunft halten können – gleichwohl aber als „Nebengeschäft“ (ebd., 704) lohnend sind, da diese einem „reflektierenden Glauben“ (ebd.) zuträglich sind, der sich in der Beschäftigung mit diesen übernatürlichen Phänomenen als guter Wille jenseits des Wissens erweist. 66 Diese übernatürlichen Gegenstände „sind gleichsam Parerga der Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft; sie gehören nicht innerhalb dieselben, aber stoßen doch an sie an. Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu tun, dehnt sich bis zu überschwänglichen Ideen, die jenen Mangel ergänzen können, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz sich zuzueignen. Sie bestreitet nicht die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Gegenstände derselben, aber kann sie nur nicht in ihre Maximen zu denken und zu handeln aufnehmen. Sie rechnet sogar darauf, daß, wenn in dem unerforschlichen Felde des Übernatürlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen kann“ (ebd., 704)

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ob die bisherige relecture der Reden Schleiermachers diesem Sachverhalt angemessen entsprechen kann.67 Zunächst einmal ist daran zu erinnern, dass eine verstärkte Wahrnehmung von Leiblichkeit gerade in der Theologie mit einer Kritik an dem Hoheitsanspruch einer sich absolut setzenden Vernunft einhergeht. Hier hat die Theologie sich vom Herrschaftsanspruch einer leiblosen Philosophie zu lösen und eigene Versäumnisse konsequent aufzuarbeiten. Um dem Mangel einer regelrechten Leibvergessenheit zu entgehen, hat in der Praktischen Theologie daher ein anfänglicher, wenn auch vielfältiger Suchprozess begonnen.68 Genau dies formulierte auch bereits Schleiermacher. So lehnte die gesamte Frühromantik die Aufklärung und damit Rolle der Vernunft für die Überwindung der Fremdbestimmung des Menschen zwar nicht vollständig ab, aber sie hinterfragte kritisch deren Absolutsetzung.69 Bekanntlich hat die Aufklärung in ihrer Hochschätzung der Vernunft die Gefahr einer Selbstimmunisierung übersehen oder die Folgen ihres instrumentellen Gebrauchs im Sinne Adornos einfach unterschätzt. Indem Schleiermacher die Religion als „eigene Provinz des Gemüths“ jenseits von Metaphysik und Moral etablierte, lud er sich zwar das Folgeproblem einer subjektivitätstheoretischen Engführung des Religionsbegriffs auf. Dennoch besitzt diese religionsgeleitete Hinterfragung der Vernunft bis heute eine starke Prägekraft.70 Die weitere Stärke einer Verknüpfung von gegenwärtigen Phänomenen gelebter Religion im Fokus diverser Naturräume mit der Leiblichkeit des Erfahrungssubjekts besteht nun auch darin, naturräumliche Erfahrungen im Angesicht der Moderne angemessen beschreiben zu können, denn die Erfahrung von Leiblichkeit ist ja nicht nur in soziale Kommunikation eingewoben, sondern reflektiert den Status von Religion in der Moderne selbst. Erinnern wir uns: Die Erkundung von gelebter Religion zeigte eindrücklich das Zu67 Auf ein ungewöhnliches Detail sei hier zumindest verwiesen: Schleiermachers Denken wurde von der Naturphilosophie und der Physik der Romantikzeit, besonders von dem Naturforscher Johann Wilhelm Ritter beeinflusst, vor allem, was die Denkfigur der „Polarität“ als Vermittlung von Gegensätzen betrifft, vgl. Dittmer, Wissenschaftslehre, 112ff u. 234 ff. Ritters persönliche Tragik liegt in der fast bizarr anmutenden Bereitschaft, elektromechanische Experimente, die auf den Erkenntnissen Calvanos und Voltas aufbauten, gerade deshalb am eigenen Körper durchzuführen, weil er damit beweisen wollte, dass die Denkfigur der Polarität, in der die gegensätzlichen Auswirkungen der Elektrizität im ganzen Körper in einer höheren Einheit vermittelt wird, so zu beweisen sei, vgl. Daiber, Naturexperimentation, 185 ff. Damit erweist sich dieser Sachverhalt in Schleiermachers Theologie an diesem Wesensmerkmal seines Denkens als in einem eigenwilligen Sinn zumindest körperbezogen! 68 Einen guten Überblick bietet dazu Grözinger, Wiederkehr, 75 ff. 69 Willems, Aktualität, 30. 70 Dies findet in jüngster Zeit auch seine Entsprechung bei Jürgen Habermas, der in der Artikulation religiöser Symbolsysteme eine Bereicherung des säkularen, liberalen Staats erkennt, der sich genau auf diese Vernunft beruft (vgl. ders., Religion, 119ff). Habermas bezieht sich in seiner Argumentation hinsichtlich des Verhältnisses von Glaube und Vernunft explizit auf Schleiermacher, vgl. Habermas, Grenze, 237 ff.

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gleich von Verlusterfahrungen früherer „Heiligkeit“ oder „Erhabenheit“ von Natur und einer momenthaften Durchbrechung alltäglicher Lebenswelten. Und daher besitzt jede prägende Naturerfahrung bis heute auch einen doppelten Grundgestus: Sie ist melancholisch zu nennen, weil der Zusammenhang zwischen dem offenen Buch der Natur und den Erfahrungswelten der Moderne verschlossen ist, sie ist sehnsüchtig zu nennen, weil sich hier ein Ort auftut, der spurenhaft reine Gegenwart und Leiblichkeit vereinigt. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen dieser Untersuchung zeigen: Der Kleingarten unterscheidet sich signifikant vom Paradiesgarten der Klosteranlage, bewahrt aber Augenblicke der Alltagstranszendierung. Naturkatastrophen werden nicht mehr auf das Handeln Gottes bezogen, aber durchaus im Sinne religiöser Symbolik kommuniziert, die Wanderung auf den Hohen Freschen belegt die touristische Überformung dieses Raums und auf dem Gipfel angekommen wird keiner Gottheit gehuldigt, sonder telefoniert, aber zugleich bricht sich das Bedürfnis Bahn, diese leibhaftige Anwesenheit des Wanderers festzuhalten und zu kommunizieren. In diesem Zugleich von Entzogenheit und momenthafter Nähe, einer Dialektik der religiösen Erfahrung, erweist sich die Erkundung von Naturräumen also als Muster mit besonderem heuristischen Wert für die Praktische Theologie insgesamt. Diese Dialektik spiegelt sich nun vor allem in der Kategorie der Leiblichkeit selbst. Denn, was für die Praktische Theologie insgesamt gilt, dass Leiblichkeit kategorial Erkenntnis und Kommunikation der ihr eigenen Themen hinterfragt, gilt hier besonders.71 Naturräumliche Erfahrungen belegen dies nicht nur, sondern verdichten diesen Befund noch einmal. So ist eine Erkenntnis über Transformationen des Religiösen in der Moderne auf dem Gipfel eines Berges schlechterdings nur möglich, wenn sie von der eigenen Leiblichkeit nicht absieht. In einer Zeit zunehmender Technisierung von Erkenntnis und Kommunikation ist dies ein wertvoller Befund. Und die Erkundungsgänge belegten, wie ausdifferenziert dies weiter zu beschreiben ist. Leiblichkeit erinnert an die Grenzen und Verletzbarkeit des Erfahrungssubjekts, an die Sehnsucht der Auflösung in die Natur, wie beim Grenzgänger am Ufer des Meeres, aber auch an die Feier der leibhaftigen Stärke, dessen, der einen Gipfel bestiegen hat. Die Rede vom Leib hält fest, dass das Ich in seine Lebenswelten verstrickt ist (Waldenfels), mehr als einer an Kant und dem deutschen Idealismus geschulten Theologie manches Mal lieb sein kann,72 dann aber auch in der Verletzbarkeit dieses Leibes selbst. Die Rede vom Leib, gerade in Aufnahme Merleau-Pontys, der forderte, den Leib zentral als ein seiner Umwelt ausgesetzter zu denken, rückt nun Schmerz, Verletzbarkeit und Begrenzung des Menschen in den Mittelpunkt und entfaltet so im kritischen Gegenüber zu anderen Körperkonzepten ein regelrecht subversives Potential des Religiö71 Vgl. Heimbrock/Wyller, Anderen. 72 Vgl. dazu eindrücklich bereits Elisabeth Moltmann Wendel, Mein Körper bin ich. Neue Wege zur Leiblichkeit, Gütersloh 1994, 68 ff.

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sen.73 Diese Einsicht wird gegenwärtig nicht allein als weitere Facette eines kreuzestheologisch fundierten Menschenbildes gesehen74, sondern auch zum Anlass genommen, über das Geflecht von Naturbedrohung und Naturzerstörung nachzudenken. So plausibel dieser verstärkte Rekurs auf Leiblichkeit für die Praktische Theologie sein dürfte, gerade im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung von gelebter Religion in Naturräumen zeigt sich aber auch eine Gefahr. Am Ende könnte die Praktische Theolgie staunend und raunend jene Formen der sprachlosen Gegenwart feiern, würdigen und inmitten eines „Meers von Gerede“ kulturkritisch verteidigen. Sie würde dabei freilich übersehen, dass ihre Aufgabe weiterhin darin besteht, vernunftgeleitet und kommunikationsorientiert über Mitte und Grenzen dieser Erfahrungen auskunftsfähig zu bleiben.75 Wie ist also die Grenzlinie zwischen Leiblichkeit, Vernunft und Sprache gerade angesichts von modernetypischen Naturerfahrungen für die Praktische Theologie zu ziehen? Kaum einer hat einen ähnlich bedeutenden Beitrag zu dieser Fragestellung geleistet als ausgerechnet der französische Theologe Michel de Certeau.76 Das mag überraschen, stand doch im Mittelpunkt seiner Theologie die Erforschung mittelalterlicher und neuzeitlicher Mystik. Certeau beschreibt nun in seinem Hauptwerk, „La fable mystique“, wie in den protomodernen Erfahrungswelten der frühen Neuzeit der scheinbar unauflösliche Zusammenhang zwischen Gottes- und Welterfahrung, der das ganze Mittelalter prägte, zerbrach.77 Laut Certeau sind es gerade die Mystiker, die in ihrer Sprache und ihren Texten der Trauer über diesen Verlust nicht nur Ausdruck verleihen, sondern gleichsam einen Modus schaffen, diesem Verlust dauerhaft eine Gestalt zu geben. Und hierin wird Michel de Certeau für unsere Fragestellung anschlussfähig. Certeau beschreibt nun, wie sich gerade in der Mystik als Reaktion auf 73 Vgl. Marcus A. Friedrich, Art. Körper, in: Handbuch Religion und Populäre Kultur. Hg. v. K. Fechtner, G. Femor u. a., Stuttgart 2005, 163ff, der freilich davor warnt, im Ringen um angemessene Körperdiskurse ausschließlich „theologisch konterkulturell“ (ebd. 163) zu argumentieren. Kritischer dagegen Regine Munz, Hammelbeine und Busenwunder. Systematisch theologische Bemerkungen zu Körper und Geschlecht, in: Körper-Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften. Hg. v. C. Aus der Au u. D. Plüss, Zürich 2007, 117. 74 Vgl. Klaus Thraede, Körperliches Leiden als Christuszeugnis der ältesten Martyriumsberichte, , in: „Dies ist mein Leib“ – Leibliches, Leibeigenes und leibhaftiges bei Gott und den Menschen (Jabboq 6). Hg. v. J. Ebach, H.-M. Guttmann u. a., Gütersloh 2006, 30 ff. 75 Vgl. Meyer-Blanck, Rede, 414 ff. 76 Michel de Certeau (1925 – 1986) war als katholischer Intellektueller und Jesuit sein Leben lang ein Grenzgänger zwischen Kirche, Theologie und Universität und wurde stark vom französischen Laizismus geprägt; die Mitte seiner Theologie ist der Versuch, die Rolle der Religion in einer modernen (laizistischen) Gesellschaft zu beschreiben, vgl. ders., Bruch, 155 ff. 77 Vgl. Certeau, Fabel. Vgl. zu Certeau besonders Bogner, Gegenwart und Eickhoff, Geschichte, 248 ff.

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diesen epochalen Verlust eine Konzentration in die Sprache hinein ereignet.78 Diese Sprache der Mystik etabliert sich nun historisch gesehen als Gegenentwurf einer definierten, festen, rationalen Sprachkultur. Eben als Ausdruck des Anderen.79 Die Sprache wandert dabei gleichsam in den Körper des Mystikers aus. Certeau lotet aus, was in einer Welt, in der es fast unmöglich wird, religiöse Erfahrungen zu kommunizieren, überhaupt noch spricht. Es ist der Körper.80 Die mystische Sprechform etabliert sich damit für Certeau als Gegenkultur des Körperlichen und Subjektiven zur Institution (in der katholischen Kultur) und Hermeneutik (im Protestantismus).81 Damit wird die Leiblichkeit zum Rückzugsort des modernen Subjekts, das nach Bedeutung und Lebenssinn sucht. Bezogen auf Naturerfahrungen radikalisiert sich dieses mystische Programm im „franziskanischen Traum“. Über die franziskanische Theologie, deren „Sonnengesang“ des Hl. Franz von Assisi bis heute zu den am stärksten rezipierten Zeugnissen christlicher Naturfrömmigkeit zählt, stellt Certeau fest, es sei „der franziskanische Traum: dass ein Körper predigt, ohne zu sprechen“82 und fährt dann fort: „Franziskus ,predigt‘, indem er über die Felder geht, ohne das Wort, diese opake Mittelinstanz zwischen dem Menschen und der Natur, zu benötigen.“83 Inmitten einer Welt, in der Gott nicht mehr durch die Blumen und Berge spricht, ein sehnsuchtsvolles Programm, das eigentlich doch zutiefst modern wirkt, aber eben auch sehr katholisch. Eine evangelische Praktische Theologie hat bei aller Sympathie aber dennoch am Wort und einer Hermeneutik festzuhalten, freilich einer solchen Auslegungskunst, die sich zutiefst und zugleich der Auslegung der Lebenswelten verschrieben hat und das Unsagbare würdigt und im Furor des VerstehenWollens erträgt. 2.4 Reflexionsperspektive Raum Lässt man die Phänomene gelebter Religion Revue passieren, so fällt auf, dass sie sich nicht in einer abstrakten oder metaphysischen Natur an sich ereignen, sondern fest in die jeweilige Naturräumlichkeit eingewoben und mit ihr untrennbar verbunden sind. Leiberfahrungen binden sich an den Raum und sind 78 „Mystiker ist, der nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht. […] Es wohnt nirgendwo“ (Certeau, Fabel, 487). 79 Im Nachdenken und Formulieren des Schlüsselbegriffs des „Anderen“ ist Certeau Foucault verwandt; die sog. „Heterologie“ (also Lehre vom Anderen bzw. anderen) zeigt sich für Certeau am klarsten und produktivsten in der Mystik der frühen Neuzeit und wird so zum Schlüssel für das Verständnis der Moderne im Feld des Religiösen. 80 Vgl. Bogner, Mystik, 506 f. 81 Vgl. besonders Certeaus Hinweis auf die hermeneutische Kultur des Calvinismus, ebd., 261 f. 82 Certeau, Fabel, 138. 83 Ebd., 138 f.

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ohne ihn nicht denkbar.84 Räume können an ihren Grenzen ihren Eigensinn entfalten, wie bei den Gärten oder durch die Erfahrung ihrer Grenzenlosigkeit wie beim Blick auf das Meer. Phänomenologisch ist die Grenze dabei ein entscheidendes Signum des Raumes. Die Grenze ist darin auch ein ureigenes Thema der Theologie, weil ja Religion immer um Fragen der Begrenzung wie der Grenzüberschreitung kreist. Die Erfahrung eines vom Menschen unterschiedenen Gegenüber im Kontext der Sünde markiert diese Grenze ebenso wie die Urerfahrung des Sterbens. Leben und Tod, Tod und Hoffnung auf Auferstehung: stets werden Grenzen erfahren, gedeutet und versprachlicht. So nimmt es nicht wunder, wenn auch die Theologie Begriff und Sache der Grenze immer wieder zu ihrem Thema macht. Prägend für viele Jahrzehnte der deutschsprachigen evangelischen Theologie war zunächst Paul Tillich mit seiner Rede von der menschlichen Grenzsituation als Thema der Theologie.85 Besonders intensiv rezipiert wurde ebenfalls das von Eberhard Jüngel 1973 ausgerufene Lob der Grenze.86 Bemerkenswert bei diesen beiden Großmeistern der Theologie bleibt freilich ihr Desinteresse an der Erdung dieser menschlichen Grenze in der je eigenen Leiblichkeit. Sie können an Raum gewinnen bzw. Raum tiefgreifend verändern, wie bei der Elbeflut. Und schließlich können sie zum Raum extra nos werden, dem Raum des Gipfels, der zum Gegenraum wird. Methodologisch findet hier der Anschluss an das Raumparadigma87 in den Kultur- und Sozialwissenschaften statt, insbesondere in dem Ausrufen eines viel beschworenen „spatial turn“, der sich besonders mit den Arbeiten Karl Schlögels verbindet.88 84 Vgl. Failing, Welt, 91 ff. 85 Tillichs Theologie kreist hier um die Selbstreflexion des Menschen, mit den ihm selbst gesteckten Grenzen des Erkennens und Lebens umzugehen. Für Tillich ist die menschliche Existenz herausgefordert, in der Entscheidung zur menschlichen Begrenztheit und dem radikalen Durchleben dieser Grenzsituation im Wort von Gottes unbedingtem Ja ebenjene Grenze zu überwinden hin zum, wie Tillich es sagt, neuen Sein, vgl. ders., Verkündigung, 25 ff. 86 Jüngel, Lob, 371 ff. Jüngels Text kann bis heute nicht zuletzt als eindrückliches Dokument der zunehmenden Sorge um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen Anfang der 1970er Jahre gelesen werden. In der Auseinandersetzung mit Umweltzerstörung und Umweltschutz erkennt Jüngel die Notwendigkeit, dem maßlos agierenden Menschen der Gegenwart Grenzen zu setzen, die es ihm ermöglichen, sich seiner selbst, seiner Bestimmung gerecht zu werden und sein Überleben zu sichern. 87 Der inflationäre Gebrauch des Begriffes Paradigma ist wohl selbst zu einem solchen zumindest in den Kulturwissenschaften geworden. Freilich reagiert die Hinwendung zum Raum auf die tief greifenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte, also eine krisenhafte Historiografie, immer neue Globalisierungsschübe, ein verstärktes Interesse am Material. Forschungsgeschichtlich ging der erste Impuls zu einem neuen Raumparadigma von den Arbeiten des Soziologen Henri Lefebvre aus, vgl. hierzu und als guter Überblick über die bisherige Ausdifferenzierung des Begriffsfeldes die Einleitung in: Döring/Thielemann, Raume, 7 ff. 88 Schlögels Forschungen kreisen seit langem um die Wiederentdeckung des Raumes in einer aus seiner Sicht raumvergessenen Geschichtswissenschaft, verbunden mit einer empathischen Rückkehr zu einer empirisch fundierten Materialität seines Themas. Schlögel erweist sich in der genauen Beschreibung von Alltäglichem wie Häusern, Gullydeckeln und Busbahnhöfen als Meister der „Augenkunst“, vgl. bereits in ders., Promenade. Innerhalb der Kulturwissen-

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Damit verbindet sich ebenfalls die für die Praktische Theologie wichtige Einsicht, dass die Dimension des Raumes sich nicht zuerst in den Weltbezügen des aufgeklärten „Landvermessers“ abbildet, sondern in der schillernden Verbindung aus historischer Raumerfahrung, Subjektivität und Umwelt ensteht, allein die neueren liturgiewissenschaftlichen Diskurse belegen dies eindrücklich.89 Zu Recht hat Bernhard Waldenfels90 mit Blick auf die allfällig naturalistisch-aufklärerischen Raumkonzepte festgestellt, sie hätten in der Folge den Gegensatz zwischen dem zweckfrei agierenden Landschaftsbetrachter und dem verzweckenden Landvermesser, der in der Natur nur den euklidischen Raum, das „geometrische und physikalische Residuum“91 erkennt, maßgeblich bestimmt; Waldenfels stellt dazu fest: „Wir schließen daraus, dass der pure Landschaftsvermesser ebensowenig wie der Landschaftsbetrachter in der Welt lebt, die er vermisst.“92 Damit wird deutlich, dass jede spezifische Form der Raumwahrnehmung eine Selbstdistanzierung des wahrnehmenden Subjekts vom Raum, in dem es sich wahrnehmend aufhält, kritisch hinterfragen sollte. Positiv gesprochen, erweist sich aber nun gerade methodologisch der Raum der Begegnung, also die Verortung der „Schnittstelle“ zwischen Leib und Natur als eigentlicher Schlüssel für ein angemessen formuliertes Naturverständnis. Dabei können, mit Waldenfels gesprochen, naturräumliche Erfahrungen in besonderer Weise Leib-Raum-Erfahrungen verdichten oder neu verbinden.93 Eine weitere wesentliche Raumerfahrung ist nun die des anderen Raums, des fremden Raums, denn naturräumliche Erfahrungen ziehen ihren Reiz in der Regel gerade aus dieser Differenz-Erfahrung. Besonders eindrücklich ist dies bei der Idee des Naturschutzgedankens, der besondere Naturräume nicht einfach vor wirtschaftlicher Ausbeutung oder touristischer Überfrachtung schützen will, sondern als Gegenwelt zu den verzweckten Raumnutzungen der Moderne, wie die Geschichte der Naturschutzbewegung in Deutschland gezeigt hat. So liegt es nahe, auch in den hier markierten Räumlichkeiten im Kontext praktisch-theologischer Diskurse von einem fremden Ort, also einer

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schaften durchaus umstritten, ist es Schlögel wie kaum einem anderen seit 1989 gelungen, die epochalen Veränderungen Osteuropas in einer Beschreibung neuer Raumkonstellationen und Raumerfahrungen zu beschrieben. So stellt er fest: „Was geschieht, wenn wir Geschichte und Ort zusammendenken? Sie folgen alle der Fragestellung, die sich als roter Faden durch das Buch zieht: Was gewinnen wir an historischer Wahrnehmung und Einsicht, wenn wir Orte und Räume endlich (wieder) ernst nehmen?“ (Schlögel, Raume, 11). Vgl. Stückelberger, Raum, 139 ff. Waldenfels, Gänge, 179 ff. Ebd., 182. Ebd., 182 f. Waldenfels spricht von einem „verdichtetem Raum“ (dieser ordnet Gestalten, Dinge und Personen einander zu in der Einheit einer Physiognomie, eines Stils oder Kräftefeldes) und von einem „integralen Raum“ (verschiedene Raumerlebnisse und Raumauffassungen treffen sich); das wahrnehmende Subjekt ist also zugleich Zentrum dieser Raumerfahrung wie auch Gegenüber einer, so Waldenfels, „Überwältigung“ (Waldenfels, ebd., 187).

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Heterotopie zu sprechen.94 Bekanntlich geht der Begriff und die damit verbundenen Phänomene auf den Philosophen Michel Foucault zurück.95 Gleichsam in Vorwegnahme des späteren spatial turn hatte bereits Georg Simmel mit seinem Text Die Alpen96 sozial etablierte Wahrnehmungsmuster an Raum-Naturstrukturen gebunden. Auch Foucault war bereits früh an der Deutung des epistemologischen Raumes interessiert und deutete diesen als ein konzeptionelles Universum kollektiver Erfahrungskonzepte. Damit hat Foucault ähnlich wie MerleauPonty aus philosophischer Perspektive die naturwissenschaftliche Rede vom Raum als lediglich euklidische Perspektive unter anderen grundlegend hinterfragt. Die Interdependenz von Raum und kulturell geprägten Wahrnehmungsmustern führte ihn dann seit 196697 zu der genaueren Untersuchung derjenigen Räume, die innerhalb alltäglicher genutzter Räume durch ihre besondere Funktion einen eigenen Status des Anderen, des Fremden für sich beanspruchen können. Foucault hat dies etwa am Beispiel des Bordells, des Gymnasiums98 und des Friedhofs vorgeführt. Stets geht es ihm um Orte, die in ihrer spezifischen Andersartigkeit zu einem Korrektiv alltäglicher Ortserfahrungen werden können. So weist er nach, dass es sich hierbei um für eine soziale Gruppe verdichtete Orte handelt, „die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.“99 Für Foucault zeichnen nun Hetereotopien folgende Merkmale aus: Es sind Orte, die die Gesellschaft nutzt, um Menschen von ihrer „normalen Umwelt“ zu separieren (man denke an das Gefängnis oder den Friedhof) und sie weist diesen Orten bestimmte Funktionen zu.100 beides findet sich in dem Naturschutzraum um den Hohen Freschen wieder. Weiterhin stellt Foucault fest, Hetereotopien besäßen die Fähigkeit, mehrere Raumkonzepte zu verbinden und vollzögen einen Bruch mit der traditionellen Zeit und setzten ein System von gleichzeitiger Öffnung und Schließung voraus.101 Gerade der Gang durch 94 Die Rede von Heterotopien hat innerhalb kurzer Zeit starken Einfluss auf die Praktische Theologie gewonnen, im unmittelbaren Diskussionszusammenhang mit dieser Arbeit seien stellvertretend genannt: Grevel/Kretzschmar, Stadionkapellen, 99ff und Söderblom, Himmel, 182 ff. 95 Foucault, Heterotopien. 96 Simmel, Alpen, 134 ff. 97 Foucaults Beschäftigung mit dem Thema geht auf den 1966 entstandenen Beitrag La pens¦e du dehors („Das Denken des Draußen“) zurück und ist im Kontext seines Hauptwerks Die Ordnung der Dinge zu sehen. 98 Für Foucault ist das Gymnasium ursprünglich eine Krisenheterotopie, weil dort, zumindest in der Tradition des 19. Jahrhunderts, die mitunter gefährlichen Äußerungen erwachender männlicher Sexualität aus der Familie ausgelagert und an diesem Ort kanalisiert wurden, vgl. ders., Räumen, 320. 99 Foucault, Heterotopien, 10. 100 Vgl. ders., Räumen, 322 ff. 101 Ebd., 324 f.

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das Naturschutzgebiet zum Gipfel, die komplexe Raumnutzung unterhalb des Gipfels als Mischung aus Kapelle, Alpingarten und Schutzhütte, aber auch die Wahrnehmung eines anderen Zeitgefühls beim An- und Abstieg entsprechen diesen Strukturmerkmalen, von denen Foucault spricht. Schließlich ist der Grenzcharakter des Bergraumes offensichtlich: Ob durch Hinweistafeln, das markante Drehkreuz oder Wegmarkierungen: die Heterotopie „Berg“ ist verschlossen wie geöffnet. Freilich finden sich auch in anderen Naturräumen Merkmale des Hetereotopen. Das Meer ist der Urort des Anderen, der als dauerhafter Lebensraum dem Menschen ohne Hilfsmittel verschlossen bleibt und bis heute ein Ort der Gefahren bleibt. Sich an der Grenze zwischen dem Lebensraum und dem hetereotopen anderen Ort des Meeres, also am Ufer aufzuhalten, balanciert diese Erfahrung. Ob der Garten an sich bereits heterotope Züge trägt, ist im Sinne Foucaults nicht eindeutig. Wohl bewahrt er als Rekreationsort seinen Charakter als fremden Ort und markiert diesen mit Grenzen, aber er ist in seiner Struktur, das bewiesen die Kleingärten, ein Raum mitten in der modernen Welt. Normiert und den Ordnungen einer Kleingartengemeinschaft unterworfen, wird er im Regelfall nicht genügend fremd sein, um die Kraft des Hetereotopen zu entfalten. 2.5 Reflexionsperspektive Moderne Auffallend ist bei allen vier Erkundungsgängen sicherlich das Nebeneinander von Rationalität, Vernunft, Technik auf der einen Seite und Enklaven der Natur und ihrer Erfahrungswelten auf der anderen Seite. Zwar sind die Naturräume selbst das Produkt menschlicher Gestaltung, Erhaltung, Pflege und Inszenierung, wie der Blick aufs Meer oder am Wege zum Berggipfel belegen, aber dennoch erweist sich der Naturraum als Raum für religiös aufgeladene Erfahrungen, die sich stark von Erfahrungen in anderen Räumen unterscheiden. Dies wird vor allem deutlich in der Dichten Beschreibung des Übergangs zwischen Tal, Weg und Gipfel am Hohen Freschen. Dies wird deutlich bei der Gartenkunst der Grenze, die fremde Areale vom umzäunten Garten trennt, aber auch im Uferbereich der Flüsse und am Meer. Erleben und Kommunikation dieser Räume unterscheiden sich. Das Erleben trägt Züge des vormodernen Welterlebens, es klammert scheinbar die tradierte Trennung von Glaube und Vernunft, von Empirie und Metaphysik aus. Die Einträge im Gipfelbuch des Hohen Freschen sind nur möglich, weil sie genau hier, auf dem Gipfel vorgenommen werden. So sehr vormoderne Naturerfahrungswelt und technische Moderne voneinander getrennt sind, sie sind genau hier, in den naturräumlichen Erfahrungshorizonten nebeneinander sichtbar. Sie stehen eigenwilliger Weise aber auch unverbunden nebeneinander, wie der Gipfel und das Tal. Dieser Befund ist ein wertvoller Impuls für die Diagnosewerkzeuge der Moderne. Zweierlei ist nun im Anschluss an die vier Erkundungsgänge festhalten:

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Einerseits lässt sich zeigen, dass es im Erleben innerhalb eines naturräumlichen settings eine Dimension von Erfahrung und ihrer Kommunikation gibt, die mitten in einer modernen technisierten Welt eigen und faszinierend auf Menschen wirkt und als Einbruch des Fremden in die Lebenswelt zu dechiffrieren ist. Gerade, weil sich diese Erfahrungen des erstiegenen Berggipfels oder der Wasserfluten eines Flusses von Alltagslogiken unterscheidet und zutiefst leiblich erlebt wird, ist diese Besonderheit auch an den Grenzen zu Formen gelebter Religion zu würdigen. Andererseits aber sind diese Naturräume in ihrer Gestalt und Inszenierung eng auf Lebenserfahrungen bezogen, die der Verhaltens- und Handlungslogik in der Moderne entsprechen. Das zeigt sich in der Verlegung von Stromkabeln entlang des Gipfelweges zum Hohen Freschen, das belegen die habituell eingeübten Fotorituale beim Fotografieren eines Sonnenuntergangs entlang eines Uferstreifens, der Nacht für Nacht von überzähligem Seetang befreit wird. Beide Beobachtungen finden nun in der theoretischen Durchdringung des „Projekts der Moderne“ ihre völlige Entsprechung. Moderne als Epochenbegriff gründet sich auf die Grunderfahrung eines Verlustes von Einheit, Ganzheit und Sinn als selbstverständlichem Fluidum alltäglicher Weltwahrnehmung. Bereits in Schleiermachers Reden wird eine solche Verlusterfahrung im Kern vorausgesetzt, weil dem Erfahrungssubjekt ja nur momenthaft und flüchtig Erfahrungen dieser Art zugänglich werden können. Seinen klassischen Ausdruck hat die Theorie der Moderne bekanntlich in den Arbeiten Max Webers gefunden. Auf ihn geht die Vorstellung zurück, die moderne Welt (in Anlehnung an den modernen Kapitalismus) sei durch den Verlust einer objektiven Ordnung von Ganzheit, Einheit und Sinn geprägt und sei durch eine Ausdifferenzierung in mehrere Wertsphären je eigener Rationalität geprägt.102 Für Weber gelingt es dem einzelnen Subjekt nur mittels einer ästhetisch-expressiven Rationalität, anders als der wissenschaftlichtechnischen und einer metaphysisch-ethischen Rationalisierung, zu Selbstverwirklichung und individueller Sinnerfahrung zu gelangen. Von den handlungsbestimmenden Rationalitäten des Alltags aus der Öffentlichkeit verdrängt, ringen laut Weber ästhetische wie religiöse Erfahrung hier um Geltung: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Oeffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.“103

Weber beschreibt einen epochalen Prozess, der für das Feld des Religiösen große Bedeutung hat. Die Ordnungen der Rationalität schaffen Wertsphären, 102 Vgl. Weber, Ethik, 560 ff. 103 Ders., Wissenschaft, 612.

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Handlungslogiken und Kommunikationsformen, die beinahe alle Lebensbereiche völlig dominieren. Daneben gibt es nun Enklaven des anderen Lebens. Weber nennt sie das „hinterweltliche Reich mystischen Lebens“ und die „Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen“. Diese, zwischen Mystik und Erotik changierenden Lebensbereiche, bleiben bei Weber bewusst schillernd und sind nicht einfach deckungsgleich mit Religion oder Kunst. Vielmehr schaffen sie Differenzerfahrungen. Dort ist der moderne Mensch „kalter Skeletthände der rationalen Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltags.“104 Die Sehnsüchte nach Gipfelluft, Gartenfriede und Urlaubsglück lassen sich aber nun nicht einfach als solche Enklaven beschreiben, auch wenn es historisch gesehen bemerkenswert bleibt, dass die Sichtung der modernen Welt und ihrer Schattenseiten fast zeitgleich mit der realen Ausbildung des Naturschutzgedankens einhergeht.105 Die vielfältigen Transformationen des Religiösen und ihrer Formen gelebter Religion sprechen zudem gegen Webers Grundannahme einer völligen Entzauberung der Welt. Freilich bleibt nun Webers großes Verdienst, die Rationalität der Moderne und jene Bereiche des Lebens, die sich wie Kunst, Religion und, man ergänze eben, naturräumliche Erfahrungsdimensionen, nicht als ein Nacheinander ereignen oder gar ablösen, sondern aufeinander bezogen nebeneinander existierend zu denken.106 Dies trifft besonders auf die Beobachtungen zur Natur in der Moderne zu. Gerade im Hinblick auf die vielfältigen naturräumlichen Erfahrungen wird deutlich, dass die hier anzutreffenden Formen gelebter Religion nicht allein nach Form und Gestalt in die moderne Welt verwoben sind. Zugleich schaffen sie eine Gegenwelt, die auf die Ordnungen der Rationalität bezogen sind. Um dieses Nebeneinander analytisch fassen zu können, haben sich drei Formen der Kategorisierung ausgeprägt, um die Bedeutung jener Enklaven in der Moderne zu beschreiben, es sind Kompensation, Komplementarität und Korrespondenz.107 Die Kompensationsthese, wie in abgeschwächter Form auch die Rede von der Komplementarität, besagt, die im Sinne Webers ästhetischexpressive Rationalität und die ihr innewohnenden Enklaven der Lebenswelt kompensierten die Modernisierungsschäden einer durch und durch rationalen Welt und machten sie damit erträglich.108 Dies geschehe vor allem durch die Mittel der Kunst. Man kann hinzufügen, dass gerade diskursanalytisch sichtbar wird, dass in der Bewältigung latenter oder manifester Krisen wie der Naturkatastrophen genau diese Enklaven in der Kommunikation durch ihr Symbolsystem gerade im Kontext von Natur und Religion große, wenn auch in der Regel keineswegs manifeste Sinnpotentiale besitzen („Sintflut“). Und ge104 Ders., Ethik, 561. 105 Vgl. Schmoll, Erinnerung, 462 ff. 106 Es wäre entschieden zu einfach, von einer einlinigen Zwei-Reiche-Vorstellung auszugehen und alles Religiöse aus dieser Welt im Sinne von Joh 18,36 auszuklammern. 107 Vgl. die luzide Analyse von Klinger, Trost, 17 ff. 108 Vgl. Marquard, Unvermeidlichkeit, 98 ff.

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rade im Hinblick auf die Dimension leiblich gegründeter Erfahrungen in Naturräumen wird die Differenz zu einer zunehmend virtuellen und leiblosen Lebenspraxis der Moderne sichtbar. Eine wichtige Rolle übernehmen in diesem Zusammenhang die gesellschaftlich legitimierten Institutionen. Diese installieren, so Anthony Giddens, „Expertensysteme“, die auf Vertrauen beruhen, das man ihnen entgegenbringt.109 Dieses Vertrauen ist eng mit der Kontigenzerfahrung wie etwa der beschriebenen Elbeflut verknüpft, weil es in einer „entzauberten Welt“110 weiterhin Deutungssicherheit erhält. Indem sich die Krise technischen Expertenwissens kurzfristig auch als Vertrauenskrise in die Krisenlogik der Moderne insgesamt erweist, wird hiermit der Blick auf den Naturdiskurs der Moderne freigelegt.111 Die reale Naturkatastrophe vor der eigenen Haustür löst also plötzlich und unerwartet vormoderne Erfahrungswelten aus und lässt kurzfristig ein Nebeneinander beider Kommunikationskulturen entstehen. Nun folgt dieses Nebeneinander selbst einem modernetypischen Reflex, der die Entstehung des Subdiskurses und ihres Naturbildes zu verstehen hilft. Denn die Moderne kann als der Versuch gedeutet werden, Erfahrungen der Entgrenzung und Ortlosigkeit (man denke an die Phänomene Globalisierung und virtuelle Wirklichkeiten) mit Alltagserfahrungen von Raum und Zeit zu verbinden.112 So bewegen sich also moderne Erfahrungswelten in einer Dialektik von „Dislozierung und Rückbettung“113, was durch ein konkretes Bedrohungsszenario noch verstärkt wird. So lässt sich feststellen: Technischfunktionales Reden von Natur und poetisch-existentielles Nachempfinden stehen sich konträr gegenüber und schließen sich doch, eben auch eine Frucht der Moderne, nicht aus, sie sind vielmehr Beleg für eine vor allem diskursiv „eingespeiste“ Kompensationserfahrung. Denn moderne Krisenerfahrungen führen zwangsläufig zu Anpassungsreaktionen, die zwischen Expertenwissen und individueller Aneignung wechseln.114 Der Subdiskurs ist also Ausdruck für einen Grenzstreit zwischen offizieller Religion, gelebter Religion des Alltags und ästhetisch-expressiver Rationalität als Poetisierung der Krise. Im Augenblick der ungelösten Krise geraten Konzepte fragmentiert-momenthafter Ganzheitsheiterfahrung aneinander, die sich also sowohl aus ästhetischer wie auch aus religiöser Erfahrung speisen

109 Giddens, Konsequenzen, 34. 110 So Webers berühmte Formel für die Moderne, vgl. ders., Wissenschaft, 510. 111 So unterscheidet Giddens die Vertrauens- und Risikoumwelten in vormoderne und moderne Kulturen gerade auch hinsichtlich ihres Umgangs mit Naturkatastrophen. Geht eine konkrete und existentielle Gefahr für eine vormoderne Gesellschaft auch von der Natur aus, so steht dem die Bedrohung durch die „Reflexivität der Moderne“ selbst entgegen, vgl. Giddens, Konsequenzen, 127 f. 112 Ebd., 174. 113 Ebd., 175. 114 Vgl. auch Lehmann, Landschaftsbewusstsein, 150.

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und den Naturvorgang im Kontext eigenen Wissens und Deutens neu bebildern.115 Insgesamt wird man die Kompensationsthese aber vor dem Hintergrund aller vier Erkundungsgänge für naturräumliche Erfahrungen der Gegenwart letztlich doch zurück- weisen müssen.116 Vielmehr ist gerade im Sinne Höhns zu fragen, ob der kompensatorische Gestus in diesen Formen gelebter Religion nicht unter den Ideologieverdacht fällt oder gar affirmative Züge trägt, wie etwa in der Kultur der Kleingartensiedlung. Wird hier z. B. nicht das kleine Glück zelebriert, welches Naturräume soweit entkernt, dass diese gerade im Sinn einer modernen Handlungslogik (man denke an die Kleingartenordnung) überhaupt erst handhabbar werden?117 Gehen wir weiter : Wie sieht es nun mit der Annahme einer Korrespondenz zwischen den Ordnungen der Rationalität und jenen Enklaven ästhetischexpressiver Rationalität aus?118 In diesem Fall lässt sich beobachten, dass modernespezifische Strukturen und Prozesse ihre Entsprechung in diesen „Gegenwelten“ finden. Für diese Vermutung spricht natürlich selbst der Wandlungsprozess von Formen gelebter Religion, ja überhaupt die Ausbildung einer solchen Vorstellung gegenüber einer festen Dogmatik. Freilich ist auch hier Vorsicht geboten. In der Praxis erwiesen sich die Erkundungsgänge als so heterogen, dass eine einfache Korrespondenz sicher nicht zutrifft. Natürlich ist der Unterschied zwischen frühneuzeitlichen Bergwanderern und dem Moutainbikefahrer, der den Gipfel des Hohen Freschen hinaufhetzt, evident und zeigt, wie sehr sich Erfahrungszusammenhänge zwischen Leistungsgesellschaft und Naturerleben angeglichen haben. Aber der epiphane Charakter vieler dieser Erfahrungen bleibt eben doch ohne Beziehung. Seine Entsprechung findet dieses Nebeneinander von Rationalität und religiös aufgeladener Erfahrung im Naturraum nun viel eher als in dem Theo115 Noch ein weiterer Sachverhalt liegt wohl in der Perspektivik moderner Wirklichkeitsdeutung verborgen. Wie wir sahen, generierte der Subdiskurs nicht automatisch einen nur religiös aufgeladenen Bedeutungshintergrund, was bei der Analyse der institutionell verankerten Diskursteilnehmer naheliegen würde. Stattdessen lässt sich Folgendes vermuten: Die wissenschaftlich-technische Wertsphäre einer modernen Gesellschaft gerät durch die Flutkatastrophe kurzzeitig in eine Legitimationskrise. Das verschafft anderen Handlungslogiken kurzzeitig höhere Geltung. Von den handlungsbestimmenden Rationalitäten des Alltags aus der Öffentlichkeit verdrängt, ringen laut Weber ästhetische wie religiöse Erfahrung um Geltung. Zum spannungsreichen Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung vgl. Grevel, Predigt, 189 ff. 116 Eine Apologie der Kompensationsthese hat noch einmal Heidbrink, Kulturkritik, 190ff versucht. Heidbrink ist allerdings Recht zu geben, wenn er gerade in der zweckfreien Wahrnehmung (vgl. ebd., 204) der Natur die besondere Wirksamkeit dieser Gegenwelt zu erkennen meint. 117 So erweist sich die zweifelsohne legitime Umweltschutzbewegung bei näherem Hinsehen als ein Ausdruck dieser Kompensationsthese. Die Gründe für ein unbedingtes Eintreten für Umwelt- und Naturschutz liegen hier erkennbar in der Kontrastierung einer schattenhaften Moderne, vgl. Theobald, Mythos, 27 ff. 118 Vgl. Klinger, Trost, 33 ff.

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rierahmen Max Webers in der aus der Ethnologie entlehnten Denkfigur der bricolage, die auf den Ethnologen und Philosophen Claude Levi-Strauss zurückgeht. Dieser untersuchte die Kultur sog. Primitiver Völker und schlussfolgerte aus seinen Beobachtungen, dass die Vorstellung einer Unterordnung und eines Entwicklungsprinzips vom mythischen Denken zum rationalen Denken nicht haltbar sei. Vielmehr sei gerade in modernen Gesellschaften ein Nebeneinander von moderner und archaischer Welt präsent. Beides zu vermitteln, ist Ausdruck des „wilden Denkens“, und eben der bricolage.119 LeviStrauss geht es um eine Rehabilitierung des wilden Denkens als Modell für ein dauerhaftes Nebeneinander dieser Sphären, die ebenfalls typisch sind für Technik und Natur. In der Rezeption dieser Gedankenfigur von Levi-Strauss hat man dieses Nebeneinander nicht nur im Denken verortet, sondern auch in gesellschaftlichen Wertsphären, Vergemeinschaftungsformen, sowie Orten und Materialien.120 Hierfür finden sich in den empirischen Analysen viele Entsprechungen. Da ist das Aufklärungsflugzeug, dass einen Blick von Oben auf die Elbeflut eröffnet, da ist das Foto vom Meer, dass eine unmittelbare Erfahrung technisch präsent halten will, da sind ausgewiesene Naturschutzzonen, die Kommunikation und Konsum des Alltagslebens unterlaufen. Nun belegen die empirischen Erkundungen in diversen Naturräumen nicht allein das merk-würdige Nebeneinander von divergierenden Rationalitäten, sondern zeigen, wie beide Sphären tatsächlich spannungsvoll aufeinander bezogen werden. Das Foto vom Meer ist in die sozialen Gesten der Kommunikation von Urlaubserinnerungen eingewoben. Die Fotoprodukte entsprechen dem Habitus dieser gesellschaftlichen Übereinkunft, Arbeit und Freizeit innerhalb eines Jahres durch Ortswechsel zu trennen. Zum Alltag einer arbeitsteiligen Gesellschaft gehört die verbindliche Festlegung dieses Rhythmus. Insofern haben die Urlaubsfotos vom Meer Anteil an dieser Form sozialen Lebens, Zeiten im Jahr auszuweisen, die in Kontrast zu den sonstigen Alltagserfahrungen stehen. Der Urlaub ist also ohne den Alltag nicht denkbar, naturräumliche Erfahrungen und ihre im Foto präsent gehaltene Erinnerung erfüllen die Notwendigkeit, den Alltag lebbar zu machen. So erweist sich das Nebeneinander von technisiertem Alltag und Naturerfahrung im Urlaub als ständige bricolage.

119 Claude Levi-Strauss verwendet diesen Ausdruck zuerst in seinem epochemachende Werk „La pens¦e sauvage von 1962. Vgl. ders., Denken, 29 ff. Levi-Strauss entfaltet diesen Begriff an der Gegenüberstellung von Bastler und Ingenieur. Ein Bastler, ein bricoleur, so Levi-Strauss, bleibt hinter dem zurück, was der Stand seiner Kultur in der modernen Welt eigentlich ermöglicht. Er ist begrenzt in der Wahl seines Werkzeugs, in der Bereitschaft, unvermutet auftauchende Veränderungen in seinen ursprünglichen Plan zu integrieren und er ist bereit, eine unter den Gesichtspunkten von Effizienz und Rationalität gewählte Problemlösung zu wählen, die freiwillig Verzicht übt. 120 Vgl. dazu Kauppert/Funcke, Bild, 15 ff.

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3. Das Naturthema im Dialog 3.1 Kirche und Naturerfahrung Es ist offensichtlich, dass Kirche „Natur entdeckt“. Hinter dieser Einsicht verbirgt sich die evidente Summe zahlloser Beobachtungen, dass besonders die evangelische Kirche in den letzten zwanzig Jahren verstärkt auf die Integration naturräumlicher Erfahrungen in ihr Aktionsspektrum setzt.121 Mit dieser Formulierung wird deutlich, dass es gegenwärtig den Kirchen sehr wohl gelingt, auf den allgemeinen Trend zur Naturerfahrung als Reflex zum Alltagsnaturverlust mit einer Vielzahl von kirchlichen Angeboten zu reagieren. So finden, wie beschrieben, Taufen in Flüssen, am Meeresufer oder im Bergsee statt, da werden Wanderungen zu Exerzitien einer neuen Spiritualität ausgerufen122 oder Krippenspiele ins Freie verlegt. Gottesdienste im Grünen finden Zulauf, selbst Friedwälder werden zaghaft in christliche Bestattungskonzepte aufgenommen. Nun geht es bei all diesen Formen weder darum, im Rahmen dieser Studie ihren Erfolg wahlweise zu bestreiten oder zu legitimieren. Ebenso wenig kann es hier darum gehen, Rezepte für weitere Erfolgsgeschichten auszustellen. Und ebenso sollte der bisherige Untersuchungsgang gezeigt haben, dass dies weniger aus strategischen, sondern aus grundsätzlich theologischen Gründen unangemessen wäre. Denn so gut gemeint kirchliches Handeln im Zeitalter von ökologischer Krise und Lebensweltverlust naturräumliches Handeln sein könnte, so wenig wäre dies theologisch sui generis legitimierbar. Eine Praktische Theologie der Natur hat nun vielmehr den Anspruch, kategorial nach der Integration naturräumlicher Erfahrungen in kirchliche Praxis zu fragen. Es geht also darum, nach den Kriterien zu fragen, die für eine Beurteilung angelegt werden können, um ein entsprechendes Projekt oder Handlungsfeld kritisch zu begleiten. Diese Kriterien können dann zu einer Gestalt von Praktischen Theologie der Naturerfahrung führen. Welches Verstandnis von Praxis ist dabei leitend, welchen Eigenwert erhält naturräumliche Erfahrung? Und mit welchen Zielen wird die naturräumliche Erfahrung innerhalb eines kirchlichen Angebots initiiert? Es geht also um Kategorien der Reflexion. Hinreichend deutlich ist im Gang der gesamten Untersuchung geworden, wie anspruchsvoll und zeitintensiv das Programm einer Praktischen Theologie ist, die der „Wut des Verstehens“ eine „Kunst der Wahrnehmung“ entgegensetzt. Die Schulung der Wahrnehmung ist zuletzt zu Recht als eine pastorale Grundkompetenz hervorgehoben worden.123 Auch wird sie mitt121 Vgl. Ev. Arbeitskreis Freizeit, Leben. 122 Vgl. Hack, Impulse. 123 So Söderblom, Erträge, 319 ff.

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Das Naturthema im Dialog

lerweile als Schlüsselklassifikation in der Ausbildung zum Pfarramt gewertet. Dabei wird freilich oft übersehen, wie sehr kulturelle Codierungen und Traditionsmuster zu blinden Flecken und Verschiebungen führen, gerade im Bereich der Wahrnehmung von naturräumlichen Erfahrungen.124 Natur im kirchlichen Kontext wahrzunehmen steht also vor der Herausforderung, Alltagserfahrungen von Natur wahrzunehmen und sich dabei ihrer nicht selten vorfindlichen Vorsprachlichkeit überhaupt erst einmal bewusst zu werden. Nur so können wertvolle Beziehungen zu pastoralen Handlungsformen hergestellt werden. Warum soll Seelsorge fast ausschließlich dem Raumsetting der Psychotherapie folgend, in geschlossenen Räumen stattfinden? Welche Bedeutung bekommen Psalmengebete vor dem Hintergrund ihrer naturräumlichen Haftung im Gottesdienst? Und welche Bedeutung haben leibzentrierte Erfahrungen für religionspädagogisch initiierte Lernprozesse? Schließlich steht die Wahrnehmung von naturräumlichen Erfahrungen noch immer innerkirchlich unter einem generellen Ideologieverdacht. Dieses Erbe gilt es nicht abzuschütteln, sondern reflektiert weiterzuführen.125 Einen Gottesdienst im Grünen angemessen reflektiert vorzubereiten, heißt also im pastoralen Handeln wahrzunehmen, wo genau man diesen Gottesdienst feiert, welcher Naturraum welche Erfahrungskonnotationen aufweist und worin sich das kirchliche Handeln von dem unterscheidet, was an anderen Orten stattfindet. Das hat sicherlich am eindrücklichsten der Vergleich der beiden Fürbittbücher in Laterns und auf dem Hohen Freschen gezeigt. Wahrnehmen im Kontext kirchlicher Aktionsformen heißt daher zunächst Verlangsamung, schräger Blick und Würdigung der Ränder und Oberflächen gegenwärtiger Alltagswelten. Von drei grundsätzlichen Strukturen, so zeigten die Untersuchungsgänge, ist jede dieser Wahrnehmungen bestimmt: der Leiblichkeit des Wahrnehmenden, der Räumlichkeit, in der dies geschieht und der Vorsprachlichkeit des Wahrgenommenen. Alle drei Momente strukturieren Wahrnehmung in gründender Weise. Kirchliche Aktionsinteressenten sollten sich allein deshalb schon deshalb hüten, Erfolgsmodelle zu suchen, die Ziele wie Gemeindewachstum, Mission oder neue Formen von Verkündigung garantieren. Ebenso wenig sollten sie freilich der Vorstellung erliegen, bestehende Modelle (wie einen Taufgottesdienst) einfach in andere Räume (Uferkante des Meeres) zu übertragen. Vielmehr, so zeigt die Erfahrung, drängen Modelle von „Kirche in Natur“ fast automatisch ins Feld und sollten angemessen wahrgenommen und bewertet werden können. Parameter sind natürlich in der Praxis Erfolg oder Misserfolg, ebenso die Reflexion darüber, wo Widersprüche zu Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens erkennbar 124 Schon Friedrich Niebergall stellte zu recht fest, es sei keineswegs so, dass eine vertiefte Wahrnehmung von Natur dort gelinge, wo naturräumliche Erfahrungen wie im ländlichen Raum, stärker teil von Alltag und Erwerbsleben sind, das Gegenteil dürfte angesichts zunehmender Verzweckung von Natur der Fall sein, vgl. ders. Theologie, 157 f. 125 Herlyn, Vogelscheuchen, 44 f.

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Kirche und Naturerfahrung

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werden und wie diese bewertet werden. Dieser Reflexionsprozess soll nun an einem anschaulichen Beispiel mit dem Ziel vorgeführt werden, zu zeigen, welche Kriterien eine Praktische Theologie der Naturerfahrung dazu bereithält. Es geht um den Einbau bzw. die Nutzung von transparenten Glasflächen in Kirchen, um damit im Kirchenraum naturräumliche Erfahrungen zu ermöglichen. In einem Gastbeitrag für die Mecklenburgisch-Pommersche Kirchenzeitung sprach sich der Bildhauer Walter Green 2005 vehement für die Zurückdrängung von Altarretabeln zugunsten eines freien Blicks der Gemeinde auf das Licht aus, das so durch die Fenster hinter dem Altar einer Kirche durchscheinen könne.126 Green hebt hervor, dass die Ostung einer Kirche gerade für die Ermöglichung der Erfahrung spricht, das Morgenlicht des Ostertages zu sehen und weist darauf hin, dass Altarretabeln die viel älteren Fenster an dieser Stelle seit der Reformation zunehmend verdeckten. Er schließt mit dem Aufruf: „Sollte je ein Kirchgemeinderat oder ein Kirchenbauamt die Courage haben, den einen oder anderen fragwürdigen Altaraufsatz an den Haken zu nehmen und an die Seite zu rücken? Der Altar ist sakraler Bestandteil eines Gotteshauses, der Altaraufsatz tut nur so. Ich will endlich meine Erleuchtung.“127 Es geht in diesem Beispiel um etwas sehr elementares, nämlich um die Frage, wie notwenig bzw. wie angemessen der Blick aus dem Gottesdienstraum hinaus und das Licht, das in den Gottesdienstraum hinein scheint, ist. Dahinter verbirgt sich natürlich der Konflikt über die Rolle der Natur für den Glauben. Versperrt die dogmatische Tradition einen unmittelbaren Erfahrungshorizont oder ist jede Form naturräumlicher Erfahrung in sakralen Räumen immer nur gebrochen und momenthaft vorstellbar? In den frühen Zeugnissen abendländischer Kirchbaukunst sind „Osterlichtfenster“ selbstverständlich, auch wenn sie baubedingt oft nur so klein ausfielen, dass sie tatsächlich nur Lichteinfall ermöglichten und keine Wahrnehmung des „Außen“. Bezogen auf das Thema dieser Untersuchung kann man die Positionen, die der Künstler hier zur Wahl stellt, so beschreiben: hier eine kirchenamtlich reputierte Bebilderung des christlichen Glaubens, auf die der Blick der Gemeinde gelenkt werden soll, dort der Blick nach außen, in eine vom Kirchenraum unterschiedene Welt, die Gegenbild oder Illustration des Glaubens sein kann. Man versteht die Emphase von Green vor allem dann, wenn man seinen „Zwischenruf“ im Kontext der neueren Kirchbaubewegung seit den 1950er Jahren sieht und vor allem, wie diese mit der Frage umging, welche Rolle der freie Blick auf einen Naturraum für den Bau einer Kirche überhaupt spielen kann. Während es also Green vor allem um den Einfall des Lichts geht und der Blick nach „Draußen“ für alle möglichen Formen des Umweltbezugs von Kirche und Gottesdienst stehen kann, radikalisiert sich die 126 Green, Umgang, 7. 127 Ebd., 7.

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Das Naturthema im Dialog

Frage nach Kirche und Natur im Rückblick zuerst bei dem epochalen Kirchenbau der finnischen Architekten Kaija und Heikki Siren, die 1957 eine Kapelle auf dem Hochschulcampus Otaniemi in Helsinki schufen.128 Erbaut inmitten einer bewaldeten Halbinsel, öffnet sich der schlichte Sakralraum an seiner östlichen Altarseite durch eine Glasfront vollständig zum Wald hin. Wer in der Kirchenbank Platz nimmt, der nimmt vor dem mitunter lichtdurchfluteten Fenster nur schemenhaft Altar und Lesepult wahr und sieht in den Ausschnitt eines Waldstückes. Besondere Aufmerksamkeit erregt diese Konzeption zudem dadurch, dass sich das Kreuz hinter dem Altar nicht innerhalb des Sakralraumes befindet, sondern außerhalb, auf einer Lichtung zwischen Kirche und Wald. Die architektonische Grundidee der Kapelle von Otaniemi wurde innerhalb weniger Jahre in Deutschland mehrfach aufgegriffen.129 Lässt man einmal den zentralen Architekturdiskurs über das „Transparente am Bau“ außer acht, so verdichtet sich das Konzept auf die Frage nach der Funktion des Landschaftsausschnitts im Sakralraum, wenn er mehr sein will als die Erinnerung an ein „Außen“, in das der Gottesdienst die Gemeinde führen will. Als Teil des Sakralraums hinter dem Altar beansprucht dieser Blick wohl auch in Otaniemi sicher mehr : „Die meisterhafte Wesentlichkeit und die Transparenz der Architektur geben der Natur ihre Aufgabe wieder, das Heilige zu zeigen.“130 – Das festzustellen oder zu bestreiten, ist freilich nun der Kern der Diskussion. Man könnte nun die damit verbundene theologische Position, die sich ja bei jeder dieser Kirchenbauten zeigt, als entweder hoffnungslos naturmystisch bezeichnen131 oder aber umgekehrt den Welt- und damit auch Naturbezug der 128 Vgl. Schwebel, Scheu, 216. Dort finden sich auch Fotos der Kirche. 129 Zu den wichtigsten Bauten gehört die Kirche zur Heimat in Berlin-Zehlendorf, 1957 erbaut von Peter Lehrecke und Carlfried Mutschlers Pfingstbergkirche in Mannheim-Rheinau von 1962. 130 Diese Worte stammen aus der Begründung des Preiskomitees zur Verleihung des Internationalen Gartenpreises Carlo Scarpa 2009 für die Kapelle von Otaniemi, zit. nach http://www. floornature.de/architekturpanorama-neuheiten/news-die-20-ausgabe-des-internationalengartenpreises-geht-an-die-kapelle-von-otaniemi-helsinki-1545/#.U MC6tBjrhL8 (eingesehen 10. 11. 2012). 131 Die Kritik an jener Naturmystik ist vor allem dann produktiv, wenn sie sich aus religiösen Quellen selbst speist wie bei dem jüdischen Religionsphilosophen Emmanuel L¦vinas. Dieser sieht die Sehnsucht nach dem Heiligen, das durch diese Welt hindurch scheint, als einen Reflex, um, im Sinne Heideggers, den Verlust von Unmittelbarkeit in einer modernen, technisierten Welt zu kompensieren. Vgl. ders., Heidegger, 173 ff. Dass der Mensch, so L¦vinas, sich „der Faszination der Natur, den majestätisch hingelagerten Bergen öffne[…]“, dass er meint, „das Sein des Realen selbst würde sich hinter diesen priviligierten Erfahrungen zeigen“ (ebd. 174), das ist für L¦vinas lediglich Magie des Ortes: „Da haben wir sie also, die ewige Verführung des Heidentums, jenseits der Infantilität, des seit langem überwundenen Götzendiensts. Das Heilige, das durch die Welt hindurchscheint.“ (ebd., 175). Stattdessen sieht L¦vinas in der Natur nur die Summe der Voraussetzungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, der Mensch, so könnte man L¦vinas im Sinne Heinrich Heine interpretieren, findet in der Natur keine sehnsüchtig erwartete Heimat, weil er im Wort sein portatives Vaterland mit sich führt. In

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Kirche und Naturerfahrung

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Kirche feiern. Beides wird dem Sachverhalt aber noch nicht gerecht. Fragt man nämlich nach Kriterien einer angemessenen Urteilsfindung, so ist sicherlich zentral, einen solchen Bau überhaupt erst einmal vertieft wahrzunehmen, also etwa im Spiegel der Jahreszeiten, unter wechselndem Licht und im liturgischen Gebrauch und bei möglichen Beeinträchtigungen. Und dann zeigt sich auch, wie evident die Grundstrukturen von Leiblichkeit, Räumlichkeit und Vorsprachlichkeit hier wirken. Wir hatten gesehen, dass es die reine Natur nicht gibt, ja gar nicht geben kann, weil sie Konstrukt kulturell codierter Erfahrungsmuster und „innerer“ Erfahrungsbilder ist. Zugleich hielten wir fest, wie eng die eigene Leiblichkeit mit der naturräumlichen Erfahrung verbunden ist. Beides scheint bei diesem Kirchentyp zunächst einmal außer Kraft gesetzt. Aber schon in der Bühnenhaftigkeit des sichtbaren Naturausschnitts wird der konstruktive Charakter manifest. Es geht also nicht um eine naturräumliche Erfahrung an sich, sondern um den gelenkten Blick, der mehr innere als äußere Bilder wachruft. Man denke an die Bildtraditionen, wie sie in den Urlaubsfotos vom Meer sichtbar wurden und die romantische Zitate enthalten. So bleibt auch festzuhalten, dass diese „Bühne Landschaft“ dem Betrachter letztlich entzogen bleibt, sie ist nämlich als menschenleere Landschaft angelegt. Keine Spuren menschlicher Nutzung sollen sichtbar werden. Man kann sicher so weit gehen, hierin einen modernetypischen Sehnsuchtsreflex zu sehen. Die Kapelle von Otaniemi schafft nun mit der Glasfront zum Wald hin auch eine außergewöhnliche Grenze zwischen Kircheninnerem und Kirchenaußen. Sie wird zum Zwischenraum. Welche Bedeutung dies hat, wurde vor allem in den Traditionen der Gartengrenzen deutlich. Grenzen markieren ein Gebiet, aber definieren vor allem seinen Status des „Dazwischen“. Insofern gibt diese Glasgrenze die Möglichkeit, die Grenze zwischen Kirche und Welt beispielhaft zu erfahren und zu hinterfragen. Aber wie gelenkt ist diese Erfahrung von Wirklichkeit? Zudem wird damit die Qualität der Heterotopie, also des fremden Raums, fraglich. Wo bleibt die Kapelle noch fremder Ort, der seiner Umgebung Impulse verleihen kann? Und wo bleibt die Möglichkeit, den Blick auf die Bäume des Waldes von Otaniemi auch einmal aufzugeben, weil der Blick nach innen gehen soll, gleichsam an der Innenwand der Kirche gebrochen und reflektiert werden soll? Schließlich „predigt“ der Wald von Otaniemi stumm. Die Blicke der Gottesdienstbesucher bleiben nicht an den Lauten der Vögel und dem Rauschen der Blätter haften. Ist diese Einschränkung zulässig? Und ist umgekehrt die stumme Botschaft dieses Bühnenbildes nicht dazu gehalten, jede Versprachlichung dieses Eindrucks auszuschließen? Hier spielt eine zentrale Rolle, in welches Wechselspiel die Worte treten, die in diesem Raum hörbar sind: der Lobgesang aus Psalm 104, ein Lied zum Erntedank oder ein Gebet anlässlich dieser Radikalität hat das Christentum dieses Naturverständnis des Judentums nicht übernommen.

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Das Naturthema im Dialog

einer Naturkatastrophe. Dann nämlich treten beide als Texte ihrer selbst in eine Beziehung der Transtextualität und legen sich gegenseitig aus. So gesehen wird also die Nutzung des Raumes, das Ineinander von Sprache und Sprachlosigkeit über die Frage nach der Angemessenheit seiner Glasfront mitentscheiden.132 3.2. Im Dialog mit Gegenwartskunst Eine so reflektierende Praktische Theologie, die mit den Leitbegriffen Lebenswelt, Religion und Leiblichkeit ihren Beitrag zu einer diagnostischen Kultur der Moderne im Wahrnehmen von Natur erweist, kann zum Dialogpartner jener werden, die gegenwärtige Naturerfahrungen jenseits der Ordnungen von Rationalität verorten und dabei doch Teil der Moderne, ihrer Kommunikationsformen und Mediennutzung bleiben. In Reaktion auf die Virtualisierung des Alltags ebenso wie in Abgrenzung zu den Verzweckungen von Naturräumen in Ökonomie und Politik erwächst nun, wie schon erwähnt, weniger die Naturwissenschaft als vielmehr die Naturästhetik zum wichtigen Gesprächspartner einer solchen Theologie der Natur. Damit leistet eine solche Praktische Theologie auch für die Kirche einen wertvollen Beitrag zur Verständigung mit den Formen der Kultur der Gegenwart auf dem gemeinsamen Feld der Natur.133 Poetische „Anverwandlungen“ ästhetischer Naturerfahrung erschließen dabei zuerst allerdings und vor allem die Kunst der „verlangsamten Wahrnehmung“. Das ist in den konflikthaften Debatten um das Verhältnis zwischen Religion und Kunst oft übersehen worden. Freilich besteht der Beitrag einer solchen Praktischen Theologie im Dialog mit Kunst und Kultur nicht allein darin, eine vertiefte 132 Besonders überzeugend wirkt in diesem Zusammenhang der 2004 im Klinikum Bremen-Mitte geschaffene „Raum der Stille“ durch das Architektenbüro Ulrich Tegner und Thomas Grotz (vgl. http://www.architekttilgner.de/raum%20oder%20stille.htm). Der schlichte Raum wurde von der evangelischen und katholischen Kirche gemeinsam in Auftrag gegeben und entfaltet seine Wirkung vor allem durch fünf senkrechte Baumstämme, die weitgehend naturbelassen die ganze Höhe des Raumes durchmessen. Auch durch eine besondere Lichtregie kann anfangs der Raumeindruck eines Waldes entstehen. Religiöse Symbolsprache kann aber ebenfalls in dem Raum entdeckt werden, etwa durch ein im Bodenparkett eingelassenes Kreuz. 133 Vgl. etwa Erne, Formaufbau, 6 ff. Der am stärksten rezipierte Beitrag auf diesem Feld ist sicherlich weiterhin die EKD-Schrift „Gestaltung und Kritik von 1999, die die spätere Denkschrift „Räume der Begegnung“ von 2002 vorbereitete. In ihr heißt es programmatisch dazu: „Gestaltung und Kritik bestimmen zusammen das Verhältnis von Protestantismus und Kultur. Die Kirche ist deshalb zur kritischen Teilnahme an der kulturellen Entwicklung der eigenen Gegenwart verpflichtet. Wenn ihr das gelingt, leistet sie kulturelle Diakonie. Zu ihren Aufgaben gehört es aber ebenso, nach den kulturellen Ausdrucksformen zu suchen, ohne die der Glaube gar nicht Gestalt gewinnen kann. Denn nur wo der Glaube in überzeugender Form kulturell zum Ausdruck kommt, gelingt die Inkulturation des Christentums. Sie kann nicht auf überlieferte Ausdrucksformen beschränkt werden, sondern muß sich auf die kulturelle Sprache der Gegenwart einlassen und an deren Weiterentwicklung mitwirken.“ (Zit. n.: Kirchenamt der EKD, Gestaltung, 42).

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Im Dialog mit Gegenwartskunst

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Wahrnehmung von Natur und ihrer Räumlichkeit einzufordern, sondern auch in der Kommunikation über Formen gelebter Religion zwischen Lebenswelt und Leiblichkeit. Besonders eindrücklich dürfte dies wohl eher an den Rändern gegenwärtiger Kunstproduktion gelingen und eben dort, wo Wahrnehmung eine zentrale Rolle spielt. Weiterhin verbindet eine Praktische Theologie und Formen der Kunst das Interesse, Gegenwartsphänomene ideologiekritisch zu hinterfragen und zugleich ihren produktiven Beitrag für eine Kultur der Moderne zu würdigen. Schließlich verbindet beide die Wertschätzung randständiger, alltäglicher bzw. „stiller“ Ausdrucksformen des Religiösen inmitten von Naturräumen. Exemplarischen Rang können hier die neuere Naturlyrik, die Land Art und die Landschaftsfotografie für sich beanspruchen. Das soll ein kurzer Überblick abschließend und jeweils exemplarisch aufzeigen: Mit Land Art wird seit den 1960er Jahren eine Bewegung benannt, die in Abgrenzung zur Pop Art Kunst in Naturräumen inszeniert und in der Regel allein mit dort vorfindlichen Materialien arbeitet.134 Besondere Beachtung gilt hierbei den Formen und der Konsistenz der verwendeten „natürlichen“ Materialien.135 Land Art wurde in Europa besonders durch die Arbeiten Andy Goldworthys populär.136 Die Attraktivität von Land Art, welche mittlerweile sogar die Erlebnispädagogik erreicht hat137, hat sicher mit der ökologischen Wende zu tun, die den Eigenwert von Naturräumen und die Gefahr einer Zerstörung von Pflanzen seit den 1970er Jahren ins öffentliche Bewusstsein rückte. Freilich spielt bei dem Erfolg der Land Art auch die Krise musealer Kunstmarktkultur eine wichtige Rolle, ebenso wie die esoterische relecture alter Energietraditionen. Gerade hier, in der Wahrnehmung sonst unkenntlicher Energie in natürlichen Ausdrucksformen, gelingt es der Land Art, 134 In Europa spricht man gerne von Land Art, während in den USA in der Regel von Earth Works bzw. Earth Art gesprochen wird. Der Begriff Environmental Art konnte sich nicht durchsetzen. Inhaltliche Differenzen zeigen sich weniger an Begriffen als an den Konzepten einzelner Künstler und ihrer Gruppierungen, vgl. hierzu auch Ilschner, Zeiträume, 6. 135 Die Bildsprache der Land Art lenkt den Blick des Betrachters zurück auf das reine Objekt und schafft einen bis heute anhaltenden Prozess der fruchtbaren Interdependenz von Kunst, wie sie aus Museen vertraut ist und eröffnet Landschaftserfahrungen. Immer geht es um Verwandlungsprozesse, die offen sind für existentielle Erfahrungen der Kunst. 136 Der als umfassende Einführung in sein Werk geltende Band Andy Goldworthy (London 1990) erlebte seit seinem Erscheinen in Großbritanien allein bis 2008 22 Auflagen. Goldworthys Arbeiten belegen nicht nur die Kreativität seiner Kunstinstallationen im Raum, sondern dokumentieren durch seine Fotografien auch, wie sehr Land Art sich in den Prozess von Entstehung und Vergehen natürlicher Prozesse künstlerisch einschreibt. Gefrorene Eisblöcke schmilzen in der Wärme des Frühlings, Blätter werden vom Wind verweht, angelegte Farbfelder werden durch Regen ausgewaschen. Diese „Vergänglichkeit“ von Kunst ist bewusst gewollt, weil sie für Goldworthy gerade einen neuen Zugang zu den Prozessen von Natur ermöglicht. 137 Vgl. Güthler/Lacher, Naturwerkstatt; Danks, Spielplatz; Hecker/Hecker, Steine.

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Das Naturthema im Dialog

Grenzgängerin zwischen Kunst und Religion zu sein.138 Entscheidend bleibt bei allen Spielarten von Land Art der wichtige Ausdruck als ästhetischer Naturerfahrung von Rang. Wahrnehmungsgewinne werden bei der leibhaften Begehung von Naturräumen ebenso erzielt wie bei der vertieften Arbeit mit dem Material, aus dem diese Naturräume immer bereits gestaltet sind. Jedes Blatt, jeder Stein, jedes Blatt gewinnt dabei an Ausdruckskraft. Kaum einer anderen Kunstform gelingt dies gegenwärtig so virtuos wie der Land Art. Land Art schärft nicht allein die Wahrnehmung von Naturräumlichkeit. Sie thematisiert ebenso die Grenzen der Sprache inmitten einer dinghaft inszenierten Welt. Freilich modernetypisch, in dem die Inszenierung von Natur zwar einerseits die „archaischen“ Prozesse von Werden und Vergehen sichtbar macht, in der Kommunikation darüber aber zutiefst modern, weil technisch operiert. Schließlich bewahrt die Land Art ein spannungsreiches Verhältnis zwischen dem Kunstwerk einer menschenlosen Natur und der oft kaschierten Herstellung des jeweiligen Produkts durch die leibliche Einwirkung des Künstlers selbst. Dort, wo Land Art die Sprachlosigkeit naturräumlichen Erlebens künstlerisch gestaltet, lotet die neuere deutschsprachige Naturlyrik gerade die Grenzen der Sagbarkeit aus und leistet einen wertvollen Beitrag für eine Praktischen Theologie der Natur, die sich ja ebenfalls Rechenschaft darüber geben muss, wie sie Natur nicht nur wahrnimmt, sondern dann überhaupt zur Sprache bringen kann.139 Seit der Jahrtausendwende lässt sich eine zunehmende, ganz sicher auch postökologische Rückbesinnung auf Natur im Gedicht feststellen, die sich von der politischen Naturlyrik der 1970er Jahre ebenso unterscheidet wie vom Sprachpurismus einer um Sagbarkeit ringenden Lyrik der 1990er Jahre.140

138 Vgl. Irschner, Zeiträume, 119 ff. Irschner zitiert auch Goldworthy mit den Worten: „Although it is often a practical and physical art, it is also an intensely spiritual affair that I have with nature: a relationship“ (Friedman/Goldworthy, Earth, 161 f). Direkte Anspielungen auf religiöse Symbolsysteme sind in der Land Art eher selten, ein besonders originelles Beispiel dürfte die Installation „Arca per apis selvatiche“ (Arche für Wildbienen) von Jeanette Zippel sein, die ein umgedrehtes Holzobjekt, das an ein umgedrehtes Boot erinnert, zum Aufenthaltsort für Bienen machte. Es befindet sich seit 1998 in der Land Art Sammelaustellung Arte Sella im norditalienischen Valsugana. 139 Vgl. Zum Verhältnis von Religion und moderner Literatur vgl. Grözinger/Mauz/Portmann, Religion. Auf die herausragende wie komplexe Bedeutung der Versprachlichung von Erfahrung für die Praktische Theologie machte als einer der ersten 1991 Albrecht Grözinger aufmerksam, vgl. ders., Sprache. 140 Ulrike Draesner, selbst Lyrikerin, stellte dazu fest: „Durch die poetische Landschaft 1995 lief fühlbar noch der Riss zwischen einer Avantgarde des Sprachexperimentes und einer Tradition eher narrativen Dichtens. Dank Osteinfluss und Generationenwechsel zerkrümelte er. […] Angesichts des allenthalben zu beobachtenden Griffes auf alte Formen und den Reim mag mancher denken „welch seltsame Rückwärtsbewegung vollzieht sich hier?” Doch, es handelt sich keineswegs um Nostalgie. Vielmehr um Verbindungsarbeit – das Aufgreifen verlorener Fäden, Bereicherung, Ausweitung. […] Ich sehe vor allem: Beugung hinab zu kleinen Dingen –

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Im Dialog mit Gegenwartskunst

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Zweifellos die wichtigste Stimme in diesem gegenwärtigen „NaturlyrikRelaunch“141 ist Marion Poschmann, deren Lyriksammlung Grund zu Schafen 2004142 besondere Beachtung fand. Poschmanns Gedichte sind Musterbeispiele für eine nüchterne, geerdete Perspektive auf Natur, zugleich aber für die Abgründe, über die diese Wahrnehmungsperspektive gespannt wird.143 Damit leistet sie nicht nur einen Beitrag für die Transformation von Natureindrücken in Kunst, sondern wird mit ihrer Lyrik insgesamt der Aufgabe gerecht, Gedichte als schärfende „Wahrnehmungsinstrumente“144 einzusetzen. Und dazu gehört dann bei Poschmann auch, dass diese geschärfte Wahrnehmung das verstörende Umschlagen einer scheinbar alltäglichen in eine außeralltägliche Welt erfahrbar macht.145 Zudem leuchten in Poschmanns Lyrik auch ideologiekritische Blickweisen auf den Konsum von Natur und deren Ökonomisierung auf. Besonderes Augenmerk verdient dabei Poschmanns Gedicht Cichorium intybus146 (Wegwarte), das im Rahmen eines Klosteraufenthaltes 2008 entstanden ist.147 Neben Poschmann ragt aus der gegenwärtig jungen Generation der Naturlyriker auch Jan Wagner heraus.148 Er unterläuft in seinen Gedichten gängige Wahrnehmungsmuster. Wagners Kunst der tiefgründigen Irritation einer oberflächlichen Betrachtung von Natur gleicht durchaus der Poschmanns. Poschmann wie Wagner (und sicher weitere Vertreter dieser Bewegung) helfen also der Praktischen Theologie nicht nur, die eigene Sprachfähigkeit zu hinterfragen

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und durch sie hindurch. Wahrnehmung, oft zart/fein, ins Detail. Übungen der Zugewandtheit.“ (Draesner, Gespräch, 37ff). Tricke, Schafe, 60 ff. Poschmann, 1969 geboren, veröffentlichte neben Gedichten in den letzten Jahren auch Romane, ihr erster Gedichtband, Verschlossene Kammern, erschien 2002. Beispielhaft ist dafür ihr Gedicht „kleines rasenstück“ (dies., Grund, 7). So Braun, Rasenstück, zit. nach http://www.lyrikwelt.de/hintergrund/poschmann-bericht-h. htm (eingesehen am 20. 09. 2010). Unter der Überschrift „Störbilder“ fasst sie in dem Band Geistersehen mehrere Gedichte zusammen und formuliert besonders in dem Gedicht Brückenheilige, überfließender Nepomuk ausgehend von einer Sinnesreizung, wie Vertrautes plötzlich fremd werden kann (vgl. dies., Geistersehen, 21). Poschmann, Geistersehen, 61. Poschmann verbrachte 2008 auf Einladung der Klosterkammer Hannover einige Wochen im Stift Fischbeck. Dort entstand eine intensive literarische Auseinandersetzung mit der klösterlichen Gartenkultur, besonders mit den Blumen, die Poschmann im Garten und im Umfeld des Stifts Fischbecks entdeckte, vgl. dies., Hortus, 117 ff. Wagner, 1971 geboren, debütierte 2001 mit dem vielbeachteten Gedichtband „Probebohrung im Himmel“ (2001), es folgte 2004 „Guerikes Sperling“ und „Achtzehn Pasteten“ (2007), später erschien u. a. „Australien“ (2010). Unter den vielfachen Auszeichnungen für das Werk Wagners gilt dem 2009 erstmalig verliehenen „Wilhelm Lehmann-Preis“, den Wagner im selben Jahr erhielt, besondere Beachtung, steht doch Wilhelm Lehmann für eine in den vierziger und fünfziger Jahren überaus einflussreiche Naturlyrik. Zu den wichtigsten naturlyrischen Beiträgen Lehmanns gehören sein Lyrikband „Der grüne Gott“ (1941) und sein naturessayistischer Tagebuchband „Bukolisches Tagebuch (1927 – 1932)“. Vgl. Pörksen, Naturwissen. Zur gegenwärtigen Wiederentdeckung Lehmanns vgl. Schacht, Gott, 257 – 261.

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und ihre Wahrnehmungsfähigkeit strukturell zu schärfen, sondern eröffnet Dialogräume für den Austausch von Kunst und Kirche. Neben Naturlyrik und Land Art ist nun als dritte Kunstform die neuere Landschaftsfotografie zu würdigen. Diese zum ernsthaften Dialogpartner zu erheben, ist schon deshalb naheliegend, weil ja in der Erkundung und Analyse von Formen gelebter Religion gerade die qualitative Bildanalyse von sog. Knipserfotografie sich als instruktives Instrument des methodischen Zugangs zum weiten Feld von Gegenwartsformen des Religiösen erwies. Gerade die Alltagsfotografie vom Meer zeigte vielfach die Faszination am Thema „Landschaft“, sowohl als Reflex eines jeweiligen Habitus wie als Reaktivierung ikonografischer Traditionen. Die Landschaftsfotografie, um die es als Kunstform geht, unterläuft nun planmäßig diese Muster von Wahrnehmung, Tradierung und Produktion. Gerade deshalb ist es wichtig, sie auch im kontrastiven Vergleich sichtbar zu machen. Betrachtet man die neueren Beiträge zur Natur- und Landschaftsfotografie so belegen sie alle, wie sehr die Fotografie als Gegenwartskunst inmitten rasanter technischer Veränderungen um die Grundfrage ihrer Medialität kreist und sich dauerhaft als Auseinandersetzung mit den Gestaltungsdimensionen von Präsenz und Abwesenheit beschäftigt.149 Vergleichbar mit den Dimensionen religiöser Erfahrung, zeigt sich gerade hier das Ringen um die Wirkung eines Fotos in der Dialektik von Nähe und Distanz150, Entzogenheit und Epiphanie151, Sichtbarsein und Unsichtbarsein. Neben den stark rezipierten Fotokünstlern von Weltrang, wie Thomas Struth oder Hiroshi Sugimoto sind es gerade jüngere Vertreter wie Simone Nieweg oder Beate Gütschow, die dies zum Angelpunkt ihrer Kunst machen.152 Pointiert könnte man dabei feststellen, dass die Dialoggewinne mit der Gegenwartsfotografie als Kunstform weniger auf der Ebene von Ikonografie und religiösem Symbolsystem liegen, sondern in der Naturfotografie gerade in der modernetypischen Thematisierung ihrer Voraussetzungen.153

4. Zusammenfassung: Acht Thesen für eine Praktische Theologie der Naturerfahrung Fassen wir nun zusammen, wie sich eine Praktische Theologie dem Phänomenbestand gelebter Religion in naturräumlichen Erfahrungshorizonten 149 Eine religiöse Dimension hat diese Grundfrage als Metapher offensichtlich, vgl. Stiegler, Bilder,155 ff.217 ff. 150 In dieser Dialektik ist die „Aura“ des Bildes angelegt, vgl. Tietjen, Entdeckungen, 8 – 11. 151 Vgl. Kröner, Blick, 28 u. a. im Hinblick auf den Fotokünstler Timm Ulrichs. 152 Vgl. Mayer, Landschaft, 35. 153 Vgl. Rauschenberger, Kreativitätspotential, 370 f.

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beschreiben und ausmessen lässt. Mit der vorliegenden Systematik werden nicht nur Phänomene beschrieben, sondern zugleich Impulse für eine Praktische Theologie der Gegenwart sichtbar. Sie leistet einen Beitrag für die Selbstverständigung der Praktischen Theologie, sie ist aber zugleich offen für die Vielfalt religionsproduktiver Formen gelebter Religion innerhalb wie außerhalb von kirchlicher Vergemeinschaftung. Die wichtigsten Ergebnisse werden in Form eines Gesprächsangebots daher als Thesen formuliert. These 1: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung widmet sich einem bislang fast völlig unterbelichteten Feld von gelebter Religion in ihren gegenwärtigen naturräumlichen Erfahrungen. Phänomene gelebter Religion sind in ihrer Vielfalt eine grundlegende Herausforderung gegenwärtiger Praktischer Theologie. Dabei fällt auf, dass diejenigen Phänomene, die sich in und durch naturräumliche Erfahrungen zeigen, bislang unterbelichtet blieben. Das hat zum Teil mit dem schwierigen Erbe einer natürlichen Theologie innerhalb des deutschen Protestantismus zu tun, aber auch mit der Gefahr eines problematischen Naturmystizismus. Freilich thematisieren diese Muster gelebter Religion in diesem Zusammenhang weder eine Gotteserkenntnis noch weisen sie Natur abstrakt eine überzeitliche Erfahrungsgröße zu. Umso wichtiger ist es, auch vor dem Hintergrund grundlegend krisenhafter Naturerfahrung gelebter Religion jene Erfahrungen dort in den Blick zu nehmen, wo naturräumliche Erfahrungen wahrzunehmen sind. These 2: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung trägt zu einer Verständigung über die Krisensignatur der Moderne bei. Gegenwärtige Naturerfahrungen sind fundamental von der Krisenhaftigkeit erfahrener Naturräume geprägt. Diese zeigen sich in der Zerstörung von Naturräumen, der Überformung durch menschliche Eingriffe, durch wirtschaftliche Interessen und kulturelle Praktiken. Die ökologische Krise geht einher mit einer Alltagswirklichkeit, in der naturräumliche Erfahrung zwar in den Deutungsmustern, Symbolsystemen und Traditionen präsent ist, aber zugunsten virtueller Erfahrungswelten zurückgedrängt wird. Diese Alltagswirklichkeit ist typisch für eine bricolage, in der beiden Dimensionen von naturräumlicher Erfahrung verbunden sind. Gerade dieser Sachverhalt ist typisch für den Grundgestus der Moderne zwischen Entzauberung und ausgeprägten Rationalitätsstrukturen einerseits und modernen Gegenwelten andererseits. Gerade an dem Zugleich beider Erfahrungsdimensionen lässt sich modernes Leben exemplarisch studieren. Praktische Theologie als Wissenschaft hat sich innerhalb dieser Krisenszenarien zu bewegen und dabei kritisch und im Horizont ihrer fachtypischen Voraussetzungen den binnentheologischen Diskurs darüber sprachfähig zu halten.

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These 3: Das Untersuchungsfeld einer Praktischen Theologie der Naturerfahrung steht unter besonderem methodologischen Legitimationszwang, weil naturräumliche Erfahrungen in der Regel vorsprachlicher Art sind. Die Vielfalt der naturräumlichen Erfahrungen zwingt eine Praktische Theologie der Naturerfahrung überdies dazu, eine Vielfalt von methodischen Zugängen zu wählen. Neben dem Themenfeld einer Praktischen Theologie der Naturerfahrung eignet sich das Naturthema beosnder gut dazu, Methodenfragen gegenwärtiger Praktischer Theologie zu bearbeiten. Eine empirische Theologie widmet sich dergestalt der Phänomene gelebter Religion, in dem sie Methoden einsetzt, die ihrem Gegenstand tatsächlich gerecht werden. In ihrer Flüchtigkeit und fehlenden Verbalisierungsmöglichkeit sind diese schwerer zu fassen als jene, denen Sprache, Mitteilung und Vergemeinschaftung eigen ist. Der plurale Zugang schlägt sich in der Wahl verschiedener Methoden nieder. Sie sind der Volkskunde, der qualitativen Sozialforschung und Diskursanalyse und Bildforschung entlehnt und stehen nicht immer spannungfrei nebeneinander. Dieser Methodenpluralismus erweist sich aber darin gerade als Stärke für eine empirische Praktische Theologie. These 4: Naturerfahrungen sind kulturell vermittelt und zugleich ohne je eigene Leibbezogenheit nicht möglich. Eine Praktische Theologie der Natur hat auf diese Dialektik theologisch hinzuarbeiten. In Angrenzung zu naturwissenschftlicher Forschung und Naturphilosophie thematisert eine Praktische Theologie der Naturerfahrung nicht nur die Erkenntnisvoraussetzungen ihrer eigenen Forschung, sondern spitzt sie in der Leibgebundenheit jeder naturräumlichen Erfahrung dergestalt zu, dass diese Leibgebundenheit Körperkonzepte der Gegenwart im Kontext des christlichen Menschenbildes hinterfragt. Wahrnehmung, Erfahrung und Deutungsgeschehen basieren auf der Einsicht in die kulturell-geschichtliche Vermittlung jeder Erkenntnis und sind doch zwingend auf die je eigene Leiblichkeit in ihrer Zeit bezogen. Leiblichkeit wird dabei zur „Schnittstelle“ zwischen erkennendem Ich und Naturraum, diese erinnern das erkennende Ich an die Verletzbarkeit und Begrenzung durch den Leib und bergen auch darin stets eine religiöse Dimension, weil sie an die biblische Rede der Inkarnation des (überzeitlichen) Logos ins Fleisch erinnern (Joh 1,1 – 4). These 5: Inmitten naturräumlicher Erfahrungen ist das Religionsthema präsent. Aufgrund tiefgreifender Transformationsprozesse müssen Phänomne gelebter Religion neu ausgemessen und methodisch reflektiert beschrieben werden. Die programmatische Rede von gelebter Religion setzt voraus, dass die Vielfalt religiöser Ausdrucksformen der Gegenwart ein Faktum ist, dass nicht mehr primär an der Norm kirchlicher Überlieferung gemessen wird, sondern der Praktischen Theologie die Aufgabe zuweist, gerade jene Wissenschaft zu sein,

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die das Ganze der Wirklichkeit hinsichtlich ihrer religiösen Erscheinungsformen und Verbalisierungen thematisiert und zu deuten versucht. Dabei geschieht die Auswahl und Form der Beschreibung nicht willkürlich oder undifferenziert, sondern methodisch hoch reflektiert. Dies ist freilich ein Dauerproblem Praktischer Theologie, weil gerade jene Phänomene gelebter Religion in ihrer Vorsprachlichkeit, Flüchtigkeit oder Leibbezogenheit besonders schwierig zu beschreiben sind. In der Auswahl der Phänomene und ihrer Beziehung zu Dokumenten der Alltagswelt scheint daher religiöse Erfahrung oftmals nur durch. Aber genau darin erweist sich Praktische Theologie als empirische Wissenschaft. These 6: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung leistet einen wichtigen Beitrag zu einer Selbstverständigung der Theologie als Wissenschaft, wenn sie über ihren Gegenstand, die Versprachlichung von Erfahrungen und ihr Verhältnis zur Lebenswelt nachdenkt. Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung ist aus zwei Gründen besonders an einer Wahrnehmung von Lebenswelt interessiert. Sie will damit ihrem Selbstverständnis nach eher die Voraussetzungen religiöser Gestalt wahrnehmen, als zur Gestaltung selbst anzuleiten. Sie thematisert in ihrer je eigenen Reflexion der Formen gelebter Religion gerade jene Formen, die in das Alltägliche verwoben sind und zugleich über sie hinausreichen, indem sie Fragmentarisches sichtbar machen, Momenthaftes zu beschreiben versuchen oder Fremdheitserfahrungen in Beziehung setzen. Praktische Theologie erweist sich darin als theologisch hoch reflektierte empirische Wissenschaft. Zugleich aber ist der Lebensweltbezug notwendig, um methodologisch naturräumliche Erfahrungen so in den Blick zu nehmen, dass die spezifischen Merkmale ihrer religiösen Gestimmtheit überhaupt erst sichtbar werden. These 7: Eine Praktische Theologie der Naturerfahrung leistet einen notwendigen Beitrag zur notwendigen Selbstprüfung von Kirche als Akteurin inmitten, für und in Abgrenzung zu naturräumlichen Erfahrungen. Praktische Theologie versteht sich längst nicht mehr als kirchliche Anwendungslehre oder als kritische Reflexionsinstanz kirchlichen Handelns. Vielmehr stellen kirchliche Handlungsformen nur einen, wenn auch weiterhin wichtigen Teil im Selbstverständnis dieses Faches dar. Die Evidenz diverser Handlungsformen in Naturräumen („Gottesdienst im Grünen“) liegt nicht nur durch den Erfolg solcher Angebote auf der Hand, sondern zeigt sich auch in der theologischen Reflexion jener Räume als Gottes bedrohter Schöpfung. Dabei wird in der Regel übersehen, dass die Aufgabe einer Praktischen Theologie nicht sein kann, den Erfolg solcher Angebote herbeizuführen, zu verhindern oder zu legitimieren. Vielmehr hat die Praktische Theologie diese, wie andere Formen kirchlichen Handelns, wahrzunehmen und kritisch zu begleiten. Dies geschieht in der Ausarbeitung einer Kriteriologie, in der sich genaue Wahrnehmung der Wirklichkeit, Ideologiekritik, aber auch Würdi-

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gung religionsproduktiver Elemente wiederfinden lassen. Naturräumliche Erfahrungen lassen sich also als Beispiel einer religionsproduktiven Moderne verstehen, zugleich nötigen sie die Praktische Theologie aber als Wissenschaft dazu, ihre Differenz-Kompetenz als Lebens- und Textwissenschaft auch hier ideologiekritisch einzusetzen. These 8: Religiös konnotierte naturräumliche Erfahrungen beantworten die Frage nach Gott nicht, aber sie sind eine Bühne für Erfahrungen, die Menschen hier mit Gott machen. Das hat eine Praktische Theologie angemessen zu würdigen und damit auch zur Sprache zu bringen. Will man einer natürlichen Theologie aus guten Gründen nicht erliegen und analysiert die kleinen Transzendenzen des Alltags, die verschütteten Epiphanien und Transformationen des religiösen Symbolsstems in der Kommunikation über diese Erfahrungen, so mag es scheinen, eine religiöse Empfindung könne sich mit naturräumlicher Erfahrung in der Moderne nicht mehr verbinden lassen oder sei zumindest nicht mehr sprach- und verallgemeinerungsfähig. Freilich weist dieser Sachverhalt lediglich darauf hin, dass Naturräume und ihr besonderes setting eher als Bühne für jene Erfahrungen gelten können, die zuweilen initiiert, sicher aber vor allem erinnert werden. Das hat mit ihrer Räumlichkeit, ihrer Dialektik aus Trennung und Verbindung zwischen Naturraum und Leib zu tun, aber auch mit der Erfahrung der momenthaften Unterbrechnung lebensweltlicher Verlässlichkeiten. Die Praktische Theologie wird diese Erfahrungen würdigen müssen, zugleich aber kritisch hinterfragen.

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Literatur

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Bildnachweis Fig. 1: Kai Pfaffenbach/Reuters (FAZ v. 17. 08. 2002). Mit freundlicher Genehmigung von Kai Pfaffenbach. Fig. 2: Caspar David Friedrich, Frau vor der untergehenden Sonne (1818). Mit freundlicher Genehmigung des Museums Folkwang (Essen). Fig. 3: Oberrheinischer Meister, Paradiesgärtlein. (1410/20). Mit freundlicher Genehmigung von Artothek/Städel-Museum Frankfurt. Fig. 4: Foto des Autors. Bildrecht bei Jan Peter Grevel. Fig. 5: Foto des Autors. Bildrecht bei Jan Peter Grevel. Nicht immer wurde dem Autor für diese Publikation das Copyright für den Abdruck eines Bildes erteilt. In diesen Fällen musste auf den Abdruck verzichtet werden. In der Regel sind diese Bilder aber im Internet einsehbar. Hinweise finden sich jeweils dazu.

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Personenregister

Albertz, Reiner 25 Albrecht, Christian 285 Albus, Michael 203 Altner, Günter 41 f, 48 Am¦ry, Carl 40 Amstädter, Rainer 247 Arens, Detlev 17 Aristoteles 20 Augustinus, Aurelius 26, 211 Bahr, Hans-Eckehard 44 Baier, Andrea 18 Bail, Ulrike 234 Bailey, Eduard 194 Balz, Heinrich 44 Barbour, Ian 34 f Barrett Browning, Elisabeth 12 Bartels, Klaus 113 Barth, Karl 29 – 35, 49 Barth, Ulrich 281 Barthes, Roland 67, 181, 197, 209 Bartsch, Matthias 61 Bastian, Hans-Dieter 43 f Bauer, Markus 64, 234 Bauks, Michaela 24 Bayer, Oswald 26 Becker, Patrick 36 Beer, Bettina 167, 171, 186, 201 Bellinger, Andrea 139 Berg, Christian 34 Berger-Künzli, Daniela 269 Bergmann, Sigurd 39 Berlejung, Angelika 25 Bermes, Christian 235 f Bernhard, Jutta 246 Bernig, Jörg 71, 81 – 90, 98, 105 Berressem, Hanjo 114 Bessler, Gabriele 38

Beuttler, Ulrich 24 Biehl, Peter 52 Bieritz, Karl-Heinrich 183 Birkner, Hans-Joachim 29 Blumenberg, Hans 27 f, 162, 275 – 279, 281 Boehm, Gottfried 118 Bogner, Daniel 292 f Böhme, Gernot 20 – 22, 114, 158, 237 Böhme, Hartmut 20 – 22, 27, 114, 158, 235 Böhmer, Gerhard 18 Boneberg, Hemma 156 Börsch-Supan, Horst 135, 143 Bourdieu, Pierre 119 f, 122, 241 Brämer, Rainer 16 f, 21 Breidenich, Markus 71, 91, 96 – 98 Brockert, Heinz 43 Brockes, Barthold Hinrich 36 f, 112 Büchner, Christine 11 f Bumchter, Clemens 41 Burckhard, Martin 15 Burger, Reiner 61, 70, 81, 91 Burke, Edmund 113, 204 Burnet, Thomas 112, 204 Busch, Werner 137, 143 Busche-Baumann, Maria 99 Calvin, Johannes 29 – 31, 33 Certeau, Michel de 292ff Chatelier, Hildegard 259 Cicero 25, 29 Cilliers, Johannes, H. 32 Coblenz, Catharina 110 Colpe, Carsten 53 Corbin, Alain 97, 111 – 115 Cramer, Konrad 280 Csikszentmihalyi, Mihaly 224 f Czechowski, Heinz 71

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Personenregister

Dafni, Evangelia G. 24 Dahm, Karl-Wilhelm 44 Daiber, Jürgen 290 Daiber, Karl-Fritz 45 Danks, Fiona 309 Dannowski, Hans Werner 118 Dawkins, Richard 35 Deckers, Daniel 70 f, 97 Delekat, Thomas 61 Dickel, Heinrich 143 Dieterich, Veit-Jakobus 49 Dietrich, Isolde 166 Diewald, Ursula 36 Dirlinger, Helga 36 Dittmar, Christian 19 Dittmar, Ulrike 19 Dittmer, Johannes Michael 290 Dohmen, Christoph 152 Domay, Erhard 18 Döring, Jörg 294 Draesner, Ulrike 310 f Drees, Willem B. 36 Drewen, Uwe 148 Drews, Paul 48, 50 f Drouve, Andreas 268 Dülmen, Andrea van 148, 158, 160 Dürr, Hans-Peter 41 Dyrness, William A. 32 Eberle, Thomas S. 67 Ehninger, Gerhard 70 Eickhoff, Georg 292 Eliade, Mircea 22 Ellsiepen, Christof 22 Engemann, Wilfried 44 Erne, Thomas 308 Failing, Wolf-Eckhard 51 f, 278, 294 Fechtner, Kristian 49, 292 Feeser, Ulrich 54 Flick, Uwe 171, 186 Flusser, Villem 126 Foucault, Michel 67, 240, 293, 296 f Frank, Günter 9, 29 f Frenssen, Gustav 48 Freund, Andrea 81

Friedman, Terry 310 Friedrich, Marcus A. 292 Frisch, Max 110 Funcke, Dorett 302 Gamm, Gerhard 241 Gansterer, Gerhard 42 Geertz, Clifford 54, 57, 168 – 171, 174 Geiger, Stefanie 91 Genette, G¦rard 85, 267 Gennep, Arnold van 139 Gese, Hartmut 23 Gestrich, Christoph 33 Giddens, Anthony 300 Gladigow, Burkhard 118, 278 Glaser, Hermann 192 Goethe, Johann Wolfgang von 47, 94, 110 Goldworthy, Andy 309 f Gottowik, Viktor 170 Gräb, Wilhelm 26, 48, 51, 158, 195, 272 Gräb-Schmidt, Elisabeth 33 Graf, Friedrich-Wilhelm 281 Green, Walter 305 Gregersen, Niels Henrik 25 Grethlein, Christian 45, 50 Grevel, Jan Peter 54, 57, 118 f, 121, 173, 285, 296, 301 Groh, Dieter 210 Groh, Ruth 210 Grohmann, Marianne 25 Großklaus, Götz 22 Großmann, Karin 102 f Grözinger, Albrecht 45, 49, 53, 290, 310 Gunkel, Hermann 24 Günzel, Stephan 236 f Guschker, Stefan 119 f Güthler, Andreas 309 Gyr, Ueli 116 Habermas, Jürgen 44, 286, 290 Hack, Kerstin 303 Hägele, Ulrich 67, 119 Haid, Hans 244 Haller, Albrecht von 204 Hamann, Johann Georg 26 f, 115 Hansen, Kai 49

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Personenregister Harms, Ingeborg 91 Harrington, Anne 23, 26 Hartig, Nina 147, 187, 195 f Hartinger, Walter 67 Hasel, Verena Friederike 18 Hasler, Ueli 280 Haudebourg, Marie-Th¦rese 153 – 155 Hecht, Herbert 152 Hecker, Frank 309 Hecker, Katrin 309 Heckmann, Herbert 152 Heidbrink, Ludger 301 Heimbrock, Hans-Günter 9, 37, 51 – 55, 109, 139, 145, 244, 275, 278, 280, 291 Heine, Susanne 54, 306 Heit, Alexander 236 Herding, Klaus 144 Herlyn, Okko 49, 304 Hermelink, Jan 272 Herms, Eilert 33 f Herrmann, Jörg 118, 272 Heyd, Christa 207 Hinrichsen, Alex 116 Hitzler, Roland 67 Hofman, Werner 135 Höhn, Hans-Joachim 286 f, 301 Honneth, Axel 120 Hopf, Christel 175 Hoppe, Rudolf 25 Horatschek, Annegreth 106 Hörisch, Jochen 53, 145 Hübner, Jürgen 28, 47 Huizing, Klaas 26 Hunze, Guido 49 f, 54 Husserl, Edmund 52, 235 – 237, 275 f Ilschner, Frank

309

Jäger, Siegfried 54, 67 f, 286 Jäger, Ulle 240 f, 265 Jähnig, Karl Wilhelm 135 Janowski, Bernd 25 Jensen, Jens Christian 136, 143, 200 Jensen, Uffa 165, 197, 200 Jöchner, Cornelia 158 Jörns, Klaus-Peter 43

353

Juhl, Kerstin 18 Jüngel, Eberhard 28, 294 Kalberer, Marcel 19 Kant, Immanuel 21 f, 29, 47, 113 f, 191, 204, 235, 289, 291 Karahasan, Dzevad 155 f Kauppert, Michael 302 Keel, Ottmar 24, 138, 203 Keller, Reiner 54, 66 f Keller, Susanne B. 265 Kern, Ingolf 91 Kirsner, Inge 118 Klein, Stephanie 91 Kleist, Heinrich von 143 Klessmann, Michael 242 Klie, Thomas 19, 49, 273 Klingbeil, Almut 130 Klinger, Cornelia 299, 301 Knoblauch, Hubert 167, 174, 186 Koch, Klaus 138 Kochinke, Jürgen 61 Kock, Christoph 33 f, 288 Koerner, Joseph Leo 137 Kopp, Eduard 112 Korsch, Dietrich 273 Körtner, Ulrich H.J. 273 Koschorke, Albrecht 144 Koselleck, Reinhart 274 Krämer, Sybille 15 Krauss, Heinrich 154, 156 Krech, Volkhard 286 Kreß, Volker 63 – 65, 102 Kretzschmar, Gerald 9, 118 f, 272, 296 Kriechbaum, Wilhelm 232 Krieger, David J. 139 Kröner, Magdalena 312 Krüger, Michael 252 Kubick, Andreas 275 Küster, Hansjörg 17, 157 Lacher, Kathrin 309 Lammer, Eugen Guido 247 Lange, Ernst 19, 44, 130, 164 Lauterbach, Christiane 162 Lehmann, Albrecht 300, 311

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Personenregister

Leithäuser, Johannes 70, 91 Levi-Strauss, Claude 302 L¦vinas, Emmanuel 306 Levine, Michael P. 22 Lichtenberg, Georg Christoph 114 f Lieckfeld, Claus-Peter 231, 246, 252, 263 Liedke, Gerhard 41 Lienau, Detlef 49 Link, Christian 12, 29, 34, 116, 213 Lohse, Eckart 70 Loudon, J. C. 164 Louvs, Richard 16 Lübbe, Hermann 41, 105 Luckmann, Thomas 198, 277 Lüders, Christian 67 Ludolphy, Ingetraut 32 Luhmann, Niklas 105 Lukatis, Ingrid 49, 146 Lukatis, Wolfgang 49, 146 Luther, Henning 51 f, 106, 139, 242 Luther, Martin 29 – 33 Lynd, Helen Merrell 167 Lynd, Robert Staughton 167 Maier, Andreas 11 f Majetschak, Stefan 118 Mallek, Ulf 102 Margueron, Jean-Claude 159 Markus, Heike 103 Marquard, Odo 299 Marschner, Jörg 61, 100, 102 Maslow, Abraham H. 224 Mathis, Claudia 247 Matthäi, Ingrid 166 Matthes, Joachim 51 Mayer, Michael 312 Mayer-Tasch, Peter Cornelius 151 – 153 Mayr, Vincent 228 Mayring, Philipp 67 McGrath, Alister 34 McLuhan, Marshall 117 McMullin, Ernan 35 Meckenstock, Günter 281 Meid, Volker 37 Meier, Christian 159 Melanchthon, Philipp 29, 31

Menasse, Eva 70 Merle, Kristin 273 Merleau-Ponty, Maurice 235 – 237, 291, 296 Meuser, Michael 67 Meyer, Peter 9, 55 Meyer-Abich, Klaus Michael 20, 41 f, 48 Meyer-Blanck, Michael 49, 274, 292 Migge, Leberecht 164 Miller, Otto 247 Möhring, Caroline 71 Moltmann, Jürgen 38 – 40 Moltmann Wendel, Elisabeth 291 Mönch, Regina 82 Morgenroth, Matthias 49, 110, 139 Morgentahler, Christoph 53 Moustakas, Ulrich 27 Müller, Hans-Peter 120 Müller, Manfred 104 Müller, Wolfgang G. 266 Müller-Bahlke, Thomas J. 38 Müller-Doohm, Stefan 54, 121, 126 Müller-Jung, Joachim 70 Münch, Richard 105, 225, 253 f Munz, Regine 292 Münzel, Gustav 155 Mutschler, Hans D. 42, 306 Neidhart, Walter 46 Niebergall, Friedrich 48, 51, 304 Nitz, Genoveva 151 Nobis, Heribert M. 26 Noichl, Markus 252 Nörenberg, Henning 278 f Oberlies, Thomas 206 Oettermann, Stephan 265 Oldemeyer, Ernst 22 Olsson, Herbert 32 Orth, Stefan 19 Ott, Heinrich 46 Otto, Gerd 45, 48, 274 Pagenstecher, Cord 116 Pannenberg, Wolfhart 112, 242, 281 Pascal, Blaise 12

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Personenregister Paus, Ansgar 138 Penzinger, Christine 254 f, 257 – 260, 265 f Pergande, Frank 70, 75, 80, 91 Peters, Albrecht 32 Peters, Ted 35 Petrarca, Francesco 204, 209 – 212, 223, 265 Pezzoli-Olgiati, Daria 9, 152 Pfeiffer, Wolfgang 152 Pfleiderer, Georg 51 Philipp, Wolfgang 36 – 38, 53, 112, 203 Picht, Georg 38, 41, 46 – 48 Pizzoni, Filippo 152 f, 158 – 161 Plessner, Helmuth 241 f Plüss, David 51, 292 Polkinghorne, John 35 Popko, Maciej 203 Pörksen, Uwe 311 Poschmann, Marion 311 Proust, Marcel 108 Rahn, Thomas 234 Rapp, Friedrich 41 Rasmussen, Larry 33 Rathgeb, Eduard 81 f, 89 f Rau, Gerhard 48 Rauschenberger, Johannes 312 Redlich, Peter 101 Reichertz, Jo 170 Reichler, Claude 204 Reinhart, Kai 252 Remann, Micky 19 Reuther, Christina 65 Reynolds, Richard 18 Richter, J. G. O. 37 Richter, Jean Paul Friedrich 37 Riechelmann, Cord 18, 91 Riede, Peter 23 Rieger, Hans-Martin 273 Riesebrodt, Martin 285 Rietzschel, Thomas 90, 98 Rilke, Rainer Maria 261 f Ringleben, Joachim 281 Ritter, Joachim 21, 111, 290 Rohls, Jan 18

355

Röhring, Christian 225 Röhring, Klaus 264 Rolshoven, Johanna 111 Römer, Willy 183 Rose, Gillian 67, 181, 194 Rössler, Dietrich 48, 56, 273 Rothacker, Erich 26 Rothgangel, Martin 49 Rousseau, Jean-Jaques 158, 160, 162 f, 165 Sachsse, Rolf 138 Sagner-Düchting, Karin 137 Salza Prina Ricotti, Eugenia 159 Scattola, Merio 157 Schacht, Ulrich 311 Schade, Claudia 61, 100, 175 Schäfer, Lothar 36, 41 Scharfe, Martin 203, 248 f, 265 Schäufler, Nicole 91 Schelsky, Helmut 44 f Schian, Martin 48, 51 Schibilsky, Michael 9 Schindler, Joachim 252 Schirach, Adam Gottlob 37 Schirmer, Stefan 100 Schleiermacher, Friedrich D.E. 33, 51, 144 f, 242, 273, 280 – 284, 290, 298 Schlögel, Karl 294 f Schlösser, Klaus 177, 252 Schmidt, Andreas 104 f Schmidt, Joachim 153 Schmied, Gerhard 269 – 271 Schmitz, Hermann 237, 240, 279 Schmoll, Friedemann 230 – 232, 299 Schmoll, Heike 70 Schneider, Barbara 19 Schneider, Peter 140 Schneider, Ulrike 132, 138 Scholl, Norbert 35 Scholz, Christopher 9, 54 Schröer, Henning 50 Schroer, Silvia 24, 203 Schubert, Jens Daniel 101 Schurig, Jörg 61 Schütz, Alfred 198

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356

Personenregister

Schwebel, Horst 306 Schwemmer, Oswald 41 Seel, Martin 108, 145, 149 f, 211 f, 224, 235, 259 Segebrecht, Wulf 94 Seidel, Ulrich 65 Seile, Friedrich 48, 221, 243 Seip, Jörg 118 Serres, Michel 264 Shaftesbury, Earl of 162 Shakespeare 86 Shankman, Paul 170 Siefele, Rolf Peter 96 Sigrist, Martin 125 Simmel, Georg 283 f, 296 Smedes, Taede A. 35 Smend, Rudolf 112 Smoltczyk, Alexander 61 Söderblom, Kerstin 9, 51, 296, 303 Soentgen, Jens 240 Sökefeld, Martin 186 Sölle, Dorothee 39 f Sontag, Susan 119 Sörrensen, Wolfgang 153 Sörries, Reiner 20 Sparn, Walter 29 Spitzing, Günter 139 Spode, Hasso 139 Stadler, Frank 103 Stadler, Siegfried 70 Stadler, Ulrich 153 Stählin, Wilhelm 49 Starl, Timm 118 f Steck, Wolfgang 48, 51 f Steer, Georg 28 Stegemann, Wolfgang 236 Steiger, Johann Anselm 31 f Steinbauer, Mathis 18 Steingräber, Erich 163 Steins, Hartmut 165, 192, 220 Stellrecht, Irmtraud 168 Stiegler, Bernd 312 Stoker, Wessel 282 f Straaß, Veronika 231, 246, 252, 263 Strasser, Stephan 276 Stückelberger, Johannes 295

Sumowski, Werner 136 Swinne, Axel 36 Syamken, Georg 136 Tausch, Frank 100 f Theobald, Werner 301 Thielbeer, Siegfried 91 Thomas, Günter 126 Thomas, Philipp 235, 237 – 240 Thomma, Norbert 61 Thraede, Klaus 292 Thurner, Ingrid 131, 139 Thyen, Hartwig 25 Tietjen, Friedrich 312 Tillich, Paul 294 Treiber, Angela 51 Trepp, Anne-Charlott 38 Tricke, Peer 311 Tschofen, Bernhard 247 Uhlig, Gerd 252 Urry, John 116, 140 Veldhuis, Henri 26 f Ven, Johannes A. van der 43 Verk, Sabine 166, 186 f, 189, 191 f Vetter, Ewald M. 154 f Vierling-Ihrig, Heike I. 20 Vogt, Markus 16 Volp, Rainer 139 Volz, Hans 96 Wagner, Jan 311 Wagner-Rau, Ulrike 49, 273 f Waldenfels, Bernhard 52, 239 f, 242, 264, 279, 291, 295 Walter, Francois 106 Ward, Nathaniel B. 163 f Warnecke, Peter 165, 183 Weber, Andreas 16 Weber, Max 168, 298, 302 Wehrli, Christoph 206 Weihe, Richard 32, 228, 250 Weippert, Helga 23 f Weizäcker, Carl Friedrich von 38, 41, 46 – 48

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525604519 — ISBN E-Book: 9783647604510

Personenregister Werber, Niels 63 Wermke, Michael 118 Werner, Paul 251 Werner, Richilde 251 Wescoat, James L. 159 Weyel, Birgit 272 Whiston, William 112 Wiggermann, F A. M. 24 Wild, Reiner 27, 181 Wildenstein, Daniel 137 Wilken, Franziska 278 Willems, Ad 290 Willems, Herbert 120

Willis, Peter 158 Wimmer, Clemens Alexander 157, 161 f, 164 Wolf, Norbert 51, 89, 137 Wolff, Barbara 16 Wolff, Stephan 169 f, 174 f Wyller, Trygve 9, 53, 291 Ziegler, Meinrad 169 f Zimmerli, Walther C. 41 Zippert, Thomas 105

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357 147, 153,

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Research in Contemporary Religion (RCR) Herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Günter Heimbrock, Heinz Streib, Trygve Wyller, Stefanie Knauss Volume 18: Stine Holte Meaning and Melancholy in the Thought of Emmanuel Levinas

Band 14: Monika Glavac / Anna-Katharina Höpflinger/ Daria Pezzoli-Olgiati (Hg.) Second Skin

2015. 192 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60452-6 eBook ISBN 978-3-647-60452-7

Körper, Kleidung, Religion

In this study, Stine Holte seeks to develop the problem of ethical meaning in Emmanuel Levinas’ thinking, aiming to show how the articulation of the ethical implies notions like trauma, melancholy, and shame.

Volume 16: Stefanie Knauss More than a Provocation Sexuality, Media and Theology 2014. 230 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60450-2 eBook ISBN 978-3-647-60450-3

Sex, media and theology – a provocative mix! Reactions can vary from rejection to openness and curiosity.

Volume 15: Trygve Wyller / Rosemarie van den Breemer/ Jose Casanova (eds.) Secular and Sacred? The Scandinavian Case of Religion in Human Rights, Law and Public Space 2014. 328 pp with 7 fig., hardcover ISBN 978-3-525-60449-6 eBook ISBN 978-3-647-60449-7

The intertwinement of the sacred and the secular is a very interesting aspect of contemporary Scandinavian traditions.

2013. 303 Seiten mit 82 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60448-9 eBook ISBN 978-3-647-60448-0

Volume 13: Mike Gray Transfiguring Transcendence in Harry Potter, His Dark Materials and Left Behind Fantasy Rhetorics and Contemporary Visions of Religious Identity 2013. 308 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60447-2 eBook ISBN 978-3-647-60447-3

Volume 12: Kirk VanGilder Making Sadza With Deaf Zimbabwean Women A Missiological Reorientation of Practical Theological Method 2012. 148 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60446-5 eBook ISBN 978-3-647-60446-6

Band 11: Monika Glavac Der »Fremde« in der europäischen Karikatur Eine religionswissenschaftliche Studie über das Spannungsfeld zwischen Belustigung, Beleidigung und Kritik 2013. 208 Seiten, mit 55 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60445-8

www.v-r.de

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525604519 — ISBN E-Book: 9783647604510

Research in Contemporary Religion (RCR) Herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Günter Heimbrock, Heinz Streib, Trygve Wyller, Stefanie Knauss Volume 10: Daria Pezzoli-Olgiati / Christopher Rowland (Hg.) Approaches to the Visual in Religion 2011. 268 pp with 81 ill, hardcover ISBN 978-3-525-60442-7

Volume 9: Werner Ustorf / Roland Löffler (eds.) Robinson Crusoe tries again Missiology and European Constructions of “Self” and “Other” in a Global World 1789–2010 2010. 271 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60444-1 eBook ISBN 978-3-647-60444-2

Band 8: Ingolf U. Dalferth / Heiko Schulz (Hg.) Religion und Konflikt Grundlagen und Fallanalysen 2011. 294 Seiten mit 2 Tabellen, gebunden ISBN 978-3-525-60440-3 eBook ISBN 978-3-647-60440-4

Band 7: Sigurd Bergmann Raum und Geist Zur Erdung und Beheimatung der Religion – eine theologische Ästh/Ethik des Raumes Mit einem Geleitwort von Günter Altner 2010. 248 Seiten mit 70 s/w und 10 farb. Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60443-4

Volume 6: Espen Dahl In Between The Holy Beyond Modern Dichotomies Translated by Brian McNeil 2011. 163 pp, hardcover ISBN 978-3-525-60441-0 eBook ISBN 978-3-647-60441-1

Volume 5: Henz Streib / Ralph W. Hood / Barbara Keller / Rosina-Martha Csöff / Christopher F. Silver Deconversion Qualitative and Quantitative Results from Cross-Cultural Research in Germany and the United States of America Mit einem Vorwort von James T. Richardson 2009. 262 pp with numerous tables and graphics, hardcover ISBN 978-3-525-60439-7 eBook ISBN 978-3-647-60439-8

Volume 4: Trygve Wyller (ed.) Heterotopic Citizen New Research on Religious Work for the Disadvantaged 2009. 235 pp with 3 ill, hardcover ISBN 978-3-525-60438-0

Volume 2: Trygve Wyller / Usha S. Nayar (eds.) The Given Child The Religions’ Contributions to Children’s Citizenship 2007. 199 pp with 4 ill, hardcover ISBN 978-3-525-60436-6

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