122 14 1MB
German Pages [384] Year 2007
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE und WEGE ZUM MENSCHEN und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie
Band 53
Vandenhoeck & Ruprecht
Gerald Kretzschmar
Kirchenbindung Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62398-5
© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort ..................................................................................................
9
Einleitung ...............................................................................................
11
Kapitel 1: Diskurse zur sozialen Bindung in der Kirche .......................
21
1. Jenseits von Modernitätskritik und Verfallssemantik – Die theologische Pluralismusdebatte ................................................
24
2. Im Schatten von Säkularisierungsdenken und kirchlichen Verfallstheorien – Kirchenbindung in empirischer Sicht .................
39
3. Eine neue Fremdprophetie und die Hoffnung auf Vergemeinschaftung und soziale Nähe – Kirchenmarketing ...........
61
4. Religiöse Pluriformität als Wahrnehmungsaufgabe – Kirchenbindung in der neueren praktisch-theologischen Theoriebildung ..................................................................................
79
5. Wie Autofahren mit angezogener Handbremse – Ein Resümee ......
86
Kapitel 2: Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft – Die Prämissen der Theorie der mediatisierten Kommunikation ............
90
1. Mediatisierte Verständigung – Einleitende Bemerkungen ...............
90
2. Die Mediatisierung der Kommunikation .......................................... 95 2.1 Distanz ...................................................................................... 95 2.2 Distanz und Nähe ..................................................................... 99 2.3 Variabilität ................................................................................ 110 2.4 Anonymität und Intimität ......................................................... 112 2.5 Eine spezielle Form sozialer Bindung: Solidarität ................... 115 3. Die Mediatisierung der Kommunikation in der Kirche – Hypothesen zur sozialen Bindung in der Kirche .............................. 118 Kapitel 3: Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft – Eine empirische Fortführung und Präzisierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation ........................................................ 122 1. Zur empirischen Methode ................................................................. 124 1.1 Untersuchungsgegenstand und Methodenwahl ........................ 124 5
1.2 Interviewführung ...................................................................... 1.3 Tatsächlich Geschehenes vs. Prozess der Interviewkommunikation – Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews ...... 1.4 Datenauswertung und Datenanalyse ........................................ 1.5 Methodische und darstellungspraktische Hinweise .................
127
2. Auswertung der Interviews ............................................................... 2.1 Herr A.: Die kontrollierte Bedrängnis ...................................... 2.1.1 Vorbemerkungen ........................................................... 2.1.2 Rekonstruktion des biografischen Textes ..................... 2.1.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation ..................................................... 2.2 Frau B.: Auf dem Weg in eine geeignete Lebenssituation ......................................................................... 2.2.1 Vorbemerkungen ........................................................... 2.2.2 Rekonstruktion des biografischen Textes ..................... 2.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation ..................................................... 2.3 Herr C.: Sinnsuche als Lebensleistung ..................................... 2.3.1 Vorbemerkungen ........................................................... 2.3.2 Rekonstruktion des biografischen Textes ...................... 2.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation ..................................................... 2.4 Frau D.: Die regulierte Aktivität .............................................. 2.4.1 Vorbemerkungen ........................................................... 2.4.2 Rekonstruktion des biografischen Textes ..................... 2.4.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation .....................................................
148 148 148 148
3. Synthetisch-fallübergreifende Analyse und Zusammenfassung ............................................................................. 3.1 Zum methodischen Vorgehen ................................................... 3.2 Soziale Distanz als Grund- und Ausgangmodus der Kirchenbindung................................................................... 3.3 Distanz und Nähe – Variabilität der Kirchenbindung ........................................................................ 3.3.1 Erwartungshorizonte ..................................................... 3.3.2 Einordnung des Themas Kirche in die Gesamtbiografie ............................................................ 3.4 Zusammenfassung und Resümee .............................................
6
132 138 144
181 190 190 191 217 224 224 225 257 264 264 265 296 305 307 308 311 312 322 328
Kapitel 4: Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft als Herausforderung für die praktisch-theologische Theoriebildung .......... 332 1. Probleme im Diskurs über die Kirchenbindung aus Sicht der Theorie der mediatisierten Kommunikation – Eine empirisch gesättigte Vertiefung ............................................... 333 2. Die Praktische Theologie auf dem Weg zum Subjekt – Chancen und Grenzen des Theorems der gelebten Religion für die Wahrnehmung der Kirchenbindung ...................................... 339 3. Profilierung der praktisch-theologischen Subjektorientierung ......... 350 4. Epilog ................................................................................................ 361 Literatur .................................................................................................. 368 Personenregister ..................................................................................... 382 Anhang: Transkriptionszeichen ............................................................. 384
7
Vorwort
Soll das soziale Verhalten der Menschen in der Moderne prägnant beschrieben werden, sind Schopenhauers frierende Stachelschweine längst sprichwörtlich geworden. Von der Sehnsucht nach Nähe und Wärme getrieben, drängen sie aneinander. Dabei allerdings stören und stechen sie sich schnell. Ihre Stacheln, die zunächst Sicherheit und Schutz verleihen, nötigen sogleich wieder zu gebührendem Abstand. Individualität als der Stachelpanzer, der die Menschen in der Moderne umgibt, zählt zu den gesellschaftsstrukturellen Phänomenen, an deren Entstehen der Protestantismus maßgeblich beteiligt ist. Nicht zuletzt das Beharren der reformatorischen Theologie auf der Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen hat die Herausbildung des historisch gewachsenen Lebensmusters gefördert, mit dem die einzelnen über Distanz zu anderen nach Einzigartigkeit, Freiheit und Privatheit streben. Dieses Lebensmuster prägt nicht nur die kommunikativen Vollzüge der Gesellschaft als ganzer, sondern auch die der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche. Wie sich das Streben nach Individualität und der gleichzeitige Wunsch nach Nähe im Kommunikationssystem Kirche gegenseitig bedingen und austarieren, das heißt, wie Menschen unter den Bedingungen der Moderne Kirchenbindung realisieren, zeigen die folgenden Ausführungen. So sehr eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit wie die vorliegende Habilitationsschrift Ausdruck von Individualität ist, so sehr ist ihre Realisierung nur möglich im Austausch und im Gespräch mit anderen. In diesem Sinne gilt mein Dank Prof. Dr. Michael Schibilsky. Als sein Assistent und Mitarbeiter in München durfte ich erleben, wie Theologie zur Lebenskunst werden kann. Der gemeinsame Weg und die geteilte Zeit werden unvergessen bleiben. Mit seinem viel zu frühen Tod erfuhr die engagierte und herzlich motivierende Begleitung auch der vorliegenden Habilitationsschrift einen schmerzhaften Abbruch. Dafür, dass das Habilitationsverfahren trotzdem zu Ende geführt werden konnte, bin ich Prof. Dr. Eberhard Hauschildt und mit ihm der EvangelischTheologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zu außerordentlichem Dank verpflichtet. In Bonn habe ich Gastfreundschaft in einem umfassenden Sinn erfahren. Dankbar nennen möchte ich die wiederholte Möglichkeit, schon während der Arbeit an der vorliegenden Studie meine Thesen und Forschungsergebnisse in der Bonner 9
praktisch-theologischen Sozietät zu präsentieren und zu diskutieren, sowie das freundliche und engagierte Gespräch mit dem Professorium der Evangelisch-Theologischen Fakultät im Rahmen des Habilitationsvortrags. Herrn Prof. Dr. Eberhard Hauschild gilt mein Dank für die Erstellung des Erstgutachtens und die Aufnahme der Habilitationsschrift in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“. Herrn Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Viele haben durch die Lektüre des Textes und das kritische Gespräch mit dem Verfasser zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Stellvertretend erwähnen und danken möchte ich Dr. Jan Peter Grevel, PD Dr. Uta Pohl-Patalong, Prof. Dr. Gerhard Rau, Prof. Dr. Rolf Schieder und Prof. Dr. Ulrich Schwab. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) und die Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands (VELKD) haben Druckkostenzuschüsse gewährt. Ein herzliches Dankeschön für diese wichtige Form der Förderung theologischer Wissenschaft. Schließlich danke ich meiner Frau, Pfarrerin Christiane Braess, für die liebevolle Begleitung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Der Dank an sie übersteigt, was mit Worten auszudrücken ist. Waldfischbach-Burgalben, im März 2007
10
Gerald Kretzschmar
Einleitung
Im öffentlichen Diskurs einer Gesellschaft, deren Struktur wesentlich durch Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung geprägt ist, steht die Frage danach, was eine solche Gesellschaft eigentlich zusammenhält, regelmäßig auf der Tagesordnung. Sie wird überall dort aufgeworfen, wo postmoderne Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, Orientierungskrise bzw. -verlust, Sinnkrise und schließlich eine Bindungskrise als Ergebnisse gesellschaftsanalytischer Betrachtungen benannt werden. Als Beispiel für eine öffentlich geführte Debatte über die Bindungskräfte der bundesdeutschen Gesellschaft kann die mit dem Thema deutsche Leitkultur verbundene Kontroverse gelten, wie sie seit den 90er Jahren geführt wird. Hier spiegelt sich der Wunsch wider, angesichts fortschreitender migrationsbedingter Pluralisierung der Gesellschaft eine gemeinsame Größe zu finden, die den faktischen Pluralismus durch einen, wie auch immer gearteten, Werte- und Normenkonsens zusammenbindet, der von möglichst allen Mitgliedern der Gesellschaft akzeptiert und getragen wird. Mit neuem Nachdruck aufgeworfen und ausgeweitet auf die christlich-abendländische Kultur insgesamt wurden diese Themen nach den Ereignissen des 11. September 2001 – gemeinsame westliche Werte als Reaktion auf islamischen Fundamentalismus war hier die treibende Idee.1 Die Frage nach Verbindlichkeit und nach verbindenden Größen und Kräften stellt sich jedoch nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Sie stellt sich auch im Kontext von Großorganisationen, deren Mitgliedschaft so umfangreich ist, dass sie die für die Gesamtgesellschaft charakteristischen Strukturmerkmale der Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung in ihrer sozialen Binnenstruktur abbilden. So ist auch die 1 Auf wissenschaftlicher Ebene wurde die Debatte um die Bindungskräfte der Gesellschaft bis vor kurzem besonders intensiv im Rahmen des von der Bertelsmannstiftung initiierten Projekts „Geistige Orientierung“ geführt. Angesichts eines grundlegenden und als tiefgreifende gesellschaftliche Krise empfundenen Wandels vertrauter Strukturen und auf Erfahrung gegründeter Gewissheiten, sah man sich im Rahmen des Projektes dazu veranlasst, nach Formen wirksamer Orientierung zu suchen, die der Herausforderung gerecht werden, ein individuell sinnvolles Leben der Menschen mit der Gemeinschaftsfähigkeit der Gesellschaft zu vereinbaren. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden von den an ihm beteiligten Wissenschaftlern in einer Publikationsreihe der Bertelsmannstiftung veröffentlicht. Vgl. exemplarisch Weidenfeld/Rumberg 1994, Berger/Luckmann 1995 und – für den Bereich von Theologie und Kirche – Huber 1998.
11
evangelische Kirche in Deutschland mit ihren knapp 26 Millionen Mitgliedern eine Großorganisation, die die für die Gesamtgesellschaft charakteristischen Strukturmerkmale aufweist.2 Analog zur Ebene der Gesamtgesellschaft kann daher auch im Falle der Kirche die Frage aufgeworfen werden, welche Mechanismen es sind, die bindend wirken und sie vor dem Auseinanderfallen bewahren. In Bezug auf die evangelische Kirche stellt sich diese Frage besonders dringlich. Schließlich hat sie auf Grund ihres reformatorischen Ursprungs die Förderung der Autonomie und der Emanzipation des Individuums in Glaubenssachen zu einem Proprium kirchlichen Handelns gemacht. Mit ihrer in Abgrenzung zur katholischen Kirche des Mittelalters geförderten institutionenkritischen Subjektivierung des Glaubens ist die evangelische Kirche zu einer Wegbereiterin der Moderne geworden. Als „Institution der Freiheit“3 hat sie die modernen Strukturen maßgeblich mitgestaltet, die die gegenwärtige Gesellschaft, aber auch die soziale Binnenstruktur der Kirche selbst, prägen. Was hält eine gesellschaftliche Großorganisation wie die evangelische Kirche, die von den mit den Schlagworten Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung bezeichneten Modernisierungsprozessen nicht einfach nur passiv betroffen ist, sondern diese vielmehr aktiv forciert hat, eigentlich zusammen? Die vorliegende Untersuchung will eine Antwort auf diese Frage geben. Sie richtet ihr Augenmerk auf Kommunikationsmuster zwischenmenschlicher Beziehungen, die in sozialkulturell ausdifferenzierten Gesellschaften und Großorganisationen wie der Kirche helfen, alltägliche Interaktionssituationen zwischen einander fremden Menschen zu bewältigen. Gemeint ist damit der Normalfall von Kommunikationvorgängen unter Anwesenden (Interaktion), bei denen für die Beteiligten keine inhaltlich definierten und universal geltenden Prinzipien gesellschaftlicher Kommunikation existieren und bei denen der Wunsch nach Einzigartigkeit den unterschiedlichen Lebensmustern bzw. der Unverbundenheit ähnlicher Schicksale korrespondiert. Dieser Fokus hat zur Konsequenz, dass die vorliegende Untersuchung die häufig anzutreffenden gesellschaftsanalytischen Krisendiagnosen von postmoderner Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, Orientierungskrise bzw. -verlust, Sinn- und schließlich Bindungskrise nicht teilt. Im Gegenteil, so die These, ist es gerade diese Kritik an der Moderne mit ihren als selbstverständlich vorausgesetzten Vorannahmen, die einer neutralen Betrachtung moderner menschlicher Beziehungen im Wege steht und die Wahrnehmung 2 Vgl. zum Verhältnis von gesamtgesellschaftlicher Sozialstruktur und der Sozialstruktur der evangelischen Kirche in Deutschland Höhmann 2000. 3 Vgl. Rendtorff 1977.
12
faktisch vorhandener und realisierter Bindungspotenziale erschwert. Am Beispiel der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche Bindungsmuster zu erhellen, die hinter der vermeintlichen Unverbindlichkeit stehen, ist die grundlegende Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung. Um diese Zielsetzung realisieren zu können, ergibt sich für das hier zugrunde gelegte Verständnis von sozialer Bindung eine besondere Konsequenz: Im Allgemeinen wird unter dem Begriff ein bestimmtes, normatives Modell des sozialen Miteinanders verstanden. In der Regel steht Bindung für eine als Gemeinschaftlichkeit verstandene Form des sozialen Umgangs. Regelnde Faktoren dieser Gemeinschaftlichkeit sind inhaltlich definierte, kollektiv geteilte und lokal fixierte Normen. Unter diesen Bedingungen äußert sich Gemeinschaftlichkeit (anscheinend) sichtbar als sozialkulturelle Homogenität. So verstanden meint Bindung eine Art vinculum sociale, das zusammenlebende Menschen normativ umschließt, eine spezifische Form deren sozialer Zusammengehörigkeit definiert und sie somit bindet. Zusammengehörigkeit auf der Gefühlsebene, identische Gesinnung und sozialkulturelle Gleichheit der Lebensmuster können als Ideale des vorherrschenden Verständnisses des Begriffs Bindung verstanden werden. Soziale Bindung ist hier deckungsgleich mit sozialer Nähe. Aus einer Vielzahl möglicher Bindungsmuster werden einige wenige herausgehoben und in einem exklusiven Sinn unter der Kategorie Bindung zusammengefasst. Bindungsmuster, die den exklusiven Kriterien von Bindung nicht entsprechen, werden nicht als Bindung betrachtet. Soll soziale Bindung in der vermeintlichen sozialen Unverbindlichkeit der modernen Gesellschaft und der modernen Großorganisation Kirche wahrgenommen werden, scheidet das einseitige Verständnis von Bindung als sozialer Nähe aus. Es verhindert von vornherein die Wahrnehmung weiterer, faktisch vorhandener Bindungsmuster, deren Koordination weniger über soziale Nähe als andere Faktoren erfolgt. Notwendig ist es deshalb, dem etablierten Begriff Bindung ein weiteres Verständnis zur Seite zu stellen. So versteht die vorliegende Untersuchung nicht nur soziale Nähe als Bindung, sondern betrachtet auch im herkömmlichen Sinn verstandene Bindungslosigkeit und Unverbindlichkeit als Bindung. Das mag scheinbar paradox sein. Faktisch jedoch erflogt hier nichts anderes als eine normative Neutralisierung des Begriffs Bindung: Neben dem Verständnis von Bindung als sozialer Nähe umfasst der Begriff nun auch soziale Distanz und vermeintliche Bindungslosigkeit als Phänomene, hinter denen je eigene Bindungsmuster stehen. Bindung wird in der vorliegenden Untersuchung somit nicht als normative, sondern als deskriptive Kategorie verstanden. Beides ist eine Form von Bindung, ein Raum, der vielfältige Bindungsmuster umfasst: Soziale Nähe ebenso wie soziale Distanz. Auf diese Weise ist es möglich, auch Formen der Distanzierung und Differenzierung sozialer Beziehungen als gleichberechtig13
ten Modus sozialer Koordination unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft anzusehen.4 Für eine vorurteilsfreie Beschreibung moderner Bindungsmuster und -strukturen wie sie auch in der Kirche anzutreffen sind, ist ein solcher normativ neutralisierter Bindungsbegriff unerlässlich. Wenn es tatsächlich so ist, wie modernitätskritische Gesellschafts- und Kirchenanalytiker häufig behaupten, dass ein Charakteristikum von Interaktionssituationen moderner Gesellschaften das ist, was gemeinhin als Beziehungslosigkeit und Unverbindlichkeit kritisiert wird, die verschiedensten Interaktionssituationen aber dennoch bewältigt und ständig reproduziert werden, dann werden diese Gesellschaften unter anderem auch durch ebendiese Beziehungslosigkeit und Unverbindlichkeit zusammengehalten. Somit gilt für die vorliegende Untersuchung: Wenn der Begriff Bindung für die Sicherung des sozialen Miteinanders steht, dann muss auch das traditionelle Verständnis von Bindungslosigkeit als Bindung gelten. Mit einem Beispiel sei das Problem, das in der Kirche in Bezug auf die Wahrnehmung der sozialen Bindung der Kirchenmitglieder an ihre Kirche herrscht, illustriert: Eine kürzlich durchgeführte repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung unter 2000 Personen aus West- und Ostdeutschland zeigt folgendes Ergebnis: 70 Prozent der Befragten geben an, sich mit der Kirche verbunden zu fühlen.5 Wie titelt der Evangelische Pressedienst am Tag der Veröffentlichung der Umfrageergebnisse? – „Neue Studie: Wenig Verbundenheit zur Kirche, aber hohe Religiosität.“6 70 Prozent explizit geäußerte Verbundenheit – ein Ergebnis, von dem selbst die CSU in Bayern – zumindest bis vor Kurzem – nur träumen konnte, und trotzdem nur ein Negativkommentar. Wie kommt es dazu? Gibt es hier eine Wahrnehmungsblockade, die es der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter des Evangelischen Pressedienstes verbietet, das, was die Befragten unter Verbundenheit verstehen, als Kirchenbindung anzusehen und anzuerkennen? Legt man die oben vorgenommene Modifikation des Bindungsbegriffs zugrunde, dann ist das durchaus möglich. So könnte die Verfasserin oder der Verfasser des Statements dem herkömmlichen Verständnis von Bindung folgen und darunter ausschließlich soziale Nähe verstehen. Geht er oder sie beispielsweise von einem vordergründigen Blick auf die Besuchszahlen des sonntäglichen Gottesdienstes aus, erscheint das Negativurteil zunächst plausibel: Dafür, dass zusammen genommen ca. zwei Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung der katholischen oder der evangelischen Kirche angehören, sind die Bänke gewöhnlicher Sonntagsgottesdienste ziemlich leer. Auch 4 5 6
14
Vgl. Sander 1998, 10–14. Vgl. Koecke/Sachs 2003, 7. Evangelischer Pressedienst 2003.
wenn 70 Prozent der Befragten angeben, sich mit der Kirche verbunden zu fühlen – von Kirchenverbundenheit im herkömmlichen Sinn kann beim Blick auf die sonntäglichen Gottesdienstbesuchszahlen keine Rede sein. Trotz der Verbundenheitsbekundung der Befragten, muss hier – immer noch dem herkömmlichen Sinn folgend – Bindungslosigkeit attestiert werden. Dennoch: 70 Prozent der Befragten geben nun einmal an, sich mit der Kirche verbunden zu fühlen. Wenn statistische Untersuchungen Prozentwerte in dieser Größenordnung präsentieren, dann kann das nicht, wie in diesem Beispiel, einfach ignoriert und das Gegenteil behauptet werden. Es mag sein, dass sich die Vorstellung von Bindung, wie sie die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter des Evangelischen Pressedienstes hat, nicht mit den Formen von Bindung deckt, an die die Befragten denken, wenn sie angeben, sich mit der Kirche verbunden zu fühlen. Doch gerade diese Diskrepanz zeigt, wie notwendig es ist, den moderngesellschaftlichen Bedingungen von Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung entsprechend, mit unterschiedlichen Formen der Kirchenbindung zu rechnen. Vor diesem Hintergrund wäre übrigens auch in Bezug auf die 30 Prozent der Befragten, die keine explizite Verbundenheit mit der Kirche äußern, zu überlegen, inwieweit auch sie in einer je eigenen Form der Bindung zur Kirche stehen. Nur weil sie auf der verbalen Ebene keine Verbundenheit bekunden, heißt das keineswegs automatisch, dass sie keine Beziehung zur Kirche haben. Was für den einen Bindung ist, kann schon für die andere Unverbindlichkeit und Bindungslosigkeit sein – und umgekehrt. Nur ein modifizierter Begriff von Bindung, der Bindung nicht normativ und damit exklusiv im Sinne sozialer Nähe versteht, sondern deskriptiv im Sinne einer Beschreibung sowohl von sozialer Nähe als auch sozialer Distanz, wird in der Lage sein, die differenzierten Formen moderner Kirchenbindung wahrzunehmen. Das fordert alleine schon das ekklesiale Ethos reformatorischer Kirchen. Es drückt sich darin aus, dass Kirche als Versammlung der Getauften begriffen wird. In dieser Hinsicht ist jeder getaufte Mensch als theologisch ernst zu nehmendes Subjekt wahrzunehmen und seine individuell gewählte und praktizierte Form der Kirchenbindung nicht vorschnell normativ zu entwerten: Neben peccator ist der getaufte Christ, die getaufte Christin, immer zugleich auch iustus, d.h. ein durch Gottes Gnade gerechtfertigter Mensch. Nicht zuletzt im Drängen auf soziale Nähe und explizite Vergemeinschaftung stehen reformatorische Kirchen in der Gefahr, diese Tatsache auszublenden, einen großen Teil der Kirchenmitglieder zwangsläufig zu „exkommunizieren“ und sich damit gleichsam an die Stelle Gottes zu setzen, zumindest aber zu einer exklusiven Heilsanstalt zu werden. Was heißt Leib Christi im theologisch qualifizierten Sinn? Wirklich nur körperliche Nähe, die sich in expliziter Vergemeinschaftung realisiert? Kann die körperliche Gemeinschaft gar als Ersatz für die in den reformatorischen Kir15
chen entfallene sakramentale Beheimatung gesehen werden – und damit als deren verdeckte Fortführung? Trotz anders gelagerter theologischer Grundentscheidungen ist die explizite Gemeinschaft körperlich anwesender Personen in den reformatorischen Kirchen zu einem Theologumenon geworden, dem in Bezug auf das alltagspraktische Verständnis von Kirche als Leib Christi der Primat zukommt. Das schlägt sich auch in der Position nieder, für die das genannte Beispiel steht. Anders als in dem Beispiel können es sich weder die Kirche noch die Praktische Theologie leisten, den Kirchenmitgliedern vorschnell Bindungslosigkeit zu attestieren. Warum ist das so? Zum Stichtag 31.12.20037 gehörten in der Bundesrepublik Deutschland 25.836.192 Menschen der evangelischen Kirche an. Das ist ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung. Entgegen allen Verfalls- und Krisenprognosen, erweist sich dieser Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung und somit auch die Kirchenmitgliedschaft der Individuen über die Zeit hinweg als überraschend stabil.8 Zusätzlich gestärkt wird der Befund der nachhaltigen Stabilität durch den Blick auf Umfrageergebnisse zur subjektiven Einschätzung der Kirchenverbundenheit der Kirchenmitglieder. So ist es eines der zentralen Ergebnisse der aktuellen EKD-Erhebung, dass 74 Prozent der Befragten angeben, sich mit der Kirche verbunden zu fühlen. Dieser Wert ist seit der ersten EKD-Erhebung im Jahr 1972 über die Jahre hinweg mit leicht steigender Tendenz gleich geblieben.9 Eine gesellschaftliche Großorganisation mit solch hohen Mitgliedszahlen und zusätzlich einem so hohen Maß an subjektiver Verbundenheit, das die Mitglieder ihr entgegenbringen, verfügt über ein immenses Kapital – und trägt damit eine große Verantwortung. Offensichtlich erwarten die Menschen viel von der Kirche, und bekommen es auch. In Fragen der Kirchenbindung so gut wie möglich informiert zu sein, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Kirche auch künftig angemessen und zufriedenstellend für ihre Mitglieder da sein kann. Vorschnelle Krisendiagnosen wie im genannten Beispiel sind gefährlich und nicht konstruktiv. Auch die praktisch-theologische Wissenschaft kann nicht auf dieser Ebene agieren. Egal, ob man Praktische Theologie je nach Vorliebe und Standpunkt 7 Vgl. Kirchenamt der EKD 2005, 8. 8 Vgl. Kretzschmar 2000, 1141. 9 Vgl. Kirchenamt der EKD 2003, 14. Trotzdem ist die absolute Zahl der Kirchenmitglieder stetig im Sinken begriffen, sei es durch Kirchenaustritt, in viel höherem Maße jedoch durch den demografischen Wandel der Gesellschaft. Ist es angesichts dieser Tatsache berechtigt, von Stabilität zu sprechen? Nimmt man die gemessen an der Gesamtbevölkerung sehr hohe Mitgliederzahl ernst, dann steht die quantitative Reduktion der Kirchenmitglieder keineswegs für einen dramatischen Destabilisierungsprozess der Kirche, sondern für einen Wandlungsprozess, der die Gesellschaft als ganze betrifft. Die Kirche wird darauf reagieren müssen und sich verändern. Aber die gesellschaftliche Basis, auf der sie das tut, ist sehr breit und stabil.
16
nun als Theorie kirchlicher oder religiöser Praxis10 versteht, ihre Aufgabe ist es, religiöse respektive kirchliche Praxis so intensiv wie möglich wahrzunehmen und theoretisch rückzubinden. Die theoretisch rückgebundene Wahrnehmung kann sie dann in den theologischen Diskurs einspielen und auf diese Weise eine konstruktive Funktion für Kirche und Religion erfüllen.11 Mit normativ grundierten Globaldeutungen ist in dieser Hinsicht kein Fortkommen möglich. Die genannten Zahlen zur Kirchenmitgliedschaft und zum subjektiven Verbundenheitsgefühl der Mitglieder mit der Kirche exponieren Kirche bei aller Differenzierung und Pluralisierung der religiösen Gegenwartskultur als eine herausragende Größe im religiösen Leben der Gegenwart. Wo die Deutung des Evangelischen Pressedienstes Bindungslosigkeit konstatiert, beginnt die Arbeit der Praktischen Theologie im Allgemeinen und der vorliegenden Untersuchung im Speziellen. Welche Formen sozialer Koordination halten die Menschen bei der Kirche – in so großer Zahl? Was verbindet in vermeintlicher Bindungslosigkeit so viele Menschen mit der Kirche? Indem die vorliegende Untersuchung versucht, angesichts dieser Fragen einen Antwortvorschlag zu unterbreiten, entfaltet sie eine Praktische Theologie der Kirchenbindung, die sich vornehmlich der Perspektive der Kirchenmitglieder verbunden fühlt und sich von zwei in Kirche und Theologie immer wieder anzutreffenden Standpunkten distanziert. Das betrifft zum einen eine Defizit- und Negativorientierung, die in der evangelischen Kirche zu einem Ungleichgewicht zugunsten der Thematisierung von Missständen führt. Was klappt nicht? Wo gibt es Probleme? Was wird immer schlechter? – mit diesen Fragen lässt sich eine häufig anzutreffende Haltung in kirchlichen und theologischen Kreisen umschreiben. Hier scheint es eine Art Immunität gegenüber der Wahrnehmung funktionierender und gelingender Strukturen zu geben. Wo und wie hat die Kirche Erfolg? – das zum Beispiel ist eine Frage, die in der evangelischen Kirche viel zu selten gestellt wird. Die soziale Bindung in der Kirche einmal nicht als Problemfeld, sondern als vitales und funktionierendes Phänomen im kirchlichen Leben herauszustellen, ist der Akzent, den die vorliegende Untersuchung gegenüber diesem Standpunkt setzen möchte.
10 Als Vertreter des ersten Standpunkts sei exemplarisch Peter C. Bloth (vgl. 1994) und als Vertreter des zweiten Standpunkts Gert Otto (vgl. 1986) genannt. Um allerdings eine wenig konstruktive Polarisierung beider Standpunkte zu vermeiden, sei an Schleiermacher erinnert, der „durchaus Kirche auch soziologisch als Christentum in der Gesellschaft reflektiert und als Religion verstand“ (Schröer 1997, 192). 11 Mit den Worten Dietrich Rösslers formuliert: „Praktische Theologie ist die Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung zu der wissenschaftlichen Theorie, die die Grundlage der Verantwortung für die geschichtliche Gestalt der Kirche und für das gemeinsame Leben der Christen in der Kirche bildet“ (Rössler 1994, 3).
17
Der andere Standpunkt, von dem sich die vorliegende Untersuchung abgrenzt, ist die polarisierende Gegenüberstellung von Religion und Kirche bzw. von Religiosität und Kirchlichkeit, wie sie etwa in dem Slogan „Religion boomt – die Kirchen leeren sich“ mittlerweile fast schon sprichwörtlich geworden ist. Die oben genannten Zahlen zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchenverbundenheit sprechen keineswegs für ein Verschwinden der Kirche als wichtiger Größe in der religiösen Gegenwartskultur. Sicher ist das Interesse an religiösen Fragen und Angeboten auch außerhalb der Kirche gestiegen. Aber muss es deshalb sogleich um ein polarisierendes Konkurrenzverhältnis zwischen Kirche und individueller Religiosität gehen? Oder muss Kirche deswegen gar voreilig totgesagt werden? Indem die vorliegende Untersuchung nach der sozialen Bindung in der Kirche unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft fragt, lehnt sie eine Polarisierung von Kirche und Religion ab. Sie fühlt sich vielmehr einer Sichtweise verbunden, die beide – Kirche und Religion – als sich einander bedingende Größen versteht, die aus Sicht des Individuums und biografisch gewendet ohnehin untrennbar miteinander verwoben sind.12 Der Weg, auf dem die vorliegende Untersuchung Kirchenbindung in der Moderne beleuchtet, umfasst vier Schritte. Kapitel 1 beschäftigt sich mit ausgewählten und maßgeblichen Diskursen zur sozialen Bindung in der Kirche. Die theologische Thematisierung des moderngesellschaftlichen Pluralismus, hier theologische Pluralismusdebatte genannt, Kirchenbindung in empirischer Sicht, die neueren Formen des Kirchenmarketings sowie die Thematisierung der sozialen Bindung durch die praktisch-theologische Theoriebildung sind Gegenstand dieses Kapitels. Es stellt sowohl einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand als auch eine Zuspitzung der hier zu behandelnden Fragestellung dar. Kapitel 2 entfaltet mit der Theorie der mediatisierten Kommunikation ein theoretisches Modell der Koordination sozialer Beziehungen unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft. Dass soziale Distanz und im herkömmlichen Sinne verstandene Bindungslosigkeit gerade nicht gleichzusetzen sind mit Bindungsabbruch oder Un-Bindung, sondern vielmehr eine wesentliche Funktion zur Koordination moderner Sozialbeziehungen spielen, ist der Kerngedanke des Modells. Kapitel 3 führt die Theorie der mediatisierten Kommunikation empi12 Hinter dieser Auffassung steht die religionstheoretische Position von Joachim Matthes. Er betrachtet Religion als diskursiven Tatbestand, der in drei diskursive Teilwelten gegliedert ist: „die institutionelle Welt der Kirchlichkeit, die Welt der arbiträren individuellen Glaubensvorstellungen, und die Welt der unsichtbaren ‚Religion‘“ (Matthes 1992, 136). Religion ist in dieser Perspektive eine Diskurswelt, deren drei Teilwelten sich in ständiger Auseinandersetzung wechselseitig konstituieren und verändern. Wird eine der drei Teilwelten als dinghafter Tatbestand begriffen und in einem exklusiven Sinn als die einzig legitime Form von Religion verstanden, kann Religion nicht angemessen wahrgenommen werden.
18
risch fort und vertieft sie am Beispiel der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche. Was heißt mediatisierte Kommunikation zwischen einzelnen ganz konkreten Menschen und der Kirche? Die Auswertung von vier biografisch-narrativen Interviews gibt in diesem Kapitel eine Antwort auf diese Frage. Kapitel 4 schließlich benennt Herausforderungen, die sich aus der Mediatisierung der Kommunikation für die praktisch-theologische Reflexion moderner Kirchenbindung ergeben, und schlägt auf dieser Grundlage eine Profilierung der praktisch-theologischen Subjektorientierung vor. Diese zielt darauf, das Subjekt stärker als bisher nicht nur als zu deutendes, sondern vielmehr als selbst deutendes und aktiv gestaltendes in die praktisch-theologische Reflexion über Kirchenbindung zu integrieren. Die vorliegende Untersuchung sieht sich in der Tradition einer Forschungsperspektive, wie sie von Trutz Rendtorff vertreten und initiiert wurde. Unter der Chiffre distanzierte Kirchlichkeit entdeckte er bereits 1958, dass soziale Distanz ein wesentlicher Koordinationsmodus moderner Kirchenbindung ist.13 Im folgenden wird nun der Versuch unternommen, diese soziale Distanz weiter auszuleuchten und zu beschreiben, wie genau soziale Distanz Teil moderner Kirchenbindung ist. Damit knüpft der Autor an seine eigenen Analysen zur bisher erfolgten empirischen und theologischen Wahrnehmung distanzierter Kirchlichkeit an. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass trotz der fünf Jahrzehnte, die seit Rendtorffs Entdeckung mittlerweile vergangen sind, aus unterschiedlichen Gründen kaum Fortschritte bei der empirischen Wahrnehmung moderner Kirchenbindung erfolgt sind.14 Der Fokus der folgenden Ausführungen richtet sich explizit auf Westdeutschland. Das erfordert die völlig unterschiedliche Konturierung der religiösen und kirchlichen Lage in Ost- und Westdeutschland. Die Berücksichtigung beider Regionen innerhalb des Rahmens, in dem die vorliegende Studie steht, wäre nicht praktikabel sowie wissenschaftlich nicht redlich. Gleichwohl ist die Studie von dem Bewusstsein getragen, dass ihr theoretisches wie auch ihr methodisches Vorgehen zahlreiche Perspektiven bieten, die zu einem vertieften Verständnis von Religiosität und Kirchlichkeit in Ostdeutschland führen können. Zu prüfen, inwieweit dem so ist, sei künftigen Studien vorbehalten.
13 Vgl. Rendtorff 1958. 14 Vgl. Kretzschmar 2001.
19
KAPITEL 1 Diskurse zur sozialen Bindung in der Kirche
Wer nach sozialer Bindung in der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche fragt, stößt dabei automatisch auf die Frage, wie das Thema der sozialen Bindung generell, in gesamtgesellschaftlicher Perspektive verhandelt wird. Für den allgemeinen Diskurs über die sozialen Kohäsionskräfte der Gesellschaft gilt, dass er aufs engste mit der Art und Weise zusammenhängt, in der Moderne wahrgenommen und begriffen wird. Die Stichworte Modernität und Modernisierung stehen dabei für unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Moderne. Versteht Modernisierung einen in die Zukunft weisenden Prozess der geschichtlichen Entwicklung als Fortschritt,1 so bezeichnet Modernität eher eine skeptische Selbstreflexion über das bislang Erreichte.2 Faktoren wie ökonomische, ökologische oder politische Krisen, Irritationen des Wachstumsglaubens und – vermeintlich – postmoderne Relativismen sozialer bzw. kultureller Selbstsicherheiten der westlichen Welt bringen unsichere Selbstbefragungen nach der Bindungskraft, der normativen Grundlegung und der Zukunft der modernen Gesellschaft und damit der Moderne überhaupt mit sich.3 An die Stelle ehemals selbstgewisser Überlegenheit sich selbst als modern lobender Gesellschaften tritt eine neue Furcht vor der Gesellschaft. Rationalisierung, Technisierung, Differenzierung, Bürokratisierung, systematische Erziehung, Verwissenschaftlichung, Enttraditionalisierung usw. werden nicht nur als Errungenschaften, sondern auch als Bedrohungen gesehen. Wird hier von Moderne gesprochen, ist damit der Zeitraum ab Anfang des 19. Jahrhunderts gemeint. Es ist die Zeit der Industrialisierung, in der die Komplexität der Gesellschaft rasant zunimmt (Pluralisierung und Differenzierung) und in der Selbstverwirklichung im Modus partikularer Autonomie (Subjektivität/Individualität) zu einer Leitkategorie des sozialen Miteinanders wird. Der oder die Einzelne tritt als asoziales Individuum aus einer bis dahin umfassend vorgegebenen Idee des guten Lebens heraus und verlässt damit gleichsam die Gesellschaft. Parallel zu dem Heraustreten des oder der Ein1 Vgl. Rammstedt 1995, 447. 2 Vgl. Berger 1988. Zum Verhältnis und zur unterschiedlichen Akzentuierung beider Begriffe vgl. Degele 2002, 376f. 3 Vgl. Sander 1998, 25; Offe 1986, 97.
21
zelnen wird jedoch gerade der Begriff Gesellschaft zu einer modernen Metapher für das geregelte Zusammenleben. Diese Entwicklung führt zu einer Gemengelage, in der sich zum einen Autonomiebestrebungen auf individueller oder kollektiver Ebene, zum anderen Modernisierungsschübe in teilgesellschaftlichen Funktionsbereichen und zum dritten eine Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit treffen. Die genannten Aspekte sind einerseits Gegensätze. Andererseits aber sind sie synchrone Konstitutionselemente der Moderne und erzeugen in einem Spannungsverhältnis latente Zerfallserwartungen, die seither in gewissen zeitlichen Abständen beschwichtigt oder radikalisiert werden.4 Sowohl die ‚Furcht vor der Gesellschaft‘ als auch die ‚Suche der Zukunft in der Vergangenheit‘ können als Folgelast einer immer rasanteren Modernisierung komplexer Gesellschaften betrachtet werden. Obwohl mit der Modernisierung auch das Reflexionspotenzial – in diesem Fall das der latent skeptischen Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften – wächst, wird paradoxerweise der unvoreingenommene Blick5 auf die gegenwärtige Verfassung des Sozialen eher verstellt. Das ist die Konsequenz eines Verständnisses von gesellschaftlichem Wandel, das gleichermaßen die positive Sicht einer fortschrittsorientierten Modernisierung wie auch die skeptische Sicht der Modernität umfasst. Die Diagnose gesellschaftlichen Zerfalls, also z.B. auch des Verlusts und Abbruchs sozialer Bindungen, ist auf diesem Hintergrund wesentlich eine Konsequenz der Interpretation gesellschaftlichen Wandels und nicht der interpretierten Realität selbst. Begreift man Theologie und Kirche nicht als Größen, die der Gesellschaft unverbunden oder gar diametral gegenüberstehen und völlig eigenen Regelmechanismen und Organisationsmustern folgen, sondern als Größen, die integraler Bestandteil sind und in, mit und für diese Gesellschaft wirken, dann können für die Wahrnehmung der Moderne, wie sie im spezifierenden Blick auf die gesellschaftliche Großorganisation Kirche anzutreffen ist, die gleichen Parameter geltend gemacht werden, die auch beim Blick auf die Gesamtgesellschaft anzutreffen sind. Werden im folgenden ausgewählte Diskurse zur sozialen Bindung in der Kirche nachgezeichnet, dann wird aus den gleichen Frageperspektiven wie für die Gesamtgesellschaft jeweils zu fragen sein, wie die Moderne als konstituierendes Moment auch des gegenwärtigen kirchlichen Lebens interpretiert wird. Wird der Zugang über den 4 Vgl. Sander 1998, 25f. 5 Natürlich kann es einen völlig unvoreingenommenen Blick nie und nirgends geben. Wird der unvoreingenommene Blick hier anempfohlen, dann bezieht sich die Unvoreingenommenheit lediglich auf die Ablehnung einer apriorisch pejorativen Wahrnehmung der sozialen Strukturen, die moderne Gesellschaften kennzeichnen. Voreingenommen wiederum ist die vorliegende Untersuchung in der Überzeugung, dass es neben problematischen Aspekten auch positive Aspekte gibt, die das soziale Miteinander in modernen Gesellschaften ausmachen bzw. überhaupt erst möglich machen.
22
Aspekt der Modernisierung gewählt? Werden Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung sozialer Strukturen in Kirche und Gesellschaft deskriptiv als Ausdruck sozialen Wandels wahrgenommen, den es zu erfassen und konstruktiv zu gestalten gilt? Oder wird der Zugang über den Aspekt der negativ gewerteten Modernität gewählt? Werden die Phänomene sozialen Wandels als Zerfall und Abbruch traditioneller sozialer Muster interpretiert? Wird Moderne vornehmlich als Bedrohung empfunden? Im Ergebnis zielen all diese an die jeweiligen Diskurse gerichteten Detailfragen auf die Ermittlung eines Antwortvorschlags auf die Frage: Was hält die Kirche zusammen? Neben Erkenntnissen darüber, wie soziale Bindung unter den Bedingungen der Moderne in der Kirche gegenwärtig wahrgenommen wird, bieten die folgenden Ausführungen zugleich einen Überblick zum Stand der Forschung, der die Zielsetzung und die Methodik der vorliegenden Untersuchung weiter legitimiert. Welche Diskurse werden nun näher betrachtet? Schwerpunktmäßig in den 90er Jahren kam es in Theologie und Kirche zu einer eingehenden Beschäftigung und Reflexion des Phänomens Pluralismus. Ist die Kirche vom Phänomen des Pluralismus betroffen? Wenn ja: Wie genau? Wie steht es unter den Bedingungen des Pluralismus mit der Identität? Was heißt Identität? Für welche Identität steht die Kirche? Sind Pluralismus und Identität miteinander vereinbar? Diese und zahlreiche Folgefragen, die nicht zuletzt auch intensiv um die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche kreisen, wurden im Rahmen eines Diskurses bedacht, der im folgenden als theologische Pluralismusdebatte bezeichnet wird. Auf sie wird an erster Stelle näher eingegangen. Im Zuge der Moderne haben sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Ausdrucksformen von Religiosität und Kirchlichkeit grundlegend geändert. Der Ort, an dem diese Veränderungen zuerst und sehr intensiv wahrgenommen wurden, war zunächst die alltägliche Berufspraxis von Pfarrern. Schnell wurde jedoch erkennbar, dass die Alltagswahrnehmungen der Pfarrerschaft nicht mehr ausreichten, um die modernetypischen Wandlungsprozesse und –phänomene im Bereich von Religiosität und Kirchlichkeit angemessen zu erfassen und über eine solide Basis für die Gestaltung des kirchlichen Lebens zu verfügen. Die empirisch-wissenschaftliche Wahrnehmung von Religiosität und Kirchlichkeit tritt seit Mitte des 19. Jahrhundert neben die Alltagserfahrungen vor allem der Pfarrerschaft. Da die empirische Sicht der Kirchenbindung eine unmittelbare Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse darstellt, ist mit ihr ein zweiter Diskurs benannt, der Aufschluss über gegenwärtige Sichtweisen auf die Frage nach der sozialen Bindung geben kann. Spätestens seit den 90er Jahren versucht man – nicht zuletzt unter dem Eindruck einschlägiger Modernisierungsprozesse in Gesellschaft und Kirche –, Instrumentarien aus dem bis dahin von Theologie und Kirche eher 23
skeptisch betrachteten Bereich der Ökonomie auch für die Pflege und Gestaltung des kirchlichen Lebens nutzbar zu machen. Vor allem der Bereich des Marketing, d.h. die Frage der Beziehung zwischen Anbieter und Kunde, wurde in kirchlichen Kreisen interessiert aufgegriffen. Da es sich beim Kirchenmarketing um nichts anderes als den Versuch handelt, seitens kirchlicher Organisationen soziale Beziehungen wahrzunehmen und zu gestalten, kann das Kirchenmarketing als dritter Diskurs genannt werden, dessen nähere Betrachtung Aufschluss über gegenwärtige Sichtweisen auf die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche geben kann. Der vierte Diskurs schließlich, der Einblick in die gegenwärtige Wahrnehmung der sozialen Bindung in der Kirche geben soll, ist die praktischtheologische Theoriebildung selbst. Die Berücksichtigung dieses Diskurses legt sich nicht nur deshalb schon nahe, weil die vorliegende Untersuchung ein praktisch-theologische Studie ist und sie deshalb auch Rechenschaft darüber ablegen sollte, wie in der eigenen Disziplin das Forschungsthema bisher präsent ist. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass die Praktische Theologie als eigenständige Teildisziplin der Theologie geradezu ein Kind der Moderne ist. So verdankt sie ihr Entstehen und auch ihr weiteres Fortbestehen nicht zuletzt den Modernisierungsprozessen in Kirche und Gesellschaft, wie sie seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorfindbar sind. Wie oben beim Thema Kirchenbindung in empirischer Sicht bereits angesprochen, gilt auch hier, dass alltagsbasierte Pastoralklugheit zur angemessenen Erfassung religiös-kirchlicher Strukturen nicht mehr ausreichte. Die Komplexität der durch Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung gekennzeichneten Strukturen erforderte die Ausbildung einer eigenen theologischen Praxiswissenschaft. Auf diesem Hintergrund ist der Praktischen Theologie die Beobachtung und Reflexion der sozialen Bindung in der Kirche gleichsam ins Stammbuch geschrieben. Wie sie sich dieser Aufgabe wohl stellt?
1. Jenseits von Modernitätskritik und Verfallssemantik – Die theologische Pluralismusdebatte Wir leben in einer Welt, die weder selbstverständlich noch eindeutig ist. Die Entdeckung der Möglichkeit immer wieder anderer Deutungen lässt sich als „lebens- und sterbensweltliche Wohltat“ verstehen (Odo Marquardt), wenn wir uns daran erinnern, mit welcher – manchmal tödlichen – Unduldsamkeit der Anspruch auf die einzig richtige Deutung vertreten worden ist. Immer wieder andere Deutungen können aber bedrängend oder gar bedrohlich sein, wenn darüber jedes Welt- und Selbstverständnis beliebig wird, wenn es Verbindlichkeit nicht mehr gibt. In diesem Spannungsfeld steht auch und besonders die christliche Theologie.6 6
24
Rüegger 1993.
Besser als Hansueli Rüegger, Journalist der Neuen Zürcher Zeitung und Berichterstatter über den VIII. Europäischen Theologenkongress 1993 in Wien, kann man das Koordinatensystem, vor dem sich das theologische Denken vor allem Anfang und Mitte der 90er Jahre bewegt hat, kaum umschreiben. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die damit einhergehenden welt- und gesellschaftspolitischen Veränderungen und Umwälzungen haben die Dynamiken moderner Gesellschaften geradezu inflationsartig auf die Tagesordnungen der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Diskursebenen gesetzt. Die Theologie reagierte mit einer breit angelegten Debatte über eine angemessene Wahrnehmung des neuzeitlichen Pluralismus. Exemplarisch sei auf den schon erwähnten VIII. Europäischen Theologenkongress verwiesen, der sich explizit mit dem Thema „Pluralismus und Identität“ befasste.7 Es ist unmöglich, die Fülle der theologischen Äußerungen zu diesem Thema in Gänze zu berücksichtigen. Im folgenden sollen lediglich vier Positionen vorgestellt werden, die profilierte Meinungen zum Phänomen des neuzeitlichen Pluralismus repräsentieren. Konkret handelt es sich um die Positionen von Eilert Herms, Albrecht Grözinger, Wolfgang Huber und Michael Welker. Die Wahl fällt auf diese Autoren, weil sie sich zum einen dezidiert mit der Frage beschäftigt haben, ob und, wenn ja, wie genau die Kirche vom neuzeitlichen Pluralismus betroffen ist und wie sie damit faktisch umgeht bzw. umgehen könnte. Die Frage nach der sozialen Bindung wird in all diesen Positionen entweder implizit oder explizit gestellt. Zum anderen fällt die Wahl auf diese Autoren, weil sie zu denjenigen zählen, die sich zum Pluralismusthema am öffentlichkeitswirksamsten geäußert und damit den theologischen und kirchlichen Pluralismusdiskurs maßgeblich bestimmt haben. Die Reihenfolge, in der die vier Positionen präsentiert werden, ist mehr oder minder zufällig. Dahinter steht die Überlegung, gleichsam induktiv ein Diskursfeld zu sichten und erst im Vollzug der Sichtung Distinktionen und Verhältnisbestimmungen zwischen den historisch gesehen in etwa zur gleichen Zeit entstandenen Einzelpositionen herauszuarbeiten, die dann am Ende des Abschnitts als Ergebnis formuliert werden. Die Leitkriterien für die folgende Sichtung sind die Fragen, ob und wie genau der gesamtgesellschaftliche Pluralismus wahrgenommen wird und ferner, ob und wie genau auf dieser Basis das Phänomen des kirchlichen Binnenpluralismus wahrgenommen wird. Zunächst zu Eilert Herms: Er entfaltet seine ekklesiologischen Überlegungen ausschließlich auf der Basis der sozialen Konstitutionsbedingungen der Moderne. Individualisierung, Pluralisierung und funktionale wie struk7
Vgl. dazu den Kongressband „Pluralismus und Identität“ (Mehlhausen 1995).
25
turelle Differenzierung sind für ihn keine Zerfallsphänomene, sondern gesellschaftliche Realitäten, auf deren Basis es über Wesen, Auftrag und Leben der Kirche nachzudenken gilt. Das Phänomen des gesellschaftlichen Pluralismus ist die Leitkategorie für seine Überlegungen.8 Herms betrachtet Pluralismus als ein Konstitutionsprinzip der gesamten Gesellschaft. So unterscheidet er vier Leistungsbereiche bzw. Interaktionsarten, die das Konstruktionsprinzip der Gesellschaft ausmachen: Die politische, die wirtschaftliche, die wissenschaftliche sowie die weltanschaulich religiöse Interaktion.9 Interdependenz kennzeichnet das Verhältnis, in dem die vier Interaktionsarten zueinander stehen. Aber nicht nur die Struktur der Gesamtgesellschaft kann mit dem Stichwort des Pluralismus näher beschrieben werden. So unterliegen die einzelnen Leistungsbereiche ihrerseits einer Binnendifferenzierung. Auf dieser Grundlage wendet Herms die analytische Kategorie des Pluralismus nicht nur auf die Gesamtgesellschaft an, sondern auch speziell auf das Religionssystem. In ihm sieht er eine Kommunikationspraxis mit dem Ziel, eine Verständigung über die ursprüngliche Bestimmung des Daseins zu erreichen, wie sie in dessen ursprünglicher Verfassung begründet ist; es geht um eine Antwort auf die Frage, „was der Sinn des Lebens“, beziehungsweise „wozu der Mensch da sei“; oder [...] um eine Antwort auf die Frage nach dem „höchsten Gut“.10
Indem das Religionssystem diese Fragestellungen bearbeitet, eignet ihm Relevanz für die anderen Leistungsbereiche der Gesellschaft. Doch nicht nur das. Darüber hinaus sind die Fragestellungen des Religionssystems für jedes einzelne Gesellschaftsmitglied grundlegend, begründen und qualifizieren sie doch dessen individuelle Handlungsfähigkeit. In dieser Hinsicht, so Herms, sind die Resultate des Religionssystems für die Öffentlichkeit der Gesellschaft „de facto [...] wegweisend“.11 Von Pluralismus betroffen ist das Religionssystem nun in folgender Weise: In der Moderne vollzieht sich die religiös-weltanschauliche Kommunikation einer Gesellschaft nicht mehr als ein einheitlicher Kommunikations- und Traditionszusammenhang über einen einheitlichen Symbolbestand mit tendenziell einheitlichem Ergebnis. Stattdessen geschieht das nun in einer Vielzahl verschiedener Kommunikations- und Traditionszusammenhänge über 8 Vgl. Herms 1989b, 1991 und 1994b. 9 Die Nähe zum Denken Luhmannscher Systemtheorie ist hier unverkennbar. Von Herms modifiziert ist es dahingehend, dass er statt von einer nicht näher spezifizierten Anzahl gesellschaftlicher Teilsysteme von lediglich vier Leistungsbereichen (Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Religion) ausgeht; vgl. zur Verhältnisbestimmung der Ansätze Herms’ und Luhmanns Herms 1992, 459f. 10 Ders. 1991, 469. 11 Ebd., 470.
26
verschiedene Symbolbestände mit tendenziell verschiedenen Resultaten. Repräsentiert werden die diversen Symbolbestände in westeuropäischen Gesellschaften von Kirchen, von Gemeinschaften, die aus dem Christentum hervorgegangen sind, aber auch von nichtchristlichen Religionsgemeinschaften und anderen Weltanschauungsgemeinschaften mit stärker philosophischem Ursprung und mit unterschiedlich festen institutionellen Formen.12 Es ist nun überraschend, dass Herms seine gesellschaftsanalytische Leitkategorie Pluralismus, nachdem er sie mit Gesamtgesellschaft und gesellschaftlichen (Teil-)Leistungsbereichen gleichsam über verschiedene Ebenen der Gesellschaftsstruktur durchgestuft hat, nicht wiederum auf die Teilbereiche einzelner Leistungsbereiche anwendet. Gibt es Pluralismus etwa nur im Leistungsbereich Religionssystem, nicht aber in dessen Teilbereichen wie z.B. der evangelischen Kirche?13 Ist die Kirche als Sozialgestalt in Herms’ Sicht so etwas wie ein monolithischer Block, der über homogene ideologische und normative Strukturen verfügt? Stehen die Mitglieder der Kirche alle in einer identischen Form der kognitiven und sozialen Bindung zur Kirche? Stellt sich für Herms die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche womöglich gar nicht? In der Tat lässt sich aus Herms’ ekklesiologischen Publikationen nicht rekonstruieren, wie genau er zum Faktum mannigfaltiger Formen der sozialen Bindung in der Kirche steht. Es wäre jedoch falsch, die gestellten Fragen mit Ja zu beantworten. Auch wenn Herms die gesellschaftsanalytische Kategorie des Pluralismus nicht explizit auf die Kirche anwendet, so ist es gerade seine normativ-dogmatische Reflexionsperspektive, aus der heraus er die Kirche und ihr Leben betrachtet, die Kirche als geradezu von Pluralismus konstituierte Größe wahrnimmt. Die Ursache dafür liegt in den zentralen Parametern reformatorischer Theologie, auf deren Basis Herms’ Ausführungen konsequent basieren. Das zeigt sich zum Beispiel an seinen Überlegungen zum Wesen des Gottesdienstes. Dieses entfaltet er konsequent dogmatisch. Doch statt seine dogmatische Distinktion nun im Maßstab 1:1 zu der schlechthin gültigen Form des realen Gottesdienstes deklarieren zu wollen, stellt er fest: Ein erster Einwand dürfte dahingehen, dass der Begriff eben wegen seines „dogmatischen“ Status am Leben und seiner Vielgestaltigkeit nicht nur vorbeigeht, sondern diese geradezu einzuschränken und zu behindern droht. Aber der Inhalt des [...] entwickelten Begriffs [sc. vom Gottesdienst] macht diese Sorge hinfällig. Der entwi12 Vgl. ebd., 471. 13 Würde Herms die Kategorie Pluralismus auch auf die konkret erfahrbare evangelische Kirche in Deutschland anwenden, so könnte man annehmen, dass das in Abhandlungen geschieht, die z.B. Titel tragen wie „Die evangelischen Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“ (Herms 1989b) oder „Was heißt es, im Blick auf die EKD von ‚Kirche‘ zu sprechen?“ (Ders. 1996). Das ist aber weder hier noch andernorts der Fall.
27
ckelte Begriff vom Wesen des Gottesdienstes ist selbst ein Begriff der Fülle und Bedeutungsträchtigkeit des Gottesdienstes, die in keinem Wesensbegriff und in keiner empirischen Erkenntnis eingeholt werden kann.14
Bezogen auf den Gottesdienst ist Vielgestaltigkeit und somit auch ein theologisch verantworteter Pluralismus – Herms spricht hier von Selbstrelativierung in Abgrenzung von Selbstvergleichgültigung – somit keineswegs eine Verwässerung dogmatischer Bestimmungen, sondern vielmehr deren direkte Folge. Einen analogen Standpunkt vertritt Herms auch beim Blick auf die Kirche insgesamt: Der Rückgriff auf die Grundeinsichten der Reformation folgt also nicht dem Bedürfnis nach Wiederherstellung einer verlorengegangenen inneren Einheitlichkeit des Protestantismus, sondern gerade umgekehrt dem Interesse an einem sachgemäßen Umgang mit dem religiösen Pluralismus in der neuzeitlichen (großen, offenen) Gesellschaft und mit der Individualität der Glaubenswirklichkeit auch innerhalb der Kirche.15
Der Rückgriff auf Herms’ Wahrnehmung von Pluralismus und damit einhergehend von Individualität in der evangelischen Kirche zeigt, dass es sich dabei keineswegs um Phänomene handelt, die Herms ignoriert oder gar in zerfallstheoretischer Absicht dogmatisch eliminieren möchte. Das Gegenteil ist der Fall: Sie gehören gerade zum normativen Kern reformatorischer Theologie. Als solche stellen sie für Herms eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass sich die evangelische Kirche konstruktiv in das Religionssystem der Gesellschaft einbringen kann16 und darüber hinaus auch dem Religionssystem insgesamt einen wertvollen Impuls geben kann, der die Privatisierung seiner Inhalte verhindert und es vor seiner gesamtgesellschaftlichen Irrelevanz bewahren kann.17 Mit seinem normativ-dogmatischen18 Zugang zur Sozialgestalt der Kirche unterstreicht Herms, dass Pluralismus als Signum der Moderne nichts ist, was die evangelische Kirche in modernitätskritischer Absicht zu fürchten oder gar 14 Ders., 1994a, 244f. 15 Ders. 1989a; Hervorhebung G.K. 16 Für Herms ist aus Sicht der reformatorischen Theologie der christliche Glaube geradezu der „exemplarische Fall einer zum ‚Pluralismus aus Prinzip‘ fähigen und verpflichteten Position“ (Herms 1991). 17 Nur wenn die im Religionssystem vertretenen Positionen Pluralismus nicht aus Beliebigkeit einfach nur hinnehmen, sondern Pluralismus für sich zum Prinzip machen und dadurch die Voraussetzung für konstruktive weltanschaulich-ethische Diskurse innerhalb des Religionssystems gegeben ist, wird das Religionssystem davor bewahrt werden, in die Privatheit auszuwandern und somit seine wegweisende und orientierende Funktion für die Gesamtgesellschaft nicht mehr erfüllen können; vgl. dazu Herms 1994b. 18 Vgl. Herms 1992; Brandt 1992.
28
zu verurteilen hätte. Vielmehr gilt: Pluralismus macht sie bereits wesensmäßig aus. Was ihm mit seinem normativ-dogmatischen Zugang jedoch verwehrt bleibt, ist ein Zugang zu den empirischen Ausformungen sozialer Koordination in den pluralistischen Strukturen des kirchlichen Lebens. Konsequenterweise rekurriert er bei der konkreten Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche auf die dogmatischen Kategorien des Heiligen Geistes und des Evangeliums.19 Sie sind es, die das pluralistisch verfasste Sozialgebilde evangelische Kirche aus dogmatischer Sicht zusammenhalten. Die Kirche sollte die multikulturelle Gesellschaft nicht als unvermeidliches Schicksal betrachten, das es zu ertragen gilt, sondern diese vielmehr als Chance begreifen, in ihr authentisch leben zu können.20 Ich verhehle nicht, dass mir die Chancen, die in der Herausforderung durch die Postmoderne begründet sind, für die kirchliche Praxis und theologische Reflexion ungemein größer zu sein scheinen als deren Risiken.21
Die beiden programmatischen Zitate geben unmissverständlich zu erkennen: Für Albrecht Grözinger ist die moderne Gesellschaft etwas, worauf er sich mit seinem theologischen Denken gerne einlässt. Die Theoreme der multikulturellen Gesellschaft, der Erlebnisgesellschaft und vor allem der Postmoderne sind die analytischen Kategorien, mit denen er die Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse der modernen Gesellschaft in den Blick nimmt. Um den gesellschaftlichen Ort von Kirche und ihre spezifische Funktion unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft näher zu beschreiben, rekurriert Grözinger auf das Bild der Stadt. Er konstatiert: „Wahrnehmung der Stadt ist stets auch Wahrnehmung von Differenz“.22 Stadt als Lebensform ist somit gekennzeichnet durch Differenz-Erfahrung. Wird die Differenz-Erfahrung nicht in fundamentalistischer Manier als Bedrohung, sondern als „Anmutung“ empfunden, könne sie als befreiend und bereichernd erlebt werden. Kirche in der multikulturellen Gesellschaft, so Grözinger, müsse „ein Ort bereichernder Differenz-Erfahrung sein“.23 Als Ort ästhesiologischer Erfahrung, d.h. als Ort, an dem eine Erfahrung mit der Erfahrung (Jüngel) gemacht wird, kann die Kirche einen wichtigen Beitrag zur Balance einer modernen Gesellschaft leisten. 24 Schließlich verlangt diese den 19 So formuliert Herms: Die Kirche sei eine „Gemeinschaft, die auf eine nicht verfügbare Weise begründet und zusammengehalten wird durch das geistgewirkte Betroffensein der Herzen von einer symbolischen Tradition – eben dem Evangelium“ (Herms 1989a, 66). 20 Grözinger 1992a, 15. 21 Ders. 1998, 9. 22 Ders. 1993, 297. 23 Ebd., 298. 24 Vgl. ebd., 300.
29
Menschen einiges an innerer und äußerer Beweglichkeit ab. Das geht so weit, dass es in der Moderne nicht mehr hinreicht, vom Individuum im Multikulturellen zu sprechen, sondern vom multikulturellen Individuum.25 Den Bedingungen der conditio postmoderna entsprechend befinden sich die Menschen in einer Situation der Individualisierung der Lebenswelten, des Verdachts gegen die großen Erzählungen und des Zwangs zur Erfindung des eigenen Lebens.26 Die Erfahrungen, die Menschen unter diesen Bedingungen machen, zeichnen sich aus durch ein Geflecht von Verbindungen und Übergängen. Es sind Erfahrungen der Transversalität. Auf dieser Grundlage plädiert Grözinger in Anlehnung an Welsch dafür, das Subjekt als schwaches Subjekt zu verstehen. Für das Verständnis christlicher Identität heißt das, dass sie nicht mehr als „identisches Paket mit bestimmten dogmatischen Ingredienzen“27 zu haben ist. Vielmehr müsse auch die christliche Dogmatik transversal werden, damit sich christliche Identität in der multikulturellen Gesellschaft stets aufs neue ausbilden könne. Einem Identitätszwang erteilt Grözinger damit eine klare Absage. Überhaupt zielen Grözingers Überlegungen zu Kirche und Religion in der modernen Gesellschaft immer wieder darauf, das unter der conditio postmoderna lebende Individuum zu begleiten und zu stärken. Im Hintergrund dieser Intention steht Grözingers Verständnis von Protestantismus. Ihm hafte ein „Grundzug des Individuellen“28 an, mit dem ein Widerstand gegen den Kollektivismus einhergehe – sei es den des sozialen Gruppeninteresses, sei es der der gleichgesinnten Gruppe oder sei es der eines emphatischen Nationalgefühls. So könne gerade die „protestantische Leidenschaft für den Einzelnen, für das Individuum [...] dem Protestantismus in unserer kulturellen Gegenwart nur zugute kommen.“29 Protestantische Religion stehe geradezu für die „Wahrung eines religiösen Frei-Raums, der alle Ansprüche einer kritischen Überprüfung unterzeiht.“30 All das heißt jedoch nicht, dass Grözinger die soziale Dimension des Protestantismus und der Kirche außer Acht lässt. Gerade wenn Kirche theologisch qualifiziert als Leib Christi verstanden und organisiert werden solle, komme es darauf an, die Individualität der Menschen zu bewahren31 und sie zugleich zur sozialen Kommunikation zu befähigen. So gesehen spielt die Frage nach den individuellen Bindungsbedürfnissen der Menschen eine wichtige Rolle: 25 26 27 28 29 30 31
30
Vgl. ders. 1995a, 392. Vgl. ders. 1998, 16. Ders. 1995a, 399. 1995b, 163. Ders. 2002a, 99. Ebd. Vgl. ders. 1996b, 25–27.
Wir wissen aus vielen empirischen Untersuchungen, dass wir in dieser Hinsicht auf höchst heterogene Erwartungen stoßen. Es gibt Menschen, die sich auf Kirche nur einlassen, wenn ihnen eine gewisse Distanz, und zwar bleibende Distanz gewährt wird. Ist Kirche so organisiert, dass sie diesen heterogenen Raum-Erwartungen gerecht werden kann? [...] Oder müssen sich Distanz-Verlangende bleibend als Partizipierende zweiter Klasse fühlen, weil die Kirche organisatorisch so strukturiert ist, dass sie die, die den nahen, intimen Rahmen suchen, privilegiert?32
Es kennzeichnet Grözingers Reflexionen über die Rolle von Kirche und Religion in der modernen Gesellschaft, dass er die gesellschaftsstrukturellen Bedingungen der Moderne nicht nur gewissenhaft wahrnimmt und würdigt, sondern sie darüber hinaus als Faktoren bestimmt, die den genuinen Anliegen protestantischer Theologie geradezu entgegenkommen. Kirchenbindung ist für Grözinger daher selbstredend ein zutiefst individualisiertes Phänomen. Nur als solches kann sie unter der conditio postmoderna Bestand haben. Die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche beantwortet Grözinger programmatisch: Wenn sich Kirche auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Postmoderne und Multikulturalität einlässt, dann wird sie als Sozialgebilde auch weiterhin zusammenhalten.33 Klar ist dabei: „Mit ‚Wir-Umschlägen und täglichen Einreden auf das Gemeinwohl‘“34 wird das nicht mehr gehen. Die analytischen Kategorien, mit denen Wolfgang Huber die Konstitutionsbedingungen der modernen Gesellschaft umschreibt, sind Multikulturalität und Pluralität. Das Hauptaugenmerk seiner ekklesiologischen Argumentation bezieht sich auf die Frage, wie sich die Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin konstruktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Pluralismus beteiligen kann. Eine vorschnelle modernitätskritische Haltung liegt ihm somit fern. Gleichwohl sieht Huber mit der gegebenen Multikulturalität und Pluralität eine spezifische Problemstellung verbunden. So liege Multikulturalität „im vollen Sinn [...] noch nicht vor, wo das Nebeneinander verschiedener Kulturen als auf Zeit oder Dauer unvermeidlich hingenommen wird.“35 Vielmehr könne von Multikulturalität erst gesprochen werden, wenn Begegnung und Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen gewollt, gefördert und gestaltet würden. In dieser Hinsicht sei Multikulturalität nicht nur ein Beschreibungs-, sondern auch ein Programmbegriff. 32 Ders. 2002b, 370. 33 Es zeichnet Grözinger aus, dass er es nicht bei der puren Programmatik belässt, sondern in zahlreichen Publikationen gezeigt hat, wie Praktische Theologie und kirchliche Praxis beschaffen sein müssten, um die Programmatik zu realisieren. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa seine Grundlegung der Praktischen Theologie (vgl. 1995c; 1997), die Seelsorgelehre (vgl. 1994; 1996a), die Homiletik (1992b; 2004), die Pastoraltheologie (vgl. 1998, 134–141) und die Diakoniewissenschaft (vgl. ebd., 123–133). 34 Ders. 1998, 9. 35 Huber 1992, 113.
31
Voraussetzung für eine echte Begegnung der Kulturen und somit für Multikulturalität im Vollsinn ist das Vorhandensein einer jeweils besonderen Identität der diversen gesellschaftlichen Teilkulturen: „Kultureller Austausch setzt kulturelle Besonderheit voraus.“36 Für den christlichen Glauben bedeutet das, dass er nur konstruktiv zur Multikulturalität beiträgt, „wenn er als christlicher Glaube erkennbar bleibt.“37 Angesichts der künftigen Entwicklungen, die Huber durch einen zunehmenden Säkularisierungsdruck gekennzeichnet sieht, plädiert er in Bezug auf die Kirchen für „ein schärferes Herausarbeiten ihrer eigenen Konturen und eine öffentliche Einmischung im Dienst am Lebensrecht aller Menschen.“38 In Weiterführung dieses Gedankens sieht Huber die Aufgabe von Christinnen und Christen darin, in unterschiedlichen alltagsweltlichen Kontexten christliche Identität zu leben und erfahrbar zu machen. Auf diese Weise könne Kirche zu einer offenen und öffentlichen Kirche werden.39 Begründet sieht Huber den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche zum einen in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 und zum anderen im neutestamentlichen Missionsbefehl (Mt 28,18–20). Auf der Basis dieses Öffentlichkeitsauftrags sieht Huber die Aufgabe der Kirche darin, auf eine spezifische Art und Weise an der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Pluralismus teilzunehmen und auf sie einzuwirken. Als entscheidende Kriterien nennt er dabei das Verständnis des Menschen als Geschöpf Gottes, christliche Nächstenliebe, die Option für die Armen so wie die Option für die Schwachen.40 Mit all dem hat Huber zunächst den gesellschaftlichen Pluralismus im Blick und die Rolle, die die Kirchen im Allgemeinen und die evangelische Kirche im Speziellen spielen könnten. Doch inwiefern nimmt er auch das Phänomen des innerkirchlichen Pluralismus wahr? Huber sieht diesen durchaus. Er stellt fest, dass sich „die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen ethisch-politischen Orientierungen [...] auch in den großen Kirchen wiederfindet.“41 Dennoch dürften solche Pluralitäten in einer christlichen Kirche keine letzte Gültigkeit haben. Der kirchliche Pluralismus dürfe nicht unabhängig „von der Suche nach einer für alle verpflichtenden Wahrheit“42 beschrieben werden. Dieser Wahrheitsbezug nötige dazu, „der Pluralität in der Kirche nur eine begrenzte und vorläufige Bedeutung zuzuerkennen.“43 Das Modell, das Huber für den Umgang mit dem innerkirchlichen, aber auch dem 36 37 38 39 40 41 42 43
32
Ebd., 115. Ebd. Ebd., 122. Vgl. ders. 1994a. Vgl. ders. 1994b, 174. Ders. 1994b, 173. Ebd. Ebd.
außerkirchlichen Pluralismus vorschlägt, ist ein konziliarer Prozess respektive Konziliarität. Mit ihrer Hilfe könne ohne autoritären Zwang die Verbindlichkeit ethischer Entscheidungen ermöglicht werden.44 Der theologische Vorbehalt Hubers gegen den innerkirchlichen Pluralismus unterstreicht, dass es ihm vor allem um die Frage nach dem gesamtgesellschaftlichen Pluralismus geht und um die Frage, welche Rolle die Kirche in ihm spielen kann. Nicht zuletzt seine vom Bischofsamt in BerlinBrandenburg mitgeprägten Wahrnehmungen lenken dabei den Blick auf die Aufgabe der Identitätsbildung. So müsse nicht die Verständigung zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensweisen [...] als erstes eingeübt werden, sondern der Weg zur Bildung einer eigenen, auch einer eigenen religiösen Identität [...] gebahnt werden. Gemessen an dieser Aufgabenstellung greifen diejenigen Konzeptionen zu kurz, die das Freiheitsproblem der Gegenwart mit den Theorien des Pluralismus oder des Multikulturalismus beschreiben. Denn sie setzen in aller Regel voraus, dass unterschiedliche Identitäten schon gebildet sind, so dass nur noch nach den Formen ihrer Koexistenz gefragt werden muss.45
Es sind insbesondere die „Institutionen des gemeinsamen Lebens“46, denen Huber bei der Ausbildung von Identitäten eine wichtige Rolle beimisst. Im Bereich der Religion sind die Kirche solche Institutionen gemeinsamen Lebens. Sie gilt es neu zu entdecken.47 Vor diesem Hintergrund sieht Huber die Kirche „Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche“48 – das insbesondere in Ostdeutschland,49 aber grundsätzlich auch in Bezug auf die gesamte Bundesrepublik.50 Das Idealbild von Kirche, das Huber in diesem Zusammenhang zeichnet, orientiert sich an einem theologischen Verständnis von Kirche als Gemeinschaft der Heiligen: „Damit ist die Gemeinschaft von Christinnen und Christen gemeint, die sich um das Wort Gottes versammeln und zu gemeinsamem Handeln aufbrechen.“51 In der Summe entwirft Huber das Programm einer Kirche in der Zivilgesellschaft, die als intermediäre Institution wirkt,52 die Orte der Begegnung und Vergewisserung bereitstellt53 und die in Bildung, Politik und Sozialwesen öffentliche Verantwortung übernimmt.54 Damit setzt er beim gesamtge44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. ders. 1992, 78f; 1993. Ders. 1995a, 280. Ebd., 283. Vgl. ders. 1996, 115. Vgl. ders. 1998. Vgl. ders. 1999, 10. Vgl. ders. 1998a, 477. Ebd. Vgl. ders. 1998b, 267–283; 2001, 142f. Vgl. ders. 1998b, 283–293. Vgl. ebd., 293–328; 2002, 24.
33
sellschaftlichen Pluralismus an und bietet einen Beitrag zur Frage nach dem sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer. Der Kirche misst er in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle bei. Hubers Schwerpunktsetzung auf die Frage nach der Rolle der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft hat jedoch zur Folge, dass für ihn die Frage nach dem innerkirchlichen Pluralismus von nachgeordneter Bedeutung ist. Wichtiger ist für ihn das Moment der Identität, das die Kirche als Akteurin einer pluralen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit einspielt. Vor die Frage, wie es um den innerkirchlichen Pluralismus und dessen soziale Koordination bestellt ist, schiebt sich bei Huber die Frage nach der faktischen bzw. missionarisch zu konstituierenden Einheit. In der Konsequenz setzt Huber bei der Frage nach der sozialen Koordination des innerkirchlichen Pluralismus nicht bei individuellen Formen der sozialen Bindung an, sondern bei theologischen Gemeinschaftsvorstellungen.55 Mit all dem mündet die Antwort, die Huber auf die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche geben kann, schwerpunktmäßig in die Proklamation von Einheit und Gemeinschaft. Phänomene von Pluralisierung, Individualisierung und Differenzierung innerhalb der Kirche kommen auf diese Weise nicht sehr scharf in den Blick. Geschieht das dennoch, dann besteht die Gefahr ihrer pejorativen Wahrnehmung. Dass Huber diese Sichtweise näher ist, als eine konstruktiv würdigende, lässt sein Fokus auf eine missionarische Kirche zumindest vermuten. Grundsätzlich gilt, dass sowohl Hubers gesellschaftsanalytische als auch kirchentheoretische Überlegungen weniger auf einer empirischen als vielmehr auf einer programmatischen Ebene anzusiedeln sind. Michael Welker schließlich greift das Phänomen des moderngesellschaftlichen Pluralismus als Konstitutivum der modernen Zivilgesellschaft auf und würdigt es grundsätzlich positiv. Das tut er jedoch in differenzierter Weise. So unterstreicht er, dass Pluralismus keineswegs mit Individualismus oder einer „vagen, konturlosen ‚Pluralität‘, ‚Pluralisierung‘ und ‚Diversität‘“56 verwechselt werden dürfe.57 Für ihn ist Pluralismus ein durchaus nicht [...] sich von selbst verstehendes und stabiles Evolutionsprodukt. Es handelt sich vielmehr um eine fragile und vielfältig gefährdete gesellschaftliche Form, von der die Qualität demokratischer Politik und freien menschlichen Zusammenlebens abhängt.58
55 Vgl. z.B. 1995b, 101. 56 Welker 1997, 70; 1998, 417. 57 Zur kritischen Problematisierung moderner Gesellschaftsstrukturen vgl. Welker 1990, 187; 1998, 416–418. Neben der schon genannten Verwechslung von Individualismus und Pluralismus kritisiert Welker außerdem das schwindende kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft. 58 Ders. 1995, 15.
34
Konstituiert wird der so verstandene gesellschaftliche Pluralismus durch drei Differenzen, die es zu erkennen und pflegen gelte: [...] die Differenz der verschiedenen gesamtgesellschaftlichen Funktionssysteme (z.B. Politik, Recht, Wirtschaft, Medien); die Differenz der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Assoziationen ([...] Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Interessengruppen etc.); schließlich die Differenz zwischen den gesamtgesellschaftlichen Funktionssystemen und den zivilgesellschaftlichen Assoziationen.59
Aufgabe des Machtkreislaufs des Pluralismus sei es, die Differenzen zwischen den verschiedenen Teilsystemen, die Differenzen zwischen den verschiedenen Assoziationen und die Differenzen zwischen Systemen einerseits und Assoziationen andererseits zu erhalten.60
In kritischer Auseinandersetzung mit Habermas macht Welker auf den konstruktiven Beitrag aufmerksam, den die Kirche als zivilgesellschaftliche Assoziation für die Gesellschaft zu leisten vermag. Gerade der faktische Binnenpluralismus ermöglicht es nach Welkers Meinung der Kirche, sich konstruktiv mit den ihr eigenen Themen (Gerechtigkeit, Erbarmen und Gotteserkenntnis) in den Diskurs der modernen, pluralisierten Zivilgesellschaft einzubringen.61 Auf diese Weise wirkt sie orientierend auf die fragile und vielfältig gefährdete gesellschaftliche Form des Pluralismus ein. Der Frage nach den Bindungskräften der ihrerseits pluralisierten Kirche begegnet er pneumatologisch mit dem Hinweis auf das Wirken des Heiligen Geistes: Die Versammlung, die Konstitution von Gemeinde, die ein echtes Zusammenwirken und Zusammenspiel und dabei auch das Aushalten von Spannungen, ja sogar die Pflege von Kontrasten und Differenzen einschließt, verdankt sich, wenn sie auf Gottes Gegenwart ausgerichtet ist, dem Wirken des Geistes.62
Eine erkennbare und eine erfassbare Form und Bestimmtheit gewinnt der vom Geist getragene binnenkirchliche Pluralismus durch die Ausrichtung auf die Intentionen des Erbarmensgesetzes: „Gerechtigkeit, Erbarmen (Schutz der Schwachen und Ausgegrenzten bzw. ihre Reintegration in die Gemeinschaft) und Gotteserkenntnis.“63 Dabei ermöglicht es der „Pluralismus des Geistes“,64 dass die Kirche den Intentionen des Erbarmensgesetzes auf plurale Art und Weise Ausdruck verleiht und sie auch tatsächlich in die Strukturen einer modernen, pluralistischen Zivilgesellschaft Eingang finden 59 60 61 62 63 64
Ebd., 17. Ders. 1998, 419. Vgl. ders. 1995, 33. Ebd., 32. Ebd., 33. Ebd., 34.
35
können. Vor diesem Hintergrund ist für Welker sowohl der interreligiöse als auch der innerkirchliche Pluralismus im Unterschied zu vager Pluralität und Diversität eine „klare Form“.65 Um diesen qualifizierten Pluralismus theologisch rückzubinden, rekurriert Welker, die Figur des Pluralismus des Geistes fortführend, an anderer Stelle auch auf das Bild von den verschiedenen Gliedern am Leib Christi: Die durch Gottes Wort und Gottes Geist gewirkte Verfassung des Leibes Christi müssen wir verstehen und wertschätzen lernen. Gegenüber allen monohierarchisch denkenden Frömmigkeitsformen, Theologien und kirchlichen Organisationen müssen wir die schöpferisch-pluralistische Gestalt des Leibes Christi neu entdecken. Die Glieder des Leibes Christi sind wohl alle auf Christus hin zentriert. Untereinander aber stehen sie in keiner einlinig-hierarchischen Verfassung (vgl. 1Kor 12; Röm 12). Dadurch wird die „Einheit“ in Christus zu einer dynamischen, lebendigen, immer wieder neu zu gestaltenden Einheit.66
In theologischer Sicht steckt Welker dem Phänomen des Pluralismus einen sehr weiten Rahmen. Doch wie füllt er diesen Rahmen auf der Ebene der sozialen Dimension in Bezug auf den innerkirchlichen Pluralismus? Welker sieht auf dieser Ebene sowohl die „systemischen Formen“ einerseits (bürokratische Kirchenleitung, kirchenrechtliche Vorgaben, Liturgien, Ausbildungssysteme etc.) und Assoziationsformen andererseits (versammelte Gemeinden, Bewegungen, Verbände, Synoden).67
Legt man diese Skizze des binnenkirchlichen Pluralismus zugrunde und verknüpft sie mit der inhaltlichen Füllung und Bedeutung, die er verteilt über seine ekklesiologischen Texte der Kategorie Gemeinde zukommen lässt, entsteht der Eindruck, dass Welkers Pluralismustheorie im binnenkirchlichen Horizont an eine Grenze stößt. Zum einen entseht der Eindruck, dass die Sozialform Gemeinde aus der Reihe der weiteren den binnenkirchlichen Pluralismus kennzeichnenden Formen präferiert wird. Dafür steht etwa eine Aussage wie diese: Die Kultur öffentlicher Verständigung, die Befähigung, Differenzen zu ertragen und zu fruchtbaren Kontrasten umzugestalten, diese Kultur der Kommunikation muss heute in der protestantischen Kirche weiterentwickelt werden. Das aber muss primär „vor Ort“ geschehen, in der scheinbaren Schwäche der „versammelten Gemeinde“, in vielfältiger Konkretheit und Authentizität.68
Zum anderen stellt sich die Frage, inwieweit Welker seine theologische Pluralismustheorie auch auf die Kategorie Gemeinde anwendet. Ist auch sie 65 66 67 68
36
Ders. 1998, 418. Zu Welkers Pneumatologie insgesamt vgl. Welker 1993. Ders. 1997, 70. Ders. 1998, 419. Ders. 1994, 189.
eine dynamische, lebendige, immer wieder neu zu gestaltende Einheit, in der Spannungen ausgehalten, Kontraste gepflegt und Differenzen bewahrt werden? Inwieweit wirkt auch hier der Heilige Geist sozial koordinierend?69 Trotz dieser Anfragen ist in Welkers Pluralismustheorie ein theologisch qualifizierter Zugang zu dem die moderne Gesellschaft kennzeichnenden Pluralismus zu sehen. Das Faktum des Pluralismus wird hier keineswegs als Mangelerscheinung klassifiziert, sondern als wertvolles zu gestaltendes und pflegendes Gut betrachtet. Dass sich diese Aufgabe gerade für die Kirche als vordringliche Aufgabe stellt, zeigt Welkers genuin theologische Argumentation mit ihrem Rekurs auf die Pneumatologie. Auch wenn gegebenenfalls der Eindruck entstehen kann, dass Welker die Kategorie Pluralismus zwar auf gesamtgesellschaftlicher und auch auf binnenkirchlich organisatorischer Ebene reflektiert, nicht aber auf der Ebene der konkreten Gemeinde vor Ort, so ist in der Summe doch davon auszugehen, dass gerade Welkers pneumatologischer Zugang geeignet ist, auch den Pluralismus dieser Ebene zu erfassen und theologisch zu qualifizieren. Mit seiner pneumatologischen Argumentationsfigur bietet Welker einen dezidiert theologischen Antwortvorschlag auf die Frage nach einem organisierenden Koordinationsmodell in der Kirche. Wie genau sich dieses Koordinationsmodell empirisch wahrnehmbar auf der sozialen Ebene darstellt und wie konkrete Individuen darin involviert sind, bleibt bei Welker jedoch offen. Die theologische Pluralismusdebatte, hier repräsentiert durch die Positionen von Eilert Herms, Albrecht Grözinger, Wolfgang Huber und Michael Welker, lässt keinerlei geschichtsfatalistische und einseitig negativ konnotierte modernitätskritische Sichtweisen erkennen. Die faktisch gegebenen modernen Gesellschaftsstrukturen, d.h. hier vor allem die gesellschaftliche Pluralisierung, werden als Faktum wahrgenommen, das es zu reflektieren und zu gestalten gilt. Die ideologisch unvoreingenommene Wahrnehmung dieses die moderne Gesellschaft prägenden sozialen Grundmusters findet bereits darin einen ersten Ausdruck, dass alle hier betrachteten Autoren zur Beschreibung der allgemeinen Charakteristika der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur auf analytische Kategorien rekurrieren, die sich pluralismusbedingten Theorieentwürfen verdanken. Das gilt für die im weitesten Sinne systemtheoretisch grundierten Zugänge von Herms, Huber und Welker ebenso wie für Grözingers Zugang über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft und der Postmodernetheorie. Einen weiteren Ausdruck findet die Akzeptanz moderner Gesellschaftsstrukturen in dem Bestreben, die pluralisierte Gesellschaft auf eine spezifische Art und Weise theologisch reflektiert zu gestalten. So zielen die im 69 Zur Bündelung von Welkers Reflexion des Pluralismus vgl. Welker 2000, 21–26.
37
Rahmen der theologischen Pluralismusdebatte angestellten Überlegungen gerade nicht darauf, die Gesellschaft so umzugestalten, dass die Pluralisierung zugunsten etwa neuer Formen der Vergemeinschaftung zurücktreten solle. Stattdessen werden Vorschläge unterbreitet, wie gerade die Dynamik der gesellschaftlichen Pluralisierung als Pluralisierung gestützt und verstärkt werden kann. Hinsichtlich der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche kennzeichnet es die theologische Pluralismusdebatte, dass die gesellschaftliche Pluralisierung als soziales Strukturmerkmal gesehen wird, das auch den Binnenraum der Kirche charakterisiert. Wie für die Pluralisierung der Gesellschaft als ganzer gilt ebenso für den kirchlichen Binnenpluralismus, dass er nicht als Defizitphänomen wahrgenommen, sondern durchaus positiv gewürdigt wird. Es wird als Vorteil gesehen, dass die Kirche ihrerseits pluralisiert ist. Auf diese Weise kann sie sich um so besser an der Gestaltung der pluralisierten Gesamtgesellschaft beteiligen. Allein bei Huber bleibt offen, ob er der pluralisierten Gesellschaft nicht doch eine an einem sozialen Einheitsideal orientierte Kirche gegenüberstellen möchte. Unterschiede lassen sich unter den hier betrachteten Autoren in Bezug auf die Reichweite feststellen, die die Reflexion des binnenkirchlichen Pluralismus ausmacht. Am wenigsten wendet sich Huber dem binnenkirchlichen Pluralismus zu. Sein Fokus richtet sich besonders stark auf die Frage, wie die Kirche sich als Anwältin der jüdisch-christlichen Glaubenstradition an der Gestaltung einer modernen Zivilgesellschaft beteiligen kann. Eine gewisse Polarisierung von Kirche und Gesellschaft könnte der Grund dafür sein, dass Hubers Augenmerk eher auf die soziale Identität als auf die soziale Pluralisierung der Kirche fällt. Welkers Wahrnehmung und Reflexion des binnenkirchlichen Pluralismus geht demgegenüber weiter. Er nimmt vor allem organisatorische Pluralisierungsphänomene in den Blick. Am weitreichendsten sind die Reflexionen zum Pluralismus von Herms und Grözinger. Als soziales Strukturmerkmal stufen sie die analytische Figur des Pluralismus ausgehend von der Ebene der Gesamtgesellschaft durch bis hin zum Individuum. Mit den Denkfiguren der Transversalität (Grözinger) und der individuellen Glaubenswirklichkeit (Herms) bringen sie zum Ausdruck, dass auch das Individuum plural verfasst ist und nicht als statisch zu denkende immer und allzeit gleiche Identität wahrzunehmen ist. Auf dieser Grundlage wird erkennbar: Die theologische Pluralismusdebatte rechnet sowohl auf gesamtgesellschaftlicher als auch auf binnenkirchlicher Ebene mit Strukturen, die pluralistisch verfasst sind. In Bezug auf das Verständnis von sozialer Bindung in der Gesellschaft ebenso wie in der Kirche zeigen nicht zuletzt die in der Pluralismusdebatte herangezogenen theologischen Denkfiguren wie zum Beispiel der Heilige Geist oder der Leib Christi, dass ein einfaches Schema, das sich auf das eindimensionale 38
Ausmessen sozialer Distanz und Nähe zu spezifisch definierten Formen von Vergemeinschaftung beschränkt, hier nicht anzutreffen ist. Die theologische Pluralismusdebatte hat in Sachen sozialer Bindung komplexere Formationen vor Augen. Dabei kann die Komplexität Ausmaße annehmen, die die gewohnten menschlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen übersteigen. Stellt man abschließend die Frage, welche Antwort die theologische Pluralismusdebatte in Bezug auf die soziale Bindung in der Kirche gibt, kann festgehalten werden, dass diese programmatischer Natur ist. Sei es das Votum für das Zulassen, ja Fördern von Differenzen (Grözinger) oder das auf jüdisch-christlicher Glaubens- und Wertetradition basierte Ermöglichen und Gestalten von Pluralismus respektive Identität (Herms, Welker, Huber) – die theologische Pluralismusdebatte verbleibt auf der Ebene von Deutungs- und Gestaltungsvorschlägen. Damit fördert sie das Verstehen und die Praxis des faktischen Pluralismus. Die Frage nach der konkreten Koordination sozialer Bindung in der Kirche muss sie dagegen zwangsläufig offen halten.
2. Im Schatten von Säkularisierungsdenken und kirchlichen Verfallstheorien – Kirchenbindung in empirischer Sicht Mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts gingen weitreichende und grundsätzliche Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens einher. Kein Bereich, der davon nicht betroffen gewesen wäre – so auch das kirchliche Leben. Eine Form, in der man im kirchlichen Kontext auf die weitreichenden Phänomene des Wandels reagierte, bestand darin, das Verhältnis zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern explizit empirisch zu erforschen. Wird im folgenden von empirischer Kirchlichkeitsforschung gesprochen, so ist damit keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin gemeint, die eindeutig etwa als Teilgebiet der Theologie, Soziologie oder Religionswissenschaft definiert werden kann. Vielmehr steht hinter der Begriffsbildung empirische Kirchlichkeitsforschung der Versuch, die mannigfaltigen Forschungsaktivitäten zu bündeln, die sich seit ca. 150 Jahren um die empirische Erforschung des Verhältnisses zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern bemühen. Seit der Initialzündung im 19. Jahrhundert werden die empirischen Ausdrucksformen der Kirchenbindung fortwährend von unterschiedlichen Fachdisziplinen erforscht. Auf institutioneller Ebene sind neben den Universitäten inklusive der dafür in Frage kommenden Fakultäten und Lehrstühle auch kirchliche Organisationen Träger wissenschaftlich grundierter empirischer Kirchlichkeitsforschung. Um die Art und Weise, in der die empirische Kirchlichkeitsforschung der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche nachgeht, konturiert darstel39
len zu können, wird im folgenden beginnend mit den Anfängen der empirischen Kirchlichkeitsforschung im 19. Jahrhundert die gesamte bisherige Forschungsgeschichte bis hin zu den aktuellsten Entwicklungen im Kontext der vierten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft betrachtet. Ausgehend von der eingangs entfalteten Reformulierung sozialer Bindung, die Phänomene der Bindungslosigkeit als Bestandteil sozialer Bindung betrachtet, soll auch hier wieder ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, wie soziale Bindung definiert wird. Wird sie mit sozialer Nähe identifiziert und somit normativ bestimmt? Oder wird soziale Bindung als komplexes Phänomen betrachtet, das mit dem eindimensionalen Rekurs auf soziale Nähe nicht zu verrechnen ist? Wie schon im Falle der Ausführungen zur theologischen Pluralismusdebatte so wird es auch für die Wahrnehmung sozialer Bindung im Kontext der empirischen Kirchlichkeitsforschung hilfreich sein darauf zu achten, wie die modernetypischen Strukturmerkmale der Individualisierung, der Pluralisierung und Differenzierung zur Sprache kommen. Von den Anfängen bis zur kirchlichen Auftragsforschung der 70er Jahre Die ersten Initiativen auf dem Feld der empirischen Kirchlichkeitsforschung sind motiviert durch einen mit der Industrialisierung Deutschlands verbundenen allgemeinen und radikalen gesellschaftlichen Umbruch. Gemessen an den traditionellen, ländlich geprägten Normen kirchlichen Lebens wirkte insbesondere der im Laufe des 19. Jahrhunderts neu sich bildende Stand der Industriearbeiterschaft als unkirchlich und religiös indifferent. Kirchliche Praktiker waren mit einer komplexen Problemlage konfrontiert. In Gemeinden, die oft mehrere zehntausend Mitglieder umfassten, kam es zu einem erheblichen seelsorgerlichen Erfahrungsverlust. Lebenspraktische Probleme, erst recht aber der Glaube der Arbeiter und ihre Einstellung zu Kirche und Religion, entzogen sich der Pfarrerschaft. Ferner führte der Zerfall der durch die agrarisch-handwerkliche Sozialstruktur konstituierten sozialen Bindungen zu einer Lösung aus traditionellen kirchlichen Bindungen. Schließlich führten die rapiden Urbanisierungsprozesse zu einer Ablösung alter Ordnungsgefüge und Systeme sozialer Kontrolle durch im Entstehen begriffene und noch nicht allgemeingültige Systeme der sozialen Koordination.70 Kirchlicherseits wurden die tiefgreifenden und gemessen an traditionellen Normierungen negativen Veränderungen des kirchlichen Lebens häufig als Resultat sozialistischer antikirchlicher Agitation erklärt. Einige Theologen wollten sich mit dieser monokausalen und nicht selten politisch-ideologisch 70 Vgl. Becker 1968, 18–20.
40
motivierten Analyse nicht zufrieden geben. Sie waren an empirischen Primärinformationen besonders aus dem Milieu der Arbeiterschaft interessiert, um so ein authentisches Bild von den dort herrschenden Einstellungen und Meinungen zu den Themen Kirche und Religion zu erhalten. Aus der Reihe der Pioniere der empirischen Kirchlichkeitsforschung seien exemplarisch Paul Göhre, Martin Rade, Paul Piechowski und Günther Dehn genannt. Im Hinblick auf die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche zeigen die frühen Arbeiten der empirischen Kirchlichkeitsforschung folgendes Bild: Grundsätzlich behielten die traditionellen Normierungen und Analysekategorien ihre Gültigkeit. Kirchenbindung wurde mit sozialer Nähe und Vergemeinschaftung identifiziert. Aus dieser Perspektive konnte dem neuen Stand der Industriearbeiterschaft zunächst nichts anderes als kirchliche Bindungslosigkeit attestiert werden. Trotzdem gelang es im Rahmen der frühen empirischen Forschungen auch, weiterreichende differenzierende Befunde zu erzielen. So sah man zwar, dass die Arbeiterschaft die vorfindbaren Strukturen kirchlichen Lebens fast durchgängig ablehnte. Gleichzeitig aber bejahte der größte Teil der Arbeiterschaft das Christentum als die eigene Religion. So orientierte sich die alltägliche Lebenspraxis der Befragten selbstverständlich an christlichen Wertmaßstäben. Ferner wurde der Person Jesu eine hohe Wertschätzung entgegengebracht. Schließlich gab es unter der Arbeiterschaft keine erhöhte Austrittneigung. Diese frühen empirischen Befunde zeigen, dass das Verschwinden traditionaler, auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung fokussierter Formen der Kirchenbindung keinesfalls mit einem völligen Verschwinden der Kirchenbindung gleichzusetzen ist. Eher deuten die empirischen Erkenntnisse auf Wandlungs- und Differenzierungsprozesse in Bezug auf die soziale Bindung zur Kirche hin. Den damals aktiven Forschern war eine solche Sichtweise jedoch noch verwehrt. Das zeigt insbesondere der Blick auf die praktischen Konsequenzen, die sie auf Grund ihrer empirischen Befunde zogen. In der Regel zielten sie auf die Wiedergewinnung der Industriearbeiterschaft – aus dem Einflussbereich der Sozialdemokratie – und die restaurative Neuformierung traditioneller kirchlicher Strukturen unter der Industriearbeiterschaft.71 Nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg kam es in den 50er Jahren zu einer Wiederbelebung empirischer Kirchlichkeitsforschung. Abermals war es der Blick auf die Auswirkungen des sozialen Strukturwandels in der industriellen Gesellschaft, der diverse Initiativen empirischer Kirchlichkeitsfor71 Als frühe Quellen, denen sich das damalige Profil empirischer Kirchlichkeitsforschung entnehmen lässt, sei exemplarisch verwiesen auf Göhre 1978, Rade 1898, Piechowski 1928 und Dehn 1924. Überblicksdarstellungen zu dieser Phase empirischer Kirchlichkeitsforschung bieten Becker 1968, 17–32, Marhold 1971, 22–34, Lukatis 1982 und Kretzschmar 2001, 47–58.
41
schung motivierte. Die allgemeine Wahrnehmung der Lage des kirchlichen Lebens war vor allem während der 50er Jahre bestimmt von einem ausgeprägten Säkularisierungsdenken, das ausgehend von den Zuständen vergangener Zeiten von einer rasant voranschreitenden Entkirchlichung ausging. Anders als zur Zeit der Anfänge empirischer Kirchlichkeitsforschung konzentrierte sich das Interesse nun nicht mehr nur ausschließlich auf die Industriearbeiterschaft als eines Teils der Gesellschaft, sondern auf die Gesellschaft insgesamt. Besonders durch die empirische Erforschung der Sozialgröße Kirchengemeinde erhoffte man sich tiefere Einsichten in das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft. Auf Grund der hohen Wirkmächtigkeit einer einfachen Säkularisierungsthese, für die die Entkirchlichung der Gesellschaft ein unumstößliches Faktum darstellte, stand in den 50er Jahren vor allem die Beschreibung der Nichterfüllung kirchlicher Normen im Vordergrund der empirischen Kirchlichkeitsforschung. Aus der Reihe der damals tätigen Forscher seien exemplarisch Thomas Luckmann, Friedrich H. Tenbruck, Reinhard Köster, Trutz Rendtorff und Hans-Otto Wölber genannt. Trotz der erkenntnistheoretisch engführenden Ausgangshypothese von der Entkirchlichung der Gesellschaft ermittelte die empirische Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre ein differenziertes Bild von der Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern. Kam bereits in der ersten Phase empirischer Kirchlichkeitsforschung schemenhaft zum Ausdruck, dass die Nichtteilnahme der Arbeiterschaft an den traditionellen gemeinschaftlichen Lebensformen der Kirche keineswegs mit einer völligen Abkehr von der Kirche gleichzusetzen sei, so konnte dieser Befund – nun bezogen auf die Gesellschaft als ganze – weiter präzisiert werden. Es wurde deutlich: Die Mehrheit der Kirchenmitglieder besucht den regelmäßig stattfindenden Sonntagsgottesdienst zwar nur selten oder nie; gleichwohl werden der Kirche gegenüber positive Einstellungen bekundet und ein spezifisches Partizipationsverhalten geübt, das sich in einer starken Inanspruchnahme kirchlicher Amtshandlungen niederschlägt. In der Gruppe der damaligen Akteure der empirischen Kirchlichkeitsforschung – ihr gehörten sowohl Soziologen als auch Theologen an – gab es unterschiedliche Ansichten darüber, wie diese Befunde im Blick auf die soziale Bindung zur Kirche einzuschätzen seien. Die Mehrzahl schloss sich dem gängigen Säkularisierungsempfinden an. Gemessen an einer vergangenen Zeit, in der sie die Erfüllung traditioneller Kirchlichkeitsnormen als weithin gegeben betrachteten, konnten sie ausschließlich einen epochalen Säkularisierungsprozess diagnostizieren. Im spezifischen Profil der Kirchenbindung der Mitgliedermehrheit konnten sie allenfalls eine nicht erklärbare Ungereimtheit oder ein Übergangsphänomen auf dem Weg zur vollends entkirchlichten Gesellschaft diagnostizieren. 42
Eine Ausnahme bezüglich dieser Einschätzung bildete die Analyse Rendtorffs. Er wählte ein historisches Erklärungsmodell gesellschaftlichen Wandels, das es ihm erlaubte, das damals gängige und auf zahlreichen theoretisch nicht näher erläuterten Arbeitshypothesen ruhende Säkularisierungsdenken hinter sich zu lassen. Auf diesem Wege gelangte er zu der Einschätzung, dass das kirchliche Leben seiner Zeit, und das heißt auch die Form der sozialen Bindung der Mitglieder zur Kirche, in der Kontinuität der traditionellen Kirchengemeinde stehen. Was hier passiere, sein kein Abbruch und auch keine Entkirchlichung, sondern lediglich ein Wandel der Kirchenbindung. Es ist das Verdienst Rendtorffs, diesen Wandel der Kirchenbindung auch sprachlich zum Ausdruck gebracht zu haben. So griff er nicht mehr auf die Formulierungen Unkirchlichkeit oder Entkirchlichung zurück, sondern schuf den Begriff der distanzierten Kirchlichkeit. Dieser Begriff steht für eine Form der Kirchlichkeit, die nicht in den gemeinschaftlichen und in engen zeitlichen Intervallen regelmäßig stattfindenden Formen des kirchlichen Lebens aufgeht. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Kirchlichkeit, die in einer Distanz zu diesen Formen steht und trotzdem ein positives und stabiles Kirchenverhältnis ausmacht. Die empirische Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre teilt mit den Anfängen der Forschungsaktivitäten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das Festhalten an einem traditionellen, auf soziale Nähe fixierten und auf Vergemeinschaftung zielenden Verständnis von sozialer Bindung. Dieses wird zum Maßstab für die empirische Vermessung eines als bereits sehr weit vorangeschrittenen Säkularisierungsprozesses erhoben. Komplexere Formen der Kirchenbindung können aus dieser Perspektive heraus nicht wahrgenommen werden. Trotzdem bringen die empirischen Forschungen der 50er Jahre eine Erweiterung des Kenntnisstandes über soziale Bindung in der Kirche mit sich. Namentlich Trutz Rendtorff greift die neu gewonnenen Erkenntnisse konstruktiv auf und betrachtet sie als Ausdruck eines Wandels gesellschaftlicher Strukturen, von denen auch die Kirche betroffen ist. Nicht Abbruch kirchlicher Bindungen, sondern deren Wandel lautet seine Diagnose. Mit dem Begriff der distanzierten Kirchlichkeit bringt er das zum Ausdruck.72 Während der 60er Jahre kommt es zu einem nahezu vollständigen Erliegen der empirischen Kirchlichkeitsforschung.73 Vor allem die Kritik von 72 Einen quellenmäßigen Zugang zur empirischen Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre bieten zum Beispiel Luckmann 1960b, Tenbruck 1960, Köster 1959/1960, Rendtorff 1958 und Wölber 1959. Einen Überblick über die Forschungsaktivitäten in den 50er Jahren bieten Goldschmidt 1960, Lukatis 1982/1983, Feige 1990a, 21–81 und Kretzschmar 2001, 58–74. 73 Als Beispiele für die wenigen Arbeiten im Bereich der empirischen Kirchlichkeitsforschung während der 60er Jahre sei verwiesen auf Kehrer 1967 und Lohse 1967.
43
Thomas Luckmann an der Kirchensoziologie der 50er Jahre forderte eine Zäsur zum Zwecke der Neuorientierung heraus. Er bemängelte eine Verengung des Frageansatzes auf kirchliche Praxis und Organisation und damit einhergehend eine Auslieferung an pastoraltheologische und kirchenpolitische Interessen. Aus soziologischer Sicht stellte er eine fast völlige Kontaktlosigkeit mit der allgemeinen soziologischen Theoriebildung fest.74 Mit seiner Kritik machte Luckmann auch die Gründe namhaft, die bislang wesentlich der Wahrnehmung des Wandels der Kirchenbindung und damit komplexerer Formen der sozialen Bindung in der Kirche im Weg gestanden haben dürften.75 Für den Fortschritt auf dem Feld der religions- und kirchensoziologischen Theoriebildung war Luckmanns kategoriale Kritik und das wissenschaftliche Klima der 60er Jahre ungemein anregend. So bieten besonders die von Joachim Matthes u.a. herausgegebenen Internationalen Jahrbücher für Religionssoziologie76 ein vitales Forum der theoretischen Neubestimmung. Aus der Reihe der theoretischen Neuansätze sind ferner die wissenssoziologischen und phänomenologischen Arbeiten Peter L. Berger und Thomas Luckmanns zu nennen.77 Ebenfalls in dieser Zeit nimmt Luhmanns systemtheoretisch fundierte Religionssoziologie ihren Ausgang.78 Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen von EKD und VELKD Nach der theoretischen Neubesinnung in Religions- und Kirchensoziologie während der 60er Jahre starten Anfang der 70er Jahre wieder groß angelegte Aktivitäten auf dem Feld der empirischen Kirchlichkeitsforschung. Getragen und initiiert werden sie von kirchlichen Institutionen. Ausgelöst werden sie abermals durch ein ausgeprägtes Krisenempfinden. Weder der drohende Abfall der Industriearbeiterschaft von der Kirche noch gar eine hypothetisch angenommene Entkirchlichung der gesamten Gesellschaft sind es diesmal, die zur empirischen Erforschung der Kirchenbindung motivieren. Vielmehr sind es die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre rapide in die Höhe schnellenden Austrittszahlen, die die neuen Initiativen empirischer Kirchlichkeitsforschung herausfordern. Ihr Beginn liegt im Jahr 1972. Zeitgleich führen sowohl die VELKD als auch die EKD repräsentative Erhebungen durch. Die EKD gab damit den Startschuss für ihre bis in die Gegenwart im Zehnjahresturnus durchgeführ74 Vgl. Luckmann 1960a. 75 Zu weiterer Kritik an der empirischen Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre vgl. auch Fürstenberg/Mörth 1979, 5. 76 Vgl. Matthes u.a. 1965ff. 77 Vgl. Berger 1961, 1967, 1969; Luckmann 1963 und 1967; Berger/Luckmann 1969. 78 Vgl. Luhmann 1972, 1977/2000.
44
ten Mitgliederbefragungen. Auf Seiten der VELKD sollte es dagegen bei einem Einzelfall bleiben. Die VELKD-Untersuchung „Gottesdienst in einer rationalen Welt“79 ging von einem gravierenden Akzeptanzverlust der Kirche in der Gesellschaft aus. Neben den hohen Austrittszahlen waren es in erster Linie die niedrigen Besucherzahlen des sonntäglichen Gottesdienstes, bei denen diese Untersuchung ansetzte. So Bestand das Ziel der Untersuchung darin, „die Freude und Liebe zum Gottesdienst und seinem regelmäßigen Besuch zu wecken und zu stärken.“80 Als Ursache für die niedrigen Gottesdienstbesuchszahlen wurde auf empirischem Wege eine Diskrepanz zwischen den von der Kirche vertretenen Werten einerseits und den in der Gesellschaft maßgeblichen Werten andererseits diagnostiziert.81 Die daraus zu ziehende Konsequenz zielte darauf, nach Wegen zu suchen, die Werte der Gesellschaft denen der Kirche anzunähern.82 Denn, so die theoretische Grundannahme der Untersuchung: Wenn die Werte der Kirche und die der Gesellschaft übereinstimmen, so wirkt sich das positiv auf das Verhalten der Menschen gegenüber der Kirche aus, kurz: Es besuchen wieder mehr Menschen den Gottesdienst. Die VELKD-Untersuchung befand sich bezüglich ihrer theoretischen Fundierung und auch ihrer theologischen Grundannahmen noch ganz auf dem Boden des Säkularisierungsdenkens der 50er Jahre: Die Entkirchlichung der Gesellschaft war die forschungsleitende Hypothese, der regelmäßige Besuch des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs war die einzig theologisch legitime Form der Kirchenbindung.83 Die VELKD-Untersuchung zeigt, dass auch Anfang der 70er Jahre die ersten empirischen Wahrnehmungen komplexer und gewandelter Formen der Kirchenbindung, wie sie beispielsweise Rendtorff Ende der 50er Jahre bereits präsentiert hatte, und auch die theoretischen Neubesinnungen in Religions- und Kirchensoziologie während der 60er Jahre noch keineswegs hinreichten, empirische Kirchlichkeitsforschung zu betreiben, die in Kirchenbindung mehr sah, als einfach nur soziale Nähe in Form des regelmäßigen Besuchs des Sonntagsgottesdienstes und der kognitiven Übereinstimmung mit einem klar definiertem konservativem Katalog kirchlicher Werte.84 79 Schmidtchen 1973. 80 Seitz 1973a, XI. 81 Vgl. Schmidtchen 1973, 132. 82 Letztlich handelt es sich um den Versuch einer Verkirchlichung der Gesellschaft (vgl. z.B. Schmidtchen 1977; Seitz 1973b). 83 Das man in Fachkreisen nur noch wenig gewillt war, diese überkommenen Prämissen einfach zu teilen, schlug sich in massiver Kritik nieder, die gegenüber der VELKD-Untersuchung geäußert wurde (vgl. z.B. Daiber 1974, 1975/1977). 84 Weitere Hintergründe und eine kritische Würdigung der VELKD-Untersuchung finden sich u.a. bei Feige 1990a, 165–200 und Kretzschmar 2001, 90–135.
45
Die erste EKD-Umfrage „Wie stabil ist die Kirche?“85 wählt eine andere Form des krisenbedingten empirischen Zugangs zur kirchlichen Lage. Im Unterschied zur VELKD-Untersuchung zielt sie nicht auf die Restaurierung einer vermeintlich besseren, vorsäkularen Vergangenheit, die sich durch eine wie auch immer gestaltete Wertekongruenz von Kirche und Gesellschaft auszeichnete. Auch hat sie nicht die Errichtung einer Kirche des regelmäßigen Sonntagsgottesdienstbesuchs vor Augen. Die erste EKD-Umfrage setzt viel unideologischer und wahrnehmungsoffener an und ist ganz grundsätzlich daran interessiert, nähere, empirisch belegte Aufschlüsse über die Einstellung und das Verhältnis der Mitglieder ihrer Kirche gegenüber zu erhalten.86 Im Rahmen der theoretischen Anlage der Untersuchung wird der Säkularisierungsbegriff abgelehnt. Er sei weder „historisch zwingend und schon gar nicht theologisch zufrieden stellend.“87 Auf Grund der beobachtbaren Fakten sei keineswegs ausgemacht, ob das veränderte Verhalten der Mitglieder auch ein verändertes Kirchenverhältnis ausdrücke und ob dies quantitativ oder qualitativ als vermindert anzusehen sei. Auf der Basis eines in Anlehnung an Niklas Luhmanns Organisations- und Systemtheorie formulierten Theorierahmens lauten die Grundfragen der ersten EKD-Umfrage: „Wie wird die Mitgliedschaft praktiziert? [...] Wie wird die Kirche durch ihre Mitglieder erfahren und verstanden? [...] Welche Erwartungen richten die Mitglieder an die Kirche?“88 Diese Frageperspektive89 erlaubt der ersten EKD-Umfrage eine Art Neuentdeckung. Zwar hatten bereits die frühen Umfragen unter der Industriearbeiterschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie auch Teile der empirischen Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre – hier vor allem Rendtorff – erkennen lassen, dass Kirchenbindung keineswegs auf soziale Nähe zum Sonntagsgottesdienst oder zum gemeinschaftlichen Leben der Kirchengemeinde zu reduzieren ist. Doch die Ergebnisse der ersten EKD-Umfrage gingen nochmals deutlich weiter. Der Befund: 70 Prozent der Kirchenmitglieder definieren ihr Kirchenverhältnis gerade nicht über soziale Nähe. Sie geben an, selten bzw. nie den regelmäßig stattfindenden Sonntagsgottesdienst zu besuchen. Gleichwohl bekunden sie aber, die kirchlichen Amtshandlungen selbstverständlich in Anspruch zu nehmen, den Weihnachtsgottesdienst und bestimmte Festgottesdienste zu besuchen, die eigenen Kinder selbstverständlich kirchlich taufen zu lassen, den Pfarrer und das Gespräch mit ihm sehr zu schätzen, nahezu keinerlei Austrittsneigung zu haben, mit der Kirche 85 Hild 1974. 86 Vgl. ebd., 21.32. 87 Ebd., 23. 88 Ebd., 40f. 89 Zu den theoretischen Hintergründen der Umfrage vgl. Hild 1974, 28–42; Feige 1990a, 157–164.200–211.
46
in wesentlichen Fragen in einem mittleren Maß übereinzustimmen und sich schließlich in einem mittleren Maß mit der Kirche verbunden zu fühlen.90 Mit dem solchermaßen konturierten Kirchenverhältnis hat die erste EKDUmfrage erstmals deutlich gemacht, dass die Kirchenbindung des bei weitem größten Teils der Kirchenmitglieder nicht angemessen erfasst und gewürdigt werden kann, wenn sie ausschließlich als soziale Nähe begriffen wird. Soziale Distanz und im herkömmlichen Sinne verstandene, auf soziale Nähe fokussierte, Bindungslosigkeit treten in der ersten EKD-Umfrage als konstitutive Elemente einer stabilen Form der Kirchenbindung in Erscheinung. So gelangen die Autoren der Ergebnispublikation zu dem Fazit, dass man in Kirche und Theologie gut daran tue, diese Form der Kirchenbindung als eigenständigen Typus praktizierter Kirchenmitgliedschaft zu akzeptieren.91 Dieses Votum und die hinter ihm stehenden empirischen Befunde stießen auf ein geteiltes Echo. Insbesondere kirchenleitende Persönlichkeiten drängten darauf, die empirischen Befunde als Krisenphänomene zu interpretieren und dringend nach Wegen zu suchen, die distanzierte Kirchlichkeit der Mitgliedermehrheit im Sinne sozialer Nähe zur Kirche zu korrigieren.92 Aus der Perspektive des Jahres 2004 betrachtet ist die weitere Erforschung der 1972 empirisch erstmals so deutlich wahrgenommenen Form der Kirchenbindung, die gemeinhin als distanzierte Kirchlichkeit bezeichnet wird, das zentrale Thema auch der folgenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen geblieben. An den grundsätzlichen Eckdaten zur Kirchenbindung hat sich im Laufe der vergangenen 30 Jahre so gut wie nichts geändert.93 Nach wie vor stellt die sogenannte distanzierte Kirchlichkeit die am häufigsten anzutreffende Form der Kirchenbindung dar. Nach wie vor kann sie als stabil gelten. Nach wie vor hat man nur wenige Anhaltspunkte und Vermutungen, die erklären könnten, warum die Mehrheit der Kirchenmitglieder trotz Distanz zur Kirche die Kirchenmitgliedschaft aufrecht erhält und sich ihr subjektiv verbunden fühlt. Der Weg, den beispielsweise 1982 die zweite EKD-Umfrage „Was wird aus der Kirche?“94 wählte, um mehr Klarheit über das Profil der Kirchenbindung der Mitgliedermehrheit zu erlangen, bestand in einer vertieften 90 Vgl. ebd., 45–206. 91 Ihre Einschätzung: „Aufs ganze gesehen hat man den Eindruck, das Verhältnis dieser Gruppe zur Kirche sei ziemlich problemlos. Das Verbundenheitsgefühl ist nicht stark, aber selbstverständlich. [...] Will man den Begriff ‚distanzierte Kirchlichkeit‘ verwenden, dann liegt der Ton sicher eher auf dem Stichwort ‚Kirchlichkeit‘. [...] es gibt ausreichend Hinweise, das Verhältnis dieser Gruppe wie das der Hochverbundenen für stabil zu halten“ (Hild 1974, 194). 92 Vgl. zu den Reaktionen kirchenleitender Persönlichkeiten exemplarisch Wölber 1974 und die Überblicksdarstellung bei Kretzschmar 2001, 167–169. 93 Vgl. Kirchenamt der EKD 2003, 9.13–28. 94 Hanselmann u.a. 1982.
47
Problematisierung der empirischen Befunde. Mit der Kategorie Unbestimmtheit versuchte man ein Wahrnehmungs- und Kommunikationsproblem zwischen den Kirchenmitgliedern und den in der Kirche tätigen zu formulieren.95 Wie schon im Rahmen der ersten EKD-Umfrage von Joachim Matthes festgestellt,96 verband man mit der Kategorie Unbestimmtheit das Problem einer Asymmetrie der Perspektiven auf die Kirchenbindung, wie sie einerseits kirchenoffiziell gegeben ist und andererseits bei den Kirchenmitgliedern vorfindbar ist. Vor dem Hintergrund eines von kirchlichen Institutionen und Amtsträgern geprägten und in der Öffentlichkeit präsenten Bildes von Kirchenbindung, so die Überlegung, muss die je individuelle Ausgestaltung der Kirchenbindung nahezu zwangsläufig als unbestimmt betrachtet werden: Was aus der einen Perspektive betrachtet konfus und unbestimmt erscheint, stellt sich auf der anderen Seite als auf eine ganz bestimmte Art und Weise schlüssig dar – und umgekehrt.97 Die 1992 durchgeführte dritte EKD-Umfrage „Fremde Heimat Kirche“98 versuchte den Kenntnisstand über die Kirchenbindung durch eine methodische Erneuerung zu erweitern. Erstmals wurden die empirischen Daten nicht nur mittels eines standardisierten Fragebogens ermittelt. Vielmehr wurde die Umfrage nun durch einen qualitativen Teil ergänzt, in dem themenorientierte Erzählinterviews durchgeführt wurden. Indem man ausgewählte Befragte, angeregt durch bestimmte Erzählimpulse, frei über Religion, Glaube und Kirche erzählen ließ, erhoffte man sich empirische Anhaltspunkte, die auf die je individuellen Bestimmtheiten der Kirchenbindung der Befragten schließen lassen würden.99 Was die Ergebnisse der vorangegangenen Umfrage bereits erkennen ließen, bestätigte der Blick auf die narrativen Erzählinterviews nachdrücklich: Kirchenbindung ist vor allem familiär-biografisch begründet und unterliegt den allgemein-gesellschaftlichen Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung. Bei der Darstellung der Ergebnisse fällt auf, dass als Bindungsrelevante Phänomene ausschließlich auf Formen der sozialen Nähe und inhaltlichen Übereinstimmung rekurriert wird.100 Einen kategorialen Forschritt bei der Erforschung moderner Kirchenbindung im Allgemeinen und distanzierter Kirchlichkeit im Speziellen kann die dritte EKD-Umfrage damit ebenfalls nicht erzielen – wohl aber liefert sie mannigfaltige Anregungen für weitere Forschungen zur Kirchenbindung. 95 Vgl. ebd., 39–43. 96 Vgl. Matthes 1975. 97 Vgl. zu weiteren Hintergründen der hinter der Kategorie Unbestimmtheit stehenden erkenntnistheoretischen Problemlage Matthes 1990. 98 Engelhardt u.a. 1997. 99 Vgl. zur diesbezüglichen Methodik Engelhardt u.a. 1997, 50–64; Studien- und Planungsgruppe der EKD 1998, 13–31. 100 Vgl. ebd., 145f.
48
Ein Impuls, der sich einer Anregung der dritten EKD-Umfrage verdankt und der das Bild der aktuellen vierten EKD-Umfrage „Kirche – Horizont und Lebensrahmen“101 sowie den aktuellen Stand der Erforschung der Kirchenbindung durch die empirische Kirchlichkeitsforschung prägt, soll im folgenden gesondert betrachtet werden. Milieutheoretische Zugänge102 Der resümierende Blick auf die bisherige Geschichte der empirischen Kirchlichkeitsforschung und speziell auf die qualitativen Erzählinterviews der dritten EKD-Umfrage zeigt, dass soziale Bindung in der Kirche nicht hinreichend erfasst werden kann, wenn soziale Bindung mit institutionell konfigurierter sozialer Nähe gleichgesetzt wird. Die Stabilität, gerade der sog. distanzierten Kirchlichkeit, lässt sich damit nicht erklären. Die verbreitete Unterscheidung der Kirchenmitglieder in sog. Hochverbundene und sog. Distanzierte wird den differenzierten Formen und der je eigenen Bestimmtheit (Matthes!) kirchlich religiöser Orientierungen nicht gerecht.103 Angesichts dieser Problemlage plädiert Eberhard Hauschildt, insbesondere inspiriert durch die qualitativen Erzählinterviews der dritten EKDUmfrage, dafür, mit der Orientierung an Milieutheorien eine neue Wahrnehmungsperspektive zu wählen und die qualitativen Interviews einer vertieften Analyse zu unterziehen.104 Geleitet ist sein Vorschlag von der Annahme, „dass sämtliche Milieus der Gesellschaft [...] auch ihre kirchliche Ausprägung haben [dürften].“105 Bei der Anlage und Auswertung der aktuellen vierten EKD-Umfrage wurde der Impuls Hauschildts aufgegriffen, so dass nun auch milieuspezifische Gesichtspunkte berücksichtigt wurden.106 101 Kirchenamt der EKD 2003. 102 Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die vierte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft und die Vorabveröffentlichung ihrer Ergbnisse durch das Kirchenamt der EKD (vgl. Kirchenamt der EKD 2003). Während der Drucklegung der vorliegenden Studie ist die ausführliche Ergebnispräsentation der vierten EKDErhebung erschienen (vgl. Huber u.a. 2006). Sie konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden. Eine Durchsicht des Bandes zeigt jedoch, dass die folgende Darstellung und kritische Würdigung in vollem Umfang durch die entsprechenden Ausführungen auch der ausführlichen Ergebnispräsentation der vierten EKD-Erhebung gestützt werden. Zu Darstellung und Würdigung des milieutheoretischen Zugangs der vierten EKD-Erhebung in der ausführlichen Ergebnispublikation vgl. Kretzschmar 2007. 103 Vgl. Bremer 2002a, 56. 104 Vgl. Hauschildt 1998. 105 Ebd., 397. 106 Eine frühe Initiative, den Milieubegriff für die Analyse der sozialen Strukturen des kirchlichen Lebens nutzbar zu machen, unternahm Klaus von Bismarck bereits im Jahr 1957. Unter dem Stichwort der Milieuverengung wies er damals darauf hin, dass die Kirche mit ihren Angeboten ganz bestimmte Wege zu ganz bestimmten Menschen suchte – nämlich dem Kleinbürgertum. Seine Schlussfolgerung damals: Angesichts einer Pluralität gleichberechtigter kirchlich-religiöser Orientierungen und Praxisformen müsse sich die
49
Was können Milieutheorien im Hinblick auf eine erweiterte Wahrnehmung sozialer Bindung in der Kirche leisten? Grundsätzlich stehen soziale Milieus für die Alltagszusammenhänge der Menschen, d.h. für die Art und Weise, auf die sie ihre zentralen Lebensbereiche regeln. Arbeit, Freizeit, Familie, Gemeinschaft, gesellschaftliche Partizipation, die Frage nach der Verwirklichung von Lebenszielen usw. bilden einen Zusammenhang, für den Ansprüche und Anforderungen miteinander ausbalanciert werden.107
Auch Fragen der ethischen, religiösen und kirchlichen Orientierung sind in diese spannungsreichen Prozesse der lebensweltlichen Verankerung eingebunden. Anders als bei Versuchen, die Struktur der Gesellschaft mittels eines Gefüges sozialer Schichten als vertikale Abstufung der ökonomischen Möglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder zu beschreiben, setzen Milieutheorien mit ihren Versuchen, die soziale Struktur der Gesellschaft zu beschreiben, bei gleichsam horizontalen, die ökonomischen Bedingungen übersteigenden Strukturen an.108 Hinter der milieutheoretischen Erweiterung älterer Schichtund Klassentheorien steht die schwerpunktmäßig in den 80er Jahren wahrzunehmende Entwicklung, wonach steigender Wohlstand bisher materiell fundierte Bindungen lockert, zunehmende Freizeit zeitliche Bindungen, zunehmende Mobilität soziale und räumliche Bindungen sowie das höhere Bildungsniveau die psycho-sozialen Bindungen.109 Außerdem beobachtete man die Auflösung schichttypischer Subkulturen und damit das Verschwinden von Schichten als bewusstseins- und verhaltensprägendem Kontext der ihnen Zugehörenden. Schließlich belegte man das Phänomen der schichtspezifischen Entstrukturierung der Gesellschaft mit dem Hinweis auf die Pluralisierung ehemaliger Konfliktlinien. Soziale und politische Spannungen waren kaum noch anzutreffen. Vielmehr waren immer häufiger themen- und situationsspezifische Koalitionen anzutreffen, bei denen sich Gruppen aus unterschiedlichen Soziallagen formierten. Dauerhafte Konfliktlinien bildeten sich nun an anderen Grenzen heraus, z.B. zwischen Geschlechtern, Altersgruppen und Nationalitäten.110 Indem Milieutheorien etwa Wertorientierungen und Lebensziele, Einstellungen zu Familie und Partnerschaft, zu Zukunftsperspektiven, politischen Grundüberzeugungen und Lebensstilen zum Ausgangspunkt der BeschreiKirche auf unterschiedliche Zugänge zu Kirche und Religion einstellen (vgl. von Bismarck 1975). 107 Bremer 2002a, 56; vgl. zusätzlich Geißler 1992, 71. 108 Vgl. Kretzschmar 2004b; Laube 2002. 109 Helmut Schelsky brachte angesichts dieser Veränderungen den Begriff der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in die gesellschaftsanalytische Diskussion ein (vgl. Schelsky 1979). 110 Vgl. zu den genannten Veränderungen der Gesellschaft Beck 1986.
50
bung sozialer Strukturen machen, entgehen sie der Gefahr, sich eindimensional an ökonomischen Faktoren zu orientieren und damit lediglich eine vertikal konstruierte Gesellschaftsstruktur abbilden zu können, die – anders als das je beteiligte Bewusstsein der Menschen111 – allein zwischen den Polen Oben und Unten verläuft. Sie sind stattdessen in der Lage, auch horizontal wahrgenommene Differenzierungen zu erkennen, für deren Konturierung ökonomische Faktoren eine eher latent bleibende Rolle spielen. Zwei milieutheoretische Ansätze prägen in den vergangenen Jahren gesellschaftsanalytische Zugänge, auch im kirchlich-theologischen Kontext, in besonderem Maße. Es handelt sich dabei um die Milieutheorien von Gerhard Schulze und Michael Vester. Sie werden zunächst näher betrachtet. Im Anschluss daran wird geschildert, wie der milieutheoretische Ansatz im Rahmen kirchlicher Forschungsinitiativen aufgegriffen wird. Dabei steht die aktuelle EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung „Kirche. Horizont und Lebensrahmen“ im Mittelpunkt. Zunächst zu Gerhard Schulze: Er geht von der Beobachtung aus, dass sich die Beziehung der Menschen zu Gütern und Dienstleistungen seit der Nachkriegszeit kontinuierlich verändert hat. Am Beispiel der Werbung illustriert er diese Veränderung. Stand früher der Gebrauchswert von Produkten im Vordergrund – Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit etc. –, so werde inzwischen immer stärker der Erlebniswert der Angebote betont. Zwecke, die jenseits der unmittelbaren Erlebnisfunktion von Waren liegen, würden nebensächlich. Schulze interpretiert diese Entwicklung als Prozess der Ästhetisierung, als einen umfassenden Wandel, der nicht auf den Markt der Güter und Dienstleistungen beschränkt bleibt.112 Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert: Konsumartikel, Eßgewohnheiten, Figuren des politischen Lebens, Berufe, Partner, Wohnsituationen, Kind oder Kinderlosigkeit.113
Zusammenfassend bezeichnet Schulze diese Entwicklung als „Ästhetisierung des Alltagslebens“.114 Alltagsästhetische Präferenzen der Menschen werden daher zu dem zentralen Kriterium seiner Milieutheorie. Methodisch entwirft Schulze seine Milieutheorie in einem Mix aus Theorieund Empiriearbeit. Das Verhältnis von Theorie und Empirie sollte seiner 111 Zum Verhältnis zwischen gesellschaftstheoretischen Klassifikationen und Kategorisierungen sozialer Gruppen einerseits und dem individuellen Bewusstsein, das Menschen von ihrem eigenen sozialen Status haben, andererseits vgl. Mies/Steigerwald 1990; Krysmanski/Mies 1990. 112 Vgl. Schulze 1997, 13. 113 Ebd. 114 Ebd., 33–91.
51
Meinung nach nicht so gestaltet sein, dass die Theorie in die Sequenz von empirischen Untersuchungen eingegliedert werde, „sondern umgekehrt das empirische Vorgehen in die Sequenz theoretischer Reflexion.“115 Deshalb tauche der empirische Teil der Untersuchung nur dann auf, wenn er gebraucht werde, wie etwa bei der Beschreibung von Milieus. Konkret heißt das für Schulzes Milieubeschreibungen, dass die Milieutheorie zunächst auf dem Wege theoretischer Reflexion entworfen wird und empirische Daten zur weiteren Explikation dieser Milieutheorie herangezogen werden.116 Wie stellt sich Schulzes Milieutheorie nun konkret dar? Ausgehend von seinem zentralen Kriterium alltagsästhetischer Präferenzen (z.B. hinsichtlich der Teilnahme am kulturellen Leben, der Freizeitgestaltung, der Mediennutzung usw.) differenziert Schulze die bundesdeutsche Gesellschaft in insgesamt fünf Milieus. Diese Milieus unterscheiden sich in sozialstruktureller Hinsicht vor allem nach Lebensalter und Bildung. Weitere Unterscheidungsmerkmale sind: Familienstand, Haushaltsstruktur, Teilhabe oder Nichtteilhabe am Erwerbsleben, Arbeitsplatzmerkmale und Wohnsituation. Entsprechend der Altersverteilung findet Schulze die 20- bis 40-jährigen tendenziell häufiger im Raum des Selbstverwirklichungsmilieus vor (hohe Bildung) und im Unterhaltungsmilieu (niedrige Bildung). Die über 40-jährigen verortet er mehr im Niveaumilieu (hohe Bildung), im Integrationsmilieu (mittlere Bildung) und im Harmoniemilieu (niedrige Bildung).117 Schulze stellt die empirischen Ergebnisse zu jedem der fünf Milieus nach einem einheitlichen Raster vor, das insgesamt sieben Aspekte umfasst.118 Zur Illustration werden im folgenden zu jedem Milieu einige Schlaglichter des Aspekts „Manifestation in der Alltagswelt“ präsentiert. Dieser Aspekt lässt die einzelnen Milieus besonders plastisch in Erscheinung treten, zeigt zugleich jedoch die Gefahr unangemessener Stereotypisierung. Zum Niveaumilieu: Publikum der Hochkulturszene; älteres Personal des pädagogischen Bereichs und der akademischen Berufe; konservative und liberale Einstellungen; Golfclub; gehobene Restaurants; konservativer, qualitätsbewusster, eleganter Kleidungsstil.
115 Ebd., 90. 116 Zur Illustration der theoretisch entworfenen Milieutypen bildet Schulze bei der Auswertung seiner empirischen Daten Subpopulationen, die den zuvor definierten Milieutypen entsprechen. Für diese nimmt er dann empirische Detailanalysen vor, so dass für jeden Milieutyp charakteristische empirische Merkmale erkennbar werden. Schulze präsentiert die Ergebnisse dieser Analysen in kommentierten Tabellen zur milieuspezifischen Alltagsästhetik im Anhang seiner Untersuchung (vgl. Schulze 1997, 635–661). 117 Vgl. ebd., 278. 118 Die sieben Aspekte strukturieren Überblickstabellen, die zu jedem der fünf Milieus präsentiert werden (vgl. Schulze 1997, 291.300.311.321.330).
52
Zum Harmoniemilieu: Ältere Arbeiter und Verkäuferinnen; Rentner und Rentnerinnen; billige und unauffällige Kleidung; Einkauf bei Billigeinkaufsmärkten; Fußballpublikum; Pauschaltourismus. Zum Integrationsmilieu: Mittlere Angestellte und Beamte; Besitzer von Eigenheimen; aktiv im Vereinsleben; konservativ-gediegene und tendenziell unauffällige Kleidung; Mittelklassewagen. Zum Selbstverwirklichungsmilieu: Neue Kulturszene (Kleinbühnen, Konzerte); Besuch von Kneipen (Studentenkneipe, neuere Cafés etc.); soziale, therapeutische und pädagogische Berufe sowie „Yuppies“; Individualtourismus; moderner Freizeitsport; Einkauf in Boutiquen und Naturkostläden; Engagement in politischen Bewegungen; sportlicher, alternativer und eleganter Kleidungsstil. Zum Unterhaltungsmilieu: Fußballfans; Besuch von Bräunungsstudios, Spielhallen und Automatensalons; Verkehr in der Sport- und Volksfestszene; Autos mit auffälligem Zubehör; sportlicher Bekleidungsstil, oft billige Massenware; jüngere Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Verkäuferinnen.119 Schulze legt in seiner Theorie einen Schwerpunkt auf das Individualisierungsparadigma.120 Der oder die Einzelne bildet das Zentrum der Gesellschaft und somit auch das „Maß aller Dinge“. Soll eine Gesellschaft aus dieser Perspektive heraus beschrieben werden, wird der „Geschmack“ des einzelnen Menschen – seine individuelle Ästhetik – zu der Zentralkategorie, wenn es darum geht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Einzelnen und Gruppen festzustellen. Damit veranschaulicht Schulze den Individualisierungsprozess moderner Gesellschaften und leistet einen eingängigen Beitrag zu seiner Beschreibung. Allerdings steht die Konzentration auf das mit der Milieuzuschreibung verrechnete Individuum in der Gefahr, gesellschaftliche Einflussgrößen aus dem Blick zu verlieren, die das Leben von Menschen (nicht aber unbedingt auch ihr Bewusstsein) bestimmen und zugleich deren Beeinflussbarkeit entziehen. Zu denken ist hier vor allem und zunehmend an Phänomene sozialer und materieller Ungleichheit (z.B. Arbeitslosigkeit). Es liegt nicht im alleinigen Ermessen der Einzelnen, ob sie z.B. zum Harmoniemilieu (unten) oder zum Niveaumilieu (oben) gehören. Zum anderen – und das hängt damit zusammen – muss kritisch gefragt werden, ob es zur Beschreibung der Gesellschaftsstruktur hinreicht, wie in einfachen Schichtungsmodellen nur eindimensional zu verfahren und allein mittels der ästhetischen Vorlieben der Gesellschaftsmitglieder die Struktur der Gesellschaft abbilden zu wollen.121 119 Vgl. ebd., 283–330. 120 Zum Individualisierungsparadigma vgl. Beck 1986 und die zahlreichen weiteren Publikationen, die seither von Beck erschienen sind. 121 Zur Notwendigkeit, für eine sachgerechte Beschreibung der Gesellschaftsstruktur mehrdimensionale Theorieentwürfe heranzuziehen vgl. Krysmanski/Mies 1990, 792.
53
Im Unterschied zu Schulze geht Michael Vester nicht vom Erlebniswert alltagsästhetischer Erfahrungen aus. Seine Zentralkategorie sind vielmehr die Mentalitäten gesellschaftlicher Gruppen. Die Mentalitäten einzelner Milieus unterscheiden sich bei Vester „nach der Ethik ihrer alltäglichen Lebensführung“.122 Die Art, wie Menschen haushalten und Knappheiten bewältigen, welchen Freizeit- und Konsumgeschmack sie entwickeln, wie sie ihre Ausbildungs- und Berufswege gestalten und wie sie mit anderen Menschen umgehen oder zusammenleben,123
machen für Vester die Ethik der alltäglichen Lebensführung aus. Die empirische Grundlage für Vesters Milieutheorie bildet eine 1991 durchgeführte Repräsentativumfrage. Mit Hilfe komplexer statistischer Auswertungsverfahren (multivariate Datenanalyse) konnten aus den erhobenen Daten signifikante Bündelungen von Antwortmustern herausgelesen werden, in denen unterschiedliche Mentalitätstypen und somit Milieus identifiziert werden konnten.124 Im Unterschied zu Schulzes Milieutheorie, die der Theoriebildung einen Primat vor der empirischen Arbeit einräumt, liegt der Ausgangspunkt bei Vesters Milieutheorie damit bei empirischen Befunden. Wie stellt sich Vesters Milieutheorie nun im einzelnen dar? Auf dem Wege einer „typenbildenden Mentalitätsanalyse“125 können Vester und sein Forschungsteam nachweisen, dass es in der Gesellschaft zwar viele individuelle Verhaltensmuster gibt und vielfältige Unterschiede im Detail. Bei aller Vielfalt kann er dennoch eine begrenzte Zahl von Grundtypen an Mentalitäten und Haltungen nachweisen, mit deren Hilfe die diesbezügliche Struktur der ganzen Gesellschaft abgebildet werden kann. In diesen Großgruppen sieht Vester in einem gewissen Sinne Nachfahren der alten sozialen Schichten. Dennoch redet er lieber von Milieus. Damit hält er sich die Möglichkeit offen, die Binnendifferenzierung wahrnehmen zu können, die innerhalb der ehemals definierten Schichten mittlerweile erfolgt ist. Sicher – und in Bezug auf den Milieubegriff besonders wichtig – ist dies: Ökonomische, insbesondere am Berufsstatus orientierte Parameter allein greifen in der Gegenwart nicht mehr. Milieugrenzen verlaufen heute nicht mehr entlang von Berufsgrenzen. Gleichwohl gilt andererseits: Die Berufe innerhalb eines Milieus sind zwar nicht gleich, aber doch ähnlich. Der ökonomische Faktor behält somit auch in der Gegenwart eine gewisse Bedeutung. Für die Position eines Milieus im sozialen Raum heißt das: Innerhalb eines vorgestellten Rechtecks mit entsprechenden Seitenparametern, innerhalb dessen verschiedene Ausprägungskombinationen darzustel122 123 124 125
54
Vester 2002a, 89. Ebd. Vgl. Bremer 2002b, 137. Vgl. zu diesem Verfahren Bremer 2002b, 137; Vester 2002a, 89.
len möglich ist, nehmen nach oben hin Macht, Entscheidungsfreiheit und Sicherheit zu, nach links hin steigen Fachkönnen und Eigenständigkeit.126 Welche Milieus identifiziert Vester im einzelnen und wie genau sind sie im sozialen Raum platziert? Auf der vertikalen Achse des sozialen Raums verortet Vester drei Obergruppen von Milieus: Die führenden gesellschaftlichen Milieus, die mittleren Volksmilieus und die unterprivilegierten Volksmilieus. Auf der horizontalen Achse des sozialen Raums kann Vester die genannten Großgruppen weiter differenzieren, d.h. aus den drei Großgruppen der vertikalen Achse bildet er nun insgesamt sieben Milieugruppen: Das führende gesellschaftliche Milieu untergliedert er in (1) wirtschaftliche und hoheitliche Elite-Milieus, (2) humanistische und dienstleistende Elite-Milieus sowie (3) in ein Milieu der Avantgarde; die mittleren Volksmilieus werden unterteilt in (4) respektable Volksmilieus der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie, (5) in respektable Volksmilieus der Traditionslinie der Facharbeiter und der praktischen Intelligenz und (6) in ein Milieu der jugendkulturellen Avantgarde; die (7) unterprivilegierten Volksmilieus unterzieht Vester an dieser Stelle noch keiner weiteren Differenzierung.127 In einem dritten Schritt schließlich verlässt Vester die Ebene der Milieu-Obergruppen und benennt im Rahmen eines weiteren Differenzierungsschrittes nun insgesamt zwanzig Milieus, die den sozialen Raum der Bundesrepublik ausfüllen. Jedes dieser Milieus hat in Bezug auf den Aspekt der Ethik der alltäglichen Lebensführung ein signifikantes Gepräge, das es von anderen Milieus unterscheidet.128 Das Spektrum dieser derartig empirisch identifizierten sozialen Milieus reicht vom Milieu der „Statusorientierten Traditionslosen“ bis (hinauf) zum Milieu der „Progressiven Bildungselite“. Jedes der Milieus wird ausführlich nach einer „Steckbrief-Systematik“129 beschrieben, die die Unterpunkte Demographie, ökonomisches Kapital (finanzielle Lage), kulturelles Kapital (Ausbildung und Beruf), kulturelles Kapital in der Eltern- und Großelterngeneration, gemeinschaftliches und geselliges Verhalten sowie die politische Orientierung umfasst.130 Im Vergleich mit Schulze argumentiert Vester in vielerlei Hinsicht deutlich differenzierter. Der Begriff der Mentalität, hinter dem sich bei Vester die Ethik der alltäglichen Lebensführung verbirgt, steht von vornherein für eine mehrdimensionale Beschreibung der Gesellschaft. Neben dem Aspekt der Alltagsästhetik spielen bei Vesters Mentalitätenbegriff zusätzliche Faktoren wie bspw. die materiellen Ressourcen der Menschen, Bildungschancen 126 Vgl. Vester 2002a, 90–92. 127 Vgl. ebd., 96–99. 128 Vgl. zur Gesamtstruktur der Milieus im sozialen Raum Vester 2002a, 91.99–107. 129 Vgl. ders. 2002b, 271. 130 Zu den einzelnen Milieus vgl. die ausführlichen Datenprofile in Vögele u.a. 2002, 275–409.
55
und Bildungszugänge sowie Strukturen sozialer Netzwerke eine Rolle. Dementsprechend differenziert fällt Vesters Milieustruktur der bundesdeutschen Gesellschaft aus (zwanzig statt fünf Milieus!). Die von vornherein gegebene Berücksichtigung überindividueller Faktoren (soziale Ungleichheiten etc.) ermöglicht es ihm, Milieus so zu beschreiben, dass die Zugehörigkeit zu ihnen als Wechselspiel erkennbar wird: zwischen individuellen Präferenzen – etwa ästhetischer Art – einerseits und andererseits Faktoren, die sich der Beeinflussbarkeit des einzelnen Menschen entziehen. Somit kann Vester sowohl die Erklärungskraft des älteren Konzepts der Schichtung nutzen als auch den Erfordernissen veränderter gesellschaftlicher Strukturen Rechnung tragen. Mit der vorangegangenen ausführlichen Darstellung der milieutheoretischen Ansätze soll verdeutlicht werden, dass mit Milieutheorien in der Tat gesellschaftsanalytische Instrumentarien zur Verfügung stehen, komplexe Ordnungsgefüge moderner, individualisierter und pluralisierter Gesellschaften zu erfassen. So wie sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene über eindimensionale Beschreibungsmuster wie beispielsweise traditionelle ökonomisch orientierte Schichtungstheorien hinausgehen, so kann mit ihrer Hilfe auch die soziale Bindung in der Kirche differenzierter dargestellt werden, als das bei der bisher in der empirischen Kirchlichkeitsforschung üblichen Form der Messung sozialer Nähe zum Sonntagsgottesdienst und zu einem fest definierten dogmatischen Überzeugungskatalog der Fall ist. In wie weit werden die neuen Chancen, die die Milieutheorien bieten, nun von der empirischen Kirchlichkeitsforschung genutzt? Ein groß angelegtes Projekt der hannoverschen Landeskirche hat unter dem Titel „Kirche und die Milieus der Gesellschaft“131 die Milieutheorie Vesters aufgegriffen. Für alle von den 20 von Vester identifizierten Milieus werden ausführliche Beschreibungen geboten, die einen sehr differenzierten Einblick in die soziale Struktur der Mitgliederschaft der evangelischen Kirche erlauben. Das Projekt hat seine Stärke im empirisch-deskriptiven Bereich. Kirchenbindung im Sinne einer empirisch gesättigten Theorie wird hier im Interesse sorgfältiger und vorurteilsfreier empirischer Wahrnehmung zunächst einmal nicht thematisiert. Das Projekt lässt es dabei bewenden, sorgfältig zu beschreiben, wer die Mitglieder der evangelischen Kirche eigentlich sind, wie sie leben, was ihr Leben ausmacht und wie man sich deren Anordnung im komplexen sozialen Raum einer modernen Gesellschaft vorstellen kann. Die aktuelle vierte EKD-Umfrage „Kirche. Horizont und Lebensrahmen“ rekurriert zur Beschreibung der sozialen Struktur der Kirchenmitglieder auf das Konzept der Lebensstilanalyse.132 In der Form, in der das Konzept in der 131 Vgl. Vögele/Vester 1999; Vögele u.a. 2002. 132 Vgl. Müller 1992.
56
EKD-Umfrage umgesetzt wird, erinnert es allerdings sehr stark an die Milieutheorie von Gerhard Schulze. Im Unterschied zu Schulze identifiziert die EKD-Umfrage allerdings nicht fünf soziale Milieus, sondern insgesamt sechs Lebensstile. Statistische Grundlage für die Konstruktion der sechs Lebensstile sind Daten zum expressiven Verhalten (z.B. Freizeitaktivitäten, Konsummuster), zum interaktiven Verhalten (z.B. Freundeskreis, Mediennutzung) und zu evaluativen Aspekten der Lebensführung (z.B. Werte).133 Konkret ermittelt die EKD-Umfrage einen 1. hochkulturell und sozial integrativen Lebensstil (für andere Menschen da sein, Naturverbundenheit, gehobener Lebensstandard, politisches und gesellschaftliches Engagement, Abgrenzung von Jugendkultur, Altersdurchschnitt: 63 Jahre) 2. geselligen und nachbarschaftsbezogenen Lebensstil (Fürsorge für andere Menschen, Naturverbundenheit, traditionelle Normen, Abgrenzung zur Jugendkultur, Abgrenzung zur Hochkultur, Einkommens- und Bildungsniveau niedriger als im Durchschnitt, vorwiegend Rentenalter, vgl. Schulzes Harmoniemilieu) 3. jugendkulturellen und an Lebensgenuss und Unabhängigkeit orientierten Lebensstil (Kinobesuch, Tanzen, Beschäftigung mit Computer, Abgrenzung zur Hochkultur, keine Naturverbundenheit, Durchschnittalter: 29 Jahre, überdurchschnittliches Einkommen und Bildungsniveau) 4. hochkulturellen und jugendkulturell orientierten Lebensstil (überdurchschnittlich hochkulturelle Orientierung bei Freizeitaktivitäten und Musikgeschmack, jugendkulturelle Freizeitinteressen, überdurchschnittliches Einkommens- und Bildungsniveau, liberales Milieu, Altersdurchschnitt: 44 Jahre) 5. Lebensstil des Do-it-yourself und der Nachbarschaftskontakte (Gartenarbeit, Kino- und Discobesuch, Beschäftigung mit Computer, Aktivsport, Altersdurchschnitt: 42 Jahre, dörflich/kleinstädtischer Bereich) 6. zu Hoch- und Jugendkultur distanzierten Lebensstil sozial gering Integrierter (Keine Nachbarschaftskontakte, kein geselliges Verhalten, Abgrenzung zu Hoch- und Jugendkultur, Vorliebe zu Volkmusik, traditionelle Einstellungen, Altersdurchschnitt: 53 Jahre, niedriges Einkommens- und Bildungsniveau, vgl. Vesters traditionsloses Arbeitermilieu).134
133 Vgl. Kirchenamt der EKD 2003, 56. 134 Vgl. ebd., 59–63.
57
Mit dieser Lebensstiltypologie erlaubt die aktuelle EKD-Umfrage einen vertieften Einblick in den sozialen Raum der Population der evangelischen Kirchenmitglieder und nutzt die Chancen neuerer sozialwissenschaftlicher Zugänge zur Beschreibung sozialer Strukturen. Doch wie wird vor dem Hintergrund der Lebensstilanalyse das Thema Kirchenbindung aufgegriffen? Die vierte EKD-Umfrage entwirft eine Typologie der Kirchenmitgliedschaft. Zu ihrer Konstruktion wird auf die Dimension der Religiosität und der Kirchlichkeit rekurriert. Hinter der Dimension der Religiosität stehen angaben zum Gottesglauben und zu christlich-religiösen Erfahrungen der Kirchenmitglieder. Die Dimension der Kirchlichkeit dagegen bezieht sich auf die Beteiligung am kirchlichen Leben – inklusive des Gottesdienstbesuchs – und die Selbsteinschätzung der Verbundenheit zur evangelischen Kirche. Die Typologie der Kirchenmitgliedschaft umfasst fünf Typen: Typ 1: Religiös und kirchennah Große Übereinstimmung mit christlichen Überzeugungen und christlichem Gottesglauben; hohe Kirchenverbundenheit; rege Teilnahme am kirchlichen Leben Typ 2: Wenig religiös und kirchennah Ablehnung christlicher Glaubensüberzeugungen; dennoch Verbundenheit mit der Kirche und Teilnahme am kirchlichen Leben Typ 3: Religiös und kirchenfern Große Zustimmung zu christlich-religiösen Erfahrungen und zum christlichen Gottesglauben; aber geringe Verbundenheit mit der Kirche und kaum Teilnahme am kirchlichen Leben Typ 4: Etwas religiös und etwas kirchennah Mittlere Positionierung bei Kirchlichkeit und Religiosität Typ 5: Nicht religiös und kirchenfern Ablehnende Haltung gegenüber christlichem Gottesglauben und christlich-religiösen Erfahrungen; seltene oder gar keine Beteiligung am kirchlichen Leben; ablehnende Haltung hinsichtlich der Verbundenheit mit der Kirche.135 Die Typologie der Kirchenmitgliedschaft, wie sie im Rahmen der vierten EKD-Umfrage ermittelt wurde, zeichnet sich dadurch aus, dass sie, vordergründig gesehen, auf Paradoxien hinweist, die mit der Kirchenbindung einhergehen können. Das wird deutlich, wenn man sich etwa die Frage stellt, wie sich beispielsweise eine Form der Kirchenbindung konkret darstellt, die 135 Vgl. ebd., 63–65; Höhmann/Krech 2004.
58
als kirchennah und gleichzeitig als wenig religiös einzustufen ist (vgl. Typ 2). Damit ist ein Sachverhalt angesprochen, auf den Joachim Matthes unter dem Stichwort der Asymmetrie der Perspektiven bereits im Rahmen der ersten EKD-Umfrage hingewiesen hat und der unter der Überschrift Unbestimmtheit die Interpretation der Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage maßgeblich geleitet hat. Die vierte EKD-Umfrage führt diese Fragestellung erneut und im Vergleich zu vergangenen Zeiten präziser empirisch beschrieben vor Augen. Substanziell Neues bietet sie damit jedoch nicht. Die Ursache dafür liegt in der Entscheidung, Kirchenbindung auf das Maß der Zustimmung zu einigen wenigen Aussagen über christliche Religiosität und Kirchlichkeit zu beschränken. Damit lassen sich zwar Nähen und Distanzen zu empirisch abgefragten Einstellungen und Verhaltensweisen ermitteln. Aber ein vertieftes Verstehen komplexer Strukturen moderner Kirchenbindung und Religiosität ist nicht möglich. Insgesamt überrascht das Vorgehen der vierten EKD-Umfrage in dieser Hinsicht. Wie schon erwähnt ist die Problematik einschließlich der Chancen und der Grenzen, die die massenstatistische Ausmessung von Religiosität und Kirchlichkeit mit sich bringen, bereits seit der ersten EKD-Umfrage bekannt. Zusätzlich hat Joachim Matthes, der langjährige Vorsitzende des wissenschaftlichen Begleitgremiums der EKD-Umfragen und zusammen mit Thomas Luckmann und Peter L. Berger der wichtigste deutschsprachige Religionssoziologe der vergangenen Jahrzehnte, im Jahr 1992 dezidiert auf diese, mit großer Stagnation im Bereich der empirischen Religions- und Kirchensoziologie verbundene Problemlage hingewiesen. Er legt dar, dass Religion und Religiöses – und dazu zählt auch das Phänomen der Kirchenbindung – keine dinghaften Tatbestände sind, die eindeutig ausmessbar sind. Vielmehr handle es sich um diskursive, sich gegenseitig in ihren differenzierten Ausformungen auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene bedingende Phänomene.136 Warum die vierte EKD-Umfrage den nun mehr über 30 Jahre währenden Weg der Problemwahrnehmung und auch der Problemlösungsvorschläge nicht aufgreift und sich stattdessen auf Formen der Messung von Religiosität und Kirchlichkeit beschränkt, wie man sie bereits im Rahmen der Kirchlichkeitsforschung der 50er Jahre anwandte, kann nur gefragt werden. Auf dieser Basis ist auch der Nutzen eingeschränkt, den die in der vierten EKD-Umfrage vorgenommene Lebensstilanalyse im Hinblick auf ein vertieftes Verständnis der Kirchenbindung erbringen kann. Faktisch werden die ermittelten Lebensstile und die Typologie der Kirchenmitgliedschaft so miteinander in Verbindung gebracht, dass für jeden Lebensstil die prozentuale 136 Vgl. Matthes 1992; Feige 2000, 30–32; Feige/Lukatis 2004, 14–17; Kretzschmar 2004a.
59
Verteilung der Kirchemitgliedschaftstypen ermittelt und präsentiert wird. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Kirchenbindung werden die Lebensstile damit faktisch in ein Koordinatensystem eingeordnet, das den Grad der Kirchennähe/Kirchenferne und der Religiosität/Nicht-Religiosität der einzelnen Lebensstile abbildet. Tieferreichende Erkenntnisse über Religiosität und Kirchlichkeit als Teil eines komplexen Zusammenhangs mit den Faktoren Arbeit, Freizeit, Familie, Gemeinschaft, gesellschaftliche Partizipation und der Frage nach der Verwirklichung von Lebenszielen usw. kommen im Rahmen der vierten EKD-Umfrage kaum in den Blick. Damit haben sich, zumindest hinsichtlich dieser Umfrage, die mit der Berücksichtigung von Milieu- und Lebensstiltheorien verbundenen Hoffnungen auf neue Kenntnisse zu Fragen der Kirchenbindung noch nicht erfüllt.137 In der jetzt vorliegenden Form der Ergebnispräsentation steht die vierte EKD-Umfrage eher in der Gefahr, einfache religionssoziologische Säkularisierungsthesen oder kirchliche Verfallstheorien a posteriori empirisch auszumalen.138 Es ist dem Projekt zu wünschen, dass weitere Analysen von einer normativen Einbettung des Lebensstil- und Milieuansatzes absehen und so das innovative methogologische Potenzial der Umfrage stärker zur Geltung kommen kann, als das bisher der Fall ist. Fazit Aufs Ganze gesehen zeigt die Art und Weise, in der Kirchenbindung im Rahmen der empirischen Kirchlichkeitsforschung wahrgenommen und thematisiert wird, dass das hier vorherrschende Verständnis von Kirchenbindung auf soziale Nähe zu normativ definierten Verhaltensweisen, Einstellungen und Überzeugungen festgelegt ist: Kirchenbindung wird immer dann gesehen, wenn die Nähe zu diesen Faktoren festgestellt wird. Gleichwohl zeigt der Blick auf die empirische Kirchlichkeitsforschung auch, dass Kirchenbindung durch die Gleichsetzung mit sozialer Nähe gerade nicht hinreichend wahrgenommen werden kann. Insbesondere die Diskurse, die sich um das Thema der sogenannten distanzierten Kirchlichkeit entfaltet haben, illustrieren das. Schon in den 50er Jahren, vor allem aber durch den Blick auf die seit 1972 durchgeführten EKD-Umfragen wurde deutlich, dass sich Menschen der Kirche auf stabile Weise verbunden fühlen können, auch wenn sie ihr Verhältnis zur Kirche überwiegend durch soziale Distanz realisieren. Die Ergebnisse der empirischen Kirchlichkeitsforschung können aus dieser Perspektive heraus betrachtet auch so gelesen werden, dass gerade 137 Zu weiteren Hintergründen der aktuell in Kirche und Theologie anzutreffenden Milieutheorien und zu den Chancen und Grenzen, die diese für die Erforschung der Kirchenbindung bieten, vgl. Kretzschmar 2003. 138 Vgl. zu einer solchen Art der Rezeption der Umfrageergebnisse z.B. Pollack 2003.
60
soziale Distanz ein integraler Bestandteil der Kirchenbindung ist. Ein Großteil derjenigen, die mit Fragen der empirischen Kirchlichkeitsforschung befasst sind, rechnet jedoch nicht mit dieser Möglichkeit. Hier überwiegt das an gängigen Säkularisierungsthesen orientierte Denken, das Kirchenbindung mit sozialer Nähe identifiziert und die faktisch anzutreffenden Formen der Kirchenbindung nur pejorativ wahrnehmen kann. Eine Versuchung, von der selbst hinsichtlich der aktuellen EKD-Umfrage noch nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sie ihr widersteht oder nicht.
3. Eine neue Fremdprophetie und die Hoffnung auf Vergemeinschaftung und soziale Nähe – Kirchenmarketing Schwerpunktmäßig in den 90er Jahren sind die Kirchen mit Marketingaktionen an die Öffentlichkeit getreten. Die Motivlage dafür ist komplex. Zunächst kann die hohe Zahl der Kirchenaustritte infolge der Einführung des Solidaritätszuschlags nach der Wende und deren kontinuierlich hohes Niveau als Veranlassung zu Marketingaktionen gesehen werden. In noch höherem Maße schmilzt der Mitgliederbestand der Kirchen durch die rückläufige demografische Entwicklung in der Bevölkerung stark ab. Rückläufige Kirchensteuereinnahmen und das merkliche Schrumpfen der finanziellen Basis der Kirchen sind die Folge und fordern zum Handeln heraus.139 Auf der anderen Seite steht das Empfinden, wonach die Kirchen in Deutschland in einem „diffusen Konkurrenzumfeld agieren, auf einem ‚Markt der Sinnstiftungen‘.“140. Niedrige Beteiligungszahlen an kirchlichen Angeboten und gemessen an der Gesamtheit aller Kirchenmitglieder niedrige Gottesdienstbesuchszahlen erwecken angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, die auf breiter Basis eine Hinwendung zu religiösen Strömungen und Phänomenen (New Age, Esoterik etc.) erkennen lässt, das Gefühl, kirchlicherseits auf dem Markt der religiösen Angebote ins Hintertreffen geraten zu sein und mit geeigneten Mitteln darauf zu reagieren.141 Angesichts dieser Situation möchten die Kirchen das problemlösende Potenzial des Marketing nutzen.142 Hinter Begriffen wie Kundenorientie139 Vgl. Hillebrecht 1997b, 34. 140 Ders. 1997a, 7. 141 Vgl. zur Konkurrenzsemantik in den 90er Jahren zum Beispiel Nüchtern 1997. 142 Überhaupt zeichnet sich die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges dadurch aus, dass sich immer mehr gesellschaftliche Lebensformen nach marktwirtschaftlichen Organisationsformen ausrichten und ökonomisches Denken zur Deutung vieler Lebensbereiche angewandt wird. Das gilt nicht nur für Diakonie und Kirche, sondern auch für Politik, öffentliche Verwaltung und die Regulierung globaler Wirtschaftsbeziehungen (vgl. Müller 1999, 11f).
61
rung, Angebotsprofil, strategische Marktsegmentierung, Zielformulierungen und Controlling steht eine Denkhaltung, „die den Menschen mit seinen Bedürfnissen im Blick hat, sich an ihm orientiert und das jeweilige Angebot zielstrebig, strategisch, ‚controlliert‘ an ihm ausrichtet.“143 Grundsätzlich ist Marketing im Sinne einer werbenden Hinwendung zum Menschen nichts, was es erst seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geben würde: In seiner ursprünglichen Bedeutung ist Marketing das Betreten des Marktes, Anwesenheit an jenem öffentlichen Ort, auf dem die Menschen Informationen und Meinungen austauschen und ihre Angelegenheiten regeln. Markt und Marketing sind so alt wie die Menschheit selbst. Zu allen Zeiten galt: Wer etwas zu sagen hat, wer etwas sucht, wer anderen begegnen will, wer dabei und dazwischen sein will, sucht den Markt, pflegt das Marketing.144
In diesem Sinne war auch Jesus in seinem öffentlichen Auftreten ein Mann des Marktes. Wird in den 90er Jahren das betriebswirtschaftliche Marketingdenken von Theologie und Kirche aufgegriffen, dann geht es, anders als in weiten Phasen der Vergangenheit, nicht vornehmlich um Werbung und Öffentlichkeitsarbeit.145 Vielmehr werden die Beziehungsgefüge zwischen kirchlichen Institutionen und ihren Mitgliedern in einem umfassenden Sinne wahrgenommen, um sie mit Hilfe moderner betriebswirtschaftlicher Methoden und Instrumentarien zu gestalten.146 Die Frage nach der Pflege und Ausformung der Kirchenbindung ist darum zentrales Thema des kirchlichen Marketing. Somit bietet das Themenfeld Kirchenmarketing neben der theologischen Pluralismusdebatte und der empirischen Kirchlichkeitsforschung eine dritte Möglichkeit, Einblicke in die gegenwärtige Konturierung des kirchlichtheologischen Diskurses zur Kirchenbindung zu erhalten. Beispiele, an denen nun die Art und Weise abgelesen werden soll, in der Kirchenbindung im 143 Ebd., 15. 144 Klostermann 1997, 20. 145 Vgl. Hillebrecht 1997b, 34. 146 Dass die verstärkte Rezeption ökonomisch-betriebswirtschaftlichen Denkens zur Gestaltung und Reflexion des kirchlichen Lebens in Theologie und Kirche nicht ohne Kontroverse Einzug hielt, ist selbstredend. Schließlich werden damit grundlegende Fragen des Kirchenverständnisses angesprochen: Inwieweit handelt es sich bei der Kirche um ein Unternehmen? Und wenn ja: Welches Verständnis von Unternehmen wird zugrunde gelegt? Sind Kirchenmitglieder Kunden? Was heißt Qualität kirchlicher Arbeit? Diese und zahlreiche weitere Fragen können in diesem Zusammenhang gestellt werden. Exemplarisch aus dem Kreis der kritisch, eher ablehnenden Stimmen sei verwiesen auf Bieritz 1996 und Josuttis 1997, 53–68, und Josuttis 2003 und aus dem Kreis der für einen vertieften Dialog zwischen Betriebswirtschaft und Theologie eintretenden Hermelink 1997, 1998, 1999 und Tanner 1999. Einen Überblick über die kirchlich-theologischen Debatten bezüglich ökonomisch-betriebswirtschaftlichen Denkens in der Kirche bieten unter anderem Brummer/ Nethöfel 1997 und Fetzer u.a. 1999.
62
Rahmen kirchlicher Marketinginitiativen thematisiert wird, sind das evangelische Münchenprogramm, die Aktion „Brücken bauen“, das EKD-Missionspapier „Das Evangelium unter die Leute bringen“, das Konzept des Spirituellen Gemeindemanagements und schließlich die Ökumenische Basler Kirchenstudie. Das evangelische Münchenprogramm (eMp) kann als ein früher, sehr prominenter Versuch betrachtet werden, modernes Marketing für die Gestaltung des kirchlichen Lebens fruchtbar zu machen. Das Programm verdankt sich einer Initiative von Peter Barrenstein, Direktor bei der Unternehmensberatung McKinsey und Mitglied im Kirchenvorstand einer Münchner Gemeinde. Zur Verbesserung der Strukturen der evangelischen Kirche im Dekanat München schenkte er im Jahr 1995 der Münchner Kirche eine kostenlose Beratung.147 Ziel des eMp ist es, einen sich kontinuierlich verstärkenden negativen Regelkreis zu durchbrechen. Die Münchner Kirche, so die Analyse von McKinsey, weise in der Orientierung der Mitglieder erhebliche Defizite auf. Dies führe zu einer wachsenden inneren Distanzierung der Mitglieder. Die Bereitschaft zum Kirchenaustritt nehme zu und die ökonomische Basis der Kirche werde brüchig. Die wachsende Innenorientierung und Beschäftigung mit sich selbst bänden Energie und führten zu einer weiteren Vernachlässigung der Mitglieder.148 Die Durchbrechung dieses Regelkreises soll dazu führen, dass der Glaube der Mitglieder, besonders der entfremdeten, [...] geweckt werden bzw. wachsen [soll]. Ihr Verbundenheitsgefühl mit der Gemeinde soll zunehmen. Das Verhältnis von Kirchenaustritten und Kircheneintritten soll sich im Zeitraum der nächsten zehn Jahre umgekehrt haben.149
Hinter dieser Zielsetzung verbirgt sich der Auftrag von Kirche, den das eMp wie folgt definiert: „Die Vermittlung des Evangeliums von der Liebe Gottes für die Menschen von heute durch Verkündigung, Nächstenhilfe und gesellschaftliches Engagement sowie Gemeinschaftsbildung.“150 Die betriebswirtschaftlichen Zugänge und konkreten Marketingmethoden des eMp sind vielfältig. Sie setzen an bei Maßnahmen der Mitarbeiterentwicklung auf der Ebene der hauptamtlich theologisch-pädagogischen Mitarbeitenden (Pfarrerinnen, Religionspädagogen, Kirchenmusiker), anderer Hauptamtlicher (Verwaltungsangestellte etc.) und Ehrenamtlicher. Ferner sind Strukturveränderungen auf der Ebene der Gemeindeleitung und der
147 148 149 150
Zur Historie des eMp vgl. Löhr 1997, 121f. Vgl. Evangelisch-Lutherisches Dekanat München 2001, 9. Löhr 1997, 123f. Ebd., 122.
63
Dekanate vorgesehen. Schließlich wird ein prozessorientiertes System der Angebotssteuerung entwickelt.151 Wie wird im Rahmen des eMp Kirchenbindung thematisiert und verstanden? Die faktische Kirchenbindung wird als Problem gesehen. Nur etwa der Hälfte der Kirchenmitglieder wird eine intakte Kirchenbindung und eine „kirchengeprägte Glaubensform“152 bescheinigt. Grundlage für diese Einschätzung sind die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung, die zu Beginn der Laufzeit des eMp durchgeführt wurde. Danach gliedern sich die Münchner Kirchenmitglieder in fünf Gruppen: 1. Mitglieder ohne Glauben (9%) (Weder Glaube an Gott noch an höhere Kraft, geringe Kirchenverbundenheit, Kirchenaustritt so bald wie möglich) 2. Kirchenfremde mit selbstdefiniertem Glauben (43%) (Glaube an höhere Kraft, aber nicht an Gott, wie ihn die Kirche bezeugt, geringe bis mittlere Kirchenverbundenheit, unterschiedliche Einstellungen zum Kirchenaustritt) 3. Suchende mit Kirchendistanz (20%) (Glaube an Gott, allerdings auch Unsicherheit und Zweifel, mittlere Kirchenverbundenheit, Nachdenken über Austritt, aber Entscheidung dagegen) 4. Glaubende mit kritischer Kirchlichkeit (9%) (Glaube an Gott, mittlere Kirchenverbundenheit, Austritt kommt nicht in Frage) 5. Glaubende mit fester Kirchenbindung (19%) (Glaube an Gott, mittlere bis hohe Kirchenverbundenheit, Austritt kommt grundsätzlich nicht in Frage).153 An den Ergebnissen der eMp-Umfrage fällt auf, dass in den einschlägigen Materialien und Publikationen zum eMp an keiner Stelle erläutert wird, wie der Gottesglaube und die Kirchenverbundenheit inhaltlich definiert und damit im Rahmen einer Umfrage messbar wird. Die angewandte Semantik verrät allerdings, dass Kirchenbindung im vorliegenden Fall mit sozialer Nähe identifiziert wird. Das ist daran erkennbar, dass der Terminus Kirchenbindung nur für die letzt genannte, offensichtlich am positivsten eingestufte Gruppe verwendet wird. Um die Kirchenbindung der vorangegangenen Gruppen zu bezeichnen, werden andere Begriffe wie zum Beispiel Kirchendistanz und kritische Kirchlichkeit gewählt. 151 Vgl. Löhr 1999, 150–156; Evangelisch-Lutherisches Dekanat München 2001, 13–29. 152 Evangelisch-Lutherisches Dekanat München 2001, 10. 153 Vgl. ebd., 11.
64
Gestützt wird die Vermutung der Identifikation von sozialer Bindung und sozialer Nähe durch die Diktion, wie sie im Rahmen der Zielformulierungen des eMp und in dem vom eMp definierten Auftrag von Kirche zu finden sind. Im ersten Fall ist die Rede davon, das Verbundenheitsgefühl mit der Gemeinde zu erhöhen und als Auftrag der Kirche wird – neben anderem – explizit Gemeinschaftsbildung genannt. Fokus und Zielpunkt in Sachen Kirchenbindung ist für das eMp offensichtlich die als Gemeinschaft verstandene Gemeinde, die durch Kircheneintritte und erhöhte Partizipation kräftig wachsen soll.154 Wird an dieser Stelle das Schwergewicht auf Fragen der Kirchenbindung gelegt, so soll damit keineswegs der Eindruck entstehen, das eMp habe sich auf dieses Thema beschränkt. Es wurde eingangs dargelegt, dass das eMp in einem umfassenden Sinne auf Veränderungen des kirchlichen Lebens zielte und dazu die unterschiedlichsten betriebswirtschaftlichen Zugänge und Marketingverfahren herangezogen hat. In der Summe hat es damit über die Grenzen des Münchner Dekanats hinaus zahlreiche positive Innovationen in Bezug auf Fragen der Gestaltung des kirchlichen Lebens in aktuelle Diskurse der Kirchenreform eingebracht.155 Hinsichtlich der Wahrnehmung sozialer Bindung in der Kirche hat sich das eMp allerdings am vorherrschenden konventionellen Verständnis orientiert. Unter anderem dies kann dazu geführt haben, dass nach Ausbleiben einer merklich zunehmenden Zahl an Kircheneintritten und an Teilnehmenden an Gottesdiensten und gemeindlichen Veranstaltungen in der Münchner Kirche der Eindruck entstanden ist, das Konzept des eMp habe als ganzes versagt. Ein weiter gefasstes Verständnis von Kirchenbindung hätte gegebenenfalls den Erfolgsdruck, der sich durch den Blick auf die große Zahl ergibt, reduzieren können und das innovative Potenzial des eMp klarer sehen können. Das eMp wurde zum 30. Juni 2004 entgültig beendet.156 154 Dass Kirchenbindung im Rahmen des eMp mit sozialer Nähe zur Kirche identifiziert wird, zeigt die Argumentation Peter Barrensteins: „Nicht der Markt der Kirche schrumpft, sondern ihr Marktanteil. Der Markt selbst ist riesig, gemessen an der Bedeutung auch anderer Glaubensgemeinschaften, gemessen an der Bedeutung von esoterischer Literatur und meditativen Angeboten, die außerhalb von Kirche stattfinden“ (Barrenstein 1997, 130). Mit anderen Worten: Wenn es um Religion geht, wenden sich die Menschen nicht an die Kirche, sondern gehen woanders hin – ganz im Sinne von Partizipation und sozialer Nähe. 155 Zu nennen sind die Mitarbeitendenjahresgespräche, die mittlerweile in den meisten Landeskirchen eingeführt wurden. Ferner ist auf Herbert Lindners Rezeption des eMp hinzuweisen, durch deren Publikation das eMp Einzug in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern so wie anderen kirchlichen Mitarbeitenden gehalten hat (vgl. Lindner 1997 und 2000). Andernorts wurde das eMp modifiziert und ein analoges Programm realisiert, wie z.B. das Evangelische Eckernfördeprogramm (vgl. Heik/Hansen 2004). 156 Vgl. Herold 2004.
65
Absicht des Anfang der 90er Jahre entwickelten EKD-Konzepts „Brücken bauen“ ist die Verbesserung kirchlicher Kommunikation in einem umfassenden Sinn. Stärkung und Unterstützung der Kirchenmitgliedschaft, Verständigung über Sinn und Nutzen der Kirchenmitgliedschaft und die Absicht, auf regionaler Ebene darzustellen, was die Kirche den Menschen zu bieten hat, sowie die Erkundung, wie die Kirche ihrerseits den Menschen noch besser gerecht werden kann, stehen dabei im Vordergrund. Im Unterschied zum evangelischen Münchenprogramm versteht sich „Brücken bauen“ nicht als Programm, dass allerorts auf die gleiche Weise umsetzbar ist, sondern als Rahmenprogramm, das ausgehend von den Umständen und Menschen vor Ort situationsangemessen ausgestaltet werden kann.157 Auf welche Problemlage reagiert „Brücken bauen“? Die Motivation zu dieser Initiative ist vor allem das Empfinden, dass von Lebendigkeit in vielen Gemeinden wenig zu spüren ist, dass die meisten Gottesdienste keine Ausstrahlung besitzen und schlecht besucht werden, dass religiöse Fragen im Alltag kaum eine Rolle spielen und dass die Bindung an den christlichen Glauben und das Interesse an der Kirche weithin schwach ausgeprägt sind. Aus Desinteresse und Enttäuschung kehren viele Menschen der Kirche den Rücken.158
Angesichts dieser Problemlage setzt sich die Kommunikationsinitiative das Ziel, die faktischen Dienstleistungen der Kirche und ihr wirkliches Angebot besser darzustellen. Außerdem werden umfassende Maßnahmen der Organisationsentwicklung angestrebt. All das wird verstanden als Beitrag zur Mitgliederpflege. Im Ergebnis möchte die Initiative einen Beitrag auf dem Weg zu einer kommunikativen Kirche leisten. Kirche soll aufgeschlossen, den Menschen zugewandt, einladend, aufsuchend und nachgehend sein.159 Die Strategie, mit der diese Zielsetzung erreicht werden soll, ist dreidimensional strukturiert. Durch die gezielte Beschäftigung mit der Öffentlichkeitsarbeit, der externen Kommunikation, wird gleichzeitig eine Verbesserung der internen Kommunikation verbunden. Die kommunikative Kompetenz der Mitarbeitenden soll damit ebenso optimiert werden wie auch die Dienste, Leistungen und Angebote der Kirche. Flankierend zu externer und interner Kommunikation tritt die thematische Kommunikation. Sie zielt auf das Glaubensthema. Verständigung über lebensweltliche Erfahrungen, eine Thematisierung des Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses und die Entfaltung christlicher Inhalte stehen hier im Vordergrund. Indem die externe und die interne Kommunikation stets auf die thematische Kommunikation bezogen sind, handelt es sich bei „Brücken bauen“ in der Gesamtschau um ein integrales Modell. 157 Vgl. EKD o.J.a, 8.42.; außerdem EKD o.J. b-e. 158 Ebd., 13. 159 Vgl. ebd., 18–20.
66
In Bezug auf das Verständnis von Kirchenbindung zeichnet sich „Brücken bauen“ durch eine Auffassung aus, die von einer Vielfalt unterschiedlicher Bindungsformen ausgeht. Kirchlicher Binnenpluralismus ist für die Initiative „Brücken bauen“ nichts Bedrohliches, dem es durch normierende Marketingstrategien entgegenzuwirken gelte. Er wird vielmehr als Bereicherung empfunden, die jedoch sorgsam, mit professionellen und modernen Methoden gepflegt werden will (Mitgliederpflege!): „Der Protestantismus sollte sich daher als Experte im Umgang mit Vielfalt in Einheit, mit Konflikt und Konsensbildung, mit der Suche nach Wahrheit in der Pluralität profilieren.“160 Kirchenbindung wird somit keineswegs auf die Beteiligung am Leben der Gemeinde und somit auf Vergemeinschaftung beschränkt. Der Denkhorizont von „Brücken bauen“ ist diesbezüglich weiter gefasst.161 Dennoch zielt auch das hier anzutreffende Verständnis von Kirchenbindung auf soziale Nähe. Deutlich wird das beim Blick auf den für „Brücken bauen“ zentralen Begriff der Kommunikation. Soll sie als Gesamtziel der Initiative verbessert werden, dann beruht das auf der im Konzept entfalteten Problemlage. Danach werden die niedrigen Zahlen hinsichtlich der Beteiligung am Gemeindeleben und des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs als Indikatoren einer schwach ausgeprägten Kirchenbindung genannt.162 Beide Indikatoren stehen für Phänomene sozialer Nähe. Werden sie zum Maßstab für die Einschätzung der Kirchenbindung gemacht, erfolgt damit eine Gleichsetzung von sozialer Bindung und sozialer Nähe. Dass „Brücken bauen“ im Blick aufs Ganze Kommunikation und damit gelingende Kirchenbindung einzig mit Teilnahme am Gemeindeleben und Gottesdienstbesuch gleichsetzt, kann, wie schon gesagt, nicht behauptet werden. Aber dass es beim Kommunikationsverständnis und somit auch beim Verständnis von Kirchenbindung vorrangig um das Herstellen sozialer Nähe geht, scheint unzweifelhaft. Neben der Formulierung der Problemlage, auf die „Brücken bauen“ reagieren möchte, ist das an den Attributen ablesbar, durch die sich eine kommunikative Kirche laut „Brücken bauen“ auszeichnen soll. Die Kirche soll aufgeschlossen, den Menschen zugewandt, einladend, aufsuchend und nachgehend sein.163 All diese Attribute zielen zwar nicht zwingend auf Gemeindebildung und Vergemeinschaftung. Wohl aber zielen sie auf Interaktion, d.h. auf Kommunikation unter Anwesenden164 und somit auf soziale Nähe. Ob es mit diesem Verständnis von Kommunikation und Kirchenbindung tatsächlich möglich ist, der Vielfalt 160 EKD o.J.a, 24f. 161 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Weyel 2002, 254. 162 Vgl. EKD o.J.a, 13. 163 Vgl. ebd., 20. 164 Vgl. zur Definition von Interaktion als speziellem, auf sozialer Nähe basierendem Typus von Kommunikation Göbel 1995.
67
an Formen der sozialen Bindung in der Kirche Rechnung zu tragen und die zahlreichen wertvollen Vorschläge der Kommunikationsinitiative auf breiter Basis nutzbar zu machen, muss zumindest gefragt werden. Es mag überraschen, ein EKD-Papier in einer Reihe unterschiedlicher Aktivitäten des Kirchenmarketing zu finden. Gemeinhin befassen sich EKD-Papiere, die in der Regel in der Reihe der EKD-Texte publiziert werden, mit aktuellen und im gesellschaftlichen Diskurs gerade drängenden, im weitesten Sinne sozialethischen Fragestellungen, zu denen ein Votum der Kirche angebracht erscheint oder von der Öffentlichkeit erwartet wird.165 In dieser Hinsicht hebt sich das EKD-Papier „Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land“ von der gängigen Praxis ab. Hier nimmt die Kirche nicht zu gesamtgesellschaftlichen Themen Stellung, sondern wendet sich ihrer eigenen inneren Verfasstheit zu.166 Es ist der Versuch, sich des Grundauftrags von Kirche zu vergewissern und auf dieser Grundlage über geeignete, dem Auftrag entsprechende Formen des kirchlichen Handelns und der kirchlichen Organisation nachzudenken. Vor diesem Hintergrund kann das EKD-Missionspapier durchaus auch als kirchliches Organisationsentwicklungsprogramm betrachtet werden und in eine Reihe mit diversen Aktivitäten kirchlichen Marketings gestellt werden. Das Ziel des Papiers besteht darin, Mission und Evangelisation als „eine Perspektive für die Gesamttätigkeit der Kirche“167 herauszustellen.168 Das Werben für die Kirchenmitgliedschaft und den Glauben an Jesus Christus stehen dabei im Vordergrund. Motiviert ist diese Zielsetzung durch die Wahrnehmung einer gravierenden Krise. Die Lage der Kirche, der Religion und des Glaubens sei gekennzeichnet von „Entkirchlichung“ und „Privatisierung des Glaubens“.169 Es gebe eine starke Konkurrenz auf dem religiösen Markt der Möglichkeiten außerhalb der Kirche oder gar den Ersatz von Religion durch beispielsweise 165 Ein prominentes und zugleich repräsentatives Beispiel für den Normalfall eines EKD-Papiers ist das viel beachtete Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland aus dem Jahr 1997 (vgl. Kirchenamt der EKD 1997). 166 Deutlich ablesbar ist das an dem Kreis der Adressaten, die in dem Papier genannt werden: Haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende, Kirchenvorstände, Synodale, Lehrende in Ausbildungseinrichtungen, die kirchliche Publizistik (vgl. Kirchenamt der EKD 2000, 8f). 167 Kirchenamt der EKD 2000, 5. 168 Mit dieser Zielsetzung greift das Papier einen Schlüsselsatz der Kundgebung auf, die die Synode der EKD 1999 verabschiedet hat: „Es hat eine Zeit gegeben, in der es den Anschein haben konnte, als sei die missionarische Orientierung das Markenzeichen nur einer einzelnen Strömung in unserer Kirche. Heute sagen wir gemeinsam: Weitergabe des Glaubens und Wachstum der Gemeinden sind unsere vordringliche Aufgabe, an dieser Stelle müssen die Kräfte konzentriert werden“ (ebd.). 169 Ebd., 6.
68
„Erfolg, Schönheit, Gesundheit oder Konsum“.170 Fest verbunden ist diese Auffassung mit der Einschätzung, die Rolle der Kirche sei in – nicht näher definierten – früheren Zeiten eine ungleich stärkere gewesen als heute.171 Angesichts dieser Krisenwahrnehmung wird Evangelisation als „die zentrale Aufgabe der Kirche“172 herausgestellt. Durch Evangelisation sollen Menschen zu einer „persönlichen Glaubensbeziehung zu Jesus Christus“ und „zugleich in die christliche Gemeinde“173 eingeladen werden. Die konkreten Initiativen, die das EKD-Papier zum Zwecke der Evangelisation nennt, umfassen neben dem Gesamtkatalog aller kirchlichgemeindlichen und übergemeindlichen Angebote174 auch die einschlägigen Projekte des missionarischen Gemeindeaufbaus. Sie reichen von Glaubenskursen für Erwachsene (z.B. Alpha-Kurs) über ein sogenanntes zweites Gottesdienstprogramm bis hin zur Empfehlung, sich an den Arbeitsformen der Willow Creek Community Church zu orientieren.175 Das EKD-Papier zeichnet sich durch eine sehr starke modernitätskritische Haltung aus. Mit modernem Konsum- und Freizeitverhalten, dem modernen Kulturbetrieb, der Fitnesswelle und dem gesteigerten Bewusstsein für Gesundheit und den an öffentlichen Schulen gelehrten, von der Aufklärungstradition geprägten und auf Rationalität basierenden geistesund naturwissenschaftlichen Bildungsinhalten wird so gut wie alles, was eine moderne Gesellschaft ausmacht, für die vom EKD-Papier diagnostizierten Verfalls- und Krisenphänomene hinsichtlich der Religion und des Glaubens verantwortlich gemacht.176 Das hat Folgen für das Verständnis von Kirchenbindung, wie es dem EKD-Papier zu entnehmen ist. Angesichts einer solch umfassenden Kritik und Ablehnung moderner Strukturen gesellschaftlichen Lebens kann Kirchenbindung nur als Kontrastprogramm zu den gemeinhin anzutreffenden Phänomenen gesellschaftlicher Individualisierung und Pluralisierung bestimmt werden. So zielen alle in dem Papier genannten Formen der Evangelisation auf Vergemeinschaftung.177 Von den genannten Formen wiederum zielt die Mehrheit auf eine bekenntnismäßige kognitive Identifikation mit 170 Ebd., 13. 171 Vgl. ebd. 11 und passim. 172 Ebd. 17. 173 Ebd. 23. 174 Vgl. ebd., 27–31. 175 Vgl. ebd., 31–33. 176 Vgl. ebd., z.B. 11.13. 177 An dieser Stelle sei die Einschätzung von Monika Wohlrab-Sahr unterstützt, die angesichts der neueren missionarischen Aktivitäten der Kirchen den Verdacht äußert, „dass diese Art der Kommunikation primär dazu dient, sich der eigenen Besonderheit und Überlegenheit zu vergewissern, sich also nach innen hin zu vergemeinschaften anstatt sich nach außen zu öffnen“ (Wohlrab-Sahr 2000, 93).
69
einem nicht näher definierten, vom evangelistisch-missionarischen Milieu normierten Glaubensverständnis. Auf dieser Basis versteht das EKDMissionspapier Kirchenbindung als spezifische Form sozialer Nähe, die auf hoch engagierte Formen der Partizipation und ein sehr hohes Maß an Identifikation mit einem eng definierten Verständnis des christlichen Glaubens beschränkt wird.178 Der Ansatz des „Spirituellen Gemeindemanagements“ hat seinen Ort in der Fortbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer. Er reagiert auf ein zunehmend diffuser werdendes Pfarrerbild, das, so zeige es der Blick auf den pfarramtlichen Alltag, zunehmend von Managementtätigkeiten geprägt ist. Darauf seien Pfarrerinnen und Pfarrer nicht hinreichend vorbereitet: „Viele empfinden ihre Aufgabe als so erdrückend, dass Kreativität und Spiritualität auf der Strecke bleiben.“179 Angesichts dieser Problemlage geht es beim Spirituellen Gemeindemanagement darum, dass die Prioritätensetzung im Dienst [...] nicht von den Vorlieben oder Außensteuerungen abhängig gemacht werden [darf], sondern [...] aus dem Zentrum des christlichen Auftrags heraus getroffen werden [muss]. Spirituelles Gemeindemanagement versteht sich deswegen als ein Beitrag zur theologischen Begründung und praktischen Gestaltung einer in der Gegenwart angemessen wahrgenommenen Pfarrerinnen- und Pfarrerrolle.180
Konkret heißt das jedoch nicht, dass die Möglichkeiten modernen Marketings und Managementdenkens beim Spirituellen Gemeindemanagement keine Rolle spielen würden. Das Gegenteil ist der Fall. Ähnlich wie etwa das evangelische Münchenprogramm oder die Kommunikationsinitiative „Brücken bauen“ möchte auch das Spirituelle Gemeindemanagement die Möglichkeiten des modernen Marketings nutzen. Der Unterschied zu anderen Programmen und Initiativen liegt allerdings darin, das Moment der Spiritualität zum orientierenden Ausgangspunkt des Gemeindemanagements zu machen.181 Wie genau kann man sich das vorstellen? 178 Dass ein solch positionell-programmatischer Vorstoß der EKD-Synode zugunsten eines so belasteten und umstrittenen Themas wie Evangelisation und Mission in einer pluralistisch verfassten kirchlich-theologischen Landschaft nicht kritiklos und ohne Debatte zur Kenntnis genommen wird, ist selbstredend. Vgl. zur Kritik am EKDMissionspapier z.B. Hermelink u.a. 2001; Weyel 2002; Kretzschmar 2002a. 179 Abromeit 2001, 10. 180 Ebd., 11. 181 So sieht Hans-Jürgen Abromeit einerseits zwar eine große Nähe des Spirituellen Gemeindemanagements etwa zu den im Umfeld der Gemeindeakademie Rummelsberg entwickelten Konzepten (vgl. Lindner 2000; Breitenbach 1994). Andererseits führt er aber auch klare Differenzen an: „Auch im Rummelsberger Konzept verbinden sich organisationstheoretische, betriebswirtschaftliche und theologische Überlegungen. Allerdings rezipieren sie nur einseitig die mit ihrem kybernetischen Leitbild der Konziliarität verträglichen theologischen Traditionen. Besonders Breitenbach [...] rekurriert in seinen
70
Für das Spirituelle Gemeindemanagement gilt: Es muss klar bleiben (oder erst wieder werden!), dass die Hoffnung auf die Erneuerung der Kirche in der Hoffnung auf das Wirken des Heiligen Geistes besteht und darum im demütigen Gebet: Veni creator Spiritus!182
Um von diesem Ausgangspunkt das Verhältnis zwischen Marketing und Spiritualität zu erläutern, stellt das Spirituelle Gemeindemanagement eine Analogie zur Predigtlehre Rudolf Bohrens und dort dessen theologischer Figur der theonomen Reziprozität her. Mit der Rede von der theonomen Reziprozität wird einerseits der Primat Gottes herausgestellt und gleichzeitig das Dabeisein des Menschen bei Gottes Handeln unterstrichen.183 Für den Einsatz bestimmter Methoden bei der Gestaltung des kirchlichen Lebens, sei es bei der Predigtarbeit oder eben auch beim Gemeindeaufbau, heißt das: „Alle Methoden können in Freiheit gebraucht werden. In allen Methoden kann sich der Geist partnerschaftlich einbringen, sofern diese Methoden nicht selbstherrlich diese Partnerschaft ausschließen.“184 Es gehe darum, dass sich in theonomer Reziprozität Gottes Wille, dass eine christliche Kirche sein soll, mit unseren Planungen verbündet [sc. und damit] dem Entstehen, Wachsen und Reifen einer christlichen Gemeinde unter den Bedingungen des Marktes zu dienen.185
Wie schon erwähnt entspricht der Marketingansatz des Spirituellen Gemeindemanagements den für modernes Marketing üblichen Prozessmustern, die ausgehend von der Formulierung einer Vision im Wechsel von operativer und strategischer Ebene die Bestimmung und Umsetzung einer Reihe von Zielen für die Gestaltung diverser gemeindlicher Handlungsfelder anstreben.186 Die spirituelle Komponente wird als Ausgangspunkt beispielsweise der Findung einer Vision eingebracht. Die Vision soll Frucht von: Oratio, also: von Gott erbeten, Meditatio, also: im ‚Treiben und Reiben‘ des biblischen Wortes empfangen, Tentatio, also: auf die Not der persönlichen und kirchlichen Verhältnisse bezogen187
Überlegungen zum konziliaren Gemeindemanagement einseitig auf antihierarchische Formen der Leitung und kann deswegen schon auf biblische oder reformatorische Bestimmungen von Leitung keinen Bezug nehmen. Man hat den Eindruck, dass er stärker von der 68er-Bewegung als von theologischer Argumentation bewegt wird“ (Abromeit 2001, 12). 182 Herbst 2001, 90. 183 Vgl. Bohren 1971, 76. 184 Herbst 2001, 95. 185 Ebd. 186 Vgl. Strunk 2001, besonders 45. 187 Herbst 2001, 104. Wie eine Vision als Frucht von oratio, meditatio und tentatio gefunden werden kann illustriert Herbst an zwei Beispielen (vgl. Herbst 2001, 106–110).
71
sein. Im Gesamtverlauf eines Prozesses des Spirituellen Gemeindemanagements sind es spirituelle Formen wie Tageszeitengebete, Bibelteilen, Predigt, Anbetung, Fürbitte und Segnung, die das spirituelle Moment repräsentieren.188 Welches Verständnis von Kirchenbindung geht mit dem Spirituellen Gemeindemanagement einher? Der Name des Konzeptes weißt bereits auf die Gemeinde als zentrale Größe des Konzepts und somit auch des zugrunde liegenden Verständnisses für Kirchenbindung hin. Das Spirituelle Gemeindemanagement sieht den „Kern des Vorgangs Gemeinde“ in der „personale[n] Partizipation am Christusgeschehen“.189 Dieses Kerngeschehen sei zwar prinzipiell unanschaulich. Jedoch sei es verbunden mit einem „Randgeschehen“, nämlich der „sozialen Partizipation in einer konkreten, sichtbaren Gemeinschaft“.190 Dieses Verständnis von Gemeinde zielt auf gemeinschaftsförmige, mit konkreter Partizipation einhergehende Formen sozialer Bindung und setzt somit soziale Bindung mit sozialer Nähe gleich. Unterstrichen wird dieses Verständnis von sozialer Bindung durch die Projekte, die als Beispiele für Prozesse des Spirituellen Gemeindemanagements genannt werden. Sei es das Gemeindeumstrukturierungsprojekt, dessen Initiator das Teilziel verfolgt, „mindestens 5 Familien [...] zum Nachdenken über den Glauben an Jesus Christus zu bringen und für eine regelmäßige Teilnahme am Leben unserer Gemeinde“191 zu gewinnen, die Initiierung eines Männertreffs, die Durchführung evangelischer Besuchswochen, ein Projekt zur Beteiligung an den Kirchenwahlen oder das Gottesdienst-Projekt „Guten-Abend-Kirche“ – alle angeführten Projekte fokussieren Kirchenbindung als soziale Nähe.192 Somit kann auch für den Kirchenmarketingansatz des Spirituellen Gemeindemanagements festgehalten werden, das hier Kirchenbindung mit Hilfe des Marketing als soziale Nähe und Vergemeinschaftung realisiert werden soll. Die „Ökumenische Basler Kirchenstudie“ schließlich ist Teil eines Marketingprozesses, der eine Reform kirchlicher Organisationsstrukturen sowohl in der Evangelisch-reformierten als auch der Römisch-katholischen Kirche des Kantons Basel-Stadt zum Ziel hat.193 Auf Grund eines auffallend hohen Mitgliederverlusts, den beide Kirchen seit dem Jahr 1973 erfahren haben,194 188 Vgl. Abromeit 2001, 19–21. 189 Abromeit 2001, 23. 190 Ebd. 191 Görler u.a. 2001, 139. 192 Vgl. ebd., 137–158; Dusza 2001. 193 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Teile der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, die sich auf die Evangelisch-reformierte Kirche beziehen. 194 So hat die Römisch-katholische Kirche seit 1973 etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren, die Evangelisch-reformierte Kirche zählt nur noch 45 Prozent ihres damaligen Bestandes (vgl. Gerster/Pfister 1999).
72
beabsichtigt die Ökumenische Basler Kirchenstudie eine umfassende Situationsanalyse. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, der Vertreter der auftraggebenden Kirchen, der evangelisch-theologischen Fakultät Basel und der katholisch-theologischen Fakultät Freiburg (Schweiz) sowie Mitarbeiter des Lehrstuhls für Marketing und Unternehmensführung der Universität Basel angehörten, konzipierte die Studie, führte sie durch und wertete sie aus. Die Projektleitung lag bei Manfred Bruhn, Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Basel. Befragt wurde ein repräsentativer Querschnitt der Basler Bevölkerung, der neben Kirchenmitgliedern auch ehemalige Mitglieder umfasste, die ausgetreten sind, und kirchliche Mitarbeitende.195 Im Unterschied zu den bisher betrachteten Projekten und Initiativen des Kirchenmarketing legt der Marketingansatz, in dessen Kontext die Ökumenische Basler Kirchenstudie verortet ist, einen Schwerpunkt auf die sogenannte Marktforschung. Sie ist die Grundlage für alle weiteren Schritte des Marketing, wie etwa diejenigen, auf die sich das Hauptaugenmerk der oben besprochenen Initiativen und Projekte richtet. Wenn die Ökumenische Basler Kirchenstudie den Schwerpunkt auf die Marktforschung legt, dann hängt das zum einen mit dem Grundanliegen modernen Marketings zusammen, das Bestehende nicht einfach mit betriebswirtschaftlichen Manipulationstechniken zu vermarkten. Marketing und Marktorientierung sind vielmehr als „Denkhaltung“196 zu verstehen, die sich vor allem anderen um eine umfassende Kenntnis der differenzierten Erwartungen und Bedürfnisse bei den vielfältigen Zielgruppen bemüht. Zum anderen verdankt sich der Schwerpunkt im Bereich der Marktforschung der praktisch-theologischen Grundierung der Studie. Leitkategorie ist die praktisch-theologische Programmformel der gelebten Religion. Die dahinter stehende Auffassung sieht in der gelebten Religion der Menschen „handelnd vollzogene Theologie“.197 Als solcher kommt ihr ein „Eigenrecht, eine eigene theologische Dignität“198 zu. Ein Projekt des Kirchenmarketings, das sich dieser praktisch-theologischen Zugangsweise verpflichtet weiß, tut gut daran, einen Schwerpunkt auf die umfassende empirische Wahrnehmung der an die Kirche gerichteten Erwartungen zu legen. Der marketingtheoretische Hauptgedanke, der der Ökumenischen Basler Kirchenstudie zugrunde liegt, ist die sogenannte Erfolgskette Qualität Zufriedenheit Bindung. Die dahinter stehende Logik lautet: Das Erreichen 195 Vgl. Bruhn 1999; Bruhn/Grözinger 2000. 196 Bruhn/Grözinger 2000, 8. 197 Spiegel 1974, 179. 198 Grözinger u.a. 2000, 20. Sinngemäß daran anschließend unterstreicht auch Friedrich Schweitzer, dass gelebte Religion bzw. Religion als gelebte Frömmigkeit und gegenwärtige Praxis gegenüber den kirchlichen Formen und der theologischen Tradition in ihrem Eigenrecht anerkannt werden sollen (vgl. Schweitzer 1993, 33).
73
einer hohen Qualität kirchlicher Leistungen führt zu einer hohen Zufriedenheit der Menschen und das wiederum zu einer stabilen und positiven Bindung der Menschen an die Kirche.199 Auf dieser Basis besteht das Ziel der Ökumenischen Basler Kirchenstudie darin, Aufschlüsse über die Qualität zu erhalten, die die Basler Bevölkerung den kirchlichen Leistungen zuweist. Wie wird der Begriff im Rahmen der Studie definiert und empirisch gemessen? Qualität wird bestimmt als „Ausmaß der Erfüllung jener Maßstäbe, die durch eine Anspruchsgruppe festgelegt werden“.200 Voraussetzung zum Erreichen einer hohen Qualität ist somit die Fähigkeit des Anbieters, „die Erwartungen einer Anspruchsgruppe zu kennen und bei der Erstellung der Leistungen zu berücksichtigen bzw. zu antizipieren.“201 Um ausgehend von dieser Begriffsbestimmung Qualität empirisch messen zu können, schließt sich die Ökumenische Basler Kirchenstudie an das GAP-Modell der Dienstleistungsqualität von Valerie A. Zeithaml, Leonard L. Berry und Anantharanthan Parasuraman an. Sie bestimmen und operationalisieren in einem empirisch messbaren Sinn Qualität als die Diskrepanz zwischen den Erwartungen an das Dienstleistungsangebot und dessen Beurteilung durch die Abnehmer.202 Der empirische Befund, zu dem die Basler Ökumenische Kirchenstudie gelangt, ist in Bezug auf die Erwartungen, die die Befragten an die Kirche richten, durchaus bemerkenswert. So stehen mit dem liturgischen, diakonischen und pädagogischen Handeln der Kirche Erwartungen im Vordergrund, die als Kernbereiche kirchlichen Handelns zu betrachten sind. Die Befragten erwarten somit keine völlig gewandelte Kirche, sondern präferieren ein eher konservatives Bild von Kirche. Ebenso profiliert wie die Erwartungen an die Kirche erkennbar werden, zeigt die Studie auch Qualitätslücken auf. So fällt auf, dass bei Leistungen wie Taufen, Trauungen und Bestattungen sowie der Jugendarbeit, an die hohe Erwartungen gestellt werden, große Qualitätslücken vorliegen – hohen Erwartungen stehen vergleichsweise niedrige Einstufungen der faktisch wahrgenommenen Qualität gegenüber. Gleiches gilt für Seelsorge und Beratung. Hier werden die größten Qualitätslücken diagnostiziert. Eine hohe Qualität, d.h. keine Qualitätslücken, werden für die Bereiche „Anleitung zu einem religiösen Leben“, „Kirchenmusik“ und „Erhaltung von Kirchengebäuden“ ermittelt.203 199 Vgl. Bruhn/Lischka 2000, 44. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Vgl. Zeithaml u.a. 2000. Zur Methodologie der Ökumenischen Basler Kirchenstudie und zur Möglichkeit, ihr Marketingkonzept für die Gemeindearbeit fruchtbar zu machen, vgl. Kretzschmar 2002b. 203 Vgl. Bruhn/Lischka 2000, 47–57.
74
Das Verständnis sozialer Bindung zur Kirche, wie es sich der Ökumenischen Basler Kirchenstudie entnehmen lässt, übersteigt das Moment sozialer Nähe. Der Marketingansatz der Studie begreift Bindung als Beziehungsgeschehen: Alle in Basel Befragten, seien sie Mitglied der Kirchen oder nicht, stehen in einer Beziehung zur Kirche. Das ist zwangsläufig so, da die katholische und evangelische Kirche in Basel kulturell-gesellschaftliche Größen sind, deren reine Existenz bereits dazu führt, dass sich Menschen dazu verhalten und somit eine Beziehung zu ihnen haben. Aus Marketingperspektive stellt sich somit nicht die Frage, ob jemand eine Beziehung zur Kirche hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr die Frage nach der Qualität der Beziehung. Diese Sichtweise ist eine Konsequenz der oben bereits genannten Erfolgskette Qualität Zufriedenheit Bindung: Die Qualität der Kirchenbindung hängt ab von der Zufriedenheit mit den Leistungen der Kirche und die Zufriedenheit wiederum hängt ab von der Qualität der kirchlichen Leistungen. In diesem Sinne ist es schlüssig, dass die Basler Kirchenstudie die Bindung an die Kirche nicht mit dem Formalkriterium der Kirchenmitgliedschaft identifiziert, sondern auch zum Beispiel bei aus der Kirche ausgetretenen Menschen Kirchenbindung sieht. Die entscheidende Frage im Hinblick auf das Verständnis von Kirchenbindung lautet bei der Ökumenischen Basler Kirchenstudie deshalb nicht: „Haben Menschen eine Bindung zur Kirche oder nicht?“, sie lautet vielmehr: „Von welcher Qualität ist die Kirchenbindung? Wie ist sie, über die Frage nach sozialer Nähe hinaus, beschaffen?“ Bei der Frage nach der Qualität der Kirchenbindung und der kirchlichen Leistungen setzt auch die in der Studie vorgenommene Klassifizierung in Befragtentypen ein. So werden die Befragten nicht auf Grund von Angaben zur Intensität am gemeinschaftlichen oder gottesdienstlichen Leben der Kirche klassifiziert. Stattdessen ist die Frage nach der Mitgliedschaftsmotivation die Grundlage für die Klassifizierung in insgesamt fünf Mitgliedschaftstypen (ausgetretene Kirchenmitglieder mit eingeschlossen). Folgende Typen werden unterschieden: – – – – –
Gemeinschafts-/Dienstleistungsorientierte Mitglieder ohne Eigeninteresse Gemeinschaftsorientierte Dienstleistungsorientierte Ausgetretene
Für jeden Mitgliedschaftstypus benennt die Studie ein je eigenes Erwartungsprofil an die Kirche. Kirchenbindung im Sinne von sozialer Nähe spielt dabei zwar auch eine Rolle. Das allerdings nur als ein Aspekt unter weiteren, die die faktische Bindung zur Kirche konturieren können. Auf 75
diesem Wege lässt sich auch für ausgetretene Kirchenmitglieder ein spezifisches Bindungsprofil ermitteln. Dass dies nicht unbedingt auf Formen sozialer Nähe zielt, ist evident.204 Das Verständnis von Kirchenbindung, wie es der Ökumenischen Basler Kirchenstudie zugrunde liegt, bestimmt auch die Formulierung möglicher Konsequenzen für die Gestaltung des kirchlichen Lebens in Basel. Da Kirchenbindung nicht über ein Mehr oder Weniger an sozialer Nähe zu den gemeinschaftlichen Angeboten der Kirche definiert wird, sondern über die qualitätsmäßige Zufriedenheit mit kirchlichen Leistungen, zielen die vorgeschlagenen Konsequenzen für praktische Schritte nicht ausschließlich auf die Frage, wie sich bestimmte Mitgliedschaftstypen vergemeinschaften lassen. Sie setzen vielmehr bei der weitergefassten Frage an, wie die Qualität kirchlicher Leistungen bezogen auf die unterschiedlichen Mitgliedschaftsprofile verbessert werden kann. Es geht um die Stabilisierung der Kirchenbindung und den Aufbau einer positiven Beziehung zwischen den kirchlichen Organisationen einerseits und den Mitgliedern andererseits. So plädiert etwa Georg Vischer dafür, kirchlicherseits den gewohnten und vorherrschenden gemeinschaftsorientierten Referenzrahmen zu überschreiten und nach Wegen zu suchen, sich auch denjenigen verständlich machen zu wollen, deren Kirchenbindung gerade nicht gemeinschaftsorientiert profiliert ist. Angesichts des empirischen Befunds der Mitarbeitendenbefragung, wonach die kirchlichen Mitarbeitenden fast ausschließlich dem gemeinschaftsorientierten Bindungstypus zuzuordnen ist, schlägt Vischer vor, bei der Anstellung kirchlicher Mitarbeitender verstärkt darauf zu achten, dass auch die anderen Bindungstypen vertreten sind. Schließlich können deren Erwartungen an kirchliche Leistungen nur dann angemessen aufgegriffen werden, wenn sie den kirchlichen Mitarbeitenden vertraut sind.205 Ähnlich wie Vischer votiert auch Albrecht Grözinger. Er rät an erster Stelle zu einer Intensivierung der Wahrnehmungskompetenz pastoral Tätiger bezüglich der an die Kirche gerichteten Erwartungen.206 In analoger Absicht macht sich Adrian Portmann für ein mehrdimensionales Verständnis von Kirchenbindung stark.207 Aufschlussreich im Hinblick auf konkrete Schritte zur Gestaltung der Kirchenbindung ist auch Alex von Sinners Vorschlag zur Diakonie als Faktor im Kirchenmarketing. Da die diakonischen Leistungen unter den Mitgliedschaftsmotivationen einen sehr hohen Stellenwert einnehmen, sich mit ihnen aber gerade nicht der Wunsch nach Vergemeinschaftung verbindet, 204 205 206 207
76
Vgl. Bruhn u.a. 1999, 287–298. Vgl. Vischer 2000. Vgl. Grözinger 2000, 219f. Vgl. Portmann 2000.
schlägt er eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit diakonischer Einrichtungen unter denjenigen Kirchenmitgliedschaftstypen vor, für deren Mitgliedschaftsmotivation die Diakonie der Kirche eine bedeutende Rolle spielt.208 In grundsätzlicher Hinsicht empfiehlt David Plüss die Abkehr von der in kirchlichen Kreisen vorherrschenden Rhetorik vom sinkenden Schiff.209 Die Ökumenische Basler Kirchenstudie belegt, dass die Wahrnehmung der Kirche und ihrer Leistungen seitens der Befragten besser ist, als ihr unter den kirchlichen Mitarbeitenden angenommener Ruf. Aufgabe der Kirche sollte es sein, nach Wegen zu suchen, die festgestellten Qualitätslücken zu schließen. Auf der Basis eines in kirchlichen Kreisen kommunizierten, sehr negativen Selbstbildes von Kirche wird das nur schwer gelingen können. Betrachtet man den Diskurs um Kirchenbindung, wie ihn die Ökumenische Basler Kirchenstudie erkennen lässt, so liegt hier der für das kirchliche Marketing seltene Fall vor, dass Kirchenbindung nicht ausschließlich mit sozialer Nähe identifiziert wird, sondern in einem komplexeren Sinn als Beziehung zwischen Individuen und kirchlichen Organisationen gesehen wird, die ausgehend von den Erwartungen und Bedürfnissen der Menschen und von den Möglichkeiten kirchlicher Organisationen mit den Mitteln des Marketings gestaltbar ist. Soziale Nähe und Gemeinschaft sind dabei ein Faktor unter vielen weiteren. Es wurde eingangs erwähnt: Hohe Kirchenaustrittszahlen, durch einen gravierenden demografischen Wandel verursachte Verknappung finanzieller Ressourcen sowie das Empfinden, auf einem blühenden und expandierenden Markt religiöser Angebote kirchlicherseits ins Hintertreffen zu geraten und nicht konkurrenzfähig zu sein, können als die entscheidenden Motive gesehen werden, dass zur Gestaltung des kirchlichen Lebens seit etwa Anfang der 90er Jahre verstärkt auf Methoden des Marketing zugegriffen wird. In den vergangenen Jahren hat sich der kirchliche Rekurs auf betriebswirtschaftliche Verfahrensweisen und Marketing an vielen Stellen bewährt und etabliert. Zu nennen sind hier vor allem die Bereiche Personalentwicklung (Mitarbeitendengespräche etc.) und Organisationsentwicklung (Verwaltungsreformen usw.). In Bezug auf die Marketingverfahren, die im kirchlichen Bereich aufgegriffen wurden, um angesichts der gewandelten und auch verschärften Bedingungen kirchlicher Arbeit die Beziehung zwischen kirchlichen Organisationen und den Mitgliedern professionell zu gestalten, fällt die Bilanz jedoch nicht so positiv aus. Ablesbar ist das an dem für das kirchliche Marketing zentralen Gedanken der Mitgliederorientierung. Der erste Schritt 208 Vgl. Sinner 2000. 209 Vgl. Plüss 2000.
77
für jede Marketinginitiative sollte, ganz im Sinne der Kunden- bzw. Mitgliederorientierung, die Marktforschung sein. Wer sind die Menschen, mit denen man in Beziehung steht oder stehen möchte? Was sind ihre Erwartungen und Bedürfnisse gegenüber dem Kooperationspartner? Wie sind ihre Lebensumstände? Das sind Fragen, die vor allen weiteren Marketingschritten geklärt sein sollten. Beim Blick auf die oben beschriebenen Initiativen und Projekte fällt auf, dass dieser Schritt – abgesehen von der Ökumenischen Basler Kirchenstudie – eine eher untergeordnete Rolle spielt. Das EKD-Missionspapier beschränkt sich darauf, auf der Ebene ideologischer Globalaussagen die Strukturen der modernen Gesellschaft geschichtsfatalistisch zu diskreditieren; das Evangelische Münchenprogramm nimmt Menschen nur als so etwas wie geografische Punkte war, deren Qualität auf das Maß an Nähe bzw. Ferne zu einem kirchlichen Mittelpunkt reduziert wird; das Spirituelle Gemeindemanagement präsentiert Verfahren zur Marktforschung die weit davon entfernt sind, professionellen Standards zu entsprechen; Ähnliches gilt für die Kommunikationsinitiative „Brücken bauen“, wobei diese zusätzlich die Ergebnisse der EKD-Mitgliedschaftsforschung referiert. Wie auch immer all diese Initiativen und Projekte Mitgliederorientierung als Wesen von Marketing verstehen, in Form einer professionellen Form von Marktforschung schlägt sie sich nicht nieder. Wie es zu dieser Problemlage kommt, zeigt der Blick auf die Art und Weise, wie die meisten hier betrachteten Initiativen und Projekte Kirchenbindung verstehen und thematisieren. Fast alle – wieder abgesehen von der Ökumenischen Basler Kirchenstudie – identifizieren Kirchenbindung mit sozialer Nähe und Formen gemeinschaftlichen Lebens in der Kirche. Die Herstellung sozialer Nähe und die Vergemeinschaftung bisher nicht gemeinschaftlich gebundener Mitglieder stellen die Zielperspektiven eines großen Teils des Kirchenmarketings dar. Somit sind die Initiativen und Projekte von vornherein auf diesen einen ganz bestimmten Zweck hin fokussiert. Eine all zu differenzierte und intensive Marktforschung, die sich an den Erwartungen und Bedürfnissen der Mitglieder orientiert, könnte den eigentlich angestrebten Zweck unter Umständen eher in Frage stellen als bestätigen. Gerade im Blick auf die professionelle und den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingungen entsprechende Gestaltung der Beziehung zwischen den kirchlichen Organisationen und ihren Mitgliedern kann diese Form der Verzweckung des Marketings zur Schaffung von sozialer Nähe und kirchlicher Vergemeinschaftung eher problematisch wirken. Zum einen können die Potenziale des modernen Marketings nicht genutzt werden – schließlich ist es ohne eine solide Marktforschung unmöglich, weitere Marketingschritte wie etwa Gemeinde- und Dekanatsentwicklungsprozesse sinnvoll zu gestalten. Zum anderen verhindert die Reduktion von 78
Kirchenbindung auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung die Möglichkeit, individuelle Formen der Kirchenbindung wahrzunehmen, die sich unter anderem auch durch das Moment sozialer Distanz auszeichnen können. Damit fällt im Ergebnis die Möglichkeit aus, die eigenständigen Leistungen wahrzunehmen, die Menschen erbringen, um eine ihrem Leben und ihren Lebensumständen entsprechende Form der Kirchenbindung zu realisieren. Es mag paradox klingen, doch die kirchliche Instrumentalisierung des Marketings kann durch ihr apriorisches Drängen auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung eher destabilisierend als stabilisierend wirken. Schließlich sollen die individuell gestalteten Formen der Kirchenbindung zugunsten der vom Kirchenmarketing angestrebten Formen zurücktreten. Ob das auf breite Zustimmung stößt?
4. Religiöse Pluriformität als Wahrnehmungsaufgabe – Kirchenbindung in der neueren praktisch-theologischen Theoriebildung Versteht man Praktische Theologie mit Schleiermacher als „Theorie der Praxis“210 der Kirchenleitung, dann schließt der Begriff der Praxis, dessen Theorie die Praktische Theologie sein soll, auch den Gegenstand mit ein, dem die kirchenleitende Tätigkeit gilt. Schließlich liegt die „Praxis des religiösen Lebens in der Kirche (und durch die Kirche) [...] allem Handeln [sc. der Kirchenleitung], das der Verantwortung für diese Praxis gelten soll, voraus.“211 Die Strukturen und Mechanismen der Bindung zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern bestimmen die Praxis des religiösen Lebens in der Kirche und durch die Kirche maßgeblich. Als solche liegen sie dem Handeln der Kirchenleitung voraus und sind praktisch-theologisch zu bedenken. Die folgenden Ausführungen skizzieren im Gespräch mit neueren Arbeiten der praktisch-theologischen Theoriebildung, inwieweit die Frage der Kirchenbindung gegenwärtig praktisch-theologisch bedacht wird. Wie schon in den vorangegangenen Abschnitten soll auch hier exemplarisch verfahren werden. Mit den Theoriekonzeptionen Dietrich Rösslers, Wolfgang Stecks, Wilhelm Gräbs, Reiner Preuls, Jan Hermelinks und einem summarischen Blick auf Theorieansätze aus der Gruppe des akademischen praktisch-theologischen Nachwuchses sollte ein repräsentatives Bild der praktisch-theologischen Reflexion über Kirchenbindung zumindest in seinen wesentlichen Konturen erkennbar werden.
210 Schleiermacher 1850, 12. 211 Rössler 1994, 18.
79
Gliederungsgrundlage und einheitsstiftende Größe für Dietrich Rösslers „Grundriß der Praktischen Theologie“ ist die Gestalt des differenzierten neuzeitlichen Christentums.212 Dieses ist für Rössler gegliedert in kirchliches, in individuell/privates und in öffentlich/gesellschaftliches Christentum. Nach der Einleitung widmet Rössler jeder Teilgestalt des neuzeitlichen Christentums einen eigenen Teil. Dabei folgen alle Teile dem gleichen Gliederungsprinzip. So werden für jeden Teil des neuzeitlichen Christentums die Grundlagen, die Frage nach der Organisation der jeweiligen Praxis, die je spezifische Grundform der kirchlichen Praxis und schließlich der paradigmatische Fall derjenigen Gemeinschaft, die der Praxis im jeweiligen Teil entspricht, beschrieben.213 Eine Explikation der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche kann in der Gliederungsstruktur von Rösslers „Grundriß der Praktischen Theologie“ nicht vorkommen. Implizit jedoch reflektiert Rössler Bindungsphänomene214 und die dazugehörigen kirchlichen Handlungsfelder215 durchaus. Insbesondere die von ihm vorgeschlagene Orientierung der Praktischen Theologie an der differenzierten Gestalt des neuzeitlichen Christentums, dürfte das Bedingungsgefüge, das Bindungen zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern konstituiert, angemessen erfassen. Dennoch gilt: Über die Beschreibung einzelner bindungsrelevanter Phänomene und die grobe Skizzierung des Bedingungsgefüges kirchlicher Bindungskräfte kommt Rössler nicht hinaus. Wolfgang Steck orientiert sich im Rahmen seiner phänomenologisch konzipierten Praktischen Theologie an Rösslers terminologischem Instrumentarium und bedient sich ebenfalls der Formel des neuzeitlichen Christentums als zentraler Interpretationskategorie.216 Allerdings erhebt Steck „die für die neuzeitlich-bürgerliche Lebenswelt charakteristische Unterscheidung von privater und öffentlicher Lebenssphäre zum basalen Grundmuster einer dual strukturierten Theoriearchitektur.“217 Damit misst Steck dem Aspekt des kirchlichen Christentums einen anderen Status zu, als dies in Rösslers triadisch gegliedertem Grundriss der Fall ist. So ordnet er es in die Palette der vielfältigen, voneinander unterschiedenen und sich überschneidenden Praxishorizonte ein, die mit Hilfe des dualen Interpretationsrasters [sc. d.h. der Differenzierung von privater und öffentlicher Lebenssphäre] rekonstruiert werden soll.218 212 Vgl. ebd., 60–72. 213 Vgl. ebd., 68–70. 214 Dies ist z.B. der Fall in seinen Ausführungen über die empirische Religion (vgl. ebd., 106–117). 215 Exemplarisch seien hier die Ausführungen über Amtshandlungen und Lebensgeschichte genannt (vgl. ebd., 241–263). 216 Vgl. Steck 2000, 84. 217 Ebd., 85. 218 Ebd., 86.
80
Auf diese Weise werden die „vielfältigen Zusammenhänge zwischen privater und öffentlicher Religionskultur [...] exemplarisch am Modellfall der kirchlich verfassten Christentumspraxis [...] vorgeführt.“219 Durch dieses Verfahren gelingt es Steck ganz im Sinne der phänomenologischen Theoriekonzeption seiner Praktischen Theologie, die dynamischen Wechselwirkungen von privater und öffentlicher Religionskultur sowie deren Niederschlag und Ausbildung in der kirchlich verfassten Christentumspraxis zu erfassen und präzise zu beschreiben. Im Unterschied zu Rössler setzt er sich damit ungleich weniger der Gefahr aus, die empirischen Phänomene neuzeitlicher Christentumspraxis aus der Perspektive eines eher statisch konstruierten Begriffskorsetts wahrzunehmen. Im Vergleich zu Rössler kann Steck auf Grund seiner phänomenologischen Theoriekonzeption differenzierter wahrnehmen und beschreiben. Er kann somit die Konstitution des sozialen Bindungsgefüges der Kirche präziser erfassen. Eine explizit systematisch entfaltete Thematisierung der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche findet sich auch bei Steck nicht. Mit Wilhelm Gräbs Buch „Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen“ liegt ein ungleich programmatischerer praktisch-theologischer Entwurf vor als Rösslers „Grundriß der Praktischen Theologie“. Gräb wählt einen systematisch-religionstheoretischen Ausgangspunkt zur Entfaltung seiner Praktischen Theologie. So versteht er Praktische Theologie als Religionshermeneutik, die die sinndeutenden Vorgänge erfasst, in denen die Evidenz sich einstellt, mit der kulturell und gesellschaftlich zur Verfügung stehende Lebensdeutungen individuell angeeignet, somit in die Gestalt der eigenen Selbstauffassung und Lebensführung übernommen werden.220
Von diesem Verständnis Praktischer Theologie ausgehend entfaltet Gräb im ersten Teil seiner Praktischen Theologie sein Verständnis von Religion als lebensgeschichtliche Sinndeutung. Im zweiten Teil bestimmt er das Verhältnis der Kirche zu seinem zuvor definierten praktisch-theologischen Religionsbegriff. Danach sei Kirche Kirche für die Religion der Menschen und somit ein Ort der religiösen Deutungskultur. Unter der Überschrift „Kirche in der Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutung“ erläutert Gräb schließlich im dritten Teil seiner Praktischen Theologie, inwiefern die Kirche in Gottesdienst und Predigt, Kasualpraxis und Seelsorge, Bildung und Unterricht sowie in pastoraltheologischer Hinsicht ein Ort religiöser Deutungskultur sein kann. Gräbs praktisch-theologischer Entwurf reflektiert die Frage nach der Kirchenbindung dahingehend, dass er in programmatischer Absicht einen 219 Ebd., 87. 220 Gräb 1998, 41f.
81
Vorschlag macht, wie Bindungen zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern gestaltet und gepflegt werden könnten. Ob das Bedingungsgefüge kirchlicher Bindungskräfte von Gräb jedoch hinreichend erfasst ist, wenn er es ausschließlich durch das Zusammenspiel von individueller Religion verstanden als lebensgeschichtlicher Sinndeutung einerseits und Kirche als kulturell und gesellschaftlich zur Verfügung stehender Ort religiöser Deutungskultur andererseits bestimmt, muss zunächst offen bleiben bzw. bedürfte der empirischen Überprüfung. Reiner Preuls Kirchentheorie bezieht „den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes.“221 Nach dieser Definition von Kirchentheorie ist die Empirie der Kirche neben der dogmatischen Lehr- und Wesenbestimmung von Kirche eine der beiden tragenden Säulen des kirchentheoretischen Reflexionshorizontes. Da soziale Bindungen die Voraussetzung für die empirisch wahrnehmbare Ausformung kirchlicher Strukturen sind, sollten sie somit Gegenstand kirchentheoretischer Reflexion sein. Dies allerdings ist bei Preuls Entwurf einer Kirchentheorie nur bedingt der Fall. Ausgehend von den reformatorischen Wesenbestimmungen der Kirche222 zieht er zur Beschreibung der Empirie der Kirche mit den Theoremen von Kirche als Institution, als Volkskirche und als Organisation223 Deutungskategorien heran, die bereits in solch hohem Maße abstrahiert sind, dass die sozialen Vollzüge, die die so gedeutete Empirie der Kirche ausmachen, nicht thematisiert werden können. Somit bleibt auch in Preuls Kirchentheorie die Frage offen, wie genau es dazu kommt, dass die evangelische Kirche, in deren empirisch wahrnehmbarer Sozialgestalt den reformatorischen Wesensbestimmungen der Kirche Ausdruck verliehen werden soll, zusammengehalten wird. Gerade jedoch die präzise Kenntnis darüber, wie Bindungen zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft konstituiert sind, wäre die Voraussetzung dafür, dass ein gegebener kirchlicher Zustand tatsächlich verbessert werden kann. Dogmatische Wesensbestimmungen und stark abstrahierende Beschreibungen gegenwärtig vorfindbarer kirchlicher Strukturen allein leisten das nicht. Die Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft von Jan Hermelink ist der bislang erste Versuch, das Phänomen der Kirchenmitgliedschaft explizit zum Thema praktisch-theologischer Reflexion zu machen.224 Dabei 221 222 223 224
82
Preul 1997, 3; Hervorhebung im Text. Vgl. ebd., 50–127. Vgl. ebd., 128–241. Vgl. Hermelink 2000.
betrachtet Hermelink das Phänomen der Kirchenmitgliedschaft so, wie es auch aus kirchlich-institutioneller Sicht wahrgenommen und zum Gegenstand kirchlicher Gestaltung gemacht wird. Konkret bedeutet das, dass er das Mitgliedschaftshandeln der Kirche aus einer dogmatischen,225 einer kirchenrechtlichen und einer kirchensoziologischen Deutungsperspektive heraus bedenkt. Die verbindende Größe, die alle drei Deutungsperspektiven miteinander vermittelt, sieht Hermelink im gottesdienstlichen Handeln der Kirche.226 Daher entfaltet er im Schlussteil227 seiner Praktischen Theologie der Kirchenmitgliedschaft die These, „dass die kirchliche Verantwortung für die Mitgliedschaft sich in der Gestaltung gottesdienstlicher Vollzüge konzentriert.“228 Es zeichnet Hermelinks praktisch-theologische Reflexion des Phänomens Kirchenmitgliedschaft aus, dass hier erstmals alle Deutungsperspektiven, die sich in Theologie und Kirche auf die Kirchenmitgliedschaft beziehen, berücksichtigt und in einen kohärenten Zusammenhang gestellt werden. Kirchenmitgliedschaft und die hinter ihr stehende Kirchenbindung werden dabei als komplexe Phänomene erkennbar, die nicht nur soziologisch beschreibbar sind, sondern auch dogmatisch bestimmt und rechtlich verortet und geregelt sind. Was die soziale Bindung des Individuums jedoch letztlich ausmacht bzw. diese in verschiedenen Lebensphasen und -situationen konstituiert, bleibt auch bei Hermelink offen. Er verweist am Ende seiner praktischtheologischen Bestandsaufnahme zum Thema Kirchenmitgliedschaft zwar darauf, dass es das liturgisch-gottesdienstliche Geschehen sein könnte,229 das die Kirchenbindung konstituiert und somit die Kirche zusammenhält. Doch bewegt sich diese Aussage in Hermelinks Gedankengang noch auf der Ebene einer Hypothese, die der empirischen Prüfung bedarf. Und wie schließlich verhält sich der der akademische praktsichtheologische Nachwuchs zur Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche? Zur Beantwortung dieser Frage wird auf die Beiträge des von Eberhard Hauschildt und Ulrich Schwab herausgegebenen Bandes „Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert“ (Hauschildt/Schwab 2002) rekurriert. Indem Hauschildt und Schwab eine Reihe jüngerer praktischer Theologinnen und Theologen eingeladen haben, ihre Vorstellungen zu einem praktisch-theologischen Konzept zu beschreiben, bietet der Band eine komfortable Möglichkeit, einen Einblick in die Konturen praktisch-theologischer Forschung zu erhalten, wie sie die nächsten Jahre bestimmen wird. Damit 225 226 227 228 229
Vgl. ebd., 33–114.115–192.193–340. Vgl. ebd., 33–114.115–192.193–340. Vgl. ebd., 347–380. Ebd., 28. Vgl. ebd., 347–380.
83
kann auch eine Aussage darüber getroffen werden, wie das Thema Kirchenbindung in die Theoriekonzepte eingebunden ist und wie sich seine weitere praktisch-theologische Erforschung den neueren Standards der Disziplin entsprechend gestalten kann.230 Die zwölf konzeptionellen Beiträge des Bandes lassen sich in zwei Gruppen untergliedern: Die Texte der ersten Gruppe zeigen eine Tendenz, ein Gesamtverständnis der Praktischen Theologie zu konzipieren; die Texte der zweiten Gruppe weisen demgegenüber die Tendenz auf, einen Aspekt eines Gesamtverständnisses herauszustellen. Zur ersten Gruppe: Kristian Fechtner illustriert in seinem Statement das Konzept einer Praktischen Theologie, die sich „als theoretisches Bemühen“ versteht, die Gestaltung christlicher Religion in der Lebenswelt der Spätmoderne zu erkunden in der Absicht, den Sinn und die Zeitgenossenschaft des Christentums als gelebter Religion zu erschließen und religiöse Kompetenz auszubilden.231
Eberhard Hauschildt plädiert dafür, sich von den (praktisch-)theologischen Theorietraditionen des 20. Jahrhunderts zu verabschieden, da sie im 21. Jahrhundert nicht mehr tragfähig seien. Stattdessen empfiehlt er glokale Theorietypen, die vom regionalen Einzelfall her globale Verhältnisse in den Blick nehmen und umgekehrt auch globale Vergleichskriterien auf lokale Verhältnisse anwenden. Bei all dem solle sich Praktische Theologie als „graduelle“ und „konstruktive“ Theologie verstehen: Graduell verstanden als Gegensatz zu generalisierenden Aussagen; konstruktiv im Sinne einer Haltung, die sich im klaren darüber ist, dass die Phänomene, auf die sich das praktisch-theologische Forschen bezieht, nicht etwa greifbar wie Gegenstände, sondern bereits Produkte praktisch-theologischer Reflexion sind.232 Jan Hermelink perspektiviert die Praktische Theologie auf kirchliche Organisation(en), wobei er deren religiös-individuelle wie auch organisatorische Rahmenbedingungen mit berücksichtigt wissen will. In der Betriebswirtschaftslehre sieht er eine wichtige Gesprächspartnerin für die Praktische Theologie.233 Der Beitrag von Ulrich Schwab konzipiert Prakti230 Die Leitfragen, an denen sich die Autoren des Bandes bei der Abfassung ihrer Beiträge orientieren sollten, lauteten: „Welche Traditionselemente der Praktischen Theologie erscheinen heute noch unerlässlich? Welches Verhältnis hat die Praktische Theologie zu den übrigen theologischen Fachdisziplinen und zur Religionswissenschaft? Wie ist die Aufgabe einer Praktischen Theologie zu beschreiben? Welche Rolle spielt die Geschlechterdifferenz? Wie ist das Verhältnis von Praktischer Theologie und Kirche heute zu bestimmen? Wer ist der Adressat einer Praktischen Theologie? Wie ist die Systemrationalität einer Theorie der Praktische Theologie zu umschreiben?“ (Schwab/Hauschildt 2002, 8). 231 Fechtner 2002, 66. 232 Vgl. Hauschildt 2002. 233 Vgl. Hermelink 2002.
84
sche Theologie als subjektorientierte Theorie, deren Fokus auf die Größen Praxis, Kirche und Gesellschaft gerichtet ist. Wahrnehmung differenzieren, Urteilsvermögen fundieren und Kompetenzen entfalten, sind die Aufgaben, die Schwabs Konzept der Praktischen Theologie zuweist.234 Überblickt man die vier auf ein Gesamtverständnis der Praktischen Theologie zusteuernden Beiträge, so stellt sich der Eindruck ein, dass sich die Praktischen Theologien der jüngeren Autoren vor allem durch eine spezifische Haltung auszeichnen, die durch das Bestreben genauer Wahrnehmung näher zu charakterisieren ist. Sie bezieht sich auf gesellschaftliche Kontexte, auf allgemein religiöse Phänomene wie auch auf kirchlich verfasste Formen der Gegenwartsreligion. Die Schwerpunktsetzung auf das hermeneutisch fundierte Bestreben genauer Wahrnehmung könnte es sein, mit der sich die (junge) Praktische Theologie von den anderen theologischen Fachdisziplinen unterscheidet und die sie als Kompetenz in das Feld der theologischen Ausbildung und Reflexion einspielt. Die Texte der zweiten Gruppe, die tendenziell einen Aspekt eines Gesamtverständnisses der Praktischen Theologie betonen, bilden das Bestreben um genaue Wahrnehmung exemplarisch ab.235 Hinsichtlich der Frage nach der praktisch-theologischen Wahrnehmung von Kirchenbindung lässt der Band vor allem zweierlei erkennen: Zum einen ist Kirchenbindung im Sinne eines eher konservativen ekklesialen Paradigmas keine praktisch-theologische Leitkategorie, die im Zentrum praktisch-theologischer Aufmerksamkeit steht und die Orientierung praktisch-theologischer Theoriebildung prägen würde. Das heißt jedoch nicht, dass die Reflexion über Kirchenbindung in den aktuellsten Theorieentwürfen keinen Ort hätte. Sie ist vielmehr eingebettet in den weiter gefassten Horizont der gelebten Religion und der gegenwärtigen Religionskultur. Zum anderen ist erkennbar – und das ist eine Folge des weiteren Kontexts, in den die Frage nach der Kirchenbindung eingeordnet ist –, dass die neueste praktisch-theologische Theoriebildung ebenso wenig wie für die Erforschung der gelebten Religion im Allgemeinen wie auch für die Erforschung der Kirchenbindung im Speziellen auf die bislang üblichen Deutungsperspektiven und -kategorien zugreifen wird. Im Sinne einer umfassend angelegten Hermeneutik gelebter Religion und einer daraus resultierenden vertieften Wahrnehmung verlässt sie die bislang etablierten Reflexions- und Deutungswege. Nur so kann sie die gegenwärtige Religionskultur und als Teil von ihr auch moderne Formen der Kirchenbindung angemessen erfassen, ohne die bereits erzielten Forschungsergebnisse ständig zu reduplizieren. 234 Vgl. Schwab 2002. 235 Vgl. Bieler 2002; Bobert 2002; Dahlgrün 2002; Gutmann 2002; Meyer-Blanck 2002; Plieth 2002; Schroeter-Wittke 2002; Wagner-Rau 2002.
85
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die neuere praktischtheologische Theoriebildung, abgesehen von Jan Hermelinks Reflexion der Kirchenmitgliedschaft, die Frage nach der Kirchenbindung nicht explizit thematisiert. Vielmehr steht das Bestreben im Vordergrund, die neuzeitlichen Ausformungen von Religion und Kirche theoretisch zu erfassen und zu beschreiben, wie kirchliches Handeln diesen Rechnung trägt bzw. tragen könnte. Auf Grund dieser Herangehensweise bildet die Pluriformität religiösen und kirchlichen Lebens den Ausgangspunkt der praktisch-theologischen Theoriebildung. Auf dieser Basis plädieren die neuesten Theorieentwürfe nun für eine vertiefte Wahrnehmung ebendieser Pluriformität. Die Aufgabe der Erforschung der sozialen Bindung in der Kirche erscheint angesichts dieser Sachlage in einem neuen Licht und stellt überdies ein Desiderat der neueren praktisch-theologischen Forschung dar.
5. Wie Autofahren mit angezogener Handbremse – Ein Resümee Betrachtet man die oben dargestellten Diskurse je für sich, dann entsteht zunächst ein eher disparat wirkendes Bild. Da ist zunächst die sogenannte theologische Pluralismusdebatte. Sie zeichnet sich durch eine Akzeptanz und Offenheit für die Strukturen moderner Gesellschaften aus: Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung werden nicht primär von ihren zu problematisierenden Seiten her gedeutet. Vielmehr werden sie als Elemente eines Bedingungsgefüges aufgenommen, die vom theologischen Denken und vom kirchlichen Handeln konstruktiv aufgegriffen werden sollten. Die Frage lautet nicht: Wie kann man moderne Gesellschaftsstrukturen rückgängig machen?, sondern: Wie lässt sich christliche Existenz unter diesen Bedingungen gestalten? – oder mehr noch: Was können Theologie und Kirche dazu beitragen, diese Bedingungen zu fördern und verantwortet weiterzuentwickeln? Die letztgenannte Fragestellung kann auch als Konsequenz daraus gesehen werden, dass der Protestantismus nicht einfach nur von der Moderne betroffen ist, sondern stattdessen geradezu einer ihrer Initiatoren und Förderer ist. Bezüglich der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche folgt aus diesen Voraussetzungen, dass auch innerhalb der Kirche die Phänomene Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung gesehen werden und auf dieser Basis mit vielfältigen, theologisch legitimen Formen der Kirchenbindung gerechnet wird. Anders stellt sich das Bild beim Blick auf die empirische Kirchlichkeitsforschung dar. Obwohl sie als Forschungspraxis gelten kann, die sich geradezu dem Wandel von einer ständisch-agrarischen hin zu einer modernen 86
Gesellschaft verdankt, verharrt sie im Ergebnis auf dem Niveau einer Krisenprophetin. Gerade die empirischen Befunde, wie sie beispielsweise die EKD-Umfragen zur sogenannten distanzierten Kirchlichkeit erbracht haben, könnten einen Ausgangspunkt für die umfassende Erforschung moderner Formen der Kirchenbindung bieten. Doch indem die empirischen Befunde beharrlich aus der Perspektive eines offenbar tief verwurzelten Säkularisierungsdenkens heraus gedeutet werden und Kirchenbindung fast durchgängig mit sozialer Nähe identifiziert wird, können moderne, mit sozialer Distanz einhergehende Formen der Kirchenbindung nicht als Phänomene von Bindung, sondern lediglich als Ausdruck von Bindungslosigkeit interpretiert werden. Die Folge: Die Strukturen der modernen Gesellschaft werden für die Kirche als Bedrohung gewertet, Phänomene distanzierter Kirchlichkeit werden als Säkularisierungsphänomene betrachtet und die trotz allem stabilen kirchlichen Bindungen großer Teile der Bevölkerung bleiben dem Verständnis der in der empirischen Kirchlichkeitsforschung Tätigen verborgen und unerklärbar. Wieder anders das Kirchenmarketing: Grundsätzlich möchte es einen Beitrag zur Modernisierung der Kirche leisten – Kirche soll dadurch mit den in den anderen Teilbereichen der Gesellschaft stattfindenden Modernisierungsprozessen Schritt halten. Durch den Rekurs auf Betriebswirtschaftslehre und Marketing gelingt ihr das auch in vielerlei Hinsicht. Bei der Frage der Kirchenbindung ist das allerdings nicht der Fall. In diesem Punkt besteht das vorrangige Ziel darin, mit den Mitteln des Marketing auf sozialer Nähe und Vergemeinschaftung basierende Formen der Kirchenbindung zu realisieren. Damit streben weite Teile des Kirchenmarketings eine normierende Engführung der Kirchenbindung an, die die modernetypische Vielfalt an Formen der Kirchenbindung zu negieren sucht. Nicht Modernisierung ist hier das Ergebnis, sondern eine Form vermeintlicher Restaurierung. Setzt die Kirche verstärkt auf solche Formen des Kirchenmarketings, bedroht sie damit moderne, nicht auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung zielende Formen der Kirchenbindung und leistet paradoxerweise einen aktiven Beitrag zur Destabilisierung der jetzt noch auf breiter Basis stabilen Kirchenbindung. Kirchenmarketing, dessen Ziel die Pflege und konstruktive Gestaltung von Kirchenbindung ist und somit einen echten Beitrag zur Modernisierung der Kirche leisten will, sollte unter Kirchenbindung mehr verstehen als soziale Nähe und Vergemeinschaftung. Die praktisch-theologische Theoriebildung positioniert sich wieder anders. Dass Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung die Insignien der Moderne sind, die die Grundlage jeder Form theologischen Denkens und kirchlichen Handelns darstellen ist hier Konsens. Die kulturhermeneutischen und religionstheoretischen Zugänge praktisch-theologischer Reflexion rechnen mit den vielfältigsten Formen von Religion und damit 87
auch von Kirchenbindung. Globalkategorien wie etwa Säkularisierung und Gemeinschaft weißt die Praktische Theologie eine lediglich begrenzte Reichweite zu. Um die Konturen neuzeitlicher Religiosität und Kirchlichkeit hinreichend zu erfassen und zu deuten, gelten sie als nicht mehr hinreichend. Überhaupt zeichnet sich die neuere und auch die aktuellste praktisch-theologische Theoriebildung durch den Wunsch nach ganz neuen Formen hermeneutischer Wahrnehmung aus, die frei von den Hypotheken nun schon hinlänglich bekannter und in ihrer Leistungsfähigkeit erschöpfter Reflexionsperspektiven und Deutungskategorien einen Zugang zur Religionskultur der Gegenwart bieten. Dass es sich angesichts dieser praktischtheologischen Haltung lohnen könnte, nochmals neu auf das Phänomen der Kirchenbindung zu schauen, ist mehr als wahrscheinlich. Explizit geschehen ist das bislang noch nicht. In der Gesamtschau der hier betrachteten Diskurse zeigt sich folgendes Bild: Auf der einen Seite stehen die theologische Pluralismusdebatte und die praktisch-theologische Theoriebildung. Moderne Gesellschaftsstrukturen werden hier als selbstverständliche Basis theologischen Denkens und kirchlichen Handelns gesehen. Als solche stoßen sie nicht auf kritische Ablehnung, sondern auf positive Würdigung. Dass Kirchenbindung als Element moderner Religionskultur vielfältige Formen annehmen kann, ja geradezu muss, und keineswegs auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung zu reduzieren ist, ist hier unumstritten. Auf der anderen Seite stehen die empirische Kirchlichkeitsforschung und das kirchliche Marketing. Durch die Dominanz eines herkömmlichen Säkularisierungsdenkens ist es der empirischen Kirchlichkeitsforschung offenbar unmöglich, moderne Formen der Kirchenbindung angemessen und umfassend wahrzunehmen, geschweige denn sie als Phänomene zu deuten, die die Kirche unter den Bedingungen der Moderne geradezu stabilisieren. Nahezu tragisch ist es, dass die meisten Initiativen und Projekte des Kirchenmarketings mit ihrer Fixierung der Kirchenbindung auf soziale Nähe und Vergemeinschaftung die sozialen Kohäsionskräfte der Kirche eher schwächen als stärken. In der Summe entseht so das Bild einer grundsätzlichen Offenheit für die Strukturen der modernen Gesellschaft und die Modernisierungsphänomene in Bezug auf Kirchenbindung, die sich daraus ergeben. Gleichzeitig ist jedoch auch zu beobachten, dass es ausgeprägte Blockaden und Kräfte gibt, die die tiefergehende Wahrnehmung ebendieser Modernisierungsphänomene verhindern oder sie gar in einem restaurativen Sinne revidieren möchten. Die Frage „Was hält die Kirche zusammen?“ ist auf dieser Grundlage nicht beantwortbar. Der Umgang mit der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche, wie ihn die hier betrachteten Diskurse erkennen lassen, gleicht – im Bild gesprochen – dem Fahren eines Autos mit angezogener Handbremse: Einerseits will man moderne Formen der Kirchenbindung geradezu fördern 88
und auch umfassend wahrnehmen, andererseits aber misst man sie an vormodernen Maßstäben und versucht sie zu beseitigen. Einen Vorschlag, wie die Handbremse des Autos gelöst werden kann, unterbreitet das folgende Kapitel.
89
KAPITEL 2 Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft – Die Prämissen der Theorie der mediatisierten Kommunikation 1. Mediatisierte Verständigung – Einleitende Bemerkungen Um die im vorangegangenen Kapitel herausgestellte Problemlage so aufgreifen zu können, dass ein konstruktiver Beitrag zu ihrer Lösung geleistet werden kann, bedarf es einer Theorie, die dem oben formulierten Forschungsprogramm, Verbundenheit in der Distanz und Verbindlichkeit in der Unverbindlichkeit aufzuspüren, Rechnung trägt. Theorien, die in den Strukturen moderner Gesellschaften lediglich den Verfall von Bindungen, Bindungsverlust und Bindungskrisen sehen, können dies nicht leisten. In der Regel sind sie von einer reinen Defizitwahrnehmung bezüglich der sozialen Bindungskräfte moderner Gesellschaften geleitet und empfehlen in modernitätskritischer Absicht die Restauration von Bindungsmustern vergangener Zeiten.1 Demgegenüber muss dem geplanten Forschungsprojekt eine Theorie moderner sozialer Bindungen zugrunde liegen, die mit Wandlungsprozessen und Neuformationen gesellschaftlicher Strukturen rechnet und diesen eigene Dignität beimisst. Insbesondere sollte sie damit rechnen, dass die in modernen Gesellschaften lebenden Menschen ihre je eigenen Wege gefunden haben, soziale Beziehungen zu regeln und zu gestalten. Auf der Basis einer solchen Theorie kann die Frage nach den tatsächlich vorhandenen Strukturen und Mechanismen sozialer Bindung in der Gesellschaft und auch in der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche sinnvoll gestellt und weiter verfolgt werden. Ein neuerer erziehungswissenschaftlicher Theorieentwurf weist in dieser Hinsicht großes Innovationspotenzial auf.2 Mit der von dem Pädagogen 1 Als Beispiele für Theorieentwürfe, die das, wenn auch nicht explizit einfordern, es gleichwohl jedoch nahe legen, seien Max Webers Ständetheorie (vgl. Weber 1972; Schluchter 1994) und Ferdinand Tönnies Gemeinschaftstheorie (vgl. Tönnies 1979; Schlüter/Clausen 1990) genannt. 2 Das Gespräch mit der Erziehungswissenschaft ist im Zusammenhang mit der zu untersuchenden Fragestellung in zweierlei Hinsicht ratsam. Zum einen spielt das Gespräch mit der Erziehungswissenschaft, von der Religionspädagogik einmal abgesehen, in der gegenwärtigen Praktischen Theologie kaum eine Rolle – besonders Soziologie,
90
Uwe Sander ausgearbeiteten Theorie der mediatisierten Kommunikation liegt eine erziehungswissenschaftliche Theorie vor, die dem hier geschilderten Forschungsprogramm Rechnung trägt.3 Mit ihr wird ein nicht normativ vorbelastetes Modell sozialer Koordination eingeführt, das der tagtäglichen Sphäre menschlicher Beziehungen innerhalb moderner Gesellschaften die produktive Kraft einer autonomen Regelung sozialer Situationen unterstellt.4 Diese konkreten Interaktionssituationen zeichneten sich nicht nur häufig durch Distanz, wechselseitige Abschottung und Vermitteltheit aus, sondern streben auch danach und sind dadurch motiviert. Solchermaßen distante Sozialbeziehungen können sich ausschließlich über Kommunikationsregeln der Distanz bzw. der Mediatisierung reproduzieren. Vertrautheit und affektive Nähe, so Sander, können dagegen in modernen Gesellschaften lediglich enge Beziehungen leiten. Durch die große Menge der alltäglichen Normalinteraktionen würden intime Beziehungsmuster auf Grund ihres hohen Aufwands überfordert (vgl. 15). Die Theorie mediatisierter Kommunikation nimmt die genannten Charakteristika moderngesellschaftlicher Kommunikation ernst und skizziert einen inhaltlich unspezifizierten Bereich einer distanten Öffentlichkeit zwischenmenschlicher Interaktionen, der keine festen Verfahrensregeln über den sachlich definierten Verkehr zwischen Personen bereitstellt. VielPsychologie, Phänomenologie, Ästhetik, Sprachwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre sind die aktuell bevorzugten Gesprächspartner der Praktischen Theologie. Das ist eine unproduktive Einschränkung, da sich die Praktische Theologie insgesamt mit Prozessen und Phänomenen der Ausbildung und Pflege von Religion und Glauben beschäftigt. So gesehen sollte die Erziehungswissenschaft auch bei praktisch-theologischen Fragestellungen als Gesprächspartnerin herangezogen werden, die nicht explizit auf den Bereich der Religionspädagogik beschränkt sind. Als klassischer Entwurf, der die Praktische Theologie als ganze mit der Pädagogik ins Gespräch bringt, sei an die Praktische Theologie Friedrich Niebergalls erinnert (vgl. Niebergall 1918 und 1919; außerdem Sandberger 1972; Heesch 1997; Plagentz/Schwab 1999). Zum anderen empfiehlt sich angesichts der hier aufgeworfenen Fragestellung das Gespräch mit der Erziehungswissenschaft, weil sie – zumindest in weiten Teilen ihrer Forschungstradition – mit Kompetenzen der Individuen rechnet, die diese in die Lage versetzen, ihr Leben zu bewältigen. Exemplarisch sei verwiesen auf die Pädagogik Janusz Korczaks (vgl. 1998a und 1998b) und die Arbeiten von Dieter Baacke (vgl. z.B. 1973). Auch wenn es um die Frage nach den tatsächlichen Strukturen und Mechanismen sozialer Bindung in der Kirche geht, sind es Kompetenzen von Menschen, die es zu erforschen und zu benennen gilt. Schließlich werden mit deren Hilfe die sozialen Beziehungen und somit die Bindung in der Kirche organisiert und gestaltet. 3 Vgl. Sander 1998; Seitennachweise im folgenden in Klammern im Text. 4 Zentrale Charakteristika mediatisierter Kommunikation formulierte Helmuth Plessner bereits 1923 in seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt hat Günther Anders den Begriff der Mediatisierung (vgl. Anders 1956). Im Unterschied zu Plessner konnotiert Anders die mit dem Begriff der Mediatisierung einhergehenden Phänomene jedoch negativ.
91
mehr eröffnet er als „Überbau der Unverbindlichkeit“ (75) einen variablen Möglichkeitsraum für verschieden konkrete Kommunikationsbeziehungen. Konstitutives Merkmal dieses Möglichkeitsraums ist soziale Distanz. Sie ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, die Beziehungsstruktur konkreter Interaktionen mit einem Wahl- oder Umschaltmechanismus von Distanz auf Nähe und umgekehrt auszustatten (vgl. 16). Sanders Konzept der Mediatisierung der Verständigung geht davon aus, dass das Modell eines authentischen, vorbehaltlosen und reflexiven Zweiergesprächs oder die Universalität der Kommunikation und Organisation innerhalb von Großfamilien, von Gemeinden und dauerhaften Milieus nicht mehr nur in bezug auf komplexe, ausdifferenzierte Gesellschaften unanwendbar ist, sondern darüber hinaus ebenso wenig noch den Normalfall auf der Ebene interaktionsnaher Kommunikation5 darstellt. Auch die Ebene der interaktionsnahen Kommunikation ist nicht mehr a priori durch Verstehen, Verständnis und Kongruenz bestimmt (vgl. 74). Der Wegfall von Verstehen, Verständnis und Kongruenz als Formationsfiguren von Kommunikation bedeutet jedoch nicht, dass es im gegenwärtigen Prozess sozialen Wandels überhaupt keine koordinierenden Formationsfiguren der Kommunikation gebe. Vielmehr ist ein „Überbau der Unverbindlichkeit“ (75) im Entstehen begriffen, der als mediatisierte Kommunikation bezeichnet werden kann (vgl. ebd.). Im Kontext mediatisierter Kommunikation findet das Bedürfnis nach Konsens und Gemeinschaft vor allem in der Kommunikation darüber seine Befriedigung, weniger in einer faktischen und dann auch noch biografisch umfassenden Umsetzung. So realisieren sich diese Bedürfnisse schwerpunktmäßig zu bestimmten Anlässen in Gesprächen, Meinungen, Haltungen, Auseinandersetzungen – und zwar in einer Kommunikation, die charakterisiert werden kann durch Mittelbarkeit und geringen Verpflichtungscharakter. Die kritischen Gehalte ganzheitlich-konsensueller Ansprüche, gerichtet gegen die Kälte und Partikularität sozialkulturell und funktional ausdifferenzierter Gesellschaften, zielen gar nicht auf eine tatsächliche Modifikation der persönlichen Lebensumstände. Stattdessen suchen sie sich ein Forum, auf dem sie formuliert werden können, ohne notwendigerweise auch eingelöst werden zu müssen. Somit garantiert mediatisierte Kommunikation eine Doppelleistung: Sie erlaubt die Freiheit und Variabilität kommunikativer Themen, die Freiheit und Variabilität selbst zu kritisieren und das zu proklamieren, was das Ende individualisierter Kommunikation bedeuten würde – nämlich die Verkopp5 Interaktion wird im folgenden systemtheoretisch als Kommunikation unter Anwesenden verstanden (vgl. Luhmann 1994, 560). Unter interaktionsnahe Kommunikation können folglich alle Kommunikationsformen gerechnet werden, die durch die physische Anwesenheit der Kommunikationspartner konstituiert werden.
92
lung sozialer Kommunikation mit einer kollektiv fest integrierten sozialen Lage (vgl. 78). Die Verwahrung der Konstruktionen von Konsens, Gemeinschaft und Ganzheitlichkeit im kommunikativen Rahmen (z.B. in Zweiergesprächen, bei besinnlichen Anlässen, Staatsfeiern o.ä.) bewahrt die Kommunizierenden und andere weitgehend davor, tatsächliche Opfer von oktroyierten Integrationszwängen zu werden. Damit wird vermittelt zwischen der mittlerweile etablierten und kaum noch reduzierbaren sozialen Distanz in den tatsächlichen Lebensbezügen und den auch etablierten traditionellen Deutungsmustern über die Notwendigkeit gemeinsamer gesellschaftlicher Ordnungen und eines gemeinschaftlichen Miteinanders (vgl. 79). Was meint mediatisierte Kommunikation genau? Die Theorie der mediatisierten Kommunikation überträgt die Struktur massenmedialer Kommunikation auf die interaktionsnahe Kommunikation einander fremder Personen. Gekennzeichnet ist diese Struktur durch: – – – – –
Mittelbarkeit Geringe wechselseitige Rückkopplung Anonymität und Distanz Hochgradige Selektion Deutung auf der Rezipientenseite
Im Modus mediatisierter Kommunikation setzen sich einzelne Personen bzw. Angehörige ausdifferenzierter sozialkultureller Kulturen miteinander in Beziehung. Dabei wird mediatisierte Kommunikation nicht als Instrument für anschließende Zwecke verstanden, sondern sie repräsentiert selbst die neue Version globaler sozialer Bindung (vgl. 81f). D.h., wir tauschen uns durchgängig in gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch im Alltag vermittelt, oberflächlich, generalisiert, mit reduzierter Rückkopplungserwartung und reduzierter Verständigungsintention aus (vgl. 83). Wenn mittels des Vergleichs mit Massenmedienkommunikation die Strukturen mediatisierter Kommunikation erläutert werden, dann wird damit kein deterministischer Zusammenhang zwischen der zunehmenden Verbreitung technischer, apparativer Medien in fast allen Lebensbereichen und der Distanzierung interpersonaler Kommunikation unterstellt. Vielmehr folgt die soziale Mediatisierung der Kommunikation lediglich den gleichen gesellschaftlichen Wandlungen wie die technische Mediatisierung (vgl. ebd.). Diese Wandlungen äußern sich darin, dass sozialkulturelle Kommunikation nicht mehr wie unter den Bedingungen segmentärer oder stratifikatorischer Differenzierung an eine gemeinschaftliche Kultur und damit an ein geteiltes oder interaktiv konstituiertes Wertesystem gekoppelt ist, sondern bestimmt ist durch ihr Verhältnis zur aktuellen Form der gesellschaftlichen 93
Primärdifferenzierung, d.h. der funktionalen Differenzierung (vgl. 127). Kommunikation rückt als Massenkommunikation wie auch als interpersonale Kommunikation immer weiter von den kommunizierten Phänomenen ab; sie etabliert sich als eigenständige Realitätsebene zwischen den Kommunikanten und reproduziert sich über Themen, deren Beliebigkeit vielfältige Zuwendungsformen zwischen Engagement und Desinteresse zulässt (vgl. 83). Entgegen der normativen Grundvoraussetzung sozial-solidarischer Gruppenformationen bilden moderne Gesellschaften anscheinend einen Überbau der Unverbindlichkeit. Das ist der neue soziale Kitt (Erich Fromm), haltbarer als der anfällige Konsens und der mühsame Diskurs. Unverbindlichkeit der Sozialbeziehungen in der Masse, Auflösung verpflichtender traditioneller Gemeinschaften und umfassender Lebensstile stellen sich als Parallelreaktion zur sozialkulturellen Differenzierung moderner Gesellschaften ein, die ansonsten unter der Norm allgemeiner, tiefgreifender Verständigung an einem immensen Rechtfertigungsdruck zu leiden hätten. Mediatisierte Kommunikation vermag, diese differenzierten Gesellschaften dennoch zu überspannen; sie verhindert ein Korsett umfassender Sozialkontrolle, die eine zu große Nähe traditioneller Formen von Gemeinschaft auf Menschen mit gesteigerten Autonomieansprüchen ausüben würde. All das möchte Sander nicht als Programm, sondern als empirisch überprüfbare Tatsache verstanden wissen, die positive wie auch negative Konsequenzen haben kann (vgl. 86). Der Pluralismus sozialkultureller Differenzmuster kann in modernen Gesellschaften nicht mehr durch universale Wertorientierungen und Handlungsvorgaben überspannt werden. In einer solchen Situation ist die Akzeptanz aller faktisch vorhandenen Varianten der Lebensführung und kulturellen Muster unmöglich. Eine Gesellschaft wird unter diesen Umständen, soll sie mit den unscharfen, jedoch treffenden Attributen human und im nicht zynischen Sinne vernünftig versehen sein, eher durch soziale Distanz als durch soziale Nähe unterstützt. Für die unübersichtlichen, hochkomplexen und individualisierten Gemeinschaften bleibt die spannungslose Ausgeglichenheit des sogenannten kulturkonsumierenden Publikums die einzige Garantie, diskursorientierten Teilkulturen ihre Autonomie zu sichern (in Anlehnung an und zugleich Abgrenzung von Habermas!). Konsens, unverstelltes lebensweltliches Miteinander oder gelungene Sozialität, wie immer man das auch nennen mag, bleiben genau dann in konkreten, begrenzten und gewünschten Situationen möglich, wenn sie nicht belastet werden mit der Unmöglichkeit, den potentiellen Widersprüchen eines generalisierten Akteurs als Repräsentant ausdifferenzierter Gesamtgesellschaften trotzen zu müssen (vgl. 86f). Intermediäre Kommunikation kann die soziale Distanz und die Aussetzung von Konsenszwängen schaffen, die zum einen den Bürgerkrieg der Weltanschauungen im Polytheismus der Werte (Max Weber) verhindern, 94
die zum anderen jedoch prinzipiell mit dem Eintreten in eine intensive Interaktion und Kommunikation aufgehoben werden können, um relevante Bedingungen des Zusammenlebens zu regeln. In der übersichtlichen Situation gesellschaftlicher Teilkulturen bzw. in interaktionsnahen Kommunikationssituationen bleiben Kommunikation und Diskurs möglich; die prinzipielle Unübersichtlichkeit intergesellschaftlicher Interaktion zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen und zwischen fremden Personen wird geregelt über ein Wechselspiel von Distanz und Nähe (vgl. 88). Im Gegensatz zur Habermasschen Position durchdenkt Sander eine Möglichkeit mediatisierter Kommunikation, in der auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die notwendige Distanz garantiert wird, mittels derer eine nicht mehr mögliche Akzeptanz pluraler Lebensformen ersetzt wird. In den Binnenräumen der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilkulturen, zwischen einzelnen konkreten Personen oder zur Verfolgung bestimmter Interessen auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kann diese mediatisierte Kommunikation dann rückgeführt werden in wechselseitige Kommunikation mit Konsensansprüchen. Um diese beiden Aufgaben (Wahrung und Aufhebbarkeit von Distanz) erfüllen zu können, muss soziale Kommunikation als mediatisierte Kommunikation so weit von der Lebenspraxis und den Bewusstseinsinhalten der Kommunikation entfernt sein, dass sie damit nicht kollidiert und zum sozialen Problem wird, und so dicht daran anliegen, dass die Kommunikanten im Bedarfsfall eine Rückführung in problembearbeitende Interaktion vornehmen können (vgl. 88f). Somit wandelt sich die Mediatisierung der Kommunikation in theoretischer Sicht von einer besonders zynischen Variante der Selbstzerstörung der Moderne zu einer Möglichkeit, in Verhältnissen unmöglicher universaler Geltungsansprüche Verständigung über das Ausbalancieren des Zulassens und der Reduktion von Konsensprozessen doch zu ermöglichen (vgl. 89).
2. Die Mediatisierung der Kommunikation 2.1 Distanz Konzept und Begriff der mediatisierten Kommunikation haben ihren theoriegeschichtlichen Ort in der Diagnose einer zunehmenden Heterogenisierung moderner Gesellschaften und der damit einhergehenden Suche nach einem kompensatorischen Pendant der sozialen (Re-)Integration – als Frage formuliert: „Was hält die Gesellschaft zusammen, wenn alle Gesellschaftsdiagnosen für die Moderne nur ‚Zerfall‘ signalisieren?“ (92). Häufig wurde und wird postuliert, dass erst ein gemeinsames und generalisiertes Normen- und Wertesystem das gemeinsame Zusammenleben in 95
einem sozial differenzierten Gesellschaftsgefüge ermöglicht. Dieser Standpunkt geht von einer Gleichgewichtsunterstellung aus, die der gesellschaftlichen Differenzierung notwendigerweise ausgleichende Gegenkräfte (z.B. Integration durch Normen) gegenüberstellt. Im Unterschied dazu, und im Anschluss an Niklas Luhmann, geht die Theorie der mediatisierten Kommunikation davon aus, dass es auf der interaktionsnahen Ebene der Alltagskommunikation Regulationsmodi gibt, die eben nicht auf strukturell vorgegebenen Handlungsnormen (kulturell dominante Rollenmuster, Wertorientierungen) beruhen (94).6
So ist es neben den gesellschaftsstrukturell verorteten Normen vor allem die Situation des Interaktionsgeschehens,7 die über Variation und Auswahl von Handlungsalternativen entscheidet. Der Gesellschaftsstruktur inklusive ihres Werte- und Normensystems werden somit als ebenbürtige Regulationsinstanz die Systembildungsprozesse der jeweiligen Interaktionssituation zur Seite gestellt. Bezüglich der Richtigkeit eines Verhaltens in einer bestimmten Situation heißt das: Sie lässt sich nicht mehr eindeutig über eine Norm bestimmen, deren Existenz völlig unabhängig von der speziellen Situation ist. Nun ist es die Situation, die die Varianten des Passenden oder Unpassenden, des Richtigen oder Falschen generiert. So gesehen kommt der Situation nun eine Art Inszenierungscharakter zu (vgl. 92–94). Sind es weniger gesellschaftsstrukturelle Größen wie Werte und Normen, als vielmehr die Konstitution der jeweiligen Interaktionssituationen, die über Variation und Auswahl von Handlungsalternativen entscheiden, dann gilt es, sich den gesellschaftsstrukturellen Normalfall von Interaktionssituationen vor Augen zu führen. Um diesen Normalfall der Interaktion zwischen Personen klar erkennen und verstehen zu können, sei zunächst vergegenwärtigt, in welchem Verhältnis gesellschaftliche Teilsysteme wie z.B. Recht, Politik, Wirtschaft, Kultur etc. zueinander stehen. 6 Mit den Worten Luhmanns: „Die funktionale Analyse versteht Handlungen, Verhaltenserwartungen, Normen und Symbole als systembildende Leistungen. [...] So kommt es zu einer etwas respektlosen Art, formale Normen zu behandeln. Ihr unbedingter Geltungsanspruch wird eingeklammert [...] aber als Teilfunktion in einem sozialen System gesehen, das nicht allein von seiner formalen Organisation lebt und sie daher in gewissen Grenzen variieren kann. Die Ordnung des sozialen Handelns durch formale Normen wird mit anderen Möglichkeiten konfrontiert“ (Luhmann 1964, 18ff). 7 An dieser Stelle sei auf eine Einschränkung der Reichweite der mediatisierten Kommunikation verwiesen: Sie bezieht sich ausschließlich auf die Interaktion konkreter Personen in faktischen Situationen und betrifft demnach einen allgemeinen Modus der täglichen Verkehrsformen zwischen Handelnden. Somit koordiniert mediatisierte Kommunikation die Interaktion individueller Akteure unter den Bedingungen sozialkultureller Differenz. Der Austausch auf der Differenzierungsebene gesellschaftlicher Subsysteme wird von der Theorie der mediatisierten Kommunikation dagegen ausgeklammert (vgl. 94f).
96
Der gegenwärtig dominierende deskriptive Leitbegriff für die Verhältnisbestimmung gesellschaftlicher Teilsysteme ist Differenzierung. Sie steht für die Entstehung und Abspaltung funktionaler, autonomer und je einzigartiger Teilbereiche der Gesellschaft. Letztendlich besteht eine differenzierte Gesellschaft nur noch aus Unterschieden. Als einzige Gemeinsamkeit bleibt ihr die Form der Differenzierung und die Tatsache, dass die einzelnen Teilbereiche der Gesellschaft (fast) nichts mehr miteinander zu tun haben (vgl. 95). Doch Differenzierung bezieht sich nicht nur auf die Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme. Auch die Interaktionsebene konkreter Situationen mit konkreten Personen als Akteuren ist von einer solchen Heterogenisierung gekennzeichnet, wie sie der Begriff Differenzierung für die Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme zum Ausdruck bringt. Theoretische Konzepte wie Pluralisierung, Individualisierung, Ausbildung verschiedener Teilkulturen oder individuenbezogene Biografisierung versuchen die Heterogenisierung als Differenzierung auch auf der Interaktionsebene zu artikulieren. Gemeinsam ist diesen Konzepten die Thematisierung sozialer Distanz und sozialkultureller Differenz auf der Interaktionsebene. Soziale Distanz meint in diesem Zusammenhang, dass „die alltägliche Interaktionsebene einander fremder Menschen immer weniger durch sachliche Gemeinsamkeiten der Lebenslage, normative Übereinstimmungen oder identische Lebensmuster“ (96) strukturiert ist. Im Normalfall spielen persönliche Spezifika bei der interaktionsnahen Kommunikation kaum eine Rolle. Auffallend daran ist, dass, analog zur funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme, integrierende Gemeinsamkeiten des Zusammenlebens auf sozialer Ebene immer stärker schwinden, gleichwohl sozial orientierte Interaktionen weiterhin ständig geschehen: Trotz sozialkultureller Differenz und Heterogenität werden soziale Interaktionen weiterhin aufgenommen und entwickelt. Mediatisierte Kommunikation als Konzept beansprucht angesichts dieser Tatsache nun nicht, für die Heterogenisierung des Zusammenlebens komplementäre Modi der Homogenisierung etwa in Form bestimmter generalisierbarer Werte und Normen zu suchen. Sie rechnet vielmehr damit, dass „moderne, heterogenisierende Strukturmerkmale der Interaktion zunehmend selbst stabilisierende Funktionen übernehmen“ (ebd.). Gerade die heterogenisierenden Strukturmerkmale der Interaktion sind es, die es ermöglichen „durch eine möglichst umfassende Ausblendung wechselseitiger Berücksichtigung der interagierenden Personen und ihres Lebenskontextes mit sozialer Distanz umzugehen und sie zu wahren“ (ebd.; Hervorhebung G.K.). Soziale Distanz bezieht sich somit auf „die wachsende Unterschiedlichkeit bzw. Partikularisierung von Lebens-, Handlungsmustern und Einstellungen verschiedener zusammenlebender Menschen“ wie auch auf „die zunehmende ‚Beziehungslosigkeit‘, die die Standardinteraktion von einan97
der fremden Menschen ähnlichen Schicksals und ähnlicher Sozialisationsbedingungen im ‚Normalfall‘“ (ebd.) auszeichnet. Auf dieser Grundlage kann mediatisierte Kommunikation als Begriff verstanden werden, der die kommunikative Handhabung dieser sozialen Distanz zusammenfasst, und die allgemeinen Verfahrensregeln definiert, wie mit sozialer Distanz umgegangen wird. Differenzen der Handelnden und ihrer Einstellungen, die Verschiedenheit der Lebensmuster und Wertepräferenzen wie auch der qualitative Umgang damit stehen beim Konzept der mediatisierten Kommunikation im Zentrum. Es geht um Kommunikation unter der Bedingung fehlender Gemeinsamkeiten der Kommunizierenden. In der Perspektive der mediatisierten Kommunikation legt die Differenzierung der Gesellschaft einen differenzierenden Modus des Umgangs mit Differenzen respektive Heterogenisierungen nahe. Im Unterschied zur klassischen Variante normativer Gesellschaftstheorien, die angesichts der Heterogenisierung auf kompensatorische Integration zielen, hält das Konzept der mediatisierten Kommunikation die Frage, wie sich Integration unter der Bedingung sozialkultureller Differenz tatsächlich ergibt, zunächst einmal offen und verzichtet auf eine verfrühte Vorverlegung des ideologisch vorbelasteten Begriffs der Integration ins Normative (vgl. 96f). Einen quasi-integrierenden Aspekt weist das Konzept der mediatisierten Kommunikation jedoch auf. Er bezieht sich auf das Kommunikationsmedium Sprache, das interaktionsnahe Kommunikation kennzeichnet, und dessen imperativen Charakter. Analog zum Watzlawickschen Diktum, man könne in Kommunikationssituationen nicht nicht kommunizieren, dient dem Konzept der mediatisierten Kommunikation das von Watzlawick angesprochene Faktum der Unentrinnbarkeit aus den Zwängen der Kommunikation als Charakterisierung sozialer Bindung in Kommunikation: Wer angesprochen wird, antwortet immer, auch wenn er oder sie nicht antwortet. Doch gerade dieser Zwang zur Kommunikation wird in einer modernen Gesellschaft mit einer pluralisierten und z.T. widersprüchlichen Sozialkultur zum Problem: Bei allen Differenzen müssen die Menschen miteinander ko-existieren. Kommunikation zwischen ihnen muss so oder so bewältigt werden. Nun überrascht die (heuristische) Tatsache, dass es den Menschen trotz aller Differenzen relativ problemlos gelingt, miteinander umzugehen. Die hier stark gemachte Erklärung dafür liegt in der Mediatisierung der Kommunikation: Worüber man vielleicht nicht kommunizieren sollte, darüber schweigt man besser; und: Was nur Unverständnis erregen kann, darüber versucht man möglichst kein Einverständnis zu erreichen. Differenz führt zu Distanz, und Distanz ermöglicht Differenz (98, Hervorhebung G.K.).
Somit ist Mediatisierung die Antwort auf den imperativen Modus des Kommunikationsmodus Sprache in modernen Gesellschaften. 98
2.2 Distanz und Nähe Bislang wurden Differenzierung, Anonymisierung und Distanzierung als grundlegende Strukturmerkmale moderner Kommunikation herausgestellt und als wesentliche Koordinationsmuster mediatisierter Kommunikation beschrieben. Spielen im Normalfall persönliche Spezifika und integrierende Gemeinsamkeiten des Zusammenlebens auf sozialer Ebene bei der interaktionsnahen Kommunikation kaum eine Rolle, dann stellt sich die Frage, wie sozial orientierte Interaktionen gleichwohl ständig geschehen können. Trotz sozialkultureller Differenz und Heterogenität werden soziale Interaktionen weiterhin aufgenommen und entwickelt – wie ist das möglich und was genau macht diese Interaktionen aus? Wird diese Frage im folgenden bedacht, dann geschieht das in zwei Schritten: Zunächst wird der Frage nachgegangen, wie sich die soziale Interaktion zwischen konkreten Personen und gesellschaftlichen Teilsystemen gestaltet. Dem liegt eine Annahme zugrunde, von der bereits im vorangegangenen Kapitel ausgegangen wurde: Um in einer modernen Gesellschaft die Strukturen interaktionsnaher Kommunikation verstehen zu können, ist es notwendig, zunächst die Interaktionsstrukturen auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme zu betrachten. Diese, so die Annahme, schaffen die Bedingungen, unter denen auch interaktionsnahe Kommunikation zwischen konkreten Personen stattfindet: Die sozialkulturelle Ebene, d.h. interaktionsnahe Kommunikation, steht in einer Wechselbeziehung zur funktional ausgerichteten Primärdifferenzierung moderner Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund wird dann in einem zweiten Schritt die Kommunikation zwischen konkreten Personen näher betrachtet. Soziale Interaktion zwischen Personen und funktional ausdifferenzierten Bereichen Zunächst richtet sich der Blick auf die Beziehung zwischen Personen und funktional ausdifferenzierten Bereichen der Gesellschaft. Dabei geht es um das Verhältnis von Inklusion und Exklusion, wie es sich in folgender Fragestellung zusammenfassen lässt: Welche kommunikativen Beziehungen unter den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen funktionaler Differenzierung werden zwischen ‚Personen‘ und ausdifferenzierten Funktionssystemen aktualisiert [Inklusion], und welche kommunikativen Beziehungen werden ausgeschlossen und anderen Regulationsmodi überlassen [Exklusion]? (108f; Ergänzung G.K.).
Um diese Frage zu klären, soll zunächst eine grundlegende Annahme der Gesellschaftstheorie funktionaler Differenzierung aufgegriffen werden. Dabei geht es um die Differenz von Innen und Außen, Teil und Ganzem, System und Umwelt oder allgemein formuliert: Einheit und Differenz. 99
Hierarchische Gesellschaftstheorien beziehen gegenüber dem Verhältnis von Differenz und Einheit eine eindeutige Stellung. Hier ist es die Gesellschaft als Gesamt, das Teilbereiche oder Menschen einer Gesellschaft integriert. Differenzen werden über die Gesellschaft in Einheit überführt. Fehlt jedoch eine übergreifende Einheit wie z.B. die Gesellschaft, dann muss aus dieser Theorieperspektive Gesellschaft in ein koordinationsloses Chaos zerfallen – so die abschließende Lesart vieler gesellschaftskritischer Analysen. In Abgrenzung von der Gesellschaftsmetapher des vinculum sociale ersetzt die Theorie funktionaler Differenzierung die Differenz von Ganzem und Teil durch eine Theorie der Systemdifferenzierung.8 Dabei wird die Konstitution von Einheit in die Logik und die Beobachtung der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme verlegt. Das gilt sowohl für die Einheit des (Teil-)Systems als Teil als auch für die Einheit der Umwelt als Ganzes wie auch für die Einheit anderer (Teil-)Systeme als Teile in der Umwelt eines (Teil-)Systems. Mit den Worten Luhmanns ausgedrückt: „Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. [...] Sie ist für jedes System eine andere, da jedes System nur sich selbst aus seiner Umwelt ausnimmt.“9 In dieser Perspektive erscheint die ehemals angenommene gesellschaftliche Einheit in der paradoxen Form einer in sich systemdifferenzierten und als solcher je perspektivisch konstituierten Einheit (vgl. 109f). Ein weiterer Aspekt, der für die Frage von Bedeutung ist, welche kommunikativen Beziehungen zwischen Personen und ausdifferenzierten Funktionssystemen aktualisiert und welche ausgeschlossen werden, bezieht sich auf die funktionale Differenzierung als Primärdifferenzierung moderner Gesellschaften. Es ist nun nicht mehr die Differenz nach Gleichheit (segmentäre Differenzierung etwa in Gestalt von Clans oder Gruppierungen) oder nach hierarchischer Ungleichheit (stratifikatorische Differenzierung etwa in Gestalt von Schichten und Klassen), die moderne Gesellschaften kennzeichnet, sondern die Differenz nach sachlich definierten gesellschaftlichen Funktionen (funktionale Differenzierung) (vgl. 110f). Die hier unterstellte funktionale Primärdifferenzierung hat hinsichtlich der Beziehung zwischen Personen und den (Teil-)Systemen der Gesellschaft weitreichende Konsequenzen. Zum einen integriert die funktionale Differenzierungsform keine Personen mehr. Das verhielt sich bei der segmentären oder stratifikatorischen Differenzierung noch anders: Zu einem Clan oder einer Schicht gehörte man voll und ganz, das war identitätsbildend. Die funktionale Differenzierung dagegen kommuniziert in den Grenzen ihres Referenzrahmens nur noch mit Rollenträgern, d.h. mit ihrer Version der Person als Publikum. In der Systemperspektive funktionaler Berei8 9
100
Vgl. Luhmann 1994, 37. Ebd., 36.
che wird der Mensch nun zum Arbeitnehmer, Angeklagten, Schüler, Kranken etc., oder eben auch zum Kirchenmitglied. Auf dieser Basis wird das Konzept der Integration, das die Einbindung der Person anstrebte, vom Konzept der Inklusion abgelöst, das im Rahmen einer sachlich-funktionalen Kommunikation nur noch Rollenaspekte einer Person inkludiert (vgl. 111). Zum anderen verlieren normative Orientierungen als globale Muster kollektiver Lebensführung auf gesellschaftsstruktureller Ebene an Bedeutung. Die gesellschaftliche Konstruktion eines Wertehorizonts wird in die funktionalen Teilbereiche der Gesellschaft verlagert. Das hat zur Folge, dass teilsystemimmanente Wertekonstruktionen für individuelle Personen kein verwertbares Sinnreservoir mehr anbieten (vgl. ebd.). Im Unterschied zu anderen Gesellschaftstheorien wird das Fehlen umgreifender normativer Orientierungen aus der Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung nun nicht als moralischer Kräfteverlust, als Bindungsverlust oder Zerfall moderner Gesellschaften gewertet, sondern als spezifischer Umgang mit Sinn. Wenn die Sinnproduktion nicht mehr auf einer wie auch immer gesamtgesellschaftlich gearteten Ebene anzusiedeln ist, sondern in die verschiedenen sozialen Systeme verlagert wird, dann verweist das lediglich auf die Autonomie der Systeme und ist Ausdruck der Reduktion der Komplexität gesellschaftlicher Sinnreproduktion. Indem sich die Theorie funktionaler Differenzierung nun nicht auf Zerfallserscheinungen sozialer Koordination in modernen Gesellschaften bezieht, sondern hauptsächlich die Ausdifferenzierung funktionaler Teilbereiche der Gesellschaft betrachtet und untersucht, wie unter der Bedingung sachlich-funktional definierter, operativ geschlossener und autonomer Teilsysteme, die sich autopoietisch reproduzieren, eine gesamtgesellschaftliche Reproduktion möglich ist (112),
führt sie eine Diskussion weiter, die an diesem Punkt aus der Sicht klassischer, normativ-harmonistischer Gesellschaftstheorien bereits ihren Abschluss findet (vgl. 111f). Doch wie ist nun aus der Sicht der Theorie funktionaler Differenzierung die scheinbar unmögliche Verbindung verschiedener autopoietischer Systeme und konkret die Verbindung verschiedener Arten von Autopoiesis, nämlich funktionaler Systeme und Personen, möglich? Bisher herausgestellt wurde die in modernen Gesellschaften nicht mehr gegebene Möglichkeit einer gesamtgesellschaftlich geteilten Werteebene, die Personen und gesellschaftliche Teilbereiche gleichermaßen koordiniert (Integration), und die Kompensation von Integration durch die Kategorie der Inklusion (bzw. Exklusion). Im Hinblick auf Personen bezieht sich Inklusion auf den kommunikativen Zugriff funktionaler Teilsysteme auf Personen. Es ist stets die jeweilige sachlich definierte Systemperspektive, aus der heraus ein System 101
auf eine Person zugreift. D.h., der Zugriff inkludiert nie den ganzen Menschen, sondern nur die systemrelevanten Aspekte der Person. Für die einzelne Person bedeutet das zeitgleiche Multiinklusionen durch unterschiedliche Funktionssysteme. Man ist gleichzeitig Wähler, Sozialhilfeempfänger, Konsument, Kirchenmitglied, Verkehrsteilnehmer, Ehepartner, Eltern usw. Nochmals sei betont: Die Beziehungen zu einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen unter funktional-strukturellen Bedingungen inkludieren keine ganzen Personen mehr: „Personen sind damit zum einen keine Bestandteile dieser Funktionssysteme mehr und werden von den Funktionssystemen auch nicht als ganze Person gesehen“ (114). Im Hinblick auf das Unteilbare, das Individuelle des Menschen nehmen die Funktionssysteme eine Dividierung vor und kommunizieren mit den verbleibenden Dividuen, d.h. mit der systemangemessenen Rolle der Person (vgl. 113f). Was bedeutet auf dieser Grundlage nun Exklusion? Sie markiert die andere Seite der Inklusion: „Hier entseht ‚Individualität‘ als nicht gesellschaftliche konditionierte, aber gesellschaftsstrukturell induzierte Möglichkeit des biographischen Umgangs mit gesellschaftlicher Dynamik“ (114). Luhmann veranschaulicht diesen biografischen Umgang mit gesellschaftlicher Dynamik mit den Worten: Die Teilnahme am sozialen System fordert dem Menschen Eigenbeiträge ab und führt dazu, dass die Menschen sich voneinander unterscheiden, sich gegenseitig exklusiv verhalten; denn sie müssen ihren Beitrag selbst erbringen, müssen sich selbst motivieren. Gerade wenn sie kooperieren, muss gegen alle natürliche Ähnlichkeit geklärt werden, wer welchen Beitrag leistet [– und wer welchen Beitrag nicht].10
Legt man die traditionelle Integrationsperspektive normativer Gesellschaftstheorien zugrunde, würde der Begriff Exklusion notwendigerweise den Zerfall von Gesellschaften anzeigen. Schließlich steht Exklusion gerade für die Nichtteilnahme an Gesellschaft. Die Theorie funktionaler Differenzierung dagegen sieht das anders. In der Exklusion sieht sie die mit der funktionalen Differenzierung verbundene, historisch einzigartige Möglichkeit der Ausbildung von Individualität gegeben. Folglich hat Exklusion genauso wenig mit Desintegration zu tun wie Inklusion mit Integration (vgl. 114f). Im Zusammenhang mit der Individualität von Personen ergibt sich aus der sachlich ausgerichteten funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften eine wichtige Konsequenz. Soziale Systeme reagieren auf Komplexitätssteigerung mit einer sachlichen Ausdifferenzierung, die unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zugleich zu bewältigen hilft. Bewusstseinssystemen, d.h. Personen ist eine solche sachliche Ausdifferenzierung nicht möglich: 10 Luhmann 1994, 299; Ergänzung G.K.
102
Ein Bewusstsein kann Komplexität nicht sachlich parallelisieren, sondern nur temporalisieren, d.h., Bewusstsein kann den Vorgang sachlicher Ausdifferenzierung auf der Funktionsebene der Gesellschaft lediglich biographisch einholen (116).
Die vielen funktionalen Publikumsrollen und Inklusionen in soziale Beziehungen können von einer Person nur nach und nach bearbeitet und rekonstruiert werden: „Die Biographie als ‚Geschichte‘ des Individuums repräsentiert eine solche temporäre Reihung unterschiedlicher sachlicher Ereignisse und fasst sie sinnhaft zusammen“ (ebd.). Wie lautet angesichts der bisherigen Überlegungen die Antwort auf die Frage: Welche kommunikativen Beziehungen unter den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen funktionaler Differenzierung werden zwischen Personen und ausdifferenzierten Funktionssystemen aktualisiert [Inklusion], und welche kommunikativen Beziehungen werden ausgeschlossen und anderen Regulationsmodi überlassen [Exklusion]? In der Perspektive der Funktionssysteme wird jede Kommunikation thematisiert, die für das System relevant ist und eine Inklusion zu dem jeweiligen Rollenaspekt der Person herstellt. Andere Themen dagegen, die z.B. von Individuen an Funktionssysteme herangetragen werden könnten, lösen bei den Funktionssystemen meistens keine Reaktion aus. Beispiele dazu: Der Konsumbereich nimmt keine therapiebedürftigen Personen wahr, genauso wenig wie das Rechtssystem (im Regelfall) auf Geldangebote von Angeklagten eingeht (vgl. 119). Nicht thematisiert zwischen Personen und funktionalen Bereichen werden alle individualisierten Kommunikationen, „die durch die Einheit der Differenz von Inklusion/Exklusion exkludiert werden und den Bereich der Exklusionsindividualität ausmachen“ (ebd.). Das betrifft alle Kommunikationen, die an die individuelle Selbstbeobachtung bzw. Biografisierung der Person anknüpfen. Beispiele dafür sind Gefühle, Fragen der Emanzipation, der Selbstwerteinschätzung, der Identität usw. Das sind Angelegenheiten, die die Person mit sich ausmachen muss und die für Funktionssysteme irrelevant sind (vgl. 119f). Ferner werden von der Kommunikation zwischen Personen und funktionalen Teilsystemen fast alle normativen Fremdeinschätzungen ausgeschlossen, die Personen in Bezug auf Funktionssysteme vornehmen. So gibt beispielsweise die Politik vor, sich für Fremdeinschätzungen zu interessieren und diese in den Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern zur Kenntnis zu nehmen. Faktisch verlässt sie sich jedoch lieber auf eine Öffentlichkeitsanalyse, die sich nach den Relevanzen des Politiksystems selbst ausrichtet. Kritik von Personen an Funktionssystemen oder an der Gesellschaftsstruktur wird dadurch weitgehend entdramatisiert. Generalisierungen, wie z.B. das ganze System sei inhuman, finden darum kaum noch Instanzen, die sich davon überhaupt angesprochen fühlen. Kritik wird somit zur Privatsache 103
der Individuen und damit gleichzeitig sowohl erlaubt als auch neutralisiert (vgl. 120f). Weiter ausgeschlossen aus der Kommunikation zwischen Personen und funktionalen Bereichen bleiben alle Versuche der sinnhaften, individuellen Koordination verschiedener Publikumsrollen. Wie Individuen mit dem Problem der Gleichzeitigkeit mehrerer Inklusionen umgehen, d.h. wie sie die sachliche Differenzierung funktionaler Bereiche in der individuellen Rekonstruktion temporal-biografisch reintegrieren, wird in die Exklusionsindividualität von Personen ausgelagert und ist für die Gesellschaftsstruktur mit ihren funktionalen Teilsystemen irrelevant (vgl. 121). Damit verbunden ist ein problematischer Aspekt. So werden auch individualisierte Problemlagen von der Kommunikation zwischen Funktionssystemen und Personen nicht thematisiert. Probleme der Sozialdimension wie z.B. Arbeitslosigkeit, Armut, verminderte Bildungschancen, Diskriminierung usw. werden zunehmend biografisiert und der individuellen Selbstthematisierung zugeführt (vgl. 121f). Soziale Interaktion zwischen Personen In einem zweiten Schritt geht es nun darum, ob und wie das oben entwickelte Beziehungsmodell zwischen Individualität und funktionaler Differenzierung übertragen werden kann auf ein neues Beziehungsmodell zwischen Individualität und sozialkultureller Differenzierung. Es stellt sich die Frage, ob nicht nur die sozialstrukturelle funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften Freisetzungsprozesse individualisierter Kommunikation (Biografisierung) in Gang setzt, sondern auch die sozialkulturelle Differenzierung moderner Gesellschaften solche Freisetzungsprozesse auslöst. Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, dass die funktionale Differenzierung individuelle Kontingenzen nicht nur gänzlich unpathetisch toleriert, sondern der Freiheit – oder auch dem Zwang – biografischer Sinnproduktion mit weitgehendem Desinteresse (Exklusion) begegnet. Die funktionalen Bereiche der Gesellschaft interessieren sich in der Regel nicht für private Belange. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die sozialkulturelle Ordnung moderner Gesellschaften mit der sozialkulturellen Pluralisierung nun umgeht. Der Prozess der sozialkulturellen Differenzierung hat in der Vergangenheit verschiedene Phasen einer zunehmenden Indifferenz und Pluralisierung sozialkultureller Gemeinsamkeiten durchlaufen. Sozialkulturelle Gemeinsamkeiten drücken sich in Kollektivphänomenen aus, die als Weltbilder oder Kultur bezeichnet werden können. Der Weg, den solche Kollektivphänomene hin zur modernen Gesellschaft durchlaufen haben,
104
führt von gestaltreichen, mythischen Weltbildern über deren Dezentrierung hin zu pragmatischen Formen der sozialkulturellen Koordination, in denen das konkretistische Prinzip einer vorgegebenen Gestalt immer stärker abgelöst wird vom abstrakten Prinzip der situativen Passung, die hergestellt werden will (124).
Für die Kommunikation unter den Bedingungen moderner Gesellschaften heißt das: Die Kommunizierenden können nicht mehr auf inhaltliche Kommunikationsstandards zurückgreifen; die Unterschiedlichkeit ihrer sozialkulturellen Positionen macht den Prozess wechselseitiger Verständigung nicht nur unwahrscheinlich, sondern sogar riskant. Angesichts dieser Situation fragt das Konzept der mediatisierten Kommunikation, wie interaktionsnahe Kommunikation zwischen einander fremden Menschen dennoch stattfinden kann. Die These lautet: In vielen Situationen ist es die jeweilige Kommunikationssituation selbst, die die Kommunikation pragmatisch bewältigen muss. Es gilt: Je weniger Standardisierungen für diese Bewältigung bereitgestellt werden, desto mehr Distanz wird die Kommunikation regeln (vgl. 124–126). Dieser situationsbezogene Pragmatismus distanzierter, mediatisierter Kommunikation reagiert darauf, dass in modernen Gesellschaften Verständigungen zwischen Kommunizierenden nicht auf einem wechselseitigen Austausch von Bedeutungen, Erfahrungen usw. basieren können, sondern lediglich auf wechselseitigen Unterstellungen von Kongruenz: „Die Individuen bleiben mit ihren Deutungen und Interpretationen in sich; was ihnen allein bleibt als intersubjektives Moment, ist die in Wahrnehmung gemachte Erfahrung eines Kontaktes.“11 Damit liegen die Steuerungsmodi von Kommunikation schwerpunktmäßig auf der handlungspraktischen, pragmatischen Ebene. Für die Kommunikationssituation und das Erfordernis ihrer Bewältigung heißt das: [...] die sozialkulturellen Handlungsvorgaben beziehen sich eher darauf, wie kommunikativ gehandelt wird, und nicht auf das, was während der Handlung in den wechselseitig ‚unsichtbaren‘ Bewusstseinsprozessen der Beteiligten passiert (126).
Damit findet ein theoretischer Perspektivenwechsel statt: Bei der Frage nach der sozialkulturellen Koordination auf der Ebene interaktionsnaher Kommunikation steht nicht mehr das subjektive Verstehen bzw. die intersubjektive Verständigung im Vordergrund, sondern die formale Ordnung des Diskurses. Die Frage nach der adäquaten Bewältigung einer Kommunikationssituation wird nun an die Kategorien einer passenden bzw. unpassenden Bewältigung rückgebunden (vgl. 126f). Doch wie ist in modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften die adäquate Bewältigung interaktionsnaher Kommunikation noch möglich, 11 Ungeheuer 1987, 51.
105
wenn es kein mythisches Weltbild und auch keine gemeinschaftliche Kultur mehr gibt, die die kommunikativen Beziehungen auf der Interaktionsebene unterstützen? Die Antwort aus der Perspektive des Konzepts mediatisierter Kommunikation lautet: Sozialkulturelle, interaktionsnahe Kommunikation wird bestimmt durch ihr Verhältnis zu der aktuellen Form der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung, d.h. der funktionalen Differenzierung. Da hier allerdings eine sachliche und keine soziale Primärdifferenzierung mehr vorliegt, reguliert die funktionale Differenzierung die sozialkulturelle Kommunikation auf der Interaktionsebene nicht mehr unmittelbar, sondern sachlich vermittelt: „Das Verhältnis zwischen funktionaler Gesellschaftsstruktur und Kommunikation auf sozialkultureller Ebene wird indirekter, mediatisierter“ (127). In einer Theorietradition, in der ein geteiltes Wertesystem die Voraussetzung und Bedingung für die integrative Koordination zwischenmenschlicher Beziehungen und teilgesellschaftlicher Bezüge darstellt, bedeutet das Fehlen einer gemeinsamen Kultur schlicht die Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation. Das Fehlen eines universellen normativen Referenzrahmens ist in einer solchen Perspektive automatisch als gesellschaftlicher Auflösungsprozess zu deuten. In einer Theorieperspektive wie etwa der Theorie funktionaler Differenzierung, die eine normative Rahmung der Gesellschaft nicht an prominente Stelle setzt, stellt sich das alles etwas sachlicher dar. Auch hier spielt die Kategorie der Kultur eine Rolle. Allerdings ist ihre definitorische Fassung viel allgemeiner als das sonst der Fall ist. Das zentrale Zitat aus Luhmanns Systemtheorie dazu lautet: Die gesellschaftliche Reproduktion von Kommunikation muss [...] über die Reproduktion von Themen laufen, die ihre Beiträge dann gewissermaßen selbst organisieren. Die Themen werden nicht jeweils fallweise neu geschaffen, sind aber andererseits nicht durch die Sprache, etwa als Wortschatz, in ausreichender Prägnanz vorgegeben, (denn die Sprache behandelt alle Worte gleich und disponiert noch nicht über die Themafähigkeit in kommunikativen Prozessen). Es wird demnach ein dazwischenliegendes, Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis geben – eine Art Vorrat möglicher Themen, die für rasche und rasch verständliche Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen. Wir nennen diesen Themenvorrat Kultur und, wenn er eigens für Kommunikationszwecke aufbewahrt wird, Semantik.12
Luhmann befreit die Sphäre der Kultur von apriorischem, normativem Ballast und zielt ganz allgemein auf das Kriterium der Passung: Kultur ist kein notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion), die es ermöglicht, in themenbezogener Kommunikation passende und 12 Luhmann 1994, 224.
106
nicht passende Beiträge oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden.13
Anders als ein normatives Kulturverständnis strukturiert Kultur im Luhmannschen Sinne die Kommunikation innerhalb gesellschaftsstrukturell freigesetzter Bereiche der interaktionsnahen Sozialbeziehungen zwar auch noch über das allgemeine Kriterium passender und unpassender Kommunikation. Das Kriterium der Passung allerdings wird hier erst in und von der Interaktionssituation selbst endgültig festgelegt (vgl. 128f). Damit entfallen in funktional differenzierten Gesellschaften gesellschaftsstrukturelle Standardisierungen der Kommunikation auf sozialkultureller Ebene: „Alle nicht sachlich durch die Kommunikation mit Funktionssystemen okkupierten Themen der sozialen Kommunikation werden von der funktionalen Gesellschaftsstruktur ‚freigesetzt‘, d.h.: individualisiert“ (130). Natürlich gibt es weiterhin Kommunikationsmuster, die, vergleichbar mit den Strukturen segmentärer und stratifikatorischer Gesellschaften, auf Prinzipien der Gleichheit, Zugehörigkeit bzw. der sozialen Stellung in einer Hierarchie basieren und stark durch Rollenmuster und institutionalisierte soziale Beziehungen standardisiert sind. Diese wandeln sich jedoch zu speziellen Regularien und sind für das Gros interaktionsnaher Kommunikation nicht mehr relevant. Dadurch wird das Individuum selbst zum Regisseur seiner Inszenierung: Es „muss in sozialkulturell destandardisierten Situationen entscheiden, wie zu handeln ist, und muss weiterhin in standardisierten Situationen entscheiden, ob es so handeln will oder kann, wie es sollte“ (131). In der Zusammenschau kommt es in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zu einer abgestuften Dreifachstandardisierung der Kommunikation: An erster Stelle steht die zentrale Standardisierung der Sachkommunikation funktionaler Bereiche; dieser folgen die traditionalen sozialen Standardisierungen in segmentären bzw. stratifikatorischen Bereichen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass erst die dominante funktionale Differenzierung zu einem rapiden Nachlassen des gesellschaftsstrukturellen Einflusses auf die interaktionsnahe Kommunikation führt. Das hat zur Folge, dass die funktionale Differenzierung nun endgültig eine Kommunikationsstruktur mit sich bringt, die sich unter anderen Formen der Primärdifferenzierung nur ansatzweise entwickeln konnte, nämlich die individualisierte, mediatisierte Kommunikation (vgl. 130f). Nun schließlich kann die hier interessierende Ausgangsfrage behandelt werden: Welche kommunikativen Beziehungen werden unter denselben Bedingungen [sc. funktionaler Differenzierung] in der Interaktion zwischen unterschiedlichen Personen mit unterschiedlichen sozialkulturellen Präfe13 Ebd., 224f.
107
renzen aktualisiert, und welche kommunikativen Beziehungen können unter diesen gesellschaftsstrukturellen Verhältnissen von den Beteiligten ausdrücklich ausgeschlossen werden? Anders formuliert – unter Verwendung des oben vorgestellten allgemeinen Kulturbegriffs mit seinem Kriterium der Passung – kann die Frage auch so formuliert werden: Welche Themen werden innerhalb einer interaktionsnahen Kommunikation einander fremder Menschen durch Kultur bzw. Semantik nahegelegt (sind ‚passend‘), und welche Themen werden ausgeschlossen (sind ‚unpassend‘)? (132).
Die folgenden Ausführungen setzen an der empirischen Ebene der konkreten, öffentlichen Interaktion bzw. Kommunikation in modernen Gesellschaften an. Da die funktionale Primärdifferenzierung der Gesellschaft diese Form der Kommunikation nicht mehr tangiert und die sozialkulturelle Differenzierung keine gesellschaftsstrukturelle Verklammerung mehr aufweist, sind nun Partizipationsformen an sozialer Öffentlichkeit möglich, „die sich nicht nur jenseits von Gruppenorientierungen (segmentäre Differenzierung) und jenseits von Stand und Klasse (stratifikatorische Differenzierung) bewegen können, sondern auch funktional irrelevant sein können“ (133).
Das hat zur Folge, dass lediglich sehr unmittelbare, distanzierte kommunikative Beziehungen aktualisiert werden. Im Bereich öffentlicher Interaktion verzichtet mediatisierte Kommunikation fast vollständig auf das Ansprechen von Themen, die Fragen sozialer Gleichheit oder Ungleichheit, sozialer Zugehörigkeit, normativer Einstellungen und andere Aspekte subjektiver Einstellungen als Vorbedingung einer möglichen Kommunikation klären müssten (vgl. 132f). Ebenfalls ausgeschlossen werden können fast alle Themen, die sich wie auch immer auf private, intime oder lebensweltliche Verhältnisse der Kommunizierenden beziehen oder normative Einschätzungen, Werthaltungen und ästhetische Vorlieben betreffen. Damit ist genau der Bereich genannt, der bereits oben im Kontext der Inklusion zu funktionalen Bereichen der Gesellschaft als Individualisierung und Biografisierung exkludiert wurde. Möglich ist der Ausschluss dieser Themen dadurch, dass sich infolge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft kommunikative Inhalte zu Themen gewandelt haben. Damit geht die Abkopplung der Kommunikation von den kommunizierten Sachverhalten einher, die nun eine kommunikative Realität eigener Qualität schafft, und das sind Themen. Themen erlauben sowohl das Umschalten von Distanz und Nähe als auch gleichermaßen Desinteresse wie auch Emphase. Indem es mediatisierte Kommunikation mit Themen zu tun hat, erlaubt sie hier den kontingenten Entschluss für Distanz oder Nähe aufgrund aktueller Stimmungslagen. Geht man von einer interaktionsnahen Alltagskommunikation einander fremder Menschen 108
aus, wird sich das Kriterium der durch Kultur und Semantik vorgegebenen Passung auf die kommunikative Einstiegssituation beschränken und im Falle eines wechselseitigen Desinteresses an intensiverer Kommunikation auf den notwendigen Minimalbereich der Themen, die durch die Interaktionssituation selbst vorgegeben werden (vgl. 133f). Der Begriff, der für diese Form der Kommunikation steht, ist der der mediatisierten Kommunikation. Er lässt sich weiter präzisieren durch die Einheit der Unterscheidung von Inklusion/Eklusion, wie sie oben für die Beziehung zwischen Personen und Funktionsbereichen eingeführt wurde. Auf den Bereich der Kommunikation zwischen einander fremden Personen übertragen, heißt Inklusion nun die „Teilnahme an einer Sphäre der öffentlichen Kommunikation [...], die radikal Funktionen sozialer Vergemeinschaftung abgelegt hat“ (134). Inklusion steht für die eingeschlossene Seite sozialer Distanz, über die Interaktionen zwischen einander fremden Personen hergestellt wird; Exklusion dagegen steht für die durch die mediatisierte Kommunikation ausgeschlossene Seite desselben Vorgangs. Der auf der Interaktionsebene gegebene Grundmodus der Distanz exkludiert private Themen, Beziehungen zwischen den Personen, Werthaltungen, Einstellungen, Vorlieben, soziale Stellung usw. als nicht mehr zwingende Elemente gelingender Kommunikation. Es obliegt nun der situativen Eigenlogik einer individualisierten Kommunikation, welche Inhalte und Themen innerhalb mediatisierter Kommunikation angesprochen werden. Die Lebenslage der Beteiligten ist davon im Wesentlichen abgekoppelt (vgl. 134). Nun könnte eingewandt werden, dass soziale Integration unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation überhaupt nicht mehr möglich sei. Das ist jedoch keineswegs so. Stattdessen wandelt sich soziale Integration, d.h. die Integration durch Kommunikation in soziale Gemeinschaften, zu einem Sonderfall sozialer Beziehungsmuster. Sie vollzieht sich in partikularen Kontexten und impliziert nicht mehr den Einschluss in die gesamte Gesellschaft bzw. in soziale Segmente hierarchischer Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund bedeutet Integration in modernen Gesellschaften vornehmlich Selektion sozialer Beziehungen: Erst über selektive Beziehungen und Bindungen ergibt sich soziale Integration. Beziehungen und Bindungen einzugehen wiederum bedeutet, „aus der unübersichtlichen und lebenspraktisch unendlichen Anzahl möglicher Bindungen wenige auszuwählen – und viele nicht einzugehen“ (135). Indem soziale Integration als Vorgang betrachtet werden kann, bei dem wenige soziale Bezüge aus einer Allgemeinheit individualistisch auserkoren und intensiviert werden, kann sie mit dem Bild der Wahlverwandtschaft beschrieben werden. In dieser Hinsicht ist der Möglichkeitsraum, in dem es zu sozialer Integration kommen kann, wesentlich größer als in segmentären oder stratifikatorischen Gesellschaften. So entfällt in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften der dort sehr hohe 109
Standardisierungsgrad gesellschaftsstrukturell vorgegebener Sozialbindungen. Jenseits von Hierarchien und segmentären Kleingruppen können prinzipiell alle möglichen Beziehungen entstehen. Gerade aber die hohe Variabilität und die durch sie bedingte Vergrößerung des Möglichkeitsraums führen zwangsläufig dazu, dass Beziehungslosigkeit zur dominanten Grundvariante moderner Beziehungsmuster wird. Bindungen und Beziehungen sind nun nicht mehr Resultat der Einordnung in ein vorgegebenes System, sondern wollen hergestellt werden. So gesehen bedeutet soziale Integration in modernen Gesellschaften nicht mehr eine Intensität gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Stattdessen richtet sie sich vornehmlich auf die positive Markierung von Gruppenzugehörigkeit bzw. von Zweierbeziehungen als Spezialfall der Kommunikation (vgl. 134–138). Abschließend sei eines hervorgehoben: In modernen Gesellschaften mit einer funktionalen Primärdifferenzierung gehören die soziale Stellung und die soziale Beziehung einander fremder Kommunizierender nicht mehr zum notwendigen Repertoire der kulturellen bzw. semantischen Passung. Die Klärung der sozialen Position, der jeweils bevorzugten Normen und Werte usw., und damit genau die Kriterien, die in sozial ausdifferenzierten Gesellschaften die Bedingungen passender Kommunikation definiert haben, verlieren in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften ihre exklusive Funktion der Passung. Im Gegenteil: Im Normalfall interaktionsnaher Kommunikation unter einander fremden Personen verstößt die unnötige wechselseitige Offenlegung persönlicher Spezifika gegen die Passung mediatisierter Kommunikation. Die Entkopplung sozialkultureller Differenzierung von der Ebene der Gesellschaftsstruktur macht es sinnlos, eine interaktionsnahe Kommunikationssituation über zusätzliche persönliche Informationen zu regeln. Sie werden als Kommunikationsbeiträge interpretiert, die für die partikulare und situative Kommunikationsbeziehung irrelevant sind. In der Folge wird damit soziale Bindung im klassischen sozialwissenschaftlichen und auch umgangssprachlichen Verständnis, d.h. Integration, aus der Passung mediatisierter Kommunikation entlassen. Damit verliert sie nicht ihre Existenz. Aber sie wird – wie oben dargestellt – zu einem Sonderfall intensivierter Kommunikation (vgl. 138). 2.3 Variabilität Die funktionale Primärdifferenzierung der Gesellschaft führt dazu, dass auch auf der sozialkulturellen Ebene nicht mehr Clans, Familien etc. (segmentäre Differenzierung) und auch nicht mehr Stände, Klassen und Schichten (stratifikatorische Differenzierung) die vorherrschende sozialkulturelle Differenzierungsform darstellen. Diese wird vielmehr repräsentiert von den 110
modernen Varianten nicht primär gruppenbezogener und nicht-hierarchischer Sozialbeziehungen. Alle Sozialbeziehungen jenseits von Vergemeinschaftung stehen hier im Vordergrund: „Die Inklusion durch mediale Kommunikation baut hier auf soziale Unverbindlichkeit und Distanz als Beziehungsmuster“ (141). Milieus, Lebensstil-Gemeinschaften, Geschmackskulturen oder virtuelle Gemeinschaften stehen für moderne, abstrakte, unpersönliche Formen der Sozialbeziehungen. Persönliche Beziehungsnetzwerke zu konkreten Personen sind keineswegs mehr eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zu den genannten sozialkulturellen Phänomenen. Kommunikation ist in diesen Fällen möglich auch ohne wechselseitige Kenntnis, Beachtung der sozialen Position des oder der anderen und Berücksichtigung normativer oder ideologischer Überzeugungen. Dabei sei betont: Mediatisierte Kommunikation missachtet solche persönlichen Eigenschaften der Kommunizierenden nicht, sie werden von ihr normalerweise nur nicht beachtet (vgl. 141f). Indem die sozialen Beziehungsformen mediatisierter Kommunikation auf sozialer Distanz aufbauen, ermöglichen sie einen hohen Grad kommunikativer Variabilität. Welche Regulationsmodi existieren für den Umgang mit dieser Variabilität? Wie kann sozialkulturelle Unverbindlichkeit mittels sozialkultureller Unverbindlichkeit gehandhabt werden und somit auf normative Universalmuster verzichtet werden? Ein erster Modus der Regulierung liegt in einer Art Schalter der mediatisierten Kommunikation, mit dessen Hilfe die interaktionsnahe Kommunikation einander fremder Menschen von Distanz auf Nähe und umgekehrt umgestellt werden kann. Indem die distante Standardform der mediatisierten Kommunikation die meisten persönlichen Themen exkludiert, eröffnet sie einen neuen Raum von Privatheit und Intimität jenseits traditioneller Formen segmentärer Beziehungen. Situativ, d.h. weder sachlich, gemeinschaftlich noch hierarchisch vorstrukturiert, können in der Kommunikationssituation selbst Beziehungsgefüge hergestellt und relativ variabel entfaltet werden. Wenn es die Kommunizierenden wünschen, und es vor allem schaffen, können sie in der Kommunikationssituation eine spontane Intimität und soziale Nähe zueinander erzeugen. Sie setzen sich damit zwar dem Risiko aus, die anfängliche Distanz wechselseitig zu überwinden, ohne gleichzeitig und wechselseitig sicher sein zu können, wie das Gegenüber dazu steht. Durch bestimmte Kommunikationsrituale ist dieses Risiko jedoch von vornherein gemildert. Außerdem bleibt jederzeit die Möglichkeit bestehen, von Nähe wieder auf Distanz umzuschalten. Damit ersetzt mediatisierte Kommunikation die Stabilität traditioneller Beziehungen im Sonderfall durch Intensität ohne zeitliche Sicherheit – und im Regelfall durch Beziehungslosigkeit. War es bei traditionellen Formen vorstrukturierter Kommunikation die Unauflösbarkeit sozialer Bindungen, die es für die Menschen zu bewältigen galt, so 111
erfordert moderne mediatisierte Kommunikation das Umgehen mit der leichten Lösbarkeit sozialer Bindungen. Für die Masse der Menschen gilt: Sie legt den Schalter mediatisierter Kommunikation auf Distanz um, begnügt sich mit der begrenzten Intimität weniger vertrauter Wahlverwandtschaften und stabilisiert somit eine Gesellschaft, die ihre Bindekraft auf Unverbindlichkeit umgestellt hat (151; vgl. auch 148–151).
Der zweite Modus der Regulierung hängt mit dieser Unverbindlichkeit zusammen und besteht in einer spezifischen Pufferfunktion. Stärker als traditionelle Kommunikationstypen entkoppelt mediatisierte Kommunikation das kommunizierte Thema von den Sachverhalten, über die kommuniziert wird. Das meiste, was innerhalb einer mediatisierten Kommunikation kommuniziert wird, bleibt als Thema auf der Ebene eines kommunikativen Phänomens. Im Hinblick auf gesellschaftliche Probleme wirkt mediatisierte Kommunikation wie ein Puffer. Im Rahmen mediatisierter Kommunikation können Personen alles mögliche problematisieren und thematisieren. Die Konsequenzen jedoch, die sich daraus ergeben können, werden durch die Unverbindlichkeit der Kommunikation, ihre soziale Distanz wie auch ihre relative Bedeutungslosigkeit für funktionale Bereiche der Gesellschaft sehr stark abgedämpft. Indem mediatisierte Kommunikation den Bürgerkrieg der Weltanschauungen (Max Weber) einem Puffer vergleichbar abmildert, repräsentiert eben diese Pufferfunktion ein sozial bindendes Phänomen. Unter der Bedingung der Inkommensurabilität der zahlreichen sozialkulturellen Positionen und sozialer Distanz prägt das Phänomen des wechselseitigen Desinteresses den Modus der Koexistenz. Desinteresse steht dabei nicht für die Verletzung sozialer Konventionen, sondern für die moderne Möglichkeit, „über die Variabilität der Kommunikation alle möglichen Themen in beliebigen Alltagssituationen auch nicht kommunizieren zu können“ (152). Unabhängig von wechselseitigen Erwartungen eröffnet mediatisierte Kommunikation immer auch die Möglichkeit der Nichtkommunikation: „Noch immer lässt sich nicht nicht kommunizieren, aber die mediatisierte Kommunikation lässt nun diese Nichtkommunikation zu“ (ebd.). 2.4 Anonymität und Intimität Anonymität, Unpersönlichkeit und soziale Beziehungslosigkeit sind gängige Diagnosen, mittels derer Charakteristika moderner Gesellschaften zu umschreiben versucht werden. Dieses holzschnittartige Urteil lässt sich empirisch leicht nachvollziehen. Einsamkeit in der Massengesellschaft und weit verbreitetes Desinteresse der Menschen aneinander weisen darauf hin, „dass die Koexistenz der vielen in einer Gesellschaft nur sehr wenige Situa112
tionen von Gemeinschaftlichkeit und persönlichen Beziehungen mit sich bringt“ (182). Zusätzlich zeichnen sich die meisten tatsächlichen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Menschen durch lediglich partialisierte oder funktionalisierte Verbindlichkeiten aus. Beispiele dafür sind u.a. räumliche Nähe in Nachbarschaften ohne Sozialbeziehungen, Arbeits- oder Schulkontexte, Dienstleistungsbeziehungen zu Verkaufspersonal, Ärzten oder Polizisten und Zufallskommunikationen auf Gesellschaften oder Reisen. Kommunikation in solchen Kontexten erfordert nicht mehr, die Menschen zu kennen. Es reicht aus, die Kommunikationssituation zu bewältigen. Tatsächlich sind die meisten Sozialbeziehungen in modernen Gesellschaften durch weitgehende Beziehungslosigkeit und einen sehr niedrigen Verpflichtungsgrad charakterisiert (vgl. 182). Gerade der idealisierende Vergleich mit traditionellen Gesellschaften führt häufig dazu, modernen Gesellschaften ein hohes Maß an Unpersönlichkeit nachzusagen. Unterstellt man im Umkehrschluss vormodernen Gesellschaften ein hohes Maß an Persönlichkeit, ist das jedoch unangemessen. Schließlich impliziert eine persönliche Beziehung eine gewollte, zumindest in Bereichen frei wählbare Beziehung. Persönlich ist eine Beziehung dann, wenn die Betroffenen die Beziehung auch anders gestalten könnten – nämlich unpersönlich. Doch gerade diese Wahl zwischen persönlichen und unpersönlichen Beziehungen lassen vormoderne Gesellschaften gar nicht zu. Ihre Mitglieder sind „fest in eine vorgegebene Grammatik des Sozialen“ eingebunden und die Beziehungen sind „nicht disponibel, sondern inhaltlich konkret“ (183) gefasst. So gesehen sind persönliche Beziehungen zu anderen Menschen erst dann möglich, wenn Gesellschaften einen ausreichend hohen Grad an Unpersönlichkeit bzw. Anonymität erreicht haben. Ohne eine Alternative zu engen, vorgegebenen Interaktionsbeziehungen ist es sinnlos, von Intimität oder einer persönlichen Beziehung zu sprechen. Dieser Zusammenhang weist auf das scheinbare Paradoxon hin, dass „erst Gesellschaften mit einem hohen Grad von Anonymität und Beziehungslosigkeit auch vermehrt intime (d.h. enge, gewollte und emotional aufgeladene) Sozialbeziehungen und persönliche Kommunikation zulassen“ (184). Die vorherrschende Kritik sozialer Anonymität übersieht diesen Umstand nur allzu schnell. Betrachtet man Kommunikation innerhalb moderner Gesellschaften stattdessen als Möglichkeitsraum zwischen den Varianten von Anonymität und Intimität, dann scheinen moderne Gesellschaften eine neue Qualität sozialer und kommunikativer Beziehungen aufzuweisen, die gleichzeitig die Unpersönlichkeit von Massengesellschaften und den in der Moderne anzutreffenden Hang nach Individualität und emotional hoch aufgeladenen Sozialbeziehungen bewältigen können. 113
Zunächst zur ersten Möglichkeit: Mitglieder moderner Gesellschaften stehen fortwährend vor der Aufgabe, mit ihnen gänzlich fremden Menschen kommunizieren zu müssen. In Bereichen wie Arbeit, Konsum, Freizeit usw. bezieht sich der größte Teil der Kommunikation nicht auf bekannte, vertraute Personen, sondern auf Fremde. Eine solche Kommunikation kann nicht durch persönliche Beziehungen strukturiert werden. Dafür ist weder die Zeit noch die Motivation gegeben. Also werden diese sozialen Beziehungen „auch ohne Personenkenntnis, ohne ‚Nähe‘, ohne Rücksichten auf Bewusstseinslagen, Werthaltungen, Einstellungen, Sympathie o.ä.“ (185) hergestellt. Tagtäglich werden solche Beziehungen in modernen Gesellschaften massenhaft erfolgreich absolviert. Zur zweiten Möglichkeit: Auch moderne Kommunikation verfügt über die Fähigkeit, intime persönliche Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. So bieten erst moderne Gesellschaften mit ihren weitgehend destandardisierten oder entstrukturierten Sozialbeziehungen die Wahl zwischen Intimität und Anonymität. Und das nicht nur im Falle eines zufälligen Kennenlernens sonst einander nicht bekannter Personen. Auch in Sozialbeziehungen, die durch ein inhaltlich definiertes und konventionalisiertes Rollengefüge gekennzeichnet sind, sind Distanzierungsvorgänge anzutreffen. In Familien wird eine solche Mediatisierung der sozialen Beziehungen als Gefühlskälte kritisiert, im Nachbarschaftskontext als Desinteresse. Eine solche Kritik übersieht jedoch Entscheidendes: So ließen die traditionellen Familien-, Nachbarschafts- und Arbeitsplatzbeziehungsmuster auf Grund ihres großen Zwangs zur wechselseitigen Koordination und Einpassung in vorgegebene Handlungsschemata Intimität, Nähe oder Variabilität von Beziehungen so gut wie gar nicht zu. Erst die tendenzielle Distanz als normalisierte Ausgangsstellung für Sozialbeziehungen auch im sozialen Nahbereich ermöglicht eben nicht nur Beziehungslosigkeit und gegenseitiges Desinteresse, sondern auch große soziale Nähe und emotionale Offenheit (vgl. 185f). Es stimmt: Geht man vom Ideal einer umfassenden persönlichen Nähe zwischen allen Menschen einer Gesellschaft aus, dann erscheinen moderne Gesellschaften zunächst unpersönlich und anonym. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass das Modell persönlicher Beziehungen auf das Zusammenleben von Tausenden, Hunderttausenden oder gar Millionen schlicht nicht anwendbar ist: Die Extensivierung von persönlicher Nähe und Bekanntschaft stößt schnell an technische Grenzen; Massengesellschaften lassen sich nicht über das Muster informeller, kollektiver und inhaltlich standardisierter Interaktionsbeziehungen gegenseitig bekannter Menschen strukturieren (187).
Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: 114
Genau die Möglichkeit, affektive, d.h. intimisierte Kontakte aufzubauen, werden jedoch durch Anonymität nicht nur verhindert, sondern (scheinbar) paradoxerweise auch ermöglicht. Anonyme Massengesellschaften lassen Intensivierungen von Einzelbeziehungen in einem Maße zu, das traditionellen Gesellschaften weitgehend unbekannt war (188).
Es ist gerade die prinzipielle Auslagerung persönlicher Elemente wie Emotionalität, Wissen voneinander oder Bewusstseinslagen aus der Normalkommunikation, die es erlaubt, in begrenzten Situationen Kommunikation hochgradig mit Persönlichem und mit Intimität anzureichern. Die für moderne Gesellschaften charakteristische Doppelmöglichkeit, Anonymität und Intimität in der Kommunikation zu erzeugen, ist ein konstitutives Element einer modernen Kommunikationsqualität, für die der Begriff der mediatisierten Kommunikation steht (vgl. 186–188). 2.5 Eine spezielle Form sozialer Bindung: Solidarität Neben Anonymität, Unpersönlichkeit und sozialer Beziehungslosigkeit wirft die gängige Gesellschaftskritik modernen Gesellschaften nicht zuletzt auch mangelnde Solidarität vor. Für Solidarität stehen gemeinhin die emphatische Berücksichtigung der Lebensschicksale anderer und ein wechselseitiges altruistisches Engagement. Doch das gerade schließt moderne mediatisierte Kommunikation aus. Der distanzierte Normalfall mediatisierter Kommunikation steht so gesehen genau für das Gegenteil der Solidarität. Dieser vordergründigen Feststellung kann jedoch entgegnet werden, dass mediatisierte Kommunikation keineswegs in einem strukturellen Widerspruch zu moderner Solidarität steht. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt in Bezug auf Intimisierung ausgeführt, kann auch im Hinblick auf Solidarität gezeigt werden, dass sie erst als Folgephänomen anonymisierter, entfunktionalisierter sozialkultureller Beziehungen angemessen begriffen werden kann: Erst Distanz schafft die Voraussetzungen, in begrenzten Situationen solidarisch zu handeln (vgl. 189f). Wie kann das konkret erklärt werden? Es ist die für mediatisierte Kommunikation charakteristische grundsätzliche Variabilität sozialkultureller Beziehungsmuster inklusive ihrer Möglichkeit, von sozialer Distanz in vielfältige Modi der sozialen Nähe zu wechseln, die auch Solidarität ermöglicht. In historischer Perspektive kann das, was heute als Solidarität gesehen und in der Regel angemahnt wird, gerade nicht als Spezifikum traditioneller Gesellschaften, sondern als originäres Kind der Moderne betrachtet werden. So war es erst die wachsende proletarische Klasse, die solidarische Kollektivbeziehungen ausprägen musste. Das Ziel dieses Vorgangs bestand in der Sicherung des Überlebensminimums: „Gemeinsame Arbeits-, gemeinsame 115
Leidens- und gemeinsame Wohnschicksale implementierten Solidarität in die gemeinsame Sozialkultur, die sich um die Industrialisierung der Ökonomie formierte“ (193). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Solidarität unter diesen Bedingungen vor allem eine lebenspraktisch motivierte Standardisierung neuer Sozialbeziehungen darstellte. Als solche schloss sie nicht nur den politischen Kampf um Rechte ein, sondern ganz wesentlich basale Hilfs- und Unterstützungsleistungen des täglichen Lebens: „Solidarität entsteht somit als neuer Typus von Sozialbeziehungen in einem neuen Typus von Gesellschaft“ (ebd.). Kennzeichnend für diese Form der Solidarität waren die Gleichheit des Lebensschicksals und die Wechselseitigkeit solidarischen Eintretens. Nicht zuletzt eine sozialromantische Verklärung des Begriffs der Solidarität verschleiert den pragmatischen Kern von Solidarität, der als funktionales Äquivalent älterer Formen unterstützender Vergemeinschaftung (Großfamilien, Clans etc.) gelten kann (vgl. 193f). Im Zuge des Fortschreitens der Moderne, d.h. im Rahmen der Umstellung der Primärdifferenzierung auf funktionale Differenzierung, wird jedoch radikal in die ursprünglich gegebene Wechselseitigkeit solidarischen Verhaltens eingegriffen. So koppeln moderne Gesellschaften die Lebenssicherung der einzelnen immer stärker an spezifische, dafür zuständige Funktionssysteme. Die Ersetzung sozialer Subsidiarität und die Verwandlung traditionell reziprok angelegter Solidarität in eine eindimensionale Variante sind die Folge. Moderne Solidarität ist nun eindimensionaler Altruismus. Als solche läuft sie der Kernlogik traditionaler Solidarität diametral entgegen. Der starke, zeitlich stabile Motivationsfaktor wechselseitiger lebenspraktischer Abhängigkeitsverhältnisse fällt nun aus. Als gesellschaftliche Bindekraft kann Solidarität nicht mehr fungieren. Geld – erworben im Zuge wachsenden Wohlstands – und der moderne Sozialstaat übernehmen jetzt die Funktion der alten (proletarischen) Solidarität (vgl. 194–199). Doch damit verschwindet Solidarität nicht aus der Gesellschaft. So sind es gerade die Kontingenzen einer sozialkulturell pluralisierten und destandardisierten Kommunikation, die frei gewählte, starke Bindungen erlauben, die sozialkulturell hochstandardisierten Gesellschaften noch unbekannt waren. In Gesellschaften mit reduzierten wechselseitigen Abhängigkeiten und hoher sozialkultureller Variabilität stellt moderne Solidarität eine Variante des sozialen Umgangs miteinander dar. Vor diesem Hintergrund eröffnet die Destandardisierung sozialer Bindungen überhaupt erst einen Möglichkeitsraum von Solidarität in freier Entscheidung. Diese moderne Solidarität zeichnet sich, wie moderne Bindungen überhaupt, durch folgende Charakteristika aus: Pluralität verschiedener Formen sozialer Bindung (Marktmechanismen, Macht, Liebe etc.); Interdependenzunterbrechungen; verschiedenen Formen der sozialen Bindung
116
(Wer kein Bauer ist, wird im Dorf nun auch zum Nachbarn) und eine lediglich punktuelle Strapazierung aufwendiger Bindungsaktivitäten als Gegenreaktion auf die Gefahr, von ‚starken‘ Varianten sozialer Bindung überfordert zu werden (201).
Solidarität wird somit zu einem Element von vielen im Möglichkeitsraum sozialkultureller Beziehungsmuster, die moderne Gesellschaften auszeichnen (vgl. 200f). Für moderne Solidarität unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation ist es charakteristisch, dass diese nicht nur die Variabilität sozialer Beziehungsmuster erlaubt, sondern auch die Rückführbarkeit sozialer Bindung in Distanz und umgekehrt. Somit wird auch Solidarität zu einer temporären Angelegenheit: Füreinanderdasein kann auch relativ einfach wieder umgeschaltet werden in Beziehungslosigkeit. Beispiele dafür sind spontane Formen der Solidarität, deren Motivation zunehmend der Beliebigkeit zufälliger Ereignisse, individueller mentaler Stimmungen oder medial inszenierter Modeerscheinungen überantwortet wird. Ebenso rasch und massenhaft wie sie sich zeigen, verschwinden sie auch wieder. Die Form einer Geldspende oder eines Apells bietet sich als Ausdruck moderner Solidarität daher besonders an. Längerfristige und komplexe Probleme der Gesellschaft wie z.B. Arbeitslosigkeit, Krankenfürsorge oder Altersversicherung fallen dagegen aus der Perspektive moderner Solidarität heraus. Hier greift mit professioneller und organisierter Hilfe eine andere Form der gewandelten Solidarität aus dem 19. Jahrhundert besser als die individualisierte Solidarität des sozialkulturellen Bereichs. Die funktionale Variante (Sicherung der Lebensumstände) der traditionellen Solidarität hat sich zudem in Organisationen und Professionen ausdifferenziert (vgl. 201f). Abschließend noch ein Hinweis an die Adresse moderner, populärer Gesellschaftskritik: Wenn solidarisches Handeln nicht mehr in der konkreten Lebenspraxis des Handelns verankert ist und nicht mehr ständig durch erfahrbare Notwendigkeiten motiviert wird, verändert sich der erzwungene Gleichschritt traditionaler Solidarität in einen lockeren, zeitlich begrenzten und relativ unverbindlichen Schulterschluss moderner Solidarität. Angesichts der Grundkonstanten mediatisierter Kommunikation, Unverbindlichkeit und Distanz, ist moderne Solidarität ein flüchtiges Phänomen. Würden moderne Gesellschaften auf sie als maßgebliche Bindekraft setzen, wären sie hochgradig vom Zerfall bedroht (vgl. 204f).
117
3. Die Mediatisierung der Kommunikation in der Kirche – Hypothesen zur sozialen Bindung in der Kirche Am Ende des vorangegangenen Kapitels zu den Diskursen über soziale Bindung in der Kirche wurde als Ergebnis festgehalten: Der Umgang mit der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche, wie ihn die betrachteten Diskurse erkennen lassen, gleicht – im Bild gesprochen – dem Fahren eines Autos mit angezogener Handbremse: Einerseits will man moderne Formen der Kirchenbindung geradezu fördern und auch umfassend wahrnehmen, andererseits aber misst man sie an vormodernen Maßstäben und versucht sie zu beseitigen. Mit der Darstellung der Theorie der mediatisierten Kommunikation in den vorangegangenen Abschnitten sollte die theoretische Basis dafür gelegt werden, mit einer neuen, so bislang in Kirche und Theologie noch nicht rezipierten Sichtweise auf das Phänomen der sozialen Bindung in der Kirche zu schauen. Damit ist die Hoffnung verbunden, die „Handbremse des fahrenden Autos“ zu lösen und das Phänomen der Kirchenbindung jenseits der Alternativen von sozialer Atomisierung einerseits und nachdrücklich eingeforderter Vergemeinschaftung in den Blick zu bekommen. Als Metatheorie für das hier zur Debatte stehende Thema der sozialen Bindung in der Kirche, erlaubt die Theorie der mediatisierten Kommunikation den sogenannten Blick von außen. Ihm ist es möglich, sich scheinbar widersprechende Phänomene und Zielsetzungen in einem spezifischen Zusammenhang zu sehen, der sich gerade nicht durch Labilität, sondern durch eine relative Stabilität auszeichnet. So dürfte schon jetzt erkennbar geworden sein, dass – aus der Perspektive der Theorie der mediatisierten Kommunikation gesehen – die Großorganisation Kirche mit ihren vielen Millionen Mitgliedern zwangsläufig durch Phänomene sozialer Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung einerseits und durch Phänomene sozialer Nähe wie bspw. spezifischer Formen der Vergemeinschaftung und der zwischenmenschlichen Nähe andererseits gekennzeichnet ist. Die dadurch ermöglichte und entstehende Bandbreite an Formen sozialer Bindung, in der die Kirchenmitglieder zur gesellschaftlichen Großorganisation Kirche stehen, wird aus der Metaperspektive der mediatisierten Kommunikation nun keineswegs als Bedrohung, sondern vielmehr als Voraussetzung für die Stabilität der Kirche als spezifisch organisierter Kommunikationsraum in der Gesellschaft gesehen. Der Kniff allerdings, der diesen stabilisierenden Zusammenhang zwischen sozialer Nähe und Distanz in der Kirche überhaupt erst erkennbar macht, besteht darin, bei der Frage nach der sozialen Bindung nicht sogleich mit dem Nachdenken über Vergemeinschaftung zu beginnen, sondern bei dem gemeinhin für das Gegenteil gehaltenen Phänomen sozia118
ler Distanz anzusetzen. Erst dadurch kann der reale Kommunikationsraum, in dem soziale Bindung in der Kirche verortet ist, wahrgenommen werden und die Frage nach den diversen Ausformungen und Dynamiken der Kirchenbindung gestellt werden. Eine normative Festlegung auf gemeinschaftlich orientierte Formen der Kirchenbindung als einzig denkbarer und legitimer Form der Kirchenbindung lässt das nicht zu. In Anlehnung an das Watzlawicksche Diktum, wonach man nicht nicht kommunizieren könne, eröffnet erst ein bei der sozialen Distanz einsetzendes Nachdenken über Kirchenbindung die Möglichkeit, auch vermeintliche Nichtkommunikation als integralen Bestandteil von Kommunikation zu begreifen. Übertragen auf das Phänomen der Kirchenbindung von Kirchenmitgliedern heißt das: Man kann als Kirchenmitglied nicht nicht Kirchenmitglied sein. Indem man Kirchenmitglied ist, steht man so oder so im Kommunikationssystem Kirche. Eine Kirchenbindung ist dann so oder so vorhanden.14 Aus der Perspektive mediatisierter Kommunikation ist dabei soziale Distanz, gemeinhin als Nichtkommunikation aufgefasst, nicht nur eine schnellst möglich zu beseitigende Mangelerscheinung, sondern im Gegenteil geradezu das stabilisierende Moment, das die vielen Millionen, einander fremder und völlig unterschiedlicher Menschen in der Kirche zusammenhält. Abschließend soll in acht Hypothesen skizziert werden, wie die Großorganisation Kirche einen Kommunikationszusammenhang darstellen kann, der sich, ob seiner hohen Mitgliederzahl, durch ebendieselbe mediatisierte Kommunikation konstituiert und stabil hält, wie moderne Gesellschaften im Allgemeinen. Hypothese 1 Die kirchliche Kommunikation wird durch die gleichen Formationsfiguren strukturiert, die auch die gesamtgesellschaftliche Kommunikation strukturieren. Dabei handelt es sich um mediatisierte Kommunikation. Sie stellt als Überbau der Unverbindlichkeit den sozialen Kitt (Erich Fromm) des modernen gesellschaftlichen und somit auch des kirchlichen Lebens dar. Hypothese 2 Im kirchlichen Leben der Gegenwart stellt weder das Modell eines authentischen, vorbehaltlosen und reflexiven Zweiergesprächs noch das Modell der Universalität der Kommunikation und Organisation innerhalb von 14 Theologisch kann man sogar noch weiter gehen: Tauftheologisch ist die Bindung zur Kirche immer gegeben, selbst wenn die formale Mitgliedschaft durch Kirchenaustritt aufgekündigt wird. Das Sakrament der Taufe ist der einmalige und irreduzible Akt der Aufnahme in die Gemeinschaft der Glaubenden, mithin der Kirche. Zugespitzt könnte man sagen: Als getaufter Mensch, sei es im Modus der Kirchenmitgliedschaft oder des Ausgetretenenstatus, kann man nicht nicht mit der Kirche kommunizieren.
119
Großfamilien, von Gemeinden und dauerhaften Milieus den Normalfall der Kommunikation dar. Die kirchliche Praxis hat sich mittlerweile unter der Hand (d.h. ohne Rücksicht auf theoretische Ungeklärtheiten) auf moderne Interaktionssituationen eingerichtet, die gekennzeichnet sind durch Mittelbarkeit, Distanz und geringe wechselseitige Kongruenz der Perspektiven. Hypothese 3 Analog dem Modus mediatisierter Kommunikation finden im kirchlichen Leben die Bedürfnisse nach Konsens und Gemeinschaft vor allem in der Kommunikation darüber ihre Befriedigung, weniger in einer faktischen und dann auch noch biografisch umfassenden Umsetzung. Hypothese 4 Mediatisierte Kommunikation im Leben der Kirche zeichnet sich aus durch Mittelbarkeit, geringe wechselseitige Rückkopplung, Anonymität und Distanz, hochgradige Selektion und individuelle Deutungsleistungen auf Rezipientenseite. Hypothese 5 Wenn sich Personen im kirchlichen Leben miteinander in Beziehung setzen, dann handelt es sich dabei in der Regel nicht um ein Mittel für einen daran anschließenden Zweck. Vielmehr repräsentiert diese Beziehung im Modus mediatisierter Kommunikation selbst die neue Version globaler sozialer Beziehungen. D.h., diese Beziehung ist zunächst vermittelt, oberflächlich, generalisiert, mit reduzierter Rückkopplungserwartung und reduzierter Verständigungsintention versehen. Hypothese 6 Konsens, unverstelltes lebensweltliches Miteinander oder gelungene Sozialität bleiben auch im kirchlichen Leben in konkreten, begrenzten und gewünschten Situationen möglich. Dies allerdings nur, wenn sie nicht mit dem Widerspruch generalisierender Postulate belastet werden. Hypothese 7 In übersichtlichen Situationen im kirchlichen Leben bleiben Kommunikation und Diskurs möglich; die prinzipielle Unübersichtlichkeit binnenkirchlicher Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen und einander fremder Personen wird geregelt über ein Wechselspiel von Distanz und Nähe. Hypothese 8 In den Binnenräumen des ausdifferenzierten kirchlichen Lebens, zwischen einzelnen konkreten Personen oder zur Verfolgung bestimmter Interessen 120
kann mediatisierte Kommunikation rückgeführt werden in wechselseitige Kommunikation mit Konsensansprüchen. Betrachtet man die soziale Bindung in der Kirche unter den Prämissen der mediatisierten Kommunikation, dann stellt sich die Frage, wie genau sich mediatisierte Kommunikation in der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche realisiert. Wie kann man sich Kirchenbindung unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation vorstellen? Inwiefern sind Mittelbarkeit, Distanz und geringe wechselseitige Kongruenz der Perspektiven integrale Facetten der Kirchenbindung? Was bedeuten hochgradige Selektion und individuelle Deutungsleistungen auf Rezipientenseite im Zusammenhang mit Kirchenbindung? Welche Themen werden im Kontext von Kirchenbindung aktiviert, angesprochen oder gar vertieft? Inwiefern sind die mit moderner Kirchenbindung einhergehenden Beziehungen vermittelt, oberflächlich, generalisiert, mit reduzierter Rückkopplungserwartung und reduzierter Verständigungsintention versehen? Wann sind Konsens und vertiefte Sozialität im Rahmen moderner Kirchenbindung möglich? Um diese Fragen klären zu können, wechselt die Reflexionsperspektive nun von der theoretischen hin zur empirischen Ebene. Möchte man wissen, ob und wie genau mediatisierte Kommunikation in der Kirche geschieht, so ist es erforderlich, sich den Akteuren der mediatisierten Kommunikation selbst zuzuwenden. Wie gestalten konkrete Personen, in diesem Fall Kirchenmitglieder, ihre Bindung zur Kirche? Dieser Frage wird im folgenden Kapitel empirisch nachgegangen.
121
KAPITEL 3 Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft – Eine empirische Fortführung und Präzisierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation
Sanders Beschäftigung mit mediatisierter Kommunikation bewegt sich nahezu ausschließlich auf der Theorieebene. Damit stellt er einen neuartigen und inspirierenden Zugang zur Frage nach der sozialen Koordination moderner Gesellschaften zur Verfügung. Das ist ein erster Schritt. Doch wie tragfähig ist die Theorie, wenn man sie mit der empirischen Praxis konkreter Kommunikationsräume in der Gesellschaft konfrontiert? Eignet ihr wirklich Allgemeingültigkeit? Ist mediatisierte Kommunikation als kommunikative Praxis überhaupt greifbar? Und wenn ja: Wie ist diese Praxis konkret gestaltet? Diese Fragen lässt Sanders theoretischer Impuls zwangsläufig noch offen. Hier bedarf die Theorie der Fortführung und Präzisierung – gegebenenfalls auch in korrigierender Weise. Mit den am Ende des vorangegangenen Kapitels formulierten Hypothesen und Fragen sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass der durch die gesellschaftliche Großorganisation Kirche konstituierte Kommunikationsraum ein geeigneter Ort sein kann, die Tragfähigkeit der Theorie der mediatisierten Kommunikation an einem ausgwählten konkreten Kommunikationsraum in der Gesellschaft zu prüfen. Indem das im folgenden versucht wird, wird zum einen ein vertieftes Verständnis der Kirchenbindung unter moderngesellschaftlichen Bedingungen angestrebt. Zum anderen wird damit gleichzeitig ein grundsätzlicher Beitrag zur weiterführenden und präzisierenden Explikation der Theorie der mediatisierten Kommunikation geleistet. In erkenntnistheoretischer und methodischer Hinsicht verstehen sich die nun folgenden empirischen Analysen als den vertiefenden Teil eines hermeneutischen Zirkels.1 Seinen Ausgang nimmt er bei der Hypothese, wo1 Die Figur des hermeneutischen Zirkels ist im Rahmen qualitativ-empirischer Forschungsprozesse besonders häufig anzutreffen (vgl. Schwab 2002,171). Sie steht für einen Prozess, in dem der Forscher sich mit einem rudimentären Vorverständnis einem Text oder einer Theorie nähert und sich in eine Bewegung zwischen dem Ganzen der Theorie und
122
nach die soziale Bindung in der Kirche als mediatisierte Kommunikation zu begreifen ist. Die folgenden empirischen Teile der Untersuchung wollen die Hypothese nun nicht nach dem Schema von Verifikation bzw. Falsifikation testen2 oder der Theorie der mediatisierten Kommunikation eine alternative, empirisch erhobene Theorie gegenüberstellen.3 Vielmehr übernehmen die empirischen Teile der Untersuchung die Prämissen der Ausgangshypothese und versuchen sie empirisch weiter zu präzisieren. Damit verlassen, streng genommen, auch die empirischen Teile der Untersuchung nicht die Ebene der Hypothese. Wohl aber können sie deren heuristische Leistungsfähigkeit unterstreichen und darüber hinaus die Theorie der mediatisierten Kommunikation am Beispiel eines ausgewählten Teilbereichs gesellschaftlicher Kommunikation, nämlich der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche, auf empirischer Basis weiter vorantreiben. Dieses Kapitel bildet sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht den Hauptteil der vorliegenden Untersuchung. Möchte man die Empirie der Kirchenbindung konkreter Personen aus der Perspektive und als Praxis mediatisierter Kommunikation in den Blick bekommen, werden komplette Lebensgeschichten von Menschen zum Thema. Die Lebensgeschichte eines Menschen ist der Ort, an und in dem sich Kirchenbindung realisiert. So wie jeder Mensch eine Geschichte mit seiner Familie, mit seinem Beruf, mit speziellen Mitmenschen wie etwa Freunden oder Bekannten, aber auch mit Themen wie Krankheit, Tod oder Liebe hat, so haben Kirchenmitglieder auch ihre je eigene Geschichte mit der Kirche. Möchte man, den Prämissen der mediatisierten Kommunikation folgend, herausfinden, welche Erfahrungen, Erlebnisse und Themen im Zusammenhang mit Kirche Kirchenmitgliedern im Laufe ihres Leben wichtig waren und wie diese in der Dynamik der Lebensgeschichte an Relevanz gegenüber anderen, nichtkirchlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Themen gewonnen und auch wieder verloren haben, wird die Lebensgeschichte als ganze zum Thema. Damit befasst sich dieses Kapitel mit großen Geschichten, denen man mit abstrahierenden Reflexionen auf wenigen Seiten nicht gerecht werden kann. Das schlägt sich im quantitativen Umfang des Kapitels nieder. Aber auch in qualitativer Hinsicht sind Lebensgeschichten ein Schatz, der in Theologie und Kirche nicht hoch genug geachtet werden kann. So spezifischen Teilaspekten von ihr begibt. Durch die Betrachtung der Teilaspekte kommt es zu einer Vertiefung des anfangs noch rudimentären Wissens. In die Bewegung des hermeneutischen Zirkels werden die eigenen Vormeinungen und die vorweg angenommenen Charakteristika einer Theorie aufgenommen und bewährt oder im Zuge der eingehenden Betrachtung von Einzelaspekten modifiziert und präzisiert (vgl. Lamnek 1995, 206). 2 So etwa die wissenschaftstheoretischen Prämissen des kritischen Rationalismus im Gefolge von Karl R. Popper (vgl. z.B. Popper 1976). 3 Dies würde z.B. der Rekurs auf das Verfahren der grounded theory nach Anselm L. Strauss nahe legen (vgl. Strauss 1194).
123
bieten Lebensgeschichten Kirche und Theologie einen Lernort der besonderen Art. Im Unterschied zu dem in Theologie und Kirche vorherrschenden deduktiv-dogmatischen Deuten und Argumentieren im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Glaube, Religion, Kirchlichkeit eröffnen Lebensgeschichten Einblicke in das tatsächliche Leben der Menschen. Wie zum Beispiel christlicher Glaube und ein angemessenes Verhältnis zur Kirche idealer Weise auszusehen haben, ist theologisch vergleichsweise schnell definiert. Christlichen Glauben im Alltag zu leben und eine Bindung zur Kirche in die Wägbarkeiten und Unwägbarkeiten des Lebens zu integrieren, das ist eine andere Sache. Diese Aufgabe kann den Menschen keine theologische Abhandlung abnehmen. Um so wichtiger ist es aber gerade für diese Ebene theologischen Arbeitens, das eigene Deuten und Argumentieren mit dem konkreten Leben der Menschen zu konfrontieren. Nicht der theologisch, akademisch korrekt redende Mensch ist der Spezialist für Glaube, Religion und Kirche im Leben. Das sind vielmehr die Kirchenmitglieder in den alltäglichen Vollzügen ihres Lebens. Die Erfahrungen, Erlebnisse und Sichtweisen solcher Spezialistinnen und Spezialisten im Sinne der Initiierung eines reziproken Lernprozesses zwischen Theologie und der Praxis gelebten Lebens möglichst präzise abbilden zu wollen, ist der Grund, weshalb diesem Kapitel auch in qualitativer Hinsicht eine zentrale Bedeutung im Duktus der vorliegenden Untersuchung zukommt.4 Das Kapitel untergliedert sich in drei Teile. Zunächst wird das methodische Vorgehen der empirischen Untersuchung begründet und dargestellt. Darauf werden anhand von vier Fallbeispielen die empirischen Befunde ausführlich präsentiert. Schließlich werden die empirischen Befunde in einem letzten Teil mittels einer synthetisch-fallübergreifenden Analyse miteinander in Beziehung gesetzt und zusammengefasst.
1. Zur empirischen Methode 1.1 Untersuchungsgegenstand und Methodenwahl Wie kann es gelingen, die Theorie der mediatisierten Kommunikation am Beispiel der sozialen Bindung in der Kirche auf empirischer Grundlage fortzuführen und zu präzisieren? Dazu bildet die praktizierte Kommunikation 4 Als Gegenstand und Bezugspunkt praktisch-theologischer Reflexion haben Lebensgeschichten beginnend mit frühen Pionierarbeiten in den 70er Jahren (vgl. Schibilsky 1976) vor allem seit Mitte der 80er Jahre zunehmend an Bedeutung gewonnen; vgl. dazu exemplarisch die Beiträge der Sammelbände Grözinger/Luther 1987 und Sparn 1990 (darin besonders Drehsen 1990, Feige 1990b, Gräb 1990), außerdem Luther 1992, Lott 1997, Schwab 1997, Schwab 2000 und Drechsel 2002.
124
konkreter Personen den Ansatzpunkt. Das ergibt sich aus dem grundsätzlichen Referenzrahmen der Theorie der mediatisierten Kommunikation, der auf die Kommunikation konkreter Personen zielt. Möchte man sich der Praxis mediatisierter Kommunikation auf empirischem Wege nähern, so bleibt schon aus diesem Grund gar keine andere Möglichkeit, als die konkrete Kommunikationspraxis von Personen näher zu betrachten. Nun lässt sich diese Kommunikationspraxis nicht unmittelbar erschließen und abbilden, indem man etwa im Sinne einer teilnehmenden Beobachtung ausgewählte Personen in ihrem Alltag begleitet und ihr Verhalten dokumentiert. Für die empirische Wahrnehmung mediatisierter Kommunikation fiele bei einem solchen Verfahren eine zentrale Dimension aus, nämlich die Dimension des individuellen Umgangs mit Themen. Gerade die Frage, ob bestimmte Themen aufgegriffen werden oder nicht, und wenn sie aufgegriffen werden, in welchem Maße und in welcher Intensität das der Fall ist, ist für die empirische Wahrnehmung mediatisierter Kommunikation von entscheidender Bedeutung. Schließlich ist es ein Charakteristikum mediatisierter Kommunikation, dass sie radikal zwischen Themen und den hinter ihnen stehenden realen Sachverhalten differenziert. Erst die Thematisierung von Sachverhalten ermöglicht es, den individuellen Bezug zu dem hinter ihm stehenden Sachverhalt darzustellen. Dieser kann von völligem Desinteresse – artikuliert durch Nichtthematisierung – bis hin zu hoher Intensität – ausgedrückt durch ausführliche, womöglich persönlich-affektive Thematisierung – reichen. Um so etwas wie thematisch vermittelte Distanz oder Nähe zu einem bestimmten Sachverhalt oder auch individuelle Rezeptionsleistungen bezüglich des thematisierten Sachverhalts rekonstruieren zu können, muss sich die empirische Wahrnehmung mediatisierter Kommunikation auf das Medium Sprache richten. Gerade in Bezug auf das Phänomen der Kirchenbindung dürfte das besonders evident sein: Was wäre gewonnen, würde man Kirchenbindung nur auf der Verhaltensebene empirisch wahrnehmen – etwa in Form der quantitativen Messung der Kirchgangshäufigkeit oder der Teilnahme an gemeindlichen Veranstaltungen? Schließlich steht Kirche für mehr als nur bestimmte Verhaltensweisen. Und das ist in erster Linie zunächst einmal ein reicher Vorrat an Inhalten und Themen. Um Kirchenbindung auch auf dieser Ebene empirisch wahrnehmen zu können, ist der Zugriff auf das Medium Sprache unerlässlich. Neben konkreten Personen und dem Medium Sprache gibt es schließlich noch eine dritte Größe, die für die Wahl der empirischen Methode eine entscheidende Rolle spielt. Es handelt sich dabei um die Dimension Zeit. Mediatisierte Kommunikation steht für den dynamisch-variablen Umgang mit Themen und den durch sie vermittelten Sachverhalten. Personen bewältigen diesen Umgang im Unterschied zu funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft nicht synchron, sondern temporär-sequentiell. Das schlägt sich 125
auch in der dokumentierten bzw. kommunizierbaren Form dieses Umgangs nieder, nämlich in der Biografie. So ist eine Biografie nichts anderes als der Versuch, für eine Person die Dynamik des Umgangs mit Themen und den durch sie vermittelten Sachverhalten temporär-sequentiell zu inszenieren. Um mediatisierte Kommunikation empirisch wahrnehmen zu können, sollte die Untersuchungsmethode nicht nur die Möglichkeit bieten, Personen zur Sprache zu bringen. Sie sollte darüber hinaus in der Lage sein, temporärsequentielle Dynamiken des Umgangs mit Themen und den durch sie vermittelten Sachverhalten erfassen und rekonstruieren zu können. Mit den Methoden der quantitativen Sozialforschung kann diesen Anforderungen nicht entsprochen werden.5 Wie beispielsweise die EKD-Erhebung „Fremde Heimat Kirche“6 erwiesen hat, sind die Methoden der qualitativen Sozialforschung ergiebiger, wenn individuelle Sinn-, Verhaltens- und Handlungsmuster rekonstruiert werden sollen.7 Aus diesem Grund bedient sich auch die vorliegende Untersuchung einer qualitativen Methode zur Datenerhebung und -auswertung. Konkret handelt es sich um die mittlerweile als klassisch geltende Methode des biografisch-narrativen Interviews, wie sie von Fritz Schütze entwickelt wurde.8 Um die Strukturen von Kirchenbindung unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation herauszuarbeiten, bietet sich diese Forschungsmethode deshalb besonders an, weil sie sich auf konkrete Personen bezieht – im vorliegenden Fall auf Kirchenmitglieder. Weiterhin agiert die Forschungsmethode mit dem Medium der Sprache, indem sie sprachlich artikulierte Darstellungen konkreter Personen zum Ausgangspunkt der empirischen Analyse macht. Schließlich bietet die Methode die Möglichkeit, temporär-sequentielle Strukturen, d.h. Zeit, sprachlich abzubilden, indem sie sich nicht auf Momentaufnahmen etwa im Sinne der Meinungsäußerung zu konkreten Sachverhalten oder Fragestellungen bezieht, sondern die gesamte Lebensgeschichte der interviewten Personen zur Sprache bringt (Biografisierung!). Die Methode des biografisch-narrativen Interviews eröffnet den Befragten den denkbar weitesten Raum, die je eigene Lebensgeschichte zu erzählen und dabei auch die Beziehung zur Kirche so zu thematisieren, wie es der je individuellen Wahrnehmung entspricht. Logik, Struktur und Komposition der Darstellung und damit die konkrete Ausgestaltung der Antwort auf die Frage, wann und auf welche Weise die Kirche eine 5 Zu den Charakteristika quantitativ ausgerichteter empirischer Sozialforschung und ihrem Verhältnis zu qualitativen Forschungsansätzen vgl. Meuser/Wienold 1995, Wienold 1995, Flick u.a. 2000, 20–27 sowie Kelle/Erzberger 2000. 6 Vgl. Engelhardt u.a. 1997. 7 Als aktuellere Arbeiten, die sich mit qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung religions- und kirchensoziologischen bzw. praktisch-theologischen Themen widmen, seien genannt Schwab 1995, Hauschildt 1996, Hartmann/Pollack 1998, Feige u.a. 2000, Roth 2002, Könemann 2002, Vögele u.a. 2002 und Gerstenkorn 2004. 8 Vgl. Schütze 1982 und 1983.
126
Rolle in der eigenen Lebensgeschichte spielte oder spielt, liegen somit (fast) ausschließlich in der Hand der Befragten. 1.2 Interviewführung Fritz Schützes narrativem Interviewverfahren liegt das Konzept der autobiografischen Stegreiferzählung zugrunde.9 Im Unterschied zu einer im Vorfeld konzipierten und geplanten Rede, die gegebenenfalls in schriftlicher Form vorliegt, ist die Stegreiferzählung eine freie, zuvor ungeplante mündliche Erzählung. Geprägt ist sie durch die interaktive, mündliche Form der Mitteilung.10 Was ein Befragter an welcher Stelle der Erzählung sagt, entscheidet sich im Vollzug der Erzählung (Sequenzialität). Einmal ausgesprochen, lässt sich das Gesagte nicht mehr rückgängig machen (Irreversibilität). Für den Biografieforscher lassen die Sequenzialität und die Irreversibilität der Stegreiferzählung blinde Flecken, latente Strukturen und zunächst unsichtbare Paradoxien lebensgeschichtlicher Thematisierungen besonders deutlich in Erscheinung treten.11 Neben der mündlichen Form der Kommunikation ist ein wesentliches Merkmal der Stegreiferzählung außerdem das geringe Maß an strukturellen Vorgaben. Dies fördert die freie Exploration der Befragten.12 Gerade die freie und breite Äußerung ist das Besondere biografischer Erzählungen. Sie lässt die vom Befragten gewählte Selektivität der biografischen Selbstidentifikation transparent werden.13 Laut Schütze sollte sich das autobiografische Interview in drei Phasen gliedern: Anfangserzählung, Nachfragen sowie abstrahierende Beschrei9 Vgl. Schütze 1983, 285. 10 Zum Unterschied zwischen literarischer bzw. vorbereiteter, wiederholbarer Rede und der Stegreiferzählung vgl. auch Schütze 1984, 78. 11 Vgl. Nassehi 1997, 87. 12 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Stegreiferzählung von einem Leitfadeninterview. Letzteres zielt darauf, eine im Vorfeld des Interviews vom Sozialforscher erarbeitete Struktur in einem Frage-/Antwortspiel abzuarbeiten und die Sequenzialität des Interviews somit der Regie des Befragten zu entziehen (vgl. Fuchs-Heinritz 2000, 167–169). 13 Vgl. Nassehi 1997, 87. Um die Mechanismen zu beschreiben, die eine Stegreiferzählung konstituieren, spricht Schütze vom dreifachen Zugzwang der narrativen Rede. So fordere der Gestaltschließungszwang, angesprochene Ereignisse mit dem Gesamtzusammenhang und anderen Teilereignissen zu verbinden und zu einer, wenn auch nicht unbedingt widerspruchsfreien, Gestalt zu formen. Der Kondensierungszwang bezeichne die Notwendigkeit, für die begrenzte Erzählzeit entscheidende Aussagen auszuwählen, um eine Fokussierung auf den Clou der Geschichte zu bewirken. Schließlich beschreibe der Detaillierungszwang das Phänomen, wonach detaillierende Beispiele genutzt werden, um den erzählten Topos plausibel zu präsentieren. Grundsätzlich gelte, dass die verschiedenen Zugzwänge einander ergänzen und daher die Struktur der autobiografischen Stegreiferzählung bestimmen (vgl. Schütze 1982, 571ff).
127
bung und theoretische Warum-Fragen.14 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird Schützes Konzept dahingehend modifiziert, dass lediglich zwischen Haupterzählung und Nachfrageteil unterschieden wird. Diese Modifikation von Schützes Konzept schließt sich an Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer-Rosenthal an und dient der Vereinfachung und besseren Praktikabilität des Interviewverfahrens.15 Die folgende Darstellung des Interviewverfahrens basiert daher auf dieser Modifikation. Die Haupterzählung der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geführten Interviews wurde mit einer relativ allgemein gehaltenen Erzählaufforderung eingeleitet. In der Regel wurde das eigentliche Forschungsinteresse, etwas über das Verhältnis und die Bindung zur Kirche erfahren zu wollen, in der Erzählaufforderung nur indirekt thematisiert, indem auf den telefonischen Erstkontakt verwiesen wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde den potenziellen Befragten das Forschungsinteresse eingehend geschildert.16 Im Zentrum der Erzählaufforderung stand die Bitte, nun die Lebensgeschichte zu erzählen, so wie man sie erzählen möchte und wie sie gerade in den Sinn kommt: Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, worum es geht. Mich interessieren Erfahrungen und Erlebnisse, die Menschen im Lauf ihres Lebens mit der Kirche gemacht haben. Im ersten Teil des Interviews möchte ich Sie bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. So wie sie Ihnen in den Sinn kommt. Sie entscheiden, was Sie mir erzählen wollen und was nicht.
Ferner wurde im Rahmen der Erzählaufforderung darauf hin gewiesen, dass der Interviewer während der ersten Phase des Interviews keine weiteren Fragen stellen werde. Er werde sich aber ein paar Notizen machen, zu denen er im zweiten Teil des Interviews einige Rückfragen stellen werde. Schließlich erinnerte der Interviewer daran, dass alle Angaben der befragten Person anonymisiert und streng vertraulich behandelt würden. Mit diesen Hinweisen sollte den Interviewpartnern bereits im Vorfeld des Interviews 14 Vgl. Schütze 1983, 285. 15 Auch Armin Nassehi praktiziert in seiner Untersuchung über die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion eine Zweiteilung des Interviews in Anfangserzählung und Nachfragephase, da eine strikte Differenzierung zwischen Schützes zweiter Phase (Nachfragen) und dritter Phase (abstrahierende Beschreibung und theoretische Warum-Fragen) nicht exakt einzuhalten sei (vgl. Nassehi 1995, 91). Ebenso verfährt auch Gerstenkorn 2004. 16 Dieses Vorgehen modifiziert Wolfram Fischer-Rosenthals Hinweis, wonach der Eingangsimpuls einen gegenwartsbezogenen Aspekt enthalten solle (vgl. Fischer 1978, 324). So wird die explizite und ausführliche Thematisierung des Gegenwartsbezugs (Frage nach Kirchenverhältnis und -bindung) in den telefonischen Erstkontakt verlagert. Zu Beginn des eigentlichen Interviews ist er damit zwar nicht verschwunden, tritt aber durch den einfachen Hinweis auf den telefonischen Erstkontakt in den Hintergrund. Die folgenden Ausführungen werden die Gründe für dieses Vorgehen darlegen.
128
transparent gemacht werden, was sie im folgenden erwartet. Für die Interviewpartner sollte ein möglichst hohes Maß an Vertrauen und Sicherheit gewährleistet sein. Die weit gefasste Bitte, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, und der eher indirekte und kurz gefasste Hinweis auf das Forschungsinteresse sollten ein generelles Interesse daran zum Ausdruck bringen, wie die Menschen ihre Welt erlebten und erleben und wie sich ihnen die eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen darbieten.17 In diesem Punkt liegt ein wichtiger Unterschied zum methodischen Vorgehen der EKD-Erhebung „Fremde Heimat Kirche“. Dort wählte man einen engeren, themenbezogenen Erzählstimulus. Mit den Stichworten Kirche, Glaube, Christentum und Religion wurden hier thematisch eingegrenzte Assoziationsfelder benannt, die den Befragten als Ausgangspunkt für ihre eigene Erzählung angeboten wurden. Um die Schilderung der eigenen Lebensgeschichte wurde nicht explizit gebeten. Dementsprechend handelt es sich bei den im Rahmen der EKDErhebung durchgeführten Interviews auch nicht um autobiografischnarrative, sondern um themenorientierte Erzählinterviews.18 Anders bei der vorliegenden Untersuchung: Unabhängig vom eigentlichen Forschungsthema, nämlich der empirischen Erkundung mediatisierter Kommunikation in Bezug auf Kirche, sollte eine Lebenserzählung hervorgerufen werden, die hinsichtlich der Gestaltung der Erzählung die Regie ganz dem Autobiografen überlässt. Nach der methodologischen Grundregel des autobiografisch-narrativen Interviews konnte trotz der erzählerischen Gestaltungshoheit der befragten Person davon ausgegangen werden, dass es für den Autobiografen – sei es bewusst oder unbewusst – eine thematische Verbindung einzelner Erzählsequenzen mit dem Hauptthema gibt. Hätte der Interviewer zu früh gegen die durch den Befragten gesetzten Themen gesteuert, hätte dies Kommunikations- und Verstehensschwierigkeiten zur Folge haben können; außerdem wäre das individuelle Profil der Kommunikation nicht mehr rekonstruierbar gewesen. Schließlich weiß der Interviewer ja nicht immer schon im ersten Augenblick um die Bedeutung, die bestimmte vom Befragten angesprochene Themen in Bezug auf das Hauptthema haben.19 Auch an dieser Stelle besteht ein Unterschied zur EKD-Erhebung „Fremde Heimat Kirche“. Dort war es den Interviewern gestattet, mit behutsamen Zwischenfragen in die Erzählregie der Befragten einzugreifen.20 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung hätte ein Gegensteuern des Interviewers gegen die Themensetzungen der befragten Person zu einer 17 18 19 20
Vgl. Rosenthal 1995, 187. Vgl. Studien- und Planungsgruppe der EKD 1998, 13. Vgl. Rosenthal 1995, 189–191. Vgl. Studien- und Planungsgruppe der EKD 1998, 14.
129
nicht mehr rückgängig zu machenden Zerstörung der Erzählfiguren geführt, die der Interviewpartner ohne eine Intervention des Interviewers ursprünglich zeichnen wollte. Damit wäre die sehr wichtige Chance verschenkt worden zu sehen, ob und wie die Befragten selbst den Bogen zu dem für die Untersuchung maßgeblichen Thema (Erfahrungen, Erlebnisse und Ansichten zu und mit der Kirche) schlagen. Die Erzählregie im Rahmen der Haupterzählung ganz bei den Interviewten zu belassen, war auch deshalb leicht möglich, weil ja im Rahmen des Nachfrageteils noch hinreichend Gelegenheit bestand, Fragen zu stellen und Themen anzusprechen, die hinsichtlich des Forschungsthemas relevant sind. Grundsätzlich ging es im Zuge der Haupterzählung darum, den Befragten Raum zur Gestaltentwicklung zu geben. Schließlich, so unterstreicht Gabriele Rosenthal, werden die Bedeutung einzelner Episoden einer Lebensgeschichte [...] sowohl in ihrem damaligen Erleben wie auch in ihrer heutigen Darbietung erst im Wie ihrer Positionierung innerhalb der biografischen Selbstpräsentation rekonstruierbar. Wie der Autobiograf seine Präsentation gestaltet, worüber er erzählt, was er auslässt und in welche thematische Felder er welche biografischen Erlebnisse einbettet, gibt uns Aufschluss über die Struktur seiner biografischen Selbstwahrnehmung und die Bedeutung seiner Lebenserfahrungen.21
Seitens des Interviewers ging es während der Haupterzählung aber nicht nur darum, den Befragten Raum zur Gestaltentwicklung zu geben. Vielmehr sollten sie auch darin unterstützt und gefördert werden, sich in diesem Raum zu entfalten. Das geschah durch aufmerksames, aktives Zuhören. Durch parasprachliche Äußerungen wie „mh“, „ja“, „aha“ und durch Mimik, Blickkontakt und Körperhaltung wurde den Erzählern vermittelt, dass der Interviewer deren Erfahrungen ernst nimmt, dass ihn deren Leben interessiert und dass er sie nicht nur zur Auskunft über bestimmte Phänomene benutzen würde. Beendet wurde die Haupterzählung in der Regel durch Erzählcoda wie z.B. „So, jetzt fällt mir sonst eigentlich nichts mehr ein.“22 Der Nachfrageteil der Interviews begann mit dem Dank des Interviewers für die bisher erteilten Auskünfte und dem Hinweis, dass nun einige Fragen gestellt würden, die sich aus den Notizen zum ersten Teil des Interviews ergäben. Das Ziel des Nachfrageteils bestand darin, weitere Informationen zu Themen zu erhalten, deren Bedeutung im Zuge der Haupterzählung 21 Vgl. Rosenthal 1995, 193. 22 Im Vollzug der Interviewführung haben sich Rosenthals Prinzipien der Gesprächsführung sehr bewährt. Im einzelnen handelt es sich um folgende Prinzipien: 1. Raum zur Gestaltentwicklung, 2. Förderung von Erinnerungsprozessen, 3. Förderung der Verbalisierung heikler Themenbereiche, 4. eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung, 5. aufmerksames und aktives Zuhören, 6. sensible und erzählgenerierende Nachfragen, 7. Hilfestellung beim szenischen Erinnern (vgl. Rosenthal 1995, 187).
130
unklar geblieben ist. Auch zu biografischen Erlebnissen und Lebensphasen, die der Autobiograf nur angedeutet hat oder unerwähnt ließ, wurden Nachfragen gestellt. Die Reihenfolge der Nachfragen orientierte sich konsequent an der Struktur der Haupterzählung, so dass der Nachfrageteil in der Regel mit dem Hinweis begann: „Sie haben gesehen, ich habe mir einige Notizen gemacht. Ich gehe jetzt noch mal zurück, ganz zum Anfang Ihrer Erzählung.“ Die festgehaltenen Notizen dienten als Ausgangspunkt für die Formulierung sensibler und erzählgenerierender Nachfragen. Der Katalog der im Nachfrageteil gestellten Fragen kann als ein am Einzelfall entworfener Interview-Leitfaden verstanden werden.23 Indem sich die Reihenfolge der Nachfragen an der Struktur der Haupterzählung orientierte, sollte den Befragten die Möglichkeit gegeben werden, sich wieder in die sequenzielle Gestalt ihrer Lebenserzählung zu begeben und bestimmte Erlebnisse und Lebensphasen detaillierter zu beschreiben als zuvor. Häufig sprachen die Befragten nicht nur Stichpunkte an, die in der Nachfrage explizit genannt wurden, sondern auch solche, die auf dem Notizzettel erst später folgten. Ähnlich wie schon für die Formulierung der Eingangsfrage gilt ebenso für die im Nachfrageteil gestellten Fragen, dass sie möglichst offen formuliert sein sollten. Bei jeder Nachfrage sollte den Interviewten je aufs Neue die Möglichkeit geboten werden, die Schilderung eines thematischen Feldes autonom zu gestalten. Diesem Vorgehen liegt Rosenthals Hinweis zugrunde: „Je offener und je orientierter unsere Erzählaufforderung an der Erzählung der Biografen ist, desto mehr Erlebnisse werden dem Autobiografen vorstellig werden, die er dann auch in Geschichten [...] erzählen kann.“24 Während der hier geführten Interviews wurde die Art der offenen Fragestellung realisiert durch die Aufforderung, über eine Lebensphase oder auch ein bereits erwähntes Erlebnis mehr zu erzählen, oder durch die Frage, ob den Interviewten zu einem bestimmten Thema bestimmte Situationen einfielen. Im Nachfrageteil würde prinzipiell die Möglichkeit bestehen, die Interviewten mit sog. externen Nachfragen zu konfrontieren. Damit sind Fragen gemeint, die sich der Forscher im Vorfeld der Interviews überlegt hat und deren Beantwortung er angesichts seines spezifischen Forschungsinteresses unbedingt gewährleistet wissen will. Auf die Formulierung und das Stellen solcher Nachfragen wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung verzichtet. Der Grund für diese Entscheidung lag in einer erkenntnistheoretischen Überlegung. Die Gestaltung der erzählten Lebensgeschichten sollte so weit irgend möglich in den Händen der Befragten belassen werden. Kompositionsmuster, Gestaltungskriterien und Plausibilitätsstrukturen sollten Resul23 Vgl. ebd., 201f. 24 Ebd., 204.
131
tate einer autonomen Entscheidung der Befragten sein. Mit den transkribierten Schilderungen der Lebensgeschichten sollte im Ergebnis eine Datengrundlage verfügbar sein, aus der sich originäre Theoriebeiträge entwickeln lassen über die lebensgeschichtliche Rolle, die die Kirche für die Befragten spielt. Nur um die Generierung solcher originärer Theoriebeiträge soll es im Empirieteil der vorliegenden Untersuchung gehen. Externe Nachfragen hätten die Befragten zwar gegebenenfalls dazu veranlasst, Dinge zu erzählen, die sie sonst nicht erzählt hätten. Aber dadurch wären Impulse und Theoriebausteine in die erzählten Lebensgeschichten eingetragen worden, die dem Anspruch im Wege gestanden hätten, mit den Interviews über eine Datenbasis zu verfügen, die voll und ganz der Regie der Befragten entstammt. Externe Theorieimplikate hätten sich mit den Eigentheorien der Befragten in unerwünschtem Maße vermischt.25 1.3 Tatsächlich Geschehenes vs. Prozess der Interviewkommunikation – Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews Nachdem nun erläutert wurde, auf welchem Wege die Interviews der vorliegenden Untersuchung zustande gekommen sind, soll im Vorfeld der Interviewanalyse geklärt werden, was genau der Text eines biografisch-narrativen Interviews dokumentiert oder anders ausgedrückt, worin der Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews zu sehen ist. Konkret: Handelt es sich bei einem verschrifteten biografisch-narrativen Interview um ein Dokument, das von den Befragten in der Vergangenheit Erlebtes in der Gegenwart abbildet und somit vergangene Geschehnisse zu einem erforschbaren Gegenstand macht? Oder handelt es sich um ein Protokoll, das den Prozess einer narrativen Interviewkommunikation dokumentiert und als solche ausschließlich die Interviewkommunikation erforschbar macht? Armin Nassehi weist darauf hin, dass in der Biografieforschung diese Fragen bislang nur unzureichend bedacht wurden. Er leistet seinerseits einen instruktiven Beitrag zu deren Klärung. Seine These lautet: „[...] die biografische Methode [nimmt] ausschließlich biografische Texte, erzählte 25 Eventuell wäre es zu einer solchen Vermischung nicht nur im externen Nachfrageteil des Interviews gekommen. Vielmehr könnte das Wissen um die zu stellenden externen Nachfragen auch schon die vorangehenden Teile des Interviews zumindest unbewusst beeinflussen. Denkbar wäre beispielsweise, dass die Art des aktiven Zuhörens während der Haupterzählung durch das Wissen um die später zu stellenden externen Nachfragen dahin gehend beeinflusst wird, dass der Interviewer bei bestimmten Passagen aufmerksam zuhört, bei anderen dagegen weniger aufmerksam. Allein ein solches Verhalten kann den Verlauf eines Interviews schon maßgeblich bestimmen.
132
Lebensgeschichten, also kommunikative Dokumente in den Blick [...] und nicht das in diesen Texten kommunizierte vergangene Geschehen.“26 Damit wendet er sich z.B. gegen die Einschätzung von Wolfram Fischer und Martin Kohli, die mittels biografischer Dokumente die Möglichkeit gegeben sehen, vergangene Gegenwarten zu rekonstruieren.27 Vor allem aber bezieht Nassehi seine Kritik auf die erkenntnistheoretischen Prämissen, von denen Fritz Schütze ausgeht. Nassehi kritisiert Schützes Annahme einer Homologie von biografischer Erzählsequenz und Erfahrungssequenz, so als würden Biografien bzw. biografische Texte soziale Prozesse der Entwicklung und Wandlung einer biografischen Identität darstellen: „Es wird behauptet, dass biografische Forschung biografische Verläufe untersuche, die als gesellschaftliche Strukturkategorien Aufschluss über die soziale Genese lebenszeitlicher Ereignissukzessionen geben.“28 Um die aufgeworfenen Fragen zu klären und seinen Einwand argumentativ zu stützen, weist Nassehi auf die Notwendigkeit, die Begriffe Biografie und Lebenslauf präzise zu bestimmen und zu differenzieren. Im Anschluss an Alois Hahn29 bietet er folgende Definitionen für die Begriffe: 1) Der Lebenslauf ist zunächst ein Insgesamt von Ereignissen, die in einer zeitlichen Abfolge stehen, als solche aber durch ihren sukzedierenden Charakter mit der Zeit verschwinden. Auf eine Formel gebracht: Vergangene Ereignisse sind vergangen, das heißt, sie dauern als Ereignisse nicht an und haben demnach keine gegenwärtige Existenz. 2) Zugleich ist unter Lebenslauf auch ein standardisiertes Muster zu verstehen, etwa in Form gesellschaftsuniversaler oder gruppenspezifischer normaler Ablaufregeln oder als normativ aufgeladenes zeitliches Muster von Anforderungen, die im Leben zu erfüllen sind. 3) Die Biografie schließlich resultiert aus der Beobachtung des Lebenslaufs als Insgesamt von Ereignissen bzw. als Ablaufmuster. Entscheidend ist, dass die erkenntnistheoretische Differenz zwischen Lebenslauf und Biografie niemals einzuziehen ist. Im Klartext: Die Biografie ist ein gegenwartsbasierter, vergangene Er26 Nassehi 1995, 9. 27 Vgl. Fischer/Kohli 1987, 33. 28 Nassehi 1995, 62. Neuerdings melden sich jedoch auch Stimmen zu Wort, die darauf hinweisen, dass bei Schütze gar keine Homologie-Annahme vorliege. So denke Schütze bei einem narrativen Interview gar nicht an eine Korrespondenz von Ereignisverlauf und biografisch relevantem Erleben, sondern allgemeiner und offener verstanden an ein Datenmaterial, das die Biografiestruktur möglichst präzise abbilden könne (vgl. Bohnsack 1997, 205; 1999, 121; Rosenthal 1995, 132). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll Schützes genaue Auffassung ebenfalls dahingestellt bleiben. Wichtig für den Forschungsprozess ist es nicht zu wissen, wer genau nun welche Position vertritt oder nicht vertritt. Es geht lediglich darum, im folgenden Rechenschaft darüber abzulegen, worin die vorliegende Untersuchung den Wirklichkeitsbezug des narrativen Interviews sieht. 29 Vgl. Hahn 1988.
133
eignisse beobachtender Text, der je nach der gegenwärtigen Präferenz die beobachteten Ereignisse nicht als Ereignisse, sondern nur vermittelt über die Beobachtung wiedergibt.30
Als ein erzähltes Leben ist eine Biografie demnach eine Realität eigener Art und nicht einfach ein Spiegel vergangener Geschehnisse. Sie ist zu verstehen als kreative Bewusstseinsleistung für die gilt: „Die selektive Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge, die es so vorher gar nicht geben konnte. Der Lebenslauf ist nur über die Fiktion biografischer Repräsentationen als Wirklichkeit zugänglich.“31 Nassehis Differenzierung von Lebenslauf und Biografie zeigt auf schlüssige Weise, dass die Annahme der Homologie von biograhpischer Erzählung (Biografie) und Erfahrungssequenz (Lebenslauf) mit guten Gründen zu kritisieren ist. Sollte es im Rahmen einer biografischen Kommunikation tatsächlich dazu kommen, dass eine Homologie von biografischer Erzählung und Erfahrungssequenz gegeben ist, so wäre das purer Zufall. Schließlich gibt es aus der Perspektive eines Erzählers zahlreiche Auswahl- und Kompositionskriterien für die Gestaltung einer biografischen Erzählung. Außerdem wäre eine Homologie von biografischer Erzählung und Erzählsequenz niemals überprüfbar, denn auf die tatsächliche Erfahrungssequenz von in der Vergangenheit liegenden Geschehnissen kann in der Gegenwart von niemandem mehr zurückgegriffen werden – auch nicht vom Erzähler. Wenn es nun ausschließlich die biografische Kommunikation selbst ist, die der Text eines biografisch-narrativen Interviews dokumentiert, ist es, um die oben aufgeworfenen Fragen nach dem Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews weiter zu klären, notwendig – ebenfalls im Anschluss an Nassehi – zu fragen, welches die Charakteristika einer solchen Kommunikation sind. Zur Datenerhebung bedient sich das biografisch-narrative Interview der Thematisierung von Lebensgeschichten, wie sie in Form von Erzählungen geschehen. Als Erzählungen zeichnen sich biografisch-narrative Interviews durch ihre (1) lebensweltliche Fundierung aus. In diesem Sinne stellt z.B. Konrad Ehlich fest, dass Erzählen 30 Nassehi 1995, 11f. 31 Hahn 1988, 94; Hervorhebung G.K. Nassehi illustriert das Verhältnis von Lebenslauf und Biografie mit Hilfe des Formenkalküls von George Spencer Brown (vgl. 1971). Für Brown sind Formen immer Formen mit zwei Seiten, oder anders ausgedrückt: Zwei-Seiten-Formen. Als solche resultieren sie aus Unterscheidungen und erzeugen so die Form der Welt. Bezogen auf biografische Kommunikation stellt sich die Frage, wovon eine Biografie gleichsam als zweite Seite der Form zu unterscheiden ist. Diese andere Seite der Form, so Nassehi, könne im Lebenslauf gesehen werden, den die Biografie zum Thema macht. Werde biografisch kommuniziert, so bleibe der Lebenslauf als das, was tatsächlich geschehen ist, gewissermaßen die dunkle Seite der Biografie (vgl. Nassehi 1995, 65).
134
als sprachliches Handeln integriert [ist] in die sonstigen Handlungsbezüge der gesellschaftlichen Aktanten. Es ist eines der prominentesten Mittel, mit denen der Transfer von Erfahrung bewältigt werden kann. Erzählen ist eine Tätigkeit, die, vom partikularen Erlebniswissen bis hin zu komplexen, aber als Geschichte geradezu sinnlich wahrgenommenen Ereignissen und Zusammenhängen, Erfahrung kommunikativ vermittelt. Erzählen überwindet Isolation und konstituiert gemeinsame Teilhabe an Diskurswissen, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Praxis realisiert wird.32
Laut Habermas begegnet in Erzählungen ein Laienkonzept der Welt, d.h. ein alltagspragmatisches Verständnis von Begebenheiten, in die Personen verstrickt sind und waren. Erzählungen wirkten, so Habermas, sowohl handlungsorientierend als auch identitätsbildend und erfüllen somit die Funktion, das lebensweltliche „Selbstverständnis von Personen“33 zu strukturieren. Als lebensweltliche Konstrukte sind Erzählungen daher deutlich etwa von der Kommunikation unter Experten zu unterscheiden. Erzählungen, in denen Menschen über Erfahrungen und Erlebnisse berichten, die sie im Laufe ihrer Lebensgeschichte mit der Kirche gemacht haben, sind deshalb keine Experteninterviews mit Theologen oder kirchlichen Verantwortungsträgern. Sie sind vielmehr „personenbezogene Kommunikation, die an der eigenen Erfahrung der Narranten ansetzt.“34 Neben der lebensweltlichen Fundierung sieht Nassehi ein weiteres und für ihn entscheidendes definitorisches Kriterium für Erzählungen in deren (2) kommunikativ erzeugter Zeitlichkeit. Dabei bezieht er sich auf Paul Ricoeuers Verständnis von Erzählungen. Für diesen bestehe zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation.35 Der zeitliche Charakter sowohl von Handlungen als auch von Erzählungen liege darin, dass sie jeweils nur in Form eines Nacheinanders realisiert werden. Beiden gemeinsam ist ein „sukzedierender Chrarakter.“36 So gesehen können Erzählungen als diejenige kommunikative Form verstanden werden, „die das menschliche Verstricktsein in Geschichten, also das permanente Eingewobensein in Handlungsfolgen, zum Thema hat.“37 Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass Biografien als Erzählungen auftreten. Schließlich thematisieren sie im Sinne der obengenannten Definition von Biografie Lebensläufe, d.h. das Nacheinander von Handlungszusammenhängen. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen – ebenfalls im Sinne der obengenannten Biografiedefinition: Auch wenn eine biografische 32 33 34 35 36 37
Ehlich 1980, 20. Habermas 1981, 206. Nassehi 1995, 81. Vgl. Ricoeur 1988, 87. Nassehi 1995, 81. Ebd.
135
Erzählung unmittelbar an der zeitlichen Erzählform des eigenen Lebens ansetzt, bildet sie damit noch keineswegs die Erfahrung selbst ab. Nach lebensweltlicher Fundierung und dem Aspekt sukzedierender Zeitlichkeit ist im Anschluss an Nassehi schließlich ein letztes Charakteristikum zu nennen, das biografische Kommunikation kennzeichnet, wie sie sich im Zuge eines biografisch-narrativen Interviews ereignet. Bei diesem Charakteristikum handelt es sich (3) um die spezifische, durch das Forschungssetting konstituierte Situation. Zum einen führt diese dazu, dass sich ein biografisch-narratives Interview keinem alltäglichen Erzählanlass verdankt, sondern im Rahmen eines komplexen Forschungsprozesses stattfindet. Die explorativen Alltagsfähigkeiten (Erzählen) der Interviewten werden zwar genutzt, dies aber in einer durch und durch vom Forscher konstruierten Situation. Zum anderen unterscheidet sich das biografisch-narrative Interview von alltäglichen Formen des Erzählens durch seinen spezifischen Inhalt: Handelt es sich bei alltäglichen Erzählungen während einer Unterhaltung oder zum Kennenlernen38 in der Regel um Teilerzählungen mit biografischem Hintergrund, so handelt es sich bei einem biografisch-narrativen Interview um eine biografische Großerzählung bzw. eine „Großform des Sprechens“,39 deren Inhalt in nicht mehr und nicht weniger als der gesamten Lebensgeschichte der befragten Person bestehen soll. Dies stellt die Erzählenden vor eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Sie sind aufgefordert, ihre Lebensgeschichte als Rückblick zu berichten, der in der eigenen Perspektive verdreht ist. Verdreht ist er, weil er nicht vom Heute ins Gestern geht, sondern vom Heute an den Anfang und von dort wieder ins Heute. Zum Dritten unterscheidet sich das biografisch-narrative Interview vom alltäglichen Erzählen in der Frage des Adressaten. Die Art der Interviewführung lässt einen virtuellen Adressaten entstehen. Im Unterschied zu alltäglicher Kommunikation bekommen die Erzählenden keine unmittelbare Rückmeldung. auf das, was sie erzählen. Es gibt keine dialogische Verstehenskontrolle. Die Sicherung sinnhafter Anschlüsse wird ganz auf die Seite der Erzählenden verlagert. Da Interviewter und Interviewer beim biografisch-narrativen Interview nicht oder kaum transparent füreinander sind, wird die Beantwortung der Frage nach den Erwartungshorizonten, auf die die befragte Person antwortet, ganz auf deren Seite verlagert. Nassehi formuliert dazu: Während alltägliche Kommunikation ihre Verstehenskontrolle, d.h. die Sicherung ihrer Anschlüsse dadurch kontrolliert, dass Ego auf Alter und Alter auf Ego dialo38 Zu weiteren alltäglichen Erzählanlässen für lebensgeschichtliche Erzählungen vgl. Fuchs-Heinritz 2000, 64–75. 39 Rehbein 1982, 53.
136
gisch reagieren, verweist die künstlich erzeugte monologische Situation des Interviews fast ausschließlich auf den Erzähler.40
Damit reagieren die Erzähler auf ein je selbst erzeugtes Publikum.41 Handelt es sich bei einem biografisch-narrativen Interview um einen durch die individuelle Lebenswelt der Befragten grundierten Text, der temporal sukzedierend entfaltet wird und dabei ganz auf die kommunikative Kompetenz der Befragten – im Sinne der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz – baut, so stellt sich die Frage, was das überaus individuelle Produkt biografisch-narratives Interview eigentlich mit übergeordneten sozialen Strukturen zu tun hat, auf die soziologisch orientierte Forschung ihr eigentliches Erkenntnisinteresse richtet. Nassehi beantwortet diese Frage mit dem Hinweis, dass ein biografisch-narratives Interview trotz der hohen Bedeutung, die das befragte Individuum hier spielt, keine Exploration psychischer Strukturen darstellt, sondern Kommunikation und als solche als soziales Geschehen zu begreifen ist. Schließlich verdanke sich das Erzählte einer sozialen Genese, die über den Mechanismus der sozialen Erwartungsbildung erklärt werden könne. In der kommunikativen Situation des biografisch-narrativen Interviews kämen spezifische Semantiken zum Vorschein, nach denen sich Personen innerhalb eines sozialen Geschehens selbst identifizierten. Es sei, so Nassehi, unschwer zu erkennen, dass solche Semantiken, Argumentations- und Identifikationsfolien sowie Legitimations- und Sinngebungsformen – zwar zum Teil auf höchst individuelle Weise – der Formenvielfalt des soziokulturellen Wissens einer Gesellschaft oder bestimmter sozialer Gruppen entnommen sind.42
Aus diesem Grund kommen in einem biografisch-narrativen Interview soziale Strukturelemente zur Geltung, die für die Regulierung sozialer Kommunikation konstitutiv sind. Narrative Aussagen stehen erkenntnistheoretisch daher auf einer Stufe mit anderen Semantiken, die etwa wissensso40 Nassehi 1995, 85. 41 Nassehi entfaltet die sich daraus ergebende Problematik bzw. Chance mittels der systemtheoretischen Figur der doppelten Kontingenz. Damit ist eine wechselseitige kommunikative Erwartungsstruktur gemeint, bei der ein Kommunikationspartner eine bestimmte für ihn handlungsleitende Erwartung über die Erwartung seines Gegenübers hat (vgl. Luhmann 1994, 172). So gesehen kann man doppelte Kontingenz auch als Erwartungs-Erwartung bezeichnen. Da bei einem narrativen Interview der Interviewer im unmittelbaren Vollzug der Interviewkommunikation seine Erwartungen nicht preisgibt, enthalten die aus der Interviewkommunikation resultierenden Texte folglich die Erwartungshorizonte, auf die sie selbst reagieren. Dieser Mechanismus überführt Kontingenz (Unbestimmtheit) in jene Bestimmtheit, die den Erzähler bei einem narrativen Interview handlungs- und somit erzählfähig hält (vgl. Nassehi 1995, 84f). 42 Nassehi 1995, 85.
137
ziologisch auf ihre gesellschaftsstrukturellen Implikationen hin geprüft und analysiert werden.43 Auf die eingangs gestellte Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews kann zusammenfassend festgehalten werden: Die in biografisch-narrativen Interviews enthaltenen Erzählungen orientieren sich an der zeitlichen Erfahrungsform sozialen Handelns. Als lebensgeschichtliche Erzählungen thematisieren sie das Nacheinander von im Lebenslauf erlebten Handlungsfolgen. Auf Grund der spezifischen kommunikativen Form der Biografie werden diese Handlungsfolgen im biografischnarrativen Interview jedoch nicht abgebildet. Die narrativen Strukturen, derer sich das biografisch-narrative Interview bedient, entstammen dem Bereich alltäglicher Kommunikation und haben ihre Funktion in der lebensgeschichtlichen Selbstthematisierung von Personen. Da das Forschungssetting des biografisch-narrativen Interviews die Gestaltung des Erzählprozesses weitgehend auf die Seite der Interviewten verlagert, werden im Zuge dieser lebensgeschichtlichen Selbstthematisierung spezifische Semantiken der Erfahrungsverarbeitung und Bewältigung von Situationen sichtbar. Dabei handelt es sich nicht um die Abbildung der psychischen Selbstreflexivität von Individuen, sondern um von Individuen artikulierte Formen soziokulturellen Wissens sozialer Gruppen. Die hier angestellten Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews zeigen, dass die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geführten Interviews mit Mitgliedern der evangelischen Kirche nicht nur private, beliebige Geschichten von lediglich singulärer Bedeutung erzählen. Stattdessen lassen sie, vielleicht nicht kollektive, wohl aber typische Formen der Thematisierung des Verhältnisses erkennen, in dem evangelische Kirchenmitglieder zu ihrer Kirche stehen können. Diese Formen der Thematisierung sind es, die ein biografisch-narratives Interview dem interpretativen Zugriff zugänglich macht und die empiriebasierte Erforschung mediatisierter Kommunikationsmuster ermöglicht. 1.4 Datenauswertung und Datenanalyse Transkription Der erste, grundlegende Schritt der Datenauswertung besteht in der Verschriftlichung der auf Mini-Disk aufgezeichneten Texte. Erst die vertextete Form des biografisch-narrativen Interviews ermöglicht es, die thematisch-sequenzielle Anordnung der Interviewkommunikation zu erheben. Im Unterschied zum mündlichen Text kann in einem Transkript z.B. nachge43 Vgl. ebd.
138
schlagen oder ein Vergleich zwischen bestimmten Passagen vorgenommen werden. Für die vorliegende Untersuchung wurde eine vollständige Übertragung des Textes unter Einschluss der parasprachlichen Äußerungen gewählt.44 Bei dem Interesse, das die vorliegende Untersuchung der Interviewkommunikation als solcher entgegenbringt, bietet sich dieses Transkriptionsverfahren besonders an, weil es alle Gesprächsabschnitte einschließlich der Einleitungssätze, der Abschweifungen, der Schlussformeln und Störungen durch Dritte schriftlich dokumentiert. Auch gibt es parasprachliche Äußerungen wie „mh“, „aha“ oder Pausen wieder. Damit bietet das Verfahren die Möglichkeit, die genaue Abfolge der sprachlichen und parasprachlichen Äußerungen abzubilden. Die gewählte Form der Transkription gewährleistet eine vollständige Erfassung der interaktiven Strukturen des Interviews, so dass die Selektivität der Erzählung, der Erzählkontext und die Indexikalität bestimmter sprachlicher Äußerungen im Transkript erkennbar wird. Auf die Transkription phonetischer Informationen wurde verzichtet. Das hätte einen erheblichen Mehraufwand bedeutet, gleichzeitig aber eine Analyseebene eröffnet, die hinsichtlich des Forschungsziels der vorliegenden Untersuchung keinen Erkenntnisgewinn hätte erwarten lassen. Die hier verwendeten Transkriptionsregeln sind im Anhang kommentiert. Um die Lesbarkeit und die Verständlichkeit zu erleichtern, folgen die unten im Haupttext wiedergegebenen Transkriptzitate den Transkriptionsregeln nur noch bedingt. Insbesondere die Zeichensetzung wurde den grammatikalischen Standards angeglichen. Inhaltsanalytische und textstrukturelle Rekonstruktion Ebenso wie im Falle der Datenerhebung so orientiert sich die vorliegende Untersuchung auch bezüglich der Datenauswertung an der Methodik Fritz Schützes. Bei der Auswertung unterscheidet Schütze mit formaler Textanalyse, struktureller Inhaltsanalyse und analytischer Abstraktion drei Schritte. Das Ziel der formalen Textanalyse besteht darin, den Text hinsichtlich der in ihm vorkommenden Textsorten zu differenzieren. Schütze verfolgt mit diesem Analyseschritt die Absicht, einen „bereinigten Erzähltext“45 zu erhalten. Dazu sollten alle nicht-narrativen Textpassagen aus dem Interviewtranskript eliminiert werden. Aus zwei Gründen verzichtet die vorliegende Untersuchung auf eine solche Eliminierung. Erstens ist es im Anschluss an die oben dargestellten erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews hier nicht das Ziel, aus der narrativ-sequenziellen Textstruktur auf vergangene Handlungssequenzen zu schließen. Zweitens spricht gegen eine Eliminierung der 44 Vgl. zu diesem und weiteren Transkriptionsverfahren Fuchs-Heinritz 2000, 273–278. 45 Schütze 1983, 286.
139
nicht-narrativen Textteile – im Anschluss an Gabriele Rosenthal – die Tatsache, dass nicht-narrative Textteile womöglich mit gutem Grund anders strukturiert sind: „Weshalb der Erzähler argumentiert oder beschreibt, muss vielmehr am konkreten Fall rekonstruiert werden.“46 Um eine solche Rekonstruktion zu ermöglichen, die für die Analyse der im Transkript dokumentierten Interviewkommunikation unabdingbar ist, werden die im Interviewtext von Haupterzählung und Nachfrageteil verwendeten Textsorten ausgemacht und bestimmt. Dabei liegen die Definitionen der verschiedenen Textsorten zugrunde, wie sie Rosenthal vornimmt. Neben den drei wesentlichen Textsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation sind auch die wichtigen Unterkategorien Bericht, verdichtete Situation und Belegerzählung zu nennen.47 Der formal nach Textsorten differenzierte Text wird nun im Rahmen der strukturellen Inhaltsanalyse auf seine formalen inhaltlichen Abschnitte hin gegliedert. Um die inhaltliche Binnendifferenzierung des Textes zu erheben, werden die sprachlichen Verknüpfungen ausfindig gemacht, mit denen der Sprecher arbeitet, um verschiedene thematische Felder der Erzählung aneinander zu reihen. Ausgedrückt werden solche sprachlichen Verknüpfungen in der Regel mit Worten wie „dann“, „und“, „später“ usw. Die relevanten Größen, die mittels der strukturellen Inhaltsanalyse zu erheben sind, sind thematische Felder und Themen. Wolfram Fischer definiert das Verhältnis Thema/thematisches Feld wie folgt: Das Thema als klar definierbare Textgröße enthält Verweisungen auf andere explizite Themen der Gesamterzählung oder auf implizite Themen, die textüberschreitend in pragmatischer Reflexion der alltagsweltlichen Kontexte (z.B. den Themenbereich „Familie“, „Beruf“ [...]) erschlossen werden können. Einzelthemen sind also Elemente eines „thematischen Feldes“. Themen tragen nun im Kontext einer biografischen Großerzählung und Gesamtkonstruktion meist klar zu bestimmende zeitliche Horizonte von Vergangenheit und Zukunft mit sich und konstituieren so spezifische temporale Perspektiven und Perspektiven-Vernetzungen von Lebensgeschichten.48
Ebenso wie thematische Felder werden auch Themen als inhaltliche Kleinsteinheiten mit Wörtern wie „dann“, „später“ oder auch „deshalb“, „trotzdem“ etc. aneinander gereiht. Zur Analyse der identifizierten Themen und thematischen Felder dienen in Anlehnung an Uwe Gerstenkorn49 folgende Leitfragen: – Welches Problem wird in der abgegrenzten Textpassage dargestellt? – Was sind die Bedingungen für dieses Problem? 46 47 48 49
140
Rosenthal 1987, 147. Vgl. Rosenthal 1995, 240. Fischer 1986, 359; Hervorhebung G.K. Vgl. Gerstenkorn 2004, 70.
– Welche Interaktionspartner oder -partnerinnen werden vorgestellt? – Welche Strategien zur Lösung bzw. Bewältigung des beschriebenen Problems werden präsentiert? – Welche Konsequenzen dieser Verhaltensweise werden beschrieben? Mit Hilfe dieser Untersuchungsfragen sollen die Themen des Interviews detailliert beschrieben werden, um so die Funktion der einzelnen Themen sowohl für den unmittelbaren als auch weiteren Kontext des Interviews herauszuarbeiten. Nach Abgrenzung und Beschreibung der Einzelthemen endet die strukturelle Inhaltsanalyse mit der Analyse der Gesamtkomposition des Interviews. Dabei werden, streng orientiert an der Sequenzialität des Interviews, die Bezüge von Themen zu anderen Themen und thematischen Feldern untersucht. Mit den Ergebnissen der formalen Textanalyse und der strukturellen Inhaltsanalyse liegt nun eine präzise Gliederung des Interviews wie auch eine detailreiche Analyse der Einzelthemen in ihrer Bedeutung für die Gesamtkomposition des Interviews vor. Die feingliedrige Analyse der einzelnen Interviewsequenzen ist damit abgeschlossen. Indem die strukturelle Inhaltsanalyse die wesentlichen Episoden der erzählten Lebensgeschichte voneinander trennt, schafft sie die Voraussetzung für die analytische Abstraktion, den dritten Schritt der Datenauswertung nach Schütze. Nun wird die auf die Analyse von Einzelthemen gerichtete Perspektive verlassen und die Gesamtkomposition des Interviews in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Schütze sieht für diesen Analyseschritt vor, das Ergebnis der strukturell inhaltlichen Beschreibung von den Details der im Einzelnen dargestellten Lebensabschnitte zu lösen und die abstrahierten Strukturaussagen zu den einzelnen Lebensabschnitten systematisch miteinander in Beziehung zu setzen. Auf dieser Grundlage wird die biografische Gesamtformung im Sinne der „lebensgeschichtliche[n] Abfolge der erfahrungsdominanten Prozessstruktur herausgearbeitet.“50 Mit diesem Analyseschritt soll der sinnhafte Zusammenhang der sequenziell ineinander verschachtelten Geschichten der Lebensgeschichte erkennbar werden. Die analytische Abstraktion soll insbesondere individuelle Verlaufskurven sichtbar machen, die die Interviewkommunikation in spezifischer Weise charakterisieren. Eine Verlaufskurve beschreibt die Art und Weise, auf die bestimmte Prozesse im Lebenslauf vom Interviewtext dargestellt werden. So gibt es beispielsweise einzelne biografische Entwicklungen, denen der Text eine besondere Bedeutung zugesteht, oder auch bestimmte biografische Ereignisse, denen der Text eine besondere Aussagekraft beimisst. 50 Schütze 1983, 286.
141
Solche im Interviewtext zum Ausdruck kommenden Bewertungen implizieren eine Beschränkung oder Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten vom Interviewtext geschilderten Situation oder einem bestimmten Lebensabschnitt.51 Verlaufskurven können erkannt werden, indem die im Zuge der strukturellen Inhaltsanalyse erhobenen Beobachtungen zu den einzelnen Themen des Interviews systematisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. In Anlehnung an Gerstenkorn52 richtet der Auswertungsschritt der analytischen Abstraktion folgende Fragen an den Interviewtext: – Welche individuellen Verlaufskurven sind zu beobachten? – Wie lässt sich eine erhobene Verlaufskurve näher charakterisieren? Werden die Handlungsmöglichkeiten erweitert oder beschränkt? – Welche Interdependenzen zwischen einzelnen Verlaufskurven sind zu erkennen? – Können dominante Stränge von Nebenschauplätzen unterschieden werden? – Welchen Detaillierungs- und Indexikalitätsgrad53 weisen die Textpassagen auf, die die Verlaufskurve beschreiben? Formale Textanalyse, strukturelle Inhaltsanalyse und analytische Abstraktion stellen das Analysematerial für die weitere empirische Arbeit zur Verfügung. Mit diesen Analyseschritten, die sequenzanalytisch Zeile für Zeile das gesamte Interview (Haupterzählung und Nachfrageteil) rekonstruieren, steht nun insbesondere die Selektivität der Interviewkommunikation, die Struktur von Textteilen und der Gesamtkomposition wie auch die Funktion von Einzelthemen und Verlaufskurven vor Augen. Eine auf eine konkrete Person bezogene Präzisierung mediatisierter Kommunikation liegt nun vor. Deutung der biografischen Gesamtkonstruktion Die Einzelfallanalyse der ausgewerteten Interviews endet mit einem generalisierenden Analyseschritt. Er versucht die Gesamtselektivität des biografischen Textes zu beschreiben. Schütze nennt diesen Schritt Wissensanalyse,54 während er im Rahmen der vorliegenden Untersuchung in Anlehnung an Nassehi als Deutung der biografischen Gesamtkonstruktion bezeichnet 51 Vgl. ebd., 288. 52 Vgl. Gerstenkorn 2004, 71. 53 Bezeichnet der Detaillierungsgrad das Ausmaß schmückender Aspekte, so drückt der Indexikalitätsgrad die Häufigkeit aus, in der auf Orte, Personen und die Zeit eines Ereignisses verwiesen wird. Zum Begriff der Indexikalität vgl. Fuchs-Heinritz 2000, 189f. 54 Vgl. Schütze 1983, 286.
142
wird.55 Für diesen Analyseschritt gilt es, sich nochmals die oben angestellten Überlegungen zum Wirklichkeitsbezug des biografisch-narrativen Interviews zu vergegenwärtigen: Die im Transkript dokumentierte Interviewkommunikation bildet nicht das gelebte Leben identisch ab, sondern eine biografische Beobachtung des Lebenslaufs durch die interviewte Person im Sinne eines reflektierenden Zugriffs auf Erfahrungen und Erlebnisse, die sie im Laufe ihres Lebens gemacht hat. Im Sinne von Luhmanns Verständnis einer Wahrnehmung zweiter Ordnung56 können sowohl die Interviewkommunikation als auch die Interpretation des Interviews als kontingente Beobachtungen, d.h. als Beobachtung der Beobachtung, verstanden werden. Die abschließende Deutung der biografischen Gesamtkonstruktion hat die Aufgabe, die auf der Grundlage des Transkripts herausgearbeiteten Prozessstrukturen der Interviewkommunikation in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Dadurch kann erkannt werden, welche Grundprobleme die Interviewkommunikation aufwirft und welche individuellen Problemlösungsmuster sie daraufhin anbietet.57 Dieses Vorgehen hat jedoch nicht zur Konsequenz, dass lediglich die subjektiven Deutungsmuster der Befragten im Rahmen der Interpretation protokolliert würden. Vielmehr greift hier eine methodologische Skepsis, die dazu dienen soll, die Selektivität der Darstellung und deren Voraussetzungen erkennen zu können und die Selbstpräsentation der Befragten wahrzunehmen.58 Die Deutung der Gesamtkomposition fasst alle bisher gemachten Beobachtungen zusammen und bezeichnet sie mit einer Art Motto, das die im Interviewtext dokumentierte Selbstpräsentation der interviewten Person prägnant zu charakterisieren versucht. Die bis zu dieser Stelle beschriebenen Verfahren der Einzelfallanalyse verfolgen noch nicht die Absicht, die Interviewtexte in Bezug auf das eigentliche Forschungsthema der vorliegenden Untersuchung (soziale Bindung in der Kirche) zu betrachten. Zu diesem Zeitpunkt der Einzelfallanalyse geht es noch ausschließlich darum, „die Selektivität und Funktionalität der individuellen Interviewkommunikation zu erkennen.“59 Nur so ist es möglich, die auf das eigentliche Forschungsthema bezogenen Inhalte in ihrem biografischen Kontext wahr- und ernst zu nehmen. Würde der Fokus schon an dieser Stelle des Forschungsprozesses etwa auf den Aspekt der Kirchenbindung fixiert, könnten die vom Interviewtext geschilderten Interdependenzen zwischen einer bestimmten lebensgeschichtlichen Phase oder 55 Vgl. Nassehi 1995, 108. 56 Vgl. Luhmann 1999, 812–826. 57 Zur rekursiven Anwendung der Figur von Problem und Problemlösung in biografischen Texten vgl. Nassehi 1995, 102. Nassehi bringt die hinter dieser Figur stehende Funktion auf die Formel: „Biografische Texte lösen Probleme, die sie selbst aufwerfen“ (ebd.). 58 Vgl. Nassehi 1995, 110. 59 Gerstenkorn 2004, 73.
143
Situation und dem jeweils damit einhergehenden Kirchenverhältnis nicht angemessen herausgearbeitet werden. Gerade die individuelle und hier eigentlich interessierende Variante der Mediatisierung der Kommunikation geriete dadurch aus dem Blick. Erst in einem allerletzten Schritt, nachdem die je individuell gestaltete Mediatisierung der Kommunikation in Bezug auf die jeweilige Gesamtbiografie herausgearbeitet worden ist, wird ein fokussierender Blick auf das spezielle Thema der Kirchenbindung geworfen, mit dessen Hilfe die Mediatisierung der Kommunikation mit der Kirche besonders hervorgehoben werden soll. 1.5 Methodische und darstellungspraktische Hinweise Vor dem Übergang zur Einzelfallanalyse soll an dieser Stelle auf die Zusammensetzung der Untersuchungsgruppe, auf die Anzahl der Interviews sowie auf einzelne Auswertungsschritte eingegangen werden. Die Datenbasis der vorliegenden Untersuchung bilden 18 biografischnarrative Interviews. Sie sind die Grundlage für die nun folgenden Einzelfallanalysen, in denen die biografische Beobachtung von Lebensläufen im Hinblick auf das Verhältnis, in dem Menschen zur Kirche stehen, rekonstruiert wird. Es ist selbstredend, dass mit dieser geringen Zahl von Interviews keine Repräsentativität im herkömmlichen Sinne erreicht werden kann. Statistische Repräsentativität kann auch nicht das Ziel der hier angewandten biografieanalytischen Methode sein: Es geht nicht darum, die Verteilung von Merkmalen in Grundgesamtheiten zu erfassen, sondern darum, die Typik des untersuchten Gegenstandes zu bestimmen und dadurch die Übertragbarkeit auf andere, ähnliche Gegenstände zu gewährleisten.60
In diesem Sinne versteht sich die hier gewählte qualitative Forschungsmethode als sinnrekonstruierendes Verfahren, das zunächst konsequent am Einzelfall interessiert ist. Die seltenen Hinweise, die in der einschlägigen Literatur über die Zahl der zu erhebenden Fälle gemacht werden,61 fokussieren eine Zahl zwischen 15 und 30 Interviews.62 Doch auch bei diesen Angaben gilt es festzuhalten, dass es sich um Erfahrungswerte handelt, die einen hinreichenden Sätti60 Merkens 2000, 291. 61 So stellt etwa Merkens fest: „Es ist überraschend, dass auch neuere Handbücher zu qualitativen Methoden keine Artikel zu diesem Problem, sondern den Hinweis enthalten, dass bei qualitativen Studien wenig Wert auf die Bestimmung des Rahmens der jeweiligen Stichprobe gelegt werde.“ (Merkens 2000, 290). 62 Vgl. Nassehi 1995 im Anschluss an Brüggemeier 1987, 155.
144
gungsgrad und eine begründete Basis für weiterreichende Auswertungen und Verallgemeinerungen erwarten lassen. Sicher gewährleistet ist das allerdings nicht. Mangels alternativer Erkenntnisse und aus Gründen der Praktikabilität schließt sich die vorliegende Untersuchung dem bisher gesammelten Erfahrungswissen an und greift auf 18 Interviews zurück, die nach den bereits beschriebenen Methoden erhoben wurden. Dabei ist die Auswahl der 18 Gesprächspartner nicht zufällig. Der explorative Charakter der empirischen Untersuchung sowie die umfassende Grundgesamtheit (alle westdeutschen evangelischen Kirchenmitglieder!), auf die sich die Untersuchung bezieht, haben es nahe gelegt, sich bei der Auswahl der Interviewpartner zumindest grob an einem demographischen Querschnitt zu orientieren. Dabei wurde versucht, folgende demographische Kriterien weitgehend abzudecken: Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Familienstand. So lag die Altersspanne der Befragten zwischen 22 und 75 Jahren; 11 Frauen und 7 Männer wurden befragt; der Bildungsstand der Befragten umfasste das gesamte Spektrum vom Hauptschulabschluss bis zur Promotion; das Berufsspektrum schließlich reicht vom pensionierten Eisenbahnbeamten bis zum Angehörigen des mittleren Managements eines Großunternehmens. Ausgehend von dem in kirchlich-theologischen Kreisen häufig anzutreffenden Schema von Nähe und Distanz zur Kirche wurde ebenfalls versucht, ein möglichst breites Spektrum abzudecken. So standen die 18 befragten Personen zum Zeitpunkt des Interviews jeweils in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis zur Kirche: Die einen hatten gerade gar keinen Kontakt zu einer Kirchengemeinde, andere dagegen waren mehr oder minder intensiv in das Leben einer Gemeinde eingebunden. Der Kontakt zu den Interviewten erfolgte zum einen über Pfarrer, die auf – ihrer Meinung nach – gesprächsbereite Tauf- und Konfirmandeneltern, aber auch nach eigener Einschätzung interessante Gemeindeglieder oder Kirchenvorstände verwiesen. Zum anderen wurden Kontakte über Bekannte des Verfassers vermittelt, die zur Zeit nicht in kirchliche Netzwerke involviert sind. Die Interviews wurden – von einer Ausnahme abgesehen – alle in München bzw. dem näheren Einzugsbereich der Stadt München geführt. Da die evangelischen Menschen in München und Umgebung in der Regel aus anderen Teilen Deutschlands zugereist sind, weisen die Befragten trotz der regionalen Begrenzung der Stichprobe eine regionale Streuung auf, wie sie sonst nur über eine intensive Reisetätigkeit quer durch die Republik zu erreichen wäre. Trotz allem gilt: Für die Auswertung der Einzelfälle spielen die genannten Kriterien nur eine geringe Rolle. Schließlich kommt es bei dem gewählten Verfahren nur darauf an, möglichst trennscharfe Einzelfälle zu gewinnen. Die im folgenden vorgenommenen Einzelfallanalysen setzen sich zum Ziel, typische Erzählverläufe zu rekonstruieren, um diese dann im Rahmen 145
einer synthetisch-fallübergreifenden Analyse aufeinander zu beziehen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist es unmöglich, alle 18 geführten Interviews einer eingehenden Einzelfallanalyse zu unterziehen. Letztlich nicht handhabbare Ergebnisse, ein von einem einzigen Forscher nicht zu bewältigender Arbeitsaufwand und auf Grund der zu erwartenden Textmenge nicht zu lösende darstellungstechnische Probleme stehen dem im Wege. Daher wurden von den 18 geführten Interviews auf der Grundlage der unmittelbaren Eindrücke des Interviews und nochmaligen Abhörens der aufgenommenen Interviews zunächst acht Interviews transkribiert. Von diesen wiederum wurden nach eingehender Lektüre insgesamt vier ausgewählt und einer intensiven Einzelfallanalyse unterzogen. Auf diese Weise konnte ein Kompromiss erzielt werden zwischen Handhabbarkeit und der zu erwartenden Trennschärfe von Ergebnissen.63 Die vier hier umfassend ausgewerteten Interviews stammen je zur Hälfte von Frauen und Männern. Unter den interviewten Personen sind verschiedene Alterstufen, Bildungsgrade, berufliche Stellungen und regionale Herkünfte (ausgehend vom Geburtsort) vertreten. Eine weitergehende Formalisierung der Auswahl hat nicht stattgefunden. Die Auswahl folgte dem Wunsch nach möglichst trennscharfen Typen der biografischen Beobachtung der vier Lebensläufe. Grundsätzlich zum Thema Repräsentativität sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten: Repräsentativ im strengen Sinne sind die Einzelfälle ausschließlich für sich selbst und im Unterschied zu anderen Fällen. Das ist für die vorliegende Untersuchung aber auch kein entscheidender Aspekt. Vielmehr unternimmt sie den in der Forschungsgeschichte erstmaligen Versuch, anhand von empirischem Material konkrete Erscheinungsformen mediatisierter Kommunikation im gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext zu erforschen. Wohl steht mediatisierte Kommunikation für übergreifende, die gesamte Gesellschaft betreffende Strukturen; doch ihre konkrete Realisierung durch konkrete Personen kann, entsprechend dem Konzept der Biografisierung, immer nur auf der Ebene individueller Einzelfälle verbleiben. Erst der Weg über Einzelfälle ermöglicht, dem erkenntnistheoretischen Ansatz qualitativer Forschungsmethoden entsprechend, Rückschlüsse auf die übergeordneten sozialen Strukturen. Die Präsentation dieser Einzelfallanalysen folgt jeweils einem einheitlichen Gliederungsschema: Nach knappen demographischen Vorbemerkungen 63 Für die Entscheidung, von 18 geführten Interviews vier intensiv zu analysieren, sprechen Erfahrungswerte aus vergleichbaren empirischen Untersuchungen. So greift Nassehi im Rahmen seiner Studie über die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion aus 20 Interviews sechs heraus. (vgl. Nassehi 1995) Gabriele Rosenthal wählt in ihrer Studie über deutsche Kriegsteilnehmer aus 24 geführten Interviews drei aus. (vgl. Rosenthal 1987).
146
erfolgt die Rekonstruktion des biografischen Textes. Eine strenge Orientierung an der Chronologie der Interviewtexte ist die Basis dieser Rekonstruktion. Interview für Interview wird auf Selektivität, Verstehenskontrolle, Textstruktur, Textlogik und Bezugsproblem/Problemlösung hin abgearbeitet. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation schließen die Präsentation der Einzelfälle jeweils ab. Neben einer generalisierenden Zusammenfassung der Interpretationsergebnisse erfüllt dieser Schritt die Funktion, die Gesamtgestalt der Texte herauszuarbeiten und so eine abschließende Deutung der biografischen Gesamtkonstruktion vorzunehmen. Dabei wird die Frage, auf welche Art und Weise Kirche thematisiert wird, in einem jeweils eigens dafür vorgesehenen Abschnitt eingehend bedacht. Bei all dem verbleiben die Fallkonstruktionen noch völlig im Horizont des Einzelfalls. Bezüge zwischen den Einzelfällen werden erst später im Rahmen der synthetisch-fallübergreifenden Analyse hergestellt.64 Auf zwei Besonderheiten der Darstellungsweise sei an dieser Stelle verwiesen. Zum einen ist in den folgenden Rekonstruktionen nicht die Erzählerin bzw. der Erzähler das Subjekt des Textes. Wie in den methodologischen Ausführungen bereits erläutert, betrachtet die vorliegende Untersuchung die Texte ausschließlich hinsichtlich ihrer kommunikativen Struktur, so dass die erzählenden Personen lediglich über den Text beobachtbar werden. In der Konsequenz finden sich in den folgenden Ausführungen Formulierungen wie „die Erzählung spricht“, „der Text erläutert“ oder „die Interviewkommunikation legt dar“. Damit wird zum Ausdruck gebracht: „Nicht Personen konstituieren und ‚schreiben‘ biografische Texte, sondern diese Texte konstituieren und ‚beschreiben‘ Personen, von denen wir nur über den Text wissen.“65 Zum anderen sei darauf hingewiesen, dass die vorliegende Untersuchung mit sehr ausführlichen Zitaten aus den Interviews arbeitet. Die Fundstellen am Ende der Zitate wie z.B. A/879–885 bedeuten, dass das Zitat aus dem Interview mit Herrn A. stammt und die dort von eins an durchgezählten Zeilen 879 bis 885 umfasst. Sätze, die auf „I:“ folgen, sind Interviewerfragen und -äußerungen, Sätze, die auf „B:“ folgen, sind Aüßerungen der Befragten. Zum Schluss noch ein Wort zur Anonymisierung: Die Namen der Interviewten wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen unkenntlich gemacht und durch Großbuchstaben ersetzt (z.B. Herr A., Frau B., etc.). Ferner wurden sämtliche Namen von Orten (von eindeutig identifizierbaren Großstädten abgesehen), Personen (von einigen öffentlich bekannten Persönlichkeiten abgesehen), geographischen Größen, Einrichtungen usw. unkenntlich gemacht. An Stelle der ursprünglichen Namen findet sich dann ein Verweis in Klammern wie z.B. (Name einer Stadt), (Name einer Region) usw. 64 Vgl. Nassehi 1995, 120. 65 Ebd., 120f.
147
2. Auswertung der Interviews66 2.1 Herr A.: Die kontrollierte Bedrängnis 2.1.1 Vorbemerkungen Herr A. ist 1960 geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach der zehnten Klasse verlässt er das Gymnasium, um das Fachabitur zu machen. Nach kurzer Zeit lässt er von diesem Vorhaben ab und absolviert eine Lehre in der Landwirtschaft. Im Anschluss an die Lehre holt er das Abitur nach. In der Zeit nach dem Abitur wohnt Herr A. in einer Wohngemeinschaft und jobbt in einem Buch- und Plattenladen. Während dieser Zeit lernt er seine jetzige Ehefrau kennen und entschließt sich, Schauspieler zu werden. Seit Herr A. die Schauspielausbildung beendet hat, arbeitet er als Schauspieler. Auf Grund der wechselnden Engagements in verschiedenen Städten zieht Herr A. häufig um; zum Teil mit der Familie, zum Teil aber auch ohne sie. Das Interview wurde im Februar 2002 geführt und dauerte ca. zweieinhalb Stunden. Der Verfasser hat Herrn A. über die Vermittlung einer Bekannten kennen gelernt. 2.1.2 Rekonstruktion des biografischen Textes Wie bei allen Interviews wird das Gespräch mit der Aufforderung eröffnet, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen und dabei auch Erfahrungen und Erlebnisse, die mit der Kirche gemacht wurden, zu berichten. Im folgenden wird das Gespräch mit Herrn A. rekonstruiert. Dabei geht es – wie oben schon erläutert – nicht darum, tatsächlich Geschehenes möglichst authentisch abzubilden. Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Erkenntnisinteresse besteht vielmehr in der Rekonstruktion des selektiven Zugriffs der narrativen Rede auf die vergangenen Ereignisse. Die Gliederungsstruktur der folgenden Darstellung orientiert sich an den Selektionsleistungen des Erzähltextes selbst. Spiritualität in der Kindheit Herr A. beginnt mit einem kurzen Bericht über die Struktur seiner Elternfamilie zur Zeit seiner Kindheit und schildert dann architektonische Details über das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Die Zimmer der vier Söhne werden besonders präzise beschrieben. Mit diesem Einstieg in das Interview liegt eine Art Skizze des Kosmos vor, in dem Herr A. während seiner Kindheit lebte. Die folgende evaluierend-argumentierende Erzähl66 Bereits an dieser Stelle sei auf die Ergebnisübersicht hingewiesen, die sich am Ende des Abschnitts „Synthetisch-fallübergreifende Analyse und Zusammenfassung“ befindet. Sie kann als Lesehilfe für die folgenden empirischen Analysen dienen.
148
passage gibt das Empfinden an, das das Leben in diesem Kosmos bei Herrn A. auslöst. B: Und ich kann mich erinnern, dass ich schon als Junge schon-. Ich hatte eine sehr starke so spirituelle, schon Beziehung (mh), ich habe also- die natürlich auch auf Furcht basierte (mh). Den [Name eines Theaterstücks] hast du ja gesehen. In diesem Theaterstück-, dass die=die Jugendlichen diese Erscheinungen wie Blitz und Donner (mh) ursächlich mit=mit mit metaphysischen Dingen verbinden, verbunden haben. Und dasselbe habe ich also auch gemacht (mh), ich glaubte Donner wäre der Gott der schimpft. (A/43–51)
Herr A. wird hier als Kind mit einer „sehr starken spirituellen Beziehung“ beschrieben, die auf Furcht vor zu Gottheiten hypostasierten Naturphänomenen wie Donner und Blitz basiert. Nachdem mit dem Thema Furcht ein Bezugsproblem benannt worden ist, wäre nun eine Schilderung möglicher Problemlösungsstrategien zu erwarten. Das jedoch bleibt zunächst aus. Stattdessen geht der Text erst einmal auf eine Thematik ein, die mit dem Stichwort spirituell gekennzeichnet wird. Gegebenenfalls ist diese Thematik durch die in der Eingangsfrage geäußerte Bitte bedingt, in der biografischen Erzählung auch Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche zu schildern. So wird versucht zu plausibilisieren, wie in der Familie das Thema Spiritualität im Allgemeinen verortet ist. B: Meine Eltern selbst waren nicht gläubig, mein Vater katholisch, Mutter evangelisch. Obwohl eben aus der mütterlichen Seite eben sehr viele Pastoren (mh)- also die ganze Familie eigentlich. Wir hatten noch sehr viele Bilder von-, also Ölschinken so, im Treppenhaus hängen und das waren eigentlich alle bis ins 17. Jahrhundert alles Priester gewesen (mh). Ich denke, da ist so eine Ader bei mir hochgekommen. Meine selbst war nicht gläubig. Wir gingen halt ein Mal im Jahr in die Kirche zu Weihnachten, wie das so üblich ist (ja). Sonst wurde am Wohlstand gearbeitet. Mein Vater war Wissenschaftler am [Name eines Instituts] in [Name eines Ortes] an diesem, kennst Du wahrscheinlich, diesem [Name einer wissenschaftlichen Einrichtung] (ja), dieses [Name einer wissenschaftlichen Einrichtung] (ja). Es gehört zwar zur Hochschule, der Universität (ja), nicht direkt zum [Name eines Instituts], aber da ist eben diese Abteilung auch gewesen, in der er arbeitete. Meine Mutter nur Hausfrau gewesen, was heißt nur, mit fünf Kindern (mh) war das genug zu tun. (A/51–67)
Der Bericht über die „Gläubigkeit“ der Eltern, der Verweis auf „Priester“ als Vorfahren, die Selbsteinschätzung von Herrn A. als „nichtgläubig“ und schließlich der Verweis auf den alljährlichen Kirchgang an Weihnachten und die den Familienalltag prägende Arbeit am Wohlstand verorten die spirituelle Beziehung von Herrn A. im Lebenskontext der Elternfamilie: Weder die Eltern, noch Herr A. selbst werden als „gläubig“ bezeichnet; der alljährliche Kirchgang an Weihnachten wird mit dem Argument, dass das „so üblich“ sei, begründet. Mit Belegerzählungen über die Berufstätigkeit des Vaters und der Mutter wird die einjährige Kirchgangsfrequenz weiter argumentierend ge149
rechtfertigt. Dass es bei Herrn A. dennoch „so eine Ader“ gibt, die ihn dazu veranlasst, sich selbst in einer spirituellen Beziehung stehend zu bezeichnen, wird durch den Rekurs auf Vorfahren erklärt, die „Priester“ waren und die im Elternhaus in Gestalt von „Ölschinken“ im Alltag präsent sind. Erst im Anschluss an die Ausführungen über Gläubigkeit und Kirchlichkeit in der Elternfamilie kommt der Text nun auf die Problemlösungsstrategie zu sprechen, mit der Herr A. der mit seiner spirituellen Beziehung einhergehenden Furcht zu begegnen sucht. B: Ich=ich erinnere mich eben jetzt noch mal, um auf diese spirituellen Erlebnisse zurückzukommen, dass ich mir ein Erbstück meines Großvaters, eine kleine, so eine, so ein schwarzes Liederbüchlein, dass ich mir das geschnappt hatte aus dem Buchregal und mir nachts immer vor dem Schlafengehen so ein Ritual selber gebastelt habe. Aus so einer Kerze, die ich angezündet habe (ja), und dann einfach ein Lied daraus gesungen habe. Ich hatte da immer so ein Bedürfnis (mh) nach=nach so einem Ritual (mh) und man-. Ich weiß es deshalb noch genau, also ich erinnere mich auch daran, aber meine Eltern hatten mich da beobachtet manchmal, schlichen sich eben von außen mal durchs Fenster und haben mir das später erzählt, dass sie mich da beobachtet hat (aha), wie ich da eben so viertelstündlich entweder so ein Gebetstext rezitierte beziehungsweise dann eben so ein Lied sang (mh, mh). Furchtbar, ich hatte keine Noten, also ich habe es wohl gesprochen, die Lieder (mh). Ja, ich glaube, ich habe das auch gemacht, um eben diesen strafenden Gott, der mir als nicht-, als doch es-, doch irgendwie als gefährlich erschien, zu besänftigen, weil ich nachts sehr schwer träumte (mh), unheimlich, ja schwere auch Alpträume hatte und Ängste. Für mich war das irgendwie diese Verbindung (mh) zwischen (2)-. (A/67–89)
Vor allem das hohe Maß an Indexikalität und der vorherrschende Erzählmodus der verdichteten Situation unterstreichen, dass Herr A. in dem geschilderten Ritual eine sich im Alltag bewährende Strategie gesehen hat, mit den kindlichen Ängsten vor einem „strafenden Gott“ umzugehen. Sowohl der Hinweis auf die Eltern, die Herrn A. bei diesem Ritual heimlich beobachtet haben, als auch die folgende Erzählsequenz, in der Argumente für die Realität kindlicher Wahrnehmungen und Empfindungen genannt werden, sollen belegen, dass Herr A. das geschilderte Ritual tatsächlich praktiziert und er damit auf reale Ängste reagiert hat. Das unterstreichen auch die Textpassagen, die das thematische Feld Spiritualität in der Kindheit abschließen. In einer langen Passage mit hoher Indexikalität wird ebenfalls wieder im Modus einer verdichteten Situation über die Ängste erzählt, denen sich Herr A. in der Kindheit ausgesetzt fühlte. B: Na ja, um noch mal auf so eine Erscheinung zu kommen. Ich empfand- mich hat es ganz viel- ja mit fünf Jahren zogen wir in dieses Haus (mh). Vorher hatte ich in einer Mietswohnung in einem Stadtteil von [Name einer Stadt] gelebt (mh) und da merkte ich immer, dass-. Nachts musste ich einschlafen, ich wusste, ich muss einschlafen, sonst überraschen mich wieder diese Heinzelmännchen (mh). Da erschie-
150
nen-, am Ende dieses langen Ganges auf der anderen Seite dieser Zimmer (ja), das war so ein Zimmer, so ein Flur (mh), da am anderen Ende ging eine Wendeltreppe von, oben schliefen meine Eltern im ersten Zimmer, diese Wendeltreppe ging runter bis in den Keller (mh) und aus diesem Keller „tap, tap, tap, tap, tap“ hörte ich zu einer gewissen Zeit dann diese=diese Mainzelmännchen (ja), vor denen ich allerdings- oder Zwerge- vor denen ich total Angst hatte. Die kamen den Gang runter, ich=ich hörte die Schritte näher kommen und dann „ääääh“ [Nachahmung Türgeräusch] ging die Türklinke runter (aha) und dann spürte ich, wie die mich eben untersuchten, ob ich schon schlief (mh) und wenn ich-. Einmal bin ich aufgewacht, ich erinnere mich, ich erzähle es jetzt relativ locker (ja, ja), aber für mich waren das damals Schrecken (ja) und dass dann eben-, einmal bin ich aufgewacht und ich dachte das ist jetzt das jüngste Gericht sozusagen (mh) (1) und-. Aber ich bin irgendwie wie durch so einen Zeittunnel „ffffff“ [Nachahmung rauschendes Pfeifen] in=in eine Höhle gekommen, gebracht worden, und dort war der Weihnachtsmann und sagte ganz begütig „Musst doch schlafen!“. (A/103–128)
Mit der Globalevaluation „[...] für mich war das in dem Moment so was von reell (ja) und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es nie reell war.“ Endet das erste thematische Feld des Erzähltextes. Betrachtet man das thematische Feld Spiritualität in der Kindheit als ganzes, lassen sich folgende Muster und Strukturen erkennen: Das präsentierte Bezugsproblem sind Furcht und Ängste eines Kindes. Sie werden personifiziert und an einen strengen und strafenden Gott rückgebunden. Damit ist die Grundlage geschaffen, die Dimension des Spirituellen einzuführen. Auf der Ebene des Spirituellen liegt auch die präsentierte Problemlösungsstrategie. Sie besteht in einem selbst kreierten Ritual, mit dem der von Herrn A. als Gegenüber vorgestellte Gott besänftigt werden kann. Auffällig ist, dass der Text bei der Schilderung der Problemlösungsstrategie keine Akteure nennt, die Herrn A. bei der Lösung des Problems unterstützen würden. Die Eltern werden lediglich in der Funktion von Zeugen benannt, die das Ritual von Herrn A. mit eigenen Augen gesehen haben. Die Nennung der „priesterlichen“ Vorfahren dient der Plausibilisierung dafür, dass Herr A. ausgerechnet zu einer spirituellen Problemlösungsstrategie greift. Kirchlich rückgebundene Gläubigkeit wird für die Lösung des Bezugsproblems als irrelevant dargestellt. Bezugsproblem und Problemlösungsstrategie stehen in diesem thematischen Feld des Erzähltextes in einem ausgeglichen reziproken Verhältnis: Herr A. beschreibt einen Weg, wie er mit seiner Furcht und seinen Ängsten in der Kindheit eigenständig umgehen und sie bewältigen kann. Dabei unterstreicht der Erzähltext, dass es sich – dem Bezugsproblem entsprechend – um eine dezidiert spirituelle Problemlösungsstrategie handelt.
151
Die Elternfamilie Der Erzähltext wendet sich nun der Elternfamilie von Herrn A. zu. Zunächst geht es um die Eigenschaften des Vaters. B: Mein Vater war jemand, der noch aus einem alten, wie aus einem alten Jahrhundert kam, aus dem wilhelminischen, also ein Patriarch dieser=dieses Zeitalters, auch mit diesen Vorstellungen von Erziehung (mh) (1). Nur das dazu (mh), was für Zwänge und so (mh, mh)-. Hatte sicher was damit zu tun (mh), also er war ein sehr, sehr strenger Mann, gleichzeitig aber auch natürlich sehr fest (mh) in seinem=in seinen Vorstellungen, was auch sein Gutes hatte (mh). Ich, der ich jetzt Vater bin mit zwei Kindern, weiß manchmal, was das-, dass das auch seine guten Seiten hat (ja), Grenzen zu setzen. Allerdings, mein Vater hat eben auch Gewalt ange-, also wir haben Prügelstrafe hier und da bekommen (mh). Selten, aber meine älteren Brüder doch häufiger und mit dem Rohrstock. Also ich=ich verachte Gewalt gegen Kinder absolut (ja), ich finde das-. Auch wenn ich dieses Gewaltpotential auch in mir führe, ich weiß das, spätestens seitdem ich in dem Beruf bin, mache ich das ja fruchtbar auch für meinen Beruf (ja). Aber mein Vater war sozusagen noch aus diesem Jahrhundert. (A/135-152)
Das Bild, das hier von Herrn A.’s Vater gezeichnet wird, kreist um das Thema Gewalt als Mittel der Erziehung. Erklärt wird die Gewalt des Vaters dadurch, dass er aus einem „alten Jahrhundert“ stamme. Die Haltung, die Herr A. zum Gewaltpotenzial des Vaters einnimmt, ist, so der Text, ambivalent. Einerseits steht in dieser Hinsicht eine klare Ablehnung: „Ich verachte Gewalt gegen Kinder absolut.“ Andererseits gewinnt Herr A. einem gewissen Gewaltpotenzial auch positive Seiten ab, etwa wenn es darum geht, den eigenen Kindern Grenzen zu setzen, oder das Gewaltpotenzial für den Schauspielberuf fruchtbar zu machen. Die folgende Beschreibung der Eigenschaften der Mutter weist eine Besonderheit auf: Nachdem kurz angemerkt wird, dass die Mutter ebenso wie der Vater aus einem anderen Jahrhundert stammt, wird die Bedeutung dieser Aussage nicht durch eine Schilderung der Eigenschaften der Mutter expliziert, sondern durch eine Belegerzählung über die Eigenschaften des Großvaters. Der Text illustriert und verstärkt damit die Evaluation, wonach auch die Mutter aus einem „anderen Jahrhundert“ stammt. Nach der Schilderung der Eigenschaften der Eltern respektive des Großvaters mütterlicherseits kommt der Text nun auf die Geschwister zu sprechen. Das geschieht im Vergleich zu den vorangegangenen Abschnitten in aller Knappheit. B: Meine Geschwister sind voll in die 68er-Zeit gekommen (mh), sehr viel älter als ich. (A/160–162)
Den aus einem „alten Jahrhundert“ stammenden Eltern werden kontrastierend die „voll in die 68er-Zeit“ gekommenen Geschwister gegenübergestellt. Damit wird eine Polarität zwischen „altem Jahrhundert“ und der „68er-Zeit“ aufgebaut, die jetzt näher erläutert wird. 152
B: Und somit war halt eine wahnsinns Sprengkraft in diesem Haus gegeben (ja), die Revolution sozusagen neben diesen alten Vorstellungen. Das kann man sich vorstellen (mh). Und der Großvater, das war ein Nazi (mh). Also diese-, die Geschichte, also ich kann das wirklich sagen, durch unsere Geschichte aber schon, durch meine Eltern ging der Riss der Geschichte, der durch diesen Weltkrieg (mh) entstanden ist, der uns, glaube ich, heute noch verfolgt, weil wir, weil wir dieses Erbe letztendlich nicht angenommen haben (mh) und abgelehnt haben (mh, ja) (8). (A/162–170)
Die Figur, mit der diese Passage die Sprengkraft in der Familie von Herrn A. zu plausibilisieren versucht, zeichnet sich dadurch aus, dass nicht die beteiligten Personen dafür verantwortlich gemacht werden. Vielmehr wird auch hier, wie schon bei der Beschreibung der Eigenschaften des Vaters, historisch distanzierend argumentiert und auf den Riss der Geschichte rekurriert. Die Interviewkommunikation weist nach dieser Erzählung Herrn A.’s eine mit acht Sekunden sehr lange Schweigepause auf. Wofür sie steht, ist nicht eindeutig rekonstruierbar. Da Herr A. die Haupterzählung jedoch noch lange eigenständig fortsetzen wird, kann sie nicht als Indiz für eine Ratlosigkeit über den Fortgang der weiteren Erzählung gelten. Wahrscheinlicher ist es stattdessen, dass die lange Schweigepause auf die Thematisierung eines für Herrn A. gewichtigen Teils seiner Lebensgeschichte hindeutet. Nochmals kommt Herr A. auf die Eigenschaften der Mutter zu sprechen. B: Ja, meine Mutter sehr begütigend, immer versucht nur auf Harmonie. Diesen Teil habe ich auch ganz stark geerbt, ich bin also jemand der sehr sehr stark auf Harmonie aus ist. (A/170–173)
Wie schon zuvor wird über die Mutter direkt wieder nur wenig gesagt. Das auf Harmonie Bedachtsein der Mutter wird sogleich auf Herrn A. übertragen und mündet in eine erste Beschreibung der Eigenschaften von Herrn A. B: Innerhalb der Familie war ich derjenige, der eben ausgeglichen hat (mh) (2), ich habe immer ausgeglichen, ich bin deswegen auch immer davongekommen (mh) von den=aus den Stürmen. Ich habe mich so mit meinen Geschwistern sehr gut verstanden. (A/174–177)
Das Thema Streits in der Familie dient im folgenden dazu, die Eigenschaften der einzelnen Familienmitglieder weiter zu präzisieren. So wird die Rolle des Vaters in den Familienstreitigkeiten durchaus positiv gewürdigt. B: Ich kann mich erinnern, in dieser Zeit- wir hatten zu Hause Streits, Streits bis in die Nacht (mh). Wir haben über politische Sachen diskutiert und sich gefetzt. Aber immerhin (ja), mein Vater hat sich ihnen gestellt (mh, mh), er hat sich total gestellt. Mein Vater war kein Duckmäuser, das muss man wirklich sagen (mh), das war wirklich sehr gut, auch wenn es ein teilweise sehr, sehr strenger Mensch war und gewalttätig also in seiner Ausstrahlung. (A/185–192)
153
Herr A. würdigt das Verhalten des Vaters im Kontext der Streitigkeiten: „Mein Vater war kein Duckmäuser.“ (A/189) Zugleich rekurriert der Text aber auch wieder auf die Strenge und Gewalttätigkeit des Vaters. Analog zur Mutter setzt der Text Herrn A.’s Eigenschaften jetzt auch in eine Beziehung zu denjenigen des Vaters. B: Ich glaube, ich habe auch etwas von dem geerbt von diesem gewissen, von dieser Macht auch. Die Leute sagen mir das also in meinem Beruf, dass sie mich manchmal auch-, dass ich, wenn ich zornig werde, sehr fürchterlich sein kann auch (mh). Ich habe also auch einen cholerischen Zug geerbt. (A/192–196)
Der Text stellt neben den Aspekt des mütterlichen Harmoniestrebens ein gewisses Gewaltpotenzial, das Herrn A. ebenfalls auszeichnet und mit dem der Text eine Brücke zwischen den Eigenschaften des Vaters und Herrn A. schlägt. Ein Bericht über die Verhaltensweisen der Geschwister dient nun deren näherer Beschreibung. B: Wenn meine Eltern mal nach Teneriffa flogen, dann wurde zu Hause bei uns Party angesagt (mh). Zum Beispiel so Leute waren-, wie der [Name eines Künstlers] (mh), die waren da zu Hause bei uns (aha), oder [Name einer Band], ich weiß nicht ob Du die kennst (ne), das ist eine Gruppe, die eigentlich, so in [Name einer Stadt] war, das so-, Kultstatus hatten die (mh), die haben dann ihre-, wurden aufgebaut in unserem Hobbykeller (ja). Ja, dann wurden halt Drogen genommen, gekifft, LSD. (A/198–205)
Diese Passage dient der vertieften Illustration der spannungsgeladenen Polarität, die das Verhältnis zwischen Herrn A.’s Eltern und seinen Geschwistern ausmacht. Gleiches gilt für die folgende Passage, die dem Lebensstil der 68er-Generation die Erlebnisse des Vaters während seiner Militärzeit und seine daraus resultierende Haltung gegenüberstellt. B: Also ich kann mich erinnern, mein Vater der war auch sicher in einer wahnsinnigen Bredouille, einerseits immer dieses Misstrauen von uns Kindern „Was hast du in der Nazizeit gemacht?“, weil, er war Soldat, achtzehn war er als der Krieg begann (mh) und (1) ja dreiundzwanzig als der Krieg aufhörte (mh), vorher Arbeitslager und diese Sachen (mh) und, ja gut, Abitur noch grade gemacht (mh) mit achtzehn und ist dann irgendwie relativ flott überrascht worden, als er Feindsender abhörte (mh), er war Funker, ist deswegen- durfte nie-, also war vorbestraft, ist deswegen nie in diese-, durfte nie mehr als Unteroffizier werden. Also, er hat einerseits gegen diesen Apparat einen wahnsinns Hass gehabt (mh), und aber auch gegen die Kinder, die ihn verachtet haben (mh). Und wir wussten natürlich nicht, was mein Vater auch gemacht hat. Er war in Italien, er war in Norwegen und das hat er nicht gesagt. Wenn, dann hat er letztendlich die Zeiten eher, nicht verherrlicht kann man sagen, aber schöngeredet (mh). Nein, also mit der Wehrmachtsausstellung (ja), das hat er vollkommen-, hat gesagt „Das gibt es nicht“ (mh), das hat er- „Da gab es keine Schweinereien“ und „Nein, Juden wurden überhaupt nicht ausgesucht in Italien“. Da gibt es doch dieses Buch (mh) von der, wie heißt sie noch mal (2), ja fällt mir jetzt nicht mehr ein, so ein berühmtes Buch von einer
154
italienischen Schriftstellerin, und da hat er sich damals unglaublich aufgeregt darüber, weil es-, da kamen eben die Greuel der Nazis (ja) in Italien, auch diese Säuberungsaktion in Rom (ja) im jüdischen Getto, kam da zur Sprache und er hat das vollkommen abge- „Das gibt es nicht, das gab es nicht“. (A/211–237)
Was sich in den vorangegangenen Abschnitten über den Vater bereits zu erkennen gibt, wird hier besonders deutlich: Herr A. versucht auch für die problematischen Seiten seines Vaters Verständnis aufzubringen. Das geschieht im Rahmen des ausführlichen Berichts über den Wehrdienst des Vaters und die Betonung der Bredouille, dass der Vater seinen Kindern gegenüber etwas rechtfertigen oder gar verteidigen musste, worunter er faktisch selbst gelitten hat. Abermals präsentiert der Text in der Erzählform der verdichteten Situation eine Streitszene aus der Elternfamilie von Herrn A. Nach der näheren Beschreibung der Konfliktparteien wird die in der Familie herrschende spannungsreiche Polarität weiter illustriert. B: Also ständig, wenn diese Themen auf der Tagesordnung waren (mh), dann ging das von null auf hundert ging das los (mh, ja). Also die Diskussionen bei Familienfesten (mh), vorher Harmonie, rumms und dann waren die verfeindet. Und meine Mutter „Hilfe, nein Kinder versündigt euch nicht!“ (mh) oder „Lasst uns doch jetzt ruhig bleiben!“. Und das ging aber nicht, weil da waren so einfach Fronten (mh). Aber ich glaube, das kennen=kennen viele (mh). Aber natürlich in dieser=dieser Kriegsgeneration wie mein Vater, dieses waren wirklich extreme Parteien. (A/237–246)
Das Problem der Fronten zwischen den Generationen wird als nicht lösbar dargestellt. Wie schon zuvor werden für die Existenz dieses Problems nicht die Eltern und Geschwister von Herrn A. verantwortlich gemacht, sondern die besonderen historischen Konstellationen. Das thematische Feld über die Elternfamilie endet mit weiteren Ausführungen über die Eigenschaften von Herrn A. und seine Rolle im Kontext der Familienspannungen. B: Also, ich war ja da so ein bisschen dazwischen und ich war ein bisschen dann der=der=der- wie der Deichgraf, oder so dazwischen (ja). Ich hatte so einen Narrenstatus (mh), weil ich so was witziges hatte, ich habe sehr viele Dinge durch Witz aufgelöst (mh) (1) und konnte meinem Vater Dinge sagen, wo die anderen nur mit den Ohren geschlackert haben (mh). Denen hätte er den Kopf abgerissen, aber nicht-. Ich hatte so einen Narrenstatus (ja), deswegen bin ich wahrscheinlich-, da habe ich eben meine schauspielerische Ader gespürt (ja), dass ich Witze machen kann und, ja darüber, und gleichzeitig habe ich eben zu allen beiden Fraktionen, habe ich ein gutes einvernehmliches, ein gutes und einvernehmliches Verhältnis gehabt (mh). Das war schon erstaunlich. (A/246–258)
Auch wenn die vorangegangene Textpassage das Problem der Streitigkeiten in der Familie ungelöst stehen lässt, so geben diese Zeilen zumindest wie155
der, wie Herr A. mit dem Problem umgegangen ist. Der Text stellt Herrn A. als gewitzten Vermittler zwischen den Fronten dar, der zu „allen beiden Fraktionen [...] ein gutes und einvernehmliches Verhältnis“ gehabt hat. Insgesamt kreist das thematische Feld um das Bezugsproblem des Konflikts zwischen der Kriegsgeneration und der Generation der sogenannten 68er. Die Interaktionspartner sind Herr A. selbst, seine Eltern – vor allem sein Vater – und seine Geschwister. Da das Bezugsproblem des Generationenkonfliktes, wie der Rekurs auf die historischen Umstände immer wieder zu belegen sucht, von den beteiligten Familienmitgliedern nicht gelöst werden kann und im thematischen Feld somit auch keine Lösung dafür präsentiert wird, bietet der Text zumindest für Herrn A. eine partielle Lösung. So stellt der Text Herrn A. als Vermittler zwischen den Fraktionen dar. Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf der Beschreibung von Herrn A.’s zumindest bedingtem Verständnis für die Situation und Geschichte seines Vaters sowie der teilweise erfolgenden Identifizierung auch mit den problematischen Eigenschaften des Vaters (Gewaltätigkeit). Herr A. löst das Problem für sich, indem er versucht, den Vater zu verstehen und auch seine eigenen Eigenschaften, die er als Erbschaft des Vaters betrachtet, zu problematisieren. Er ist beiden Fraktionen gegenüber gesprächs- und handlungsfähig und kann sich als Vermittler in der innerfamiliären Dynamik platzieren. Hinsichtlich der Lösung des Bezugsproblems muss trotzdem festgehalten werden: Als gelöst lassen die Ausführungen dieses thematischen Feldes den innerfamiliären Generationenkonflikt nicht stehen. Lediglich für Herrn A. wird unter dem Stichwort Vermittler eine Problemlösung angeboten. Ausbruch von zu Hause Obwohl der Text für Herrn A. eine Problemlösung bietet, setzt er nun einen Kontrapunkt und überführt die zuvor geschilderte Problemlösung als nicht tragbar. B: Nun trotzdem ist das dann halt so weit gekommen, dass ich irgendwann mal diese, dieses Hüh und Hott nicht mehr ausgehalten habe (mh) und auch ausgebrochen bin (mh) von zu Hause. Ich bin mit sechszehn von zu Hause weggelaufen, und das kam natürlich in der Pubertät, das hat mich sehr gerüttelt (mh), ich erinnere mich, es war eine komische Zeit. (A/258–264)
Der Ausbruch von zu Hause ist eine weitere vom Text benannte Strategie, mit der Herr A. versucht, mit den Spannungen zwischen seinen Eltern und seinen Geschwistern umzugehen. Durch den Verweis auf die Pubertät, die hier als komische Zeit gewertet wird, bezieht der Text sogleich Stellung zur präsentierten Problemlösung des Weglaufens von zu Hause: Die Problemlösung wird problematisiert. 156
Bevor der Text die eigentliche Geschichte vom Ausbruch erzählt, knüpft er an das Thema Pubertät an und berichtet von ersten Erfahrungen, die Herr A. mit Mädchen hatte. B: Ja Liebe, also die ersten Erfahrungen zum Beispiel im Frankreichaustausch. Ich hatte eine total romantische Vorstellung von Liebe, die überhaupt nicht mit modernen Gesichtspunkten oder mit=mit den Vorstellungen der jungen Mädels zum Teil korrelierte (mh). Sondern das waren einfach- ich wollte eher, na ja erst mal Gespräch (mh), ein sanftes, eine sanfte Annäherung (mh). Die zogen eben Jungs vor, die sie eben schon mal gleich in die Geheimnisse der=der näheren Liebe also halt, der fleischlichen Lust (ja, mh) halt, einführt. Und ich habe ja darunter auch gelitten, weil ich-. Das merkte ich, ich will das gar nicht (mh), ich bin anders. (A/264–274)
Die Erzählpassage wirft die Frage auf, warum sie an dieser Stelle eingeschoben wird. Eher wäre zu erwarten gewesen, dass der Text unmittelbar mit der Schilderung des Ausbruchs von zu Hause fortfährt. Unter dem Aspekt der Sequenzialität von Problem und Problemlösung kann an dieser Stelle zunächst nur festgehalten werden, dass mit der evaluierenden Aussage „[...] ich habe ja darunter auch gelitten“ eine Problemanzeige erfolgt. Erst jetzt geht der Text zum eigentlichen Bericht über den Ausbruch von zu Hause über. Mit einer Vorabinformation über die Zeit vor dem Ausbruch beginnt die Geschichte. B: Und dann habe ich meine mittlere Reife gemacht auf dem Gymnasium, bin runter, wollte- habe mir gesagt „Ich muss was=was Faktisches brauche ich“ (mh, mh), habe eine Landwirtschaftslehre gemacht (ja), besser gesagt, erst=erst ein Fach-. Ich wollte mein Fachabitur machen auf so einer Fachhochschule für- ich wollte das noch nicht so ganz konsequent machen (ja)- für Forstwissenschaften (mh) in [Name einer Stadt]. Da bin ich also weg von den Eltern in ein Internat gegangen (ja), dort in die Schule, kam so Wochenends nach Hause. (A/274–282)
Es fällt auf, dass der Wechsel auf das Internat und damit ja auch das Verlassen des Elternhauses noch nicht als eigentlicher Ausbruch von zu Hause charakterisiert werden. Die Formulierung „[...] ich wollte das noch nicht so ganz konsequent machen“ deutet auf die Vorläufigkeit dieses Schrittes hin. Dabei bleibt unklar, ob sich die mangelnde Konsequenz auf die erwähnte Landwirtschaftslehre oder den Ausbruch von zu Hause bezieht. Erst nach diesem Zwischenschritt folgt die Geschichte vom eigentlichen Ausbruch aus dem Elternhaus. B: Ich war aber so ein Muttersöhnchen trotzdem (mh), dass ich das nicht ertragen habe, so von zu Hause-. Wie so eine ganz zarte Pflanze noch (ja). Und bin eben irgendwann in einer Novembernacht im November nach einem Wochenende zu Hause, wo ich sagte ich, brauche jetzt Schulgeld für Internatsgeld 250 Mark oder so was und Bücher und Literatur und so, dieses Geld habe ich mir genommen (mh), habe mich an eine Autobahn gestellt und bin in den Süden getrampt, abgedüst. (A/282–290)
157
Bemerkenswert an der Erzählpassage ist, dass sie eine zusätzliche Begründung für den Ausbruch von zu Hause nennt. Indem der Text Herrn A. als „Muttersöhnchen“ tituliert, das unter dem Getrenntsein von zu Hause leidet, wird die Problemlage, die den Ausbruch von zu Hause motiviert, gleichsam dialektisch konstruiert: Wurde bislang die zu Hause herrschende Spannung zwischen den Generationen als Begründung für den Ausbruch genannt, so tritt nun das Leiden unter dem von der Familie Getrenntsein als Beweggrund für den Ausbruch hinzu. Insgesamt ist dem Text sehr daran gelegen, den Ausbruch von zu Hause zu plausibilisieren. So schildert im folgenden zunächst eine kurze Belegerzälung, wie Herr A. während seiner Gymnasialzeit zusammen mit Freunden davon träumte, nach Zentralafrika auszureißen: „‚Weg, weg!‘ aus diesem=aus dieser tristen Welt“. Was es für Herrn A. bedeutet, wenn er an dieser Stelle von einer tristen Welt redet, kommt in einer weiteren Belegerzählung zur Sprache. B: Ich war auf einem Gymnasium gewesen, [Name eines Gymnasiums] (mh) nahe am Institut meines Vaters (mh), auch in [Name einer Stadt]– glaube ich. Immer sehr ja verglichen (ja) mit dem Vater, der arbeitete mit Leuten wie [Name eines Wissenschaftlers] halt und [Name eines Wissenschaftlers] (mh) und diese ganzen Physiker und so (mh). Die waren, die Erfinder der Wasserstoffbombe, diese Leute, die arbeiteten mit ihm zusammen (mh), waren auch bei uns zu Hause, also das waren irgendwie-. Und wenn ich in Physik, ich war schlecht in Physik zum Beispiel (mh). Ich habe sehnlichst bewundert meinen Vater diesbezüglich. Aber ich habe auch drunter gelitten (mh), dass eigentlich die anderen Sachen, zu denen ich mich eher hingezogen fühlte wie Gedichte, die schönen Künste, Belletristik, ja so Theater, Musik (mh), das war halt mein- bei mir zu Hause überhaupt nicht (mh)-, das war total verkarstet diesbezüglich. (A/298–312)
Der Text konstruiert hier eine Spannung zwischen der väterlichen Welt der Physik und den musischen Vorlieben von Herrn A.: Die Bewunderung für den Vater als erfolgreichem Physiker geht einher mit der Leidenserfahrung, vor dem Vater in Sachen Physik nicht bestehen zu können und stattdessen die eigenen Vorlieben im musisch-künstlerischen Bereich zu verorten. Die evaluierende Aussage, zu Hause sei das „total verkarstet“ gewesen, unterstreicht das Leiden von Herrn A. unter der Situation. Die Ausweglosigkeit von Herrn A.’s Situation wird durch den Rekurs auf die Mutter weiter illustriert. Die ausführliche Schilderung der Situation, in der sich die Mutter befindet, plausibilisiert abermals den Ausbruch von Herrn A. Der Text konstruiert in dieser Passage so etwas wie ein Parallelschicksal der Mutter zu dem von Herrn A.: Verbindendes Moment zwischen Herrn A. und seiner Mutter ist die Vorliebe für das Musische und Künstlerische. Auch sie ist aus dem Haus des Vaters („verkniffener Mann“) geflohen und hat Herrn A.’s Vater geheiratet. Doch hat diese Flucht nicht 158
zum gewünschten Erfolg geführt. Sie steht jetzt unter der „Knute“ von Herrn A.’s Vater und hat sich „letztendlich [...] auch aufgegeben“. Erst jetzt, nachdem die Motivation für den Ausbruch von zu Hause umfassend und facettenreich geschildert wurde, erzählt der Text die Geschichte vom Ausbruch. B: Na ja, auf jeden Fall bin ich eines=einen November bin ich, stand ich auf der Autobahn mit 16, 17, fast 17, ja (mh) und bin abgedüst. (A/324–326)
Wohl um den Mut zu unterstreichen, der hinter diesem Schritt steht, erwähnt der Text, dass die Freunde, die ursprünglich auch mit ausbrechen wollten, gekniffen haben. Nachdem der Text kurz von einem Zwischenstopp in Mailand berichtet, erzählt er nun ausführlich die Geschichte vom Aufenthalt Herrn A.’s in der Kommune Longomai in Südfrankreich. B: Trotzdem, bin dann weiter an der Cote d’Azur entlang (mh). Ich hatte nämlich gehört über Fernsehberichte und über Berichte, die ich aus Zeitungen gelesen hatte, von Longomai (mh). Das war damals so eine Landkommune, die in Europa ziemlich in aller Munde war (mh), weil sie-. Die hatten, wodurch auch immer, Geld gehabt (ja) und sich so 200 Hektar Eichenwald bei Aix en Provence (mh) gekauft (mh) und bewirtschafteten dieses Land (mh) forstwirtschaftlich wie auch im Acker=mit Ackerbau. (A/342–349)
Der neutral gehaltene Bericht schildert zunächst, wie Herr A. auf die Kommune aufmerksam wurde und wodurch sie sich auszeichnet. In einer ersten Evaluation bringt der Text Herrn A.’s ambivalente Haltung zur Kommune Longomai zum Ausdruck. B: Ich hatte davon gehört und es waren irgendwie ganz tolle Berichte. Das änderte sich ziemlich schnell, als ich dann merkte, als ich dort war, dass das einen ziemlich politischen (mh) hierarchischen Rahmen hatte alles. (A/349–353)
Die folgende Beschreibung knüpft an dem Negativaspekt (politisch, hierarchisch – im Unterschied zu toll) dieser Evaluation an und schildert die politische Ausrichtung der Kommune. B: Das waren also irgendwelche Gruppen aus der Studentenrevolution heraus, aus der 68er-Bewegung kommende, Spartakus (mh), Hydra, so waren die Namen der Gruppen (mh), es waren hauptsächlich also=so sozialistische Gruppierungen aus=aus Schweiz, also Schweiz, Österreich und Deutschland (ja), und die arbeiteten sehr politisch. Und was ich hörte so, ich kann es nicht bestätigen, aber ich hörte so im Umfeld, dass die auch Guerillaausbildung machen, sie hatten sich sehr stark in Nicaragua engagiert (mh) für die Sandinisten. Und, also mir war das nicht fern. (A/353–362)
Mit der Aussage „also mir war das nicht fremd“ versucht der Text in gewisser Weise, Herrn A. in ein positives Verhältnis zur politischen Ausrichtung der Kommune zu setzen. 159
Doch schon die folgende Evaluation ändert wieder die Richtung und betont Herrn A.’s Ablehnung. B: Mir wurde zum Beispiel verboten, mit meines Gleichen zu sprechen (mh). Das hatte totalen Lagercharakter. (A/362–364)
Was unter „totalem Lagercharakter“ zu verstehen ist, illustriert die folgende, stark indexikale Belegerzählung. B: Und da ich-. Irgendwie, das war wieder das Erbe meines Vaters, das (ja), das habe ich nicht geduldet (mh), das wollte ich nicht mit mir machen lassen. Ich habe mir das zwei Wochen angeschaut (mh) oder drei Wochen, ich weiß es gar nicht wie lange, und, es war schon länger, es war schon länger, ich glaube es waren eineinhalb Monate (mh). Steine geschleppt oben auf dem Acker, Findlinge auf einen Traktor geschleppt (mh), auf einen Wagen und Holz gefällt bis mir die Hände total blutig waren von Blasen und so, nichts gewöhnt in dem Sinne (mh). Abends wurden wir immer in ein Lager, in ein Zentrallager nach unten gerufen (mh), mussten wir aus den Bergen, also die Berge immer unten in das Zentrallager. Da waren dann so 100, 150 bis 200 Leute zu großen Essen (mh), zum Abendessen dort unten. Dort gab es also so einen Thing, so eine=so einen Versammlungskreis (mh), da wurden die Probleme des Tages besprochen, und wenn jemand etwas anzumelden hatte, musste er in diesen Kreis gehen in die Mitte (mh). Und ich habe also in den Wochen dort einen Katalog (mh) zusammen-, und da bin ich also an einem Tag nach unten, bin ich dann runter, habe dann meine Kritikpunkte genannt (ja). Daraufhin wurde ich ins Bett geschickt (mh) und am nächsten Tag wurden meine Sachen vom Schlaf-, dort oben wo wir schliefen in der Hütte (mh) im Holzfellerlager, wurden nach unten geschafft, wurde mit dem Jeep irgendwo wieder nach Aix en Provence geschafft (mh) und dann rausgelassen, rausgeschmissen. (A/364–387)
Die Begründung, die der Text für Herrn A.’s Verhalten nennt, unterstreicht abermals die ambivalente Haltung, in der Herr A. zu seinem Vater steht: Wurde der Vater in seiner Eigenschaft als Physiker und strenges Familienoberhaupt, unter dem die Mutter von Herrn A. zu leiden hat, zu Beginn des thematischen Feldes noch als Grund für den Ausbruch Herrn A.’s von zu Hause inszeniert, so erweist sich die „Erbschaft“ des Vaters nun als positives Instrument, um gegen die unzumutbaren Lebens- und Arbeitsumstände in der Kommune zu protestieren. Folge des Protests, so der Text, ist der Rauswurf aus der Kommune und auch das Ende des Ausbruchs von zu Hause. In der funktionalen Folge der Sequenzialität des Textes ist mit dieser Belegerzählung die Grundlage geschaffen, Herrn A.’s Rückkehr ins Elternhaus als plausiblen Schritt darzustellen. Der Schritt wird als Ausbruch aus dem Ausbruch geschildert. B: Mein Vater hatte mittlerweile rausgefunden, dass ich dort gewesen war. Vielleicht haben wir das- auch irgendwie mich gerettet (mh). Ich habe mit ihm telefoniert und da sagte er „He Jung, bitte komm zurück, wir machen dir überhaupt keine Vorwürfe, wir wollen in Zeit alles rausfinden (mh), was du machen kannst“, und so
160
„Du sollst das entscheiden, niemand sonst“ (mh). Ja, und das hat mir das sehr erleichtert. (A/391–397)
Die positive Attribution des Vaters setzt sich in dieser Passage fort. Er erscheint als verständnisvoller Mensch, der seinem Sohn helfen möchte, und dies auch tatsächlich tut, wie der evaluierende Zusatz „ja und das hat mir das sehr erleichtert“ unterstreicht. Nach einer kurzen Rückblende, in der nochmals die schlechten hygienischen Bedingungen der Kommune erwähnt werden, erzählt der Text die Geschichte von Herrn A.’s Rückkehr zu seinen Eltern. B: Also, ich bin da zurück und hatte noch so viel Geld, dass ich mit dem Zug zurückkam, 240 Mark gestartet und hatte noch immer zweieinhalb Monaten so viel Geld (ja), Du siehst, ich habe nichts ausgegeben (ja, ja). Und dann kam ich zurück eines morgens, da war ich- meine Eltern schliefen noch- habe ich geklopft, da stand ich dann im Schlafzimmer bei ihnen (mh). Und dann hatte ich erfahren, dass mein Vater Nächte lang geheult hatte (mh), mein strenger Vater (ja), ich konnte damit nicht richtig umgehen, weil es dem Bild meines Vaters (mh) nicht entsprach. (A/403–412)
Auch dieser Textpassage ist wieder daran gelegen, den Vater in einem anderen als dem bisher präferierten Licht erscheinen zu lassen: Dem strengen Vater wird der emotional positiv mit seinem Sohn verbundene Vater gegenübergestellt. Das thematische Feld Ausbruch von zu Hause knüpft an das vorangegangene thematische Feld an und präsentiert erneut eine Strategie, mit der Herr A. das Problem des in seiner Familie herrschenden Generationenkonflikts zwischen seinen Geschwistern und Eltern zu lösen sucht. Schon zu Beginn des thematischen Feldes wird die gebotene Problemlösung mit dem Attribut komisch in Frage gestellt. Was genau mit komisch gemeint ist, muss dabei jedoch offen bleiben. Klar erkennbar ist, dass Herr A. trotz seiner Vermittlerposition zwischen Eltern und Geschwistern persönlich unter der familiären Situation leidet. Die Hauptbegründung, die der Text in aller Ausführlichkeit für das Leiden anführt, ist die Dominanz naturwissenschaftlichen Denkens, mit dem der Vater als erfolgreicher Physiker das Klima zu Hause prägt. Die künstlerisch-musische Ader von Herrn A. kann sich dort nicht entfalten. Als Problemlösung, mit der Herr A. der für ihn belastenden Situation im Elternhaus zu entkommen versucht, wird der Ausbruch aus dem Elternhaus angeboten. Auffällig ist, dass der vom Text erwähnte Wechsel auf ein Internat noch nicht als eigentliche Problemlösung präsentiert wird. Als solche inszeniert der Text erst das Weglaufen in eine südfranzösische Kommune – also den Ausbruch sowohl aus Elternhaus als auch aus dem Internat. Mit dieser Problemlösung wirft der Text jedoch sogleich das nächste Problem auf: Herrn A.’s Leiden unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen 161
in der Kommune. Die nun sich im Text anbahnende Problemlösung überrascht, da dem Vater von Herrn A. dabei eine wichtige positive Rolle zukommt. Was sich in den beiden vorangegangenen thematischen Feldern bereits angedeutet hat, nämlich, dass Herr A. den problematischen Seiten seines Vaters auch etwas Positives abgewinnen und sie sich zunutze machen kann, wird hier ausgeführt. Die nachdrückliche Bestimmtheit und Strenge des Vaters, die Herr A. von seinem Vater glaubt geerbt zu haben, versetzt ihn in die Lage, gegen die Verhältnisse in der Kommune zu protestieren. Bisher vernachlässigte positiv-emotionale Seiten des Vaters sind es auch, die der Text als Voraussetzung für Herrn A.’s Rückkehr nach Hause nennt: Der Vater zeigt Verständnis für Herrn A.’s Situation und bietet ihm Hilfen zu deren Klärung an. Das Ausgangsproblem des Leidens unter dem naturwissenschaftlich geprägten Vater, angesichts dessen Herr A. mit seinen künstlerisch-musischen Vorlieben nicht bestehen kann, wird durch das vom Text genannte Verhalten des Vaters mit einer Lösung versehen. Berufssuche Die Ausgestaltung des Freiraumes, den Herr A. nach seiner Rückkehr vorfindet, ist Thema dieses thematischen Feldes. Es erzählt, wie Herr A. zum Beruf des Schauspielers gekommen ist. Zunächst berichtet der Text über die Landwirtschaftslehre von Herrn A. Dabei wird ein in sich geschlossener Spannungsbogen von Problem und Problemlösung gezeichnet: Zunächst werden einige gescheiterte Versuche mit Jobs und zwei Landwirtschaftslehren geschildert. Für das Scheitern werden primär das „rebellische Wesen“ von Herrn A. und seine Aversionen gegen Kritik verantwortlich gemacht. Wieder bringt der Text die Eigenschaften von Herrn A. mit dessen Vater in Verbindung. Die Lösung des Problems besteht dann nicht darin, dass Herr A. an sich arbeitet und kritikfähiger wird. Vielmehr, so der Text, ist er im dritten Lehrbetrieb bereits so geübt, dass er weniger kritisiert wird und sich dort nun voll entfalten kann. Im Anschluss daran folgt ein Bericht darüber, wie Herr A. das Abitur an der Berufsoberschule nachholt. B: Na ja, und dann habe ich mein Abitur nachgemacht in einer Berufsoberschule (mh), da fiel mir dann die Schule total leicht (mh). Ich war ausgedürstet, ich war ausgedürstet. Eeigentlich hatte ich ja gedacht, will ich vielleicht weiterarbeiten, also diese Arbeit, diese Arbeit die hat mich schon sehr geprägt (ja). Also auch eines war-, dieser zweite Betrieb war im, so auf 1000 Meter Höhe (aha), im [Name einer Landschaft], das war ein Bergbauernhof und mit-. Im Nachbarort war eine Käserei, da habe ich im Winter gearbeitet (mh), Käse im Akkord gesalzen (mh), da habe ich mir ein Zubrot verdient. Und diese Natur mit diesen Kühen und so mit den Tieren das, das muss ich dazu sagen, das ist eine-. Also die väterliche Linie (mh) ist ein altes Bauerngeschlecht aus dem Rheinland (ah ja), das kam also anscheinend in mir hoch (mh). Mein Vater
162
hatte das nicht gekonnt, weil, ihn hat das irgendwo geekelt oder er hatte Ausschläge bekommen von Erde (mh), das glaube ich allerdings nicht, ich glaube das war seine=seine Hochart war das (ja), er wollte was anderes werden, was Besseres. Und diese Hochart ist einfach auch als Grundzug in unserer Familien enthalten (mh), so was ja bisschen Hochnäsiges (mh), wir sind was Besseres (2). Na ja, und das hat mich doch sehr geprägt und mein ganzes Leben, diese Sehnsucht, auch jetzt im Theater (mh) ist immer diese Sehnsucht nach der Natur (mh, mh) und ganz stark nach-. Ja, da in der Natur sehe ich sehr starke Bezüge zum Anderen (ja), also da spüre ich Gott sehr stark (mh), in der Natur, doch also das ist-. Schon als Kind sind wir immer im Sommer in die Berge gefahren (mh), ins Hochgebirge in die Dolomiten. Und jetzt mit meinen so Gotterfahrungen, die ich irgendwie im Laufe der Jahre als Erwachsener gesammelt habe, da hat sich so was ganz einfach verstärkt und vertieft (mh), sich das in der Natur (ja)-. Ja, dann habe ich Abitur nachgemacht (mh), war eine schöne Zeit (mh) (3) in dieser Klasse mit Bauernkindern und ein paar so verspränkselten Aussteigern wie mir (mh). Ich verstand mich total gut mit denen. (A/434–467)
Die Textpassage zeichnet sich dadurch aus, dass sie formal zwar über Herrn A.’s Zeit an der Berufsoberschule berichtet. Den größten Raum jedoch nehmen Ausführungen über Herrn A.’s Verhältnis zur Natur ein. Die funktionale Begründung, die der Text dafür bietet, besteht in Herrn A.’s Überlegung, in der Landwirtschaft weiter zu arbeiten, und in dem Hinweis, dass ihn die Arbeit in der Landwirtschaft insgesamt geprägt habe. An der Schilderung von Herrn A.’s positivem Verhältnis zur Natur fällt auf, dass es durch den Rekurs auf die Vorfahren väterlicherseits erklärt wird (Bauerngeschlecht). Ebenfalls fällt auf, dass der Text nun wieder eine Opposition zwischen Vater und Sohn konstruiert, indem er der positiven Haltung, die Herr A. zur Natur und zur Landwirtschaft hat, eine negative Haltung des Vaters gegenüberstellt. Warum der Text im Zusammenhang mit Herrn A.’s Natursehnsucht auf die Gotteserfahrungen zu sprechen kommt, die Herr A. in der Natur macht, muss in funktionaler Hinsicht an dieser Stelle noch offen bleiben. Zwei Überlegungen seien jedoch genannt: Zum einen könnte der Verweis auf Gotteserfahrungen in der Natur unterstreichen, dass die Verbundenheit mit der Natur für Herrn A. eine existenzielle Bedeutung hat. Zum anderen kann die Thematisierung der Gotteserfahrungen auch mit der eingangs erteilten Erzählaufforderung zu tun haben. Schließlich kam der Text trotz der Aufforderung, auch von Erfahrungen und Erlebnissen mit der Kirche zu berichten, bislang nur im ersten thematischen Feld auf das Thema zu sprechen. Vielleicht bietet das Thema Natur eine Möglichkeit, die bisher kaum erfolgte Bezugnahme auf Kirche durch den Hinweis auf religiöse Erfahrungen in der Natur zu plausibilisieren. Die Episode könnte dann verstanden werden als biografische Reformulierung des sozial verankerten Argumentationsmusters, dass man Gott doch besser in der Natur als hinter Kirchenmauern erfahren könne. 163
Die folgende Passage knüpft an die Evaluation an, wonach die Zeit auf der Berufsoberschule eine schöne Zeit gewesen sei. Begründet wird das mit der dort herrschenden Harmonie und der Anerkennung, die Herr A. dort erlebt hat. In dieser Zeit, so der Text, hat Herr A. erste Kontakte zum Theater. B: Und in dieser Abiturzeit in dieser Berufsoberschule habe ich Kontakt mit Theater (mh), eine Theatergruppe (2) gefunden. Ich hatte damals schon im Gymnasium, war ich natürlich so-. Ich war=ich bin aus einer sehr sprachbewussten Familie, komme ich, die sehr gerne diskutiert hat (mh). Ich bin jetzt kein Rhetoriker, überhaupt nicht, aber ich habe so ein Bewusstsein für Sprache oder ich kaue sie gerne (mh). Und man hört bei uns in der Familie, wenn man drei meiner ältesten drei Brüder und mich am Telefon-, selbst sehr nahe Bekannte können uns manchmal noch nicht auseinanderhalten (mh) sowohl vom Stimmenfall [...] als auch von der Artikulation (mh), ganz merkwürdig (ja) (2). Und schon in der, im Gymnasium hatte ich eben so eine=so eine, immer so Lesewettbewerbe gemacht (mh). Und damals, als unsere Schule zum [Name eines Wissenschaftlers] Gymnasium getauft wurde und dann große Gesellschaft von tausend Leuten kam, auch [Name eines Wissenschaftlers], da hatte ich dann Gedichte rezitiert und so (mh). Also ich hatte schon zur Sprache zumindest eine Verbindung schon damals, aber zum Agieren, zur darstellenden Kunst eigentlich nicht (mh). Das kam in [Name einer Stadt] eben dann, so ein kleines Theater [Name einer Stadt] suchte, die suchten, hatte ich gehört, die suchten irgendwie Leute, die für Theaterzeitung irgendwie Layout (mh) bereiten könnten und so was. Und da habe ich mich beworben und gerade an dem Abend, als ich da kam, fiel der Hauptdarsteller aus (mh), einer der Hauptdarsteller- (1) und ich-. Dann fragten sie mich „Hast du denn nicht Lust“. Eine Frau, die Mutter fiel aus, und die wurde schnell als Bruder umgeschrieben (aha) und da habe ich gesagt „Ja gut“. Zwei Wochen waren noch bis zur Premiere (ja). Habe ich den Text gelernt und das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Dann blieb ich bei dieser Gruppe dabei (ja), auch nach dem Abitur noch (mh, mh), habe das so drei Jahre mit diesem Laientheater haben wir zusammengearbeitet. (A/478–509)
Noch bevor der Text auf die näheren Umstände eingeht, wie Herr A. mit der Theatergruppe in Kontakt kommt, wendet er einen großen Raum zur Plausibilisierung von Herrn A.’s Kontakt zum Theater auf. So wird auf das Sprachbewusstsein von Herrn A. verwiesen und auch – betont durch die Textform der verdichteten Situation – seine Routine beim Rezitieren von Texten herausgestellt. Die eigentliche Begegnung zwischen Herrn A. und der Schauspielgruppe wie auch die Art und Weise, wie er zu seiner ersten Rolle kam, wird als eher zufälliges Geschehen beschrieben. Die Aussage „das hat mir sehr viel Spaß gemacht“ und der Bericht über die dreijährige Zugehörigkeit zur Theatergruppe evaluieren Herrn A.’s Zugang zum Theater positiv. Die folgende Passage berichtet über die Zeit nach dem Abitur. B: Nach dem Abitur bin ich in die WG zu meinem Bruder nach [Name einer Stadt], zu meinem ältesten Bruder gezogen (mh). Das war auch eine total schöne Zeit (9). Meinem ältesten Bruder ja, den ich so bewundert hatte, jetzt so fast gleich auf gleich mit ihm zusammenzuleben (mh), so als erwachsen zu gelten, und sogar hier und
164
da, wenn es ums Flirten ging, den ersten Preis zu gewinnen (mh) (2). Ja, waren total die Mädels halt, hat total Spaß gemacht. Ich war zwar nie so ein=so ein Wilder oder so, aber ich war-. Es war eine sehr schöne Zeit, die schönen Sommer an der [Name eines Flusses] und (mh), das habe ich sehr genossen. Und ich habe da auch sehr, sehr innig innige Beziehungen gehabt (mh) (2). Es fing eben an-, er hatte eine Lerngruppe, Mediziner war er, und da war eine in seiner Lerngruppe war drin, [Name einer Frau], auch eine Ärztin, in die hatte ich mich total verliebt in die, aber das war eine femme fatale (mh). Trotzdem, es war wahnsinnig. Na ja, es war eine sehr schöne Zeit. (A/509–525)
Gleich zu Beginn der Passage fällt die mit 9 Sekunden sehr lange Redepause auf, die Herr A. nach der Evaluation „das war auch eine total schöne Zeit“ folgen lässt. Welche Funktion die Redepause im Rahmen der Interviewkommunikation spielt, ist nicht genau zu klären. Wahrscheinlich unterstreicht sie jedoch, dass die folgenden Ausführungen für Herrn A. von hoher Bedeutung sind. In funktionaler Hinsicht unterstreicht die Sequenz die positive Evaluation der vorangegangenen Passage: Herr A. fühlt sich in der Zeit nach dem Abitur wohl. Sowohl das Zusammenleben mit dem ältesten Bruder – „jetzt so fast gleich auf gleich“ – als auch die Erfolge beim Flirten mit Frauen werden vom Text als Ursachen dafür benannt, dass es ihm in dieser Zeit gut geht: „Es war eine sehr schöne Zeit“. Der Text geht nun auf Herrn A.’s berufliche Situation nach dem Abitur ein. B: In der Zeit habe ich gearbeitet im [Name eines Geschäfts] (mh). Ich wollte mir-, also ich wollte jetzt nicht studieren (mh) danach nach dem Abitur (mh), weil ich mir dachte „Nein, ich kann mir das jetzt irgendwie nicht vorstellen in so einem Landwirtschaftsamt zu landen“ (mh, mh). Und ich sah auf einmal ernüchtert, wie-, wozu dieses Landwirtschafts- bzw. Forstwissenschaftsstudium führt, wohin (mh, mh), entweder in ein Amt (mh) oder als Verwalter (mh) auf ein Gut (ja). Und Forstwissenschaften wären mir noch näher gewesen, da war der Numerusclausus ein bisschen streng (mh), ich hatte irgendwie so 2 oder 1,9 oder so was (mh), und der war da drunter bei 1,6 (ja). Und dann sind das auch alles-, die klagen alle, die Förster, über zuviel Schreibzeug und sie kommen kaum in den Wald. Also, ich habe gedacht, ich will erst noch mal sehen. (A/525–538)
Was vielleicht an früherer Stelle zu erwarten gewesen wäre, erfolgt hier: Der Text begründet, warum Herr A. trotz seines positiven Zugangs zu Landwirtschaft und Natur nicht in diesem Bereich weiterarbeitet. Als Gründe werden der zu erwartende bürokratische Berufsalltag und der zu hoch liegende Numerusclausus für den erforderlichen Studiengang genannt. Doch damit erschöpft sich die Funktion der Textstelle nicht. Neben der Entscheidung, nicht im landwirtschaftlichen Bereich zu arbeiten, begründet sie auch, warum Herr A. in dem genannten Geschäft arbeitet. Welchen Einfluss diese Tätigkeit auf Herrn A.’s weiteren Lebensweg hat, wird nun erzählt. 165
B: Und habe erst gejobbt beim [Name eines Geschäfts] und habe gleichzeitig noch Musikunterricht genommen (mh), ich spielte schon seit meiner frühen Kindheit Gitarre (mh). Und da lernte ich auch meine jetzige Frau kennen (mh), [Name der Ehefrau]. Die habe ich im-, die erschien da im [Name eines Geschäfts], während ich an der Theke arbeitete. Sie kam rein in einem, in einem=in einem Jankerl, eine große Frau, so einsachtzig so, und dunkler Taint, so richtig wie so eine Süditalienerin aussah=aussehend, groß, vollbusig, ah so strahlende Augen (mh), total so jemand, so eine Herzensfrau einfach und diese-, dachte ich mir „Die Frau, die muss es sein“ (mh, ja), habe sie angesprochen, sie wollte auch, wegen mir ist sie reingekommen (mh, mh). Es war irgendwie genauso (ja). Ja, dann habe ich sie zum Kaffee eingeladen und so ging das. (A/538–551)
Der epische Charakter der Passage stellt die hohe Bedeutung heraus, die sie für die biografische Komposition hat. Außerdem bietet die Passage einen Beleg für die Richtigkeit von Herrn A.’s Entscheidung, sich nicht weiter im landwirtschaftlichen Bereich auszubilden und dort zu arbeiten, sondern zunächst in dem Geschäft zu arbeiten. Ebenfalls als Plausibilisierung für die Tätigkeit in dem Geschäft kann die folgende Geschichte betrachtet werden. B: Ja, und da in der Zeit war es auch, dass meine Mutter mir sagte „Mein Gott, wenn du nur wüßtest, was du werden willst“ (mh), „Wenn du Schauspieler sagen würdest, wir würden dir alles-“. Sagte ich, „Ja, dachte ich, stimmt. Ich mache das jetzt seit drei Jahren mit dieser Truppe (mh, ja) und es macht mir Spaß“. Ich bin aber in meinem bürgerlichen Sinn überhaupt nie darauf gekommen, dass ich das für mich fruchtbar machen könnte (mh, mh), so als Beruf. (A/552–559)
Die Tätigkeit in dem Geschäft führt nicht nur dazu, die künftige Ehefrau kennen zu lernen. Der Text stellt diese Zeit auch als Raum dar, der es Herrn A. auf Anregung der Mutter ermöglicht, sich für den Beruf des Schauspielers zu entscheiden. Auch bei der Umsetzung der Entscheidung kommt der Tätigkeit in dem Geschäft schließlich wieder eine wichtige Rolle zu. B: Und dann kam natürlich in [Name einer Stadt], diesem [Name eines Geschäfts], kamen natürlich auch immer so Schauspieler rein, die ich von der Bühne kannte. Ich ging immer fleißig ins Theater in die [Name eines Theaters] (mh), und da war auch der [Name eines Regisseurs], den ich so aus dem Film kannte, und dachte ich „Den spreche ich mal an“ und sagte „Wie wird man denn Schauspieler, richtiger so?“ (mh). Sagte er „Musst du Schauspielschulen mal dich bewerben, es gibt ein paar staatliche, es wäre gut wenn du das schaffst. In jedem Bundesland gibt es so eine (mh), wenn du es irgendwo geschafft hast in eine zu kommen (mh), dann ist es schon mal sehr gut (mh). Dann machst du dieses Studium und dann siehst du weiter“ (mh). Ich war aber durch die Berufsausbildung schon ein bisschen älter, ich war so, na ja, 23 (mh). Als ich dann die Bewerbung machte, war ich 24 und dann fiel ich-. Bei vielen Schauspielschulen war schon der Altersparagraph so 24 Grenze (mh), es war also schon grenzwertig. Bei manchen bin ich dann gleich schon gar nicht hingekommen (mh), manche bin ich irgendwie in die Auswahl gekommen (ja), dann aber schon
166
in der Vorausscheidung rausgefallen, bei manchen kam ich dann halt in die Endauswahl (mh). So, da habe ich es in eine dann geschafft, und zwar in [Name einer Stadt]. Das war eine der schlechtesten sicher, aber mir sollte es damals recht sein (mh), Hauptsache ich habe es geschafft. (A/559–581)
Nachdem Herr A. in dem Geschäft seine Frau kennen gelernt hat und in der Zeit seiner Tätigkeit dort den Entschluss fasst, Schauspieler zu werden, präsentiert der Text nun als dritten Beleg für den Erfolg der Tätigkeit in dem Geschäft noch die Lösung für die Umsetzung der beruflichen Pläne von Herrn A.: Der Kontakt, bei dem Herr A. die entscheidenden Hinweise für die Realisierung einer Schauspielausbildung bekommt, findet ebenfalls in dem Geschäft statt. An der Art und Weise, wie der Text Herrn A.’s Weg zur Schauspielschule beschreibt, ist bemerkenswert, wie stark dies so inszeniert wird, dass die Aufnahme auf die Schauspielschule als unkalkulierbar, versehen mit einigen Hürden, und schließlich als großes Glück herausstellt wird. Doch der abschließende Satz des thematischen Feldes kann dies erklären: „Das war eine der schlechtesten sicher, aber mir sollte es damals recht sein.“ Oder in anderen Worten: Der Zugang zu einer Schauspielschule ist mit so hohen Hürden versehen, dass selbst die Aufnahme auf die „schlechteste“ Schauspielschule noch ein großer Erfolg ist. Die Ausgestaltung des Freiheitsraumes, der Herrn A. am Ende des vorangegangenen thematischen Feldes eröffnet wird, zeichnet sich in diesem thematischen Feld durch ein hohes Maß kontingenter Problemlösungsvarianten aus. Das beginnt bereits mit den Schilderungen über Herrn A.’s Versuche einer Landwirtschaftslehre: Nach dem ersten und dem zweiten gescheiterten Anlauf wäre ein Abbruch der Landwirtschaftslehre zu erwarten gewesen. Stattdessen berichtet der Text einen dritten, erfolgreich zu Ende geführten Anlauf. Nun wäre eine Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit in diesem Bereich zu erwarten gewesen. Doch der Text berichtet als nächste Etappe, wie Herr A. sein Abitur nachholt. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, die erste zufällige Begegnung Herrn A.’s mit dem Theater zu schildern und so seine spätere Entscheidung für den Schauspielberuf zu plausibilisieren. Nach den Ausführungen über die Abiturzeit wäre ein Bericht über die Aufnahme eines Studiums, gegebenenfalls der Land- oder Forstwirtschaft zu erwarten gewesen, doch es folgt die Geschichte von Herrn A.’s Tätigkeit im Geschäft. Sie kann als der Zielpunkt des thematischen Feldes betrachtet werden. Hier wird ein Kontingenzraum par excellence aufgespannt. Indem Herr A. in diesen Kontingenzraum gestellt wird, kann erklärt werden, wie das Problem der Ausgestaltung des Freiheitsraumes, in den er zu Beginn des thematischen Feldes gestellt wird, nun nachhaltig gelöst wird. Die Lösungen stellen sich im Kontingenzraum des Geschäftes gleichsam ein: 167
a) Herr A. lernt seine künftige Ehefrau kennen. Der bisherige Problemhorizont, der sich auf die Elternfamilie von Herrn A. bezog, wird erweitert und dadurch entspannt: Herr A. wird seine Rolle von Sohn und Bruder verlassen und nun Ehemann sein. b) Herr A. fasst angeregt durch die Mutter den Entschluss, Schauspieler zu werden. Das Problem, eine eigene fachliche und berufliche Identität zu finden, ist damit gelöst. Insbesondere vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen dem naturwissenschaftlich geprägten Vater und den musischkünstlerischen Vorlieben Herrn A.’s ist das von Bedeutung. c) Herr A. erhält Tips, für das Bewerbungsverfahren an Schauspielschulen und wird von einer Schule aufgenommen. Er hat somit die Möglichkeit, seinen Berufswunsch auch tatsächlich umzusetzen. Am Ende des thematischen Feldes stehen nachhaltige Lösungen, für die Problemlagen, mit denen der Text Herrn A. konfrontiert sieht. Sowohl die Rollenprobleme, mit denen Herr A. in der Elternfamilie konfrontiert ist, als auch seine Suche nach fachlicher und beruflicher Identität werden als gelöst präsentiert. Die Zeit vor der Hochzeit Der formale Rahmen des thematischen Feldes ist die Phase, die zwischen der ersten Begegnung von Herrn A. mit seiner künftigen Ehefrau und der Heirat der beiden liegt. Die Erzählung beschreibt zunächst, wie Herr A. gemeinsam mit seiner künftigen Frau die Bedingungen schafft, die Beziehung zu leben. Darauf greift der Text das vorangegangene thematische Feld auf und erzählt eine Geschichte aus der Schauspielausbildung von Herrn A. B: Na ja Schauspielschule, das war eine aufregende Zeit natürlich (mh). Da lernte ich ganz viele Leute kennen, auch (2) auch jemanden, einen Flamen aus Antwerpen, der mich schon im zweiten Jahr, das war das vierte Semester-. Hatte ich bei so Jugendfestspielen in [Name einer Stadt], da war auch so ein Theaterworkshop (mh), und das war ein ganz bedeutender Regisseur aus=aus Antwerpen (ja). Das habe ich eben erst später dann erfahren. Mit dem habe ich gearbeitet. Da haben wir ein Projekt Liszt, ein Lisztprojekt gemacht, wo ich den Liszt spielte (mh). Ja, und das war eine sehr schöne und wichtige Arbeit für mich (mh). Und der kam dann auch nach [Name einer Stadt], arbeitete mit mir für die Semesterarbeiten (mh). Und ich bin dann halt-, wie so eine Rakete ging es bei mir dann irgendwie ab. Dann war ich-, anfangs war ich noch so ein unsicher Kandidat und irgendwann gehörte ich einfach zu den Besten dort (mh) in [Name einer Stadt] und total, fühlte mich auch auf einmal aufgehoben (mh) und hatte Visionen, weil, es hat mir unheimlich Spaß gemacht. (A/598–614)
Ähnlich wie die vorangegangene Passage über die Konsolidierung der Beziehung hat auch diese Geschichte eine konsolidierende Funktion: Nun 168
bezieht sie sich auf die Schauspielausbildung, die als richtiger Schritt evaluiert wird. Neben der konsolidierenden Funktion hat die Textpassage aber auch eine Funktion hinsichtlich der nun folgenden Sequenzen. So stellt sie die Grundlage für die Konstruktion einer Problemlage dar. Der Text malt sie mit einer Geschichte aus Herrn A.’s Schauspielausbildung aus. B: Und dann war das nächste Projekt für das Theaterfestival in Amsterdam (mh). Und da arbeiteten wir mit=mit ihm in Narbonne im Sommer (mh), Sommerferien. Und haben dann in einem Weinschloss, einem alten, haben wir dieses=diesen=für dieses Theaterfestival diese Aufführung gemacht. Und das Thema war Schönheit und Hässlichkeit (mh), und-. Na ja schwierig, andere Kolleginnen, holländische Kolleginnen, habe ich mich Hals über Kopf verliebt. Was mir ein paar Mal in meinem Leben, nicht so oft, passiert ist (mh), aber es hat unsere Beziehung-. Das war natürlich immer Schaden und Wunden gegeben (mh) mit [Name der Ehefrau] und mir auch. Es hat das immer überlebt (mh) (2), es hat das immer überlebt (2). So alle fünf, sechs Jahre hat es mich immer gepackt. (A/615–627)
Vom Einzelfall ausgehend (Affäre mit holländischer Kollegin) wird hier ein grundsätzliches Problem von Herrn A. entfaltet: Regelmäßige Affären mit anderen Frauen und die damit einhergehende Gefährdung der Beziehung mit der künftigen Ehefrau. Nun ist auch die Funktion der vorangegangenen Passagen deutlich: Die Erzählung über die Konsolidierung der Beziehung mit der künftigen Ehefrau stellt die Verbindlichkeiten heraus, die Herr A. damit in seinem Verhältnis zu Frauen eingegangen ist. Und die Geschichte über die Erfolge und die Zufriedenheit mit der Schauspielausbildung benennen den Raum, in dem diese Verbindlichkeiten immer wieder in Frage gestellt werden. Eine Beschreibung der Eigenschaften von Herrn A. malt die aufgeworfene Problemlage weiter aus und versucht sie gleichzeitig zu plausibilisieren. B: Also ich bin kein-, ich bin eigentlich ein sehr ethischer Mensch so (mh), oder sehr-. Wie ich jetzt auch das an meinem Sohn erkenne (mh), selbe Prinzip, total an Ritualen sich bindend (mh), sehr stark harmoniesüchtig fast (mh), und sehr stark an Normen sich orientiertend (mh) und trotzdem natürlich in dieser Sprengkraft, das Anarchische und das Dionysische (mh) in sich spürt. Das habe ich auch am Theater (mh), und das alles immer nicht in=in einen Topf bringt (mh), deswegen-. Also ich gehe da mittlerweile gnädiger mit mir um (mh), es ist mir auch nicht mehr ganz so wichtig. Aber wenn man im Theater arbeitet, hat man automatisch mit diesen Töpfen halt, mit diesen, ja zu tun. (A/627–638)
Der Text entfaltet eine Spannung zwischen einer Seite, für die die Attribute ethisch, harmoniesüchtig, Ritual, Normen stehen, und einer anderen Seite, die mit den Schlagworten anarchisch, dionysisch umschrieben wird. Diese innere Spannung in Herrn A. beschreibt der Text zunächst auf dem Umweg über Herrn A.’s Sohn. Erst in einem zweiten Schritt erfolgt die Problemati169
sierung direkt am Beispiel von Herrn A. Allerdings wird auch hier kein unmittelbarer Bezug auf das Wesen von Herrn A. hergestellt. Vielmehr wird die Existenz der beiden opponierenden Seiten mit dem Schauspielberuf erklärt. Als persönliches Problem von Herrn A. schwächt der Text die Existenz der beiden opponierenden Seiten mit dem Hinweis, Herr A. ginge mittlerweile gnädiger mit sich um und es sei ihm auch nicht mehr ganz so wichtig, so sehr ab, dass fast der Eindruck einer abgeschlossenen Problemlösung entstehen kann. Ein Bericht über das Kennenlernen des Benediktinerpaters und Zenlehrers Willigis Jäger, der nun recht unvermittelt folgt, verstärkt diesen Eindruck. Die hohe Indexikalität und die Ausführlichkeit der Erzählung weisen darauf hin, dass der Begegnung mit Willigis Jäger und der Zen-Meditation eine hohe Bedeutung für die biografische Komposition Herrn A.’s zukommt. Erst jetzt wird die oben geschilderte Spannungslage vom Text wieder aufgegriffen und im Rahmen einer Beschreibung erster Erfahrungen, die Herr A. mit der Zen-Meditation gemacht hat, weiter ausgeführt. B: Und das ist natürlich-, wenn man da unvorbereitet reinfällt, ist das noch extremer (mh) eigentlich als der=der=der christliche Codex (mh) (2), würde ich fast sagen (3). Also dieses Spannungsfeld, was ich damit eigentlich nur sagen will, Theater (mh) wo es sehr stark um Gefühle geht (ja), sehr stark um Gefühle und um dieses Kreisen in diese Zimmer, auch traumatische Bereiche anzapfen, sie ins Spiel zu integrieren, natürlich auch ins Spiel gehende, sehr kindliche naive Sicht der Dinge, dann aber auch eine sehr starke emotionale-. Also, was der [Name eines Theaterstücks] zum Beispiel (ja), das ist so ein ganz starkes Gebiet, wo so auch das Psychodramatische (ja, ja) geht, Psychodrama, ja (mh), und dann eben Zen, wo es eine sehr starke geistige Komponente gibt (mh) und eine Gotterfahrung natürlich (mh). Aber eben, wenn man das nicht weiß-. Ich bin natürlich mit meinem gemeinen Instrumentarium dahingegangen (mh), und das hieß auch Verbote und=und alles das (mh), was das Zen eigentlich gar nicht heißt. (A/659–675)
Verortete der Text das Spannungsgefüge, in dem Herr A. steht, bisher noch im Bereich des Theaters, so werden nun das Theater als emotionaler Pol und die Zen-Meditation als geistiger Pol gegenübergestellt. Welche Rolle die Zen-Meditation dabei für Herrn A. genau spielt, führt die folgende Erzählpassage aus. B: Aber nun war das auch ein christlicher Mensch (mh), der eben schon auch aus diesem Erfahrungshaushalt heraus und mit diesem Instrumentarium das gelernt hat, ich glaube es hat das auch-. Es wirkt für mich ein sehr strenger Mensch (mh, mh), und das hat vielleicht sogar noch meine=meine Gräben noch aufge-, diese Kluft noch erweitert (mh) am Anfang (mh) (2), so dass ich mir das manchmal auch dann verboten habe, so fleischlich zu sein (mh), so emotional und so (ja). Mein Bruder übrigens auch. Mein Bruder ist ganz stark auch in diese Richtung gegangen, ganz. Der wurde ganz dogmatisch erst mal durch das Zen (mh, mh), sehr streng (mh). Also ich würde
170
sagen, da ist etwas von einem Menschen weggegangen (mh), also von dem, was wir als humanistisch, menschlich, gütig sagen würden (mh), ist erst mal davon auch in mir erst mal verschwunden. (A/675–688)
Der Text stellt die Zen-Meditation als Instrument dar, mit dem Herr A. versucht, gegen seine emotionale Seite anzukämpfen („[...] so dass ich mir das manchmal auch dann verboten habe so fleischlich zu sein (mh), so emotional.“). Wie schon am Ende der vorangegangenen Erzählpassage erwähnt und nun nochmals explizit ausgesprochen, wird der Zen-Meditation in dieser Funktion kein Problemlösungspotential zugebilligt. Im Gegenteil, so der Text, die Gräben und die Kluft, mit denen sich Herr A. konfrontiert sieht, werden erweitert. Die Belegerzählung über die Auswirkungen, die die ZenMeditation auf Herrn A.’s Bruder hat, unterstreicht das. Eine Lösung, die Herrn A. hilft, mit seiner inneren Spannungslage zu leben, wird erst in der letzten Passage des thematischen Feldes geboten. B: Dann, als ich mein zweites Engagement in [Name einer Stadt] begann, wir haben geheiratet 1990 [Name der Ehefrau] und ich (mh)-. Das ist ja vielleicht auch so was, davor hatten wir uns getrennt (mh). Ich bin in ein großes Loch gefallen, so ein halbes Jahr waren wir getrennt (ja) (3). Und mit meiner Sehnsucht nach der idealen Partnerschaft (3), und (1)-, in dieser Trennung merkte ich aber, da ist das Chaos auch (mh). Ich habe ganz starke Tendenzen gespürt, dass ich irgendwann mal in einen Abgrund rutsche (mh), auch mit dieser Erfahrung durch das Zen (mh, mh), weil da erfährt man das Nichts, also dieses=diese Erfahrung des Nichts (ja) die hat mich sehr erschüttert (5). Irgendwie ist dann diese Heirat auch so etwas gewesen wie was fest-, Festigkeit zu bekommen in meinem=meinem Leben. (A/688–701)
Indem der Text nun auf die Heirat von Herrn A. und seiner Frau zu sprechen kommt, knüpft er an das Ausgangsproblem des thematischen Feldes an, nämlich die Verbindlichkeit der Beziehung zwischen Herrn A. und seiner Frau. Die Schilderung der vorübergehenden Trennung Herrn A.’s von seiner künftigen Frau in der Zeit vor der Hochzeit stellt nochmals die Krise heraus, in der sich Herr A. stehen sieht. Lange Redepausen unterstreichen das hohe Gewicht, das dieser Krisenwahrnehmung zukommt. Nochmals wird erkennbar, dass die Zen-Meditation die Krise nicht löst, sondern vielmehr die Wahrnehmung der Krise verstärkt. Die Lösung, die der Text zur Erlangung von Festigkeit im Leben von Herrn A. präsentiert, ist schließlich die Heirat. In der Gesamtschau bringt das thematische Feld vor allem eine innere Spannung zur Sprache, mit der sich Herr A. konfrontiert sieht. Lag der Schwerpunkt des vorangegangenen thematischen Feldes mit Kennenlernen der Ehefrau und Aufnahme an einer Schauspielausbildung ganz auf der Seite von Problemlösungen, so liegt er hier eher auf der Seite einer Problemanzeige: Abermals gerät Herr A. unter Druck. Nun ist es nicht mehr der 171
Druck, der durch die spezifischen Konstellationen in der Elternfamilie auf Herrn A. einwirkt, oder auf Grund seiner Abgrenzungsversuche vom Vater. Stattdessen entsteht der Druck auf Grund einer inneren Spannung von Herrn A. Der Text veranschaulicht die Spannung durch die Gegenüberstellung der Adjektive emotional und geistig. Für die Bearbeitung des inneren Konflikts rekurriert er ausführlich auf die Technik der Zen-Meditation. Dabei fällt auf, dass der Zen-Meditation, obwohl die Ausführungen über sie großen Raum einnehmen, nicht die Rolle zukommt, Herrn A.’s Problem der inneren Spannung zu lösen. Eher wird die Zen-Meditation als verstärkendes Moment der Problemlage dargestellt. Die in diesem thematischen Feld angebotene Problemlösung nimmt mit dem knappen Hinweis auf die Heirat zwischen Herrn A. und seiner Frau vergleichsweise wenig Raum ein. Über die Nachhaltigkeit der Problemlösungsvariante kann an dieser Stelle daher noch nichts gesagt werden. „Druck“ im Theaterbetrieb Ängste und Druck werden vom Text auch zu Beginn dieses thematischen Feldes zur Problembeschreibung eingeführt. Damit bleibt die im vorangegangenen thematischen Feld aufgeworfene Problemlage virulent. B: Ich hatte sehr viel auch mit Ängsten zu tun während meiner Zeit=meiner ersten Zeit am [Name eines Theaters]. Da war diese Sicherheit der Schauspielschule vollkommen weg (mh) in so einem riesigen Kasten, unaufgehoben. Ganz viele Leute arbeiten über Druck (mh). Dass ich damals so noch nicht reflektiert habe natürlich, wie sollte ich auch, ich kam aus einem Elternhaus, das damit gearbeitet hat, mein Vater sehr stark damit gearbeitet. Komme wieder in ein-, das Theater ist ein System, was sich fast wie aus dem Mittelalter überliefert hat (mh), sehr stark noch mit Druck von oben nach unten arbeitend (mh). Ich glaube fast stärker als in anderen Bereichen (mh) der Gesellschaft. (A/701–712)
Die Beschreibung hebt zunächst ganz auf Ängste und Druck ab, die aus dem Verlassen der Schauspielschule und den Eigenarten des Systems Theater resultieren. Doch der Text nennt noch weitere Faktoren, die Herrn A. unter Druck setzen und Ängste in ihm auslösen. B: Und als ich nach [Name einer Stadt] ging, war das ein viel kleineres Theater natürlich. Auch wieder ein reines Schauspielhaus. Anders als hier, ist ja so ein Vierspartenahaus (mh) (2). Und das war einerseits-, erst mal war es sehr schwer, weil mit-. 1990 kam dann gleich zwei Monate, nachdem ich dort begonnen hatte, kam das Kind, wurde ich auch noch Vater (mh). Dann kam eineinhalb Jahre später das zweite Kind (mh) und meine Ängste wurden immer größer, auch beim Spielen. (A/712–720)
Mit der Schilderung des zusätzlichen Drucks, der aus der familiären Verantwortung Herrn A.’s resultiert, zeichnet der Text eine Situation, die Herrn A. sowohl beruflich als auch familiär so sehr einengt, dass er sie selbst nicht 172
mehr auflösen kann. Krise und Zusammenbruch werden vom Text als direkte Folge daraus beschrieben. B: Und ich bin total in eine Krise geraten und bin ein bisschen zusammengebrochen. Bin also mit=mit Zucker (mh), damals bekam ich den Zucker (mh), diese Zuckererkrankung und für mich hat das einfach ursächlich mit-. Ja, es ist wie das Durchbrennen einer Sicherung (mh). Das war einfach zu viel (mh), diese Erwartung auch mit den Kindern „Jetzt bin ich Vater, jetzt bin ich der, gegen den ich auch immer geschrien habe.“ (A/720–726)
Die Problemlösung, die der Text für diese Situation nennt, besteht in einer Gesprächsanalyse, die positiv evaluiert wird. Als Hauptfortschritt wird dabei die Erkenntnis von Herrn A. genannt, jetzt auch zu seinem „bürgerlichen“ Wunsch nach Karriere stehen und sich an seinen Kindern freuen zu können. Doch auch diese Problemlösung wird vom Text als begrenzt beschrieben, indem er unmittelbar mit der Schilderung der nächsten Krise fortfährt. B: Dann ’95 zog ich nach [Name einer Stadt] und in diesem-. Zog erst mal alleine hin (mh), bis wir eine Wohnung gefunden hatten. Und in diesem Losziehen von [Name einer Stadt] verliebte ich mich schon wieder in eine Kollegin (mh). Auch wieder eine ganz kurze Sache. Aber auch wieder so tief, dass es mich vollkommen-, dachte ich, ich zerreiße, ich zerfalle vor-. Wie das glaube ich jeder kennt, aber das war bei mir noch mal extremer, ich weiß es nicht. (A/741–748)
Die Dramatik der erneuten Krisenerfahrung wird vom Text durch eine ausführliche Rückblende auf die schöne Zeit im Anschluss an die Gesprächsanalyse betont. B: Also [Name einer Stadt] war für mich vom Haus her dann, nachdem ich die Analyse begonnen hatte von ’92 bis ’93, eine wunderschöne Zeit (mh). Ich war wahnsinnig geschätzt, hatte-, spielte, was ich bekam, spielte ich. Das machte mir Spaß. Machte mir keine Gedanken darüber und es ging immer besser und es war ich-. Jeder wollte mit mir arbeiten, es war eine unheimlich schöne Zeit, es war eine wahnsinnig schöne Zeit (mh), wo ich sehr gesundet bin (mh) eigentlich (1). Und, ja, jeder kannte einen, ich war total bekannt in der Stadt (mh) und beliebt. Was Schöneres-, meine Frau fühlte sich total wohl im Theater (mh), [Name der Ehefrau] war bei jeder Premiere. Man kannte mittlerweile eine so große Gruppe von Leuten auch, was am Theater-. Die [Name der Ehefrau], ich auch, eine sehr exaltierte Frau (mh), sehr. Das habe ich schon gesagt (mh) mit diesem „Waaah!“ (mh), so italienisch sie ist (mh). Und so strahlend schön und so südlich einfach, so exaltiert ist sie auch (mh). Und hat sie genauso auch, obwohl sie sehr mütterliche Seiten hat, will sie auch wirken (mh). Sie will eben auch ganz stark gesehen werden (mh), und (1), ja, hat auch so etwas Darstellendes. (A/749–767)
Die Erzählung nennt Faktoren, auf die der Text bereits an anderer Stelle hinwies, um zu beschreiben, unter welchen Umständen es Herrn A. gut geht. Mit den Stichworten Harmonie und Anerkennung – in diesem Fall auch der 173
Ehefrau gegenüber – können diese Faktoren benannt werden. Die Bedingungen, die neben der erneuten Affäre mit einer anderen Frau dazu führen, dass Herr A. erneut in eine Krise gerät, schildert die folgende Sequenz. B: Und deswegen war dieser Schritt dann von [Name einer Stadt] nach [Name einer Stadt], wo es mir überhaupt nicht mehr so gut ging, wo ich jetzt als Protagonist natürlich eindeutig angestellt war (mh)-. Von [Name einer Stadt] kam ich ja nach [Name einer Stadt] sozusagen als jemand der dort klein gespielt hat, kleine Brötchen (mh, ja), als Anfänger von [Name einer Stadt] dann nach [Name einer Stadt] schon kam-. Sicher, der kommt von einem großen Haus, aber ich habe nicht viel gespielt und ich hatte nicht Anspruch auf absolute Rollen (ja). Aber nach [Name einer Stadt] kam ich, weil ich sehr groß spielen wollte (mh), und das war auch so. Aber ich war nie so wohlgelitten dort in dem Haus (mh). Ich kam mit dem Menschenschlag nicht so zurecht (mh) (2). Ja, und so war das dann für uns alle erst mal sehr schwer (mh), wieder, begann wieder sehr schwer (ja). Die Kinder, bis die-, das weiß man ja, wie das dann ist, bis man einen Kindergarten gefunden hat für die (ja), bis die Kinderärztin gut ist für sie, ein schönes Haus oder eine Wohnung gefunden hat (mh). Es war wahnsinnig. Wir haben dann ein schönes Haus gefunden, wo wir allerdings nur einen Teilmietvertrag hatten von zwei Jahren (mh), weil dann die Eigentümer selbst darin wohnen wollten. Und, na ja, die Kinder haben sich dann langsam zurecht gefunden (mh), aber es brauchte eineinhalb Jahre wirklich (mh), sehr-. Also [Name des Sohnes] ist, unser Ältester, ich würde sagen, beide sind verhaltensauffällig (mh) durch-. Ja, wo soll es auch anders herkommen, ich bin es, meine Frau ist es irgendwie. Wir brauchen unsere Wirkungsstätten. Wenn wir das nicht finden, dann staut sich was. Und die sind auch so (mh), auch ganz-. Also [Name des Sohnes], finde ich, ist mir sehr ähnlich (mh) (2). Und (1), ja, also erst mal war es nicht ganz einfach gewesen. Also am Anfang war es noch so einigermaßen. Ich bin mit unheimlich viel Wärme und Glauben an meine Fähigkeiten von [Name einer Stadt] dort hin (mh) und merkte aber, es kommen mir Widerstände entgegen (mh). Und meine Kraft reichte so eineinhalb Jahre. (A/767–799)
Das Hauptproblem, das die Textstelle entfaltet, besteht in den beruflichen Problemen, mit denen sich Herr A. an dem neuen Theater konfrontiert sieht: „[...] aber ich war nie so wohlgelitten dort in dem Haus.“ Auch wenn sich andere Probleme wie Suche nach Kindergartenplätzen, Kinderärztin und Wohnung lösen lassen, so stellt der Text die beruflichen Probleme Herrn A.’s am neuen Theater doch als unlösbar heraus. Er bereitet das durch den Hinweis auf die „Verhaltensauffälligkeit“ von Herrn A., seiner Frau und seinen Kindern zunächst vor: „Wir brauchen unsere Wirkungsstätten“. Die Tatsache, das Herrn A. trotz seines Engagements Widerstände entgegenkommen, und d.h., dass ihm die nötige Wirkungsstätte und Anerkennung verwehrt bleibt, führt der Text dann als eigentlichen Grund für Herrn A.’s Scheitern an der Situation an. Die Erzählung erwähnt nun, dass Herr A. erneut zusammenbricht und auch diesmal wieder psychologisch betreut wird. Doch im Unterschied zu der früheren Gesprächsanalyse bietet die 174
psychologische Betreuung nun keine richtige Hilfe. Stattdessen bietet der Text eine andere Lösung für Herrn A.’s Problem. B: Ich habe gemerkt, dass ich mit diesen Ängsten einfach umgehen muss (mh), dass ich die akzeptiere (ja). Die nehme ich mittlerweile an. Und dazu hat mir das Zen sehr geholfen (mh), also diese=diese. Das habe ich halt parallel dazu gemacht=weitergemacht (mh). Aber in dieser Zeit, wenn ich Psychoanalyse hatte, habe ich das sozusagen-. „Nein, das sticht sich!“ (mh), ich habe diese zwei Häuser, diese zwei Wohnungen in mir nie zusammengebracht (mh). Und jetzt in den letzten Jahren schaffe ich das zunehmend. (A/804–812)
Im Unterschied zum vorangegangenen thematischen Feld kommt der ZenMeditation nicht mehr die Funktion zu, eine vertiefte Problemwahrnehmung zu ermöglichen. Stattdessen wird sie jetzt als Problemlösungsinstrument vorgestellt. Bei der Problembeschreibung konstruiert der Text wie schon häufig zuvor ein polares inneres Spannungsgefüge bei Herrn A., das mit dem Bild der zwei Wohnungen zum Ausdruck gebracht wird, die Herr A. in sich trägt. Offen lässt der Text an dieser Stelle allerdings, was genau mit dem Bild der beiden Wohnungen gemeint ist. Das Schwergewicht liegt hier vor allem darauf, die Zen-Meditation als Hilfe zu benennen, die es Herrn A. ermöglicht, mit den beiden Wohnungen zu leben und sie in zunehmendem Maße zusammenzubringen. Mit der Nennung dieser positiven Veränderung schafft der Text die Grundlage, mit dem Tod von Herrn A.’s Eltern auf eine weitere für Herrn A. wichtige Veränderung zu sprechen zu kommen. Wie wichtig die Erzählung über den Tod von Herrn A.’s Eltern für die biografische Gesamtkomposition ist, wird in formaler Hinsicht durch deren Ausführlichkeit unterstrichen: Die Erzählpassage über den Tod der Eltern ist die bei weitem umfassendste des Interviews. B: In den letzten Jahren hat sich doch einiges verändert, muss ich wirklich sagen. Auch und gerade durch den Tod meiner Eltern. Das war eine unglaubliche Erfahrung, auch erschütternd (mh) (4). Und ich glaube, dass das=dieses sehr auch mit diesen Ängsten zu tun hat, eben dieses wieder nicht wahrhaben wollen, was ich alles für Teile habe in mir (mh). Denn mein altwerdender Vater, der irgendwo nicht mehr der Patriarch war, aber immer noch in mir war, den habe ich das so geladen-. Spürte aber, dass ich die Sachen selber in mir habe (mh). Und jetzt starb mein Vater ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter. Es war auch ein wahnsinns Erlebnis. (A/812–822)
Der Beginn der Erzählung über den Tod der Eltern stellt eine Verbindung her zwischen der Erfahrung des Sterbens der Eltern und Herrn A.’s Ängsten. Mit dem Hinweis darauf, dass die Ängste mit dem nicht wahrhaben Wollen der verschiedenen Teile, die Herr A. in sich trägt, zusammenhängen, wahrt die Textpassage die Kontinuität zu dem in der vorangegangenen Passage beschriebenen Problem der beiden Wohnungen, die Herr A. in sich 175
trägt. Ein Faden, der schon in den Anfangspassagen des Interviews thematisiert wurde, wird nun wieder aufgegriffen: Der Text stellt abermals einen direkten Zusammenhang her zwischen dem Problem, dem sich Herr A. ausgesetzt fühlt, und dessen Vater. Setzt der Text zunächst zur Schilderung des Todes von Herrn A.’s Vater an, wird diese jedoch nochmals durch eine Erzählung über den Tod der Mutter unterbrochen. B: Also meine Mutter war (2)-, ich war dabei als sie starb (mh), und es war eine sehr, sehr schöne berührende Erfahrung (4). Sie starb eben und war vorher im Koma gelegen, hatte Krebs. Sie war 69, mein Vater ist zehn Jahre, also fast zehn Jahre, neun Jahre älter, also 78 (mh) (2). Und meine Mutter wachte wieder auf, keiner dachte das, und erblühte wirklich innerhalb von- wahrscheinlich hat das. Habe ich das schon erzählt?- (nein, nein), blühte so zum=zum 18jährigen Mädchen (aha) (1). Also es war wirklich-, sie machte-, sie schlug ihre Augen auf, sah wie dann die Familie-, alle waren da (2)-, um sich und schaute sie an. Aber nicht so, sondern, ich kann diesen Blick nicht beschreiben. Das war ein Blick aus einer anderen Welt (mh), die eine andere Welt schon sah (ja). Und es war wie eine Königin (mh), also so schön und die=die dünnen Lippen, die erblühten richtig (mh), es war (1)-. Sie sah uns alle an. Da war nichts mit lieb sein müssen oder so was (mh), das war ganz einfach (4), tja es war unglaublich. Also innerhalb von wenigen Sekunden (mh) diese-, es war Wahnsinn. Und dann, nachdem mein Bruder gesagt hatte „Komm Mutter, lass los“, hat ihr so-, der Mediziner (mh), der hat ihr so die Hand auf die Schulter gehalten (mh), hat auch den Sauerstoff ausgestellt gehabt (mh). Er hat gemerkt, dass es zu Ende geht, weil dieser Atem halt „Ffffffff“ von unten immer höher immer höher rutschte „Öööö“, zum Schluss japste sie nur noch (mh), diese Berührung von ihm, die hat ihr irgendwie die Möglichkeit gegeben (5) loszulassen (mh, mh), dieses Türchen zu finden, diese Tür. Das ist wie, wie eine Geburt ist das (ja), das war wie eine Geburt. Ich habe diese Erfahrung dann später ganz stark beim Meditieren erlebt (mh), dass dieses Loslassen (mh) der Behaftungen wie noch mal eine Geburt ist (mh). Und ich glaube, dass der Tod etwas Ähnliches ist (mh) für viele Leute. Noch mal wie durch den engen Geburtskanal, das ist ja auch eine Toderfahrung auch (ja), für so ein Kind, in ein anderes Medium zu kommen, etwas zu erfahren, was es eben nicht sehen kann, wie durch dieses Nadelöhr (mh), es ist dieses Nadelöhr (mh, mh). Und dann ja hörte sie eben auf zu atmen (mh) und machte eben diese Augen auf und sah uns (1) und dann war noch diese Agonie also noch mal dies „Öö“, dieser kurze Krampf noch mal leider, ich weiß nicht ob es leider ist, auf einmal ging eben wieder alles zurück und das war eben diese Verkrampfung (mh), das war dann diese letzte Sekunde, leider aber-. Es war ein wahnsinnig ergreifender Moment und meine Mutter war dann nicht mehr da (mh) (4), ich habe ganz genau gespürt, dass dieser Leib nicht mehr-, dass das nur noch-, dass das nicht mehr beseelt ist (mh) (6). Es war wirklich ein Stück Schrott (mh) in dem Moment, der übrig blieb und ich war-, und ich hatte jetzt keine Beziehung mehr zu diesem Leib, sondern es war die Mutter-. Sie war eben noch im Raum gewesen, sie war jetzt wo anders (mh), aber sie war nicht mehr da (mh), also sie war zumindest nicht mehr in dem Körper (mh). Ich glaube, es ist unterschiedlich bei Toten, manche beschreiben das so, dass=dass der Körper noch beseelt ist (mh), der Tote noch= noch in dem Körper, oder, dass das Tage Zeit braucht (mh). Aber ich hatte keine Bezie-
176
hung mehr in dem Moment, aber mir war das davor wie ein Geschenk erschienen. (A/823–874)
Die Ausführlichkeit der Erzählung, ihr epischer Charakter, das hohe Maß an Indexikalität so wie die zum Teil sehr langen Redepausen weisen ihr im Gesamtgefüge der biografischen Erzählung eine hohe Bedeutung zu. Dabei stellt sich die Frage, worin diese Bedeutung genau besteht. Der Text gibt einen Hinweis auf eine mögliche Antwort, indem er Herrn A.’s Erfahrung mit dem Sterben der Mutter in eine Beziehung zu den Erfahrungen setzt, die er beim Meditieren macht. Damit markiert der Text, dass die Erfahrung des Todes der Mutter in einem direkten Zusammenhang mit der Lösung von Herrn A.’s Problem steht. Schließlich wird die Zen-Meditation auch im Zusammenhang mit dem Aspekt der Problemlösung thematisiert. Im Kontext der Erzählung über das Sterben der Mutter macht der Text das Moment des Loslassens und der Geburt sehr stark. Darin können Hinweise auf das problemlösende Potenzial sowohl der Zen-Meditation als auch der Erfahrung des Sterbens der Mutter gesehen werden. Erst jetzt setzt der Text die Erzählung über den Tod des Vaters von Herrn A. fort. Zunächst erzählt der Text mit der Schilderung eines Krankenhausaufenthalts und einer Operation die Vorgeschichte zum Tod des Vaters. Am Ende der Schilderung kommt der Text wieder auf die Polarität zu sprechen, die den Charakter von Herrn A.’s Vater kennzeichnet und auf die Herr A. sein eigenes Problem zurückführt. B: So ein Alters-, so ein Starrsinn, aber eben diese Seite auch (ja, ja) so was ganz Sonniges (ja), so ein rheinländischer-, so was sehr Liebes auch (ja). Er konnte auch erschreckend sein (ja). Also alle Leute, die ihn kannten, schon früher auch in meiner WG in [Name einer Stadt] (ja), wo ich gewohnt hatte während meines Engagements dort, die sagten „Es ist ja auch erschreckend, was für eine Aura und Macht, das ist ein absoluter Machtmensch“ (aha), mein Vater gewesen-. Aber auch diese Seite (ja, ja), was total Liebenswürdiges (ja) war eben auch da. Dann starb mein Vater, dem-. Da war ich nicht dabei. (A/887–896)
Die Polarität, die der Text aufspannt, wird mit den Schlagworten total liebenswürdig und Machtmensch näher bestimmt. In welcher Beziehung diese Polarität jedoch genau zu Herrn A.’s Problem steht, gibt die Textpassage nicht zu erkennen. Im Vergleich zur Erzählung über das Sterben der Mutter fällt die nun folgende Schilderung des Todes von Herrn A.’s Vater knapp aus. Herr A., so der Text, war nicht dabei, als der Vater starb. Eine Rückblende auf den letzten Besuch, den Herrn A.’s Vater seinem Sohn abgestattet hat, erläutert das Verhältnis, in dem die beiden zu einander standen. B: Obwohl, nach dem Tod meiner Mutter habe ich das Gefühl gehabt, ist er sehr sanft geworden, also ist er-. Einerseits hat er noch gelernt, er hat noch was gelernt für
177
sich (mh) (4). Also ich habe ihn noch-, also drei Wochen vor seinem Tod war er=hat er uns noch in [Name einer Stadt] eine Woche besucht (mh), habe ich ihn noch abgeholt mit dem Auto (mh). Und es war sehr schwer (mh), das war keine leichte Beziehung zwischen meinem Vater (ja). Aber ich war doch froh noch, dass wir-, wir haben noch einige Sachen sprechen können (mh). Dass er dann starb, ja, das war schon auch schwer für mich (3), da war ich erst mal sehr haltlos. (A/910–920)
An dieser Textstelle fällt auf, dass hier nicht die Polarität problematisiert wird, die den Charakter von Herrn A.’s Vater ausmacht. Vielmehr ist es die strenge Seite der Polarität. Darauf deutet die positive Evaluation der Veränderung zur Sanftheit hin. Der Text stellt die Veränderung so dar, dass sie das Verhältnis zwischen Herrn A. und seinem Vater positiv verändert hat und sich die beiden näher gekommen sind. Der Hinweis des Textes, dass Herr A. nach dem Tod seines Vaters erst einmal haltlos gewesen sei, unterstreicht das. Die folgende Passage legt überwiegend im Modus der Argumentation dar, wie sehr die psychologische Analyse in Verbindung mit der Zen-Meditation Herrn A. geholfen hat, seine Schwächen anzunehmen und somit mit seinem Problem des Drucks und der Ängste umzugehen. Die zuvor so ausführlich geschilderte Erfahrung des Todes der Eltern wird hier nicht mehr aufgegriffen. B: So habe ich so eine Entwickl-, ich glaube zunehmend so eine Gabe, das Leben so zu nehmen wie es ist (mh), und (4), ja, mich mit meinen ganzen Schwächen auch so zu=anzunehmen (mh), und mit meinen=vor allem mit meinen Begrenztheiten (mh). Doch sehr stark habe ich auch so einen Idealismus und so eine=so eine Utopie (mh), wie ich-, so ein Anspruch an mich, wie ich sein müsste eigentlich (mh). Und das verändert sich zunehmend, würde ich sagen. Ich spüre natürlich krasse Rückschläge immer wieder. (A/937–944)
Die Evaluation qualifiziert die mit der Analyse und der Zen-Meditation einhergehende Problemlösung in differenzierter Weise: Der Text nennt Herrn A.’s zunehmende Fähigkeit, das „Leben so zu nehmen wie es ist“, „sich mit den ganzen Schwächen anzunehmen“ und auch die eigenen idealen Ansprüche an sich selbst zu entschärfen. Gleichzeitig räumt der Text aber auch die Möglichkeit von Rückschlägen ein. Damit konstruiert der Text eine Problemlösung zweiter Ordnung: Die Möglichkeit des Rückschlags ist die Problemlösung der Problemlösung in dem Sinne, das Herr A. nun auch akzeptieren kann, mit Rückschlägen zu leben. Eine evaluierende Erzählung über Herrn A.’s Zufriedenheit mit seiner aktuellen beruflichen und allgemeinen Lebenslage belegt die Nachhaltigkeit der vorangegangenen Ausführungen über die gefundene Problemlösung. Erst jetzt in einer erneuten evaluierenden Passage kommt der Text im Zusammenhang mit der Problemlösung auf die Erfahrung des Todes von Herrn A.’s Eltern zu sprechen. 178
B: Ja, und so kann ich eigentlich sagen, Toderfahrungen die haben mich sehr geprägt (ja), sehr geprägt (2). Aber ebenso jetzt auch diese Erfahrung bei den Sessions natürlich. (A/957–960)
Wurden zuvor noch die Zen-Meditation und die psychologische Analyse als problemlösende Instrumente benannt, so wird nun die psychologische Analyse durch die Toderfahrungen von Herrn A. ersetzt. Die Zen-Meditation wird weiter genannt. Sie ist es auch, auf die der Text nun noch weiter eingeht, indem er die Erfahrungen beschreibt, die Herr A. beim Meditieren macht. B: Dieses Sitzen, den ganzen Tag, mehrere Tage hintereinander zu sitzen (mh) und sich wahrzunehmen, wie man ist (mh, mh) (6), und danach die zehn (3)- wie alles ist. Danach kommt man raus und sieht jeden Baum als ganz besondere-, jeden Stein, jeden Industriekomplex (mh, mh), alles einfach mit ganz anderen Augen. Natürlich ist so etwas wie Natur nach wie vor heilender von seiner Wirkung (mh) für mich, aber (3), ja, ich sehe nicht mehr-, es ist eine-. So etwas, was durch das Zen natürlich stattgefunden hat, so zum Beispiel eine Erfahrung: Ich sitze an einem Bach und habe das Gefühl dass der Bach durch mich fließt (mh), also das Geräusch durch mich. Das, was mich früher, das Ich eben, was sehr hart war bei mir früher, was sehr getrennt hat von mir (mh) und meiner Umwelt, das weicht sich eben auf (mh, mh), und ich erfahre eben Gott als permanent in mir (mh). Wenn ich permanent-, das klingt so-. (A/960–975)
Die Erfahrung, die der Text hier in Worte zu fassen versucht, geht vor allem mit einer veränderten Welt- und Selbstsicht einher: Nach der ZenMeditation sieht man alles mit ganz anderen Augen. Die Erzählung greift an dieser Stelle, dem Mechanismus der Gestaltschließung folgend, den zu einem früheren Zeitpunkt der Interviewkommunikation thematisierten positiven Bezug auf, in dem Herr A. zur Natur steht. Damit schafft der Text die Basis, die positive Wirkung, die die Zen-Meditation für Herrn A. mit sich bringt, mit dessen positiver Naturerfahrung zusammenzuführen. Wie schon bei der ersten Schilderung des positiven Naturbezugs von Herrn A. führt der Text auch hier wieder die Größe Gott ein. Ihn spürt Herr A., so der Text, beim Meditieren in der Natur als permanent in sich. Wenn sich dieses Gefühl einstellt, wird Herrn A.’s Ich und die für ihn problematische Trennung zwischen ihm und seiner Umwelt aufgeweicht. Mit diesem Bild beschreibt der Text die Problemlösung, für Herrn A.’s Umgang mit dem Druck und den Ängsten, denen er sich ausgesetzt fühlt. Eine Globalevaluation beendet die Haupterzählung. B: Es gibt Tage, wo ich mich aus dem Paradies verbannt fühle (mh). Aber eigentlich so, dieses ist zunehmend, dass ich mich als transpersonal empfinde (ja), also als mit den Dingen zusammengehörend (mh), und das ist ein sehr schönes, das ist eine sehr schöne-, dass ich sehr, sogar durch alles, was ich denke, fühle, meine Umwelt beeinflusse genauso wie meine Umwelt mich (mh) beeinflusst. (A/975–981)
179
Die Globalevaluation qualifiziert die zuvor entfalteten Problemlösungsvarianten wieder auf differenzierte Weise. Der relativierende Einstieg, wonach sich Herr A. an manchen Tagen aus dem Paradies verbannt fühle, markiert, dass die beschriebene Problemlösung keine abschließende Patentlösung ist. Auch die Verwendung des Wortes „zunehmend“ unterstreicht das. Doch das Schwergewicht der Evaluation liegt eindeutig auf dem Aspekt des Gelingens. Mit dem Bild der Harmonie zwischen Herrn A. und seiner Umwelt und der im Superlativ formulierten Bewertung dieser Harmonieerfahrung bringt der Text das zum Ausdruck. Das thematische Feld über den „‚Druck‘ im Theaterbetrieb“ dient dem Text dazu, Druck und Ängste in einem umfassenden Sinne als das eigentliche Problem zu entfalten, das die biografische Explikation Herrn A.s ausweist. Umfassend wird das Problem hier deshalb entfaltet, weil es auf unterschiedliche Bezugsebenen gerichtet ist. Zunächst setzt der Text bei Faktoren an, die von außen auf Herrn A. einwirken. So leidet er unter dem Druck im Theater, zusätzlich aber auch unter der Verantwortung als Familienvater. Statt eine abschließenden Problemlösung zu präsentieren, malt der Text das Druckgefüge, dem sich Herr A. konfrontiert sieht, weiter aus, indem er neben äußeren, beruflich bedingten Faktoren, auch auf innere Faktoren zu sprechen kommt, die zusätzlich Druck auf Herrn A. ausüben und Ängste in ihm auslösen. Sie werden als innere Spannungen vorgestellt, die mit den Bildern von den zwei Wohnungen oder den zwei Seiten, die Herr A. in sich spürt, umschrieben werden. Ein weiteres Bild, das die innere Spannung Herrn A.’s illustriert, kann in der Polarität Strenge/Freundlichkeit gesehen werden, die der Text von Herrn A.’s Vater berichtet. Schließlich hat der Text im bisherigen Verlauf schon mehrfach die Eigenschaften von Herrn A.’s Vater im Sinne einer Erbschaft auf Herrn A. selbst übertragen. Dass bei den genannten inneren Spannungen Herrn A.’s auch die an früherer Stelle ausgeführte Polarität geistig/emotional eine Rolle spielt, deutet der Text durch die Nennung einer Liebesaffäre an, die Herr A. im Zuge einer Krise eingeht. Die Affäre steht in diesem Fall für die emotionale Seite. Insgesamt betrachtet zeichnet dieses thematische Feld Herrn A. als Menschen, der sich in vielfacher Weise Ängsten ausgesetzt und unter Druck gesetzt fühlt. Dementsprechend komplex werden Problemlösungsmuster konstruiert. Die in dem thematischen Feld zuerst genannte Problemlösung der psychologischen Analyse wird vom Text als erfolgreich dargestellt im Zusammenhang mit dem äußeren Druck, der insbesondere in beruflicher Hinsicht auf Herrn A. einwirkt. Die Schilderung weiterer Krisenphänomene im Zusammenhang mit den inneren Faktoren, die Druck auf Herrn A. ausüben, relativieren die Leistungsfähigkeit dieser Problemlösung allerdings. Die wirksa180
meren und nachhaltigeren Problemlösungsvarianten, die der Text bietet, sind die Zen-Meditation und die Erfahrung des Todes der Eltern. Durch den Aufweis von Parallelen zwischen der Erfahrung des Sterbens der Mutter und der Zen-Meditation werden beide Problemlösungsvarianten in eine gewisse Nähe zueinander gerückt. Das problemlösende Potential, das der Text für beide Varianten erkennen lässt, wird durch Formulierungen wie „Loslassen-Können“, „Akzeptieren-Können“, „Weich-Werden“ umschrieben. Damit werden Worte mit einer tendenziell harmonisierenden Konnotation gewählt, die sich angesichts des Bezugsproblems inneren Drucks als schlüssig ausweisen lässt. Nimmt man die psychologische Analyse, den Tod der Eltern und die Zen-Meditation zusammen, so antwortet der Text auf das aufgeworfene Bezugsproblem mit einer kumulativen Problemlösung. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit liegt das Schwergewicht dabei allerdings eindeutig auf der Zen-Meditation und der Erfahrung des Todes der Eltern. Insbesondere diese beiden Aspekte sind es, denen der Text eine angstreduzierende und druckmindernde Wirkung für Herrn A. attestiert. Festzuhalten ist dabei allerdings, dass weder die Zen-Meditation noch der Tod der Eltern als abschließende Patentlösung präsentiert werden. Das Problem wird reduziert, aber nicht gänzlich aufgehoben. Der Text schildert einen Zugewinn an Kontrolle, die Herr A. in Bezug auf den Druck und seine Ängste erlangt. Seine Handlungsspielräume erweitern sich. Der Text sieht jedoch davon ab, Druck und Ängste als abschließend gelöstes Problem zu qualifizieren. Betrachtet man die Frage, inwieweit Herr A. in diesem thematischen Feld als aktiv Handelnder oder passiv Erlebender dargestellt wird, so kann festgestellt werden, dass beide Seiten ineinander liegen. Mit der ZenMeditation als Problemlösungsstrategie führt der Text zunächst eine Technik ein, die Herrn A. bereits aus einem anderen Zusammenhang vertraut ist und die er kontinuierlich praktiziert. Sie steht für die aktive Seite Herrn A.’s in Zusammenhang mit der Problemlösung. Da die Zen-Meditation jedoch als Problemlösungsstrategie in einen direkten Zusammenhang mit dem Tod der Eltern gestellt wird, tritt auch ein passives Element in die geschilderte Problemlösungsstrategie. Der Tod der Eltern tritt als kontingentes Moment ein und bringt, so der Text, ein für Herrn A. sehr wichtiges Problemlösungspotenzial mit sich. Darauf hat Herr A. keinen Einfluss. 2.1.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation Die Erzählkomposition Mit der interpretierenden Rekonstruktion des Gesprächsverlaufs sind die entscheidenden Strukturmerkmale des Interviewtextes bereits herausgearbeitet. Immer wieder hat sich herausgestellt, dass der Erzähltext in je modifizier181
ter Weise Lösungen für ein grundlegendes Bezugsproblem anbietet. Das entscheidende Bezugsproblem, auf das die Erzählung antwortet, ist der Umgang mit äußerem Druck und inneren Spannungen, mit denen Herr A. konfrontiert ist. Mit der hier angewandten Form der funktionalistischen Interpretation soll nicht gesagt sein, der Text suggeriere ein Geschehen, das so gar nicht stattgefunden habe. Vielmehr ist es der Text, der für sich selbst unhintergehbar ist – schließlich gibt es keinen anderen Zugriff auf das tatsächliche Geschehen als über den Text –, der Herrn A. immer wieder als mit äußerem Druck und inneren Spannungen konfrontiert darstellt. Da nahezu alle Schlüsselstellen des Erzähltextes auf dieses Grundproblem bezogen sind, kann der Schluss gezogen werden, dass die Selektivität des Textes in erster Linie die Explikation oder besser: Inszenierung von Herrn A.’s Versuch darstellt, mit dem Bezugsproblem umzugehen. Der Begriff Inszenierung ist dabei keineswegs pejorativ gemeint. Er soll verdeutlichen, dass es der Erzähltext selbst ist, der auf Grund seiner Eigendynamik einen selektiven Zugriff auf die tatsächlichen Geschehnisse wählt. Wie gestaltet sich die Antwort, die die Erzählung angesichts der genannten Problemlage bietet, nun genau? Der Erzähltext beginnt mit der Schilderung einer Situation, in der sich Herr A. als Kind von Blitz und Donner bedroht fühlt. Sie stehen für eine Form äußeren Drucks, der auf Herrn A. einwirkt. Dieser geht eigenständig damit um, indem er mit einem „selbst gebastelten Ritual“ versucht, den „strafenden Gott“ des Blitzes und des Donners zu besänftigen. Der Text führt keine Interaktionspartner ein, auf die Herr A. für die Bewältigung seines Problems zugreifen müsste. Die Ausführungen, die der Erzähltext über die Elternfamilie von Herrn A. bietet, führen ein weiteres Moment ein, das Druck auf Herrn A. ausübt. Es sind die Spannungen zwischen Herrn A.’s Eltern, vor allem dem Vater, und seinen älteren Geschwistern. Als jüngstes Kind seiner Eltern steht Herr A. in der Mitte eines Generationenkonflikts zwischen der Kriegsgeneration und der sogenannten 68er-Generation. Beiden Seiten fühlt er sich verbunden. Auch hier ist es wieder ein Druck, der von außen auf Herrn A. einwirkt. Die Problemlösungsstrategie, die der Text für Herrn A.’s Situation bietet, ist die Einnahme einer Vermittlerrolle zwischen den Generationen. Auch bei dieser Problemlösungsvariante ist Herr A. der alleinige Akteur. Im Fortgang des Erzähltextes wird nun beschrieben, wie Herr A. dem Druck zu Hause nicht länger standhält und sich die Vermittlerrolle nicht mehr bewährt. Die jetzt präsentierte Problemlösung besteht darin, dass sich Herr A. der für ihn nicht mehr ertragbaren Situation entzieht: Er geht zunächst in ein Internat, bricht dann aber ganz von zu Hause und aus dem Internat aus. Auch hier wieder inszeniert der Text Herrn A. als alleinigen Akteur. Doch das ändert sich. Der Text schließt eine Erzählung über Herrn A.’s Aufenthalt in einer südfranzösischen Kommune an. Dem bisherigen 182
Selektionsmuster des Textes entsprechend gerät Herr A. auf Grund des repressiven Reglements der Kommune abermals unter Druck. Sein Versuch, dagegen zu protestieren, bleibt erfolglos und führt, im Gegenteil, zum Rauswurf aus der Kommune. Die ursprüngliche Problemlösung (Ausbruch von zu Hause) ist nun selbst zum Problem geworden. Die Lösung, die der Text bietet, ist das Angebot von Herrn A.’s Vater, doch wieder nach Hause zu kommen und gemeinsam in Ruhe über den weiteren Weg von Herrn A. nachzudenken. Der Erzähltext nimmt in dieser Episode einen Regiewechsel bei den Problemlösungen vor. Nicht mehr Herr A. ist der Akteur, sondern andere: Im konkreten Fall die Kommune, die Herrn A. rauswirft, bzw. sein Vater, der ihn wieder zu Hause aufnimmt. Das thematische Feld, das der Erzähltext an die Episode vom Ausbruch von zu Hause anschließt, zeigt eine Besonderheit: Es ist die einzige Erzählpassage, die keine Situation schildert, in der sich Herr A. unter Druck gesetzt fühlt. Eine Verknüpfung an das vorangegangene thematische Feld findet insofern statt, als der zuvor geschilderte Regiewechsel bei den Problemlösungen für Herrn A. weiter unterstrichen wird. Die Erzählpassagen über Herrn A.’s Berufssuche beschreiben ihn als passive Größe: Die Entscheidung für den Schauspielberuf, die entscheidenden Tips zum Antreten einer Schauspielausbildung und zu guter letzt das Kennenlernen der künftigen Ehefrau werden in dieser Erzählpassage als kontingente Größe eingeführt; der Bruder, die Mutter und ein Regisseur sind die vom Text genannten Interaktionspartner, denen sich die Problemlösung von Herrn A.’s Lage diesmal verdankt. Nun führt der Erzähltext bezüglich des Hauptbezugsproblems eine neue, bislang nur angedeutete Ebene ein. Die Schilderungen über die Zeit vor der Hochzeit von Herrn A. dienen dazu, neben äußerem Druck jetzt auch innere Spannungen zu thematisieren, die Druck auf Herrn A. ausüben. Ausgelöst durch eine Liebesaffäre und verstärkt durch erste Erfahrungen mit der ZenMeditation spürt Herr A., so der Text, eine Art innere Sprengkraft in sich. Sie verdankt sich einer Spannung zwischen zwei Polen, von denen der eine mit den Stichworten ethisch, harmoniesüchtig, Ritual, Normen umschrieben wird, der andere dagegen mit den Stichworten anarchisch, dionysisch. An anderer Stelle fügt der Erzähltext zur Umschreibung beider Pole auf der ersten Seite noch die Stichworte Machtmensch, Strenge hinzu, auf der anderen Seite dagegen total liebenswürdig, Freundlichkeit. Im letzten thematischen Feld, das sich formal gesehen mit dem Druck im Theaterbetrieb befasst, konstruiert der Text eine komplexe Problemlage. So wird der Aspekt des äußeren Drucks mit dem der inneren Spannung und der inneren Ängste kumulativ zusammengeführt und die Lage von Herrn A. so beschrieben, dass er sich mit beidem konfrontiert sieht. Für den äußeren Druck stehen Erzählpassagen über Probleme, die Herr A. in beruflicher Hinsicht am Theater hat, und in privater Hinsicht durch die Verantwortung, 183
die er nach der Geburt seiner Kinder als Familienvater zu tragen hat. Das Problem der inneren Spannungen und Ängste wird expliziert durch die Schilderung einer erneuten Liebesaffäre. Die früher schon umschriebene polare Struktur der inneren Ängste wird nun wiedergegeben mit dem Bild von zwei Häusern bzw. Wohnungen, die es in Herrn A. gebe. In Bezug auf die Lösung dieser sehr komplexen Problemlage nimmt der Erzähltext abermals eine Art Regiewechsel vor. Mit der Zen-Meditation und der Erfahrung des Sterbens der Eltern als den abschließenden Problemlösungsvarianten, die der Erzähltext nennt, kommt sowohl ein aktiver als auch ein passiver Aspekt ins Spiel. Die Zen-Meditation wird von Herrn A. aktiv betrieben, auf den Tod der Eltern hat Herr A. keinen Einfluss. Beides hat, dem Erzähltext zufolge, dazu geführt, dass Herr A. nun mit dem äußeren Druck, aber auch mit den inneren Spannungen und Ängsten leben bzw. sie akzeptieren kann. An der abschließenden Problemlösung, die der Erzähltext bietet, gilt es zweierlei festzuhalten. Zum einen stellt der Erzähltext die Zen-Meditation und die Erfahrung des Sterbens der Eltern als sich gegenseitig bedingende Problemlösungsvarianten gleichsam kumulativ nebeneinander. Zum anderen qualifiziert der Erzähltext die präsentierte Problemlösung als relative – das Hauptbezugsproblem ist weitgehend, aber nicht vollständig gelöst. Funktionale Verdichtung Betrachtet man die Struktur, in der der Erzähltext die Lösung für das aufgeworfene Bezugsproblem präsentiert, als Ganze, ist folgender Spannungsbogen erkennbar: Am Ausgangspunkt der Erzählung hat Herr A. seinen eigenen Weg, mit dem Bezugsproblem umzugehen (selbstgebasteltes Ritual). Auch die darauf geschilderte Verschärfung des Bezugsproblems (Generationenkonflikt) kann Herr A. noch eigenständig bewältigen (Vermittlerrolle). Erst bei der weiteren Verschärfung des Bezugsproblems (Andauern des Generationenkonflikts) ändert sich Herrn A.’s Rolle. Zunächst ergreift noch er die Initiative zur Problemlösung (Ausbruch von zu Hause). Doch im Zuge dieser Problemlösung entgleitet ihm die Regie (Rauswurf aus der Kommune) und geht in fremde Hände über (Angebot des Vaters zur Rückkehr nach Hause). Herr A. wird zunächst nur noch als passiv Erlebender dargestellt (Berufssuche). Es kommt zu einer erneuten Verschärfung des Bezugsproblems (Hinzutreten innerer Spannungen und Ängste). Indem Herr A. nun mit der ZenMeditation beginnt, ergreift er eine Initiative, die in dieser Situation allerdings noch nicht als Problemlösungsvariante vorgestellt wird. Erst als sich das Bezugsproblem noch weiter verschärft (gleichzeitig äußerer Druck durch Theater und Familie und innere Spannungen und Ängste) wird die ZenMeditation neben der passiven Erfahrung des Sterbens der Eltern als Problemlösungsvatiante beschrieben, die Herr A. aktiv betreibt. Da die Zen184
Meditation und die Erfahrung des Sterbens der Eltern als sich gegenseitig bedingende Problemlösungsvarianten präsentiert werden und gleichsam als Einheit zu betrachten sind, stellt der Erzähltext Herrn A. am Ende der Haupterzählung als bedingt aktiv Handelnden dar. Der Bogen des Erzähltextes führt somit von Herrn A., der als Kind das Bezugsproblem völlig eigenständig bewältigt hat, zu Herrn A. als Erwachsenem, der das Bezugsproblem nun bedingt aktiv bewältigt. In Bezug auf die Lösung des Problems insgesamt ist der Bogen vom Beginn bis zum Ende der Haupterzählung fast wieder geschlossen: Herr A. wird am Ende als Mensch dargestellt, der, von Einschränkungen abgesehen, gelernt hat, mit dem Bezugsproblem zu leben. Da der Erzähltext die Geschichte eines Menschen schildert, der sich in seinem Leben immer wieder sowohl von innen als auch von außen bedrängt fühlt und versucht, mit dieser Bedrängnis zu leben bzw. sie zu kontrollieren, steht Herrn A.’s narrative Bewältigung seines bisherigen Lebens unter dem Motto und im Horizont kontrollierter Bedrängnis. Das Thema Kirche in der Biografie Welche Rolle spielt nun das Thema Kirche im Rahmen der Selektivität des Textes? Welche Funktion weist der Text dem Thema Kirche zu bei der Inszenierung von Herrn A.’s Versuch, mit dem aufgeworfenen Bezugsproblem umzugehen? Mit der in der Eingangsfrage formulierten Aufgabenstellung, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen und dabei auch auf Erfahrungen und Erlebnisse einzugehen, die im Laufe der Zeit mit der Kirche gemacht wurden, wird in den Anfangspassagen der Erzählung auf folgende Weise umgegangen: Die erste Kernaussage, die der Text trifft, ist die über Herrn A.’s „sehr starke spirituelle Beziehung“ zu einem „schimpfenden“ Gott, den er mit Blitz und Donner identifiziert. Damit stellt der Text schon an einer sehr frühren Stelle der Erzählung eine Verbindung her zwischen der Beziehung zu einer transzendenten Größe und dem Bezugsproblem der Bedrängnis, das der Erzähltext im folgenden fortwährend aufwirft. Welche Rolle die Kirche für die „sehr starke spirituelle Beziehung“ spielt, die die Erzählung hier erwähnt, bleibt zunächst offen, wird aber sofort im Anschluss daran weiter erläutert. So wird die Konfession der Eltern genannt und erwähnt, dass viele Vorfahren mütterlicherseits evangelische Pfarrer gewesen seien. Mit diesem Hinweis kann der Text plausibilisieren, warum in Herrn A. „so eine Ader“ hochgekommen sei. Damit wird ein Rückbezug auf die zuvor genannte „sehr starke“ spirituelle Beziehung hergestellt. Diese Ader bzw. spirituelle Beziehung wird vom Text als Kontrast zum Gläubigsein inszeniert. So sagt der Text über Herrn A., dass seine eigene Ader „nicht gläubig“ war. Die Familie sei „halt ein Mal im Jahr in die Kirche zu Weihnachten, wie das so 185
üblich ist“. Gläubigsein und der Bezug zum kirchlich-institutionellen Veranstaltungsangebot, hier vertreten durch den Weihnachtsgottesdienst, werden vom Text miteinander identifiziert. Plausibilisiert wird das in diesem Sinne Nicht-Gläubigsein mit der Aussage, dass das so üblich sei. Außerdem wird auf die das Alltagsleben dominierenden beruflichen Tätigkeiten der Eltern verwiesen, die der „Arbeit am Wohlstand“ dienten. Betrachtet man die Eingangspassage des Interviews im Überblick, dann fällt auf, dass einerseits eine für das Hauptbezugsproblem wichtige, sehr starke spirituelle Beziehung eingeführt wird, die durch den Rekurs auf die Pfarrer unter den Vorfahren begründet wird. Andererseits wird die genannte spirituelle Beziehung klar unterschieden von der kirchlich-institutionellen Gläubigkeit: Herr A. wird als nicht-gläubig charakterisiert. Folglich wird damit auch zum Ausdruck gebracht, dass das Thema Kirche im Zusammenhang des Umgangs mit dem Hauptbezugsproblem keine zentrale Rolle spielt. Stattdessen verfolgt die Erzählung die bereits eingeführte Thematik der spirituellen Beziehung von Herrn A. und erläutert sie weiter. So habe Herr A. als Kind vor dem Schlafengehen ein „selbst gebasteltes Ritual“ praktiziert, bei dem er aus einem alten Liederbüchlein Texte rezitiert habe. Mit diesem Ritual wollte er die für ihn furchterregende Gottheit besänftigen. Damit bringt der Text gleich zu Beginn der Erzählung eine klar konturierte Verhältnisbestimmung zwischen Herrn A.’s Hauptbezugsproblem, seinem Verhältnis zur Kirche und seiner individuellen Spiritualität zum Ausdruck: Für den Umgang mit dem Hauptbezugsproblem der Bedrängnis spielt Herrn A.’s eigene spirituelle Praxis eine maßgebliche Rolle. Ein Erklärungsversuch für diese Praxis ist der Rekurs auf Vorfahren, die Pfarrer waren. Damit wird ein Bezug zur Kirche hergestellt: Die Pfarrer als Vorfahren sind gleichsam der Hintergrund, für Herrn A.’s eigene spirituelle Praxis. Weitere Bezüge zur Kirche bzw. zur kirchlichen Praxis werden an dieser Stelle nicht genannt. Wie wird das Thema Kirche im weiteren Verlauf der Erzählung im Rahmen der Selektivität des Textes aufgegriffen? Die nun folgenden thematischen Felder über die Elternfamilie, den Ausbruch von zu Hause und die Berufssuche stellen keinen Zusammenhang her zwischen dem Thema Kirche und der Biografie von Herrn A. Erst die Schilderungen der Zeit vor Herrn A.’s Hochzeit benennen das Thema Kirche. Sie berichten vom Kennenlernen des Benediktinerpaters Willigis Jäger, der von ihm praktizierten Form der Zen-Meditation und von „Gotterfahrungen“, die Herr A. dabei macht. Der Bezug zum Thema Kirche wird an dieser Stelle hergestellt durch eine Erzählung über eine kirchliche Persönlichkeit, die für Herrn A. von großer Bedeutung ist. Insbesondere die Erzählung über die von Willigis Jäger praktizierte und gelehrte Variante der Zen-Meditation kann in funktionaler Hinsicht als Versuch des Textes betrachtet werden, zumindest in 186
begrenztem Maße eine Verbindung zwischen der individuellen spirituellen Praxis von Herrn A. und dem Thema Kirche herzustellen. Wie schon bei den Schilderungen über Herrn A.’s spirituelle Praxis in der Kindheit, geht es auch im Zusammenhang mit der nun eingeführten Zen-Meditation um eine „Gotterfahrung“, die Herr A. dabei macht. Im Unterschied zu den früheren Schilderungen werden die spirituelle Praxis der Zen-Meditation und die damit einhergehende „Gotterfahrung“ nicht als problemlösende Faktoren für das Bezugsproblem von Herrn A. benannt. Im Gegenteil, die Zen-Meditation und die damit verbundenen Erfahrungen werden als Faktoren vorgestellt, die die Wahrnehmung des Bezugsproblems zunächst weiter vertiefen. Erst im darauf folgenden thematischen Feld über den Druck im Theaterbetrieb wird die Zen-Meditation als Problemlösungsinstrument vorgestellt. Sie hilft Herrn A., mit seinen inneren Spannungen und Ängsten zu leben, sie zu akzeptieren. Gleiches rechnet der Text aber auch der Erfahrung zu, die Herr A. mit dem Sterben seiner Eltern gemacht hat. Der Text konstruiert eine Parallele zwischen den Erfahrungen, die Herr A. beim Meditieren macht, und denen, die er im Zusammenhang mit dem Sterben der Eltern, insbesondere der Mutter, gemacht hat. In Gestalt von Pater Willigis Jäger thematisiert der Erzähltext Kirche hier in der Weise, dass sie Herrn A. mit der Zen-Meditation ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, mit dem er auf individuelle Weise mit dem Bezugsproblem der inneren und äußeren Bedrängnis umgehen kann. Sowohl bei den Schilderungen über die spirituelle Praxis in der Kindheit als auch über die Erfahrungen mit der Zen-Meditation liegt der vom Text markierte Schwerpunkt eindeutig auf der individuellen, von Herrn A. autonom ausgeübten spirituellen Praxis. Das heißt nicht, Kirche spiele dabei keine Rolle. Vielmehr steht diese auf lose Weise im Hintergrund: Im einen Fall vertreten durch die Pfarrer unter den Vorfahren, im anderen Fall vertreten durch Willigis Jäger. Nur in dieser Weise integriert die Erzählung das Thema Kirche. Im Nachfrageteil des Interviews wurde versucht, Herrn A. auf Lebenssituationen und Lebensphasen anzusprechen, bei denen er in Kontakt mit dem kirchlich-institutionellen Leben gekommen sein könnte. So berichtet das thematische Feld über Weihnachten in der Elternfamilie über einen „sehr netten Pfarrer“, der den Weihnachtsgottesdienst gehalten hat. Ebenfalls positiv wird über den Weihnachtsgottesdienst und die Raumerfahrung berichtet, die Herr A. dabei gemacht hat. Hier fällt eine Argumentationsfigur auf, die noch häufiger anzutreffen ist: Der Text stellt einen Zusammenhang her zwischen der Raumerfahrung in der Kirche und dem Theater. Wofür dieser Zusammenhang zwischen Kirche und Theater genau steht, wird hier jedoch noch nicht deutlich. 187
Eine weitere Stelle, an der der Erzähltext auf das Thema Kirche zu sprechen kommt, sind Erinnerungen an die Konfirmandenzeit. Außer der unspezifischen Feststellung, dass der Pfarrer „sehr nett“ gewesen sei, wird mit dem Verweis auf die damaligen Interessen von Herrn A. vor allem plausibilisiert, warum Herr A. nach der Konfirmandenzeit keinen weiteren Kontakt zur Kirche hatte. Eine Erzählpassage über den schulischen Religionsunterricht nennt abermals positive Evaluationen, stellt jedoch keine Zusammenhänge zur biografischen Gesamtkomposition des Textes her. Zum Verständnis für Herr A.’s Spiritualität sind die Passagen des Nachfrageteils über die Gefühle nach dem Weggang aus dem Elternhaus und zu Gedanken über Gott und Natur aufschlussreich. Gott wird mit Sinn identifiziert. Als eine Erfahrung von Sinn wird dabei z.B. das Sterben der Mutter genannt. Ebenso werden Erfahrungen mit Sinn und somit mit Gott im Zusammenhang mit der Natur und der Zen-Meditation genannt. Gott wird als großer Gesamtzusammenhang beschrieben, den Herr A. beim Sterben der Mutter, in der Natur und auch beim Meditieren erfährt. In der Natur, so der Text, sei das ein Gefühl wie in der Kirche. Das folgende thematische Feld über Theaterspielen und Spiritualität greift das auf, rekurriert aber zusätzlich auf den schon früher angesprochenen Zusammenhang zwischen Theater und Kirche. Im Theater, beim Theaterspielen, so beschreibt es der Text, macht Herr A. ebenfalls „Gotterfahrungen“. Das Bild, das von der Spiritualität Herrn A.’s und deren Verhältnis zur Kirche gezeichnet wird, umfasst folgende Facetten: „Gotterfahrungen“ macht Herr A. in verschiedenen Kontexten – beim Meditieren, in der Natur, beim Theaterspielen, und auch als seine Mutter gestorben ist. Diese „Gotterfahrungen“ werden so geschildert, dass er Gott in sich spürt bzw. beim Theaterspielen sich Gott durch ihn zum Ausdruck bringe. Die vom Text vorgenommenen Parallelisierungen zwischen Natur, Theater einerseits und Kirche(nraum) andererseits erfüllen die Funktion, neben der Kirche auch andere, für Herrn A. wichtigere Orte zu benennen, an denen er „Gotterfahrungen“ macht. Wichtig dabei festzuhalten ist jedoch: Der Text spricht der Kirche die Möglichkeit der „Gotterfahrung“ nicht ab. Im Gegenteil, er rekurriert immer wieder darauf, um die „Gotterfahrungen“ von Herrn A. zu beschreiben. Andererseits unterstreicht er aber: Neben der Kirche gibt es noch weitere Orte, an denen „Gotterfahrungen“ gemacht werden können. Auf eine positive Erfahrung mit Kirche kommt der Text im Zusammenhang mit der Erzählung über den Tag von Herrn A.’s Hochzeit zu sprechen. Mit dem Pfarrer, der Herrn A. und seine Frau getraut hat, steht hier nicht die Kirche im allgemeinen oder der Kirchenraum im Mittelpunkt, sondern ein Repräsentant der Kirche. Persönliche Bekanntschaft, menschliche Größe und 188
fachliche Kompetenz (vor allem bezüglich der Auslegung von Bibeltexten) werden als entscheidende Qualitätsmerkmale für den Pfarrberuf genannt. Das darauf folgende thematische Feld über die Beerdigungen von Herrn A.’s Angehörigen befasst sich mit dem Thema Kirche ebenfalls auf personaler Ebene. Hier stehen allerdings Negativerfahrungen mit einem Pfarrer im Vordergrund. Den zuvor genannten Qualitätsmerkmalen entspricht er keineswegs. So wird im Zusammenhang mit der Beerdigung von Herrn A.’s Vater berichtet, der Pfarrer habe die Beerdigung „runtergeleiert“. Die Verbindung zum Schauspielberuf wird dabei mit dem Hinweis hergestellt, sowohl Pfarr- als auch Schauspielberuf unterlägen den gleichen Versuchungen und Gefahren. Hier wie dort sei es schlecht, wenn etwas „runtergeleiert“ wird. Neben dieser formalen Parallele stellt der Text aber auch eine Beziehung her zwischen dem Pfarrberuf und Herrn A. als Schauspieler: Indem Herr A. bei der Beerdigung seines Vaters Gedichte rezitiert hat, hat er in seiner Eigenschaft als Schauspieler dazu beigetragen, dass die Beerdigung trotz der Unzulänglichkeiten des Pfarrers doch noch zu einer gelungenen Veranstaltung wurde. Will der Text durch die Parallelisierung des Pfarrberufs mit dem Schauspielberuf und die darauf folgende Episode über Herrn A.’s Beitrag zum Gelingen der Beerdigung des Vaters andeuten, dass Herr A. seine berufliche Kompetenz als Schauspieler in eine gewisse Nähe zum Pfarrberuf rückt? Versucht man die Charakteristika von Herrn A.’s Verhältnis zur Kirche, so wie es die Sequenzialität und Selektivität des Textes erkennen lassen, zusammenfassend zu beschreiben, ergibt sich folgendes Bild: Die Haupterzählung beschreibt Herrn A. in expliziter Abgrenzung von kirchlicher „Gläubigkeit“ als autonom handelndes spirituelles Subjekt. Das in dieser Perspektive beschriebene spirituelle Handeln von Herrn A. wird als funktionierende Lösungsstrategie für sein Bezugsproblem der Bedrängnis präsentiert. Kirche ist dabei nicht irrelevant. Sie ist in Gestalt der Pfarrer unter den Vorfahren vertreten und bildet so etwas wie einen legitimatorischen Hintergrund für Herrn A.’s eigenständige spirituelle Praxis. Bei der weiteren biografischen Schilderung des Umgangs mit dem Bezugsproblem spielt die spirituelle Praxis von Herrn A. zunächst keine Rolle. Erst in den Passagen, in denen der Text die abschließende Problemlösungsvariante für den Umgang mit dem Bezugsproblem schildert, kommt mit der Zen-Meditation eine von Herrn A. eigenständig praktizierte Form spiritueller Praxis zunächst in den Blick. Gemeinsam mit der Erfahrung des Sterbens der Eltern ist sie das zentrale Moment für die Bewältigung des Umgangs mit dem Bezugsproblem der Bedrängnis. Eigenständige spirituelle Praxis mit einer losen Verbindung zu einem kirchlichen Hintergrund, für den die Pfarrer unter den Vorfahren von Herrn A. ebenso stehen wie der Zen-Lehrer Willigis Jäger, das ist das Profil des Kirchenverhältnisses, wie es die Haupterzählung erkennen lässt. 189
Der Nachfrageteil steuert einige präzisierende Details dazu bei. Tendenziell laufen sie immer darauf hinaus, dass Herr A. an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Gelegenheiten „Gotterfahrungen“ macht wie in der Kirche. Der Text nennt als Beispiele die Natur, die Zen-Meditation, die Erfahrung des Sterbens der Mutter und das Theaterspielen. An all diesen Orten und bei all diesen Gelegenheiten macht Herr A. „Gotterfahrungen“ bzw. begreift er sich als Mittel, durch das Gott sich zum Ausdruck bringt. Dabei gilt: Kirche und Kirchenräume werden den genannten Orten und Gelegenheiten nicht als Alternativen gegenübergestellt. Im Gegenteil: In der Regel wird so etwas wie eine Strukturanalogie angedeutet: In der Natur, beim Meditieren, beim Theaterspielen werden Erfahrungen gemacht wie in der Kirche. Aus der Perspektive von Herrn A. steht die Kirche als Ort der „Gotterfahrung“ in der Weise im Hintergrund, dass er persönlich sie nicht als Raum, in dem „Gotterfahrung“ möglich ist, nutzt. Wohl aber sieht er sie in einer Reihe mit Orten und Gelegenheiten der „Gotterfahrung“ stehen. Die Passagen des Nachfrageteils, die auf der personalen Ebene eine Verbindung zwischen dem Pfarrberuf und Herrn A. als Schauspieler herstellen, unterstreichen das. Ebenso wie Pfarrer hat es Herr A. sowohl beruflich als auch im Rahmen seiner privaten spirituellen Praxis mit „Gotterfahrungen“ zu tun. Der Text präsentiert Herrn A. als jemanden, der angesichts der Nähe zwischen dem Pfarr- und dem Schauspielberuf genau benennen kann, was seines Erachtens einen guten bzw. schlechten Pfarrer ausmacht. Im Fall des Versagens eines Pfarrers ist er auf Grund seiner fachlichen, und das heißt auch spirituellen Kompetenzen in der Lage, die Aufgabe eines Pfarrers zu übernehmen. Der Text zeichnet Herrn A. als Menschen, der über eine eigenständige spirituelle Kompetenz verfügt und diese lebt. In dieser Hinsicht besteht zur Kirche eine Verbindung. Um seine spirituelle Kompetenz zu praktizieren, begibt sich Herr A. allerdings nicht an kirchliche Orte. Er tut dies andernorts. In diesem Sinne stellt Kirche für Herrn A. einen Hintergrund für die eigene spirituelle Praxis dar. 2.2 Frau B.: Auf dem Weg in eine geeignete Lebenssituation 2.2.1 Vorbemerkungen Frau B. ist 1940 geboren. Nach der zehnten Klasse verlässt sie das Gymnasium. Sie verbringt zunächst ein Jahr in Rom als Haustochter im Hospiz der Kaiserswerther Schwestern. Im Anschluss daran absolviert sie eine Lehre zur Kinderkrankenschwester. Die Zeit ihrer aktiven Berufstätigkeit als Krankenschwester ist geprägt von zahlreichen Wechseln der Arbeitsstelle und des Wohnortes. Mit Anfang dreißig lernt sie einen Witwer mit zwei 190
Kindern kennen und heiratet ihn. Sie gibt ihren Beruf auf und ist nun Hausfrau. Über eine Ausbildung zur Stadtführerin findet sie Kontakt zu ihrer Kirchengemeinde. Sie wirkt dort zunächst im Chor mit und engagiert sich jetzt im Kirchenvorstand der Gemeinde. Das Interview wurde im Oktober 2002 geführt und dauerte ca. zweieinhalb Stunden. Der Verfasser hat Frau B. über die Vermittlung eines Bekannten kennen gelernt. 2.2.2 Rekonstruktion des biografischen Textes Das Interview beginnt mit einer vergewissernden Nachfrage Frau B.’s an den Interviewer, wie sie bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte auf die Kirche eingehen solle. Sie weist darauf hin, dass es ja auch eine „völlig klare“ Lebensgeschichte gebe, ohne dabei die Kirche erwähnen zu müssen. Dem Forschungsinteresse entsprechend bittet der Interviewer Frau B. darum, wenn möglich, Erfahrungen und Erlebnisse, die sie im Laufe ihres Lebens mit der Kirche gemacht habe, in die Schilderung ihrer Lebensgeschichte mit einzubeziehen. Der Interviewer weist Frau B. aber auch darauf hin, dass sie auch über Phasen ihrer Lebensgeschichte berichten soll, in denen die Kirche keine Rolle spielt. Nach dieser Vorabklärung erzählt Frau B. ihre Lebensgeschichte so, dass sie Erfahrungen und Erlebnisse, die sie im Laufe ihres Lebens gemacht hat, mit in die Erzählung einbezieht, sie aber auch ausführlich über Lebensphasen berichtet, in denen die Kirche keine Rolle spielte. Kirche in Kindheit und Jugend Die Erzählung setzt ein mit einer Argumentation, die Frau B.’s aktuelles Engagement als Mitglied im Kirchenvorstand begründet. B: Weil (mh) jetzt dadurch, dass ich jetzt in der Kirche mitarbeite, hat es schon damit zu tun, dass ich eigentlich von Kind an so geführt worden bin (ja, ja). Also ich würde jetzt hier nicht mitarbeiten, wenn ich nicht von zu Hause schon geprägt worden wäre. (B/25–28)
Sehr allgemein gehalten wird das aktuelle kirchliche Engagement von Frau B. mit der Prägung durch das Elternhaus erklärt. Wie sich diese Prägung genau gestaltet, führt ein Bericht über die Elternfamilie weiter aus. B: Geboren bin ich im [Name einer Landschaft] und (mh) in einer Großfamilie. Bin also das dritte Kind von vieren. Und meine Mutter ist Pfarrerstochter, also der Großvater, mein Großvater war Pfarrer. Und meine Mutter ist natürlich als Pfarrerstochter sehr geprägt gewesen durch das Pfarrhaus in der damaligen Zeit. Deswegen bin ich damit auch-, also mit Kindergebeten und (mh) dieser Fürsorge und, ja-. (B/30–36)
Nach der kurzen Notiz über Herkunftsgegend und Familiengröße betont der Bericht besonders, dass die Mutter Pfarrerstochter war und als solche stark 191
durch ihre Herkunft geprägt gewesen sei. Der Text schlägt auf dieser Basis eine Verbindung von der Mutter hin zu Frau B. selbst. Das geschieht durch den Hinweis auf Kindergebete und „Fürsorge“. Das Thema wird jedoch nicht weitergeführt. Stattdessen kommt der Text auf Frau B.’s Erfahrungen mit Taufen zu sprechen. B: Die Taufe war immer ein großes Fest und wir waren also wirklich eine Großfamilie wo man-, wo alle zusammen immer zu allen Taufen von allen gegangen sind. Also wir waren wirklich so eingeprägt, aber diese Taufen haben immer zu Hause stattgefunden (mh). Das war wahrscheinlich ein Privileg, so wie ich es jetzt sehe, dass wir nicht in die-. Also ich habe gerade aus der Kindheit keine Kirchenerfahrungen, sondern immer familiäre Erfahrungen (3). (B/36–43)
Mit Haustaufen, die Frau B. in ihrer Familie und ihrer Verwandtschaft (Großfamilie!) erlebt hat, nennt der Text eine spezifische Form kirchlichinstitutioneller Praxis. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie von rein familiär geprägten kirchlichen Kontexten eine Verbindung herstellt zum institutionellen Leben der Kirche. Dabei bleibt der Bezug zum privat-familiären Kontext gewahrt. Schließlich finden die Taufen zu Hause statt. Die evaluierende Aussage, Frau B. habe in der Kindheit keine Kirchenerfahrung, sonder immer nur familiäre Erfahrungen gemacht, signalisiert eine Differenzierung: Privat-familiäre Erfahrungen, die Frau B. in der Kindheit mit der Kirche gemacht hat, werden von den gemeinhin üblichen Kirchenerfahrungen unterschieden. Inwieweit sich darin die als soziales Muster häufig anzutreffende Differenzierung zwischen privater Religiosität und institutionell normierter Kirchlichkeit widerspiegelt, muss sich im weiteren Verlauf der Erzählung zeigen. Der Text kommt nun auf einen Umzug auf das Land während Frau B.’s Kindheit zu sprechen. B: Ja, und wir sind, als ich 5 Jahre alt war, ausgebombt worden im Krieg. Und wir sind auf das Land gezogen. Mein Vater war Lehrer, war Rektor und war sozusagen im Zweiten Weltkrieg überaltert und hat dadurch auf dem Land die Schule weitergeführt. Er war dann auch Schulleiter und wir waren Privilegierte, dass wir im Schulhaus wohnen konnten. Und (mh) wir als Familie sind also auf dem Land so Vorzeigefamilie gewesen. Das bedeutet also, immer anständig, immer mit Schürzchen, immer (mh) Vorbildfunktion, immer erste in der Klasse, also alle Geschwister (ja). Und natürlich die Lehrer sind auch in die Kirche gegangen als Vorbildfunktion auf dem Land. Man war mit dem Pfarrer zusammen (mh), man hat sich ausgetauscht, gemeinsam gegessen, Kuchen hin und her getragen. Also da habe ich Kirche kennen gelernt und total protestantisch. Es gab zwei Familien im Ort, die katholisch waren (mh), und es war absolute Neugier da mitzukriegen, wie das funktioniert (ja). Man weiß eben auch Taufen-, zwei katholische Taufen in der Kirche, was für uns Kinder also ein großes Neugier- (mh), Fest war. (B/43–60)
192
Der Bericht über die Berufstätigkeit des Vaters als Lehrer und Rektor während des Zweiten Weltkrieges bereitet die Beschreibung vor, in der der Text die Familie Frau B.’s als privilegierte Vorzeigefamilie darstellt. Der Text schildert das soziale Umfeld, in dem Frau B. und ihre Familie auf dem Lande leben, als dörfliche Elite, deren Mitglieder in einem vitalen Austausch miteinander stehen. Als Mitglied dieser Elite kommt Frau B. eine Vorbildfunktion zu. In diesem Zusammenhang rekurriert der Text auch auf Frau B.’s Erleben der Kirche in dieser Zeit: Auf Grund ihrer Vorbildfunktion sind die Lehrer in die Kirche gegangen und verkehrten darüber hinaus auch privat mit dem Pfarrer. An dieser Stelle kommt die Frage auf, was der Text genau zum Ausdruck bringen will, wenn es von Frau B. heißt: „[...] also da habe ich Kirche kennen gelernt und total protestantisch“. Soll damit ausgedrückt werden, dass Frau B. erst die Erfahrung des Kirchgangs und des privaten Kontakts zum Pfarrer als Kennenlernen von Kirche und Protestantismus interpretiert? Eine solche Lesart würde die oben aufgeworfene Vermutung bekräftigen, wonach der Text eine Differenzierung zwischen privater Religiosität und institutionell normierter Kirchlichkeit konstruiert. Fest steht an dieser Stelle auf jeden Fall: Der Text kennzeichnet die Erfahrungen, die Frau B. mit der Kirche und dem Pfarrer nach dem Umzug auf das Land macht, als explizite Erfahrung mit der Kirche. Und das heißt mit der protestantischen Kirche. Das Moment des Protestantischen wird durch die kurze Anekdote über die beiden katholischen Familien im Dorf und die Taufen derer Kinder unterstrichen. Der Text geht jetzt auf die Rolle des Gebets in der Nachkriegszeit ein. Frau B. ist als Kind Fahrschülerin. Mit diesem Hinweis schafft der Text die Grundlage, auf die Funktion des Gebets zu dieser Zeit zu sprechen zu kommen. Die Fahrt zur Schule war ebenso eine Gefährdungssituation wie das Leben der Soldaten im Krieg oder das kranker Menschen. Für Menschen in solchen Situationen, so unterstreicht es der Text, war das Gebet in dieser Zeit sehr wichtig. Die nun folgende Erzählpassage greift das Thema der Vorbildfunktion, die Frau B. als Lehrertochter in Sachen Kirche zukommt, wieder auf. B: Wir sind dann, mein Großvater ist gestorben und hat uns sein Haus hinterlassen, wir sind also in eine kleine Kleinstadt umgezogen in [Name einer Stadt], wo (mh) Schulsituation besser war. Und da war das auch sehr kirchlich geprägt also mit Schülergottesdiensten mit, wo wir als Lehrerskinder alle mitgemacht haben, im Chor waren, also damals schon Weihnachtsoratorium aufgeführt haben und so, und dann (mh) bin ich mit der mittleren Reife aus der Schule ausgeschieden, habe keine Lust mehr gehabt. (B/65–73)
Der Umzug in die Kleinstadt führt Frau B. in Lebensumstände, die, so der Text, sehr kirchlich geprägt sind. Als Beispiel dafür werden die Schülergot193
tesdienste genannt. Es ist jedoch nicht die generelle kirchliche Prägung der Lebensumstände in der Kleinstadt, mit denen der Text die Teilnahme Frau B.’s an den Gottesdiensten begründet. Vielmehr rekurriert der Text abermals auf Frau B.’s Eigenschaft als Lehrertochter und damit auf die mit dieser Rolle einhergehende Vorbildfunktion. Spezifiziert wird die Teilnahme am Schülergottesdienst und das kirchliche Engagement mit dem Mitwirken Frau B.’s im Chor. Unvermittelt schildert der Text das Ausscheiden von Frau B. aus der Schule mit der Begründung, sie habe nach der mittleren Reife keine Lust mehr gehabt. Das thematische Feld über Kirche in Kindheit und Jugend von Frau B. ist damit beendet. Blickt man auf den Beginn des thematischen Feldes, wo das aktuelle kirchliche Engagement Frau B.’s im Kirchenvorstand mit dem Hinweis auf ihre Prägung von „zu Hause“ begründet wird, dann stellen die folgenden Erzählpassagen eine Art Belegerzählung für diese Aussage dar. Sie erläutern, wie genau sich Frau B.’s Prägung in Sachen Kirche in Kindheit und Jugend darstellt. Dabei hebt der Text stark auf Begegnungen und Kontakte mit der Kirche ab, die im privat-familiären Bereich verortet sind. Als Beispiele kann der Großvater genannt werden, der Pfarrer war, die Mutter, die als Pfarrertochter kirchlich geprägt war, die Haustaufen in der Familie und die privaten Kontakte, die zwischen Frau B.’s Familie und dem Pfarrer bestanden. Von diesen privat-familiären Formen des Kontakts zur Kirche unterscheidet der Text so etwas wie einen eigentlichen Kontakt mit der Kirche. Er ergibt sich aus Frau B.’s Eigenschaft als Lehrertochter und der Vorbildfunktion, die ihr als solcher zukommt. In dieser Vorbildfunktion liegt die Ursache dafür, dass Frau B. die Kirche durch die Teilnahme am Gottesdienst auch von ihrer öffentlichen Seite kennen lernt. Es ist speziell das Mitwirken im Chor, das Frau B.’s öffentliche Teilnahme am kirchlichen Leben kennzeichnet. Das thematische Feld konstruiert in Bezug auf die Rolle, die die Kirche in Frau B.’s Kindheit und Jugend spielt, somit eine Unterscheidung zwischen privat-familiären und öffentlichen Kontaktpunkten mit der Kirche. Stellt man die Frage, inwieweit der Text Frau B. als gestaltende Größe bezüglich des Verhältnisses darstellt, so ist ihre Rolle eine passive: Frau B. findet sowohl die familiären Bedingungen des Lehrerhaushaltes mit der durch die Mutter als Pfarrerstochter vermittelten kirchlichen Prägung vor als auch ihre sich daraus ergebende öffentliche Rolle als Lehrertochter mit Vorbildfunktion. Der Text zeichnet in diesem thematischen Feld einen intakten sozialen, d.h. privat-familiären wie auch öffentlichen Kosmos, in dem Frau B. lebt. Unter dem Aspekt von Problem und Problemlösung deutet der Text lediglich am Ende des thematischen Feldes einen Aspekt an, der in dieser Hin194
sicht im Laufe der weiteren Analyse zu beobachten ist: Das Ausscheiden von Frau B. aus der Schule nach der mittleren Reife mit der Begründung, dass sie keine Lust mehr auf die Schule habe. Aufenthalt in einem christlichen Hospiz in Rom Dieses Problemstellung wird nun direkt aufgegriffen. Die Zeit nach Frau B.’s Ausscheiden aus der Schule ist jetzt Thema. B: Und ich hab-, also die Schwester meiner Mutter hat in [Name einer Großstadt] gelebt und ihr Mann war Gefängnispfarrer in Tegel. Er hat die Personen vom 20. Juli begleitet und nach dem Krieg, also da haben wir wenig davon mitgekriegt, es war ja alles kaputt, ist er sehr viel herumgereist, um die Verwandten, und ja, also Verwandtschaft [...] zwei vom 20. Juli zu Besuch, war auch in Rom. Und in Rom ist eine von den Kaiserswerther Schwestern-, ein Hospiz, christliches Hospiz, großes für fünfzig Personen. Und die haben mich vermittelt und ich bin also bei Kaiserswerther Schwestern in [...] gelandet, mit sechzehn. (B/73–82)
Die Erzählpassage ist so konstruiert, dass sie nicht direkt mit der Vermittlung von Frau B. in das Hospiz nach Rom beginnt. Vielmehr wird eine Belegerzählung über den Onkel Frau B.’s vorangestellt, in der dessen Kontakt als Gefängnispfarrer von Tegel zu „Personen vom 20. Juli“ geschildert wird. Zur Beantwortung der Frage nach der Funktion, die diese Ausführungen spielen, lassen sich unterschiedliche Vermutungen anstellen. Zum einen ist denkbar, dass die Erzählung generell auf die Kontakte, die Frau B.’s Onkel als Pfarrer zu „Leuten vom 20. Juli“ hatte, hinweisen möchte. Das würde einen Befund aus dem vorangegangenen thematischen Feld aufgreifen, wonach der Text immer wieder unterstreicht, dass Frau B.’s Kontakt zur Kirche in Kindheit und Jugend privat-familiär verortet ist und das einer dieser Kontakte im Falle des Onkels auf Grund seiner historischen Relevanz von besonderer Bedeutung ist. Zum anderen erfüllt die Belegerzählung über den Onkel aber auch eine ganz pragmatische Funktion hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Erzählung: Sie erklärt, wie der Kontakt, der Frau B. in das Hospiz nach Rom führen wird, zustande gekommen ist. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Text von einer Vermittlung Frau B.’s nach Rom durch ihre Verwandtschaft spricht. Das heißt, die Lösungsvariante, die der Text für das zuvor aufgeworfene Problem von Frau B.’s Ausscheiden aus der Schule bietet, stellt Frau B. als passiv Erlebende dar. Der Romaufenthalt verdankt sich nicht ihrer eigenen Initiative. Es folgt eine Schilderung der Lebensumstände im Hospiz. B: Und da fängt meine negative Erfahrung an. War also als Haustochter dort und war meine Militärzeit dort, abgeleistet, mit großer Strenge sind-. Wir waren acht Mädchen. Jeden Morgen um halb sechs aufstehen und erst eine halbe Stunde Bibel lesen, öffentlich. Und (mh) dieser=dieser Druck morgens, fast unausgeschlafen in der
195
Bibel vorzulesen, das ging so reihum. Da also ist mein Widerstand geboren und ganz-. Ich hab mir das noch mal überlegt. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich gelesen habe, sehr seltsam, ich hab also nichts behalten. Und, also wir durften um halb neun von=mit der Arbeit aufhören und dann in das Bett gehen. Erst noch Abendgebet und Tischgebet und sonst ein Gebet und da ein Gebet (ja), um dann zu erleben, dass die Diakonissen sich untereinander gestritten haben. War also außer dem Romerlebnis hauptsächlich negativ. Wir waren körperlich total erschöpft und, ja, musste also erst mal mich zu Hause erholen. Es war vorgesehen, dass ich zwei Jahre dort bleibe. Bin aber nur ein Jahr geblieben. Halt ich denk mir, ich bin also mit sechzehn, das war ’56, ’57, nein ’55, ’56 so ungefähr, mit acht Koffer mit Kleidern und Zeug nach Rom mit dem Zug gefahren, dort abgeholt worden und wusste, dass ich erst in einem Jahr frühestens wieder heimkommen kann. Das würde, glaube ich, niemand mehr machen. Und hab mich also da sozusagen alleine durchgeschlagen. Habe aber eine starke Prägung von Rom mitgekriegt. (B/82–104)
Der Text schildert in dieser Passage die negativ evaluierten Lebensumstände, unter denen Frau B. im Hospiz gelebt hat. Hinsichtlich des Beginns der Passage stellt sich die Frage, worauf genau sich die Aussage „Und da fängt meine negative Erfahrung an“ bezieht. Geht es um eine allgemeine negative Erfahrung im Leben? Oder, vom thematischen Fokus des Interviews beeinflusst, speziell um negative Erfahrungen mit der Kirche? Oder fließen beide Aspekte ineinander – eine allgemeine negative Erfahrung die sich an den Erlebnissen im Hospiz manifestierten? Die hier vorfindbare Semantik (Militärzeit, Druck etc.) unterstreicht die eingangs genannte negative Evaluation und schafft damit die Grundlage, auf der der Text von der Geburt von Frau B.’s Widerstand berichten kann. Auch dabei bleibt noch unklar, wogegen genau sich der Widerstand von Frau B. richtet. Eine Reflexion über die Zeit im Hospiz erlaubt einen ersten Antwortversuch auf diese Frage. So hebt der Text das Moment der Sinnlosigkeit des „militärähnlichen Drills“ im Hospiz hervor: Von der täglichen Bibellese habe Frau B., so der Text, „nichts behalten“. Das spricht dafür, dass sich Frau B.’s Widerstand gegen den Zwang richtet, etwas Sinnloses machen zu müssen. Einen weiteren Hinweis sowohl auf die Frage nach dem Bezugspunkt der negativen Erfahrung von Frau B. wie auch ihres Widerstands bietet der Hinweis auf die Streitigkeiten unter den Diakonissen. Das wiederum deutet daraufhin, dass der Bezugspunkt von negativer Erfahrung und Widerstand die Diakonissen als Vertreterinnen der Kirche sind. In diesem Fall ginge es somit um negative Erfahrungen mit der Kirche. Der Schluss der Erzählpassage hebt die Leistung hervor, die Frau B. mit ihrem Aufenthalt im Hospiz vollbracht hat. Er lässt aber auch erkennen, dass Frau B. statt der ursprünglich vorgesehenen zwei Jahre nur ein Jahr in Rom bleibt. Nach den vorangegangenen Ausführungen über die widrigen Lebensumstände im Hospiz kommt diese Information jedoch nicht überraschend. Vielmehr unterstreicht sie, wie unerträglich die Situation für Frau 196
B. im Hospiz ist. Am Ende der Erzählpassage stellt sich die Frage, welcher Natur genau die starke Prägung ist, von der der Text sagt, Frau B. habe sie in Rom erfahren. Mit Hilfe der folgenden Passage kann eine Antwort auf diese Frage gegeben werden. B: War das, war damals, das weiß ich jetzt gar nicht mehr, war es ’55 oder war es [...], Jubiläumsveranstaltung gehabt, wo wir auch hingegangen sind. Also mussten wir immer im Pulk gehen, Petersdom, der Papst auf dem Stuhl mit seinen sogenannten weißen Händen und so, es war toll, es war-, und=und mit Fanfarenmusik und so weiter. In der Zwischenzeit war ich noch öfter in Rom. Aber also dieses Fest ist, glaube ich, wirklich einmalig gewesen, das war ganz toll und dabei habe ich immer erlebt, dass diese protestantischen Diakonissen sich total abgegrenzt haben vom Katholizismus. Also ich habe dabei eigentlich eine negative Erfahrung gemacht, die ich von zu Hause nie hatte, diese=diese Ablehnung des Katholischen oder katholische Rituale, katholische Kirche an sich (mh). Also ich habe in der Zeit leider eine sehr negative Prägung gekriegt (mh). Und ich fand Rom wunderbar und ich glaube, ich habe mich also auch ganz anständig benommen, so dass ich ab und zu auch mal alleine weggehen konnte und (mh) Rom so erleben konnte. (B/104–120)
Der Text konstruiert hier eine Differenzierung zwischen der Art und Weise, wie Frau B. Rom als Stadt und den Vatikan erlebt, und wie sie andererseits die Diakonissen im Hospiz wahrgenommen hat. Rom als Stadt wird dabei als herausragendes positives Erlebnis geschildert. Als negative Erfahrung dagegen werden die Diakonissen und vor allem deren negative Haltung dem Katholizismus gegenüber beschrieben. Explizit in diesem Zusammenhang spricht der Text von einer „sehr negativen Prägung“. Um die oben aufgeworfenen Fragen nach den Bezugspunkten der negativen Erfahrung und Prägung von Frau B. sowie auch ihres Widerstandes aufzugreifen, kann an dieser Stelle gesagt werden, dass dieser vor allem im Verhalten der Diakonissen zu sehen ist. Die positiven Evaluationen über Rom als Stadt und den Vatikan dienen im Kontext dieser Erzählpassage dazu, die Opposition von Frau B. gegen die Haltung der Diakonissen zu unterstreichen. Außerdem kann in ihnen der Versuch gesehen werden, einen Weg aufzuzeigen, der es Frau B. erlaubt hat, die Zeit im Hospiz zu „überstehen“. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Text eine Kausalität zwischen „guter Führung“ im Hospiz und der Erlaubnis, in Rom auch einmal alleine weggehen zu dürfen, herstellt. Widerspricht sich der Text nicht, wenn er einerseits oben vom Widerstand redet, der sich in Frau B. angesichts der widrigen Lebensumstände im Hospiz und der negativen Erfahrungen mit den Diakonissen regt, andererseits aber nun gesagt wird, Frau B. habe sich so „anständig benommen“, dass sie auch alleine weggehen durfte? Vielleicht ist die Formulierung, Frau B.’s Widerstand sei während der Zeit im Hospiz „geboren“ wortwörtlich zu nehmen: Er ist geboren, hat sich aber nicht weiter manifestiert. 197
In der Zusammenschau inszeniert das thematische Feld Frau B. als Person, die vermittelt durch andere in eine für sie negative Situation gerät. Diesbezüglich ist sie passiv Erlebende, nicht aktiv Handelnde. Zunächst erweckt der Text den Eindruck, Frau B. habe sich dieser Lage aktiv widersetzt. Doch das Moment des Widerstands verbleibt auf der Einstellungsebene und manifestiert sich nicht auf der Handlungsebene. Um die bedrückenden Umstände, unter denen Frau B. im Hospiz in Rom lebt, aushalten zu können, bietet der Text stattdessen zwei Problemlösungsvarianten: Zum einen entzieht sich Frau B. der Situation vorzeitig, indem sie statt der vorgesehenen zwei Jahre nur ein Jahr im Hospiz bleibt. Zum anderen verhält sie sich „anständig“ im Hospiz, um Rom als Stadt und den Vatikan erleben und so den Negativerlebnissen im Hospiz einen positiven Ausgleich entgegenstellen zu können. Es ist somit nicht aktiver Widerstand, mit dem Frau B. das Problem löst. Vielmehr ist es das Moment der Passivität (Anpassung an die Lebensumstände und -regeln im Hospiz), das ihr das Überleben während ihrer Zeit im Hospiz ermöglicht. Bezüglich der negativen Prägung, von der in diesem thematischen Feld die Rede ist, ist zu bedenken, dass bereits im vorangegangenen thematischen Feld der Begriff Prägung verwendet wurde. Dort war davon die Rede, inwiefern sich das jetzige Engagement Frau B.’s im Kirchenvorstand ihrer Prägung von zu Hause verdanke. Das kann den Rückschluss zulassen, dass sich die Rede von der negativen Prägung in diesem thematischen Feld explizit auf die negativen Erfahrungen Frau B.’s bezieht, die sie mit den Diakonissen als Vertreterinnen der Kirche macht. In funktionaler Hinsicht stünden nach der Analyse der ersten beiden thematischen Felder somit eine nicht näher qualifizierte und auch nicht problematisierte kirchliche Prägung von zu Hause und eine negative Prägung bezüglich der Kirche durch die Diakonissen in Rom einander gegenüber. Etappen der Berufsbiografie Knapp die Hälfte und damit der umfangreichste Teil der Haupterzählung widmet sich der Schilderung der verschiedenen Etappen von Frau B.’s Berufsbiografie. Die erste Etappe ist Frau B.’s Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. B: Bin wieder zurück und habe dann also mit Entscheidung meiner Eltern die Ausbildung als Kinderkrankenschwester gemacht. Und es war in [Name einer Stadt], und es war eine Ausbildung, sehr elitär, weil es nur Pfarrers- und Lehrerkinder waren, und es war sehr schön, unheimlich positiv. Weiß nicht, ob Sie den [Name eines Musikers] von den musikalischen Aufführungen der [Name eines Ortes]er Kantorei-. Den ganzen Bach-Kantaten auf CD’s eingespielt hat, dieser [Name eines Musikers]. Dem seine Tante war unsere Lehrerin, also Ausbilderin und wir haben unheimlich viel Musik gemacht und Theateraufführungen und so weiter, und dabei Kinderkrankenpflege
198
gelernt. Das war also ganz prima. Da hab ich das Positive gelernt wieder (mh). Wir haben also diese Ausbildung mit Tod und Leben und Krankheit und so sehr protestantisch mitgekriegt (mh). Unsere Frau [Name einer Lehrerin] (2)-. Wir haben alles gelernt, was man zur Pflege braucht und eben auch das Geschichtliche und Religiöse. (B/120–136)
Der Einstieg in diese Erzählpassage verwendet eine eigentümliche Formulierung. So heißt es, Frau B. habe die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester „mit Entscheidung“ ihrer Eltern gemacht. Soll die Formulierung ausdrücken, Frau B.’s Eltern haben das entschieden? Oder haben Frau B.’s Eltern gleichsam unterstützend mit Frau B. gemeinsam entschieden? Unzweifelhaft haben Frau B.’s Eltern bei der Entscheidung mitgewirkt. Die bisherige Weise, in der der Text Frau B. unter dem Aspekt von aktivem Handeln und passivem Erleben inszeniert, sprechen dafür, dass Frau B.’s Eltern bei der Frage nach ihrer Ausbildung mitgewirkt haben. Mit der qualifizierenden Aussage, dass die Ausbildung „sehr elitär“ gewesen sei, weil da nur „Pfarrers- und Lehrerkinder“ waren, knüpft der Text ebenfalls an vorangegangene Ausführungen an. Deutlich wurde bisher das privilegierte und elitäre sozialen Umfeld betont, in dem Frau B. als Lehrertochter aufgewachsen sei. Indem der Text unterstreicht, es seien „nur“, im Sinne von ausschließlich, Pfarrer- und Lehrerkinder gewesen, die mit Frau B. gemeinsam die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester machten, wird zum Ausdruck gebracht, dass sich Frau B. auch während ihrer Ausbildung in einem für sie gewohnten und positiv besetzten sozialen Umfeld befindet. Der elitäre Charakter von Frau B.’s Ausbildung wird aber nicht nur durch den Rekurs auf ihr exklusives soziales Umfeld hervorgehoben. Zusätzlich wird in diesem Zusammenhang auf die Ausbilderin verwiesen. Da sie die Tante eines berühmten Kirchenmusikers war, begleiteten Musizieren und Theaterspielen die Ausbildung. Die Formulierung „[...] und dabei [sc. bei Musik und Theateraufführungen] Kinderkrankenpflege gelernt“ wertet die Begleitumstände so sehr auf, dass der Eindruck entstehen kann, die eigentliche Ausbildung sei eine Nebensächlichkeit gewesen. Nachdem schon das sozialen Umfeld während der Ausbildung positiv evaluiert wurde, wird auch der musische Charakter der Ausbildung positiv evaluiert: „[...] das war also ganz prima- da hab’ ich das Positive gelernt wieder.“ Die positiven Evaluationen stehen im Kontrast zu den negativen Evaluationen, die das vorangegangene thematische Feld über die Zeit im Hospiz in Rom geprägt haben. Die Formulierung „wieder“ deutet darauf hin, dass Frau B. in Rom etwas verloren hat – das Positive –, was sie nun bei der Ausbildung wieder lernt. Hinsichtlich der Lehrinhalte der Ausbildung, die gerafft genannt werden („Ausbildung mit Tod und Leben und Krankheit und so [...] und eben auch das Geschichtliche und Religiöse“) fällt auf, dass der Text dies als „sehr 199
protestantisch“ qualifiziert. Eine ähnliche Qualifikation – „total protestantisch“ – hat der Text bereits im ersten thematischen Feld über Frau B.’s Kindheit auf dem Land verwendet. Bezieht sich diese Formulierung hier konkret auf die Lehrinhalte der Ausbildung, so bezog sie sich an früherer Stelle auf die Lebensumstände und das soziale Netzwerk der „Vorzeigefamilie“, in der Frau B. groß geworden ist. Das spricht dafür, dass der Text mit der Formulierung „total bzw. sehr protestantisch“ mehr ausdrücken möchte, als nur eine inhaltliche Ausrichtung der Ausbildung von Frau B. Das Attribut „protestantisch“ scheint darüber hinaus auch für eine Haltung oder auch ein Lebensgefühl zu stehen, das in einem bestimmten sozialen Kontext, hier näher spezifiziert durch den Verweis auf Lehrer- und Pfarrerkreise, anzutreffen ist. Die zweite berufliche Etappe von Frau B., auf die der Text nun zu sprechen kommt, ist eine Privatpflegestelle. B: Und ich war dann, zwei Jahre Ausbildung, zwei Jahre hinterher, und hab dann-, bin dann in Privatpflege, heißt man das. Das gehört mit zur Ausbildung mit dazu, dass man mit gesunden Kindern (mh) auch arbeitet. Und bin dann nach [Name einer Großstadt] gegangen und hab so meine Prinzessin von Paris ((oh, lachend)) und Privatpflege gemacht, mit Kinderwagen mit Krönchen und in Tracht durch [Name einer Großstadt] spaziert (hm). Sehr allein gelassen, weil die Eltern jedes Wochenende zur Fasanenjagd gegangen sind. Die Großeltern haben am (mh)-, Zigarettenfabrik in [Name einer Stadt] gehabt mit einem riesen Hofgut, wo ich teilweise war, wo die Leute mit gnädige Frau und gnädiger Herr anreden musste, was auch sehr seltsam war und wo ich sagen muss, also so allein gelassen, war ich schon darauf angewiesen, zu beten. Es war auch eine ganz besondere Erfahrung. (B/136–149)
Die Passage legt einen Schwerpunkt auf die Begründung für den Antritt der Stelle: Frau B. entscheidet sich nicht aus freien Stücken für den Antritt der Stelle, sondern macht das, weil es Teil der Ausbildung ist. Warum Frau B. ausgerechnet in diese bestimmte Großstadt geht und wie genau sie zu dieser Stelle gekommen ist, lässt der Text unerwähnt. Ausgehend von den bisher im Text vorgefundenen Mustern, mit denen Frau B.’s Orts- und Stellenwechsel erklärt werden, liegt auch hier der Schwerpunkt auf dem Moment der Fremdbestimmung: Der Antritt der Stelle ist Teil der Ausbildung. Der folgende Bericht über die Arbeitsbedingungen der Privatpflegestelle arbeitet mit dem Stilmittel der Kontrastierung. Wird zunächst das Bild einer höfisch-aristokratisch anmutenden Idylle gezeichnet (Prinzessin, Krönchen, Tracht), so wird dem das Alleinegelassenwerden von Frau B. und dem Kind gegenüber gestellt. Verstärkt wird die Kontrastierung durch den Bericht über die Aufenthalte bei den Großeltern der Arbeitgeber und den dort als „sehr seltsam“ evaluierten Umgangsformen. Die Problemlösungsstrategie, die der Text für Frau B.’s Umgang mit der Situation des Alleingelassenwerdens bietet, ist die Praxis des Gebets. Doch darin besteht nur ein erster 200
Schritt zur Lösung des Problems. Der zweite und abschließende Schritt zur Lösung des Problems besteht im Wechsel der Stelle. B: Und dann (mh) nach vier Monaten war es aus. Da hab ich die Gelegenheit gehabt, nach [Name einer schweizer Großstadt] zu gehen, oder hatte Lust dazu, hab mich beworben. Das war ’61, war in der [Name einer Klinik]. Hab mich für ein Jahr verpflichtet und bin wieder ziemlich auf die Nase gefallen ((lachend)), weil ich erstens mal als Ausländerin Pass abgeben musste. Mir wurde Geld einbehalten jeden Monat, damit ich wieder nach Hause geschickt werden konnte auf eigene Kosten, wenn ich mich nicht anständig betragen hätte (mh). Durfte keine schweizer Frau versorgen, explizit, das nur für Ausländerinnen und Ausländer zur Pflege vorgesehen waren (mh). Habe erlebt, dass medizinische Experimente mit Schwangeren oder gerade geborenen Frauen gemacht wurden, ohne dass ich mich beschweren konnte. Hat sich also wieder mal Widerstand geregt, aber, also musste erfahren, dass ich nicht ankomme (mh). Ja, das war einerseits eine negative Erfahrung, andererseits habe ich es unheimlich genossen. Bin jede Woche ins Konzert Klimperer und bin ins Theater, hab die Friesinger, damals Dürrermatt, und diese alle, Therese Ghiese und das alles unheimlich genossen und hab mich total abgekoppelt von der Kliniksarbeit im Grund. (B/150–169)
Die Eingangspassage der Erzählung stellt Frau B. nun erstmals als aktiv Handelnde dar. Redet der Text zuerst noch davon, dass Frau B. die „Gelegenheit“ zum Stellenwechsel gehabt habe, so präzisiert er das sogleich und betont, Frau B. habe „Lust“ auf den Wechsel gehabt und sich auf die Stelle „beworben“. Im Unterschied zu den vorangegangenen Erzählpassagen, die vom Antritt einer neuen Stelle Frau B.’s berichten, wählt der Text hier eindeutig Frau B. als Subjekt, das die Initiative ergreift. Die Erzählung schildert nun nicht, dass Frau B. mit dem Stellen- und Wohnortswechsel in eine schweizerische Großstadt keine Probleme mehr hätte. Im Gegenteil: Auf die Negativevaluation, wonach Frau B. „wieder ziemlich auf die Nase gefallen“ sei, folgt eine Belegerzählung, die von neuen Problemen berichtet. Es sind Diskriminierungserfahrungen als Ausländerin in der Schweiz und die Erfahrung der Machtlosigkeit („[...] ohne dass ich mich beschweren konnte“) angesichts medizinischer Experimente mit schwangeren Frauen und Frauen, die gerade erst entbunden haben. Mit der Formulierung „hat sich also wieder mal Wiederstand geregt“ stellt der Text eine Verbindung zu einer früheren Passage her: Die Schilderungen über Frau B.’s Lebensumstände im Hospiz in Rom thematisierten ebenfalls Frau B.’s Widerstand. Durch diese sprachliche Verknüpfung zeigt der Text eine Parallelisierung an zwischen Frau B.’s Erleben im Hospiz und in der schweizer Klinik. Ähnlich wie bei den Schilderungen über die Zeit im Hospiz lässt der Text Frau B.’s Widerstand nicht als aktiven Widerstand, sondern eher als ideellen oder passiven Widerstand erkennen. Es wird hervorgehoben: „[...] also musste [sc. ich] erfahren, dass ich nicht ankomme.“ Wie schon bei der Schilderung über Frau B.’s Aufenthalt im Hospiz wird diese Lage negativ evaluiert. 201
Eine Parallelstruktur zeigt sich aber auch hinsichtlich der Problemlösungsstrategie, die der Text anbietet. Frau B. gewinnt ihrer Zeit in der Schweiz auch eine positive Seite ab: Sie nimmt das kulturelle Leben in der schweizerischen Großstadt intensiv in Anspruch und „koppelt“ sich auf diese Weise von der Arbeit in der Klinik ab. Wie schon die Erzählpassagen über die Zeit in Rom, so rekurrieren auch diese Passagen auf den Bereich des kulturellen Lebens, um den Weg zu benennen, der es Frau B. erlaubt, mit der für sie problematischen Situation in der Klinik zu leben. Das hohe Maß an Indexikalität, das sich in der Nennung der Besuchsfrequenz kultureller Veranstaltungen und der Nennung konkreter Künstlernamen ausdrückt, unterstreicht die Bedeutung, die der Text hinsichtlich der Problemlösungsstrategie der Partizipation Frau B.’s am kulturellen Leben zumisst. Ebenso wie die Schilderung über Frau B.’s Zeit in Rom inszeniert auch diese Erzählpassage die Partizipation am kulturellen Leben nicht als abschließende Lösung des Problems. Hier wie dort gehört zur Problemlösung der Wechsel der Arbeitsstelle und des Wohnortes. So berichtet der Text nun eine weitere Etappe von Frau B.’s Berufsbiografie. B: Und bin dann auch wieder nach einem Jahr abgehauen und bin dann aber nach [Name einer Stadt] in die Universitätsklinik und hab da fünf, sechs Jahre sehr gut gelebt. War da auf der Privatstation in einem guten Team, gute Arbeit. Und ich hatte das Glück, einen guten Professor zu haben, den Professor [Name eines Professors] der das erste mal mit Mutter und Kind gearbeitet hat und die Vorstellung vertreten hat, wenn ein Kind mit schwerer Erkrankung in die Klinik muss, dass es vorbereitet werden muss. Und so bin ich sehr viel in Familien gegangen, wo also Kinder mit Herzoperationen oder-, also Universitätsklinik war alles vorhanden, vorbereitet hab. Und dann die Kinder aufgenommen hab, wenn sie in die Klinik mussten. Es war sehr modern und sehr positiv und hat mir also-, oder es hat eigentlich allen Spaß gemacht, weil, sie war ja nicht die einzige, sondern- aber es war=war mein Job und das war eine gutgehende Klinik und eine gute Gemeinschaft. Und, ja auch mit=mit kulturellem und so, aber absolut unkirchlich, also da war gar nichts, das war reine Nächstenliebe, da hat die Kirche überhaupt keine Rolle gespielt (mh) (4). Und ich hatte auch kein Bedürfnis dazu, ich glaub so die Gemeinschaft, die damals geherrscht hat, hat vollkommen genügt. (B/169–188)
Am Einstieg zu dieser Erzählpassage sticht die Formulierung hervor, Frau B. sei „dann auch wieder nach einem Jahr abgehauen“. Die Formulierung stellt eine Verbindung her zu den Erzählungen über die vorangegangenen Berufsetappen von Frau B.: Die Zeit in Rom und der Privatpflege sowie die Zeit in der schweizer Klinik. Das folgende qualifizierende Verb „abgehauen“ macht auf die Problematik der bisher gebotenen Problemlösungen aufmerksam. Frau B. hat sich den Berufsetappen, die bisher für sie problematisch waren, auf eine ganz bestimmte Art und Weise entzogen. „Abhauen“ deutet auf so etwas wie Flucht hin. Dabei sind zwei Begründungen für die Flucht denkbar. 202
Zum einen kann Frau B. die jeweiligen Situationen als so bedrückend empfunden haben, dass sie keinen anderen Weg sah, als „abzuhauen“. Zum anderen kann das Verb „abhauen“ aber auch zum Ausdruck bringen, dass sich Frau B. einer Änderung der für sie belastenden Situationen etwa durch Gespräche oder Ähnliches nicht gewachsen sah und deshalb geflohen ist. In jedem Fall deutet die eher pejorative Konnotation des Verbs „abhauen“ auf einen tendenziell unbefriedigenden Charakter der Problemlösung hin. Neben der Problematisierung der bisherigen Problemlösungsstrategien von Frau B. fallen zu Beginn der Erzählpassage die zahlreichen positiven Evaluationen bezüglich der neuen Lebens- und Arbeitssituation von Frau B. auf („sehr gut gelebt“, „gutes Team“, „gute Arbeit“, „guter Professor“). Außerdem markiert die Nennung des Zeitraums von „5, 6 Jahren“ einen Unterschied zu den Schilderungen der vorangegangenen Berufsetappen von Frau B.: Bislang verweilte sie an keiner Stelle so lang. Die Beschreibung des medizinisch-pädagogischen Konzepts des Professors und der sich daraus für Frau B. ergebenden Tätigkeiten begründen die vorangestellte positive Evaluation. Im Unterschied zu den vorangegangenen Berufsetappen von Frau B. beschreibt der Text nun eine Situation, in der sich Frau B. mit den Umständen der Berufstätigkeit identifizieren und sich im Beruf entfalten kann. Ein weiterer Faktor, der die in dieser Passage immer wiederkehrenden positiven Evaluationen legitimiert, ist die Gemeinschaftserfahrung, die Frau B. in der Universitätsklinik macht. Damit wird die Erzählpassage von den vorangegangenen abgegrenzt. Dort wurde stets die Einsamkeit Frau B.’s problematisiert. Im Zusammenhang mit der Gemeinschaftserfahrung in der Universitätsklinik fällt der Rekurs auf das Thema Kirche auf. Mehrmahls hebt der Text explizit hervor, dass die Kirche während der Zeit in der Universitätsklinik für Frau B. keine Rolle gespielt habe. Der Text begründet das mit der Gemeinschaftserfahrung, die mit „reiner Nächstenliebe“ identifiziert wird. Frau B. habe daher kein Bedürfnis nach der Kirche gehabt. Diese Reinterpretation, ihr geht eine viersekündige Schweigepause voran, stellt Kirche und Nächstenliebe in eine spezifische Beziehung zueinander. Mit dem Satz „Wo reine Nächstenliebe herrscht, ist Kirche nicht notwendig“ kann diese Beziehung umschrieben werden. Die folgende Erzählpassage berichtet von einer weiteren Etappe in Frau B.’s Berufsleben. B: Und dann ist der Professor [Name eines Professors] nach [Name einer Großstadt] berufen worden. Und da hab ich in meinem Hochmut gedacht „Ach wunderbar, da kann ich auch mal wieder auf Reisen gehen“ ((lachend)). Und bin=hab mich in [Name einer Großstadt] beworben. Das war damals die Zeit, wo man Privilegien hatte, da hat man irgendwelche Zuschüsse gekriegt, wenn man nach [Name einer Großstadt] gegangen ist. Und wie gesagt, ich hatte da eben unsere Verwanden, die Tante, die Schwester meiner Mutter, mit diesem sozusagen berühmten Onkel (2), die sich unheimlich gefreut haben. Ich hab also da doch auch von diesen Leuten vom 20.
203
Juli einige kennen gelernt, war da mit in der Familie und hab mit ihnen sehr viel Veranstaltungen und so was mitmachen können in [Name einer Großstadt]. Das war also irgendwie ein [...] bei uns da. Das alles mitgemacht. In der Klinik war ich auch wieder mal in der elitären Klinik im [Name eines Krankenhauses] Kinderkrankenhaus zur Bekämpfung der Säuglings- und Kindersterblichkeit in Deutschland (mh). Mit einem alten Nazi als Chef (hm). Und ich war auf einer Station, wo Versuche gemacht worden sind. Und ich hab mich dagegen gewehrt, bin also auch angekommen (hm) und musste also die Station damals verlassen und hab dann zeitweise Unterricht gegeben bei den Schülerinnen, was=wo ich aber überfordert war. Das war irgendwie-, also ich glaub, die haben probiert, ob ich passe oder ob ich von selber gehe, und ich bin dann von selber gegangen. Das war war keine gute Zeit in dem Fall (mh). Die haben also, das muss ich mal dazwischen erzählen, um Schweißuntersuchungen zu machen bei Kindern, musste ich aus der Reinigung einen Sack holen, Kind reinstecken, bis oben zumachen, Tee geben, Aspirin geben und dann das Kind schwitzen lassen und unten aus dem Sack den Schweiß rausholen. Also das ist nur ein Beispiel dafür, wo ich mich absolut gewehrt habe und verweigert hab, was alle anderen trotzdem gemacht haben (3). Und ich wusste, ich muss dazu sagen, wusste damals überhaupt nicht, dass es noch Reste von Nazis gegeben hat. Ich hab einfach mich nur geweigert und hab erst hinterher mitgekriegt. Auch meine Verwandten haben mir keinen Hinweis gegeben. (B/188–223)
Anders als zu Beginn der vorangegangenen Erzählpassage wird der Wechsel der Arbeitstelle und des Wohnortes nun nicht als Entzug oder Flucht aus einer belastenden Situation dargestellt. Vielmehr wird Frau B. dabei als aktiv Handelnde beschrieben, ohne dabei unter Druck zu stehen. Dass der Text Frau B.’s Handeln zu Beginn der Erzählpassage mit dem Attribut des Hochmuts versieht, kann als Hinweis auf die Probleme verstanden werden, mit denen Frau B. auf ihrer neuen Stelle konfrontiert wird. Die argumentative Passage über Privilegien und Zuschüsse, die der Umzug in die neue Stadt mit sich bringt, sowie der Bericht über die Verwandtschaft in der neuen Stadt plausibilisieren Frau B.’s Wohnort- und Stellenwechsel. Die hier genannte Verwandtschaft ist, so zeigt es der Verweis auf die „Leute vom 20. Juli“, identisch mit der Verwandtschaft, der Frau B. ihre Vermittlung ins Hospiz nach Rom zu verdanken hat. Musste bei der Erstthematisierung dieser Verwandtschaft noch offen bleiben, warum genau der Text darauf eingeht, so kann an dieser Stelle eine Antwort darauf gegeben werden: Der Kontakt zu dem Onkel, der Gefängnispfarrer von Tegel war, und die dadurch zustande gekommene Bekanntschaft mit „Leuten vom 20. Juli“ dienen in der Komposition der Erzählung dazu, den moralischen Hintergrund von Frau B. zu umschreiben. Widerstand regt sich bei Frau B. immer dann, wenn sie in Situationen gerät, die mit diesem moralischen Hintergrund in Konflikt geraten. Im bisherigen Erzählverlauf wurde das vor allem im Rahmen der Erzählungen über die Zeit im Hospiz in Rom und über die Zeit in der schweizer 204
Klinik thematisiert. Waren es dort in einem ideologischen Sinne nicht näher qualifizierte Unrechtsstrukturen, die über bestimmte Phänomene expliziert wurden, wie z.B. den militärischen Drill im Hospiz oder die Experimente mit Frauen in der schweizer Klinik, so wird in dieser Erzählpassage mit dem „alten Nazi als Chef“ auch auf der ideologischen Ebene der negative Konterpart zum Schlagwort der „Leute vom 20. Juli“ genannt. Auf dieser Basis entfaltet der Text die Probleme, die Frau B. mit der neuen Stelle hat. Das hohe Maß an Indexikalität, das der Beschreibung der Versuche an Kindern eignet, unterstreicht das Unrechtsempfinden von Frau B. Im Unterschied zu anderen Erzählpassagen, die Frau B. in einer beruflichen Situation schildern, in der sie Unrecht miterlebt, berichtet der Text hier nicht, dass sich Frau B. unvermittelt der Situation entzieht, indem sie Arbeitsplatz und Wohnort wechselt. Stattdessen berichtet der Text vom Widerstand Frau B.’s gegen die Versuche an Kindern, was zunächst zu ihrer Versetzung in die Schwesternausbildung führt. Die argumentierende Reflexion über Frau B.’s Erfahrung der medizinischen Versuche an Kindern weist die zuvor gebotene Evaluation des damaligen Chefs als „altem Nazi“ als Reinterpretation aus, d.h. als Faktum, von dem Frau B. während ihrer Tätigkeit in dieser Klinik nichts wusste. In funktionaler Hinsicht dient diese Reinterpretation dazu, den intuitiven Charakter von Frau B.’s Unrechtsempfinden herauszustellen. Das ermöglicht ihr, auch ohne umfassende Hintergrundinformationen die richtige Initiative im rechten Augenblick zu ergreifen. Auch wenn sich Frau B. dem Unrecht, das sie in der Klinik miterlebt, zunächst aktiv widersetzt, präsentiert der Text damit noch nicht die entgültige Lösung des Problems. Diese besteht in einem erneuten Wechsel der Stelle und des Wohnorts. B: Und dann bin ich-. Und es war aber auch in dem Fall ganz positiv, weil der Professor [Name eines Professors] der in [Name einer Großstadt] gearbeitet hat, vorgefunden hat eine überhaupt desolate Klinik und er hat bei mir angefragt, ob ich kommen würde (mh) mitzumachen. Ich hab dann noch andere Schwestern aus [Name einer Stadt] noch animiert zu kommen und wir haben hier in [Name einer Großstadt] im [Name einer Kinderklinik], also Aufbauarbeit geleistet. Und da waren Ordensschwestern, die Vinzentinerinnen (mh), die (3) nicht ausgebildet waren eigentlich. Und es war eine sehr schwierige Zeit mit diesen katholischen Schwestern als freie Schwester als, sagen wir mal weltgewandte oder wie auch immer man das bezeichnen will. Also als wirklich freie Schwester zu arbeiten, und ich denk, das ist dann doch ganz gut gelaufen, so dass die irgendwann das Feld geräumt haben und gesagt haben „Das sind jetzt Leute, die das besser machen, und wir ziehen uns zurück“. Ich hab sehr viel von ihnen gelernt, also das war sehr positiv. Die haben sich wirklich darauf verlassen, ganz persönlich, dass ich ihnen gewährt habe oder zugestanden habe, dass sie ihre Betzeiten einhalten können, obwohl es gebrannt hat oder also schwierige Situationen waren, wo sie in Konflikte gekommen sind mit ihren festen Zeiten zu beten. Und das war dann wirklich also sehr positiv (mh). Und die haben mir dann
205
zugestanden, dass ich, damals gab es diesen Krankenhausseelsorger oder so (mh), entweder sie gerufen hab zu irgendwelchen Nottaufen oder Totengebeten oder dieser Art, oder dass ich es selber gemacht habe im katholischen Haus. War eine Erkenntnis der Toleranz oder so (mh). Und das war aufgrund dieser Universitätssituation, wo=also wo pro Woche drei Kinder gestorben sind (mh) mindestens oder so, für mich der Wiedereinstieg in kirchliche Rituale (mh), weil es einfach sein musste, und ich durch die Ausbildung, die ich hatte, das wieder ausgegraben habe, hab das echt wieder ausgegraben. (B/224–255)
Die in der vorangegangenen Erzählpassage aufgeworfene Problemlage wird durch einen Stellen- und Wohnortwechsel von Frau B. gelöst, zu dem nicht sie selbst die Initiative ergreift. Vielmehr ist es ihr ehemaliger Chef, der Professor aus der Universitätsklinik, der sie dazu motiviert. Indem der Text schildert, wie Frau B. ehemalige Kolleginnen der Universitätsklinik animiert, ebenfalls zu ihrem ehemaligen Chef zu wechseln, knüpft der Text an die Schilderung der vitalen und von Gemeinschaft geprägten Arbeitsbedingungen an, die er über die Arbeit in der Universitätsklinik berichtet hatte. Die Erzählung über die Gestaltung des Verhältnisses zu den katholischen Ordensschwestern dient dazu, religiöse Toleranz sowohl auf Seiten von Frau B. als auch auf Seiten der Ordensschwestern zu illustrieren. So dient der Bericht über Frau B.’s Entgegenkommen bezüglich der Betzeiten dazu, Frau B.’s religiöse Toleranz herauszustellen. Der Bericht über die Toleranz der Ordensschwestern im Zusammenhang mit Nottaufen und Totengebeten, die Frau B. vornehmen durfte, illustriert die Toleranz der Ordensschwestern. An dieser Stelle ist zu fragen, inwieweit der Bericht über die Toleranz der katholischen Ordensschwestern in der Komposition der Gesamterzählung so etwas wie die positive Seite einer Kontrastierung mit den Negativerfahrungen darstellt, die Frau B. mit den protestantischen Diakonissen im Hospiz in Rom und deren antikatholischer Haltung gemacht hat. Ähnlich wie schon am Ende der Passage über die positive Zeit in der Universitätsklinik, kommt auch diese Passage, die über eine erneute Tätigkeit bei dem damaligen Professor berichtet, am Ende wieder auf das Thema Kirche zu sprechen. Hat die frühere Passage das völlige Fehlen jeglicher kirchlicher Bezüge hervorgehoben, so ist nun von einem Wiedereinstieg in kirchliche Rituale die Rede. Begründet wird das mit der Erfahrung des Sterbens von Kindern, die fester Bestandteil des Arbeitsalltags von Frau B. ist. Aus einer konkreten Notwendigkeit heraus, greift sie auf kirchliche Rituale zu. Mit der Formulierung „wieder ausgegraben“, deren Bedeutung durch unmittelbare Wiederholung besonders hervorgehoben wird, wird zum Ausdruck gebracht, dass Frau B. hier auf etwas zurückgreift, was sie in der Vergangenheit im Rahmen ihrer Ausbildung einmal gelernt hat, die ganze Zeit dazwischen jedoch keine weitere Rolle gespielt hat. Mit diesem Rückverweis auf die Ausbildung wird, gemäß der Gesetzmäßigkeit des Detaillierungszwangs, nun 206
auch deutlich, was unter anderem gemeint war, als im Rahmen der Erzählung über die Ausbildung gesagt wurde, auch religiöse Inhalte hätten dabei eine Rolle gespielt: Offenbar zählten dazu Informationen über die Durchführung einer Nottaufe und das Sprechen von Totengebeten. Die Etappen der Berufsbiografie von Frau B. bilden in der Zusammenschau einen Wechsel von positiven und negativen Erfahrungen, die Frau B. macht. Sowohl zu Beginn als auch am Ende dieser Wechselstruktur stehen positive Erfahrungen. Die im Text positiv evaluierten Berufsetappen zeichnen sich durch die Hervorhebung von Gemeinschaftserfahrungen und der Möglichkeit, für Andere da zu sein, aus. In den Berufsetappen, bei denen Frau B. diese Faktoren antrifft, verbleibt sie und beginnt sich zu entfalten. Sieht sie sich mit Einsamkeit oder Unrecht an Patienten konfrontiert, versucht sie dagegen zu opponieren. Die abschließende Problemlösung, die der Text für alle problembeladenen Etappen von Frau B.’s Berufsbiografie bietet, besteht jedoch darin, dass sich Frau B. den entsprechenden Situationen durch Stellen- und Wohnortwechsel entzieht. Stellt man die Frage, inwieweit der Text Frau B. als Menschen darstellt, der sich die ihm entsprechenden Arbeitsbedingungen aktiv sucht, überwiegt der Aspekt der Passivität: Entweder findet sie eine für sie tragbare Situation vor und verbleibt in ihr, oder sie findet eine untragbare Situation vor und verlässt diese möglichst bald wieder. Als aktiv Handelnde stellt der Text Frau B. somit nur in der Weise vor, dass sie eine ihren eigenen Maßstäben entsprechende Situation vorfindet und sich dort zu entfalten beginnt – oder, dass sie sich einer für sie untragbaren Situation entzieht. Der Blick auf die Art und Weise, wie das thematische Feld über die Berufsetappen von Frau B. auf Kirche und Kirchliches eingeht, zeigt, dass die anfänglichen Ausführungen über Frau B.’s Ausbildung zur Kinderkrankenschwester einen religiös-kirchlichen bzw. protestantischen Hintergrund auf positive Weise thematisieren. Im weiteren Verlauf der Erzählung ist das nicht der Fall oder es wird explizit betont, dass Kirche keine Rolle spielt. Erst am Ende des thematischen Feldes werden kirchlich-religiöse Themen wieder aufgegriffen und positiv evaluiert. Das reicht so weit, dass der Text die eigenständige Gestaltung von Ritualen im Zusammenhang mit Nottaufen und Totengebeten für verstorbene Kinder berichtet. Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde Mit einem thematischen Feld über den Einstieg Frau B.’s in die Arbeit der Kirchengemeinde endet die Haupterzählung, und schließt ihre Gestalt: Die Erzählung begann mit einem Hinweis auf Frau B.’s Engagement in der Kirchengemeinde und endet auch wieder damit. 207
Die erste Erzählpassage des thematischen Feldes beschreibt, wie Frau B. mit der Kirchengemeinde in Kontakt kam. B: [Name einer Großstadt] ist ein tolles Pflaster. Bisschen aus der Provinz gekommen. Ich hab also hier auch Verwandte. Die dritte Schwester meiner Mutter, die lebte hier und, war da auch ganz gut untergebracht und hab dadurch meinen Mann kennen gelernt und hab also sehr spät erst geheiratet, hier reingeheiratet. Mein Mann war Witwer mit zwei Kindern, und ja, also das war ’73, seither lebe ich in der Familie. Hab also meinen Beruf aufgegeben und, ja, damit auch in die Kirchengemeinde eingestiegen. (B/256–263)
Der Text zeichnet den Weg, der Frau B. in die Kirchengemeinde führt, nicht unmittelbar. Mit dem Hinweis auf die Unterbringung bei der Schwester der Mutter, dem dadurch zustande gekommenen Kennenlernen des Ehemannes und dem durch den Einstieg in die Familienarbeit veranlassten Ausstieg aus der Berufstätigkeit werden die Schritte benannt, die dem Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde vorangehen. Wie genau es zum Einstieg Frau B.’s in die Arbeit der Kirchengemeinde kommt, berichtet der Text in dieser Passage nicht. Die sequentielle Struktur der Stationen, die der Text auf Frau B.’s Weg zum Engagement in der Kirchengemeinde bietet, zeichnet sich durch einen kontingenten Charakter aus: Was haben das Wohnen bei den Verwandten, das Kennenlernen des Ehemannes, der Einstieg in die Familienarbeit und der Ausstieg aus der Berufstätigkeit mit der Aufnahme des Engagements in der Kirchengemeinde zu tun? Dieser Frage wird später nachgegangen. Bei genauerem Hinsehen fördert die Angabe des Jahres, in dem Frau B. ihren Mann geheiratet hat, und die evaluierende Aussage, Frau B. habe „also sehr spät erst geheiratet“, einen interessanten Befund zutage. Aus dem Text lässt sich eruieren, dass Frau B. im Jahr 1940 geboren ist. Zum Zeitpunkt ihrer Heirat war sie somit 33 Jahre alt. Was genau sie zu dieser Reinterpretation hinsichtlich ihres Heiratszeitpunkts veranlasst, lässt sich nicht genau sagen. Sicher spielt der historische Kontext der frühen 70er Jahre und die damals herrschenden gesellschaftlichen Konventionen eine entscheidende Rolle: Wenn eine Frau 33 Jahre alt war, galt die Heirat damals als spät. Bleibt man bei der Interpretation der evaluierenden Reinterpretation jedoch dichter am Text, so ist auch denkbar, dass der Text den Heiratszeitpunkt von Frau B. so inszenieren möchte, als habe sie erst nach Abschluss ihres Berufslebens geheiratet. Schließlich berichten die vorangegangenen Erzählpassagen ausführlich ein bewegtes und intensives Arbeitsleben. Wie sich der bisher kontingent dargestellte Weg in die Kirchengemeinde weiter darstellt, schildert die folgende Passage. B: Und zwar erst durch die Kunstgeschichte, weil ich, ich hab die Ausbildung so neben Familie her gemacht als Stadtführerin (ja). Und da muss man so eine Arbeit erst mal abliefern. Und da habe ich mir die [Name einer Kirche]-Kirche gewählt (mh)
208
und musste mich also bekannt machen mit den ganzen Strukturen hier (mh) und bin auch mal wieder auf die Nase gefallen, weil ich=ich erst mit Blumen und allem ankommen musste, um irgendwas über die Kirche zu erfahren und Unterlagen kriegen zu können aus dem Büro und so. (B/263–271)
Über eine Ausbildung zur Stadtführerin kommt Frau B. mit der Kirchengemeinde in Kontakt. Der Text greift hier mit „bin auch mal wieder auf die Nase gefallen“ eine Formulierung auf, die bereits zu Beginn der Erzählung über Frau B.’s Berufstätigkeit in der Kinderklinik verwendet wurde, in der Versuche an Kindern durchgeführt wurden. Ob der Text mit dieser Formulierung eine Parallele zu genau dieser Etappe von Frau B.’s Berufsgeschichte herstellen will, muss offen bleiben. Naheliegender ist es, die Formulierung als Reinterpretation zu verstehen, mit der der Text zum Ausdruck bringt, dass Frau B. im Laufe ihres Lebens immer wieder (überwiegend?) negative Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit gemacht hat. Die vom Text aufgeworfene Problemlage des Konflikts zwischen Frau B.’s Anliegen und den Strukturen der Kirchengemeinde zeichnet den weiteren Weg vor, auf dem Frau B.’s Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde erfolgt. B: Und dann habe ich gedacht, so und jetzt ((lachend)) kümmere ich mich darum und war erst im Chor in der [Name einer Kirche]-Kirche, und irgendwann, zu irgend einer Zeit hat der Chorleiter gesagt „Also Sie könnten eigentlich in den Kirchenvorstand gehen“ (mh). Und dann habe ich mich aufstellen lassen und bin über die Musik-. Also über diese Aufführungen habe ich erst mal eigentlich wieder gelernt, in der Kirche zu sein. Da war ich schon verhältnismäßig alt ((lachend)). Ich hab nie richtig Theologie mitgekriegt. Ich habe erst durch Bachkantaten Bibeltexte richtig verstanden und durch die Tätigkeit als Kirchenvorstand mit Lektordienst eigentlich mich erst richtig in die Bibel eingearbeitet. Also ((lachend)) und jetzt ist es so, dass ich also wirklich dabei bleibe. (B/271–283)
Die Geschichte, die zu Beginn der Erzählpassage Frau B.’s Art und Weise schildert, auf die sie die von ihr als problematisch empfundenen Strukturen in der Kirchengemeinde ändern möchte, überrascht durch die Nennung der Mitwirkung Frau B.’s im Chor. Die vom Text hervorgehobene Entschlossenheit Frau B.’s, die Strukturen in der Kirchengemeinde zu ändern, lassen erwarten, dass der Text direkt auf Frau B.’s Engagement im Kirchenvorstand zu sprechen kommt. Schließlich ist das die Instanz, von der aus Strukturen einer Kirchengemeinde mitgestaltet werden können. Eine Mitwirkung im Chor der Gemeinde bietet diese Möglichkeit nicht. Es stellt sich daher die Frage, warum der Text hier auf den Chor zu sprechen kommt. Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, Frau B. habe geglaubt, über die Mitwirkung im Chor an der Gestaltung der Strukturen in der Kirchengemeinde beteiligt zu werden? Für diese Lesart würde sprechen, dass der Text Frau B.’s Eintritt und Mitarbeit im Kirchenvorstand nicht auf die Initiative 209
von Frau B. selbst zurückführt, sondern auf deren Motivation zur Mitarbeit durch den Chorleiter. Eine andere Lesart wäre die, dass Frau B. den Entschluss, an den Strukturen der Gemeinde durch eigenes Engagement etwas zu ändern, faktisch erst im Laufe ihrer Zugehörigkeit zum Chor gefasst hat. Dass der Text Frau B.’s Entschluss, etwas zu ändern, schon vor dem Eintritt in den Chor nennt, wäre dann eine Reinterpretation, die zum Ausdruck bringt, dass Frau B. schon seit ihrer Negativerfahrung im Rahmen der Ausbildung zur Stadtführerin den Wunsch gespürt hat, an den Strukturen der Gemeinde etwas zu ändern. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie jedoch noch nicht genau, wie sie das anstellen soll. Die Mitwirkung im Chor wäre dann als erster Zugang zur Kirchengemeinde zu verstehen, von dem aus sich alles weitere ergibt – auch das Engagement im Kirchenvorstand. Indem die Textstelle so sehr auf die Bedeutung eingeht, die die Kirchenmusik für Frau B. spielt, um „wieder [...] in der Kirche zu sein“, knüpft der Text an die Anfangspassagen des Interviews an, die von Frau B.’s Kindheit in Lehrer- und Pfarrerskreisen berichten. Auch dort wird berichtet, dass Frau B. ihrer Vorbildfunktion als Lehrertochter entsprechend in die Kirche gegangen ist und im Chor gesungen hat. Die Gestalt der Erzählung schließt sich an dieser Stelle wieder: Mit der Mitwirkung im Chor, so konstruiert es der Text, kann Frau B. auf eine ihr vertraute Form zurückgreifen, „in der Kirche“ zu sein. Im Vergleich zu den Schilderungen von Frau B.’s Mitwirken im Chor während der Kindheit hebt der Text nun aber auch auf eine inhaltliche Dimension ab. So kann Frau B. durch ihre Chormitgliedschaft nicht nur in der Kirche sein. Vielmehr findet sie durch das Singen im Chor und auch durch ihren Lektorendienst als Mitglied des Kirchenvorstands Zugang zu biblisch-theologischen Inhalten. Der affirmative Charakter des Schlusssatzes dieser Passage („[...] und jetzt ist es so, dass ich also wirklich dabei bleibe.“), wirft die Frage auf, worauf sich der Satz bezieht. Geht es um die Tatsache, dass Frau B. nach Kindheit und Jugend nicht mehr explizit am Leben einer Kirchengemeinde teilgenommen hat und sich dort engagiert hat? Das hieße, der Text bietet hier eine Reinterpretation mit dem Aussagegehalt, Frau B. hätte der Kirche nach Kindheit und Jugend den Rücken gekehrt. Oder bezieht sich die Affirmation auf Zweifel, die sie seit der Aufnahme ihres Engagements in der Kirchengemeinde hatte und die sich nun zugunsten des Engagements in der Kirchengemeinde aufgelöst haben? Die Struktur der bisherigen Erzählung spricht gerade auch auf Grund der in dieser Textpassage erfolgten Gestaltschließung für die erste Lesart: Frau B. hat sich entschlossen, nicht, wie nach Kindheit und Jugend, der Kirchengemeinde den Rücken zu kehren, sondern nun auf jeden Fall dabei zu bleiben. Die Begründung dafür bietet die das thematische Feld und die Haupterzählung abschließende Passage. 210
B: Weil ich merk, dass ohne Ehrenamtliche eine Kirchengemeinde überhaupt nicht funktioniert (2). Und die Defizite und so weiter erkenne ich sehr genau und bin bereit, mich einzusetzen um, Defizite, die sich mir irgendwie zeigen, auszugleichen. Also, ich weiß nicht, es sind bestimmte Dinge vielleicht auch der Nächstenliebe (2). Und als sie da gefragt haben, haben wir überlegt, ich glaub, ich bin von klein auf nur im Sinn der Nächstenliebe erzogen worden, also dass das so vorherrschend war. Wir haben immer Leute gehabt, die nicht genug zu Essen hatten. Die durften bei uns mitessen. Oder meine Mutter hatte immer irgendwelche Mädchen, die ungewollt schwanger waren, aufgenommen. Wir haben immer irgendwelche heulenden Mädchen am Tisch gehabt [lachend]. Wir haben immer irgendwelche Schüler dagehabt aus irgendwelchen Familien, die, wo sie nicht heim konnten oder wo die Eltern verreist waren. Also, und das habe ich hier weitergeführt. Also Nachbarskinder kommen oder, ja, wir führen sozusagen ein großes Haus. Auch mit den Kindern. Wir haben jetzt sechs Enkel [lachend], die auch jederzeit kommen können (6). Sonst fällt mir jetzt gerade nichts ein. (B/283–301)
Die argumentierende Textpassage nennt das Moment der Nächstenliebe, die Frau B. zum Engagement im Kirchenvorstand ihrer Kirchengemeinde veranlasst. Der Text kennzeichnet diese Aussage eindeutig als Reinterpretation. Abzulesen ist das an dem Satz „[...] und als Sie (i.e. der Interviewer) da gefragt haben, haben wir (i.e. Frau B. und ihr Mann) überlegt – ich glaube, ich bin von klein auf nur im Sinn der Nächstenliebe erzogen worden“. Die zwei Belegerzählungen über das soziale Engagement im Elternhaus von Frau B. während ihrer Kindheit und ihr aktuelles Engagement für die Nachbar- und Enkelkinder haben die Funktion, das zu illustrieren. Diese Erklärung, die das Engagement von Frau B. im Kirchenvorstand begründen soll, wird weiter auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen sein. Ausgehend von den Anfangspassagen des Interviews spricht vieles für eine Prägung durch das Elternhaus, die für Frau B.’s Engagement in der Kirchengemeinde verantwortlich ist. Allerdings heben die Anfangspassagen des Interviews nicht auf Nächstenliebe ab, sondern eher auf den Kirchgang, das Singen im Chor und die Prägung durch das in Pfarrers- und Lehrerkreisen herrschende Milieu. Das thematischen Feld über Frau B.’s Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde knüpft an das vorangegangene thematische Feld über Frau B.’s Etappen der Berufsbiografie an. Das geschieht, indem das Engagement in der Kirchengemeinde als weitere Etappe auf ihrem (Berufs-)Weg inszeniert wird. Diese Interpretation wird gestützt, wenn man in Rechnung stellt, dass der Text statt vom Engagement im Kirchenvorstand zu berichten, breitere Ausführungen z.B. über das Familienleben nach der Heirat des Witwers mit zwei Kindern hätte bieten können. Das ist nur in sehr knapper Weise der Fall und dient, ohne Nennung weiterer Details, ausschließlich dazu, Frau B.’s Weg in den Kirchenvorstand zu beschreiben. Die Kompositionsstruktur der Erzählung blendet das Familienleben von Frau B. damit gezielt aus. 211
Dabei wird der Weg, der Frau B. in den Kirchenvorstand führt, wie schon im Falle der Schilderungen der meisten Berufsetappen von Frau B., als kontingent beschrieben. Die Ereigniskette „Wohnort- und Stellenwechsel, Wohnen bei Verwandten, über Verwandte vermitteltes Kennenlernen des verwitweten Ehemanns mit zwei Kindern, Heirat, Ausbildung zur Stadtführerin“ hätte auch einen ganz anderen Ausgang nehmen können. Auf dem Weg in den Kirchenvorstand stellt der Text Frau B. zunächst als passiv Erlebende dar. Das ist eine Strukturparallele zu den Kompositionsmustern des vorangegangenen thematischen Feldes. In Bezug auf die Ausgestaltung der Situation, in der sich Frau B. im Kirchenvorstand vorfindet, beschreibt sie der Text als aktiv Handelnde, ohne dabei ins Detail zu gehen. Fest steht, sie verbleibt in der Situation und gestaltet diese. In Bezug auf die zeitliche Indexikalisierung weist das thematische Feld über Frau B.’s Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde die Besonderheit auf, dass hier ein Zeitraum von u.U. bis zu 30 Jahren abgedeckt wird. Die einzige zeitliche Indexikalisierung, die hier erfolgt, ist die Nennung des Jahres der Heirat von Frau B. im Jahr 1973, als in ihrem 33. Lebensjahr. In welchen zeitlichen Dimensionen sich der Einstieg in die Arbeit der Gemeinde genau vollzogen hat, lässt der Text offen. Lediglich die Formulierung, beim Einstieg in den Chor und in den Kirchenvorstand „da war ich schon verhältnismäßig alt“ bietet eine sehr vage zeitliche Indexikalisierung, die darauf hindeutet, dass sich der Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde über einen längeren Zeitraum erstreckt hat. Blickt man hinsichtlich der temporalen Dimension auf die Komposition der Haupterzählung insgesamt, so fällt auf, dass das Verhältnis der Schilderung von Frau B.’s erster und zweiter Hälfte des bisherigen Lebensalters 5:1 ist. Der zweiten Lebenshälfte wird somit weit weniger Erzählraum gewidmet als der ersten. Haustaufen in der Kindheit Mit diesem thematischen Feld beginnt der Nachfrageteil des Interviews. Die Regie des Gesprächs wechselt jetzt von der Interviewten zum Interviewer. Im Unterschied zur Haupterzählung wird die weitere Analyse des Interviews nicht mehr den gesamten Textbestand zitieren und eingehend betrachten. Vielmehr wird nur noch auf solche Textpassagen eingegangen werden, die sich auf Themen beziehen, die in der Haupterzählung lediglich kurz gestreift wurden, oder auf solche, die über die Haupterzählung hinausgehende neue und weiterführende Aspekte bieten. Da die Haupterzählung nur kurz auf Frau B.’s Erinnerungen an Haustaufen einging, wird dieses Thema im Nachfrageteil nochmals aufgegriffen. 212
B: Ich hab Erinnerungen, dass unheimlich viel Leute=Personen immer da waren. Also immer große Familien. Wir hatten irgendwelche unverheirateten Tanten und, also die Schwestern meiner Mutter mit den Kindern waren alle immer bei all diesen Festen dabei. Es waren immer unheimlich viele Personen. Und der Täufling war unheimlich schön (wie war der?), mit langem weißen Kleid und auf einem schönen Kissen. Ich hab noch die Bezüge von so einem Taufkissen. Sehr schön gestickt und ganz viele Blumen. Und es wurde ein-. Wir haben ja immer ein Herrenzimmer gehabt, was also wenig benützt war, wo die Männer sich getroffen oder wo Besuch empfangen worden ist oder so. Und es war immer sehr schön mit Blumen hergerichtet und das Taufgerät war irgendwie da. Wir haben sehr schöne Tücher immer gehabt (ja) und da war das daraufgestellt (mh). Und es war immer eine ganz große Runde um den Täufling, und alle Kinder sehr schön angezogen (ja) [lachend]. Wie das vorher oder hinterher oder das Ritual also eben-. Das=das Taufbecken und=und, also Taufteller und dann die Kannen und Kerzen, die immer da waren, und viel Blumen (mh) (2). An mehr kann ich mich jetzt auch nicht erinnern [lachend]. (B/309–327)
In Form einer verdichteten Beschreibung schildert der Text Frau B.’s Erleben von Haustaufen in der Kindheit. Dabei wird sie vom Text nicht als Akteurin benannt. Sprachlich zeichnet sich die Textpassage durch die hohe Anzahl an Superlativen aus („unheimlich viel“, „sehr schön“ etc.). Damit wird zum einen die Intensität illustriert, mit der Frau B. die Haustaufen miterlebt hat oder sie rückblickend wahrnimmt. Zum anderen verstärken die Superlative die im Text enthaltenen positiven Evaluationen. Umschrieben könnte die Aussage, die der Text hier machen möchte, etwa lauten: Schöner kann eine Taufe nicht sein. Auf der inhaltlichen Ebene hebt der Text vor allem auf die soziale und die ästhetische Dimension ab. In sozialer Hinsicht betont der Text die hohe Anzahl der bei den Taufen Anwesenden, besonders auch aus den Reihen von Frau B.’s Verwandtschaft. Das stützt die Deutung, die bereits bei der ersten Erwähnung von Haustaufen zu Beginn der Haupterzählung gemacht wurde: Der privat-familiäre Horizont dieser kirchlichen Amtshandlung soll unterstrichen werden. Bezüglich der ästhetischen Gestaltung unterstreicht der Text das Bild der Traumtaufe. „Viele Blumen“, „schönes Taufkissen“, „sehr schöne Blumen“, „sehr schöne Tücher“ und das alles in „großer Runde“ um den Täufling versammelt, all das malt das Bild der optimalen Taufe. Im Unterschied zu der in der Haupterzählung knapp gehaltenen Erwähnung der Haustaufen, die Frau B. in der Kindheit erlebt hat, wird durch die Analyse dieser Passage des Nachfrageteils besser erkennbar, wodurch sich die Haustaufen auszeichneten. Eine große Gemeinschaft, die sich überwiegend aus Frau B.’s Verwandtschaft rekrutiert, wohnt der Taufe bei. All das geschieht in einem ästhetisch wohlgestalteten Rahmen. Die Tatsache, dass das Erleben der Haustaufen in der Kindheit den ersten konkreten Kontakt Frau B.’s mit der Kirche darstellt, von dem der Text berichtet, weist den Befunden zu diesem Thema einen besonders hohen Stellenwert zu. 213
Erfahrungen mit dem Sterben von Kindern Die Haupterzählung hatte davon berichtet, dass Frau B. im Rahmen ihrer Berufstätigkeit mit dem Sterben von Kindern konfrontiert war. Diese Erfahrung, so der Text, war der Anlass für Frau B., kirchliche Rituale wie Nottaufe und Totengebete „wieder auszugraben“. Da die Haupterzählung all dies nur kurz anspricht, geht der Nachfrageteil nochmals darauf ein. Zusätzlich spricht für eine genauere Betrachtung der Passage die Tatsache, dass der Text diesem Thema außergewöhnlich großen Raum gewährt. B: Ich hatte da eben das erste gestorbene Kind (ja). Und das wurde auch irgendwie in der Gemeinschaft besprochen, was jetzt damit passiert und wie=wie man mit den Eltern umgeht und so (ja). Und jeweils so die Stationsschwestern-. Also das ist eben eine kleinere Klinik gewesen mit großer Frühgeborenenstation, und da sind dann bei Nacht auch oftmals also wirklich Kinder gekommen, die nicht lebensfähig waren und so, und da war immer ganz schnell eine Schwester da und hat mitgeholfen [...] sehr gut angebunden. I:
Können Sie das beschreiben, wie das war, als das Kind gestorben ist?
B: Ja, es ist eine gewisse Neugier gewesen, wie das ist [jetzt muß ich vielleicht doch schnell an das Telefon gehen] (20) [Befragte geht zum Telefon]. Bei Frühgeborenen hatte ich das Gefühl, ich bin froh (50) [Befragte geht zum Telefon]. Ja, Frühgeborene, da hat man sehr schnell erkannt, dass sie nicht lebensfähig sind (mh). Und dann ist das kein so großes Problem. Dann sagt man, die mussten sterben. Aber ich kann mich an eines erinnern, dass ein Vater mit einem Schuhkarton gekommen ist und da war ein Kind darin, und da haben=haben wir uns sehr aufgeregt darüber. Es war schon tot. Da haben wir große Wattebäusche genommen und schön reingelegt. Aber also einfach diese Erkenntnis der Unabänderlichkeit. Ich hab jetzt in der Zeit eigentlich kein Erlebnis gehabt, wo es einem Kind beim Sterben schlecht gegangen wäre. Die waren=sind alle eingeschlafen. Wenn Sie so fragen, weiß ich aber nicht warum=warum das eigentlich sozusagen mühelos gegangen ist in der, in [Name einer Großstadt], weiß ich jetzt nicht so. In [Name einer Stadt] waren es schon sehr viel dramatische Geschichten. Unbekannte Erkrankungen und so weiter. Wir haben gelernt, Luftröhrenschnitt zu machen und erste Hilfe zu machen, und wenn es dann nicht geht und so. Ich war bei vielen Operationen dabei, wo es dann auch schief gegangen ist, wenn man das [...] nicht mehr zurückgebracht hat. Durch die Tätigkeit lernt man, damit umzugehen. Ich konnte immer irgendetwas tun, immer irgendjemanden erleichtern, oder aber es war immer eine Erlösung (mh). Das ist schon noch mal was anderes. Ich hab das in der Zwischenzeit natürlich auch erlebt, wenn man aus der Klinik raus ist, sieht man es total anders. In der Klinik selber ist man in diesem Betrieb drin, wo man weiß, man hat alles gemacht mit Infusionen, Medikamenten, Hilfsmitteln und so weiter. Wenn man aber nichts tun kann, ist es sehr viel schwerer damit umzugehen (mh). Und letzten Endes ist man immer froh gewesen, wenn ein Kind sterben konnte. Und, also ich hab sozusagen viele persönliche Kinder gehabt (ja), die also-, wo man aneinander hing. Man kriegt ja dann wirklich eine richtige Beziehung. Wir haben-, der Professor [Name eines Professors] hat hier in der [Name einer Klinik] Onkologie gemacht und Hämatologie. Also es
214
waren alle Leukämiekinder ringsum (Telefonläuten), das kann ja nicht wahr sein, die im Umfeld waren, sind in der Klinik gelandet. Wir haben also eine riesige Rate von toten Kindern gehabt. Es ist jedes Mal ein Problem gewesen (ja). Und es ist aber eigentlich das Problem entstanden durch die Eltern (mh). Denn wenn man eine Beziehung mit dem Kind aufnimmt, wenn es lang da ist oder oft da ist oder so, dann weiß man, wann das Ende ist. Wenn aber die Eltern sozusagen auch auf den Knien liegen und „Bitte helfen Sie“, das ist das Problem (ja). Und da gibt es auch so eine Phase in der Klinik, wo man die Eltern ausschaltet (mh), was ganz blöd ist, also da kommt man eher in Konflikte als=als mit dem Kind oder der Krankheit selber (ja), wo sie störend sind. (Ja, wie geht das vor sich „die Eltern ausschalten“?) Also psychisch ausschaltet, dass man sie gar nicht haben will und sie vielleicht gar nicht so gut behandelt, könnte sein, weiß ich jetzt nicht so genau. Aber ich hab in den letzten Jahren, wo ich in der Klinik war, mehr Elternarbeit gemacht, als also sozusagen mit den Kindern gearbeitet (ja), weil die Eltern echte Probleme sind. Und oftmals haben sich uns in der Klinik die Kinder anders präsentiert, weil sie nicht unter dem Druck der Eltern waren (ja). Und so ist es auch in der letzten Phase, wenn sie sterben mussten, haben die Eltern auch die Kinder bedrängt oder etwas von ihnen verlangt oder das Leben verlangt (ja). Und man selber weiß, das kann gar nicht sein aufgrund der Krankengeschichte (ja) und man kommt da in den Konflikt, dass man die Eltern ablehnt (ja). Vielleicht auch=vielleicht auch ein gewisser Hochmut, muss ich zugeben, und ich sehe es jetzt auch anders. (B/689–760)
Der Text inszeniert Frau B. als Akteurin, der es darum geht, sterbenden bzw. auch verstorbenen Kindern etwas Gutes zu tun. Die Erzählung über das Kind in der Schuhschachtel belegt Frau B.’s Engagement für den würdevollen Abschied von einem verstorbenen Kind. Die Passagen, die sich auf den Umgang mit den Eltern sterbender Kinder beziehen, richten sich dagegen auf die Form, mit der Frau B. versucht, den Kindern das Sterben zu erleichtern. Der Text stellt im Zusammenhang mit dem Sterben von Kindern Frau B. als aktiv Handelnde dar, die auf unterschiedliche Art und Weise helfen kann: „Ich konnte immer irgendetwas tun, immer irgendjemand erleichtern, oder aber es war immer eine Erlösung.“ Der Hinweis auf Frau B.’s Einstellung zum Sterben von Kindern nach Ende ihrer Berufstätigkeit im Krankenhaus unterstreicht, wie wichtig es Frau B. ist, als Helfende tätig sein zu können. Über die Ausführungen der Haupterzählung hinaus, betont der Text im Nachfrageteil, dass Frau B. das Sterben von Kindern nicht nur durch Nottaufen und Totengebete begleitet, sondern auch in medizinischer Hinsicht und vor allem durch die Begleitung der Eltern. Der Weg zum ehrenamtlichen Engagement in der Kirchengemeinde Nach dem thematischen Feld über Frau B.’s Erfahrungen mit dem Sterben von Kindern befasst sich der Nachfrageteil in weiteren Ausführungen mit den verschiedenen Etappen von Frau B.’s Berufsbiografie. Ausgehend von der Haupterzählung werden dabei keine neuen Aspekte thematisiert. Erst 215
eine Nachfrage zu Frau B.’s Einstieg in die Arbeit der Kirchengemeinde führt einen so bislang noch nicht berücksichtigten Aspekt aus. I: Dann haben sie Ihren Mann kennen gelernt und sind, die Familie, und haben dann den Beruf aufgegeben, hatten Sie so von dem Einstig in die Kirchengemeinde berichtet, über die Kunstgeschichte. Können Sie da noch mal bisschen was dazu erzählen, Erlebnisse aus der Zeit? B: Sehr distanziert. Ich bin eigentlich dann nur in die Kirche gegangen, in den Gottesdiest gegangen, durch den Chor, weil alles andere hat mich eigentlich nicht angezogen, das war mir sehr distanziert. Ich hab eben erlebt auch, dass Besprechungen anliegen oder sonst was, die Pfarrer nur was von sich gegeben haben, mich auch nicht, oder ja, mich nicht angehört haben. Bin immer zugedeckt worden mit irgendwelchen Informationen oder so und hatte selber keine Gelegenheit, irgendetwas los zu werden. Das hat mich gestört (ja, ja). Ja, ich hatte durch die Kunstgeschichte so ein paar Freundinnen, die die gleiche Ausbildung hatten, und eine davon hat dann einen Selbstmordversuch gemacht und gerade wir in der Gruppe haben versucht, also sie, nachdem sie in der Therapie war, wieder irgendwie zu integrieren und ich hab dann gesagt, sie soll mit in den Chor gehen, weil sie Musik studiert hatte. Und hab das auch dem Pfarrer und dem Chorleiter gesagt, aus welchen Gründen. Und die haben sie richtig herausgeekelt, also sie konnte-. Der=der Chorleiter hat gesagt, sie singt verkehrt und, was man schlecht bei so einem psychisch Gestörten sagen kann. Und ich hab dann versucht eben, dass sie Orgel spielen kann und immer mal wieder aushelfen kann und nachdem das, glaube ich ab und zu mit der Zeit nicht so ganz hingehauen hat, hat der Pfarrer gesagt, also da können wir darauf verzichten (mh). Hat mir damals überhaupt nicht gefallen [lachend]. Und da war ich einfach anderes gewöhnt. Es war auch ein Grund, warum ich gesagt habe, ich mache da mit, um zu versuchen, dass solche=also dass Gemeindemitglieder gut behandelt werden. Sehe ich grundsätzlich als meine Aufgabe an (ja). Stehe immer noch am Kircheneingang und begrüße sie am Sonntagmorgen. Und also wir haben ja auch Kirchenkaffee eingeführt. Ich mache das auch, um die Kirchengemeinde gut zu behandeln und deswegen [...]. Pfarrer, also das ist ein großes Anliegen für mich, weil ich eigentlich auch immer kennen gelernt habe, dass der Pfarrer präsent war, also dass der sozusagen befreundet war oder dass keine Distanzen, keine Hierarchiestrukturen oder so was zu erkennen sind. Und das ist mir-, also mir ist als erstes die Hierarchie begegnet [lachend]. (B/984–1023)
Hat die Haupterzählung noch offen gelassen, was genau Frau B. zur Mitarbeit in der Kirchengemeinde motiviert und in welchen Schritten ihr Zugang zum Kirchenvorstand erfolgte, so bietet diese Textpassage nähere Informationen dazu. Zunächst findet Frau B. nur durch den Chor Zugang zur Kirche und zum Gottesdienst. Was sie im Rahmen von Besprechungen mit Pfarrern erlebt, hält sie von einem weiterreichenden Engagement in der Kirchengemeinde eher ab. Mit der negativen Erfahrung des gescheiterten Versuchs, eine psychisch kranke Freundin in den Chor zu integrieren, ändert sich das. Die für Frau B. enttäuschende Erfahrung motiviert sie dazu, sich dafür einzusetzen, dass Gemeindeglieder wie z.B. die Freundin, aber auch die 216
Gemeindeglieder im Allgemeinen „gut behandelt werden“. Mit der Nennung dieser Intention knüpft der Text an die Zielsetzung an, die der Text schon für Frau B.’s zentrale Motivation im Zusammenhang mit dem Sterben von Kindern nennt. Auch dort wird betont, dass es ihr darum geht, den Kindern beim Sterben zu helfen, d.h. ihnen etwas Gutes zu tun. Im Hinblick auf die bisherige Art und Weise, in der der Text Frau B.’s Kontakt mit der Kirche geschildert hat, enthält die Schlusspassage des zitierten Texts einen wichtigen Hinweis. Indem hier festgestellt wird, dass Frau B. im Rahmen ihres Engagements in der Gemeinde „als erstes die Hierarchie begegnet“ ist, nimmt der Text eine Kontrastierung zu den privatfamiliären Kontakten vor, durch die der Text Frau B.’s Verhältnis zu Kirche bislang charakterisiert hat. Somit kann sowohl der Wunsch, anderen in der Gemeinde Gutes zu tun, als auch damit einhergehend der Protest gegen hierarchische Strukturen in der Gemeinde, als eigentliches Movens für Frau B.’s ehrenamtliches Engagement in der Gemeinde betrachtet werden. Frau B. möchte in der Gemeinde in ihrem Sinn, d.h. ihren Maßstäben entsprechend tätig sein. 2.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation Die Erzählkomposition Der bündelnde Blick auf die biografische Selbstexplikation von Frau B. verfolgt zwei Frageperspektiven. Zum einen wird noch einmal die erzählerische Konstitution der sozialen Lagerung von Frau B. näher betrachtet. Zum anderen wird der Funktion der erzählerischen Präsentation der Autorin nachgegangen. Die beiden Fragenperspektiven münden somit wieder in die Frage, für welches Problem die Erzählung eine Lösung bietet. Der Text schildert Frau B. als einen Menschen, der ständig in Bewegung ist. Wohnortwechsel und Wechsel der Arbeitsstellen bestimmen die Selektivität des Textes. Das heißt nicht, Frau B. sei in ihrem Leben nie sesshaft gewesen. Die zeitliche Indexikalisierung, die am Ende der Haupterzählung geboten wird, zeigt, dass Frau B. nunmehr seit ca. 30 Jahren am gleichen Ort lebt und formal gesehen Hausfrau ist. Doch der Text geht auf diese „sesshafte“ Zeit Frau B.’s weder in der Haupterzählung noch im Nachfrageteil erzählerisch ein. Die Erzählerin rekurriert nahezu ausschließlich auf lebensgeschichtliche Daten aus ihrer bisherigen ersten Lebenshälfte, um ein in der Gegenwart gültiges Bild – zumindest für den Kontext des im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geführten Interviews – zu zeichnen. Das heißt, auch in Bezug auf die Gegenwart möchte die Erzählerin mit ihrer biografischen Schilderung vor allem herausstellen, dass sie ein Mensch ist, der schon an vielen Orten gelebt und gearbeitet hat. Um dies darzulegen, bietet sich der Rekurs auf die bisherige erste Lebenshälfte Frau B.’s besonders an. 217
Die biografische Betonung lokaler und beruflicher Mobilität ließe erwarten, dass der Text Frau B. als primär aktiv Handelnde inszeniert. Doch das ist aufs Ganze gesehen nicht der Fall. Vielmehr verortet der Text Frau B. im Spannungsgefüge von Aktivität und Passivität auf eine differenzierte Weise. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: So gut wie nie macht der Text Frau B. zum Subjekt, wenn es darum geht, sich in eine bestimmte Lebens- oder Berufssituation zu begeben. Stets findet sie sich in diesen Situationen entweder einfach vor oder sie wird dorthin durch andere vermittelt. Das passive Moment steht im Vordergrund. Folglich schildert der Text auch keine, etwa von Frau B. gestaltete, Abfolge der Lebens- und Berufsstationen. Aus dem Fokus der Perspektive von Frau B. eignet dieser Abfolge vielmehr ein kontingenter Charakter: Es ist so gekommen, hätte aber auch anders kommen können. Dennoch erzählt der Text auch die Geschichte einer aktiven Frau B. Der Ort ihrer Aktivität sind die Lebens- und Berufssituationen, in denen sie sich vorfindet. Mit diesen Situationen geht Frau B. um und gestaltet sie. Auf das von Passivität geleitete Vorfinden in einer bestimmten Situation folgt die Aktivität von Frau B. Geht man von dieser Abfolge von Passivität und Aktivität aus, dann ist das spezifische Handeln, das der Text von Frau B. berichtet, näher als re-aktives Handeln zu qualifizieren. Wie sich der so strukturierte Wechsel von Passivität und Aktivität darstellt, wird im folgenden nochmals zusammenfassend rekonstruiert. Die erste Etappe, die der Text in Frau B.’s Leben nennt, ist ihre aktuelle Mitarbeit in der Kirche. Es ist zu vermuten, dass die Erzählung mit der Nennung dieser Situation beginnt, um einer Erwartungs-Erwartung von Frau B. Rechnung zu tragen. Schließlich bat der Interviewer im telefonischen Erstkontakt und im Rahmen der Eingangsfrage Frau B. darum, die Lebensgeschichte zu erzählen und dabei auch Erfahrungen und Erlebnisse zu berücksichtigen, die sie im Laufe des Lebens mit der Kirche gemacht hat. Die Erwartung Frau B.’s über die vermeintliche Erwartung, die der Interviewer an das Interview richtet, könnte somit in einer Fokussierung auf die kirchenspezifischen Facetten von Frau B.’s Lebensgeschichte bestehen. Die Tatsache, dass die Haupterzählung den Prozess einer Gestaltschließung abbildet, der bei der aktuellen Mitarbeit in der Kirche beginnt und am Ende der Haupterzählung auch dort wieder hinmündet, spricht für diese Sichtweise. Die Nennung der Mitarbeit in der Kirche gleich zu Beginn der Haupterzählung dient nicht dazu weiter auszuführen, was Frau B. im Rahmen dieser Tätigkeit genau macht. Ihre Aktivität wird nicht näher erläutert. Vielmehr erfüllt der Einstieg die Funktion, die biografische Erzählung von Frau B. einzuleiten. Denn zu der Mitarbeit von Frau B. in der Kirche gibt es eine Vorgeschichte. Und das ist die Lebensgeschichte von Frau B. bis zu dem Punkt, an dem sie in der Kirche mitarbeitet (Gestaltschließung!). 218
Folglich ist die nächste Etappe, die der Text nach der Nennung der aktuellen Mitarbeit Frau B.’s in der Kirche thematisiert, die Zeit der Kindheit und Jugend. Der Text hebt bei dieser Etappe ganz die passive Seite Frau B.’s hervor. In dieser Zeit, so der Text, ist Frau B. „geführt“ und „von zu Hause geprägt“ worden. Diese Prägung ist bestimmt von dem damals in Lehrer- und Pfarrerkreisen herrschenden Milieu: Frau B. erlebt Haustaufen, die eigene Familie ist mit dem Pfarrer und seiner Familie persönlich bekannt, Kirchgang und Singen im Chor gehören zu den Pflichten, die sich aus der Vorbildfunktion als Mitglied einer Lehrerfamilie ergeben. Der Nachfrageteil nennt als weiteren prägenden Aspekt in der Zeit von Frau B.’s Kindheit die Erfahrung des Umgangs mit materieller Not zum Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren: So lange sie noch in der materiellen Lage dazu war, hat Frau B.’s Familie Bedürftigen geholfen. Als die Familie jedoch selbst bedürftig war, gab es keine Unterstützung von anderen. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit, Bedürftigen zu helfen, ebenfalls als Prägung, die Frau B. zu Hause erfahren hat, benannt. Der Text enthält keine Passage, die Frau B. während Kindheit und Jugend als aktiv Handelnde inszeniert. Die erste Aktivität, die der Text in Bezug auf Frau B. benennt, ist das Verlassen der Schule nach der mittleren Reife auf Grund von Lustlosigkeit. Doch im Rahmen der Lösung dieser Problemstellung wird Frau B. wieder von ihrer passiven Seite her gesehen: Nicht sie löst das Problem. Vielmehr sind es Verwandte, die Frau B. in das christliche Hospiz nach Rom vermitteln. Erst nachdem sich Frau B. in der vom Text negativ evaluierten Lebenssituation des Hospizes befindet, wird sie als handelnde Akteurin dargestellt. Es regt sich innerer Widerstand gegen die Zwangsstrukturen, die den Alltag im Hospiz bestimmen. Der Widerstand wird dabei nicht als direkter Protest gegen wahrgenommene Missstände im Hospiz beschrieben. Die vom Text präsentierte Problemlösungsstrategie besteht vielmehr darin, dass sich Frau B. den Regeln des Hospizes entsprechend möglichst konform verhält. Auf diese Weise erwirbt sie sich die Erlaubnis zu Freizeitaktivitäten. Sie erlauben es ihr, Rom als kulturelles Erlebnis wahrzunehmen und einen Ausgleich zu dem belastenden Alltag im Hospiz zu finden. Doch das ist nur ein Teilaspekt der vom Text gebotenen Problemlösung. Ein weiterer Aspekt der Problemlösung besteht im vorzeitigen Verlassen des Hospizes. Somit besteht auch die entgültige Problemlösungsstrategie in einer Aktivität von Frau B., nämlich im Verlassen der für sie insgesamt belastenden Situation. In modifizierter Form findet sich das Muster, dass sich Frau B. in einer bestimmten Situation vorfindet und sie angesichts der jeweiligen Situation dann re-aktiv tätig wird, im gesamten weiteren Verlauf der Erzählung. Die Schilderung der Berufsetappen von Frau B. führt das besonders deutlich vor Augen. Variationen bietet der Text jedoch im Hinblick auf die je spezifi219
sche Art des Aktivwerdens von Frau B. In bestimmten Situationen nimmt sie Missstände wahr, leidet unter ihnen, kann sie aber in letzter Konsequenz nicht ändern. Ihr Aktivwerden besteht dann darin, dass sie die unangenehmen Seiten der Situation durch Inanspruchnahme des kulturellen Angebots der Großstädte, in denen sie meistens lebt, zu kompensieren sucht. Die entgültige Lösung der Problemlagen erfolgt jedoch immer dadurch, dass sich Frau B. der belastenden Situation aktiv entzieht und ihren Wohnort sowie ihre Arbeitsstelle wechselt. Der Text berichtet aber auch von Situationen, denen sich Frau B. nicht entzieht. Sie verweilt in ihnen und beginnt sie zu gestalten. Die Erzählung über die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und die Zeit in der Universitätsklinik schildern solche Situationen. Welche Faktoren lässt der Text für die längere Verweildauer Frau B.’s in diesen Situationen erkennen? Hier können das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft und die Möglichkeit, anderen Menschen Gutes zu tun, genannt werden. Dem kontrastierend sind es in den für Frau B. negativen Situationen das Alleingelassenwerden und das wehrlosen Menschen zugefügte Unrecht, die sie zum Verlassen der Situation motivieren. Mit den Faktoren Gemeinschaft und Möglichkeit praktizierter Nächstenliebe wird an Aspekte angeknüpft, die der Beginn der Haupterzählung über Frau B.’s Prägung von zu Hause erkennen lässt. Dieser Sachverhalt legt den Schluss nahe, dass Frau B. dann in einer Situation verbleibt, wenn sie die in Kindheit und Jugend kennen gelernten Aspekte für gegeben und praktizierbar hält. Umgekehrt entzieht sie sich solchen Situationen, in denen das nicht gegeben ist. Als Ziel steuert die biografische Erzählung von Frau B. mit der Mitarbeit in der Kirche eine Situation an, in der sie verbleibt. Dem bisher herausgearbeiteten Grundmuster im Verhältnis von Passivität und Aktivität entsprechend schildert der Text den Weg, der Frau B. in die Arbeit der Kirchengemeinde führt, als kontingent und Frau B. selbst somit als passiv Erlebende: Frau B. heiratet, gibt ihre Berufstätigkeit auf und arbeitet als Hausfrau; sie macht eine Ausbildung zur Stadtführerin und kommt so mit der Kirchengemeinde in näheren Kontakt, der allerdings mit einer Negativerfahrung einhergeht (Widerwillige Herausgabe von Informationen); sie wirkt im Chor der Kirchengemeinde mit und macht auch dort eine negative Erfahrung (psychisch kranke Freundin); schließlich wird sie vom Chorleiter zur Mitarbeit im Kirchenvorstand motiviert. Ob auch die zweite Hälfte des Strukturmusters über das Verhältnis von Passivität und Aktivität im Fall von Frau B.’s Mitarbeit im Kirchenvorstand zutrifft, muss offen bleiben. Da die Erzählung nicht näher über Frau B.’s Arbeit im Kirchenvorstand berichtet, ist nicht zu erkennen, inwieweit dort Gemeinschaft und die Möglichkeit zu praktizierter Nächstenliebe gegeben sind und als Faktoren benannt werden können, die Frau B. zum Engagement 220
im Kirchenvorstand bewegen. Am naheliegendsten ist es, die Mitarbeit Frau B.’s als aktuelle Situation zu begreifen, in die der Text Frau B. gestellt sieht. Eine retrospektive erzählerische Evaluation im Sinne einer Antwort, in welchem Maße die für Frau B. ausschlaggebenden Faktoren zum Verbleib in der Situation gegeben sind, ist aus diesem Grund noch nicht möglich. Die Richtung von Frau B.’s weiterem Aktivwerden wird noch offen gehalten. Die Tatsache, dass sie nun schon lange im Kirchenvorstand mitarbeitet, deutet jedoch darauf hin, dass Frau B. in ihrem Engagement im Kirchenvorstand grundsätzlich die Möglichkeit sieht, den sie prägenden Lebensmaßstäben entsprechend aktiv sein zu können. Vielleicht ist es ja der durch die Aktualität der Situation verursachte Charakter der Offenheit, der dazu führt, dass das Interview keine eingehenden Schilderungen dazu bietet. Auf Grund der hier angestellten synthetischen Beobachtungen kann bezüglich der sozialen Lagerung, wie sie der Text für Frau B. skizziert, folgendes festgehalten werden: Frau B.’s Lebensweg stellt eine kontingent strukturierte Sequenz mehrerer Lebens- und Berufsetappen dar. Bezüglich dieser Sequenz ist Frau B.’s Rolle die der passiv Erlebenden. Wenn sie als aktiv Handelnde in Szene gesetzt wird, dann immer auf eine re-aktive Weise: Sie versucht, mit der jeweiligen Situation, in der sie sich vorfindet, umzugehen. Als Maßstab für die Art des Umgang dient ihr eine spezifische familiäre Prägung, die mit den Stichworten Gemeinschaft und Möglichkeit zu praktizierter Nächstenliebe umschrieben werden kann. Sieht sie die Möglichkeit, eine Situation im Sinne dieser Aspekte zu gestalten, verbleibt sie in ihr. Sieht sie diese Möglichkeit nicht, kompensiert sie das zunächst durch Partizipation am kulturellen Leben und löst die Problemlage schließlich vollends, indem sie sich der Situation durch Stellen- und Wohnortwechsel entzieht. Funktionale Verdichtung Mit den bisherigen Ausführungen sind bereits zahlreiche Strukturmerkmale benannt, die auch für die funktionale Analyse des Textes relevant sind. Fokussiert man nun speziell den funktionalen Aspekt der Textstruktur, dann besteht das übergeordnete Ziel der Erzählung darin, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es zu Frau B.’s aktueller Mitarbeit in der Kirche gekommen ist. Die detaillierte Struktur dieser Antwort schreitet mehrere Etappen ab, die sich in zwei Gruppen unterteilen lassen: Die erste Gruppe, für sie steht das thematische Feld über Frau B.’s Kindheit und Jugend, expliziert die milieuspezifische normative Prägung von Frau B., die zum Handlungsmaßstab auf dem weiteren Lebensweg wird. Die zweite Gruppe, für sie stehen alle weiteren Etappen, schildert Situationen unter der Fragestellung, inwieweit die prägenden Maßstäbe dort jeweils realisierbar sind oder nicht. Am Zielpunkt der Erzählung steht eine aus der Perspektive von Frau B. kontingent strukturierte Abfolge von mehreren Etappen des Lebensweges, die als 221
vorläufig letzte Station die Mitarbeit im Kirchenvorstand der Gemeinde nennt. Inwieweit die für Frau B. handlungsbestimmenden Maßstäbe dort als gegeben gelten, muss offen bleiben. Die hohe Verweildauer von Frau B. in dieser Situation spricht jedoch für deren tendenzielle Erfüllbarkeit. Betrachtet man den Text schließlich noch unter dem Aspekt von Problem und Problemlösung, so bieten auch hierzu die vorangegangenen Ausführungen bereits einige Anhaltspunkte. Sowohl die Sequenzialität als auch die Selektivität des Textes fokussieren das Thema des Verlassens von und des Verweilens in bestimmten Lebens- und Berufssituationen. Mit dem Stichwort der Lebensbedingungen kann dieses Thema näher umschrieben werden. Allgemein formuliert ließe sich das Bezugsproblem, auf das die Erzählung antwortet, mit der Frage beschreiben: Warum verbleibt Frau B. in bestimmten Lebenssituationen und warum verlässt sie wiederum andere Lebenssituationen? Im Speziellen lautet die für das Bezugsproblem stehende Frage dagegen: Warum befindet sich Frau B. eigentlich in ihrer aktuellen Lebenssituation (Mitarbeit im Kirchenvorstand) und warum verbleibt sie dort? Die Lösung, die der Text für das Bezugsproblem bietet, lässt eine Kontingenzstruktur erkennen. Dass Frau B. nun im Kirchenvorstand aktiv ist, hat so kommen können, es hätte aber auch anders kommen können. In Bestimmtheit wird die Kontingenzstruktur durch die Existenz eines habitualisierten, handlungsleitenden Maßstabs überführt. Er ist für Frau B.’s Verbleiben in oder Verlassen von einer Lebenssituation ausschlaggebend. Benennt die Erzählung einige Etappen auf Frau B.’s Lebensweg, in denen ihr Verbleib eindeutig auf die Realisierbarkeit des handlungsleitenden Maßstabs zurückzuführen ist, so verbleibt die Erzählung in Bezug auf die aktuelle Lebenssituation von Frau B., die Mitarbeit im Kirchenvorstand, in einem Schwebezustand und gibt keine abschließende Antwort. Der Text zeichnet somit einen Weg, auf dem sich Frau B. befindet. Dabei ist nicht sie es, die den Lauf des Weges bestimmt, sondern der Weg führt sie. Unter Maßgabe der für sie handlungsleitenden Maßstäbe verbleibt sie in bestimmten Lebenssituationen, in die sie der Weg führt, andere verlässt sie dagegen schnell wieder. Greift man die Wegmethapher auf und versucht, die Sequenzialität und Selektivität der Erzählung in ein Bild zu übersetzen, dann steht die Erzählung von Frau B. unter dem Motto und im Horizont des Auf-dem-Weg-Seins in eine geeignete Lebenssituation. Das Thema‚Kirche in der Biografie Wie steht es nun um das Thema Kirche im Rahmen der Selektivität des Textes? Wie ist es funktional in die Inszenierung von Frau B’s Versuch verwoben, mit dem aufgeworfenen Bezugsproblem umzugehen? Betrachtet man sich die Gesamtdramaturgie der Erzählung über Frau B., so wird ein Bogen abgeschritten, der formal gesehen Frau B.’s Weg von der 222
Kindheit bis zur aktuellen Mitarbeit in der Kirchengemeinde abschreitet. Die Deutungsmuster, die dem Text für die Plausibilisierung des Weges zu entnehmen sind, lassen sich in dem Satz zusammenfassen: Frau B. ist jetzt in der Kirchengemeinde aktiv, weil sie vom Elternhaus so geprägt wurde. Würde man sich dieser vom Text gebotenen Deutungsperspektive anschließen, hieße das in Bezug auf die biografische Struktur von Frau B.’s Kirchenbindung: In der Kindheit war sie bereits kirchlich gebunden; sie hat dann diese Bindung gelockert; schließlich hat sich die Bindung wieder intensiviert. Die Muster, die die Sequenzialität und die Selektivität des Textes erkennen lassen, stützen diese vom Text präsentierten Deutungsangebote jedoch nicht. Denn die Art, in der der Text Frau B’s Verhältnis zur Kirche in Kindheit und Jugend beschreibt, ist deutlich von derjenigen unterschieden, die der Text für Frau B.’s gegenwärtige Mitarbeit in der Kirche präsentiert. Um das vom Text entfaltete Kirchenverhältnis von Frau B. angemessen abbilden zu können, gilt es, diese Differenz wahrzunehmen. So skizziert der Text das Kirchenverhältnis von Frau B. in Kindheit und Jugend als familiär-privat verortetes. Die Inszenierung von Frau B. als Tochter eines Lehrers und einer Pfarrertochter spielt dabei eine wesentliche Rolle. Frau B. lernt Kirche als Teil der Familien- und Privatsphäre kennen: Der Großvater ist Pfarrer, die Mutter bringt ihre Prägung als Pfarrertochter in das Familienleben ein, der soziale Status der Lehrerfamilie bringt die persönliche Bekanntschaft mit dem Pfarrer und seiner Familie mit sich und schließlich hat sie, auf Grund dieses Kontexts, Zugang zu Haustaufen. In dieser Hinsicht gehört es zum guten Ton und zur gesellschaftlichen Verpflichtung, dass Frau B. als Lehrertochter im Sinne einer Vorbildfunktion auch den Gottesdienst besucht und im Chor mitsingt. Frau B., so schildert es der Text, lebt somit in einem sozialen Umfeld, in dem Kirche Teil der Privatsphäre ist. Hier erhält sie auch die Prägung, von der der Text spricht. Diese bewegt sich jedoch nicht, wie es die vom Text gebotenen Deutungsmuster suggerieren, auf der expressiven, auf konkrete Handlungen zielenden Ebene. Vielmehr führt das soziale Umfeld, in dem Frau B. aufwächst, zu einer Prägung im ethisch-moralischen Bereich. Der Text stellt nicht etwa die Gewohnheit des Kirchgangs als Prägung heraus. Vielmehr sind es Wertvorstellungen wie Gemeinschaft und die Möglichkeit praktizierter Nächstenliebe, die der Text als prägende Momente inszeniert. Auf Frau B.’s Etappen, durch die sie ihr Weg in eine geeignete Lebenssituation führt, ist es diese durch das Aufwachsen im Milieu von Lehrer- und Pfarrerkreisen während der Kriegs- und Nachkriegszeit erfolgte Prägung, die für Frau B. zum handlungsleitenden Maßstab wird. Frau B.’s aktuelles Verhältnis zur Kirche, dessen konkrete Form der Text mit Frau B.’s Mitarbeit im Kirchenvorstand näher qualifiziert, stellt vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen somit keine Wiederherstel223
lung eines in Kindheit und Jugend bereits praktizierten Kirchenverhältnisses dar. Stattdessen wird Frau B.’s gegenwärtiges Engagement im Kirchenvorstand als eine Etappe – die bislang letzte – auf dem Lebensweg geschildert. Wie alle zuvor beschriebenen Etappen wird sich auch das aktuelle Engagement im Kirchenvorstand an den vom Text immer wieder herausgestellten Lebensmaßstäben zu bewähren haben. Da dem Text eine resümierende Sicht auf diese Etappe bislang verwehrt bleibt, muss er offen halten, inwieweit der Kirchenvorstand eine Lebenssituation darstellt, in der Frau B. ihren Lebensmaßstäben Rechnung tragen kann oder auch nicht. Wie andere Etappen in Frau B.’s Leben, so stellt auch die Mitarbeit im Kirchenvorstand eine Art Bewährungsfeld für die Lebensmaßstäbe dar, von denen Frau B. geprägt ist. Setzt man vor diesem Hintergrund die familiäre Prägung Frau B.’s und ihr aktuelles Engagement im Kirchenvorstand in eine Beziehung zueinander, dann lässt sich die Gestalt dieser Beziehung am besten mit dem Begriff der Bewährungsprobe näher beschreiben: Die Kirche, d.h. der Kontext des Kirchenvorstandes, muss sich angesichts der nicht zuletzt kirchlich geprägten Lebensmaßstäbe von Frau B. bewähren. Im Horizont der Frage nach Problem und Problemlösung, wie sie der Text aufwirft, wird Kirche in diesem Interview als Ort der Bewährung inszeniert. Als solch ein Ort kann, muss sie aber nicht, einen Beitrag zur Problemlösung leisten. Berücksichtigt man zusätzlich die Kontingenzstruktur, die die Schilderung des Weges ausmacht, der Frau B. zur Tätigkeit im Kirchenvorstand führt, dann eignet Frau B.’s Engagement im Kirchenvorstand zusätzlich der Charakter der Zufälligkeit. Dass es nun gerade der Kirchenvorstand ist, der den aktuellen Ort darstellt, an dem sich Frau B.’s Lebensmaßstäbe in der Gegenwart bewähren sollen, ist damit keineswegs selbstverständlich. Der Ort für die Bewährung kann der Kirchenvorstand sein, er muss es aber nicht sein. 2.3 Herr C.: Sinnsuche als Lebensleistung 2.3.1 Vorbemerkungen Herr C. ist 1955 geboren, verheiratet und hat zwei Kinder. Nach dem Abitur absolviert er einen naturwissenschaftlichen Studiengang und schließt daran eine Promotion an. In der Zeit des Berufseinstieges heiratet er und auch seine beiden Kinder, eine Tochter und ein Sohn, werden in dieser Lebensphase geboren. Der Berufseinstieg gestaltet sich für Herrn C. sehr problematisch. Er wechselt mehrmals die Stelle. Nach einer zweijährigen Tätigkeit verliert er auch seine letzte Arbeitsstelle. Seither arbeitet er nicht mehr als Angestellter, sondern ist freiberuflich tätig. 224
Das Interview wurde im Januar 2003 geführt und dauerte ca. drei Stunden. Der Verfasser hat Herrn C. über die Vermittlung eines Gemeindepfarrers kennen gelernt. 2.3.2 Rekonstruktion des biografischen Textes Am Beginn des Interviews steht die gewohnte Eingangsfrage, in der der Interviewte gebeten wird, seine Lebensgeschichte zu erzählen und dabei auch die Erfahrungen und Erlebnisse zu berücksichtigen, die er im Laufe seines bisherigen Lebens mit der Kirche gemacht hat. Der Interviewte stellt angesichts dieser Erzählaufforderung keine Rückfragen, sondern beginnt unverzüglich zu erzählen. Die Familiengeschichte Die Erzählung beginnt mit einer kurzen Notiz über das Geburtsjahr und die Geburtsstadt von Herrn C. B: Gut, ich wurde geboren 1955 in einer Kleinstadt in [Name einer Region] namens [Name einer Stadt]. Das liegt bei [Name einer Stadt], eine mittelalterliche Stadt, die schon sehr lange Stadt ist, schon länger als [Name einer Stadt] beispielsweise und auch sehr stolz darauf ist. (C/11–15)
Im Mittelpunkt des Erzähleinstiegs steht die Qualifikation der Geburtsstadt Herrn C.’s. Die Betonung der Tradition, auf die die Heimatstadt Herrn C.’s zurückblicken kann, und die Nennung des damit einhergehenden Stolzes werfen die Frage nach der konkreten Funktion des Einstiegs auf. Warum rekurriert der Text sogleich auf die Geburtsstadt von Herrn C. und verbleibt nicht etwa bei Informationen über Herrn C. selbst oder seine Familie? Sollen die lange Tradition der Geburtsstadt und der Stolz darauf etwas legitimieren? Die folgende Erzählpassage spannt einen Problemhorizont auf, der als eine erste Antwort auf die Frage nach der Funktion des auf die Geburtsstadt bezogenen Erzähleinstiegs gesehen werden kann. B: Meine Eltern, mein Vater, der war Konstruktionsleiter in einer Strickmaschinenfirma. War behindert an der rechten Hand von Geburt an. Die Behinderung kam davon-, er war das zweite außereheliche Kind seiner Mutter und vom zweiten Mann. Und seine Mutter hat-, wollte das verbergen und hat aus diesem Grund sich den Leib geschnürt. Bis kurz vor der Geburt hat sie quasi nicht zugegeben, dass sie schwanger ist. Er hat das-, diese Behinderung allerdings kompensiert und gerade was gemacht, was ihm schwer fiel, nämlich technisches Zeichnen. Wurde ja damals nicht mit CAD gemacht, sondern von Hand, und hat es also-, hat also gekämpft. (C/15–25)
Die Selektion der Merkmale, mit denen der Text den Vater kurz vorstellt, zeichnet sich durch die Beschränkung auf dessen Berufstätigkeit und seine Behinderung aus. Die Belegerzählung, die diese beiden Aspekte sogleich aufgreift, inszeniert das Verhältnis zwischen Berufstätigkeit und Behinde225
rung des Vaters als „Kampf“. Dabei stellt der Text heraus, dass sich die Behinderung des Vaters nicht einem Zufall verdankt. Indem der Text von der Mutter des Vaters berichtet, die durch das Schnüren des Leibes eine außereheliche Schwangerschaft verbergen wollte, werden die Hintergründe der Behinderung des Vaters benannt. Dadurch werden sie in einen sozialen Kontext gestellt und vom Modus der Kontingenz in den der Bestimmtheit überführt. Der vom Text benannte Kampf des Vaters ist somit in einem spezifischen sozialen Kontext verortet, in dem es Verantwortliche gibt, aber auch den Vater als Opfer, der sich nun der Aufgabe stellt qua Beruf trotz Behinderung einen angemessenen Ort in der Gesellschaft zu finden. Im Hinblick auf die Frage nach der Funktion des auf die Geburtsstadt bezogenen Erzähleinstiegs könnte angesichts der Erzählpassage über die Berufstätigkeit und die Behinderung des Vaters die Hypothese aufgestellt werden, dass mit dem Beispiel der Geburtsstadt ganz grundsätzlich der Stolz auf die familiäre Herkunft von Herrn C. unterstrichen werden soll. In der ersten Erzählpassage nach dem Einstieg in die Erzählung wird dieser grundsätzliche Stolz dann konkretisiert, indem der Text von der Berufstätigkeit des Vaters berichtet, der er trotz seiner Behinderung nachgeht. Mit der Metapher des Kampfes stellt der Text die Leistung des Vaters heraus. Der Text kommt nun auf die familiären Hintergründe der Mutter und das Kennenlernen von Herrn C.’s Vater und Mutter zu sprechen. B: Meine Mutter, die kam=die kommt aus Schlesien, Flüchtling. Die Familie hatte sehr unter den Kriegseinflüssen zu leiden. Sie hat im Krieg zwei Brüder verloren. Ihr Vater war zum Zeitpunkt, wo sie Schlesien verließen, schon gestorben. Und es gab dann noch einen Bruder, der war in [Name einer Stadt] bei Verwandten bei der Familie seiner Frau. Und dort kam quasi meine Großmutter und meine Mutter unter. Und dann haben die sich kennen gelernt. (C/25-32)
Die Schilderung der familiären Hintergründe der Mutter zielen vor allem darauf, die Notsituation der Familie mütterlicherseits zu betonen. In funktionaler Hinsicht dient die Schilderung der Notsituation der Plausibilisierung für das Kennenlernen von Vater und Mutter: Wäre die Notsituation nicht gewesen, wäre Herrn C.’s Mutter nicht zur Familie der Frau ihres Bruders gekommen und hätte dort auch nicht ihren Mann kennen gelernt. In Bezug auf das bereits vom Text angesprochenen Thema des Stolzes auf die eigene Herkunft kann auch für die Erzählpassage über die familiäre Herkunft der Mutter und das Kennenlernen von Herrn C.’s Vater und Mutter die Vermutung geäußert werden, dass sie das Moment des grundsätzlichen Stolzes auf die Herkunft von Herrn C. illustrieren soll. In diesem Fall lautete die Lesart: Trotz des Leidens unter den Folgen des Krieges haben sich Herrn C.’s Mutter und Vater kennen gelernt. Das Leben der Familie, deren Gründung auf das Kennenlernen von Herrn C.’s Eltern folgt, ist Thema der nächsten Erzählpassage. 226
B: Und dann kam ich. Ich hatte zwei Geschwister, eine Schwester, die zwei Jahre jünger ist als ich, und einen Bruder, der dreizehn Jahre jünger ist als ich. Mit der Schwester bin ich eigentlich aufgewachsen. Zu dem Bruder hatte ich während der-, auf Grund des Altersabstandes eigentlich in seiner frühen Jugend relativ wenig Kontakt. Jetzt haben wir einen sehr guten Kontakt. Meine Mutter war von der Berufsausbildung her Schneiderin, hat allerdings nachdem die Kinder da waren, nie mehr aktiv gearbeitet, sondern hat die Kinder mit allen möglichen Klamotten versorgt, die kaum zu ertrachten waren. Bei uns lebte dann die Mutter meiner Mutter und wir haben ein eigenes Haus bezogen, das übergeben wurde von der Mutter meines Vaters an meinen Vater. Und es wurde umgebaut, es war im Jahr ’65. Vorher wohnten wir zur Miete (8). (C/32–44)
Überwiegend im Modus des Berichts erzählt diese Passage in knappen Worten vom Leben in Herrn C.’s Herkunftsfamilie. Der Aspekt des Stolzes bzw. der Illustration der Hintergründe für den Stolz auf die Herkunft Herrn C.’s tritt nun zurück. Informationen zur Geschwisterkonstellation inklusive dem Verhältnis unter den Geschwistern, zur Hausfrauentätigkeit der Mutter und zum Zusammenleben mit der Großmutter im eigenen Haus schildern die Lebensumstände Herrn C.’s in der Kindheit. Eine Schweigepause von acht Sekunden deutet es an und eine konkrete Nachfrage von Herrn C., was nun wichtig wäre weiter zu erzählen, unterstreicht, dass die Erzählung nach der Schilderung des familiären Alltagslebens in Herrn C.’s Kindheit einen ersten Zielpunkt erreicht hat. Doch das thematische Feld über Herrn C.’s Familiengeschichte ist noch nicht abgeschlossen. Erneut thematisiert der Text den Vater von Herrn C. B: Gut, wie ich vorhin darauf hingewiesen habe, dass meine Tante jetzt an Silvester verstorben ist, zwar die Halbschwester meines Vaters ist, die sind zusammen aufgewachsen, sie war die Ältere-. Mein Vater ist 1991 an Prostatakrebs gestorben, (5) was er-. Er war eigentlich so die zentrale Figur in der Familie, und da ist dann eigentlich einiges abgebrochen in der Art und Weise, also es war so die treibende Kraft. Und ich habe in der ersten Phase mich als Nachfolger betrachtet, weil einfach meine Mutter zu der Zeit, wo der gestorben ist, nicht handlungsfähig gewesen ist. Und da musste ich halt die Dinge übernehmen. War allerdings zu der Zeit schon in [Name einer Großstadt]. (C/46–57)
Nachdem der Text zunächst ansetzt, auf Herrn C.’s kürzlich verstorbene Tante einzugehen, wechselt er das Thema und kommt, ausgelöst durch die Erwähnung des Todes des Vaters, auf die Konsequenzen zu sprechen, die der Tod des Vaters für Herrn C.’s Rolle in der Familie mit sich gebracht hat. Die fünfsekündige Schweigepause, die auf die Information über den durch Prostatakrebs verursachten Tod des Vaters folgt, markiert die Zäsur, mit der das Thema wechselt. Die folgenden Ausführungen über den Vater knüpfen an die erste Thematisierung des Vaters an, in der er mittels der Metapher des Kämpfens als starke Persönlichkeit inszeniert wird. So evaluiert der Text Herrn C.’s Vater nun auch im familiären Kontext als „zentrale Figur“ und „treiben227
de Kraft“. Für die Konstellation unter den Mitgliedern der Familie von Herrn C. bringt der Tod des Vaters das Entstehen einer Lücke mit sich. Als Akteur, der angesichts dieser Situation versucht, die Lücke zu schließen und die Rolle des Vaters zu übernehmen, führt der Text Herrn C. ein. In Bezug auf das Ausmaß der Rollenübernahme des Vaters als zentrale Figur und treibende Kraft in der Familie präsentiert der Text allerdings einige Einschränkungen. So hat Herr C. sich „in der ersten Phase“ als Nachfolger betrachtet und war außerdem schon nicht mehr vor Ort bei den Eltern, sondern in der Großstadt. Außerdem ergibt sich die Rollenübernahme durch die „Handlungsunfähigkeit“ der Mutter in der Zeit nach dem Tod des Vaters. Indem der Text diese Einschränkungen vornimmt, relativiert er das Ausmaß der Übernahme der Rolle des Vaters durch Herrn C. Der Text bringt damit zweierlei zum Ausdruck: Zum einen konstruiert er eine enge Verbindung zwischen Herrn C. und seinem Vater. Sie ist so weitreichend, dass der Text Herrn C. als Nachfolger im Sinne der zentralen Figur und der treibenden Kraft in der Familie inszeniert. Zum anderen wird die Nachfolge bzw. Rollenübernahme hinsichtlich ihrer Reichweite relativiert. Eine hundertprozentige Rollenübernahme des Vaters, so kann aus dem Darstellungsmuster des Textes geschlossen werden, ist für Herrn C. nicht möglich. So stellt der Text an dieser Stelle beides heraus: Identifikation mit der Figur des Vaters bei gleichzeitiger Unterscheidung von ihm. Das Thema der Familiengeschichte väterlicherseits, das zu Beginn der Erzählpassage angesprochen wurde, indem vom Tod der Tante von Herrn C., die eine Halbschwester des Vaters war, berichtet wurde, wird jetzt wieder aufgegriffen. B: Das jetzt zu der Familiengeschichte. Der leibliche Vater meines Vaters, der wurde vorenthalten, der wurde auf Grund der augenscheinlich peinlichen Situation in dieser Zeit, oder weil man ihm-. Ich habe inzwischen Kontakt aufgenommen zu der Familie. Der Großvater, der lebt nicht mehr. Ich habe allerdings jetzt-. Der hat dann noch zweimal geheiratet und hat zwei Familien gegründet. Und ich habe jetzt die Familie kennen gelernt, und das ist für mich jetzt eine Geschichte, die relevant ist für Sie, wahrscheinlich nicht weiter von Bedeutung. Die waren in Ost-West Richtung DDR verschwunden und die Familie lebt um [Name einer Großstadt] bzw. in [Name einer Großstadt]. Ich habe auch guten Kontakt zu ihm. Wir telefonieren, wir schreiben uns und ich habe ihn heuer im Herbst kennen gelernt. (C/57–69)
Die Erzählung greift eine Thematik auf, die innerhalb dieses thematischen Feldes nun schon mehrfach kurz angesprochen wurde: Die familiären Hintergründe der Familie von Herrn C.’s Vater. Was im Zusammenhang mit der Schilderung über die Ursache für die Behinderung von Herrn C.’s Vater (Verheimlichen einer außerehelichen Schwangerschaft der Großmutter durch Schnüren des Leibes) und der Nennung des Todes der Tante (Halbschwester von Herrn C.’s Vater) anklang, wird jetzt explizit aufgegriffen 228
und kurz erläutert: Der Großvater von Herrn C. väterlicherseits hat Herrn C.’s Großmutter nicht geheiratet, sondern hat zwei Familien mit anderen Frauen gegründet. Das erklärt sowohl die Problematik um die außereheliche Schwangerschaft, auf die die Behinderung von Herrn C.’s Vater zurückgeführt wird, als auch die Frage, warum die verstorbene Tante von Herrn C. lediglich eine Halbschwester des Vaters war. Daneben thematisiert die Passage aber vor allem Herrn C.’s Umgang mit der besonderen Familienkonstellation. Der Text kleidet diese Erzählung in den Mantel einer Erfolgsgeschichte. So gelingt es Herrn C., Kontakt zu dem anderen, bisher „verschollenen“ Teil der Familie aufzunehmen. Der Erfolg der Kontaktaufnahme wird durch die positive Evaluation des Kontakts unterstrichen. Das wiederum wird durch die Nennung vielfältiger Formen der Gestaltung des Kontakts bis hin zum persönlichen Kennenlernen belegt. Unklar bleibt allerdings, zu wem genau Herr C. den Kontakt hergestellt hat. Der Großvater väterlicherseits kann es nicht sein, denn, so der Text, er ist bereits verstorben. Der Text redet lediglich unbestimmt von „ihm“. Am wahrscheinlichsten wäre es, wenn mit „ihm“ ein Halbbruder von Herrn C.’s Vater aus einer der beiden Ehen des Großvaters gemeint wäre. Aber diese Frage lässt sich auf Grund der Informationen, die der Text bietet, nicht eindeutig beantworten. Im Unterschied zu den bisherigen Passagen des thematischen Feldes wird Herr C. an dieser Stelle zum ersten Mal als Hauptakteur geschildert. Wurde in der vorangegangenen Erzählpassage vom Text ein erster, noch mit Relativierungen versehener Anlauf unternommen, Herrn C. im Kontext seiner Familiengeschichte als Akteur einzuführen, so geschieht das an dieser Stelle nun explizit und ohne Abstriche. Bezogen auf die relativierende Einführung von Herrn C. als Akteur im Familiengeschehen wird jetzt der genuine Beitrag benannt, der Herrn C. in der Nachfolge des Vaters als zentrale Figur und treibende Kraft in der Familie erkennen lässt: Er stellt eine Verbindung zu den bislang verschollenen bzw. unbekannten Teilen der Familie väterlicherseits her. Die Perspektive über das gesamte thematische Feld zu Herrn C.’s Familiengeschichte lässt eine spezifische Verlaufskurve erkennen, die die Frage nach der eigenen familiären Herkunft zu plausibilisieren sucht. So kann in dem Startpunkt der Verlaufskurve, der die lange Tradition der Geburtsstadt von Herrn C. und den damit verbundenen Stolz betont, der Versuch gesehen werden, die darauf folgenden Hintergründe zu Herrn C.’s Familiengeschichte zunächst einmal pauschal zu entproblematisieren. Das folgende steht im Horizont der Erfolgsgeschichte der Geburtsstadt, ja ist, so inszeniert es der Text, selbst eine Erfolgsgeschichte. Die weiteren Stationen der Verlaufskurve illustrieren das im Einzelnen. So führt Herrn C.’s Vater trotz 229
Behinderung ein erfolgreiches Berufsleben. Genauso findet die Mutter trotz einer kriegsbedingten sehr schwierigen Ausgangslage Herrn C.’s Vater als Ehemann. Die Schilderung über das Familienleben während Herrn C.’s Kindheitszeit ist der erste Zielpunkt der Erfolgsgeschichte. Die Verlaufskurve setzt ihren Weg fort, indem sie das nun noch im Raum stehende Problem der familiären Hintergründe von Herrn C.’s Vater aufgreift. Konkret besteht es im nicht vorhandenen Kontakt und Wissen um den Lebensweg von Herrn C.’s Großvater väterlicherseits, dessen uneheliches Kind Herrn C.’s Vater ist. Die Problemlösung, die der Text dafür präsentiert, ist das Engagement von Herrn C. um die Herstellung und Realisierung des Kontakts zu dem bisher verschollenen Teil der Familie väterlicherseits. Am Ende der Verlaufskurve steht damit nicht nur das Bild einer intakten Familie von Herrn C. im engeren Sinne, sondern auch im weiteren Sinne, d.h. auch in Bezug auf den bislang verschollenen Teil der Familie. Betrachtet man die Konstellation der Akteure in diesem thematischen Feld, dann fällt auf, dass Herr C. überwiegend entweder gar nicht als Akteur benannt wird oder lediglich im Hintergrund als einfaches Familienmitglied steht. Der Schwerpunkt als Akteur liegt eindeutig auf dem Vater. Erst gegen Ende des thematischen Feldes, nach der Erwähnung des Todes des Vaters, ändert sich das. Der Text inszeniert Herrn C. gleichsam in Nachfolge des Vaters nun als treibende Kraft in der Familie und konkretisiert das am Beispiel von Herrn C.’s Engagement im Zusammenhang mit der Kontaktaufnahme zum verschollenen Teil der Familie. Jugend- und Konfirmandenzeit Nachdem Herr C. nun als Akteur eingeführt ist, befasst sich der Text mit dessen Jugend- und Konfirmandenzeit. Eine Erzählung über die Stationen der Schullaufbahn Herrn C.’s steht am Anfang des thematischen Feldes. B: Ja, ich bin also da in der Kleinstadt aufgewachsen. Meine Orientierung die ging schon in Richtung des Bewegungssports. Ich habe sehr viel Sport gemacht, z.B. Geräteturnen oder Akrobatikvorführungen, Handball, Fußball, Leichtathletik, wobei im Verein dann Handball und Geräteturnen. Da war ich also vergleichsweise gut. Ich hab dann die Volksschule besucht, also 1961 in [Name einer Stadt] 5 Jahre lang, und bin dann auf das Gymnasium nach [Name einer Stadt] gewechselt. Das ist also vierzehn Kilometer entfernt Richtung [Name einer Stadt] Richtung Süden. War dann auf dem Gymnasium, dem naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig gewesen, den ich da besucht habe, mit Fremdsprachen Englisch und Latein, großes Latinum und regulärem Abitur in Mathe, Physik, das übliche Abitur. Das Abitur habe ich 1976 gemacht. Ich hab eine Klasse zweimal gemacht und zwar die zehnte. Bin ich von der Pubertät wahrscheinlich überrollt worden, das waren halt schon die Turbulenzen. Bin dort sportlich relativ aktiv gewesen, bin Schulmeister in Kugelstoßen, war in der Schulmannschaft bei Handball (5). (C/69–86)
230
Die Erzählung über die Schullaufbahn von Herrn C. nennt fast ausschließlich im Modus des Berichts knapp die wesentlichen Stationen, die Herr C. durchlaufen hat. Bezogen auf die Verwendung von Textsorten bildet jedoch der Einstieg in die Erzählpassage eine Ausnahme: Hier bietet eine Beschreibung etwas ausführlichere Informationen über die sportlichen Aktivitäten von Herrn C. Etwas mehr Raum benötigt auch die Tatsache, dass Herr C. die zehnte Klasse zwei Mal besucht hat. Das wird durch eine Argumentation legitimiert, die auf die „Turbulenzen“ der Pubertät hinweist. Die Erzählpassage über die Stationen der Schullaufbahn von Herrn C. hat die Besonderheit, dass das sportliche Engagement von Herrn C. sehr stark gemacht wird. Innerhalb der Textpassage wird durch die Betonung des sportlichen Engagements und des diesbezüglichen Erfolgs die durch die Wiederholung der zehnten Klasse nicht ganz bruchlose schulische Laufbahn legitimiert. Richtet man den Blick über die Erzählpassage hinaus, stellt sich zumindest die Frage, inwieweit der Text Herrn C.’s sportliche Aktivität nicht auch deshalb so sehr betont, weil körperliche Leistung angesichts der Behinderung von Herrn C.’s Vater ein wichtiges Thema in der Familie war. Nach einer fünfsekündigen Schweigepause und der Nachfrage an den Interviewer, ob nach kirchlichen Kontakten denn aktiv gefragt würde, befasst sich der Text nun mit der Konfirmandenzeit von Herrn C. B: Also der erste bewusste kirchliche Kontakt ist bei den Evangelischen, also die Konfirmationszeit. Da gab es bei uns nach zwei Jahren Unterricht Referentenunterricht und Konfirmandenunterricht mit einer so genannten Konfirmandenprüfung, die in der Kirche quasi durchgeführt wird. Heute ist das glaube ich nicht mehr ganz so. Der Pfarrer, der bei dem ich konfirmiert wurde, das war auch im Gymnasium der Pfarrer der Unterricht=der Religionsunterricht gegeben hat, der ist im Alter von 60 Jahren an Herzinfarkt in Rom bei einer Romreise gestorben. Ja, das ist ganz witzig, der Werdegang, den der gehabt hat. Und zwar hat der Betriebswirtschaft studiert, hat dann irgendwann augenscheinlich so die späte Berufenheit erkannt, hat dann Theologie studiert, also ist eher ungewöhnlich. Und sein Talent lag wohl darin, dass er seine wirtschaftlichen Erkenntnisse auf die Kirche übertragen konnte. So ein geflügeltes Wort, dass „Gott öffne uns die Herzen und den Geldbeutel“, das waren=das kam da tatsächlich von der Kanzel und deswegen-. Gut, Konfirmation, Gebote lernen, Katechismus, das Auslegen der Gebote und ich sag jetzt einfach ein paar Stichworte, die ich damit in Verbindung bringe: Sexualaufklärung, getrennt nach Geschlechtern, dem Pfarrer sichtlich schwer fallend, sag ich mal, war irgendwie nicht so sein Ding. Allerdings, wir wussten auch zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon, was Sache ist. Und damals wurde das nicht so gehandelt, was weiß ich. (C/87–110)
Die Selektivität der Erzählpassage legt einen Schwerpunkt auf die Ausführungen zum Konfirmator. Im Vergleich dazu werden die Schilderungen über den formalen Ablauf der Konfirmandenzeit und den Inhalt des Konfirmandenunterrichts nur knapp berichtet. Indem der Text die „späte Beru231
fenheit“ des Pfarrers und – verbunden mit der Anekdote über den Spruch des Pfarrers von der Kanzel – seine betriebswirtschaftlichen Kompetenzen herausstellt, wird der Pfarrer auf positive Weise als besondere Persönlichkeit inszeniert. Die Evaluation „das war ganz witzig“, die unerwartet auf den Bericht über den mit 60 Jahren frühen Tod des Pfarrers an Herzinfarkt folgt, unterstreicht das. Ein eigenes Thema im Zusammenhang mit Herrn C.’s Konfirmandenzeit ist die Konfirmandenfreizeit. Der Text geht darauf relativ ausführlich ein und hebt damit die Bedeutung dieses Erlebnisses hervor. B: Eine Geschichte, die die ganze Sache etwas verändert hat, war die Konfirmandenfreizeit. Die war auf einer Burg in der Nähe von [Name einer Stadt], ich weiß jetzt aber nicht mehr wie die hieß, und wurde durchgeführt von einem [Name eines kirchlichen Mitarbeiters], ich meine er ist in-, er hat wohl-. Der hat ein Buch geschrieben „Berufen zum Dienst an der Jugend“, an das erinnere ich mich noch. Das war eigentlich eine tolle Woche, sagen wir mal. Wir haben sehr viel=sind sehr viel draußen rumgesaust, Schnitzeljagden und so. Sind allerdings dann auch mit den religiösen Dingen quasi in Kontakt gebracht worden. Und dann konnte man quasi zu so einer Aussprache zu dem gehen, was ich auch gemacht habe. Es war irgendwie wie so eine Segnung, sag ich mal, die da stattgefunden hat. Also so hab ich das damals empfunden, dass ich jetzt in den engeren Kreis der Kirche eintrete. Da ging es dann-, also zu der Zeit war es üblich, dass man Abbitte leistete bei den Verwandten, die einem beistanden, wie beispielsweise dem Paten oder den Eltern, und ich war damals sehr bewegt in dieser Glaubensrichtung. (C/110–127)
Der evaluierende Einstieg in die Erzählpassage „[...] eine Geschichte, die die ganze Sache verändert hat“ markiert den Unterschied zum üblichen Konfirmandenunterricht. Das bringt auch das Ende der vorangegangenen Erzählpassage zum Ausdruck: Dort wurde noch am Beispiel „Sexualaufklärung“ festgestellt, dass der Konfirmandenunterricht den Jugendlichen keine neuen Erkenntnisse brachte („Wir wussten auch zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon, was Sache ist.“). Die Erzählpassage über die Konfirmandenfreizeit unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der vorangegangenen Passage. Der qualitative Unterschied zur vorangegangenen Passage wird allein schon durch die Wahl der Textsorten markiert: Die Erzählung wechselt von der Form des Berichts zur Geschichte. Die Bedeutung, die diese Geschichte für Herrn C. hat, wird durch das hohe Maß an Indexikalität unterstrichen. So werden der Veranstaltungsort und der Leiter der Konfirmandenfreizeit präzise benannt bzw. beschrieben. Der dramaturgische Höhepunkt der Geschichte liegt bei der „Aussprache“ mit dem Leiter. Der Text inszeniert die „Aussprache“ als eine Art Initiationsritus. Das wird unterstrichen durch die Elemente der „Aussprache“, die der Text nennt: „Abbitte leisten“, „in den engeren Kreis der Kirche eintreten“ und „Segnung“. Die abschließende Evaluation „[...] und ich 232
war damals sehr bewegt in dieser Glaubensrichtung“ unterstreicht das Gewicht, das der Text diesem Erlebnis in der Reihe von Herrn C.’s Kontakten mit der Kirche beimisst. Der Text setzt das bisherige chronologische Muster fort und berichtet nun über die Zeit nach der Konfirmation. B: Es gab dann auch eine Jugendgruppe, die der zweite Pfarrer geleitet hat. Es war so in der achten, neunten Klasse in etwa, die sind öfter zum Geländespiel gewesen. Und er hat das zweite Pfarrhaus, das war relativ groß, großen Keller gehabt, hat Tischtennisplatten aufgestellt. Ja, der Pfarrer hieß [Name eines Pfarrers], hat uns-. Ich habe nicht mehr verfolgt, wo der hinging, irgendwo in die [Name einer Stadt]er Gegend. Es war so das intensive Kirchliche. Es gab dann weiter eigentlich keine Jugendarbeiten. Ich bin allerdings auch nach der Konfirmation schon immer noch, ich sage mal pseudoregelmäßig, zur Kirche gegangen. Und ich hab dann in der Nähe von [Name einer Stadt] in [Name einer Stadt] studiert. Und dort war eigentlich immer Kirche so eine Begleitung, so die Semestereröffnungsgottesdienste, irgendwelche Sonntagsgottesdienste, zu denen man ging. Und das behalte ich mir eigentlich bei. Wobei ich in die Kirche gehe, um aus der Kirche, ich denke, etwas zu gewinnen quasi. Und ich stelle oft fest, dass irgendwie irgendwelche Zweifel in mir sind als, dass komischerweise diese Predigt oft passt. Ich bestätige und stelle seit Jahren schon fest, dass-, lösen sich Dinge einfach auf. (C/127–145)
Am ersten Teil der Erzählpassage, die die Jugendarbeit des zweiten Pfarrers nach der Konfirmandenzeit thematisiert, fällt auf, das der Text Herrn C. nun nicht mehr als unmittelbar Beteiligten nennt: Nicht er ist öfter mit der Gruppe zum Geländespiel gewesen, sondern „Die“. Andererseits deutet die Detailkenntnis über die Raumgestaltung im zweiten Pfarrhaus darauf hin, dass Herr C. zumindest zeitweise an der Jugendgruppe teilgenommen hat. Der erste Teil der Erzählpassage endet mit dem Versuch, Herrn C.’s Distanzierung von der Jugendarbeit zu plausibilisieren. Dafür wird auf den Weggang des Pfarrers rekurriert, wonach es keine weitere Jugendarbeit mehr gab. Der zweite Teil der Erzählpassage verbleibt jedoch bei dem Thema des Kirchenkontakts. Der Text nennt als den jetzt aktuellen Bezugspunkt zum kirchlichen Leben den Gottesdienst. Die Formulierung „pseudoregelmäßig“ problematisiert die Frequenz, in der Herr C. den Gottesdienst besucht. Wofür genau die Formulierung steht, lässt der Text offen. Fest steht, dass Herr C. laut Text die Semestereröffnungsgottesdienste und „irgendwelche Sonntagsgottesdienste“ besucht hat. Was sich mit der durch die Formulierung „pseudoregelmäßig“ zum Ausdruck gebrachten Problematisierung bereits andeutet, bestätigt der argumentierende Schlussteil der Erzählpassage: Die Gewohnheit der spezifischen Art und Weise des Gottesdienstbesuches von Herrn C. bedarf der Rechtfertigung und Begründung. Die Selbstdeutung, die der Text Herrn C. 233
dafür in den Mund legt, hebt auf den Umgang mit „irgendwelchen Zweifeln“ ab, für den insbesondere die Predigt wichtig ist. Das thematische Feld endet mit Ausführungen, die das bislang angewandte chronologische Muster (Schulzeit, Konfirmandenzeit, Konfirmandenfreizeit, Nach-Konfirmandenzeit, Studienzeit) verlassen und in Form eines Nachtrags sonstige Kontakte zu kirchlich engagierten Personen oder kirchlichen Formen der Jugendkultur präsentierten. B: Zur Gymnasialzeit etwa-. Ich hatte einen Klassenkameraden, der Theologie studiert hat, der auch promoviert und habilitiert hat, er ist vor, [Name einer Hochschule], [Name eines Klassenkameraden]-, ich weiß nicht, der ist vor kurzem an einer Hirnblutung in [Name einer Stadt] gestorben. Das war im letzten Jahr, er war so im Alter zwischen 40 und 50, also ganz-. Mit dem habe ich immer recht lustigen Kontakt gehabt, das war-. Und dann hat noch einer aus der Gymnasialklasse katholische Theologie studiert. Der ist jetzt Pfarrer in der Nähe von [Name einer Stadt] (5). Was mir noch einfällt aus dieser Jugendzeit: Da gab es öfter so Jazz-Gottesdienste oder so Bittgottesdienste. Dann gab es Bands, die da regional bekannt waren, die [Name einer Band], es war eigentlich ganz witzig. Dann fällt mir noch ein Stichwort Taize ein, war ich zwar nie, aber hatte Freunde, die da gewesen sind, die ganz begeistert waren (10). (C/145–160)
Dass es sich bei dieser Passage um einen Nachtrag handelt, verdeutlicht nicht nur das Verlassen des bisher verfolgten chronologischen Musters, sondern auch die Tatsache, dass der Text mit einer fünf- und mit einer zehnsekündigen Schweigepause ein Ende des Erzählstoffes zum Thema Kirche in der Jugendzeit erkennen lässt. Welche Funktion hat nun die Erzählung über die Klassenkameraden, die evangelische bzw. katholische Theologie studiert haben? Vermutlich will der Text damit betonen, dass Herr C. auch über persönliche Kontakte zu Theologen verfügt. Abgesehen von der Evaluation „Mit dem habe ich immer recht lustigen Kontakt gehabt“ bleibt allerdings offen, wie die Kontakte zu den Schulkameraden, die Theologie studiert haben, konkret gestaltet waren. Der abschließenden Nennung jugendkultureller Formen kirchlichen Lebens ist nicht zu entnehmen, welche Bedeutung sie für Herrn C. konkret gespielt haben. Die Leistung, die sie erbringt, besteht in jedem Fall darin, Herrn C. als Kundigen in Sache kirchlicher Jugendkultur auszuweisen. Das thematische Feld über Herrn C.’s Jugend und Konfirmandenzeit (dazu zählt auch ein Teil der Zeit nach der Konfirmation) legt unter dem Gesichtspunkt der Selektivität einen eindeutigen Schwerpunkt auf die Konfirmandenzeit und die Konfirmandenfreizeit. Geht man von der Anfangspassage des thematischen Feldes aus, in der zunächst die Schullaufbahn von Herrn C. thematisiert wird und erst nach einer vergewissernden Rückfrage 234
das Thema Kirche behandelt wird, legt sich der Eindruck nahe, dass sich die Schwerpunktsetzung des thematischen Feldes auf die kirchlichen Aspekte in Herrn C.’s Jugendzeit der Erzählaufforderung des Interviews verdanken, in der um die Berücksichtigung von Erfahrungen und Erlebnissen mit der Kirche im Laufe des Lebens gebeten wird. Betrachtet man die sequenzielle Struktur des thematischen Feldes, so kann in der Argumentation, die die bis in die Gegenwart gepflegte Kirchgangsgewohnheit von Herrn C. begründet, der dramatische Zielpunkt des thematischen Feldes gesehen werden. Stellt man sich die Form einer Verlaufskurve vor, dann wäre der Startpunkt die Schulzeit von Herrn C. In diese Zeit fällt die Konfirmandenzeit als erster Kontakt mit der Kirche. Im Rahmen dieses ersten Kontakts wird die Konfirmandenfreizeit und die dort stattfindende „Aussprache“ als herausragendes Ereignis inszeniert. Mit diesem Ereignis geht ein qualitativer Wechsel des Kirchenverhältnisses von Herrn C. einher, der nicht auf die soziale Dimension des Kirchenkontakts abzielt (z.B. die Teilnahme an der Jugendgruppe), sondern auf eine inhaltlich-persönliche in Form der Praxis der Gottesdienstbesuches. Mit der Begründung der regelmäßigen Praxis des Gottesdienstbesuchs ist der Zielpunkt der Verlaufskurve erreicht. Kirchliche Kontakte von der Studienzeit bis zur Taufe des Sohnes Das vom vorangegangenen thematischen Feld fokussierte Thema der kirchlichen Kontakte von Herrn C. steht nun im Mittelpunkt. Die erste Passage des thematischen Feldes gibt das Thema vor und unternimmt eine erste Konkretisierung. B: Ja, dann ging es während der Studienzeit, ging es weiter mit diesen kirchlichen Kontakten, weil ich mich relativ gern mit irgendwelchen Pfarrern unterhalten habe. Das ist bis jetzt so. Ich verbringe ab und zu mal ein Wochenende in einem Kloster. Und in [Name eines Klosters], wer [Name einer Großstadt] kennt-. Und es geht=es ist ganz interessant, es fällt allerdings auf, dass dieses Mönchtum schon-, dieses katholische Mönchtum schon etwas bröckelt. Scheinbar aufgrund des Zölibates. Also ich singe seit etwa zwei Jahren im [Name einer Großstadt]er Männerchor und da machen wir öfter Konzerte in Kirchen, unter anderem eben jetzt dieses=diese Adventszeit in [Name eines Klosters]. Da habe ich einen bekannten Mönch getroffen und hab den auf einen Kollegen angesprochen und der hat mir gesagt, dass der seit einem Jahr das Kloster verlassen hat. Und ich war vor drei Jahren mal in [Name eines Klosters] mal und der hat damals so Seelenmeditation gemacht. (C/160–175)
Formal gesehen setzt diese Passage die bisherige lebensgeschichtlich strukturierte Chronologie der Erzählung fort und spricht kirchliche Kontakte während der Studienzeit von Herrn C. an. Vergegenwärtigt man sich die letzte Passage des vorangegangenen thematischen Feldes, dann verdeutlicht der Blick auf die hier zitierte Erzählpassage, worauf der Text mit der Nen235
nung persönlicher Kontakte von Herrn C. zu Schulkameraden zielte, die Theologie studiert haben: Herr C. pflegt die Kontakte zur Kirche nicht nur wegen der speziellen Bedeutung, die der Gottesdienstbesuch für ihn spielt (Umgang mit Zweifeln), sondern auch, weil er sich gerne mit „irgendwelchen Pfarrern“ unterhält. Die Erzählung über die Wochenendaufenthalte im Kloster und das Gespräch mit dem Mönch belegen das. Gleichzeitig erfüllt die Erzählung aber auch die Funktion, bei aller Freude am Gespräch mit Theologen Kritik an der katholischen Kirche zu äußern. Blickt man auf den Beginn der Passage, dann sagt der Text an dieser Stelle weniger über Herrn C.’s kirchliche Kontakte zur Studienzeit als vielmehr über das, was ihm an den kirchlichen Kontakten wichtig ist im Allgemeinen (persönliche Kontakte) und das, was ihn an der katholischen Kirche stört, im Speziellen. Die nächste Erzählpassage verbleibt hinsichtlich der sequenziellen Chronologie bei der Studienzeit. B: Gut, also das Studium da mit Begleitung der Kirche, wobei immer Konzentration in Richtung Predigten und Orientierung des Weltbildes am christlichen Gedankengut. Wobei, ein Punkt, der mir wesentlicher erscheint, ist Nächstenliebe. Ist nicht unbedingt abhängig vom Christentum, sondern ist eigentlich so generell zur Orientierung, die-. Also ich sehe Leute nicht gerne leiden und wenn ich helfen kann, dann versuche ich es zu tun. (C/175–182)
Wie schon zuvor geht es aber auch hier wieder nicht eigentlich um kirchliche Kontakte während der Studienzeit, sondern um die Explikation von Meinungen und Ansichten Herrn C.’s über die Art seiner kirchlichen Kontakte und seiner ethischen Grundorientierung. So stellt der Text lediglich kurz fest, dass Herrn C.’s Studium mit „Begleitung“ der Kirche verlief. Die Schwerpunktsetzungen, die der Text mit der Predigt und der Orientierung am christlichen Gedankengut nennt, informieren dagegen eher allgemein über die Art seines Kontakts zur Kirche. Mit der Relativierung der Bedeutung des christlichen Gedankenguts durch den Primat des Wertes der Nächstenliebe bildet der Text ein sozial verankertes Argumentationsmuster ab, wonach man grundsätzlich auch ohne Kirche ein guter Mensch sein kann, ja sollte. Mit der Hochzeit von Herrn C. und seiner Ehefrau geht der Text auf einen konkreten Kontakt zur Kirche ein, der etwas ausführlicher geschildert wird. B: Hochzeit, ja. Ich habe dann nach dem Studium promoviert in [Name einer Stadt] über Atmosphärenphysik und Atmosphärenchemie in der Waldschadensforschung. War damals so eine politisch gewollte Forschungsrichtung, sage ich. Die Probleme sind immer noch nicht gelöst, aber politisch-, das politische Umfeld hat sich gewandelt. Und am Ende der Zeit in [Name einer Stadt] haben wir dann geheiratet, meine Frau, sie ist katholisch, wir haben dann in der evangelischen Kirche geheiratet mit zwei Pfarrern quasi ökumenisch, obwohl es das ja gar nicht gibt, quasi ökumenisch sage ich mal. Und es war so eine kleine Burgkapelle in der [Name einer Region], weil
236
die uns nahe lag (mh). Wir haben uns geschworen, falls wir einmal heiraten, dann machen wir es dort. Das ist also, wie es bei guten Propheten üblich ist, hält man das auch durch. [Name einer Kapelle] ist, denke ich, richtig. Es sollte bei dieser Hochzeit auf Wunsch der Schwiegereltern die Kommunion stattfinden. Das Witzige war, dass der katholische Pfarrer das jederzeit gemacht hat, allerdings der evangelische nicht als Hausherr. Da hatten-. Man hielt von mir quasi-, ich weiß nicht ob es so besonders wichtig, aber es wurde nicht durchgeführt. Gut, Hochzeit, viele Freunde, klar, große Hochzeit, hat Spaß gemacht, gute Musik, gutes Essen, gutes Trinken. (C/182–203)
Die Passage stellt mit Herrn C.’s Promotion und deren Fachgebiet eine Problematisierung in den Raum, über deren Funktion bis zu dieser Stelle der Interviewkommunikation noch keine Aussagen getroffen werden können. Denkbar wäre, dass dieser Exkurs auf eine grundsätzliche Problemlage im Berufsleben von Herrn C. deutet. Ob dem tatsächlich so ist, wird der weitere Verlauf der Erzählung zeigen. Zunächst kann das Datum der Promotionszeit von Herrn C. als so etwas wie die Vorgeschichte zur Hochzeit von Herrn C. und seiner Frau gesehen werden. Die eigentlichen Ausführungen über die Hochzeit greifen zwei Themenbereiche heraus: Die ökumenischen „Komplikationen“ und die Entschlossenheit, mit der Herr C. und seine Frau an einem ganz bestimmten Ort heiraten wollten. Der Fokus, den der Text im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ort, an dem die kirchliche Trauung gemäß dem Wunsch von Herrn C. und seiner Frau stattfinden sollte, zielt auf die Entschlossenheit des Paares („[...] wir haben uns geschworen [...]“, „[...] wie es bei guten Propheten üblich ist, hält man das auch durch [...]). Die Art und Weise, in der der Text die Umstände der ökumenischen Trauung thematisiert, zielt auf eine überraschende Wendung: Nicht die katholische Kirche bereitet im Zusammenhang mit dem Wunsch des Paares nach der Kommunion im Rahmen des Traugottesdienstes Probleme, sondern der evangelische Pfarrer verweigert sich dem Wunsch. Besonders überrascht diese Wendung, weil der Text im Vorfeld der Schilderung der Geschichte über den gescheiterten Wunsch nach der Kommunion im Traugottesdienst zwei Mal die Formulierung „quasi ökumenisch“ verwendet, womit zumindest aus evangelischer Perspektive in der Regel zum Ausdruck gebracht werden soll, dass eine „ökumenische“ Trauung eigentlich immer eine katholische Trauung unter Beteiligung eines evangelischen Geistlichen ist. So gesehen wäre zu erwarten gewesen, dass nun eine Geschichte über eine Intervention von katholischer Seite folgt. Der Text relativiert dieses Vorurteil. Die Erzählung folgt der lebensgeschichtlichen Chronologie weiter und kommt jetzt auf die Realisierung des Kinderwunsches von Herrn C. und seiner Frau zu sprechen. 237
B: Ja, Kinderwunsch war da und wurde auch fast innerhalb der-. Ich habe mit meiner Frau gewettet, wenn die Verhütung aussetzt, dass wir innerhalb von drei Monaten das auf die Reihe kriegen. Es hat vier Monate gedauert. Aber es ging alles relativ unkompliziert und glatt und schön. Und die [Name der Tochter], meine Tochter, haben Sie das gesehen (nein), egal, da steht sie, ein Weihnachtsgeschenk, die hat-, die ist dann noch in [Name einer Stadt] geboren worden. (C/203–210)
Der Text stellt in dieser Passage Herrn C. als Menschen dar, der sich durch ein ausgeprägtes Leistungsdenken auszeichnet. Dabei beschreibt der Text das Leistungsdenken von Herrn C. nicht nur, indem er die Geschichte einer schnellst möglichen Realisierung eines Vorsatzes erzählt. Es ist darüber hinaus der konkrete Fall der Realisierung des Kinderwunsches, der die Ausprägung des Leistungsdenkens von Herrn C. unterstreicht. Schließlich wird mit der Realisierung des Kinderwunsches ein Beispiel gewählt, das im gesellschaftlichen Kontext dem Bereich der Intimsphäre zugerechnet wird und der in der Regel nicht unter dem Aspekt des Wettbewerbs und der Leistung thematisiert wird. Indem der Text trotzdem die Realisierung des Kinderwunsches von Herrn C. und seiner Frau unter diesem Aspekt thematisiert, unterstreicht er auf nachdrückliche Weise die Bedeutung, die das Erbringen von Leistung für Herrn C. spielt. Der die Passage abschließende Verweis auf das Weihnachtsgeschenk der Tochter hat die Funktion, die Qualität der erbrachten Leistung zu belegen. Die folgende Passage knüpft an diese Erfolgsgeschichte an und kommt auf Herrn C.’s Start ins Berufsleben zu sprechen. B: Ich hatte dann relativ schnell nach der Promotion eine Stelle beim [Name einer Firma] in [Name einer Großstadt]. Und wir sind dann nach [Name einer Großstadt] umgezogen. Die [Name der Tochter] ist im Februar geboren worden. Ich hab am ersten April in [Name einer Großstadt] angefangen. Am ersten April sind wir umgezogen. Ich hab am ersten März angefangen. Wir haben sehr viel Glück gehabt, wir haben ein sehr schönes Haus in [Name eines Stadtvirtels] zu mieten gekriegt, für [Name einer Großstadt] ein Sechser-im-Lotto-Preis, sag ich mal. Also, es lief alles ganz gut (5). (C/210–219)
Überwiegend im Modus des Berichts nennt der Text ausschließlich positiv konnotierte Fakten, die Herrn C. in einer Situation umfassenden Erfolges schildern. Die positiven und im Superlativ formulierten Evaluationen verstärken das Ausmaß des Erfolgs, den der Text für die Zeit zwischen Herrn C.’s Promotion und Einstieg in den Beruf herausstellt. Die fünfsekündige und damit relativ lange Schweigepause am Ende der Passage deutet bereits an, dass der Text nun eine Wendung vornimmt. B: Dann ist der Job-, war nicht so gut und ich habe dann nach kurzer Zeit-, haben wir das gemeinschaftlich beendet und ich bin dann zu [Name eines Forschungszentrums], und ich habe dann im [Name eines Instituts] gearbeitet, (4) in der Atmosphären-
238
forschung. Ich hatte aber eigentlich in [Name einer Großstadt] eine-, so bisschen Eingliederungsschwierigkeiten beim Start, die vorher da waren, mit sozialen Kontakten, mit vielen Bekannten und habe dann versucht nach [Name einer Stadt] zurück zu kehren, beruflich. Das gelang etwa zwei Jahre nach dem Tod von meinem Vater. Allerdings bin ich dann zu einer Firma, wo der Geschäftsführer Alkoholiker-. Und das musste dann wieder in die andere Richtung-. Auf die Art bin ich halt immer noch in [Name einer Großstadt]. Zwischen den Zeiten ist mein Sohn geboren. (C/219–232)
Blickt man auf die vorangegangenen Erzählpassagen, dann erfolgt nun so etwas wie eine Relativierung der vorangegangenen Erfolgsgeschichten. In nur wenigen Zeilen berichtet der Text von insgesamt vier Wechseln der Arbeitsstelle. Zum Teil sind die Stellenwechsel mit dem Wechsel des Wohnortes verbunden. Der in der vorangegangenen Passage noch als sehr gelungen inszenierte Start in das Berufsleben wird vom Text nun als sehr problematisch geschildert. Stellt man die Frage nach den Ursachen für die beruflichen Probleme, so werden sie vom Text stets auf ungünstige Umstände zurückgeführt, mit denen Herr C. konfrontiert wird (Job war nicht gut, Eingliederungsschwierigkeiten, Alkoholiker als Geschäftsführer). Angesichts der aufgeworfenen Problemlage wird Herrn C. vom Text eindeutig der passive Part zugewiesen. In gewisser Weise fällt er den Umständen zum „Opfer“. Mit der Nennung der Geburt des Sohnes am Ende der Erzählpassage leitet der Text einen Themenwechsel ein. B: Die Kinder sind übrigens katholisch erzogen. Eigentlich bin nicht besonders glücklich damit, weil mir so einige Dinge an der katholischen Kirche nicht behagen, wie zum Beispiel Zölibat, wie zum Beispiel die Papstfigur, wie zum Beispiel das weltliche Machtstreben, letztendlich, was in der evangelischen Kirche bestimmt auch vorhanden ist, aber nicht so deutlich präsentiert wird, sag ich mal. Und die Rolle der Kirche oder die Haltung der katholischen Kirche zur Verhütung oder=oder zur Abtreibung oder so was, da wäre mir schon etwas eine liberalere Sicht der Dinge. Und ich, vielleicht ist das für [Name einer Großstadt] typisch, bin eigentlich nicht geneigt, in die katholische Kirche zu gehen, weil ich dort die Predigten irgendwie weniger gehaltvoll finde, wie es eigentlich bei Evangelen-. Also es ist eine andere Orientierung aus meiner Sicht jetzt, die nicht maßgeblich ist. (C/232–246)
Diese argumentierende Passage nimmt das biografische Ereignis der Geburt des Sohnes und das Faktum der katholischen Erziehung der Kinder zum Anlass, Herrn C.’s Ansichten und Meinungen über die katholische Kirche zu entfalten. Die im gesellschaftlichen Diskurs üblicherweise anzutreffenden Kritikpunkte an der katholischen Kirche werden hier wiedergegeben. Der Raum, den der Text dieser Argumentation gewährt, deutet darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche für die biografische Selbstexplikation Herrn C.’s von Bedeutung ist. Die Tatsache, dass auch im Verlauf der bisher analysierten Interviewkommunikation die katho239
lische Kirche bereits mehrmals thematisiert wurde, unterstreicht das. Wie genau die Konturen beschaffen sind, die der Text über Herrn C.’s Verhältnis zur katholischen Kirche zeichnet, kann bis zu dieser Stelle noch nicht hinreichend erkannt werden. Der Text greift nun wieder die Berufsbiografie von Herrn C. auf. B: Gut, ich bin dann also während der ganzen Zeit auch in [Name einer Großstadt]-, habe ich auch immer=war ich immer vergleichsweise regelmäßig mindestens alle vier Wochen oder in engeren Intervallen, zeitweise in sehr engen Intervallen, in der Kirche. Wobei ich da das erste Mal Begegnung hatte so mit mystischen Geschichten wie Osternacht oder dergleichen. Das hat mich also schon fasziniert. Und ich bin von Haus aus Frühaufsteher, fällt mir dann nicht schwer dann früher loszudackeln, um da mystische Erlebnisse zu haben (18). (C/246–255)
Die Erzählung wiederholt ein Muster, das schon in den vorangegangenen Passagen zu beobachten war: Der Text betont die Regelmäßigkeit, in der Herr C. den Gottesdienst besucht. Bei dieser Textstelle fällt die Klimax auf, mit deren Hilfe die Intensität der Gottesdienstbesuchshäufigkeit beschrieben wird: „regelmäßig“, „in engeren Intervallen“, „in sehr engen Intervallen“. Die Klimax mündet in den Hinweis auf die erste Begegnung Herrn C.’s „mit mystischen Geschichten“, für die als Beispiel die „Osternacht oder dergleichen“ genannt wird. Entsteht zunächst der Eindruck, als würden die Begegnungen mit mystischen Phänomenen ein Resultat gesteigerter Kirchgangshäufigkeit darstellen, so bietet die Passage an ihrem Ende mit Herrn C.’s Eigenschaft des Frühaufstehens eine weitere Legitimation für seine mystischen Erlebnisse. Die Nennung des Themas Mystik wirft für die weitere Analyse die Frage auf, inwieweit der Text Kirchgang und mystische Erlebnisse als Einheit betrachtet. Oder thematisiert der Text mit kirchlicher Religiosität einerseits und mystischen Erlebnissen andererseits zwei unterschiedliche Bereiche religiöser Erfahrung, die wohl in einem engen Zusammenhang miteinander stehen, genau so gut aber jeweils völlig eigenständig sein können? Eine sehr lange Schweigepause von 18 Sekunden am Ende der Erzählpassage deutet darauf hin, dass das Thema Mystik im Rahmen der Interviewkommunikation von größerer Bedeutung sein könnte. Doch der Text geht an dieser Stelle nicht weiter darauf ein. Die letzte Passage des thematischen Feldes befasst sich immer noch mit dem Thema Kirche, diesmal aber bezogen auf die Kirchengemeinden am Wohnort und die dort tätigen Pfarrerinnen und Pfarrer. B: Ich war in der [Name einer Kirche], sagt Ihnen das etwas? [Name einer Straße], ja also da in der Gegend haben wir gewohnt, hab auch einen guten Kontakt zu dem Pfarrerehepaar=einem Pfarrerehepaar gehabt und hatte aber auch dort zu der katholischen Gemeinde gute Kontakte, zu dem Priester Herr [Name eines Pfarrers],
240
der, das habe ich, glaube ich, erzählt. Und da ist der [Name des Sohnes] dann auch getauft worden, die [Name der Tochter] wurde noch in [Name einer Stadt] getauft von dem Pfarrer, der uns getraut hat (10). (C/255–263)
Im Mittelpunkt der Passage steht der Kontakt, den Herr C. zum evangelischen Pfarrerehepaar vor Ort wie auch zum katholischen Priester hat. Damit unterstreicht der Text auch für die hier thematisierte Phase in Herrn C.’s Biografie, dass für Herrn C. der direkte Kontakt mit Pfarrerinnen und Pfarrern wichtig ist. Vergegenwärtigt man sich die polemischen Aussagen, die der Text nun schon mehrfach gegen die katholische Kirche vorgebracht hat, so fällt an dieser Passage auf, dass der persönliche Kontakt zum katholischen Priester und auch zur katholischen Gemeinde positiv evaluiert wird. Das thematische Feld schreitet die biografischen Stationen Studium, Promotion, Hochzeit, Geburt der Tochter, Start ins Berufsleben, berufliche Krise und die Geburt des Sohnes ab. Diese Stationen bilden eine Art Hintergrundfolie, auf der der Text Herrn C.’s kirchliche Kontakte von der Studienzeit bis zur Taufe des Sohnes schildert. Die biografische Erzählung des thematischen Feldes geht formal gesehen einen Weg, der Herrn C. in eine Krise führt. Den Startpunkt bilden Erfolgsgeschichten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang der Abschluss der Promotion, die Hochzeit, die Geburt der Tochter und der Start ins Berufsleben. Zum Ende dagegen kommt die Erzählung mit der Schilderung einer Krise. Stellt man die Frage nach Herrn C.’s Rolle in dieser – aufs Ganze gesehen – Geschichte des „Scheiterns“, dann fällt auf, dass der Text Herrn C. im Rahmen der anfänglichen Erfolgsgeschichten stets als zentralen und engagierten Akteur inszeniert (Leistungsaspekt!). Im Rahmen der Misserfolgsgeschichte gegen Ende der Erzählung wählt der Text für Herrn C. stattdessen die Rolle des passiv Erlebenden, der bestimmten Umständen und Personen zum Opfer fällt. Quer zu dieser Erfolgs-Misserfolgsgeschichte läuft das Thema der kirchlichen Kontakte Herrn C.’s. Wurde im vorangegangenen thematischen Feld der regelmäßige Gottesdienstbesuch als die zentrale Form des kirchlichen Kontakts von Herrn C. legitimierend eingeführt, so knüpft dieses thematische Feld nun daran an. Dabei expliziert es am Beispiel der biografischen Erfolgs-Misserfolgsgeschichte die spezifischen Konturen der kirchlichen Kontakte, die Herr C. im Alltagsleben pflegt. Wie schon im vorangegangenen thematischen Feld werden der Gottesdienstbesuch und persönliche Kontakte zu Pfarrerinnen und Pfarrern als die wesentlichen Formen genannt, mit denen Herr C. seinen Kontakt zur Kirche gestaltet. Die vom Text vorgenommene Betonung der Wichtigkeit praktizierter Nächstenliebe und mystischer Erlebnisse deutet darauf hin, dass Herr C. vom Text als aktiver und autonomer Akteur seiner Religiosität inszeniert 241
werden soll. Die immer wiederkehrende Polemik gegen die katholische Kirche kann diese Vermutung stützen, wenn man sie als chiffrierte Form kirchlicher Institutionenkritik betrachtet. Dass es bei dieser Polemik nicht um die katholische Kirche generell gehen kann, zeigen schließlich die Einschränkungen der Polemik, die der Text durch positive Evaluationen z.B. das katholischen Priesters vornimmt. Stellt man abschließend die Frage, welche Funktion die Thematisierung von Kirche und kirchlichen Kontakten im Rahmen der Erfolgs-Misserfolgsgeschichte dieses thematischen Feldes spielt, so kann sie in einer partiellen Form der Problemlösung gesehen werden. Kirche, und das heißt die spezifischen Formen des Kichenkontakts von Herrn C., wird von der Erzählung als Kontinuum inszeniert, das trotz aller biografischen Krisenphänomene Bestand hat. Welche Funktion dieses Kontinuum für Herrn C. jedoch genau erfüllt, muss einstweilen noch offen bleiben. Geht man davon aus, dass ein Kontinuum – in welcher Form auch immer – etwas Vertrautes und Stabilisierendes ist, dann könnte es das Ziel der Gesamtkomposition des thematischen Feldes sein, die kirchlichen Kontakte als stabilisierende Faktoren herauszustellen, die Herrn C. helfen, mit seinen beruflichen Problemen umzugehen. Partiell bleibt die Problemlösung, weil die kirchlichen Kontakte Herrn C.’s berufliche Probleme nicht abschließend lösen können. Die berufliche und persönliche Krise und der Umgang damit Das Thema Krise rückt nun gänzlich in den Vordergrund. Die oben bereits angesprochenen beruflichen Krisenphänomene, mit denen sich Herr C. konfrontiert sieht, werden durch die Schilderung eines weiteren Krisenphänomens fortgesetzt. B: Ja, ich bin dann wieder nach [Name einer Großstadt] zurück beruflich. Habe da eine Niederlassung von einer Umweltfirma aufgebaut und geleitet und wurde da auf sehr unsanfte Weise beseitigt vor etwa zweieinhalb Jahren. Und war dann eine Zeit arbeitslos und arbeite jetzt freiberuflich in der Umwelt- und Energieberatung (5). Bin als Dozent tätig, wobei die Orientierung unter Umständen schon wieder zum Angestelltenverhältnis geht. Aber das muss man sehen, wie sich das entwickelt. Ich kenne inzwischen zwei verschiedene Heiztechniken und habe relativ gut an der eigenen Anlage gelernt. In dem Bereich möchte ich ein bisschen was vorwärts bringen. (C/263–273)
In geraffter, berichtender Form schildert der Text zunächst die beruflichen Stationen im Umfeld des Verlusts des Arbeitsplatzes. Wie schon bei der Schilderung der vorangegangenen beruflichen Krisenphänomene inszeniert der Text auch in diesem Fall Herrn C. als passiv Erlebenden, der der Initiative anderer zum Opfer fällt. Die Evaluation „auf sehr unsanfte Weise“ unterstreicht das. Die Textform des Berichts wechselt, nachdem die Erzählung die gegenwärtige berufliche Lage von Herrn C. anspricht. Nun versucht der Text im Modus einer Argumentation, die die beruflichen Perspek242
tiven thematisiert, Herrn C.’s gegenwärtige berufliche Situation als Freiberufler zu plausibilisieren. Das Krisenphänomen des Arbeitsplatzverlusts und der Umgang damit wird jetzt zu dem bestimmenden Thema. B: Ja, diese berufliche Krise, die hat mich durchaus in eine persönliche Krise gebracht. Es war so eine Woche, nachdem wir hierher gezogen sind, wurde das Arbeitsverhältnis auf üble Art und Weise mit Mobbing und so Geschichten beendet. Also das hat mich eine Zeitlang doch sehr massiv beeindruckt. Und an den Punkten haben mir aber eigentlich auch wieder so Predigten bei der Orientierung Beistand geleistet. Ich weiß nicht, ob Sie den Pfarrer [Name eines Pfarrers] oder so [Name eines Pfarrers], der Kollege vom [Name eines Pfarrers]-. Wir waren öfter zusammen, und der geht jetzt nach [Name einer Stadt]. Und den finde ich ganz gut, zu dem hab ich einen guten Draht. (C/273–284)
Der Text weitet seinen Fokus nun über die berufliche Krise hinaus und thematisiert die „persönliche“ Krise Herrn C.’s, die sich aus seiner beruflichen Krise ergibt. Nachdem die Krise Herrn C.’s als umfassende Krise beschrieben und qualifiziert ist, bietet der Text eine erste Lösungsvariante, mit der Herr C. auf die Krise reagiert hat: Es ist das Hören von Predigten und der persönliche Kontakt zu dem Pfarrer. Die Form, in der die Kirche an dieser Stelle thematisiert wird, entspricht genau den bislang genannten Phänomenen, die für Herrn C.’s Kirchenbindung relevant sind: Die Kontaktstellen zum kirchlichen Leben sind der Gottesdienstbesuch und dabei vor allem die Predigt sowie das persönliche Gespräch mit Pfarrern; die Funktion dieses Kontakts zur Kirche besteht in einer Orientierungshilfe. Der Text vertieft den Aspekt der Problemlösung und nennt weitere Varianten, mit denen Herr C. auf die Krise reagiert hat. B: Ich habe dann verschiedene Dinge begonnen, die ich früher nie getan habe. Ich singe gerne und bin dann in der Kirche angesprochen worden, ob ich nicht Lust hätte, in den Kirchenchor einzutreten. Der Kirchenchor, der hat sich dann allerdings nach ca. drei Monaten aufgelöst, weil die Pianistin, die Organistin, aufgehört hat da drüben. Und dann habe ich zufällig ein Inserat in der Zeitung gefunden: „[Name einer Großstadt]er Männerchor sucht Sänger“ und da sing ich jetzt mit. Ich singe erster Tenor. Und von daher hat man eigentlich keine Schwierigkeiten. Ich hab dann auch versucht, diese ganze berufliche Geschichte so zu bewältigen, habe verschiedene Dinge probiert. Habe Psychotherapie gemacht, die allerdings nicht besonders wertvoll oder nicht besonders weiterbringend war. Habe viele Dinge gelesen, hab mir Zeit genommen quasi und habe Meditation mitgemacht, so Atemmeditation, hab=habe einen neuen Sport entdeckt, ich bin inzwischen Ganzjahresschwimmer, ein See ist ja gleich in der Nähe, ich schwimm also jeden Tag, wenn kein Eis auf dem See ist. Und ich bin beeindruckt, dass das funktioniert. Selbst bei minus 16 Grad kann man in das Wasser gehen, wenn es-. Wäre für mich eine Vorstellung, aber auf Grund der Nähe und der Situation, dass ich mir die Zeit relativ frei einteilen kann, ist das halt machbar. Ja, ich gehe auch hier regelmäßig zur Kirche und habe eigentlich noch nie so
243
viele christliche Lieder gesungen wie seit diesen zwei Jahren. Weil diese Gesangsliteratur, die da verwendet wird, ist also geistliche Klassik, Bauernmesse. Ich weiß nicht, ob das bekannt ist, deutsche Messe von Schubert, Heilige Nacht von Ludwig Thoma, das geht halt schon immer marienverehrungsmäßig. Wir sind im [Name eines Gebäudes], wir singen im [Name eines Gebäudes], wir singen in [Name eines Klosters], die Chortreffen sind im Schwesternheim der [Name einer Straße] und wir sehen da die Schwestern. Und angeblich als Dank-. Und bei denen üben wir dann unser Konzert ein, und die sind alle total begeistert. Es ist ein relativ fundierter Chor unter sehr guter Leitung. Der Chorleiter, der ist ein Profi, und der singt selber in einem der weltbesten Klassikensemble und es=es ist Arbeit, es ist nicht bloß irgendwie so ein Dorfgesangsverein, sondern da steckt was dahinter. Aber das ist eine Herausforderung, der ich mich gern stelle, und es hat ja auch eine befreiende Wirkung. Ich spiele auch Gitarre und singe, ich habe auch schon mehrere Auftritte in der Fußgängerzone gehabt. Und was sich noch intensiviert hat: Ich dichte seit zehn, fünfzehn Jahren, habe ein Dichterbüro betrieben, eine Auftragsdichtung, wenn-. Man hätte was daraus machen können, aber das interessiert ja nicht, oder wir haben das nicht weiterverfolgt. Und ich hab so in dieser Phase quasi sehr, sehr viel Gedichte geschrieben, also ich habe so inzwischen über hundert durchaus tiefgehende, die ja wo-, teilweise eine befreiende Wirkung haben. Ich suche nach dem Sinn des Lebens irgendwie, hat mal der Abt von [Name eines Klosters] gesagt. Der hat gesagt: „Also da liegt ganz schön was vor dir.“ Also das begleitet mich seit zehn, fünfzehn Jahren, diese Sinnfrage. (C/284–332)
Betrachtet man die Selektivität der Textpassage, dann fällt der große Raum auf, den Herrn C.’s Mitwirkung im Kirchen- bzw. Männerchor einnimmt. Die Zweiteilung der Geschichte über Herrn C.’s Mitwirkung in den Chören – erst Kirchenchor, dann Männerchor – folgt der Logik, dass die Mitgliedschaft im Kirchenchor die Lust initiiert, die Herr C. am Singen hat, und die Schilderung über die Mitwirkung im Männerchor dann das Engagement, das Herrn C. in Sachen Singen auszeichnet, weiter illustriert. Unter dem Aspekt der Selektivität setzt der Text weitere Schwerpunkte bei Herrn C.’s Sport des Ganzjahresschwimmens und beim Verfassen von Gedichten. Bei den drei am ausführlichsten geschilderten Problemlösungsvarianten Singen, Ganzjahresschwimmen und Dichten ist dem Text sehr daran gelegen, durch quantitative Indexikalisierungen den Leistungscharakter zu betonen: Herr C. engagiert sich in den genannte Bereichen sehr – Singen als Herausforderung, Schwimmen bei minus 16 Grad, 100 Gedichte. Aber auch abgesehen von den drei ausführlich beschriebenen Varianten der Problemlösung tritt der Leistungscharakter, der Herrn C.’s Engagement zur Bewältigung seiner Krise auszeichnet, schon allein durch die Nennung einer Fülle an unterschiedlichen Aktivitäten zur Problemlösung zutage. Auch hier wird das problemlösende Potenzial der verschiedenen Weisen, auf die Herr C. im Kontakt mit der Kirche steht, wieder unterstrichen: Regelmäßiger Gottesdienstbesuch, Aufenthalt in Kirchen und Klöstern beim 244
Singen im Chor, Singen christlicher Gesangsliteratur, persönliche Gespräche mit Geistlichen. Gleichsam als Globaldeutung für die zahlreichen Aktivitäten, die Herr C. im Zusammenhang mit der Bewältigung der Krise ergreift, bietet der Text das Moment der Sinnsuche an. Dabei fällt jedoch auf, dass die zeitliche Indexikalisierung, die der Text im Zusammenhang mit der Sinnsuche Herrn C.’s vornimmt, weit in die Zeit vor dessen beruflicher und persönlicher Krise zurückreicht: Herr C. werde, so der Text, seit zehn, fünfzehn Jahren von der Sinnfrage begleitet, die Krise liegt laut Text aber erst zweieinhalb Jahre zurück. Inwieweit das Deutungsangebot des Textes, Herrn C. als sinnsuchenden Menschen zu verstehen, tatsächlich zutreffend ist, wird die weitere Analyse der Interviewkommunikation erweisen. In einem kurzen Einschub greift die Erzählung die lebensgeschichtliche Chronologie Herrn C.’s wieder auf und berichtet in aller Kürze von der Kommunion des Sohnes und der Firmung der Tochter. Die folgende Sequenz dagegen, die über eine Transkriptseite umfasst und ausschließlich im Modus der Argumentation erzählt, kehrt nochmals zum Sinnthema zurück. Sie greift die vom Text angebotene Deutungsvariante auf, nach der Herr C. als Sinnsucher gesehen werden kann. Der Text nennt ein Reihe von Lektüreerfahrungen, die Herr C. gemacht hat und gibt dessen Ansicht dazu wieder. Auch wenn diese Textpassage im Hinblick auf die rekonstruktive Analyse des biografischen Textes nicht so aussagekräftig ist, dass sie hier abgedruckt werden müsste, so markiert der große Umfang der Passage unter dem Gesichtspunkt der Selektivität das Gewicht, das der Text auf sein Deutungsangebot legt. Im sequenziellen Verlauf der Erzählung ist diese Erzählpassage immer noch im Kontext der Problemlösungen zu sehen, die der Text für den Umgang Herrn C.’s mit der Krise nennt. Das gilt auch für die Schilderung des folgenden Reiseerlebnisses. B: Ich bin=bin früher sehr viel gereist in Israel und in Ägypten und ich kenne den Sinai ganz gut, Katharinenkloster, und da stellen sich mir schon die Haare auf, wenn ich daran denke an die Dinge, die da passiert sein sollen. Und eine Nacht auf dem Mosesberg verbracht, oben geschlafen und dann den Sonnenaufgang angeschaut und es waren schon Momente die mich beeindruckt haben, wo ich das Empfinden gehabt habe, da bist du jetzt nahe daran an den Dingen. Also es ist, denke ich, so eine Mischung aus Intellekt und Gefühlswelt, die sich da verbindet und die in manchen Momenten durchaus was bringen könnten. (C/378–387)
Die zeitliche Indexikalisierung „früher“ bringt zum Ausdruck, dass das geschilderte Erlebnis in der Zeit vor der beruflichen und persönlichen Krise Herrn C.’s liegt. Die Rückblende in die Zeit vor der Krise erfüllt ebenso wie die vorangegangenen Passagen die Funktion, die Relevanz, die das Thema Sinnsuche für Herrn C. spielt, als Kontinuum zu beschreiben, das Herrn C. unabhängig von der aktuellen Krise begleitet. Auch diese Passage folgt dem 245
bisher schon mehrfach vorgefundenen Auszeichnungsschema, bei dem immer etwas ganz besonderes im Zusammenhang mit Herrn C.’s Erleben genannt wird. In diesem Fall sind es das Katharinenkloster und der Mosesberg als ganz besondere historische Orte, zu denen der Text Herrn C. in Beziehung setzt. Der Aspekt der Sinnsuche wird an dieser Stelle durch die Beschreibung von Herrn C.’s Empfinden beim Sonnenaufgang auf dem Mosesberg zum Ausdruck gebracht: „Da bist du jetzt nahe dran an den Dingen.“ Die folgende Textpassage setzt die Reihe der Wege fort, auf denen Herr C. mit der Krise umzugehen versucht. Nach kurzen Erläuterungen zur Atemtherapie spielen Aktivitäten zum Thema Familie dabei eine besondere Rolle. B: Ich habe mich dann in letzter Zeit mit der Familie auseinandergesetzt, dieser Schritt in diese Richtung, quasi, die Ursprungsfamilie ergänzen. Habe dann an Familienstellen mitgemacht an der [Name einer Fachhochschule] in [Name einer Großstadt]. War ganz interessant. Bei den Gedanken, die ich eigentlich zu meiner Person hatte- ich hatte vermutet, dass es da irgendwelche Defizite gibt aufgrund der Behinderung von meinem Vater, dass man eben nicht so an den ran kam, wie ich mir das vorgestellt hätte. Raus kam jetzt allerdings bei dem Familienstellen, dass=dass also meine Mutter als Flüchtling- eigentlich mit einem relativ traurigen Schicksal, mein Vater mit seiner Behinderung, dass die sich quasi gegenseitig irgendwie gestützt haben in dieser schweren Situation, dass das eigentlich eine sehr intakte Familie war. Was ich eigentlich auch nie bezweifelt hatte. Allerdings war mir es nicht möglich, da irgendwie so den engen Kontakt zu meinem Vater zu gewinnen, wie ich mir das gerne vorgestellt hätte, was allerdings zu der Erkenntnis geführt hat, dass möglicherweise eher meine Sicht der Dinge war-, oder meine Erwartungshaltung, die etwas übersteigert war. Das kam bei diesem Familienstellen heraus. Da war ich Anfangs enttäuscht, wo ich mir eigentlich da schon Lösungen erwartet hätte für Dinge, die einem im Kopf herumgehen, die mich so ein bisschen einengen oder so. Aber das war leider nicht der Fall. Man kann auch mit dieser Sicht der Dinge umgehen und versuchen, das Ganze ins Positive umzulenken. Und was allerdings raus kam bei diesem Familienstellen: Es waren also ganz fürchterliche Schicksale dabei, wie Inzest oder ähnliche Geschichten, Töchter, die von ihren Vätern vergewaltigt wurden, ganz grauenhafte Dinge. Und das hat das Wochenende unvergessen gemacht. (C/409–437)
Die Textpassage thematisiert die Probleme, die Herr C. im Verhältnis zu seinen Eltern und dort speziell zum Vater hat. Die Krise wird als Anlass geschildert, sich mit diesem Problem zu befassen. Hinsichtlich des zeitlichen Bezugspunktes weist die Erzählpassage eine Doppelstruktur auf: Einerseits reagiert sie auf die aktuelle Krise von Herrn C. Andererseits thematisiert sie mit dem zwischen Herrn C. und seinen Eltern herrschenden Rollengefüge eine Problemstellung, mit der Herr C. auch schon vor der Krise konfrontiert war. Die Problemlösung, die das Familienstellen für Herrn C. mit sich bringt, wird vom Text ambivalent gewertet. So führt das Familienstellen für Herrn C. zwar zu einer vertieften Kenntnis über die Hintergründe der Probleme im Verhältnis zu seinen Eltern. Aber eine abschließende 246
Lösung hat das Familienstellen für Herrn C., so der Text, nicht mit sich gebracht. Das Ende der Erzählpassage relativiert das Problem der nicht hinreichend erfolgten Problemlösung und lenkt den Blick weg von Herrn C. und seiner Familie hin auf die Erfahrungen, die andere Teilnehmer beim Familienstellen gemacht haben. Indem der Text an dieser Stelle wieder auf besonders spektakuläre Fälle (Inzest etc.) rekurriert, gelangt auch in dieser Textpassage das Auszeichnungsschema der vorangegangenen Passagen wieder zur Anwendung. Das thematische Feld und damit zugleich die Haupterzählung endet mit einer Argumentation, die Gedanken über den Sinn des Lebens darbietet und darauf zielt, dass der Mensch ein winzig kleiner Teil des Kosmos ist und er deshalb seine Bedeutung nicht zu hoch einschätzen sollte. Kurz: Es geht darum, in der Dimension von Weltall und Erde die Bedeutung des einzelnen Menschen zu relativieren. Stellt man die Frage, welche Aufgabe diese argumentierende Passage in funktionaler Hinsicht erfüllt, dann könnte diese darin bestehen, die vorangegangenen Erzählpassagen mit den diversen Schilderungen über Herrn C.’s Problemlösungsversuche angesichts der Krise ihrerseits zu relativieren. Die Botschaft der argumentierend-reflektierenden Passage könnte etwa so lauten: Herr C. hat schon sehr viel in Sachen Sinnsuche unternommen und macht das auch weiterhin, aber vielleicht sollte er sich dabei nicht ganz so wichtig nehmen. Diese Lesart könnte auch die Funktion des bisher immer wieder vorgefundenen Auszeichnungsschemas erklären. Sie würde dann darin bestehen, die Besonderheit und Außerordentlichkeit der Problemlösungsversuche Herrn C.’s zu unterstreichen, um damit einen griffigen Kontrastpunkt zu erhalten, der in der reflektierenden Argumentation gezielt in Frage gestellt, d.h. relativiert werden kann. Den entgültigen Schlusspunkt der Haupterzählung bildet eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Erzählung. In funktionaler Hinsicht erweckt sie den Eindruck, als solle dadurch sichergestellt werden, dass auch alles strukturiert und vollständig erzählt worden ist. Das thematische Feld über Herrn C.’s berufliche und seine damit einhergehende persönliche Krise inszeniert den Weg der Problemlösung so, dass vielfältige Aktivitäten genannt werden, die einen Beitrag zur Problemlösung darstellen. Dabei wird jedoch keine der genannten Aktivitäten als abschließender Problemlösungsweg qualifiziert. Der Text schildert den Weg, mit dem Problem umzugehen, aber noch keinen als entgültige Problemlösung markierten Zielpunkt. Beim Blick auf die genannten Aktivitäten zum Umgang mit dem Problem der Krise spielt der Kontakt Herrn C.’s mit der Kirche eine wichtige Rolle. Wie schon in den vorangegangenen Teilen des Interviews werden das Predigthören im Gottesdienst und das persönliche Gespräch mit Pfar247
rern als Formen genannt, die den Kontakt Herrn C.’s zur Kirche ausmachen. Ein weiterer Kontaktpunkt mit der Kirche und darüber hinausgehend zu religiösen Themen stellt Herrn C.’s Mitwirkung im Chor dar. Insgesamt stellen Kirche und Religion im Selektionsmuster des Erzähltextes wichtige Faktoren für den Umgang Herrn C.’s mit der Krise dar. Das Deutungsangebot, das der Text gleichsam als roten Faden anbietet, der die vielfältigen Aktivitäten Herrn C.’s beim Umgang mit der Krise durchzieht, besteht in der Inszenierung Herrn C.’s als Sinnsucher. Was die argumentierenden Passagen des thematischen Feldes als Deutungsangebot formulieren, bestätigen und unterstreichen die Erzählpassagen: Egal ob es um die kirchlichen Kontakte, die Beschäftigung mit religiösen Themen beim Singen, das Ganzjahresschwimmen, das Verfassen von Gedichten, das Reisen, die Atemmeditation oder das Familienstellen geht, bei all diesen Aktivitäten wird das Ziel von Herrn C. als Versuch geschildert, mehr über den Grund der Dinge und den Sinn des Lebens herauszufinden. Beim Überblick über alle genannte Aktivitäten fällt bezüglich der zeitlichen Indexikalisierung eine Besonderheit auf: Nicht alle geschilderten Aktivitäten reagieren direkt auf die aktuelle Krise. Vielmehr berichtet der Text auch von Aktivitäten der Sinnsuche, die zeitlich deutlich vor der aktuellen Krise liegen. Der Text bringt damit zum Ausdruck, dass die aktuelle Krise Herrn C.’s etwas befördert, was sein Leben schon viel länger begleitet, nämlich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. In gewisser Weise wird das Stellen der Frage nach dem Sinn des Lebens vom Text auf diese Weise als Kontinuum ausgewiesen, das Herrn C. schon seit längerer Zeit begleitet. Mehr noch: der Text inszeniert Herrn C. geradezu als Sinnsucher. Die aktuelle Krise ist somit nicht der Auslöser dafür, dass Herr C. die Sinnfrage überhaupt erst stellt. Sie initiiert vielmehr – auch im Rahmen der Selektivität und Sequenzialität des Textes – das Thema von Herrn C.’s Sinnsuche und bildet die Basis, Herrn C. ganz grundsätzlich, auch unabhängig von der aktuellen Krise, als Menschen darzustellen, zu dessen Eigenart die Sinnsuche untrennbar dazugehört. Stellt man die Frage, inwieweit Herr C. vom Text als passiv Erlebender oder aktiv Handelnder beschrieben wird, ist folgendes Muster beobachtbar: Herrn C.’s Rolle in der aktuellen Krise ist die des passiv Erlebenden. Er wird zum Opfer anderer. Doch, so der Text, Herr C. verbleibt nicht in der Rolle des passiv Erlebenden. Er ergreift die Initiative, mit der Krise umzugehen. Die Intensität dieser Initiative, wie sie der Text mittels einer Vielzahl von Aktivitäten illustriert, ist beachtlich. Unterstrichen wird das auch in sprachlicher Hinsicht: Die dementsprechenden Schilderungen betonen ausdrücklich den Leistungscharakter und zeichnen die diversen Aktivitäten durch die Nennung herausgehobener Besonderheiten (Auszeichnungsschema) aus. 248
Der Blick auf das Verhältnis zwischen Herrn C. und potenziellen Interaktionspartnern bietet ein differenziertes Bild. Mit der Lektüre von Klassikern, dem Reisen, der Atemmeditation und dem Ganzjahresschwimmen nennt der Text Aktivitäten, die Herr C. ohne Interaktionspartner ausübt. Für das Predigthören, die Gespräche mit Pfarrern, den Chor und das Familienstellen ist Herr C. dagegen auf Interaktionspartner angewiesen. Auch in diesem dem Text zu entnehmenden differenzierten Zugriff auf Interaktionspartner kann eine Form gesehen werden, die die Intensität, mit der Herr C. der Sinnfrage nachgeht, illustriert: Er nutzt nicht nur die Potenziale, die in allein zu praktizierenden Aktivitäten liegen, sondern auch solche, die sich aus der Interaktion mit anderen Menschen ergeben. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die Basis, Herrn C. als Sinnsucher zu präsentieren, bildet die Nennung der beruflichen und persönlichen Krise. Nachdem das Motiv der Krise diese Funktion erfüllt hat, tritt es jedoch in den Hintergrund. Herr C. wird im weiteren Verlauf der Erzählung nicht etwa als Opfer beschrieben, das die widrigen Umstände erträgt. Vielmehr geht der Text dazu über, Herrn C. als sehr engagiert aktiv Handelnden zu schildern. Sein Handeln steht ganz im Zeichen der Sinnsuche. Dieser Aspekt dominiert so sehr, dass der Text nicht einmal mehr darauf abzielt, die Sinnsuche als konkreten Lösungsversuch für die aktuelle Krise anzubieten. Stattdessen geht es dem Text ganz generell darum, Herrn C. als überaus engagierten Akteur in Sachen Sinnsuche zu inszenieren. Bezogen auf das vom Text genannte Ausgangsproblem der aktuellen beruflichen und persönlichen Krise heißt das: Die Sinnsuche Herrn C.’s wird dieses konkrete Problem nicht abschließend lösen. Wohl aber hilft sie ihm, damit umzugehen. Schließlich, so bringt es der Text zum Ausdruck, ist die Sinnsuche so etwas wie ein Wesensmerkmal von Herrn C. und stellt als solches ein bewährtes Mittel dar, den Wechselfällen des Lebens zu begegnen. Aus dieser Perspektive betrachtet kann die Sinnsuche Herrn C.’s als partieller Beitrag zur Problemlösung im Zusammenhang mit der aktuellen Krise betrachtet werden. Die Geschichte von und mit dem Vater Wie schon bei der vorangegangenen Fallanalyse wird auch diesmal wieder der Nachfrageteil des Interviews nicht mit seinem gesamten Textbestand zitiert und eingehend interpretiert. Nur Textpassagen, die neue oder über die Haupterzählung hinausgehende Aspekte bieten, werden im folgenden näher betrachtet. Im Rahmen der narrativen Selbstexplikation Herrn C.’s spielt der Vater eine wichtige Rolle. Der bisher analysierte Text kam mehrfach und auch an prominenter Stelle (Erzählbeginn) auf ihn zu sprechen. Gleichwohl sind die Konturen des Vaters wie auch des Verhältnisses, in dem Herr C. zu ihm 249
stand, bislang nur recht vage vom Text thematisiert worden. Grund genug, im Nachfrageteil auf Herrn C.’s Vater sprechen zu kommen. I: Ja, Sie hatten vorhin schon erzählt von Ihrem Vater. Können Sie da noch ein bisschen beschreiben? B: Den kann ich schon beschreiben. Also was ich jetzt so herausgehört habe, ist er wohl wegen seiner Hand von anderen schon gehänselt worden. Und er hat aber sich dem nicht ergeben, sondern hat eigentlich geschaut, dass er es irgendwie zu etwas bringt. Und das gelang ihm auch. Und diese Orientierung-, also ich glaube, dass er ein guter Mensch gewesen ist. Aber diese Orientierung hat ihn immer an die Seite der Macht gebracht, ohne dass ich jetzt da irgendwie Wertung hereinbringe möchte. Der war zum Beispiel HJ-Führer da in [Name einer Stadt]. Also ich halte ihn nicht für einen Nazi, glaube ich nicht, so von seinem ganzen Naturell her war er viel zu soft und zu weich, also ich denke nicht, dass der irgend jemand in die Pfanne gehauen hat oder-. Er war ja=er war ja fünfzehn oder so, und er musste dann in den Zweiten Weltkrieg. Da ist er dann nach Russland gegangen im Alter von sechzehn, siebzehn, also der ist 1926 geboren und ’42 war er sechzehn. Ich weiß also nicht ganz genau, wann er da weg musste. Hat=war immer sehr, sehr strebsam und war immer einer der Besten, war auch sportlich sehr gut gewesen, war bayerischer Meister im Hochsprung, hat versucht das Ganze zu kompensieren, und er hat es überkompensiert, allerdings mit allen Vor- und Nachteilen. Weil, seine Orientierung war natürlich leistungsorientiert, und alles dicht und Leistung. Das war natürlich das, was ich von mir gefordert sah, unbewusst oder bewusst, was auch immer. Und in Nähe, das war schon eher schwieriger. Was mich jetzt eigentlich beeindruckt ist, dass meine Tochter mit mir ähnliche Probleme hat und eigentlich, ich denke, ich wollte auch so viel. (C/589–616)
Die Erzählung über den Vater knüpft an die zu Beginn der Haupterzählung bereits angesprochene Tatsache an, dass der Vater eine Behinderung an der Hand hatte. Was die Haupterzählung bereits als Muster in diesem Zusammenhang erkennen lässt, erfolgt auch im Rahmen des Nachfrageteils: Der Text deutet die Leistungsorientierung des Vaters als Versuch, die Behinderung zu kompensieren. Im Unterschied zur Haupterzählung wird zum Beleg der Leistungsorientierung nun nicht auf die berufliche Karriere des Vaters verwiesen, sondern auf seine herausgehobene Rolle in der Hitlerjugend, seine Teilnahme am Russlandfeldzug und die bayerische Meisterschaft im Hochsprung. Dabei ist dem Text sehr daran gelegen, die Aktivitäten des Vaters im Zusammenhang mit dem NS-Regime nicht als Ausdruck der Sympathie mit dem Nationalsozialismus zu deuten, sondern wie gesagt als Form, die Behinderung zu kompensieren. In sequenzieller Hinsicht bereiten die Ausführungen über die Leistungsorientierung des Vaters den am Ende der Erzählpassage vorgenommenen Versuch vor, das problematische Verhältnis zwischen Herrn C. und seinem Vater zu begründen. Darüber hinaus begründet es auch den problematischen Charakter zwischen Herrn C. und seiner Tochter. Der Text stilisiert 250
damit die aus der Behinderung des Vaters resultierende Leistungsorientierung zum hermeneutischen Schlüssel einer Problemlage in Herrn C.’s Familie, die sich generationenübergreifend bis in das Verhältnis zwischen Herrn C. und seiner Tochter hin fortsetzt. Die folgende Textpassage nimmt bezüglich der Leistungsorientierung des Vaters eine überraschende Wendung vor. B: Ja, und dann-, mein Vater hat eigentlich immer die Orientierung gehabt: Er will quasi sich für später gesund halten. Hat immer Fitnessbücher gelesen, und hat auch viel Sport gemacht, Dauerlauf. Hat mich geprägt, genau wie ich meine Kinder präge, und dann plötzlich hat er Fußball gespielt bis ’64. Und dann hat er erfahren, er hat Prostatakrebs- der Hammer. Weil er ja quasi sich immer in Richtung Alter orientiert hatte. Hat dann allerdings bei so einer Voruntersuchung mal geschlafen und hat das irgendwie nicht wahr haben wollen, oder was auch immer. Auf jeden Fall Prostatakrebs, und zwar in einem Stadium das nicht mehr operabel war. Sie haben ihm dann die Hoden entfernt und er musste im Übermaß weibliche Hormone nehmen, was ihn dann leider beeinflusst hat. Er war dann psychisch nicht mehr gut drauf. Hat allerdings in dieser Endphase, er hat dann noch ein Jahr gelebt, und hat dann in dieser Endphase sich es sich nicht nehmen lassen-. Damals war gerade so ein Sportheimbau angestanden. Er hat da Modelle gemacht von der Fußballplatzanlage. Das konnte er gut, das hat ihm Spaß gemacht. Nach dem Modell ist das gebaut worden. Er hat dann die Bauleitung von dem Heim übernommen bis er nicht mehr konnte, also quasi in das Krankenhaus eingeliefert wurde und dann starb. Und das hat er fast bis zu Ende gebracht. Hat jetzt dort einen Ehrenplatz als Bild quasi. Die Familie versammelt sich öfter an dem Tisch, wo der Vater hängt quasi-, oder ist schon noch in der Seele da. Und mich drängt es eigentlich immer an das Grab. Eine tragische Geschichte, die ich lange nicht verwinden konnte. Er ist an meinem Geburtstag gestorben und irgendwie habe ich nicht begriffen, was das soll, einerseits als Kraftübertragung verstanden und andererseits als Vorwurf quasi. Wurde an irgendwelche Konflikte erinnert, die halt einfach zwischen uns standen. Ich denke aber, das ist inzwischen aufgearbeitet. Ich hab ihm eine Grabrede gehalten in diese Richtung. Ich denke, dass ich in ausreichendem Maße befreit bin. Aber das hat mich also schon lange Zeit schwer beeindruckt. (C/742–774)
Die Erzählung relativiert die Leistungsorientierung des Vaters zunächst auf eine radikale Weise: Trotz aller Bemühungen erkrankt der Vater an Krebs. In Bezug auf die Funktion dieser Passage wäre es denkbar, dass der Text mit ihr den Nutzen der Leistungsorientierung des Vaters in Frage stellen möchte. Doch der weitere Verlauf zeigt, dass das gerade nicht das Ziel des Textes ist. Stattdessen rekurriert er erneut auf die Leistungsorientierung des Vaters, um diese als effiziente Form des Umgangs mit der Krebserkrankung zu inszenieren: Trotz Krebserkrankung koordiniert der Vater den Bau des Sportheims. Indem der Text auch für die Situation der Krebserkrankung des Vaters das Erbringen einer außergewöhnlichen Leistung als Problemlösungsstrategie präsentiert, wird der Leistungsaspekt als der maßgebliche Problemlösungsfaktor für Herrn C.’s Vater herausgestellt. Der Erfolg dieser spezifi251
schen Problemlösungsstrategie des Vaters wird durch den Hinweis auf das Bild des Vaters im Sportheim und die Familie, die sich immer wieder dort versammelt, unterstrichen. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Herrn C. und seinem Vater bietet die Erzählpassage einen deutenden Zugang: Trotz aller Probleme, die das Verhältnis zwischen Herrn C. und dem Vater geprägt haben, inszeniert der Text Herrn C. als Nachfolger seines Vaters. Die Semantik, die diesen Sachverhalt mit den Stichworten „Geburtstag“ und „Kraftübertragung“ umschreibt, betont das Verständnis von Herrn C. als Nachfolger seines Vaters ganz besonders. Die Geschichte über Herrn C.’s Vater und das Verhältnis zwischen Vater und Sohn endet mit kurzen Berichten über den Ablauf des Tages, an dem der Vater gestorben ist und über die Zeit im Umfeld der Beerdigung. Herr C., so berichtet es der Text, war nicht dabei, als der Vater starb. Die hier analysierten Textstellen bieten Informationen zur Rolle der Leistungsorientierung in Herrn C.’s Familie und zum Verhältnis zwischen Herrn C. und seinem Vater, die im bisherigen Erzählverlauf in dieser Weise noch nicht deutlich geworden sind. So steht der Vater für das Moment konsequenter Leistungsorientierung, die so etwas wie das leitende Paradigma für das Zusammenleben in Herrn C.’s Elternfamilie darstellt – selbst angesichts des Todes. Andererseits resultieren aus der dominierenden Leistungsorientierung innerfamiliäre Konflikte, die auch das Verhältnis zwischen Herrn C. und seinem Vater bestimmen. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Herrn C. und dem Vater lässt der Text jedoch das Muster einer Entproblematisierung und sukzessiven Annäherung erkennen. Zum dramatischen Höhepunkt gelangt der Prozess der Annäherung zwischen Herrn C. und seinem Vater am Schluss der Erzählpassage: Hier wird – fast in Anlehnung an die Semantik eine Initiationsritus – Herr C. als Nachfolger seines Vaters inszeniert. Damit bietet der Text nicht nur eine Problemlösungsvariante für den Konflikt zwischen Herrn C. und seinem Vater. Er bietet darüber hinaus auch einen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis von Herrn C., so wie der Text ihn inszeniert: Seine Leistungsorientierung verdankt er dem Vater. Von der Leistungsorientierung ist er nicht nur durch die Erziehung geprägt. Er hat sie zusätzlich gleichsam durch Übertragung geerbt. Der Verlust der Arbeitsstelle Die Haupterzählung hat Herrn C.’s Verlust der Arbeitsstelle bereits ausführlich thematisiert. Dabei wurde der Schwerpunkt jedoch auf die Schilderung der Bewältigungsstrategien gelegt, mit denen Herr C. versucht, der beruflichen und persönlichen Krise zu begegnen. Durch eine Nachfrage 252
wird nun versucht, mehr über die konkreten Umstände des Arbeitsplatzverlusts von Herrn C. zu erfahren. I: Sie hatten dann erzählt von der Kündigung vor zweieinhalb Jahren. Können Sie das noch einmal beschreiben, wie das war? B: Ich war Niederlassungsleiter und es war so, dass das in zwei Ebenen ablief. Zum einen, die Firma ist sehr nach vorne gepuscht worden. Der Stammsitz ist in der Nähe von [Name einer Stadt] und die neu aufgebauten Niederlassungen, die sind eigentlich wenig unterstützt worden. Und ich war schon am Kämpfen, und das Ganze lief eigentlich zwei Jahre recht gut. (C/1319–1326)
Zu Beginn der Geschichte über den Arbeitsplatzverlust wird Herr C. als „Kämpfer“ inszeniert, der trotz widriger Umstände (mangelnde Unterstützung durch Firmenzentrale) gute Arbeit leistet. Dem vom Text immer wieder zum Ausdruck gebrachten Leistungsaspekt folgend wird Herr C. hier als tatkräftiger Akteur geschildert. Die Verantwortung für die Hemmung der Leistung wird anderen Instanzen zugeschrieben, in diesem Fall der Firmenzentrale. Auch die eigentliche berufliche Krise und der Verlust des Arbeitsplatzes wird ursächlich anderen zugeschrieben. B: Und dann gab es verschiedene Dinge, die es eigentlich schwierig gemacht haben, das Ganze weiter zu-, oder gut weiter zu machen. Zum einem haben wir einen großen Geldbetrag einem Anlagenberater gegeben, der inzwischen im Knast in [Name einer Stadt] sitzt. Und wir haben uns in der Zeit entschieden, das Haus zu kaufen. Und da war nicht klar, wie das jetzt weitergeht. Es waren 200.000 Mark, die wir ihm gegeben haben, das war damals ein Haufen Geld, für mich jedenfalls. Und wir haben dann nach viel Kampf das Geld zurück bekommen. Und das hat natürlich das ganze Leben beeinflusst. Das war der eine Punkt. Zum anderen war es so, dass da jemand neu kam, der bekannt und berüchtigt war dafür, dass er sehr rigoros Macht ausübt. Ich war da in Urlaub und dann hat der sich quasi in die Niederlassung eingeschleust und hat nach Dingen gesucht, wie er mich loswerden kann. Und dann war da auch so eine Mitarbeiterin, die aus meiner Sicht Schwierigkeiten hat, sich hier irgendwo einzufinden, die sehr, sehr lange Zeit in Psychotherapie gewesen ist und nicht ganz einfach war. Ich nehme die Information-, oder ich habe das abgeglichen mit dem, der das nach mir gemacht hat, der hat die gleichen Probleme gehabt. Und dieser neue Mann, der hat die gegen mich gestellt und hat die gestärkt. Das war so eine MobbingGeschichte. Und ich bin natürlich auf dem Zahnfleisch gewesen, wegen der vielen Dinge, die da liefen. Mir ging es auch nicht gut. (C/1326–1349)
Der Text nennt zwei Ursachen, die Herrn C.’s Leistungsfähigkeit gehemmt haben: Zum einen die von Herrn C.’s Berufstätigkeit unabhängige Problemlage des drohenden Verlusts einer hohen Geldsumme, die für den Kauf des Hauses bestimmt war, und zum anderen das Mobbing durch Kollegen. Die beiden Schilderungen der Bedrohungen, die auf Herrn C. einwirken, inszenieren Herrn C. als Opfer krimineller Machenschaften bzw. böswilliger und 253
planmäßiger Intrige. Die Validität der Mobbinggeschichte wird durch den Hinweis auf ähnliche Erfahrungen belegt, die auch Herr C.’s Nachfolger gemacht haben soll. Wie sich der auf Herrn C. einwirkende Druck Raum schafft, schildert die folgende Erzählpassage. B: Ich habe dann Herz-Rhythmus-Störungen gehabt, bin dann abladiert worden, Herzinnenwand vernarbt, weil da einfach so Reizströme da waren, die eine Herzfrequenz von 140 bewirken und das Herz vergrößern. Eigentlich nichts Dramatisches, aber wenn man es nicht behandelt, dann kann es schwierig werden. Hat auch nichts mit organischen Dingen zu tun, sondern mit was auch immer. Die Ärzte sind-, die sich-, oder in der Praxis in der [Name einer Straße] sehr gut auskennen, ein Herzkatheterlabor haben, ich habe auch längere Zeit mit denen darüber gesprochen, aber ich nehme an, dass das von diesem ganzen Stress da kam. (C/1349–1358)
Hier schildert der Text die konkreten Auswirkungen, die das Einwirken der belastenden Faktoren auf Herrn C. hat. Dabei fällt auf, dass der Text die Herzerkrankung Herrn C.’s zwar als Auswirkung des auf Herrn C. einwirkenden Stresses interpretiert. Gleichzeitig bemüht sich der Text aber auch, die Herzerkrankung zu entdramatisieren („eigentlich nichts Dramatisches“). Ob der Versuch, die geschilderte gesundheitliche Einschränkung zu entdramatisieren, dem von der Erzählung nun schon häufig zum Ausdruck gebrachten Bestreben geschuldet ist, den Aspekt körperlicher Leistungsfähigkeit von Herrn C. wie auch seines Vaters zu betonen, kann an dieser Stelle zumindest gefragt, wenn auch nicht abschließend beantwortet werden. Die Erzählpassage über die näheren Umstände von Herrn C.’s Arbeitsplatzverlust unternimmt zum Schluss den Versuch einer Plausibilisierung der Krisenerfahrung von Herrn C. B: Ich habe dann mich in psychologische Betreuung begeben, wollte das Ganze aufarbeiten, aber das war so nicht die ganz richtige Methode, und da konnte ich wenig damit anfangen, hat mir eigentlich nur Schwierigkeiten gemacht. Manchmal habe ich Träume, wo ich den beiden einen Säbel, wenn sie hintereinander stehen-. Das war natürlich nicht so gut, weil ich habe schon Abfindung bekommen, es ging irgendwie nie an die Substanzen. Das Haus musste ja irgendwie finanziert, bezahlt werden. Wobei, mir war klar, dass wir keine große Belastung darauf hatten. Wobei ich denke, dass ich mehr leisten könnte, als ich momentan leiste. Ich habe mir bewusst Zeit genommen, die Dinge aufzuarbeiten, habe mich mit Dingen befasst, mit denen ich mich vorher nicht befasst habe. Und zumindest auf der menschlichen Ebene bin ich gereift, ich bin überhaupt gereift, mehr als in anderen Dingen. Auch wenn es blutig ist, es ist einfach so, weil, man sucht nach Möglichkeiten, in der Phase-. Kirche als Stange, an der man sich ein bisschen festhalten kann. (C/1358–1375)
Psychotherapie und die im Traum vorgestellten Rachephantasien werden vom Text als ungeeignete Mittel zur Verarbeitung der negativen Erlebnisse Herrn C.’s geschildert. Gerade letztere Problemlösungsvariante wird als 254
überzogen gewertet, weil der Text von der Zahlung einer Abfindung berichtet, die die existenzielle Bedrohung abmildert. Die eigentliche Plausibilisierung, die der Text für die Krisenerfahrung bietet, ist die Möglichkeit Herrn C.’s, das Erlebte aufzuarbeiten und dadurch – wie der Text durch mehrmalige Nennung betont – zu reifen. Indem der Text darauf hinweist, dass Herr C. eigentlich mehr leisten könnte, als das nach dem Arbeitsplatzverlust der Fall ist, bringt er zum Ausdruck, dass Herr C. die Zeit zur Aufarbeitung und dem damit einhergehenden Reifen bewusst investiert. Wie genau er die investierte Zeit füllt, schildert der Nachfrageteil nicht. Schließlich ging die Haupterzählung auf diesen Aspekt bereits sehr ausführlich ein. Sehr unvermittelt, kommt der Text im letzten Satz der Erzählpassage auf die Kirche zu sprechen. Wie schon im Rahmen der Haupterzählung wird der Kontakt zur Kirche hier als Möglichkeit zur Orientierung angesichts der Krise gedeutet. Betrachtet man die Erzählpassage über die näheren Umstände des Arbeitsplatzverlustes von Herrn C. als ganze, dann ist folgendes Muster erkennbar: Herr C. wird vom Text als leistungsstarker Akteur inszeniert, der nur durch negatives Fremdeinwirken gebremst wird und diesem schließlich zum Opfer fällt. Doch der Text belässt Herrn C. nicht in der Rolle des Opfers. Die Krise wird vielmehr zu einer Chance, persönlich zu reifen. Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten Der Nachfrageteil nimmt nochmals Bezug auf Herrn C.’s Initiative zur Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten väterlicherseits. Die Haupterzählung hatte davon gleich zu Beginn berichtet. Das allerdings nur knapp. Der Nachfrageteil bietet im Rahmen einer ausführlicheren Erzählung weitere Informationen. I: Da muss ich noch einmal nachfragen. Sie hatten vorhin erzählt, dass Sie im letzten Jahr dann den Kontakt hergestellt haben zu der Familie des leiblichen Großvaters. Können Sie das noch mal schildern, wie das war, die Begegnung mit den Leuten? B: Zum Hintergrund noch mal: Es war so, ich habe ja keinen Großvater gehabt, sowohl väterlicher Seite wie auch mütterlicher Seite. Und in der Zeit, wo ich mich so mit Psychologie etwas befasst habe, und solchen Dingen, ich habe eigentlich in den letzten Jahren, sehr versucht sehr tief zurückzuschauen. Aufgrund der Situation, die sich da ergeben hat, und angekickt durch diese Psychotherapie, ist mir eigentlich bewusst geworden, dass es ein Unterbewusstsein gibt. Das war mir vorher ja gar nicht klar, und dass da die Steuerung vorhanden sein kann, die mein Leben lenkt. Und das Ganze hat mich irgendwie nicht losgelassen. Jetzt habe ich also diese Vater-SohnGeschichten mal so ein bisschen ins Auge genommen. Und da bin ich auf Literatur gestoßen, die besagt, dass Söhne von Vätern, die keinen Vater haben, mit dem Großvater identifiziert werden. Können Sie das nachvollziehen? Also das, was hinten nicht da ist, wird nach vorne projeziert. Ich kann es nicht näher beschreiben. Aber da ich
255
auch feststelle, dass meine Tochter mit mir, es sieht für mich so aus, ähnliche Probleme hat wie ich mit meinem Vater, wollte ich quasi versuchen, dieses nach hinten ein bisschen aufzulösen. Ob das der richtige Weg ist, das weiß ich nicht. An meinem Verhältnis zu meiner Tochter hat sich nichts geändert, die ist momentan in der Pubertät, mag sein, dass sie das später ganz anders sieht, oder was auch immer, kann man einfach nicht beurteilen. Das war eigentlich so der Motor. (C/1593–1619)
Die Erzählung knüpft an der bisherigen Inszenierung Herrn C.’s als Sinnsucher an. Die erste vom Text angebotene Begründung für die Kontaktaufnahme zu den Verwandten stellt mit dem Verweis auf die aus der Psychotherapie resultierenden Erkenntnisse eine Verbindung zu Herrn C.’s beruflicher und persönlicher Krise her: Die Kontaktaufnahme mit den Verwandten wird dadurch in die Reihe der Initiativen gestellt, die Herr C. ergreift, um die Krise zu bewältigen. Die zweite Begründung, die der Text für die Kontaktaufnahme bietet, überschreitet diesen aktuellen Bezug. Das als problematisch empfundene Verhältnis zur Tochter erinnert Herrn C. an die Probleme, die es im Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater gab. Die Kontaktaufnahme zu den Verwandten stellt somit über die Bewältigung der aktuellen Krise hinaus den Versuch dar, das problematische Verhältnis zwischen Herrn C. und seinem Vater respektive seiner Tochter aufzuarbeiten. Nach der Nennung von Gründen für die Herstellung des Kontakts zu den verschollenen Verwandten folgt die eigentliche Geschichte der Kontaktaufnahme. B: Ich habe dann über Leute-. Ich habe einen Verwandten, der ist Mesner in [Name einer Stadt], der hat einen Schwur geleistet. Der hat einen Herzinfarkt gehabt und der hat gesagt, wenn er wieder gesund wird, wird er Mesner. Hat er gemacht. Der macht so ein bisschen Ahnenforschung, und zwar ist das quasi-. Der ist verheiratet mit der Tochter des Bruders meiner Großmutter, aber es ist quasi der gleiche Stamm, von meiner großmütterlichen Seite. Der hat das also irgendwie zusammengefasst, irgendwie haben wir uns öfter unterhalten, und dann habe ich gesagt: „O.K., ich kümmere mich um die Geschichte und ich brauche das jetzt“. Dann habe ich dort herumgehört, wer denn etwas wissen könnte. Und dann bin ich auch darauf gestoßen, wo das Elternhaus dieses Vaters war. Und in dem Ort, das ist nicht weit entfernt, gab es jemanden, der kannte ihn persönlich, mit dem habe ich mich lange unterhalten. Der hat mir dann auch gesagt „Da wendest du dich hin, es ist möglich-“. Und gleichzeitig ist noch eine weitentfernte Freundin von meiner Mutter, die mit der Familie in irgendeiner Weise verwandt ist. Die hat dann quasi nachgefragt, ob irgend jemand bereitwillig Auskunft gibt. Dann kam ich über die Nichte, über die Tochter seiner Schwester, kam ich in Kontakt mit der Familie. Ich habe angerufen und habe gesagt „Ich bin der und der, habe dieses und jenes Interesse, können Sie mir irgendwie weiterhelfen?“ Die hat dann Kontakt aufgenommen zu ihrer, das ist quasi ihre Cousine, und die wussten nichts davon, die konnten das überhaupt nicht glauben. Gut, und dann habe ich mit der noch telefoniert. Und die Halbschwester meines Vater väterlicherseits die lebt in [Name einer Großstadt]. Und dann habe ich mit dieser Cousine geredet. Sie hat gesagt, sie tut sich schon
256
ein bisschen vorbereiten. Und dann haben wir ausgemacht, im September ist sie dann in der Nähe von [Name einer Stadt], am Montag treffen wir uns. Und dann bin ich hingefahren. Ich habe Bilder dabei gehabt, sie hat Bilder dabei gehabt, und es war nett. Es gibt jetzt auch ein gemeinsames Bild von ihr und mir. Zum Schluss haben wir uns umarmt, haben uns geduzt. (C/1619–1653)
Die Geschichte inszeniert Herrn C. als engagiert Handelnden. Sie gleicht einer Kriminalgeschichte, bei der die Lösung des Falls durch sukzessive Recherche immer näher rückt, die Spannung aber möglichst lange aufrechterhalten bleibt. Die Schilderung über das Treffen mit der Cousine wird vom Text als eine Art happy end inszeniert. Betrachtet man das gesamte Interview, stellt die Erzählung eine Besonderheit dar: An keiner anderen Stelle wird in dieser Form eine echte Geschichte erzählt. Das unterstreicht die Bedeutung, die diese Passage für die Art und Weise hat, in der der Text Herrn C. präsentiert: Herrn C. gelingt es an dieser Stelle, die aufgeworfenen Problemstellungen bezüglich des Verhältnisses zu seinem Vater (und zu seiner Tochter) wenn auch nicht abschließend zu lösen, so doch erfolgreich zu bearbeiten. Mit dem Höhepunkt des Treffens zwischen Herrn C. und seiner Cousine ist die Passage über die Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten noch nicht ganz zu Ende. Der Text bietet noch einige Informationen über das bisherige Leben der Verwandten und Vermutungen darüber, welche weiteren Verwandten es noch geben könnte. Mit dem Hinweis, dass Herr C. auch zu ihnen künftig Kontakt aufnehmen möchte, endet die Passage. 2.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation Die Erzählkomposition Die Selektivität des Textes berücksichtigt aufs Ganze gesehen die gesamte Lebensgeschichte Herrn C.’s. Ausgehend von den typischen Lebensstationen einer Normalbiografie thematisiert der Text alle Lebensphasen, die Herr C. bis zum Zeitpunkt des Interviews durchschritten hat: Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter, Familiengründung und Berufsleben. Zusätzlich überschreitet die Selektivität des Textes den unmittelbaren Horizont Herrn C.’s und befasst sich auch mit der Familiengeschichte Herrn C.’s – vor allem väterlicherseits. Der differenzierte Blick auf die selektive Struktur der biografischen Selbstexplikation Herrn C.’s zeigt jedoch, dass der Text nicht alle Lebensphasen, die die Erzählung nennt, quantitativ in gleichem Maße berücksichtigt. So schenkt die Erzählung vor allem der Schilderung von Herrn C.’s Familiengeschichte väterlicherseits wie auch der beruflichen und persönlichen Krise Herrn C.’s und dessen Umgang damit einen weiten Raum. Quantitativ gesehen weniger Raum wird den Lebensphasen Kindheit und Jugend, Studium und Promotion, Heirat und 257
Familiengründung sowie dem Berufsleben, sofern es nicht mit der grundlegenden Krise zusammenhängt, geschenkt. Mit der Vorgabe dieser selektiven Struktur, die den Schwerpunkt auf die Familiengeschichte und die berufliche und persönliche Krise Herrn C.’s legt, trifft der Text eine wesentliche Grundentscheidung für die Art und Weise, in der Herr C. präsentiert wird: Für das Verstehen und Begreifen Herrn C.’s aus der zum Zeitpunkt der Interviewkommunikation maßgeblichen Perspektive auf Herrn C.’s Lebensgeschichte sind die Familiengeschichte und die berufliche und persönliche Krise die entscheidenden Aspekte. Der differenzierende Blick auf die Struktur der Textselektivität lässt darüber hinaus eine weitere Besonderheit erkennen, die die biografische Selbstexplikation Herrn C.’s auszeichnet. Es handelt sich dabei um ein spezifisches Wechselverhältnis von erzählendem und erzähltem Ich. Über weite Passagen des Textes, vor allem im Rahmen der Schilderungen über die Familiengeschichte väterlicherseits, tritt das erzählte Ich nicht aus dem erzählenden Ich heraus: Herr C. spielt in der Handlung als Akteur keine Rolle. Das gilt, von Ausnahmen einmal abgesehen, auch für Erzählpassagen, die sich auf Lebensphasen beziehen, die von der Textselektivität in nur geringem Maße berücksichtigt werden. Zu nennen sind beispielsweise Herrn C.’s Kindheit und Jugend wie auch sein Studium. An anderen Stellen dagegen setzt das erzählende Ich Herrn C. als erzähltes Ich sehr stark in Szene. Das gilt vor allem für die Passagen über Herrn C.’s berufliche und persönliche Krise. Die im Text angelegte Struktur eines differenzierten Wechselverhältnisses von erzählendem und erzähltem Ich deutet darauf hin, dass dem Text daran gelegen ist, die soziale Verortung Herrn C.’s so zu schildern, dass er in bestimmten Lebensphasen in einen spezifischen sozialen Kontext eingebettet ist, ohne aus diesem herauszutreten, in anderen Lebensphasen und -situationen jedoch deutlich in Erscheinung tritt. Betrachtet man den Grundmodus der sozialen Verortung Herrn C.’s, dann lässt der Blick auf den Beginn der Erzählung, der die Familiengeschichte von Herrn C. thematisiert, den Schluss zu, dass der Text Herrn C. als Menschen inszenieren möchte, der grundsätzlich in einen spezifischen sozialen Kontext eingebettet ist und nur an bestimmten Punkten aus diesem als handelnder Akteur heraustritt. Diese Beobachtung knüpft direkt an die Frage nach der sozialen Lagerung an, die der Text für Herrn C. erkennen lässt. Die vom Text favorisierte Selektivität, die Herrn C.’s Familiengeschichte väterlicherseits sowie die berufliche und persönliche Krise von Herrn C. so stark macht, ließe erwarten, dass Herr C. vom Text als passiv Erlebender inszeniert wird. Doch auch in Bezug auf die soziale Lagerung Herrn C.’s bietet der Text ein differenziertes Bild. Führt das erzählende Ich Herrn C. als Akteur der Handlung ein, kommen je nach Situation sowohl die Variante vor, dass er als passiv 258
Erlebender beschrieben wird, als auch als aktiv Handelnder. Für die konkrete Richtung der sozialen Lagerung Herrn C.’s ist es ausschlaggebend, ob der Text Herrn C. im Rahmen einer Misserfolgsgeschichte oder einer Erfolgsgeschichte verortet. Bei Misserfolgsgeschichten wie z.B. dem problematischen Einstieg in das Berufsleben, der mit einigen Stellenwechseln verbunden war, und vor allem auch der entscheidenden beruflichen und persönlichen Krise wird Herr C. stets als Opfer inszeniert. Für den Misserfolg, der in solchen Geschichten erzählt wird, sind andere verantwortlich. Herr C. ist der passiv Erlebende. Anders verhält es sich mit den Erfolgsgeschichten, die der Text erzählt. Solche Geschichten werden z.B. über Herrn C.’s Promotion erzählt, aber auch über Herrn C.’s Familiengründung, über seine Initiativen im Zusammenhang mit dem Umgang mit der Krise und über die Kontaktaufnahme mit den verschollenen Verwandten. Stets ist Herr C. in diesem Fällen der aktiv handelnde Akteur, dem der in der jeweiligen Geschichte geschilderte Erfolg zuzurechnen ist. Stellt man die Frage, wie der Text die konkreten Proportionen des Verhältnisses von aktivem Handeln und passivem Erleben von Herrn C. gestaltet, ergibt sich folgendes Bild: Der Ausgangsmodus, in dem der Text Herrn C. thematisiert, ist der der sozialen Einbettung. Hier tritt Herr C. als eigenständiger Akteur zunächst nicht in Erscheinung. Herr C. ist gleichsam Teil eines Kollektivs und deshalb weder als aktiv Handelnder noch als passiv Erlebender im Text erkennbar. Die Wahl dieses Ausgangsmodus, zum dem die Erzählung in ihrem weiteren Verlauf immer wieder zurückkehrt, indem sie Herrn C. als Akteur zurücktreten lässt, deutet darauf hin, dass es dem Text nicht darum geht, Herrn C. als aktiven Gestalter seiner Lebensgeschichte zu präsentieren. Das vom Text differenziert gestaltete Wechselverhältnis von aktivem Handeln und passivem Erleben Herrn C.’s hat eine andere Bezugsebene. Diese kann in dem sozialen Kontext gesehen werden, in den Herr C. eingebettet ist. Die Grundentscheidung des Textes, die der Struktur seiner Selektivität zu entnehmen ist, besteht dabei darin, Herrn C. vor allem als aktiv Handelnden und somit erfolgreichen Akteur in Erscheinung treten zu lassen. So sind beispielsweise seine Initiative der Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten oder auch sein engagierter Umgang mit der beruflichen und persönlichen Krise als Formen zu betrachten, mit denen er aus dem Kollektiv herausgehoben und durch Erfolg ausgezeichnet wird. Demgegenüber spielt es für den Text eine allenfalls untergeordnete Rolle, Herrn C. als passiv Erlebenden zu inszenieren. Ist das der Fall, dann nur, um damit die Grundlage zu schaffen, Herrn C. aktiv werden zu lassen und eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Wie gestaltet sich die Verlaufskurve der Erzählung nun genau? Im ersten thematischen Feld steht die Familiengeschichte Herrn C.’s väterlicherseits 259
im Mittelpunkt. Die Ausführungen über Herrn C.’s Vater, die ausgehend von der Behinderung des Vaters dessen hohes Maß an Leistungsorientierung herausstellen, geben das zentrale Thema der Erzählung vor: Das Erbringen von Leistung steht in der Familie an erster Stelle. Ätiologisch wird das an der Person des Vaters festgemacht. Die Brücke zu Herrn C. wird vom Text geschlagen, indem er ihn nach dem Tod des Vaters als Nachfolger des Vaters als Akteur einführt. Der Text deutet hier bereits eine Identifikation Herrn C.’s mit seinem Vater an, die im Nachfrageteil im Rahmen der Schilderungen über den Tod des Vaters mit dem Deutungsangebot der Kraftübertragung weiter illustriert wird. Der Text schildert die Art und Weise, in der Herr C. die Rolle als Nachfolger seines Vaters auszufüllen versucht, mit der Geschichte über Herrn C.’s Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten. Die dementsprechenden Passagen des Nachfrageteils illustrieren das Engagement Herrn C.’s in dieser Angelegenheit. Herr C. wird damit als Person inszeniert, die sich in einer großen Nähe zum eigenen Vater weiß. Gleichzeitig wird Herr C. als jemand geschildert, der sich durch ein ganz besonderes Engagement dem Vater gegenüber autonomisieren muss, um sich im Vergleich zu ihm als ebenbürtig und würdiger Nachfolger zu erweisen. Durch die Kontaktaufnahme zu den verschollenen Verwandten kann er das nachweisen – nicht zuletzt dadurch, dass er die Initiative zur Kontaktaufnahme, dem Leitparadigma der Familie entsprechend, durch Leistung zum Erfolg führt. Das in der sequenziellen Struktur des Textes folgende thematische Feld über die Jugend- und Konfirmandenzeit Herrn C.’s erfüllt zwei Funktionen: Zum einen bestätigt es die Wichtigkeit des Leistungsgedankens für Herrn C., was vor allem die Nennung seiner Erfolge im sportlichen Bereich zum Ausdruck bringt. Zum anderen besteht die Funktion des thematischen Feldes aber darin, auf dem Hintergrund der Schilderungen über Herrn C.’s Konfirmandenzeit dessen spezifische Form des Kontakts zur Kirche in die Erzählung einzuführen. Konkret handelt es sich dabei um die Gewohnheit des Gottesdienstbesuchs und die persönliche Kenntnis von bzw. Bekanntschaft mit Theologen. Die weitere sequenzielle Struktur der Erzählung bleibt beim Thema der kirchlichen Kontakte und Berührungspunkte und verquickt diese mit einer Schilderung biografischer Ereignisse und Erlebnisse von der Studienzeit bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Interview geführt wurde. Dieses thematische Feld illustriert die zuvor eingeführte typische Weise des Kirchenkontakts von Herrn C. weiter. Gleichzeitig erzählt es aber auch eine Mischung von Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte. Hier lässt sich die oben beschriebene Struktur des spezifischen Wechselverhältnisses, das die Inszenierung von Herrn C. als aktiv Handelnden sowie als passiv Erlebenden ausmacht, sehr gut rekonstruieren: Solange der Text die Erfolgsgeschichte über Promotion, 260
Heirat, Realisierung des Kinderwunsches und Einzug in ein gemietetes Haus zeichnet, kommt Herrn C. die Rolle des aktiv Handelnden zu. Beim Übergang zur Misserfolgsgeschichte über Herrn C.’s Schwierigkeiten beim Berufsstart wird ihm dagegen die Rolle des Opfers zugewiesen, so dass er nun als passiv Erlebender erscheint. Die Thematisierung kirchlicher Kontakte erfolgt unabhängig davon, ob der Text gerade im Bereich der Erfolgsoder der Misserfolgsgeschichte steht. Aus diesem Grund kann der Schluss gezogen werden, dass der Text die kirchlichen Kontakte Herrn C.’s als eine Art Kontinuum in dessen Lebensgeschichte integrieren möchte. Zielpunkt der sequenziellen Anlage des Interviewtextes ist die berufliche und persönliche Krise Herrn C.’s und dessen Umgang damit. Der Text knüpft damit an die Misserfolgsgeschichte der vorangegangenen Sequenz an und nimmt eine Steigerung vor. Wie für Misserfolgsgeschichten typisch, die der Text dieses Interviews aufweist, wird Herr C. als Opfer und passiv Erlebender inszeniert. Entscheidender und wesentlicher ist aber die Tatsache, dass der Text auf der Basis einer Misserfolgsgeschichte nun eine Erfolgsgeschichte mit Herrn C. als dem zentralen Akteur formuliert. Das problemlösende Potenzial, das der Text im Rahmen dieser Geschichte präsentiert, ist die zu Beginn der Erzählung eingeführte Leistungsorientierung, die Herrn C.’s familiären Hintergrund kennzeichnet. Das Ausmaß konkreter Leistungen, die der Text als Formen schildert und mit denen Herr C. die Krise zu bewältigen versucht, ist sehr weitreichend. Die bisher als Kontinuum geschilderten Formen des kirchlichen Kontakts (Gottesdienstbesuche und Predigthören sowie persönliche Kontakte zu Theologen) sind hier genau so zu nennen wie Herrn C.’s Engagement im Kirchenchor und im Männergesangsverein, sein Sport des Ganzjahresschwimmens und das Verfassen von Gedichten. Auch die Kontaktaufnahme mit den verschollenen Verwandten steht in dieser Reihe. Die Leistungen, die der Text in diesem Zusammenhang nennt, können mit dem vom Text unterbreiteten Deutungsangebot der Sinnsuche unter einer bündelnden Überschrift vereint werden. Das besondere an diesem Deutungsangebot ist, dass der Text es keineswegs nur als spezifische Problemlösungsstrategie angesichts der Krise Herrn C.’s präsentiert. Er unterstreicht vielmehr, dass Herr C. auch schon in Zeiten vor der aktuellen Krise sich der Sinnsuche gewidmet hat. So gesehen unterstreicht der Text im Zielpunkt der sequenziellen Struktur des Interviews, dass es sich bei Herrn C. generell um einen Sinnsucher handelt. Die aktuelle Krise fördert sein Engagement in dieser Hinsicht. Sie ruft es aber nicht völlig neu hervor. Funktionale Verdichtung Wofür steht der Verlauf der Erzählung in funktionaler Hinsicht? Der Beginn der Erzählung gibt den entscheidenden Hinweis für die Beantwortung 261
dieser Frage. Indem Herr C. hier als Person geschildert wird, die eingebettet ist in die Geschichte einer Stadt und stärker noch in die Geschichte seiner Familie väterlicherseits, ist die Ausgangsfrage des Textes die nach dem Ort und nach dem Anlass, an dem Herr C. angesichts dieser Geschichte als Person in Erscheinung treten kann. Die Antwort, die der Text auf diese Frage formuliert, schreitet verschiedene Phasen der Lebensgeschichte von Herrn C. ab und lässt ihn dort teils mehr, teils weniger in Erscheinung treten und einen Ort finden. Das Ausmaß, in dem Herr C. jeweils in Erscheinung tritt, hängt ab von dem Maß an Leistung, das Herr C. erbringen kann: Ist es hoch, tritt Herr C. stark in Erscheinung; ist es dagegen niedrig, tritt er entweder gar nicht oder allenfalls als „Opfer“ in Erscheinung. Dass es ausgerechnet der Faktor Leistung ist, der darüber entscheidet, ob, und wenn ja, in welchem Maße Herr C. in Erscheinung tritt, wird vom Text mit der auch für Herrn C. selbst prägenden Leistungsorientierung des Vaters begründet. Die Antwort, auf die der Text angesichts der Frage nach dem Ort, an dem Herr C. als Person in Erscheinung tritt, im Ergebnis zusteuert, ist der Bereich der Sinnsuche. Hier wird Herr C. als Person geschildert, die eine Vielzahl an Initiativen ergreift, damit auch Erfolg hat und auf diese Weise konturiert in Erscheinung tritt. Wendet man dieses Analyseergebnis auf die konkrete Frage nach dem den Text bestimmenden Bezugsproblem, so kann dies in der Frage gesehen werden, an welchem Ort oder besser gesagt, in welchem Lebensbereich Herr C. Leistung erbringen kann. Dieser Lebensbereich ist, so stellt es der Text dar, nicht etwa der Beruf oder die eigene Familie. Vielmehr ist es der Prozess der Sinnsuche. Hier kann Herr C. dem familienimmanenten Axiom der Leistungsorientierung entsprechend Leistung erbringen und sich als Person profilieren. Auf dieser Basis steht die biografische Erzählung von Herrn C. unter dem Motto und im Horizont der Sinnsuche als Lebensleistung. Das Thema Kirche in der Biografie Auch im Fall von Herrn C. soll abschließend konkret gefragt werden, wie der Text die Kirchenbindung Herrn C.’s in die Schilderung der Lebensgeschichte einzeichnet: Wie verfährt die Selektivität des Textes mit dem Thema Kirche? Welche Rolle spielt die Kirche in funktionaler Hinsicht im Zusammenhang mit dem vom Text behandelten Bezugsproblem? Betrachtet man die Gesamtkomposition des Textes, dann fällt auf, das das Thema Kirche in den Anfangspassagen, die sich auf Herrn C.’s Familiengeschichte beziehen, keinerlei Rolle spielt. Die Herausarbeitung des für Herrn C.’s Familie bestimmenden Leistungsaspekts steht hier ganz im Vordergrund. Als Thema wird die Kirche vom Text erst an der Stelle eingeführt, an der auch Herr C. als Akteur, d.h. als erzähltes Ich eingeführt wird. Das geschieht 262
im Rahmen der Schilderungen über Herrn C.’s Jugend- und Konfirmandenzeit. Dabei geht es nicht primär darum festzustellen, dass Herr C. während der Konfirmandenzeit erstmals Kontakt mit der Kirche hatte. Vielmehr besteht die Funktion des thematischen Feldes über Herrn C.’s Kindheit und Jugend darin, ganz grundsätzlich die Art und Weise, in der Herr C. fortan das Verhältnis zur Kirche pflegen wird, zu plausibilisieren. Der Fokus ist auf Herrn C.’s Gewohnheit des Gottesdienstbesuchs gerichtet, wobei das Predigthören besonders unterstrichen wird, und Herrn C.’s Interesse an persönlichen Kontakten zu Theologen und Pfarrerinnen und Pfarrer. Unterschwellig thematisiert diese Textpassage auch den Versuch Herrn C.’s, in der auf die Konfirmation folgenden kirchlichen Jugendgruppe mitzuwirken, was vom Text aber als nicht nachhaltig realisierte Initiative beschrieben wird. Stattdessen sind es, wie gesagt, die Gewohnheit des Gottesdienstbesuchs und das Interesse an persönlichen Kontakten zu Theologen und Pfarrern, die in Folge der Konfirmandenzeit als die spezifischen Formen des Kirchenkontakts von Herrn C. herausgestellt werden. Indem diese Form des Kirchenkontakts an der gleichen Stelle geschildert wird, an der auch Herr C. vom Text erstmals so richtig als Akteur in Szene gesetzt wird, wird unterstrichen, dass diese Form des Kirchenkontakts und Herr C. eine Einheit bilden: So und nicht anders pflegt Herr C. seinen Kontakt zur Kirche. Der weitere Verlauf der Erzählung gibt zu erkennen, dass Gottesdienstbesuch und Kontakt zu Pfarrerinnen und Pfarrern als spezifische Form des Kirchenkontakts nicht auf die Zeit nach Herrn C.’s Konfirmation beschränkt bleiben. Auch für alle weiteren Lebensphasen Herrn C.’s stellt der Text fest, dass Herr C. im Kontakt mit der Kirche steht und zwar genau auf diese Weise. Das gilt für die Zeit des Studiums und der Promotion ebenso wie für die Zeit des Berufseinstiegs und der beruflichen und persönlichen Krise. Der Text nennt mit der kirchlichen Trauung und der Taufe der Kinder zwar auch weitere Formen des Kirchenkontakts von Herrn C. Diese werden aber eher in knapper berichtender Weise genannt und vom Text nicht als Ereignisse inszeniert, die für Herrn C.’s Kontakt zur Kirche größere Bedeutung hätten. Die im Text anzutreffenden polemischen Passagen über die katholische Kirche könnten die Vermutung nahe legen, Herr C. bevorzuge grundsätzlich den Kontakt zur evangelischen Kirche. Da der Text aber nicht nur polemisch von der katholischen Kirche redet, sondern immer wieder auch von positiven Begegnungen mit der katholischen Kirche (Kontakte zu Pfarrern, Mönchen, Einbindung in die Gemeinde, in der die Kinder Kommunion und Firmung gefeiert haben), führt diese Vermutung in eine falsche Richtung. Die Polemik gegen die katholische Kirche bei gleichzeitiger Schilderung positiver Begegnungen mit ihr erfüllt vielmehr die Funktion, Herrn C. 263
als autonomen Akteur in Sachen kirchlicher Religiosität auszuzeichnen, der selbst entscheidet, wovon er sich angesprochen fühlt und wovon nicht. Überblickt man die biografische Erzählung über Herrn C. als ganze, dann wird der in Form von Gottesdienstbesuch, Predigthören und Kontakten zu Pfarrerinnen und Pfarrern ausgestaltete Kirchenkontakt Herrn C.’s als lebensgeschichtliches Kontinuum inszeniert, das Herrn C. von der Konfirmandenzeit bis zur Gegenwart begleitet. Hinsichtlich des oben festgehaltenen Analyseergebnisses, wonach die Funktion der Erzählung darin besteht, eine Antwort auf die Frage nach dem Ort bzw. Lebensbereich zu geben, an dem Herr C. in Erscheinung treten kann, spielt auch die vom Text beschriebenen Form von Herrn C.’s Kirchenkontakt eine spezifische Rolle: Gottesdienstbesuch, Predigthören und Kontakte zu Pfarrerinnen und Pfarrer sind von Herrn C. erbrachte Leistungen, die ihn als aktiv handelnden Akteur profiliert in Erscheinung treten lassen. Dabei gilt es, die Besonderheit zu berücksichtigen, dass der Text Herrn C. in dieser Hinsicht nicht nur an einer oder einigen wenigen Stellen der Erzählung in Erscheinung treten lässt. Vielmehr stellt die kirchenspezifische Form der Thematisierung Herrn C.’s ein in die gesamte Erzählung eingeflochtenes Kontinuum dar. Greift man schließlich nun noch das Analyseergebnis über das Bezugsproblem der Erzählung auf, wonach die Sinnsuche als die zentrale Lebensleistung Herrn C.’s betrachtet werden kann, dann lässt sich die Funktion, die das Thema Kirche in der Gesamterzählung spielt, noch weiter konkretisieren. Indem der Text Herrn C.’s spezifische Form des Kirchenkontakts in die Reihe seiner vielfältigen Aktivitäten der Sinnsuche stellt und dabei den Kirchenkontakt als lebensgeschichtliches Kontinuum seit der Konfirmandenzeit inszeniert, wird der Kirchenkontakt Herrn C.’s als eine Form der Sinnsuche herausgestellt, die Herrn C. kontinuierlich begleitet. Die Tatsache, dass von den übrigen im Text genannten Aktivitäten Herrn C.’s im Zusammenhang mit der Sinnsuche keine weitere als lebensgeschichtliches Kontinuum geschildert wird, unterstreicht die Bedeutung, die dem Kirchenkontakt Herrn C.’s im Zusammenhang mit dem vom Text aufgeworfenen Bezugsproblem der Sinnsuche zukommt. 2.4 Frau D.: Die regulierte Aktivität 2.4.1 Vorbemerkungen Frau D. ist 1979 geboren, verheiratet und hat einen Sohn. Nach Kindergarten und Grundschule besucht sie die fünfte und sechste Klasse des Gymnasiums. Nach der sechsten Klasse wechselt sie auf die Realschule. Nach der mittleren Reife absolviert sie eine Ausbildung bei einer Versicherung. Kurz nach der Ausbildung wechselt Frau D. ihre Stelle und arbeitet bei einer 264
anderen Versicherungsgesellschaft. Dort lernt sie ihren jetzigen Mann kennen. Kurze Zeit später heiraten die beiden und gründen eine Familie. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau D. nicht berufstätig, sondern kümmert sich als Hausfrau um ihren ca. halbjährigen Sohn. Das Interview wurde im November 2002 geführt und dauerte ca. zweieinhalb Stunden. Der Kontakt zu Frau D. kam über die Vermittlung eines Pfarrers zustande. 2.4.2 Rekonstruktion des biografischen Textes Das Interview beginnt im Vergleich zu den vorangegangenen Interviews mit einer etwas modifizierten Erzählaufforderung. Die Befragte wird darum gebeten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, ohne dass dabei auf die Berücksichtigung von Erfahrungen und Erlebnissen hingewiesen wird, die sie im Laufe ihres Lebens mit der Kirche gemacht hat. Die fehlende Bitte, auch das Thema Kirche zu berücksichtigen, resultiert daraus, dass Frau D. im Rahmen der telefonischen Vorkontakte explizit um ein Gespräch über kirchliche Erfahrungen im Laufe der Lebensgeschichte gebeten wurde. Der Verlauf der Interviewkommunikation zeigt, dass Frau D. die telefonischen Vorabinformationen und die Erzählaufforderung in der Weise aufgenommen hat, dass sie Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche wie gewünscht in die Schilderung ihrer Lebensgeschichte integriert. Der Weg in die Versicherung Die erste Erzählpassage befasst sich mit Frau D.’s ersten Lebensjahren bis zum Ende der Kindergartenzeit. B: Also, also ich bin am 23.11.79 geboren, das heißt, ich habe bald Geburtstag am Samstag (ja), in [Name eines Stadtteils] (mh) im [Name eines Stadtteils]er Krankenhaus. Ich habe noch zwei Geschwister: Ein-, zwei ältere Schwestern (mh). Die eine ist vier Jahre älter und die andere ist fünfzehn Jahre älter (mh) und-. [...] Dann haben wir in [Name eines Stadtteils] gewohnt, bis ich so ungefähr vier Jahre alt war (mh). Da bin ich dann in Kindergarten. Also ich bin erst noch in den Kindergarten gegangen dorten, so ein Jahr oder was, und dann bin ich, sind wir hierher gezogen in die Gegend. Also in [Name eines Stadtteils] nach [Name eines Stadtteils] haben meine Eltern dann ein Reihenhaus gekauft, (mh) und da bin ich dann weiter in den Kindergarten gegangen praktisch so für diese Zeit ja. Da=da habe ich dann auch eine sehr gute Freundin von mir auch kennen gelernt im Kindergarten zur Kindergartenzeit, die-, mit der ich auch heute noch befreundet bin. Mit der bin ich auch konfirmiert worden. (D/25–42)
Die Erzählung beginnt im Modus eines stark gerafften Berichts. Auf der inhaltlichen Ebene zielt die Selektivität des Textes nicht etwa auf Hintergründe zu Frau D.’s Familiengeschichte, indem sie zum Beispiel weitere Ausführungen über die Eltern in den Vordergrund stellen würde. Stattdessen kreist der Text sehr konzentriert um die Lebensstationen, die Frau D. im 265
Laufe ihrer ersten Lebensjahre abschreitet. Der Text inszeniert Frau D. bereits für diese frühe Lebensphase als Akteurin. Mit den Schwestern, dem Kindergarten und der Freundin nennt der Text nur Personen bzw. ein soziales Umfeld, mit dem Frau D. in direktem Kontakt steht. Die Eltern dagegen werden nur genannt, weil sie ein Haus gekauft haben und sich durch den damit einhergehenden Umzug das soziale Umfeld von Frau D. verändert hat. Wäre das nicht der Fall gewesen, würde der Text Frau D.’s Eltern an dieser Stelle vermutlich gar nicht nennen. Stellt man die Frage nach dem in der Textpassage aufgeworfenen Problem, so ist ein solches klar erkennbar: Frau D. befindet sich in einer lokal und sozial eindeutig definierten Ausgangslage. Die Nennung des Stadtteils und des Krankenhauses, in dem Frau D. geboren wurde, sowie der Schwestern und des Kindergartens bilden die Determinanten dieser Ausgangslage. Durch den Hauskauf der Eltern und den Umzug muss Frau D. diese Ausgangslage verlassen und steht vor der Aufgabe einer erneuten lokalen und sozialen Verortung. Die Problemlösung, die der Text bietet, ist der neue Kindergarten und die Freundin, die Frau D. dort kennen lernt. Den Erfolg dieser Problemlösungsvariante unterstreicht der Text durch den Hinweis auf die bis heute anhaltende Freundschaft und die gemeinsame Konfirmation. Auch die folgende Passage fokussiert die lokale Dimension und nennt Orte, an denen sich Frau D. aufhält. B: Ja, da bin ich in die Grundschule gekommen auch hier in [Name eines Stadtteils] (4). Also von der ersten bis zur vierten Klasse da war ich eigentlich recht gut, so dass ich dann aufs Gymnasium bin. Fünfte, sechste Klasse und war eigentlich gar nicht so schlecht in der Schule. Allerdings war ich da irgendwie so sturköpfig, dass ich gesagt habe „Ich will...“, also ich wollte nicht studieren (mh). Ich habe mir gesagt „Wozu? Ich möchte nicht studieren, ich möchte Geld verdienen“, und das damals schon gesagt. Und habe dann deswegen entschieden, dass ich nach der sechsten Klasse runtergegangen bin auf die Realschule, weil ich mir gedacht habe, wofür muss ich das Abitur machen, für was? (mh) Und dass-. Meine Eltern haben mir das eigentlich, meine Entscheidung-. Die waren zwar nicht so begeistert drüber, weil sie gesagt haben, ich hätte es halt auch schaffen-. Also ich hätte es geschafft, wahrscheinlich, aber wenn ich nicht weiß, wofür ich es mache? (D/42–56)
Der Text schenkt der auf den Kindergarten folgenden Grundschulzeit nur wenig Beachtung. Die Nennung der Grundschulzeit dient in funktionaler Hinsicht lediglich dazu, die Voraussetzungen zu nennen, die es Frau D. ermöglicht haben, auf das Gymnasium zu kommen. Könnte man nun erwarten, dass die guten schulischen Leistungen von Frau D. gerade kein Problempotenzial in sich bergen, so ist das Gegenteil der Fall: Die guten Noten führen dazu, dass Frau D. mit dem Wechsel auf das Gymnasium an einen Ort kommt, der eine spezifische Problemstellung aufwirft. Sie inszeniert der Text so, dass sich Frau D. mit dem Gymnasium an einem für sie unpassen266
den Ort befindet: Das Gymnasium besucht man, wenn man studieren will; sie will aber nicht studieren, sondern „Geld verdienen“. Zur Lösung des Problems erhebt der Text die Akteurin Frau D. jetzt in den Status der aktiv Handelnden: Sie entscheidet sich dazu, nach der sechsten Klasse das Gymnasium zu verlassen und auf die Realschule zu wechseln. Die Erzählung plausibilisiert damit Frau D.’s Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule und inszeniert sie als aktiv Handelnde, die schon zu einem außergewöhnlich frühen Zeitpunkt versucht, den Verlauf ihrer Lebensgeschichte eigenständig zu gestalten. Die Art und Weise, wie der Text an dieser Stelle die Eltern Frau D.’s thematisiert, unterstreicht das: Die Eltern werden vom Text nur indirekt in Szene gesetzt, indem deren Argumente für bzw. auch gegen den Verbleib auf dem Gymnasium wiedergegeben werden. Als aktiv Handelnde werden sie vom Text in diesem Zusammenhang nicht eingeführt. Das bleibt allein Frau D. vorbehalten. Nachdem die Erzählung Frau D.’s Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule begründet hat, wendet sie sich nun Frau D.’s Realschulzeit zu. B: Und dann bin ich in die-, zur siebten Klasse eben auf die Realschule gegangen und das hat mir super gefallen. Da war ich sehr super gut in der Schule und habe sehr viele Leute kennen gelernt, mit denen ich zum Teil noch heute befreundet bin. Und, ja da ging so die Jugendzeit los, sage ich jetzt mal, also die Beziehung so die Erlebnisse und so (ja). Und dann war ja-, das war dann von der siebten bis zur zehnten Klasse [Kind spielt laut] da hab ich also-, da war ich sehr-, da hatte ich sehr meine Sturm und Drangphase, sage ich jetzt mal. Da bin ich sehr-, die Lehrer-, ich nicht-, ich war keine brave Schülerin, sage ich mal (mh). Mehrere Verweise gekriegt und alles. Ich hatte da so ´ne Zeit, da war ich mit jedem auf Konfrontation (ja), sozusagen. Und ich meine, ich habe gute Noten gehabt und alles. Deswegen haben sie mir das auch gar nicht so übel (mh) genommen, irgendwie. Weil das, solange das so geht. Aber ich war halt nicht so nett zu den Lehrern oder so. Was ich sagen muss, mit wem ich mich damals sehr gut verstanden habe, war meine Religionslehrerin (mh). Also, wobei damals also in der=in der Realschulzeit im Religionsunterricht jetzt nicht so, ja nicht so über, schon über Gott auch geredet haben, aber die hat halt-, die war halt so offen mehr, also hat halt, ja, wir haben halt Themen behandelt, die halt auch die Jugendlichen interessieren (mh). Ob das jetzt auch, was weiß ich, Satanismus-, und was man halt da alles in der Jugendzeit irgendwie in=in macht. Und also die war-, die habe ich auch danach (mh) noch besucht, nach der Schulzeit, also die war echt super die Lehrerin. (D/57–81)
Die Erzählpassage zeichnet sich in evaluativer Hinsicht durch einen Spannungsbogen aus, der zunächst mit der Schilderung positiver Kontakte zu den „Leuten“ auf der Realschule startet, dann auf negative Seiten im Verhältnis zur Lehrerschaft zu sprechen kommt, um am Ende der Passage mit der Religionslehrerin und deren Unterricht wieder auf einen positiven Aspekt einzugehen. Der Einstieg in die Erzählpassage enthält zahlreiche positive Evaluationen („super gefallen“, „sehr super gut“, „sehr viele Leute kennen gelernt“). In funktionaler Hinsicht dienen sie dazu, die Richtigkeit 267
des in der vorangegangenen Passage thematisierten Schulwechsels zu unterstreichen und die Zeit an der Realschule für Frau D. als positiv herausragende Zeit zu markieren. Ebenso wie die Situation nach dem Wechsel des Kindergartens wird auch der Wechsel an die Realschule dadurch positiv qualifiziert, dass Frau D. hier „Leute“ kennen lernt, mit denen sie „zum Teil noch heute“ befreundet ist. In Bezug auf die Zeit am Gymnasium bot der Text keine Qualifizierung dieser Art. Das kann, über das bisher vom Text Genannte hinaus, als Indiz für den weiteren Problemhorizont gesehen werden, der sich mit Frau D.’s Zeit am Gymnasium verbindet. Womöglich hat Frau D. am Gymnasium keinen zufriedenstellenden Kontakt zu Mitschülern gefunden. Wie wichtig es für Frau D. ist, an dem Ort, an dem sie sich jeweils befindet, „Leute kennen zu lernen“, unterstreicht der Text dadurch, dass er Frau D.’s Realschulzeit vor allem auf Grund des Kennenlernens von „Leuten“ so positiv evaluiert. Die Problematisierung des angespannten Verhältnisses zu den Lehrern fällt in dieser Hinsicht nicht ins Gewicht. Funktional stellt die Passage über das angespannte Verhältnis zu den Lehrern abermals Frau D. als aktiv Handelnde heraus. Diesmal allerdings in negativer Hinsicht. Der Text versucht das zu entproblematisieren, indem er das Verhalten Frau D.’s mit deren „Sturm- und Drangphase“ legitimiert, es somit zeitlich umgrenzt und als Ausnahmeerscheinung kennzeichnet. Zusätzlich bereitet die Passage über das angespannte Verhältnis zu den Lehrern die Erzählung über die Religionslehrerin und deren Unterricht vor. So erfüllt die Passage über das angespannte Verhältnis Frau D.’s zu den Lehrern die Funktion, die besondere Leistung der Religionslehrerin herauszustellen: Trotz des schwierigen Verhaltens Frau D.’s gelingt es der Religionslehrerin, Frau D. mit ihrem Unterricht anzusprechen. Die Anekdote über den Besuch bei der Religionslehrerin nach der Schulzeit unterstreicht das. Mit den Hintergründen für Frau D.’s Entscheidung, eine Versicherungslehre zu absolvieren, kommt der Text auf die nächste Lebensstation von Frau D. zu sprechen. B: Ja, und nach der zehnten Klasse-. Also ich habe immer gesagt, ich möchte nie ins Büro gehen (ja). Und dann habe ich eine Versicherungslehre gemacht [gemeinsames Schmunzeln], obwohl ich immer gesagt-: Ich war, da war ich also sehr-. Ich war früher auch bei Pferden auf der Trabrennbahn. Also habe mich um die Pferde gekümmert (mh) und das hätte ich-, am liebsten hätte ich irgendwie was mit Tieren gemacht, mit Pferden (mh). Da hat dann immer jeder zu mir gesagt „Ah, mache das nicht, behalte dir das als Hobby“. Und irgendwann habe ich das irgendwie dann-, wollte ich zur Polizei gehen eine Zeit lang, (aha) weil ich mir gedacht habe, da kann ich ja vielleicht auch zur Reiterstaffel gehen oder zur Bundesstaffel. Ich habe mir das ganz toll vorgestellt. Und dann war ich aber-, also ich bin ziemlich früh in die Schule gekommen, mit fünf in die Schule gekommen, (mh) und war ich also schon mit 16 fertig also 15 war
268
ich (ja). Und bin dann im November, im September (mh) ist die Schule zu Ende, September, Schmarrn, im Sommer war die Schule zu Ende und ich bin dann erst im November 16 geworden (ja). Und damals haben die zu bei der Polizei gesagt, sie nehmen erst ab 17 (ach so) und dann „Sie“ gesagt, ja, „Gehen Sie halt auf die FOS67 derweil“ (ja). Und das wollte ich aber nicht und hab-, war ich irgendwie so spät dran und nachdem meine große Schwester, die arbeitet ja auch bei der Versicherung (mh), hat halt gesagt „Jetzt bewirb dich halt mal da jetzt! Machst du erst ´ne Lehre und danach kannst dann immer noch zur Polizei gehen, oder was weiß ich“ (mh). Ja, und dann habe ich die Lehre gemacht und da bin ich dann auch geblieben. Also (mh) bin, hab dann nichts mehr anderes gemacht. Weil, wenn man dann erst mal Geld verdient (ja), dann denkt man-, überlegt man sich das halt schon, ich- „Jetzt fang ich jetzt wieder von vorne an?“ „Muss ich (mh) jetzt wieder lernen?“. Du bist so froh, wenn du mal aus der Lehre draußen bist (mh), nicht=nicht mehr lernen musst. (D/81–111)
Die Erzählung wirft zu Beginn eine paradoxe Problemlage auf: Mit der Versicherungslehre macht Frau D. etwas, was sie eigentlich gar nicht wollte. Im Unterschied zu den vorangegangenen Passagen verliert sie in gewisser Weise die Regie über die Gestaltung ihres Lebenslaufes. Der Text schildert das in gestufter Weise. In einem ersten Schritt entfaltet er Frau D.’s ursprünglich angestrebtes Arbeitsfeld. Auf Grund der Intervention unbestimmter Anderer („jeder hat gesagt...“) wird der Berufswunsch modifiziert. In einem zweiten Schritt präsentiert der Text Frau D. nochmals als aktiv Handelnde, die mittels der Idee einer Ausbildung bei der Polizei einen weiteren Versuch unternimmt, dem ursprünglichen Berufsziel möglichst nahe zu kommen. Dafür, dass auch diese Strategie nicht zum Erfolg führt, macht der Text ebenfalls wieder die Umstände – Frau D. war schließlich noch zu jung – bzw. unbestimmte Andere („die bei der Polizei“) verantwortlich. In einem dritten Schritt schließlich stellt der Text Frau D. so dar, dass sie völlig von ihrem ursprünglichen Berufswunsch abkommt und darüber hinaus eine Ausbildung in einem Arbeitsbereich antritt, den sie zunächst völlig ausgeschlossen hat. Diesmal ist es die Schwester, die durch ihren Rat als aktiv Handelnde inszeniert wird. Frau D. wird ihr gegenüber als passiv Erlebende dargestellt, deren Part nun darin besteht, dem Rat der Schwester zu folgen. Der argumentierende Abschnitt am Ende der Passage versucht, aus der Sicht Frau D.’s formulierte Gründe zu nennen, die deren Entscheidung für die Versicherungslehre und die Aufgabe des ursprünglichen Berufswunsches legitimieren sollen. In der Nennung des Arguments, nun erst Mal Geld zu verdienen, kann am Ende des thematischen Feldes ein Phänomen der Gestaltschließung gesehen werden. So wurde der Aspekt des Geld Verdienens bereits als Begründung für den Schulwechsel vom Gymnasium auf die Realschule genannt. Mit der Schilderung über den Antritt der Versicherungslehre wird diese zuvor benannte Motivation als realisiert dargestellt. 67 FOS = Fachoberschule
269
Das thematische Feld schreitet eine Verlaufskurve ab, deren primäres Ziel darin besteht, Frau D. als Hauptakteurin zu inszenieren. Idealtypisch lassen das bereits die Ausführungen über Frau D.’s frühe Kindheit erkennen. Alles, was hier thematisiert wird, dient dazu, Frau D. gleichsam die Hauptrolle zuzuweisen. Nachdem der Text Frau D. als Hauptfigur eingeführt hat, wird sie in einem zweiten Schritt näher beschrieben. So erfüllt die Passage über die Grundschulzeit bis hin zum Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule die Funktion, mit dem Wunsch, nicht zu studieren und möglichst schnell Geld zu verdienen, wichtige Lebensziele zu nennen, die Frau D. kennzeichnen. Die Passage über Frau D.’s Zeit in der Realschule kann als so etwas wie eine Bestätigung dafür gesehen werden, dass Frau D. als Akteurin, die sich an diesen Zielen ausrichtet, richtig handelt. Die Realschulzeit wird als Erfolg geschildert. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der entscheidende Erfolgsfaktor das Kennenlernen von „Leuten“ ist. Zu ihrem Ende kommt die Verlaufskurve des thematischen Feldes schließlich mit der Schilderung der Umsetzung von Frau D.’s Zielsetzungen. Als Ergebnis wird herausgestellt, dass Frau D. ihr Ziel zwar erreicht. Das allerdings anders als erwartet. Betrachtet man die Verlaufskurve vom Ende her, so kann sie als Antwort auf die Frage verstanden werden, welcher Weg Frau D. zu der Tätigkeit in der Versicherung geführt hat. Betrachtet man die Verlaufskurve dagegen aus der anderen Richtung, vom Anfang her, kann sie als Lösungsstrategie für die Problemstellung angesehen werden, auf welchem Wege es Frau D. gelingt, ihr Ziel des Geldverdienens zu erreichen. Das thematische Feld weist unter dem Aspekt des Verhältnisses von aktivem Handeln und passivem Erleben ein spezifisches Muster auf: Als Akteurin steht Frau D. nicht nur im Mittelpunkt der Erzählung, sie ist über weite Teile auch aktiv Handelnde. Sie hat konkrete Ziele und ergreift eigenständig die Initiative zu deren Realisierung. An einem gewissen Punkt jedoch, im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit der Frage nach der konkreten Realisierungsstrategie der Ziele im Rahmen der Frage nach der Berufsausbildung, wechselt die Regie des Geschehens in die Hände anderer Größen. Frau D. wird zur passiv Erlebenden. Ihr Handeln wird jetzt von den Umständen oder anderen Menschen bestimmt. Das heißt nicht, dass Frau D.’s Ziele damit hinfällig würden. Der Regiewechsel des Geschehens hat lediglich zur Folge, dass das von Frau D. angestrebte Ziel – nicht studieren, sondern Geld verdienen – auf eine andere Weise realisiert wird, als ursprünglich erhofft: Am Ende des thematischen Feldes ist es nicht die Arbeit mit Pferden, sondern die Tätigkeit bei der Versicherung, mit der Frau D. Geld verdient. Dass Frau D. in diesem thematischen Feld die Hauptrolle innehat und sie in der beschriebenen Weise als aktiv Handelnde bzw. passiv Erlebende 270
geschildert wird, bestimmt auch die Form, in der der Text die Interaktionspartner Frau D.’s darstellt. Grundsätzlich gilt, dass alle vom Text eingeführten Interaktionspartner dazu dienen, Frau D. als Hauptakteurin zu profilieren. Das geschieht entweder, um ihr Handeln als erfolgreiches Handeln zu qualifizieren (sie lernt Leute kennen; die Eltern akzeptieren ihren Wunsch des Schulwechsels). Oder es geschieht, um sie als passiv Erlebende zu inszenieren, die eigentlich andere Vorstellungen bezüglich der Realisierung ihrer Ziele hat, diese aber auf Grund der Intervention Anderer modifizieren muss. Die Konfirmandenzeit Die Erzählung verlässt an dieser Stelle den in Frau D.’s Lebensgeschichte bereits erreichten temporalen Stand, geht gleichsam nochmals einen Schritt zurück und kommt auf Frau D.’s Konfirmation zu sprechen. B: Was ich jetzt übersprungen habe, ist die Konfirmationszeit. Das wäre auch noch wichtig, oder? (Ja, wenn Sie erzählen möchten) Ja, das war noch in der Schulzeit eben. Ja, Konfirmandenunterricht, das hab ich ja auch schon beim Herrn [Name eines Pfarrers] gehabt damals (hm). Und, ja, da waren wir ehrlich gesagt auch nicht so uns dafür interessiert, jetzt mehr oder weniger. Das war auch dieses Gruppengefühl und=und mehr so Jugendliche. Und dann sind wir da auf die Freizeiten gefahren und so. Aber so, dass wir jetzt da großartig uns dafür interessiert haben, für die Bibel oder so (mh), das muss ich im Nachhinein sagen, finde ich eigentlich schade. Weil, so jetzt denke ich mir so würde-, hätte ich das schon gerne noch mehr, mehr merken können. Oder weil sie mich jetzt doch mehr interessiert, irgendwie, und da hat man die Möglichkeit gehabt, da einem jeder was erzählt (mh) und man halt-. Und hat es einen nicht interessiert und da hat man halt nicht aufgepasst (mh). Aber schöne Zeit war es schon. Weil’s halt einfach so mit Wegfahren ist und- (mh). Ja, das [Name eines Bildungshauses], ich weiß nicht, ob Sie das kennen (ne) [...], ja es war schon immer schön. Und dann war ich auch in der Jugendgruppe dabei erst (mh), also ’ne Zeit lang. Das hat sich aber irgendwann mal aufgelöst leider. Das weiß ich auch gar nicht mehr warum, also irgendwann hat sich das so-. Und das war schon immer schön. Haben wir halt so Partys gemacht und (ja) und sind eben weggefahren. Es war schon gut und da halt auch in diesem Nebenhaus von der Kirche. (D/112–135)
Die Erzählpassage über Frau D.’s Konfirmation wird vom Text als „wichtig“ evaluiert. Damit stellt sich die Frage, was genau das Wichtige dabei ist. Reagiert der Text damit lediglich auf den Wunsch des Interviewers, neben der Lebensgeschichte auch etwas über Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche zu erfahren? Oder verbindet sich mit der Konfirmandenzeit ein Datum, das in der Lebensgeschichte von Frau D. eine besondere Bedeutung hat? Wenn letzteres der Fall wäre: Worin besteht dann die besondere Bedeutung? Was begründet sie? Die Erzählung über Frau D.’s Konfirmandenzeit kann als Versuch betrachtet werden, den besonderen Wünschen des Interviewers Rechnung zu 271
tragen. Darüber hinaus gilt es jedoch, die selektive Entscheidung des Textes wahrzunehmen, die der Konfirmandenzeit Frau D.’s nicht nur eine stichwortartige Nennung, sondern etwas mehr Raum gewährt. Somit besteht die „Wichtigkeit“ der Erzählpassage über Frau D.’s Konfirmandenzeit nicht nur in deren formaler Nennung. Vielmehr steht hinter ihr zusätzlich eine biografische Relevanz für Frau D. Sie wird in der Erzählpassage entfaltet. Das geschieht zunächst mit einem negativen Zugang: Für den Konfirmandenunterricht bestand kein großes Interesse. Indem an dieser Stelle das erzählte Subjekt nicht Frau D. ist, sondern das „Wir“ der Gruppe, wird bereits auf den positiven Aspekt der Konfirmandenzeit hingewiesen, den der Text mit dem „Gruppengefühl“ und dem „Wegfahren“ auf Freizeiten spezifiziert. Der Text bietet somit einen ambivalenten Zugang zur Konfirmandenzeit Frau D.’s: „Wichtig“ war die Gruppe und das gemeinsame Wegfahren, nicht aber der Unterricht. Der Text versucht mit einer argumentierenden Passage des retrospektiven Bedauerns das Desinteresse am Konfirmandenunterricht plausibilisierend abzuschwächen, um im Anschluss daran den positiven Aspekt des „Wegfahrens“ und des „Gruppengefühls“ nochmals deutlich zu unterstreichen. Die positiven Evaluationen über die Jugendgruppe („es war schon immer schön“, „es war schon gut“) verstärken das. Auf der sprachlichen Ebene kommt auch im Schlussteil die besondere Bedeutung des Gemeinschaftsaspektes wieder durch die Wahl des „Wir“ als erzähltem Subjekt zum Ausdruck. Die Erzählpassage verstärkt den im vorangegangenen thematischen Feld entstandenen Eindruck, dass soziale Kontakte für Frau D. eine wichtige Rolle spielen. So wie soziale Kontakte – bisher konkret das Kennenlernen von „Leuten“ im Kindergarten, vor allem aber in der Realschule – dazu geführt haben, eine bestimmte Lebenssituation oder Lebensphase positiv zu evaluieren, so verhält es sich auch in Bezug auf Frau D.’s Konfirmandenzeit. Damit kann ein Rückschluss auf das Selektionskriterium gezogen werden, das zu einer etwas ausführlicheren Schilderung der Konfirmandenzeit Frau D.’s geführt hat: Für die biografische Selbstexplikation spielen Erfahrungen von Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Da Frau D. während ihrer Konfirmandenzeit solche Erfahrungen machen konnte, kommt der Text darauf zu sprechen. Der Weg zur Hochzeit Nach der Rückblende auf die Konfirmandenzeit schließt der Text wieder zum bereits erreichten Stand in der Chronologie von Frau D.’s Lebensgeschichte auf und berichtet über deren Lehre. 272
B: Ja, die Lehrezeit habe ich jetzt schon gesagt (genau) und da habe ich auch eine Freundin kennen gelernt die ich-, mit der ich heute noch befreundet bin. Also ich habe eigentlich so gute-, sehr gute Freundinnen sind es echt nur, drei kann ich sagen. Also eine die vom Kindergarten (mh), die kenne ich heute noch. Also mit der habe ich jetzt nicht mehr so viel zu tun, aber wenn wir uns sehen: Wir verstehen uns immer noch sehr gut (mh). Und dann eine von der=von der Gymnasiumzeit, mit der ich dann immer bei den Pferden war und beim Reiten war (aha). Und eine eben von der Lehrzeit. Das sind eigentlich so-, weil ich finde, so gute Freunde hat man auch, glaub ich, nicht viele (mh) im Leben, so mehr so Bekanntschaften, die dann kommen und gehen. (D/136–147)
Ließe die Thematisierung von Frau D.’s Lehrzeit erwarten, dass der Text beispielsweise über konkrete Inhalte und Bedingungen der Lehre berichtet, so schlägt die Erzählung doch einen anderen Weg ein: Wie schon im Falle anderer Erzählpassagen über Lebenssituationen oder -phasen von Frau D. fokussiert der Text auch im Zusammenhang mit Frau D.’s Lehre die soziale Dimension und qualifiziert die Lehrzeit dadurch, dass sie hier eine Freundin kennen gelernt hat. Der evaluierende Hinweis auf den heute noch bestehenden Kontakt zu dieser Freundin unterstreicht die biografische Relevanz der Begegnung. Die Erzählpassage gibt jedoch nicht nur zu erkennen, dass die Lehrzeit eine für Frau D. biografisch relevante Zeit ist, weil sie dabei eine Freundin kennen lernt. Darüber hinaus legt der Text in grundsätzlicher Weise dar, was Frau D. mit dem Thema Freundschaft verbindet. Den damit einhergehenden Grundtenor könnte man so beschreiben: Wirklich gute Freunde hat man nur sehr wenige – das zeigt die Beschreibung von Frau D.’s bisherigen Freundschaften. Betrachtet man diese Aussage isoliert, dann bleibt offen, ob der Text das lediglich wertneutral feststellt oder ob er gute Freundschaften für Frau D. als etwas besonderes und wichtiges verstanden wissen will. Der Blick auf die bisherigen Selektionsentscheidungen des Textes stützt allerdings die letztgenannte Vermutung. Der Text fährt mit der Schilderung von Frau D.’s Berufsbiografie fort. B: Ja, dann hab ich nach zweieinhalb-, dann hab ich die Lehrzeit eben-, bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft] hab ich gelernt (ja) in [Name eines Stadtteils]. Und hab dann auch noch ein Jahr-, war ich dann auch nach der Lehre. Und dann hab ich gewechselt zur [Name einer Versicherungsgesellschaft] nach [Name eines Stadtteils] (mh) (6). Genau, also das war, weil ich mir auch gesagt habe-, man möchte halt mal wechseln, auch finanziell einfach. Weil, wenn du in der Firma bleibst, wo du gelernt hast, ist das halt einfach-, kommt man nicht soviel weiter. (D/148–157)
Der Text verlässt das Thema Freundschaft wieder und fährt mit der Schilderung von Frau D.’s Berufsbiografie fort. Hier fällt im Vergleich zur vorangegangenen Passage der knappe Telegrammstil auf, in dem die einzelnen Berufsstationen Frau D.’s aneinandergereiht werden. Unter Bezugnahme auf die bisher angestellten Beobachtungen über die Relevanz der sozialen 273
Dimension und insbesondere des Themas Freundschaft lässt sich der knappe Telegrammstil der Passage dadurch erklären, dass es über das bereits genannte soziale Phänomen des Kennenlernens der Freundin hinaus in dieser Hinsicht nichts weiteres zu berichten gibt. Weitere Ausführungen sind deshalb nicht notwendig. Die Argumentation über die Motivation zum Stellenwechsel stellt vor diesem Hintergrund eine Ausnahme dar. Schließlich hat sie mit der sozialen Dimension nichts zu tun. Vermutlich wird die Argumentation aus zwei Gründen eingefügt. Zum einen dient sie zur Plausibilisierung des Stellenwechsels: Es wird klargestellt, dass Frau D. nicht gekündigt wurde, z.B. auf Grund eines Fehlverhaltens. Zum anderen greift die Argumentation ein bereits in den vorangegangenen thematischen Feldern anzutreffendes Inszenierungsmuster von Frau D. auf. So ging es dem Text dort wie auch hier darum, Frau D. als aktiv Handelnde zu beschreiben, die sich zum Erreichen der gesteckten Ziele engagiert. Im vorliegenden Fall knüpft die Argumentation an das schon früher für Frau D. als relevant herausgestellte Ziel des Geldverdienens an: Der Stellenwechsel erlaubt das Geldverdienen auf einem höheren Niveau als bisher. Die lange sechssekündige Schweigepause unmittelbar vor der Argumentation deutet bereits an, dass der Stellenwechsel eine ganz besondere lebensgeschichtliche Bedeutung für Frau D. hat. Worin sie besteht, schildert die folgende Textpassage. B: Und dann hab ich da zur [Name einer Versicherungsgesellschaft] eben gewechselt. Und da hab ich dann meinen Mann kennen gelernt (mh). Ja, also da bin ich dann zweieinhalb Jahre=zwei Jahre war ich dort (ja). Und jetzt halt momentan nicht (ja). Ja, also ziemlich-, wir haben uns im Mai haben wir uns kennen, also kennen gelernt (mh) und im März haben wir geheiratet (mh) und jetzt im September kirchlich geheiratet (ja). Weil, wir wollten eigentlich im März also auch kirchlich auch heiraten (mh). Aber da konnte ich nicht, weil ich im Krankenhaus auch war wegen ihm [dem Kind] (ja). Da hatte ich ihn, also da war ich noch schwanger, aber ich hatte so ziemlich Probleme in der Schwangerschaft (ja) und das war dann zu risikoreich. Also da sollte ich die große Feier=große Feier sollte ich verschieben. Also ich habe liegen müssen (mh) ’ne ganze Zeit lang (ja). Und das haben wir dann im September (mh) nachgeholt, jetzt erst mit seiner Taufe zusammen (ahja). Das war auch ganz schön (ahja). Das war auch die Gelegenheit, vom Herrn [Name eines Pfarrers] ein Vorschlag. Und das fanden wir eigentlich ganz gut (ja). Hat man halt auch nur ein Fest, gell, muss nicht zwei Feste grade wo es nur- (Ja, die ganzen Familienfeiern.). Ja, 60 Leute (mh). Und da muss nicht zweimal- (ja). Es geht eh mit ihm so schwer noch momentan, die Leute, das ist ein bisschen stressig (ja) und da war’s halt nur einmal. (D/157–179)
Im Zusammenhang mit dem Stellenwechsel Frau D.’s spielt die soziale Dimension wieder eine ganz besondere Rolle. So qualifiziert der Text die neue Stelle Frau D.’s vor allem dadurch, dass sie dort ihren Mann kennen 274
lernt. Im Zusammenhang mit dem Ehemann und der Eheschließung, nicht etwa im Zusammenhang mit den Inhalten und Arbeitsbedingungen an der neuen Stelle, legt die Selektivität des Textes einen Schwerpunkt. Damit wird die Heirat von Frau D. zum eigentlichen Thema der Erzählpassage. Hier wiederum ist es die Begründung dafür, dass zwischen standesamtlicher und kirchlicher Trauung ein Zeitraum von einem halben Jahr liegt. Der Schilderung über die Schwangerschaftskomplikationen kommt die Funktion zu, den zeitlichen Abstand zwischen standesamtlicher und kirchlicher Trauung zu erklären. Die Erzählung über die Trauung einschließlich der Taufe leistet in funktionaler Hinsicht eine retrospektive positive Evaluation eines kontingenten Geschehens: Obwohl Frau D. und ihr Mann die Regie über das Geschehen verloren haben, ist ein gutes und – so unterstreicht es die abschließende Passage – ökonomisch sinnvolles Ergebnis dabei heraus gekommen. Das thematische Feld schreitet den Weg von Frau D.’s Lehrzeit bis zu ihrer kirchlichen Trauung und der Taufe ihres Sohnes ab. Die Verlaufskurve, die dabei gezeichnet wird, knüpft an den Endpunkt des ersten thematischen Feldes über Frau D.’s Weg in die Versicherung an. So wird in einem ersten Schritt Frau D.’s Antritt einer Versicherungslehre weiter plausibilisiert. Das geschieht durch das sozial dimensionierte Qualifikationsmuster des Kennenlernens einer Freundin. Damit unterstreicht der Text, dass Frau D. trotz ursprünglich anderer Planungen in der Versicherung am rechten Ort ist. Die weitere Dramatik des thematischen Feldes unterstreicht das, indem sie Frau D.’s Weg in die Versicherung darüber hinaus auch als den Weg präsentiert, der sie mit ihrem künftigen Ehemann zusammenführt und sie schließlich vor den Traualtar führt. Stellt man die Frage nach Frau D.’s sozialer Lagerung, so weist das thematische Feld ein differenziertes Muster auf, das dem des ersten thematischen Feldes über Frau D.’s Weg in die Versicherung ähnelt. Im ersten Teil des thematischen Feldes inszeniert der Text Frau D. noch als aktiv Handelnde: Sie lernt eine Freundin kennen; sie ist es auch, die den Wechsel auf eine andere Stelle forciert. Beim nächsten entscheidenden Schritt im Erzählverlauf – dem Kennenlernen des Ehemannes – muss die Frage nach der sozialen Lagerung Frau D.’s offen bleiben, da dem Text an dieser Stelle nicht zu entnehmen ist, inwieweit Frau D. hier die Initiative ergreift oder der Ehemann. Ein eindeutiger Regiewechsel findet im Zusammenhang mit der Eheschließung statt. Kontingente Strukturen – konkret die Schwangerschaftskomplikationen – sind jetzt vorherrschend und bestimmen den weiteren Lauf des Geschehens. Vom Ende her gesehen verhält es sich bei diesem thematischen Feld fast genauso wie bei dem thematischen Feld über Frau D.’s Weg in die Versi275
cherung: In der Anfangsphase inszeniert der Text Frau D. als diejenige, die das Geschehen aktiv gestaltet. Im weiteren Verlauf gibt sie die Regie ab und fällt in die Rolle der passiv Erlebenden. Das führt jedoch nicht dazu, dass das Ergebnis schlecht ausfällt. Im Gegenteil, es wird vom Text als positiv und sinnvoll evaluiert. Auch hier gilt wieder: Die Dinge haben einen anderen Lauf genommen als ursprünglich geplant, dennoch ist alles zu einem guten Ende gekommen. Einziger Unterschied zu dem anderen thematischen Feld: Der Zielpunkt (kirchliche Trauung und Taufe des Sohnes) wird vom Text nicht als von vornherein angestrebt beschrieben, sondern als Ergebnis eines insgesamt kontingenten Geschehens, auf das Frau D. nur bedingt Einfluss nehmen kann. Bei dem thematischen Feld über Frau D.’s Weg in die Versicherung war das anders. Hier wurde das Geldverdienen als Frau D.’s Zielpunkt bereits zu Anfang benannt. Daraufhin wurde beschrieben, wie Frau D. an diesen Zielpunkt gelangte. Von der Grundschule zur Realschule Die Komposition der Haupterzählung strebt in einem ersten Schritt rasch auf Frau D.’s Antritt einer Versicherungslehre zu. Die einzelnen Stationen von Frau D.’s Schulkarriere werden in sequenzieller und selektiver Hinsicht so ausgeführt und angeordnet, dass Frau D.’s Weg in die Versicherungslehre als plausibel und in sich schlüssig erscheint. Details in Frau D.’s Schullaufbahn, die in keinem Zusammenhang mit dem Antritt der Versicherungslehre stehen, wurden in der Haupterzählung so gut wie gar nicht berücksichtigt. Aus diesem Grund widmet sich der Nachfrageteil nochmals eingehend der Schulzeit von Frau D. Eine Nachfrage zu Frau D.’s Grundschulzeit, die von der Haupterzählung nur sehr kurz gestreift wurde, findet auch jetzt wieder keinen sehr großen Widerhall. Ein neuer Aspekt, der für die Grundschulzeit genannt wird, ist der Aufenthalt in einem Schullandheim, der der bereits analysierten hohen Bedeutung der sozialen Dimension folgend als positives Gruppenerlebnis geschildert wird. Einen im Vergleich zur Haupterzählung völlig neuen Aspekt fördert eine Nachfrage zu Frau D.’s Zeit auf dem Gymnasium zutage. B: Vielleicht habe ich mir in der Schule-, habe ich mich auch nicht so wohl gefühlt, ehrlich gesagt. Ich weiß nicht, das war-, da hatte ich zwar auch ’ne gute Freundin (mh), mit der ich immer zu den Pferden und so gegangen (mh) bin. Aber damals waren die-, da waren so ein paar Mädels in der Klasse, gut, da waren wir auch auf so Partys eingeladen von denen. Aber die waren halt irgendwie schon so mit Jungs und mit zwölf bei mir dann noch nicht damals (mh), also meine Freundin und ich. Und (mh), ja das weiß ich nicht, die waren alle so cool schon. Und da waren wir noch nicht so irgendwie (ja). Ich war dann (ja)-, ich war dann-, da war ich eben auch ganz froh, wo ich von der Schule runter bin. Da bin ich auch ganz alleine in die Real-
276
schule (mh) gegangen. Also im nachhinein denke ich mir so, dass ich das gemacht habe so normalerweise immer mit so Freundinnen, oder (mh) das-. I: Ja gibt es ein konkretes Erlebnis, an dem Sie das so mal beschreiben könnten, warum Sie sich an der Schule nicht so wohl gefühlt haben? B: Ich weiß auch nicht, das waren so die Mädels in der Klasse. Oder, die waren halt alle schon so ein bisschen-, die waren so toll, also die haben sich so toll gefühlt irgendwie, dann mit den=mit den Jungs auf den Partys getanzt und=und, wenn wir auf der Party, das waren irgendwie, das weiß ich auch nicht. Also die [Name einer Freundin] und ich eben damals, ich weiß nicht, ich fand die blöd (mhmh). Also mit denen zwei, wenn ich die zum Teil-. Meine Freundin, die ist ja eben-, die hat das Abi dort gemacht und die war mit denen irgendwie länger in der Klasse (ja) und die hat immer noch gesagt, die sind immer noch blöd. Also, (mh) ich weiß nicht, wenn man da keinen Draht zu denen hat irgendwie, (ja) ich kann jetzt so konkret sagen warum, wir waren halt irgendwie, hatten wir auch andere Interessen einfach, (mh) total. Also damals noch zu den Pferden jedes Wochenende gegangen und=und die waren halt da irgendwie anders und da hat man irgendwie keinen gemeinsamen Draht gefunden. (D/383–415)
Zielten die Ausführungen der Haupterzählung ganz darauf, die problematichen Aspekte von Frau D.’s Gymnasialzeit mit ihrer Ablehnung eines Studiums und dem Wunsch des Geldverdienens zu begründen, so wird jetzt ein weiterer Sachverhalt angesprochen, der die Problematik von Frau D.’s Gymnasialzeit ausmacht: Frau D. hat – gemeinsam mit einer Freundin – auf Grund unterschiedlicher, offenbar entwicklungsbedingter Interessen keinen Anschluss zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern finden können. Angesichts des bisher schon herausgearbeiteten Befundes, wonach der Text Frau D. als Menschen schildert, für den die Einbettung in eine Gemeinschaft von sehr hoher Bedeutung ist, wiegt dieser neu genannte Aspekt in der Problematik von Frau D.’s Gymnasialzeit sehr schwer. Mit einer weiteren Nachfrage nach der Haltung der Eltern zum Wechsel Frau D.’s vom Gymnasium auf die Realschule, sollen weitere Details über die Hintergründe zum Schulwechsel erhoben werden. Doch hier bietet der Text wieder das Argumentationsmuster der Haupterzählung, wonach der Schulwechsel mit Frau D.’s Ablehnung eines Studiums und dem Wunsch zum Geldverdienen begründet wird. Der Problematik der mangelnden sozialen Anbindung im Gymnasium korrespondierend berichtet der Text von der Realschule das Gegenteil. I: Auf der Realschule war es klasse, haben Sie gesagt (mh). Wie war das, als Sie da in den ersten Tagen, in den Wochen, waren? Haben Sie da Erinnerungen? B: Mh ja, das ist schon-, ich bin neben einer gesessen, mit der habe ich dann auch die siebte/achte Klasse sehr viel Zeit verbracht. Die ist aber dann durchgefallen, und dann hat-, ist in wieder ’ne andere Klasse (mh) gekommen. Dann hat sie wieder neue Freundinnen kennen gelernt, also das war jetzt keine bleibende, aber mit der
277
habe ich sehr viel Zeit auch verbracht (mh). Und die kannte dann schon wieder welche irgendwie, (ja) und durch die hat man aus der Klasse wieder andere kennen gelernt (mh), also ja, das war eigentlich vorrangig. (D/461–472)
Diese Nachfrage und die Antwort auf sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Text auf den Erzählstimulus ‚Realschule‘ sofort die soziale Dimension thematisiert. Im Unterschied zu Frau D.’s Gymnasialzeit wird diesmal eine gelungene soziale Anbindung berichtet. Überraschend und die Ausführungen der Haupterzählung um interessante Facetten bereichernd ist auch eine Erzählpassage, die auf die Bitte reagiert, das Gebäude der Realschule zu beschreiben. I:
Mh, können Sie die-, das Schulgebäude beschreiben? (Von der Schule) Ja?
B: Ja, wir waren zuerst in der alten Schule. Also, die war über der Straße drüber. Da war auch eine Grundschule mit drinnen (mh). Das war das erste Jahr, also siebte Klasse. Da war innen drin so ein Innenhof (mh), da sind welche zum Rauchen rausgegangen, oder was (mh). Und das ging praktisch so im Viereck (mh) und innen der Innenhof (mh) und (3)-. Da habe ich auch einen ganz guten Freund von mir auch kennen gelernt. Der hat uns immer die=die-, da hat man sich so auf dem Gang begegnet und der hat uns immer die Türen aufgehalten (mh), ganz nett. Und da also mit dem habe ich nie-, irgendwie war ich nie so befreundet, aber halt so (mh) normal und den kenne ich auch heute noch (mh). Also, und dann sind wir aber nach einem Jahr umgezogen in den neuen-. Also da haben sie eine neue Schule gebaut, (ja) also ganz modern mit viel Glas (mh) und=und und großem Park, wo auch ein See drin war (mh). Und ja sind wir dann auch-. Da war dann auch ein Steg am See. Und da sind wir in der Pause immer zu dem Steg gegangen und haben uns dahin gelegt (mh) und in der Sonne, also was man immer so macht (ja ja) und-. Ja, das waren so also die neue Schule, da wo ich jetzt die meiste Zeit eben war. Das waren drei Stockwerke, erster Stock, Erdgeschoss und, sozusagen Keller, was aber eigentlich kein Keller war, weil (mh), da ging’s dann auch raus (ja). Also da die Schule war praktisch weiter unter gelegen (ja ja), also, (mh). Ach, und das war eine schöne Schule, und ich-, waren ganz hinten, unser Klassenzimmer war, also im=im-, unten praktisch ganz hinten (mh). Und wir hatten einen netten-. Also es war-. Eigentlich ist es eine kleine Schule gewesen (mh), weil, da war nur noch die Realschule drin (genau). Und ich glaube, da waren drei zehnte Klassen, drei neunte, drei achte, drei siebte. Also es ging (mh). Es war nicht so wie mit der großen, da wo dann noch die ganzen Grundschüler und was weiß ich waren (ja). Es war irgendwie übersichtlich. Jeder kannte halt jeden, so die Siebtklässer, wenn man dann schon in der neunten war, kannte man natürlich die (mh) Siebtklässer nicht mehr so (ja). Aber sogar den Hausmeister, mit dem haben wir uns gut verstanden (mh). Das war-, irgendwie war alles gut. Wir hatten eine sehr strenge Direktorin gehabt (ja). Wobei ich mit der immer-, also die hat mir zwar auch mal einen Verweis gegeben und alles, (mh) aber irgendwie habe ich sie ganz gern gemocht und sie hat mich auch gemocht. Weil, ich habe immer den Schulfesten so, habe ich immer mit geholfen (mh). Es hat mir auch Spaß gemacht. Da haben=haben wir in Kunst was gemalt und dann, wenn Fasching war, alles dekoriert (mh). Und=und da war ich Nachmittage lang beschäftigt (mh). Und es war aber super. Also es-, da waren ein paar von-, haben da mitgeholfen auch mit meiner Religionsleh-
278
rerin eben und mit der Musiklehrerin (ja ja). Und das haben die mir ganz hoch angerechnet. Das steht sogar in einem Zeugnis von mir drinnen (aha). Und dadurch hatte irgendwie einen Stein bei der im Brett, ich weiß nicht. Obwohl ich so-, war ich ja nicht gerade so beliebt (mh) bei den Lehrern. Aber, die Direktorin, da hat sie mich immer mal geschimpft, also musste ich in ins Direktorat und sie mich geschimpft „Ja ich weiß ja“ und “Sie sind ja und helfen ja immer so“ (mh), „Aber verstehen Sie!“ und „Das und das dürfen Sie nicht!“ (mh). Ja aber da durfte man auch nicht irgendwie wenn [...]-. Und da durfte man nicht so nah bei=bei den Jungen stehen irgendwie. Da kam sie immer an und „[Vorname der Befragten]!“, und in den Pausen da war sie ganz-. (D/498–554)
Wie mittlerweile fast schon selbstverständlich zu erwarten, steigt der Text wieder mit einem Beispiel für einen gelungenen Sozialkontakt ein, indem er die Geschichte von dem Schulkameraden erzählt, der Frau D. die Türen aufhält. Dass Frau D. auf der Realschule in einer für sie zufriedenstellenden Weise sozial eingebunden ist, unterstreicht der Text, indem er häufig die erste Person plural als Subjekt verwendet: Frau D. wird als Teil eines Kollektivs beschrieben. Dass es sich dabei um eine für Frau D. zufriedenstellende Form der Einbindung handelt, bringen die zahlreichen positiven Evaluationen zum Ausdruck und der Hinweis darauf, dass sich dort fast alle untereinander kannten. Neben der Art, in der der Text die soziale Dimension thematisiert, sticht auch die Form ins Auge, in der der Text das Gebäude und das Gelände der Schule beschreibt. Die Wortwahl („Park“, „See“, „Steg“, „Sonne“ etc.) deutet eher auf die Skizzierung einer Idylle als auf die einer Schule. An diesem Bild ändert auch die vom Text angesprochene Problematik im Zusammenhang mit der „strengen“ Direktorin und Frau D.’s Verweisen nichts. Die Komposition des Textes ist so angelegt, dass die genannten problematischen Aspekte durch die Erzählung über Frau D.’s Mithilfe bei Schulfesten gleichsam kompensiert werden. In der Summe schildert diese Erzählpassage die Realschule als vitalen Lebensraum, in dem sich Frau D. – anders als im Gymnasium – entfalten kann und sie sich dementsprechend wohlfühlt. Die genannten problembehafteten Aspekte tun dem keinen Abbruch. Unterstrichen wird das durch weitere Schilderungen des Nachfrageteils sowohl über positive Aspekte, wie Frau D.’s Erleben der Schulfeste, als auch über negative Aspekte, wie beispielsweise über mehrere Verweise, die sie während ihrer Zeit in der Realschule erhalten hat. In dieser Kombination erfüllt die Passage über Frau D.’s Verweise gerade nicht die Funktion, einen problematischen Aspekt an Frau D.’s Realschulzeit zu benennen. Vielmehr dient sie dazu, Frau D. als authentisch aktiv Handelnde zu inszenieren, die im sozialen Umfeld der Realschule auch mit ihren problematischen Seiten akzeptiert wird: Frau D. ist in der Realschule sozial eingebunden, ohne sich verstellen zu müssen. 279
Schon von der Haupterzählung wurde die Religionslehrerin und deren Unterricht besonders herausgestellt. Da das jedoch nur in recht knapper Form geschah, spricht der Nachfrageteil dies nochmals an. B: Oh, die war super, die war echt, die war (3), mh, eine Kleine, die hieß auch Frau [Name einer Lehrerin], die war auch sehr klein. Hat so blonde Haare gehabt und, die hat uns auch=auch sehr viel von sich irgendwie erzählt, auch von seine-, von ihren Söhnen. Und die hat also wirklich zwei oder drei erwachsene Söhne (mh) gehabt und hat sich auch-. Ich weiß nicht, die war halt anders irgendwie. Die anderen Lehrer-. Die hat sich so auch Gedanken halt und=und hat dann mehr den-. [...] und die ein Haus gekauft und haben das dann hergerichtet wieder und hat uns dann viel irgendwie erzählt, weil das auch nicht so=nicht so viel mit Unterricht im Grunde zu tun hatte, aber so-. Wir konnten halt irgendwie so ablenken vom Thema, ich weiß auch nicht, dass die da die ganze Stunde über irgendwie so was erzählt (ja). Und im Grunde hatte man sich nichts-, (ja) also nichts Unterricht gemacht (ja ja). Aber das war halt irgendwie nicht so wichtig (ja), sie hat halt (2)-. Ach, wir haben auch so das Musical zum Beispiel „Jesus Christ Superstar“ (mh) haben wir da angehört im Unterricht, und haben dann da mitgesungen (mh) und haben da so Liedtexte gehabt. Irgendwie war das-, weiß ich nicht, so-. Es war sogar einer in-, der [Name eines Mitschülers] ist eigentlich Moslem (ja), der war halt-. Gibt es ja nicht im Unterricht (ja) und kann sich entscheiden, wo er hingeht. Und der war natürlich bei uns (mh), weil es ihm halt besser getaugt hat (ja). Also wir waren evangelisch. Ist ja bei uns im=in [Name einer Stadt] eigentlich immer die kleineren, die kleinere Gruppe (mh). Und wir waren halt auch in einem kleinen Zimmer, es war schon das Zimmer viel gemütlicher (ja). Die Katholischen sind halt in unserem Klassenzimmer geblieben (ja ja) und wir sind zum evangelischen Religionsunterricht (mh) sind wir halt in ein Stockwerk höher und das war halt ein kleinerer Raum, also der war halb so groß wie’s Wohnzimmer irgendwie (mh) und=und sind wir halt dann im Kreis gesetzt (ja), also schon an Tischen, aber im Kreis (ja). Und der war auch dabei und der hat auch mitgesungen mitge-, also der=der [Name eines Mitschülers]. Und dem hat das auch total super gefallen, weil, da ging’s halt auch nicht so spezifisch jetzt über die Bibel oder was weiß ich (ja), sondern ja-. Die habe ich auch dann im Nachhinein noch mal besucht, die Frau [Name einer Lehrerin]. Der habe ich auch immer noch zu Weihnachten habe ich der geschrieben (mh). Das war-, das weiß ich noch. (D/641–678)
Die Passage schildert mit dem Aussehen der Lehrerin und einigen privaten Hintergründen zu ihrer Person zunächst Details, die die Lehrerin als besonders „menschlich“ auszeichnen. Wie schon bei den Schilderungen über das Schulgebäude, so fällt auch hier wieder auf, dass als Subjekt in der Regel die erste Person plural gewählt wird. Das bringt bereits auf der grammatikalischen Ebene zum Ausdruck, dass der Religionsunterricht als Gemeinschaftserlebnis inszeniert werden soll. Die inhaltliche Ebene verfolgt dieses Ziel ebenfalls: Mit dem Hinweis auf das gemeinsame Singen von Liedern aus dem Musical Jesus Christ Superstar, der Einbindung des muslimischen Mitschülers in den Religionsunterricht und der Beschreibung der in der kleinen Unterrichtsgruppe und dem kleinen Unterrichtsraum herrschenden 280
positiven Atmosphäre zeichnet der Text das Bild eines familienähnlichen Zusammenlebens („Wohnzimmeratmosphäre“!). Was die Haupterzählung bereits erkennen lässt, unterstreichen die Passagen des Nachfrageteils über Frau D.’s Schulzeit: Für das Verständnis von Frau D. ist die soziale Dimension von herausragender Bedeutung. Das damit einhergehende Regulativ gestaltet sich so, dass sich Frau D. an Orten, an denen sie keinen sozialen Anschluss findet, nicht entfalten kann. Findet sie dagegen einen solchen Ort, dann gewinnt er für sie in einem positiven Sinn Relevanz und sie kann sich dort entfalten. Für Ersteres steht das Gymnasium, für Zweiteres die Realschule. Über die Haupterzählung hinausgehend kann nun der Schluss gezogen werden, dass die Gymnasialzeit für Frau D. nicht nur unter dem Nutzenaspekt problembehaftet ist (keine Absicht zu studieren; Wunsch des Geldverdienens), sondern auch unter dem sozialen Aspekt. Betrachtet man das Selektivitätsmuster dieses thematischen Feldes, dann ist erkennbar, dass der Text bei der Inszenierung Frau D.’s ein großes Interesse hat, sie als Menschen darzustellen, der auf positive Weise in ein soziales Netzwerk eingebunden ist. Der Schilderungen über die Religionslehrerin und deren Unterricht stellen so etwas wie den Optimalfall einer solchen Situation dar. Konfirmandenzeit und Kinderbibelwoche Kam die Haupterzählung schon eigens auf Frau D.’s Konfirmandenzeit zu sprechen, so geht der Nachfrageteil nochmals etwas ausführlicher darauf ein. Die Erzählpassage präzisiert die Ausführungen der Haupterzählung dahingehend, dass Frau D. nicht nur geringes Interesse an der Beschäftigung mit der Bibel hatte, sondern darüber hinaus in einem gespannten Verhältnis zum Pfarrer stand. Gegebenenfalls kann darin der Grund für das mangelnde Interesse an biblischen Inhalten des Konfirmandenunterrichts gesehen werden. Der Nachfrageteil böte mit dieser Erzählpassage dann eine Plausibilisierung für Frau D.’s mangelndes Interesse an der Beschäftigung mit der Bibel während der Konfirmandenzeit. Die Erzählung über Frau D.’s Konfirmandenzeit evoziert Ausführungen über ein Thema, das bislang noch gar nicht angesprochen wurde: Frau D.’s Teilnahme an der Kinderbibelwoche. B: Ich habe noch was vergessen (ja). Und zwar zur Schulzeit, zur Grundschulzeit glaube ich, oder ich war, war es noch Kindergarten, da=da war ich immer im auch in der [Name einer Kirche] (mh) in der Kinderbibelwoche. Die fand ich auch total super (aha). Also das weiß ich noch, da war auch meine Schwester dabei (ja), also die Mittlere, die Große (ja) nicht mehr. Und da haben wir dann so=so so Kreise, so=so Pappe (mh) in so Kreisform umgehängt bekommen (mh). Da war dann so ein Gutschein praktisch für was zum Trinken (mh) und ein Würstel, Essen (ja ja) und so weiter. Und ich-, was wir da gemacht haben-, gebastelt (ja) und gemalt (ja) und da
281
waren draußen so Biertische (ja) aufgebaut. Und hat es halt mittags was zu Essen gegeben (mh) und nachmittags einen Kuchen noch (ja). Und haben die Mütter halt einen Kuchen mitgebracht (ja). Und das fand ich-. Da waren wir-. Ach, ich weiß nicht, ich-, nicht mehr, ob das eine Woche ist (mh) oder so nur ein Wochenende(mh). Ich kann mich nur erinnern, dass wir halt alle immer diese runden Pappdinger (ja) in lila oder, was weiß ich, da umgehangen umgehängt haben (mh) und, und da eben gebastelt und vor der Kirche alles (ja)-. Das war auch schön. (D/758–776)
Die Erzählpassage lässt das vertraute Selektionsmuster der biografischen Selbstexplikation Frau D.’s erkennen: Wieder steht die soziale Dimension im Vordergrund. Das ist ablesbar an der ersten Person plural, die der Text als Subjekt der Erzählung wählt und an den inhaltlichen Aspekten, auf die der Text eingeht. Mit dem Gruppenerlebnis des gemeinsamen Essens und Trinkens werden die sozialen Aspekte der Kinderbibelwoche in den Mittelpunkt gestellt. Für Konfirmandenzeit und Kinderbibelwoche lässt sich ein ähnliches Muster feststellen wie für die Erzählung über Frau D.’s Schulzeit: Die Erzählung geht hier in die Breite, um soziale Sachverhalte zu schildern. Die positiven Evaluationen, die diese Erzählpassagen aufweisen, bringen zum Ausdruck, dass es sich bei Konfirmandenzeit und Kinderbibelwoche um für Frau D. gelungene Formen sozialer Einbindung handelt. Dem tut ebenso wie im Falle des problematischen Verhältnisses Frau D.’s zur Direktorin der Realschule auch die Tatsache keinen Abbruch, dass Frau D.’s Verhältnis zum Pfarrer problematisch ist. Die positive Gemeinschaftserfahrung steht darüber und macht Konfirmandenzeit und Kinderbibelwoche zu einem für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s relevanten Ereignis. Weihnachten, Glaube und Kirchlichkeit in der Familie Die Haupterzählung, deren Komposition ganz in den Händen der Interviewten liegt, gibt außer Frau D.’s Religionsunterricht in der Realschule und ihrer Konfirmandenzeit keine weiter ausgeführten Berührungspunkte mit der Kirche zu erkennen. Der Nachfrageteil reagiert darauf und fragt, wie in Frau D.’s Familie etwa Weihnachten gefeiert wurde. I: Weil wir gerade bei so dem Komplex sind Konfirmation oder auch Kinderbibelwoche, können Sie sich daran erinnern, wie so in Ihrer Familie Weihnachten gefeiert wurde so? B: Das war-, also wir sind bis vor, bis vor zwei Jahren sind wir eigentlich zu Weihnachten immer in die Kirche gegangen (mh). Also das ganze Jahr nicht (mh). Eigentlich nur Weihnachten (ja). Also bei uns ist es halt-, also die ganze Familie ist nicht so gläubig (mh). Also schon-. Zum Beispiel, wo jetzt meine Tante-, die ist an einem Autounfall gestorben (mh) und dann habe ich halt-. Also ich glaube da schon dran, dass=dass es weitergeht (mh). Und da dann habe ich meiner Mama gesagt, ich
282
habe da ein bisschen bildlich gesagt „Schau, die sitzt jetzt da oben auf der Wolke“ (mh), und was weiß ich. Und dann sagt sie „Glaubst du das?“, also ich glaube meine Mutter-. „Meinst du wirklich?“, und so (mh). Die glaubt das nicht so (mh), aber im Grunde genommen-. Ich hatte heute, weil, da konnte ich mich jetzt nicht mehr so dran erinnern, habe ich sie gefragt, ob wir ob sie mit uns gebetet hat, oder was. Aber das „Müde bin ich geh’ zur Ruh, schließe meine Augen zu“, das haben wir gemacht, also das weiß ich auch (mh). Bloß sie weiß nicht mehr, in welchem Alter oder wie lange. (D/781–800)
Der Erzählstimulus zum Thema Weihnachten in der Familie kommt zwar kurz auf Weihnachten zu sprechen. Wesentlich größeren Raum allerdings gewährt die Erzählung der grundsätzlichen Frage nach dem Glauben in der Familie. In funktionaler Hinsicht dient der eingangs gegebene Hinweis auf den alljährlichen Gottesdienstbesuch zu Weihnachten dazu, eine erste Begründung für die Evaluation zu bieten, wonach die Familie „nicht so gläubig“ sei. Die folgenden Erzählungen über den Tod der Tante und die Kindergebete Frau D.’s erläutern, wie diese Evaluation näher zu verstehen ist. So bringt die Erzählung über Jenseitsvorstellungen im Zusammenhang mit dem Tod der Tante zum Ausdruck, dass Frau D.’s Mutter die hier angesprochene Form des Glaubens nicht teilt. Die Belegerzählung über die Gebetspraxis in Frau D.’s Kindheit versucht dagegen, die zuvor erfolgte Ablehnung des Glaubens zu relativieren: Wenn Frau D.’s Mutter schon keinen Jenseitsglauben pflegt, so hat sie doch – zumindest in der Zeit von Frau D.’s Kindheit – die Praxis des Kindergebets gepflegt. Sieht man beide Belegerzählungen über den Glauben von Frau D.’s Mutter zusammen, so wird deutlich, was mit der Evaluation, wonach die Familie „nicht so gläubig“ sei, gemeint ist: Auch wenn die Mutter so etwas wie den Glauben an ein Jenseits ablehnt, so trägt sie doch eine gewissen Form des Glaubens in sich. Nach dem Glauben der Mutter kommt der Text auf den von Frau D.’s Vater und ihren eigenen zu sprechen. B: Aber so ist die Familie nicht so gläubig (ja). Also mein Papa ist aus der Kirche ausgetreten (ja). Der sagt halt-, der geht halt schon-, der geht viel zum Bergsteigen und so (mh). Er sagt, er wirft da-, also in diesen Kreuzen, da sind so Opferstöcke und so, da wirft er schon immer mal wieder (mh) was rein oder was. Er ist schon irgendwie gläubig (mh), aber er sagt halt, er muss dafür nicht in die Kirche gehen (mh). Und so war ich eigentlich dann auch. Also ich bin dann auch aus der Kirche ausgetreten (mh) zur meiner-, wo ich zum Arbeiten angefangen habe (mh). Habe ich mir auch gedacht „Sag mal, ich gehe das ganze Jahr nicht in die Kirche“ (ja) und hatte halt auch so keinen Bezug dazu. Warum soll ich da jetzt Kirchensteuer zahlen? (ja) Ich bin dann auch ausgetreten. (D/800–812)
Die Passage über den Glauben des Vaters ist ähnlich konstruiert wie die über den Glauben der Mutter. Sie beginnt ebenfalls mit der evaluierenden 283
Aussage, dass die Familie „nicht so gläubig“ sei. Die folgenden Aussagen erläutern dann weiter, was genau damit gemeint ist. Auch hier steht an erster Stelle wieder eine exkludierende Aussage: Kirchlicher Glaube existiert bei Frau D.’s Vater nicht. Dem folgt jedoch wie schon im Falle von Frau D.’s Mutter eine positiv orientierte Aussage über den Glauben von Frau D.’s Vater. Diesmal ist es die Praxis des Geldspendens an den Sammelkassen von Gipfelkreuzen, die als individuelle Form des Glaubens des Vaters angeführt wird. Mit der exkludierenden und der positiv orientierten Aussage bildet der Text ein Glaubensverständnis ab, wonach es neben dem Kirchgang auch andere Formen gibt, dem Glauben Ausdruck zu verleihen, und der Kirchgang zum Glauben nicht unbedingt notwendig ist. Im Blick auf Frau D. übernimmt der Text dieses Argumentationsmuster. Allerdings verschiebt sich die Argumentation etwas, indem der Text vor allem auf die nicht gegebene Partizipation am gottesdienstlichen Leben zielt. Sie dient als Begründung für Frau D.’s Kirchenaustritt. Mit der nicht gegebenen Partizipation am gottesdienstlichen Leben nimmt der Text Bezug auf die für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s so wichtige soziale Dimension. Hatte der Text schon in Bezug auf andere Lebenssituationen erkennen lassen, dass lebendige soziale Kontakte für Frau D. wichtig sind und nicht gelingende dagegen problembehaftet sind, so verhält es sich auch in Bezug auf den Umgang Frau D.’s mit ihrer Kirchemitgliedschaft: Da zur Kirche – zumindest in der Form des Kirchgangs – keine sozialen Bezüge bestehen, ist die Kirchenmitgliedschaft für Frau D. irrelevant und der Kirchenaustritt ist – gekoppelt mit dem Argument der Geldersparnis – die Konsequenz. Die folgende Passage unterstreicht die Bedeutung der sozialen Dimension für die Gestaltung von Frau D.’s Kirchenkontakt. B: Und wir sind halt immer nur Weihnachten in die Kirche gegangen. Und dann war es aber jetzt so, dass die so pumpvoll immer ist (mh) und du kriegst Weihnachten schon gar keinen Platz mehr (mh). Dann ist mein Opa, der ist schon 86 (mh), und die Oma, die jetzt schon einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall (ja), alles Mögliche-, und für die ist das zu anstrengend, dass sie sich da zwei Stunden hinten hinstellt (ja). Und es hat-, du hast keine Plätze, Platz mehr gekriegt (ja), musstest da stehen (mh). Dann war-, das ist ja zum Teil so gewesen, dass meine Oma, mein Opa daheim geblieben sind (mh) und nur wir in die Kirche gegangen sind. Irgendwann haben wir gesagt „Nein, wir lassen es“ (ja) und dann sind wir nicht mehr in die Kirche gegangen. Weil, wir haben dann-. Nachbarn von uns, die sind Mitternacht oder was, in die Kirche gegangen (mh). Aber seit zwei Jahren haben wir es dann nicht mehr gemacht (mh ja), einfach, weil-. Es ist schon schön, Weihnachten in die Kirche gehen, und so, erst nachmittags in die Kirche gehen und abends dann Bescherung (ja) und Essen, und so. Aber eigentlich war es aus praktischer Hinsicht (ja) nicht mehr- (ja). Weil eigentlich also meine Großeltern sonst immer noch bei-. Also wir sind alle, die ganze Familie, bei meinen Eltern immer gewesen (ja) und meine große Schwester, die ist
284
auch schon=die ist schon geschieden, (mh) und die ist auch immer noch daheim (mh) und dann-, feiert auch daheim (ja). Weil es halt einfach für die zu anstrengend ist, für meinen Oma Opa (ja ja), deswegen sind wir nicht mehr hingegangen. (D/812–836)
Wie die formale Kirchenzugehörigkeit und deren Beendigung so begründet der Text auch die Gewohnheit des weihnachtlichen Gottesdienstbesuches von Frau D. mit dem Rekurs auf die soziale Ebene. Der Text wählt als Subjekt die Familie Frau D.’s und ist deshalb überwiegend in der ersten Person plural formuliert. Mit Frau D.’s Familie, inklusive Großeltern, ist das für die Gestaltung des Weihnachtsfestes relevante soziale Bezugssystem genannt. Das für den Besuch oder Nicht-Besuch des Weihnachtsgottesdienstes ausschlaggebende Kriterium ist der Erhalt der familiären Gemeinschaft. Solange der Gottesdienstbesuch unter Aufrechterhaltung der familiären Gemeinschaft möglich war, wurde er praktiziert. Nachdem der gemeinsame Gottesdienstbesuch zusammen mit den Großeltern nicht mehr möglich war, wurde er eingestellt. Durch den Nicht-Besuch des Weihnachtsgottesdienstes wurde die familiäre Gemeinschaft an Weihnachten erhalten. Mit dem Thema des Glaubens und der Kirchlichkeit von Frau D. und ihrer Familie spricht der Nachfrageteil etwas an, was die Haupterzählung nicht explizit zum Thema machte. Der Text zielt darauf, ein differenziertes Verständnis des Glaubens von Frau D. und ihrer Familie zu entfalten. In der Summe läuft die Argumentation darauf hinaus, dass es in Frau D.’s Familie zwar individuelle Formen des Glaubens gibt, offizielle bzw. traditionelle Formen des Glaubens jedoch nicht unbedingt geteilt werden. Auf dieser Basis entfaltet der Text auch die Geschichte über Frau D.’s Kirchenaustritt. Nach dem Rekurs auf den Glauben der Mutter und des Vaters ist die Bedeutung des Kirchgangs für den Glauben bereits relativiert. Im Blick auf Frau D. schließt der Text daran an und fügt zur Begründung ihres Kirchenaustritts das für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s entscheidende soziale Kriterium bei. Nach der Regel „Keine soziale Relevanz = überhaupt keine Relevanz“ wird der Kirchenaustritt begründet: Da Frau D. keinen sozialen Kontakt zur Kirche hat, z.B. über den Gottesdienstbesuch, ist die Kirche für sie nicht relevant und der Kirchenaustritt die Folge. Die Passage über den familiären Brauch des Besuchs des Weihnachtsgottesdienstes unterstreicht die Bedeutung der sozialen Dimension auch für die Kirchenbindung Frau D.’s: Wo für Frau D. die Einbettung in eine Gemeinschaft gegeben ist, da ist ihr Ort. Solange der Gottesdienstbesuch mit der weihnachtlichen Familiengemeinschaft vereinbar war, konnte er praktiziert werden. Als das nicht mehr der Fall war, entfiel diese Praxis.
285
Der Firmenwechsel Die Haupterzählung hatte den Firmenwechsel Frau D.’s fest in die Komposition der Geschichte über Frau D.’s Weg zur Hochzeit integriert. Dort wurde er nur kurz als eine Etappe auf diesem Weg angesprochen. Inwieweit der Firmenwechsel auch ein biografisches Ereignis im Leben von Frau D. ist, das über die Funktion einer Etappe auf dem Weg zur Hochzeit hinausgeht, ließ sich der Haupterzählung nicht entnehmen. Eine Frage des Nachfrageteils spricht das Thema nochmals an und evoziert eine umfangreiche Erzählung. B: Es war eigentlich so, dass ich gesagt habe, ich möchte jetzt mal eine Gehaltserhöhung haben (mh) und es ist halt bei uns nicht- also es war ein- sehr persönlich alles also das war eine Gruppe also, ’ne Abteilung waren 20 Leute oder was, dann war auch meine Schwester, die arbeitet auch in- also bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft] (mh) und war halt auch mit dem Chef sehr gut befreundet und dadurch, die waren halt auch zu den Geburtstagen war halt der Chef auch da, und wir kannten den halt auch, alle waren per Du und so (ja), und ich fand das eigentlich auch blöder da rein zu gehen und nach Geld zu fragen, wo da grad mal alles so persönlich ist, als wenn ich da jetzt mit Distanz hätte hingehen können (ja) und=und den=so nach mehr Geld- und dann bin ich mal reingegangen, bzw. hat er mal gesagt, es braucht keiner zu ihm kommen wegen mehr Geld, weil er kontrolliert das von sich aus (mh), was ein totaler, find ich, Schwachsinn ist, weil er von sich aus-, da kriegste deine normalen Erhöhungen alle zwei Jahre (ja ja) mal, oder was, aber so, dass du indeinen Leistungen entsprechend irgendwie honoriert wirst (ja), wo du sagst, kriegst du schon eine gescheite Zulage, dass es sich auch auszahlt, (mh) das machen die nicht freiwillig, da musst du dahinter sein, und er sagt halt immer „Nein, da brauch keiner zu mir reinkommen wegen mehr Geld“, weil er kontrolliert das. (D/1042–1063)
Die Erzählpassage nennt mit dem Wunsch nach einem höheren Gehalt zunächst das Ausgangsproblem. Gleichzeitig wird mit den intensiven sozialen Kontakten zum Chef aber auch das Problem geschildert, das Frau D. zunächst daran hindert, nach einem höheren Gehalt zu fragen. Dennoch inszeniert der Text Frau D. als aktiv Handelnde, die die Initiative ergreift und den Chef um ein höheres Gehalt bittet. Die Ablehnung dieser Bitte und die Unmöglichkeit, auf dem eingeschlagenen Weg ein höheres Gehalt zu bekommen, wird mit der die Erzählpassage abschließenden Argumentation begründet, die die vermutete Weigerung der Unternehmensleitung entfaltet, aus eigener Initiative Gehaltserhöhungen zu gewähren. Der Text stellt dem ersten gescheiterten Versuch zur Problemlösung einen zweiten zur Seite. B: Und dann hat meine Schwester-. Eben mit der auch geredet, hat gesagt „Ja, bewirb dich halt mal so und schau, was du bekommst (mh), woanders kriegst. Dann kannst Du immer noch reingehen und sagst ‚Schau [Vorname des Chefs]! Da, bei der und der Firma (ja), da würde ich das und das kriegen. Gibst du mir das auch?‘“ (mh) Und dann habe ich mich beworben und eigentlich war es schon immer so, dass ich
286
gesagt habe, ich-, „Bei der Firma möchte ich nicht mein Leben lang bleiben“ (mh). Und so toll war ich damals auch nicht und immer dasselbe und-. War ich halt auch ein bisschen angeödet, da (ja) von der Arbeit und-. Und dann hatte ich mich beworben bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft]. Weil, das liegt halt irgendwie nahe: „Versicherung=Versicherung, bei wem bewirbst du dich? [Name einer Versicherungsgesellschaft].“ (mh). Es ist halt so die bekannteste. Und ich habe mich halt nur bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft] beworben gehabt. Das war für mich die einzigste Firma, wo ich mal (ja)-. (D/1063–1079)
Die zweite vom Text eingebrachte Problemlösungsvariante zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Frau D.’s Schwester als initiierende Größe eingeführt wird: Der entscheidende Tip, mit einer anderen Firma Kontakt aufzunehmen, kommt von ihr. In dieser Hinsicht liegt eine ähnliche Konstellation vor, wie im Rahmen der Erzählung über Frau D.’s Entscheidung für die Versicherungslehre. So waren auch hier die eigenen Versuche Frau D.’s, eine Lehrstelle in den von ihr bevorzugten Arbeitsbereichen zu erhalten, gescheitert und die Schwester gab ihr den im Ergebnis erfolgreichen Tip, sich bei der Versicherung zu bewerben. Hier wie dort wird Frau D.’s Schwester vom Text als Akteurin eingeführt, die maßgeblich an der Problemlösung beteiligt ist. Die Erzählpassage reagiert auf die Einführung der Schwester inklusive ihrer Initiative zur Problemlösung, indem sie in einer argumentierenden Passage Gründe benennt, die es Frau D. ermöglichen, sich den Vorschlag der Schwester zu eigen zu machen. Die Folgen der Realisierung des Vorschlags der Schwester sind Gegenstand der nächsten Passage. B: Und habe ich halt da ein Vorstellungsgespräch gekriegt. Und dann bin ich dahin und dann-. Der war ein super-. Der Chef total nett, (mh) und die war eigentlich-. Gleich geredet. Und dann hatten die Einzelbüro. Das fand ich auch viel besser. Wir hatten in der anderen Firma Großraumbüros (ja ja) und so. Und dann haben wir halt auch ein bisschen über Geld-. Und da hat er halt auch schon wieder so rumgetan (mh) und dann sie alle immer so „Ja, und so viel mehr kann ich Ihnen dann auch nicht wie bei uns. Und Sie sind aus der Lehre“ (mh), und halt so ein bissel. Und dann habe ich gesagt „Ja, ein bissel, wenn ich wechsele. Ich möchte da schon einen Fortschritt haben.“ und so und-. Ja, und dann kam irgendwann-, war ich im Urlaub (mh) in Kroatien damals und dann habe ich-. Hat meine Mutter mich angerufen „Da ist jetzt was gekommen von der [Name einer Versicherungsgesellschaft] (mh). Es ist aber ein dickes Kuvert.“ Und da habe ich gemeint „Ach, da haben sie meine Unterlagen zurückgeschickt“ (ja), habe ich gedacht. Und da habe ich gesagt, sie soll es aufmachen und soll mich noch mal anrufen und hat sie gesagt „Ja, da ist der Vertrag drinnen.“ Und da habe ich mich irgendwie so gefreut und da habe ich mir gedacht „Ach, das mache ich! Ach, warum-. Jetzt habe ich-, bin ich schon so weit.“ (ja) Eigentlich wollte ich ja nur wissen, wo-, was ich woanders kriege (ja), damit ich mit irgendwie mehr Referenzen dahingehen kann (mh) zu meinem Chef. Und dann habe ich gesagt, „Wenn ich das jetzt schon alles gemacht
287
und Bewerbungsgespräch und hin und her, und jetzt würden sie mich schon nehmen. Jetzt mache ich das einfach!“ (D/1079–1104)
Im Unterschied zur vorangegangenen Erzählpassage ist Frau D. jetzt wieder die alleinige Akteurin. Im Eingangsteil der Passage wird sie als selbstbewusste Verhandlungspartnerin im Bewerbungsgespräch und damit als aktiv Handelnde inszeniert. Auch der weitere Verlauf der Erzählpassage unterstreicht die Konsequenz in Frau D.’s Auftreten beim Bewerbungsgespräch. So bringt die Geschichte über den Erhalt des Antwortschreibens der neuen Firma zum Ausdruck, dass Frau D. sich keineswegs sicher ist, ob sie nach dem Bewerbungsgespräch eher mit einer Zusagen oder einer Absage rechnen muss. Dass der Text die Leistung Frau D.’s in den Vordergrund stellen möchte, unterstreicht die Schilderung über ihre Entscheidung für die neue Stelle. Formulierungen wie „bin ich schon so weit“ oder „Wenn ich das jetzt schon alles gemacht [habe]“ bringen das zum Ausdruck. Dass Frau D. konsequent an dem Erfolg der von ihr erbrachten Leistung festhält, ist Thema der nächsten Passage. B: Und dann-, ja das war ein schwerer Gang zu meinem Chef (ja). Weil, der war halt doch-, wir waren ja sehr auch so persönlich ein bisschen befreundet. Und der hat mir das irgendwie übel genommen (mh), dass ich, dass ich jetzt wechseln will und hat mir das ausgeredet. Und dann-, (ja) wir waren-. Also, diese Abteilung war in zwei Dinger gesplittet und war-. Ist gerade der andere Chef reingekommen. Der kam von der [Name einer Versicherungsgesellschaft] (ja). Und dann hat der gleich gesagt „[Vorname eines Vorgesetzten], erzähle mal der [Vorname der Befragten], dass des=dass des so scheiße ist bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft]. Und du warst da auch gegangen.“ Und wollten sie mir’s total ausreden (mh). Und dann habe ich gesagt „Nee, ich mag das machen. Und das hat jetzt nichts mit Ihnen zu tun (mh) und des hat mir hier gut gefallen“ und was weiß ich. „Aber ich muss mir halt was anderes-.“ „Ja, und meinst du, da kommst du weiter, und dödö“ (mh). Aber ich habe-. Wie halt der Chef wahrscheinlich reden (jaja) muss. Na ja, was willst du machen? Ich habe es auch nicht bereut. (D/1104–1121)
Auch hier wird Frau D. wieder als aktiv handelnde Akteurin inszeniert. Die durch wortwörtliche Wiedergabe einzelner Dialogpassagen aus dem Gespräch mit den Vorgesetzten besonders plastisch gestaltete Erzählpassage betont nun die Konsequenz, mit der Frau D. zu ihrer Entscheidung steht. Die derbe Wortwahl, mit der der Text die Vorgesetzten Frau D.’s in Szene setzt, unterstreicht die Leistung, die Frau D. erbringen muss, um zu ihrer Entscheidung zu stehen: Sie ist einer sehr unangenehmen Situation ausgesetzt und macht trotzdem keine Zugeständnisse. Die diese Thematik abschließende Erzählpassage befasst sich mit der neuen Stelle Frau D.’s und somit dem Ergebnis ihrer Initiative. 288
B: Also es war-, habe mir bessere-. Also interessanter war es. Ich hatte größere Aufgaben und es war umfangreicher (mh) und (3). Also die=dieser Zusammenhalt von den Leuten und so war natürlich nicht so wie eben bei (mh), bei dem, bei der alten Firma. Bei der alten Firma waren wir eine kleine Gruppe (ja), wo wir auch was zusammen gemacht haben, und so (mh). Und=und jeder-. Da habe ich gelernt, da kannte ich das ganze Haus so ungefähr (mh). Und bei der [Name einer Versicherungsgesellschaft], das ist ja ein Riesenkomplex. Also da waren-, sind 2000 Leute. In deiner eigenen Abteilung sind 80 Leute. Da kannte ich nicht mal jeden (mh), kenne ich bis=bis heute nicht (mh) jeden von den 80 Leuten (ja). Und des ist halt schon ein bisschen was anderes (ja). Aber mit=mit der-. Die zehn Leute, die bei mir in=in der Gruppe waren, (mh) mit denen habe ich mich auch gut verstanden. Und es hat mir schon gut gefallen (mh). Also es war nicht so, dass ich-. Ich habe mit denen jetzt nicht-. Eine-, mit einer habe ich mich privat auch getroffen (mh) (2). Aber nicht so, dass man soviel gemacht hat (mh) wie-. Es war halt anders als so Azubi-Zeit (ja ja). Und da hat sich mehr so fortgesetzt (ja), dass man die Leute halt besser gekannt hat (mh) und-. Aber ich habe es nicht bereut, dass ich es gemacht habe. Also es war interessanter und (mh) ich hätte es auch jetzt so noch weiter gemacht, wenn ich jetzt nicht-, der Klene (mh) dazwischen (ja ja) gekommen. (D/1121–1143)
Mit dem Firmenwechsel gelangt Frau D. in eine neue Umgebung. Einem in der Erzählung nun schon mehrfach begegneten Muster entsprechend wird die neue Umgebung Frau D.’s primär unter dem Aspekt der sozialen Dimension geschildert und evaluiert. Die expliziten Evaluationen des Textes (besser, interessanter, größere und umfangreichere Aufgaben etc.) legen eine andere Deutung der Lage nahe, als es der in sozialer Hinsicht sehr detaillierten Schilderung der neuen Arbeitbedingungen Frau D.’s zu entnehmen ist. Im Unterschied zu den expliziten Evaluationen ist dieser Schilderung eher eine Problemanzeige zu entnehmen: Die personelle Größe des Unternehmens macht es Frau D. schwer, soziale Kontakte zu knüpfen; selbst in der unmittelbaren Bezugsgruppe der zehn Kolleginnen und Kollegen kommt kein intensiverer sozialer Kontakt zustande. Die Unterschiede zwischen der expliziten Evaluation am Ende der Erzählung über Frau D.’s Firmenwechsel und der Beschreibung der Arbeitsbedingungen an der neuen Stelle sprechen für eine differenzierte Evaluation des Vorgangs des Stellenwechsels: Frau D. erscheint einerseits als erfolgreiche Akteurin, gleichzeitig bringt aber auch die neue Stelle Probleme mit sich. Der Blick auf die gesamte Erzählung über Frau D.’s Stellenwechsel präzisiert vor allem das Bild über Frau D.’s soziale Lagerung. Dem Text ist sehr daran gelegen, Frau D. als Menschen zu inszenieren, der auf Grund eigener Initiative und eigenen Engagements die gesteckten Ziele erreicht. Ganz ohne Unterstützung, das bringt der Text ebenfalls zum Ausdruck, gelingt Frau D. dies jedoch nicht. Wie schon im Falle von Frau D.’s Lehrstellen289
wahl, kommt ihrer Schwester eine entscheidende Rolle zu. Droht die Initiative Frau D.’s ins Stocken zu geraten oder zu scheitern, so führt der Text die Schwester ein, um den Prozess der Problemlösung wieder in Gang zu setzen oder weiter am Laufen zu halten. Im weiteren Verlauf des Weges hin zur Problemlösung tritt die Schwester dann wieder völlig in den Hintergrund und Frau D. ist wieder die alleinige und auch effektiv Handelnde. Das Kennenlernen des Ehemannes Im Rahmen der Haupterzählung ist das Kennenlernen des Ehemannes ebenfalls als Etappe auf dem Weg zur Hochzeit Frau D.’s in die Erzählkomposition eingebaut und aus diesem Grund nur kurz erwähnt. Der Nachfrageteil kommt daher nochmals darauf zu sprechen. Im Unterschied zur vorangegangenen Erzählpassage erzählt der Text in diesem Zusammenhang die Geschichte eines puren Zufalls. Frau D. ergreift diesmal keinerlei Initiative. Sie und ihr künftiger Ehemann arbeiten bei der gleichen Firma. Sie lernen sich bei der Bearbeitung eines gemeinsamen Falles kennen und halten Kontakt zu einander, der dann in eine dauerhafte Beziehung führt. In Bezug auf die soziale Lagerung Frau D.’s steht hier eher das passive Erleben im Vordergrund: Dem Text ist nicht zu entnehmen, dass Frau D. das Kennenlernen des Mannes in irgendeiner Weise forcieren würde. Der Text formuliert auch keine Problemstellung, wonach sich Frau D. etwa die Bekanntschaft zu einem Arbeitskollegen oder eine möglichst bald stattfindende Hochzeit wünschen würde. Auf diesem Hintergrund berichtet der Text das Kennenlernen des Mannes zwar als relevantes biografisches Datum im Leben von Frau D., verortet dieses aber völlig im Modus der Kontingenz: Die Beziehung zu dem künftigen Ehemann stellt sich gleichsam ein. Die Hochzeitsfeier Zielpunkt der Haupterzählung war die Heirat von Frau D. und ihrem Mann. Dabei stand vor allem die Tatsache im Vordergrund, dass es auf Grund von Schwangerschaftskomplikationen zu einem halbjährigen Abstand zwischen standesamtlicher und kirchlicher Trauung gekommen ist. Um darüber hinaus gehende Informationen über Frau D.’s Eheschließung zu erhalten, spricht der Nachfrageteil auch dieses Thema nochmals an. Auf eine erste Nachfrage hin bietet der Text zunächst detaillierte Hintergründe über die in der Haupterzählung ohne weitere Erläuterungen genannten Schwangerschaftskomplikationen. Im Blick auf die bedeutende Rolle, die die soziale Dimension im Rahmen der biografischen Selbstexplikation Frau D.’s spielt, evoziert eine Nachfrage zur kirchlichen Trauung eine interessante Erzählung. 290
I: Und dann stand die kirchliche Hochzeit an. Wie=wie sind Sie da vorgegangen, so die Schritte? B: Also geplant war eigentlich fast alles schon (ja) im März. Aber du musst-, man musste das halt noch mal neu-, also neue Einladungen schreiben (ja) und noch mal eben mit der Band (ja) besprechen und den Saal und zur Gaststätte fahren und noch mal wegen einem Menü (mh) und so. Das hat dann zum größten Teil auch der [Vorname des Ehemanns] dann gemacht (mh), weil ich mit dem Klenen und so (mh). Das war halt auch alles-. Ich habe ein paar Mal-, ich habe mir auch so Sorgen gemacht, weil ich mir gedacht habe „Wie geht das mit ihm?“ (mh), weil er hat-. Da war er auch noch so, da hat er so Blähungen gehabt (mh) die ersten Wochen und da habe ich den fast nur rumtragen müssen. Ich so „Toll, ich kann ihn ja nicht den ganzen Abend rumtragen!“ (ja). Und grad, wenn man noch so ein kleines Kind-. Ich=ich mag ihn halt auch noch nicht so abgeben (mh) grad. Da war er doch noch kleiner, auch noch kleiner auch noch. Und dann willst du ihn eigentlich am liebsten, wenn er schreit oder so, selber nehmen (mh). Halt „Hoffentlich geht das einigermaßen gut.“ (ja). Weil, an der Hochzeit willste ja auch nicht- (jaja). Und es ging, Gott sei Dank. (D/1290–1309)
Die Erzählpassage rückt mit der Frage, wie das Kind die Hochzeitsfeierlichkeiten erleben wird und wie es am besten betreut werden kann, eine konkrete Problemstellung in den Vordergrund. Die Entfaltung der Problemstellung nimmt den weitaus größten Raum der Passage ein. Das überrascht, weil der Text am Ende der Passage ja auch mitteilt, dass trotz der befürchteten Probleme mit dem Kind alles gut gegangen ist. Stellt man die Frage, warum die Problementfaltung einen so großen Raum einnimmt, obwohl doch im Ergebnis alles gut ausgegangen ist, so kann die Vermutung angestellt werden, dass die Probleme im Zusammenhang mit dem Kind im Rahmen der Vorbereitung der Hochzeitsfeierlichkeiten besonders schwer wogen. Statt nun zum Beispiel auf den konkreten Verlauf der Hochzeitsfeier zu sprechen zu kommen, schließt der Text eine umfassende Passage über Spannungen an, die sich im Vorfeld der Hochzeitsfeierlichkeiten mit einem Teil der Verwandtschaft ergeben haben. B: Also es war mal eine Zeit lang-, also wir waren ja-. Mittags war die Kirche (mh). Das war auch schön. Allerdings, das weiß ich, also was mir ein bisschen-, was ich so ein bisschen blöd fand: Meine Cousine, mein Cousin, meine Tante (mh), die haben mir nicht abgesagt. Aber ich hatte das, den Termin, schon möglichst bald, sobald ich das wusste, dass es am 20.9. ist, habe ich das jedem gesagt, oder auch SMS geschrieben und so (ja), so dass es sich-, wenigstens sich bevor wir die Einladungen haben, schon einmal den Tag freihalten (ja). Und dann haben die da zwei Wochen vorher oder so angerufen, ja. Ja, das ist so, also der [Vorname eines Onkels], also der Onkel, angeheirateter Onkel, der=der muss bis so und soviel Uhr arbeiten (mh) und die [Vorname einer Cousine], die, also meine Cousine, „Ich muss-.“ Also hat direkt angerufen, sie muss auch arbeiten bis um-, sie hat Spätschicht (mh) und sie kann-, sie muss mal schauen, ob sie noch tauschen kann, aber wahrscheinlich nicht (mh), und
291
so. Und dann-, also der [Vorname eines Cousins], also mein Cousin, der kann auch nicht. Der ist da-, der macht gerade Außendienst (mh) auch bei der Versicherung (mh) und der ist da auf so einer Tagung und der kann auch nicht. Und meine Tante, die könnte zwar schon, aber die kommen vom [Name einer Region] (mh). „Aber wenn, da kommen wir alle am Abend. Weil, wir fahren ja nicht mit zwei Autos“ (mh). Und da habe ich mich so geärgert, da habe ich mir gedacht, da fahren sie ständig nach [Name einer Stadt] und hin und her (ja) und an so einem Tag-. Erstens Mal habe ich es schon so früh gesagt (mh), da war ich irgendwie schon irgendwie enttäuscht (mh). Da habe ich mir gesagt, also bei jedem anderen wäre es mir wahrscheinlich wurst, aber das ist doch engere Familie (mh), Cousine, Cousin und Tante. Da hätte ich mir das nicht gedacht (mh). Und vor allem grad meine Tante. Vielleicht war es halt-, vielleicht war es wirklich so, dass sie das nicht-, mit der Arbeit nicht anders geht (mh). Das ist-, obwohl ich es mir halt selber nicht vorstellen konnte. Also ich meine, gerade wenn `ne Familienangehörige heiratet, da wird man doch wohl sich irgendwie frei machen können (ja ja). Ich habe das halt nicht verstanden (mh). Und gut, ich meine, die hatten da auch zu der Zeit ein bisschen Probleme, dass er-. Die haben irgendwie geklagt wegen der Arbeit, weil sie den rausgesch-, also wegrationalisiert haben. Der ist Masseur (mh) und=und da haben sie-, war ein-, Gerichtsverhandlung laufen (mh) gehabt, dass der seine Arbeit nicht verliert (mh). Und die hatten halt auch da so ein bisschen Stress, sage ich mal. Meine Oma hatte einen Herzinfarkt (mh) und da haben die sich viel gekümmert (hm). Und von-, der Lebensgefährte meiner Oma ist gestorben auch zu (mh) der Zeit. Und es, kann ich alles verstehen, also es war halt (hm)-, die hatte halt viel um die Ohren und dann kam das auch noch dazu (mh). Und dann habe ich da, also habe ich dann zu meiner Mutter auch gesagt „Das enttäuscht mich jetzt schon“ (mh). Und dann hat meine Mutter wieder der [Name einer Tante] gesagt, meiner Tante (mh), „Ho, und dass ihr da-“. Und da ging es halt ein bisschen so Familien (ja) hin und her, und naja, das war ein bisschen doof. Die waren auch nur-, die sind am Abend gekommen alle (ja), also so spät Nachmittag und sind aber auch sehr früh wieder gegangen (mh), also es-. Aber ich meine-, im Nachhinein denke ich mir „Bff, jedem, wenn er, wenn er es einrichten will, dann (mh) wäre es vielleicht irgendwie gegangen, aber wenn sie nicht soviel Wert drauf legen, dann halt (mh), na ja.“ Das war ein bisschen blöd. (D/1309–1365)
Der breite Raum, den die Geschichte über das Verhalten der Verwandten einnimmt, unterstreicht bereits unter dem Aspekt der Selektivität, dass es sich dabei um einen für Frau D. zentralen Sachverhalt für die biografische Selbstexplikation handelt. Auch das hohe Maß an Indexikalität und das Bestreben, den gesamten Vorgang und die damit einhergehenden Argumentationsmuster möglichst präzise zu beschreiben unterstreicht das. Die immer wieder kehrenden negativen Evaluationen wie z.B. „da war ich schon irgendwie enttäuscht“, „das war ein bisschen doof“, „das war ein bisschen blöd“ qualifizieren die Komplikationen mit der Verwandtschaft als negatives Erlebnis für Frau D. An der Komposition der Erzählpassage fällt auf, dass der Text die Gewichtigkeit der Gründe, die das Verhalten der Verwandtschaft erklären 292
sollen, klimatisch aufbaut. Zunächst werden Probleme mit den Arbeitszeiten der Verwandten benannt. In einem zweiten Schritt werden mit der drohenden Arbeitslosigkeit des Cousins, dem Herzinfarkt der Oma und dem Tod des Lebensgefährten der Oma nochmals wesentlich schwerwiegendere Gründe genannt, die die Verwandtschaft am Hochzeitfeiern hindern konnten. Der Blick auf die Anordnung der negativen Evaluationen, die sich sowohl in der ersten Argumentationskette finden als auch in der zweiten, zeigt, dass der Text die erste genauso wie die zweite Argumentationsreihe als für Frau D. nicht akzeptabel kennzeichnen möchte. Stellt man die Frage, warum dem so ist, fällt der Blick wieder auf die soziale Dimension, die den Komplikationen mit der Verwandtschaft innewohnt. So ist es denkbar, dass der Text die Komplikationen mit der Verwandtschaft deshalb so sehr herausstellt, weil sie die vom Text als für Frau D. zentrale Vorstellung einer intakten sozialen Gemeinschaft, in die sie sich eingebettet wissen will, infrage stellen. Im Zusammenhang mit den Hochzeitsfeierlichkeiten ist die für Frau D. entscheidende soziale Bezugsgröße die erweiterte Familie. In der hier gegebenen Weise erzählwürdig wird der Vorfall, weil er an Frau D.’s Leitvorstellung von einer intakten Gemeinschaft rüttelt. Gestützt wird diese These dadurch, dass die weiteren Ausführungen über den Verlauf der Hochzeitsfeierlichkeiten lediglich in knappem Telegrammstil berichtet werden. Die Erzählung über die Hochzeitsfeier greift nochmals das Thema des Umgangs mit dem Kind im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten auf. Nun wird konkret geschildert, wie das Kind bei den Hochzeitsfeierlichkeiten betreut wurde und dieses Problem auf eine zufriedenstellende Weise gelöst wurde. Betrachtet man die Erzählung im Überblick, dann fällt auf, dass die umfangreiche Episode über die Komplikationen mit der Verwandtschaft in die Schilderung über die Frage nach dem Umgang mit dem Kind während der Feierlichkeiten eingebettet ist. Kompositorisch kann das damit verfolgte Ziel darin bestehen, die Tragweite der Komplikationen mit der Verwandtschaft zu unterstreichen. Die Logik wäre dann etwa so denkbar: Wo die eigentlichen Probleme zu vermuten gewesen wären, nämlich bei dem Umgang mit dem Kind während der Feierlichkeiten, sind sie nicht eingetreten. Im Gegenteil, hier ging alles sehr gut. Doch dafür gab es überraschenderweise mit den Komplikationen mit der Verwandtschaft an anderer Stelle sehr gravierende Probleme. Besonders gravierend sind sie deshalb, weil sie Frau D.’s Vorstellungen der sozialen Rahmung der Hochzeitsfeierlichkeiten infrage stellen.
293
Der Weg zur kirchlichen Trauung Bezogen sich die bisherigen Ausführungen des Nachfrageteils auf die nichtkirchlichen Teile der Eheschließung Frau D.’s, so kommt nun ein Fragenkomplex eigens auf die kirchliche Trauung und deren Vorfeld zu sprechen. Auch dazu bot die Haupterzählung keine besonders ausführlichen Informationen. I: Können Sie noch mal was-, wie das so war mit den Gesprächen, die sie dann, die Sie dann mit dem Pfarrer [Name eines Pfarrers] (vorher?)-. Ja, um sich vorzubereiten, ja genau? B: Also wir hatten-. Ich=ich musste ja erst wieder in die Kirche eintreten (mh). Das war aber schon, wo wir wussten, dass wir heiraten (ja). Also, mein Mann ist katholisch (mh) und der ist auch noch in der Kirche (mh), geht aber auch nicht hin und hat-, muss ehrlich sein, ist aber auch nicht so gläubig, also nicht so wie ich (mh), dass ich wirklich so an Gott glaube und so (mh). Das ist er eigentlich nicht so (mh). Aber der wollte halt auch kirchlich. Das ist halt romantischer (mh), oder was weiß ich. Aber ich wollte halt auch kirchlich heiraten und wir haben gesagt „Ja wenn, dann evangelisch“. Weil, ich bin ja eigentlich gläubig, bin zwar nicht in der (ja)-, aber da muss ich wieder eintreten. (D/1395–1408)
Die Erzählpassage erfüllt die Funktion, eine konkrete Problemstellung zu entfalten: Frau D. und ihr Mann wollen kirchlich heiraten – und das evangelisch. Dem steht im Wege, dass Frau D.’s Mann katholisch ist und Frau D. selbst aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Die Lösung des Problems wird von der Erzählpassage bereits benannt: Frau D. muss wieder in die Kirche eintreten. Die folgende Passage geht darauf näher ein. B: Und dann habe ich gedacht eben, ich gehe da ins [Name einer Behörde] und hole mir meinen Stempel (ja). Das war natürlich nichts. Da musste ich zum Herr Pfarrer [Name eines Pfarrers] (ja) und habe mich dann mit ihm getroffen. Das war dann dort und dann hat er mich halt auch gefragt, warum und so weiter (mh). Und dann habe ich halt ihm auch irgendwie gesagt, dass ich halt nicht hingegangen bin und ich habe mir gedacht „Wenn ich nicht hingehe, dann muss ich auch nicht (mh) Kirchensteuer zahlen und so weiter.“ Und da hat er uns das eben auch gesagt „Ja, um gläubig zu sein, da muss man schon hingehen“ (mh), und Gemeinde und was weiß ich. Und dann hat er eben gesagt, dass normalerweise das eben so ist, das wenn man in die Kirche eintritt, dass ich in den Gottesdienstfeier mitkomme (mh) und dann sollte ich halt vorkommen (mh) an den Altar (mh) und dann spricht er mir praktisch wieder den Segen (mh) zu und so weiter. Da habe ich mir gedacht „Oh Gott!“ (mh). Und dann ist das halt auch so wie-, es ist ja doch in unserer Gegend, also da sind halt auch einige, wo ich kenne, die wo vielleicht, ich wusste ja gar nicht-. Also in dem Gottesdienst habe ich schon welche gesehen. Da wusste ich gar nicht, dass die regelmäßig in die Kirche gehen (ja ja). Und die sind dann auch noch Nachbarn und so von meinen Eltern (ja), aber im Grunde-. Er hat gesagt „Ja, wenn jemand das gar nicht will, dann kann man das vorher (ja) in der Sakristei machen.“ Und so habe ich gesagt
294
„Ach Schmarrn, jetzt habe ich mir das-, wenn schon, denn schon (mh), dann muss ich das auch durchstehen“ (mh). Ja aber das war so nicht schlimm (mh). Musste ich halt in der Kirche vortreten und dann hat er mir da meinen-, die Hand aufgelegt und das Schäfchen hat wieder zurückgefunden (ja), sozusagen. (D/1408–1436)
Die Erzählung über Frau D.’s Wiedereintritt zielt vor allem darauf, Frau D. als engagiert und aktiv Handelnde zu inszenieren: Sie führt ein Gespräch mit dem Pfarrer und entscheidet sich, statt in einem privaten Rahmen vor Gottesdienstbeginn in der Sakristei in einem öffentlichen Gottesdienst vor der versammelten Gemeinde wieder in die Kirche einzutreten. Der weitere Verlauf der Erzählung geht dann auf das weitere Engagement Frau D.’s und ihres Mannes im Rahmen der Vorbereitung der kirchlichen Trauung ein. Ausführlich werden die Gespräche mit dem Pfarrer geschildert, in denen erörtert wird, ob die Braut von ihrem Vater zum Altar geführt wird oder ob Braut und Bräutigam gemeinsam einziehen, welche Antwort auf die Traufrage gegeben werden soll und wie die Taufe des Sohnes in die Trauung integriert wird. Abschließende Fragen nach dem konkreten Erleben der kirchlichen Trauung bieten keine für die weitere Analyse relevanten Informationen und beenden das thematische Feld über Frau D.’s kirchliche Trauung. Die Erzählung über die Vorbereitung und den Vollzug von Frau D.’s kirchlicher Trauung inszeniert Frau D. als aktiv Handelnde. Das für Frau D. beschriebene Engagement zielt darauf, den Wunsch nach einer kirchlichen Trauung zu realisieren. Die konkreten Maßnahmen, die der Text in dieser Hinsicht schildert, sind Frau D.’s Wiedereintritt in die Kirche und die weiteren Gespräche, die sie und ihr Mann mit dem Pfarrer führen. Die Schilderungen über das Erleben der kirchlichen Trauung bringen zum Ausdruck, dass Frau D.’s Engagement Früchte getragen hat und die Problemstellung (Wunsch nach kirchlicher Trauung) gelöst werden konnte. Dass Frau D. in dieser Erzählpassage wieder als aktiv Handelnde inszeniert wird, in einer anderen Erzählpassage, wie etwa der über das Kennenlernen des Ehemannes, dagegen nicht, wirft die Frage auf, in welchen Fällen der Text Frau D. als aktiv Handelnde schildert und wann er sie als passiv Erlebende inszeniert. Die Komposition dieses thematischen Feldes lässt die Vermutung zu, dass Frau D. immer dann als aktiv Handelnde in Erscheinung tritt, wenn es um die Realisierung von Zielen geht, die sich Frau D. gesteckt hat. Im vorliegenden Fall wäre das die kirchliche Trauung.
295
2.4.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Gesamtinterpretation Die Erzählkomposition Frau D. wird vom Text die Hauptrolle zugewiesen. Alles, wovon die Erzählung berichtet, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Frau D. Das heißt jedoch nicht, dass Frau D. als beziehungslose Einzelgängerin dargestellt wird. Im Gegenteil: Der Text rekurriert konsequent auf die soziale Dimension, um ein Bild von Frau D. zu zeichnen. Das geschieht auf zweierlei Weise. Zum einen steuert die soziale Dimension die Selektivität der Erzählung: Erzählt wird, was mit den sozialen Beziehungen Frau D.’s zu tun hat oder Auswirkungen darauf hat. Zum anderen greift der Text auf die soziale Dimension immer dann zu, wenn es gilt, bestimmte Lebenssituationen oder Lebensprozesse zu evaluieren: Positiv fallen die Evaluationen aus, wenn Frau D. in ein soziales Beziehungsgeflecht eingebettet ist, negativ dagegen fallen sie aus, wenn das nicht gegeben ist. Die soziale Dimension ist somit das Kriterium, auf das der Text zugreift, um die qualitative Ausrichtung der im Text enthaltenen Evaluationen zu bestimmen. Die hohe Bedeutung, die der sozialen Dimension im Rahmen der biografischen Selbstexplikation Frau D.’s zukommt, führt dazu, dass Frau D. als Mensch erscheint, für den die positive Einbindung in ein soziales Gefüge, konkret gesprochen in eine Gemeinschaft, von sehr hoher Bedeutung ist. Die Zentralstellung der sozialen Dimension in der Erzählung von Frau D.’s Lebensgeschichte ließe vermuten, dass der Text Frau D. überwiegend als passiv Erlebende inszeniert, die vor allem auf die Aktivitäten des sozialen Bezugssystems reagiert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Text weist Frau D. nicht nur die Hauptrolle zu. Darüber hinaus lässt er sie aus dieser Rolle heraus auch immer wieder die Initiative ergreifen, um bestimmte Ziele zu erreichen oder Wünsche zu realisieren. Das heißt jedoch nicht, dass Frau D. auch die alleinige Regisseurin ihres Lebens ist. Der Text bietet eine durchaus differenzierte Struktur, um das Ineinander von aktivem Handeln und passivem Erleben in der Lebensgeschichte von Frau D. zu beschreiben. Vor allem wenn es darum geht, wie Frau D. ein von ihr anvisiertes Ziel erreichen kann, tritt die differenzierte Wechselstruktur von aktivem Handeln und passivem Erleben deutlich zutage. So ist es stets Frau D., der der Text die Rolle zuweist, zur Realisierung eines bestimmten Zieles die Initiative zu ergreifen. Im weiteren Verlauf des Weges, der zur Realisierung des gesteckten Zieles führt, wechselt die Regie über den Gang der Dinge zumindest phasenweise in die Hände anderer Personen oder in den Einflussbereich übergeordneter Umstände. Im Ergebnis erfolgt eine Realisierung der gesteckten Ziele, die für Frau D. zwar in der Regel zufriedenstellend ist, sich aber doch merklich von den ursprünglichen Vorstellungen unterscheidet. 296
Mit dieser Wechselstruktur von aktivem Handeln und passivem Erleben bringt der Text zum Ausdruck, dass Frau D. eine aktiv Handelnde Akteurin bei der Gestaltung ihres Lebens ist. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass den Realisierungsmöglichkeiten der gesteckten Ziele Grenzen gesetzt sind. Dabei gilt es festzuhalten: Die Erzählung über Frau D. ist keine Geschichte des Scheiterns. Dass ihr Leben so verlaufen ist, wie es bisher geschehen ist, verdankt sich der Initiative Frau D.’s. Lediglich die konkret eingeschlagenen Wege und Realisierungsvarianten bestimmter Zielsetzungen sind das Ergebnis von Einflüssen, die Frau D. nicht initiiert hat und die sie nicht steuern kann. Wie sich diese Struktur des Wechsels von Aktivität und Passivität konkret darstellt, wird nun nochmals zusammenfassend rekonstruiert. Es ist vor allem die Haupterzählung, die diese Struktur gut erkennen lässt. Frau D. wird hier zunächst als Akteurin eingeführt, die schon in der Kindergartenzeit deutlich in Erscheinung tritt. Diese Ausgangslage wird positiv evaluiert, indem der Text eine soziale Einbindung Frau D.’s schildert. Als aktiv Handelnde wird Frau D. erstmals in Szene gesetzt in Verbindung mit dem Wunsch, nicht zu studieren, sondern Geld zu verdienen. Die konkrete Aktion, die der Text in diesem Zusammenhang schildert, ist der Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule. In Bezug auf die Form, in der dieser Wunsch nach dem Willen von Frau D. realisiert werden soll, nennt der Text ebenfalls Details: Frau D. möchte mit Pferden arbeiten und strebt deshalb eine Tätigkeit bei der Pferderennbahn oder bei der Polizei an. Frau D. ist es auch, die der Text die Initiative ergreifen lässt, in diesem Tätigkeitsfeld eine Ausbildungsstelle zu erhalten. Indem das Scheitern dieser Initiative berichtet wird, wechselt die Regie der Realisierung des Wunsches, Geld zu verdienen, aus Frau D.’s Hand in die Hände anderer Personen („die Anderen“ raten von einer Tätigkeit bei der Pferderennbahn ab) oder in den Einflussbereich übergeordneter Umstände (die Regularien der Polizei lassen eine Einstellung von Frau D. noch nicht zu). Auch der Anschub, trotz der gescheiterten Initiativen weiter an der Realisierung des gesteckten Zieles des Geldverdienens zu arbeiten, geht nicht von Frau D., sondern von ihrer Schwester aus. Sie empfiehlt eine Ausbildung bei der Versicherung. Re-aktiv befolgt Frau D. diesen Rat und bewirbt sich bei der Versicherung. Mit dem Erhalt einer Ausbildungsstelle bei der Versicherung hat Frau D. zwar das Ziel des Geld Verdienens erreicht. Das aber ganz anders als ursprünglich vorgestellt: Sie verdient ihr Geld jetzt nicht mit der Arbeit mit Pferden, sondern mit einer Tätigkeit bei der Versicherung. Die Komposition der Haupterzählung nimmt darüber hinaus noch eine weitere Modifikation des ursprünglich angestrebten Zieles vor: Nicht nur der Weg, auf dem das gesteckte Ziel erreicht wird, ist der Kontrolle Frau 297
D.’s entzogen, sondern auch das Erscheinungsbild, in dem sich das gesteckte Ziel nach seiner Realisierung präsentiert. So ist das Ergebnis von Frau D.’s anfänglicher Initiative und des darauf folgenden Einflusses anderer Faktoren nicht nur, dass sie tatsächlich Geld verdient. Darüber hinaus lernt sie ihren künftigen Ehemann in der Versicherung kennen, heiratet ihn und gründet eine Familie mit ihm. Somit verdankt sich nicht nur die Modifikation des Weges, auf dem das gesteckte Ziel erreicht werden soll, dem Einfluss von Faktoren, die sich der Verfügbarkeit durch Frau D. entziehen, sondern auch die konkrete Gestalt, in der das Ziel letztlich realisiert wird. Dieses Muster, das die nur gut ein Zehntel des gesamten Interviews umfassende Haupterzählung herausstellt, kehrt auch innerhalb einzelner, in sich geschlossener Erzählpassagen wieder, wenn es um die Realisierung bestimmter Ziele Frau D.’s geht. So schildert die die Haupterzählung abschließende Erzählpassage beispielsweise den Wunsch von Frau D. und ihrem Mann, die standesamtliche und die kirchliche Trauung an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu feiern. Schwangerschaftskomplikationen führen dazu, dass zwischen der standesamtlichen und der kirchlichen Trauung ein halbes Jahr liegt. Am Ende wird das ursprüngliche Ziel von Frau D. und ihrem Mann erreicht sein: Sie wurden sowohl standesamtlich als auch kirchlich getraut. Modifiziert dagegen wird der zeitliche Abstand zwischen beiden Ereignissen sein und die kirchliche Trauung wird zu einer Trauung mit Taufe des mittlerweile zur Welt gekommenen Sohnes. Aber auch der Nachfrageteil enthält Beispiele für dieses Muster. So ergreift Frau D. beispielsweise die Initiative, nach Ende der Ausbildung eine Gehaltserhöhung zu bekommen. Die Regie über die Problemlösung wechselt kurzzeitig in die Hände der Schwester. Sie rät zur Bewerbung bei einer anderen Firma. Wieder befolgt Frau D. diesen Rat re-aktiv, übernimmt dann allerdings wieder die Regie über den weiteren Lauf der Dinge. Im Ergebnis verdient sie wie gewünscht mehr Geld. Anders als ursprünglich geplant, arbeitet sie aber jetzt bei einer anderen Firma. Genauso strukturiert ist die Erzählung über Frau D.’s Wiedereintritt in die Kirche. Diesmal ist ihr Wunsch, kirchlich zu heiraten. Dazu muss sie wieder in die Kirche eintreten. Die Initiative, die sie ergreifen möchte, besteht darin, zum Standesamt zu gehen und dort so einfach wie beim Austritt auch wieder in die Kirche einzutreten. Im Ergebnis erreicht Frau D. zwar das Ziel, mit der wieder erlangten Kirchenmitgliedschaft die Voraussetzung zur kirchlichen Trauung zu erfüllen. Doch der Weg dorthin verlief anders als geplant: Sie musste sich beim zuständigen Pfarramt um den Wiedereintritt bemühen und hat dafür wesentlich mehr Initiative ergriffen als ursprünglich beabsichtigt (Eintritt im Rahmen des Gottesdienstes). 298
Die Tatsache, dass für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s die soziale Dimension durchgängig eine herausragende Rolle spielt, sei es als Kriterium für die von der Selektivität des Textes gesetzten Schwerpunkte oder sei es als Kriterium für die qualitative Ausrichtung von Evaluationen bestimmter Lebenssituationen oder Lebensphasen, wirft die Frage auf, ob der für Frau D. vom Text als besonders wichtig betonte Aspekt des Eingebettetseins in ein soziales Beziehungsgefüge nicht ebenfalls einen Einfluss nimmt auf die vom Text vorgenommene soziale Lagerung Frau D.’s. Denkbar wäre, dass der Text Frau D. immer dann aktiv werden lässt, wenn eine für sie zufriedenstellende soziale Einbindung nicht gegeben ist. Ist das der Fall, dann lässt der Text tatsächlich Frau D. die Initiative ergreifen. Als Beispiele dafür sei auf Frau D. Engagement verwiesen, nach dem Umzug im neuen Kindergarten eine Freundin kennen zu lernen oder auf die im Nachfrageteil gebotene Begründung für den Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule. Im Unterschied zur Haupterzählung wird der Schulwechsel hier nicht mit dem Wunsch Frau D.’s begründet, Geld zu verdienen, sondern damit, dass sie im Gymnasium keinen Kontakt zu den Mitschülerinnen gefunden hat. Doch der Text inszeniert Frau D. im Zusammenhang mit der Realisierung einer zufriedenstellenden sozialen Einbindung nicht nur als aktiv Handelnde. Oftmals wird in diesem Zusammenhang trotz der hohen Bedeutung, die die Komposition des Textes diesem Aspekt beimisst, keine Aktivität Frau D.’s berichtet. Das ist immer dann der Fall, wenn Frau D. von vornherein in eine Situation sozialer Einbindung kommt bzw. die Initiative dazu von einem anderen Akteur ausgeht. Für eine solche Situation stehen beispielweise die Erzählpassagen über Frau D.’s Konfirmandenzeit. Hier ist die Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge von vornherein gegeben. Ein anderes Beispiel ist die soziale Einbindung nach Frau D.’s Firmenwechsel. Auch hier stellt sich der Kontakt zum künftigen Ehemann auf kontingente Weise ein. Für die soziale Lagerung Frau D.’s im Zusammenhang mit der hohen Bedeutung, die die soziale Dimension für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s spielt, heißt das: Frau D. wird in diesem Fall nur bedingt als aktiv Handelnde inszeniert. Sofern eine zufriedenstellende sozialen Einbindung gegeben ist oder auf Grund der Initiative anderer zustande kommt, ergreift Frau D. selbst keine Initiative. Ist die Lage jedoch so, dass keine soziale Einbindung gegeben ist, handelt sie. Die hier angestellten synthetischen Beobachtungen zur sozialen Lagerung Frau D.’s zeichnen zusammengefasst folgendes Bild: Frau D. ist aktiv Handelnde Akteurin. Alle in ihrem bisherigen Leben maßgeblichen Schritte verdanken sich ihrer Initiative. Das heißt jedoch nicht, dass der Text Frau D. gänzlich als ihres Glückes eigene Schmiedin präsentiert. Auf die Initiati299
ven Frau D.’s folgen in der Regel Einflüsse von außen, die sowohl den weiteren Verlauf der Realisierung der ursprünglich angestrebten Ziele als auch die letztendlich erreichten Ziele selbst modifizieren. Die im Text beschriebenen Ziele, die Frau D. in ihrem bisherigen Leben erreicht hat, verdanken sich somit einem Zusammenwirken der Initiative Frau D.’s und des Einflusses anderer Faktoren. Im Blick auf die für die biografische Selbstexplikation Frau D.’s so wichtige soziale Dimension und die damit einhergehende Zielsetzung der positiven sozialen Einbindung Frau D.’s in ein soziales Beziehungsgeflecht, gibt es bezüglich der sozialen Lagerung einen Unterschied im Vergleich zu den punktuellen, in sich geschlossenen Zielsetzungen (z.B. Geld verdienen, Gehaltserhöhung, kirchliche Trauung). Um das Ziel der positiven sozialen Einbindung zu erreichen, wird die Initiative vom Text nicht zwingend an Frau D. gebunden. Stellt sich diese Zielsetzung von alleine ein, wird sie als passiv Erlebende inszeniert, die trotzdem ein für sie zufrieden stellendes Ziel erreicht. Diese Beobachtung zeigt, dass die soziale Lagerung, die der Text für Frau D. zeichnet, sowohl mit dem Aspekt der Aktivität als auch dem der Passivität rechnet. Frau D. profitiert von beidem: Sowohl von der Aktivität, die sie die Initiative ergreifen lässt, um bestimmte Ziele zu erreichen, als auch von der Passivität, die sie bestimmte Modifikationen der ursprünglichen Ziele erleben lässt, die am Ende aber doch zu einem für Frau D. positiven Ergebnis führen. Funktionale Verdichtung Betrachtet man den Text unter dem Gesichtspunkt einer funktionalen Analyse, so kann er als Antwort auf die Frage verstanden werden, welche Wege Frau D. in ihr jetziges soziales Primärgefüge (eigene Familie mit Mann und Kind) geführt haben. Im einzelnen schreitet die Struktur der Antwort auf diese Frage die wesentlichen sozialen Bezugsfelder ab, in denen sich Frau D. in ihrem bisherigen Leben aufgehalten hat. So zeichnet die Erzählung einen Bogen, der mit dem Kindergarten beginnt, über Grundschule und Gymnasium in die Realschule führt und von dort aus in die Versicherungslehre und schließlich die Firma mündet, in der Frau D. ihren Mann kennen lernt. Am Ziel steht die kirchliche Trauung und die Taufe des Sohnes. Die Erzählung ist sowohl hinsichtlich ihrer Gesamtkomposition als auch in Bezug auf einzelne Textpassagen so angelegt, dass der Weg, den Frau D. bis zum Erreichen dieses Zieles gegangen ist, kontingent angelegt ist. Das haben die Ergebnisse bezüglich der sozialen Lagerung Frau D.’s bereits gezeigt: Frau D. ist zwar die zentrale Akteurin und ergreift zu Beginn bestimmter lebensbestimmender Prozesse auch die Initiative. Doch auf den weiteren Lauf der Dinge wirken immer auch Faktoren, die Frau D. nicht beeinflussen kann und die die ursprünglich von Frau D. angestrebten Ziele 300
abändern. Da sich der Verlauf des Lebensweges von Frau D. somit sowohl ihrer eigenen Aktivität als auch dem Einfluss kontingenter Faktoren verdankt, ist er aufs Ganze gesehen kontingent. Das heißt jedoch nicht, dass der Text damit die Aktivitäten Frau D.’s abwerten möchte. Denn der Text gibt ebenfalls deutlich zu erkennen: Alles was zum Erreichen des Zielpunkts der bisherigen Lebensgeschichte geführt hat, verdankt sich ihrer Initiative. Hätte sie diese nicht ergriffen, wäre der jetzige Zielpunkt nicht erreicht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, das die von Frau D. ursprünglich gesteckten Ziele anders erreicht wurden und sich am Ende auch anders dargestellt haben. Funktional gesehen sind in dieser Hinsicht die Schilderungen über Frau D.’s Schulzeit und dort vor allem ihre Initiative zum Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule und die Erzählung über ihren Stellenwechsel nach der Versicherungslehre von zentraler Bedeutung: Aus dem Ziel, mit dem Schulwechsel schnell Geld zu verdienen, wird eine ursprünglich abgelehnte Versicherungslehre. Gleichzeitig wird damit die Voraussetzung für den nächsten Schritt geschaffen, nämlich den Stellenwechsel. Auch hier verhält es sich so, dass aus dem ursprünglichen Ziel, bei der gleichen Firma eine Gehaltserhöhung zu bekommen, ein Wechsel der Firma wird. Gleichzeitig ist damit die Voraussetzung gegeben, dass Frau D. ihren künftigen Mann kennen lernen kann. Stellt man nun noch die Frage, wie der Text das Verhältnis von Problem und Problemlösung inszeniert, so kann an den bisherigen Beobachtungen angeknüpft werden. Sowohl die Selektivität als auch die Sequenzialität des Textes fokussieren soziale Beziehungsgefüge, in denen sich Frau D. befindet. Die Problemstellung, die dem Text vor diesem Hintergrund zu entnehmen ist, wird durch die Frage zum Ausdruck gebracht, wie Frau D. jeweils in die einzelnen Beziehungsgefüge gerät – besonders in ihr aktuelles in der eigenen Familie. Die Lösung, die der Text insgesamt, aber auch innerhalb einzelner Erzählpassagen, für diese Problemstellung bietet, ist jeweils differenziert: Frau D.’s Einbindung in das je aktuelle soziale Gefüge verdankt sich einer Mischung aus der initiierenden Aktivität Frau D.’s und dem Einfluss von Faktoren, die sich der Regie Frau D.’s entziehen. Die jeweilige soziale Einbindung ist somit das Produkt eines insgesamt kontingenten Prozesses, der allerdings von Frau D. in Gang gesetzt wird. Die Aktivität steht zu Beginn eines solchen Prozesses unter der Regie von Frau D., die im weiteren Verlauf jedoch in andere Hände wechselt. Indem der Text dieses Muster immer wieder herausstellt, gibt er eine detaillierte Antwort auf die Frage, welchen Regelmechanismen die Aktivitäten Frau D.’s unterliegen. Dabei gibt der Text zu erkennen, dass Frau D.’s Aktivitäten sowohl von ihr selbst reguliert werden, als auch von Faktoren, die sich ihrem Einfluss entziehen. Greift man den Aspekt des Regulierens 301
von Frau D.’s Aktivität heraus, dann steht die Erzählung von Frau D. unter dem Motto und im Horizont der regulierten Aktivität. Das Thema Kirche in der Biografie Abschließend sei wieder die Frage gestellt, wie das Thema Kirche auf Grund der selektiven Entscheidungen des Textes inszeniert wird und wie es funktional in die Schilderung von Frau D.’s Versuch verwoben ist, mit dem aufgeworfenen Bezugsproblem umzugehen? Die Komposition der Erzählung über Frau D. räumt dem Thema Kirche in insgesamt fünf thematischen Bereichen Raum ein: Im Rahmen der Schilderungen über den Religionsunterricht in der Schule, über die Konfirmandenzeit, über Weihnachten in der Familie, über den Kirchenaustritt und über die kirchliche Trauung. Das selektive Muster der Thematisierung von Kirche gibt zu erkennen, dass der Kontakt Frau D.’s zur Kirche nicht als biografisches Kontinuum präsentiert werden soll, sondern als punktuelle Berührung. Nach welchen Kriterien entscheidet sich die Selektivität des Textes für die Thematisierung von Kirche? Wie für die selektive Struktur der Gesamterzählung so gilt auch für die Thematisierung von Kirche, dass die soziale Dimension hier eine besondere Rolle spielt. So stehen die Ausführungen über den Religionsunterricht in der Realschule und über die Konfirmandenzeit bzw. auch die Kinderbibelwoche für Beispiele gelungener sozialer Einbindung von Frau D. in ein soziales Beziehungsgeflecht. Als solche sind sie für den Text wert, erzählt zu werden. Aber auch die Schilderungen über Weihnachten oder Frau D.’s Kirchenaustritt stehen in einem Zusammenhang mit der hohen Relevanz, die der sozialen Dimension bei der Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte zukommt. So wird der Kirchgang an Heiligabend thematisiert, weil er lange Zeit Teil des weihnachtlichen Gemeinschaftserlebens in der Familie Frau D.’s war, er aber auch genau in diesem Zusammenhang zum Problem geworden ist: Da Frau D.’s Großeltern den Weihnachtsgottesdienst nicht mehr besuchen können, würde der Gottesdienstbesuch eines Teils der Familie genau dieses familiäre Gemeinschaftserlebnis an Heiligabend stören. Der Nicht-Besuch des Weihnachtsgottesdienstes ist die Folge. Das gleiche Plausibilisierungsmuster bietet die Erzählung über den Kirchenaustritt Frau D.’s: Da sie sich in einer für sie positiven Form der sozialen Einbindung befindet, gibt es keinen Grund, mit einem weiteren sozialen Beziehungsgefüge wie etwa der Kirchengemeinde in Verbindung zu stehen. Die Einbindung in das primäre Beziehungsgeflecht wie z.B. Familie und Freunde genügt. Der Kirchenaustritt ist die Folge. Bei diesen vier Formen der Thematisierung von Kirche geht es immer um die Frage, ob für Frau D. eine zufriedenstellende Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge gegeben ist oder nicht. Bei Religionsunterricht 302
und Konfirmandenzeit bzw. Kinderbibelwoche ist das der Fall. Frau D. partizipiert hier am kirchlichen Angebot. Bei Weihnachten und in der Situation des Kirchenaustritts verhält es sich anders. Ist der Besuch des Weihnachtsgottesdienstes anfangs noch Teil familiären Gemeinschaftserlebens, so gefährdet er dieses späterhin und wird eingestellt. Der Kirchenaustritt schließlich ist die Folge davon, dass die Kirche in keinerlei Zusammenhang mit der Frage nach der sozialen Einbindung Frau D.’s in ein soziales Beziehungsgefüge gesehen wird. Weniger bedeutend ist die soziale Dimension im Zusammenhang mit den Schilderungen über die kirchliche Trauung. Darauf geht der Text ein, weil es sich bei der kirchlichen Trauung um eine für Frau D. wichtige Zielsetzung handelt. Es ist der Wunsch von ihr und ihrem Mann, kirchlich zu heiraten. Da der Text darauf zielt, Frau D. als Initiatorin zu beschreiben, wenn es um die Realisierung bestimmter, für sie wichtige Ziele geht, berichtet der Text ausführlich über Frau D.’s Aktivitäten und Erlebnisse im Zusammenhang mit der kirchlichen Trauung. Der Blick auf die soziale Lagerung Frau D.’s beim Thema Kirche präzisiert die Kontur der Kirchenbindung, wie sie der Text für Frau D. darstellt. In Sachen Kirchenbindung wird Frau D. sowohl als passiv Erlebende als auch als aktiv Handelnde beschrieben. Kreuzen sich Frau D.’s Lebensweg und kirchliche Angebote gleichsam automatisch im öffentlichen Raum (vgl. Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht und bedingt auch der Weihnachtsgottesdienst) und wird diese Begegnung als gelungene Form der sozialen Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge betrachtet, belässt der Text Frau D. in der Rolle der passiv Erlebenden. Es gibt keinen Grund, sie in Aktion zu setzen, da das entscheidenden Kriterium für eine positive Evaluation der sozialen Verortung Frau D.’s von vornherein erfüllt ist. Anders verhält es sich, wenn die Angebote der Kirche bzw. die Kirchenmitgliedschaft generell mit dem entscheidenden Kriterium der zufriedenstellenden sozialen Einbindung nicht zu vereinbaren sind: Frau D. handelt, indem sie den Gottesdienstbesuch zugunsten der Wahrung der weihnachtlichen Familiengemeinschaft unterlässt und indem sie aus der Kirche austritt, weil sie überhaupt keinen sozialen Bezug zur Kirchengemeinde hat. Aktiv, im Sinne einer Bewegung auf die Kirche zu, kann Frau D. aber auch werden. Das ist der Fall bei der kirchlichen Trauung. Frau D. ergreift die Initiative, tritt wieder in die Kirche ein und führt Gespräche mit dem Pfarrer. Die aktive Kontaktaufnahme mit der Kirche erfolgt in diesem Fall, weil sie mit der Realisierung eines für Frau D. wichtigen Ziels einhergeht. Fasst man diese Beobachtungen zur sozialen Lagerung Frau D.’s hinsichtlich des Themas Kirche zusammen, dann ergibt sich folgendes Bild: Grundsätzlich forciert Frau D. keinen Kontakt zur Kirche. Das ist nur der Fall, wenn die Kirche – wie bei der kirchlichen Trauung – etwas mit dem 303
Erreichen eines persönlichen Zieles von Frau D. zu tun hat. Sonst wird die Kirche vom Text als Größe beschrieben, die von Fall zu Fall im Leben von Frau D. auftaucht. Je nachdem, ob die Kirche in den jeweiligen Fällen als Möglichkeit zufriedenstellender sozialer Einbindung erfahren wird, wird der Kontakt zur Kirche bzw. ihrem jeweiligen Angebot aufrecht erhalten und positiv evaluiert oder aktiv beendet. Für das Thema Kirche lässt der Text keinen direkten Zusammenhang mit dem Bezugsproblem der Erzählung erkennen. Für die Beantwortung der Frage, wie Frau D. in ihre aktuelle soziale Lage gekommen ist oder auch in die sozialen Lagen, in denen sie sich in einzelnen Phasen ihres bisherigen Lebens befunden hat, spielt das Thema Kirche keine Rolle. Bezogen auf die vom Text so sehr betonte Frage nach Frau D.’s Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge, kommt der Kirche dagegen eine ganz bestimmte Rolle zu: Sie wird sowohl als Ort beschrieben, an dem Frau D. eine für sie zufriedenstellende soziale Einbindung erfährt, als auch als Ort, der bestehende soziale Einbindungen gefährdet und als solcher verlassen werden muss. Der Nutzen, den die Kirche hinsichtlich einer sozialen Einbindung Frau D.’s in ein soziales Beziehungsgefüge erbringt, entscheidet demnach über Nähe bzw. Distanz zur Kirche. Das Moment des Nutzens ist es auch, das den Passagen über Frau D.’s kirchliche Trauung zu entnehmen ist: Frau D. nutzt die Kirche und engagiert sich auch, um ein für sie wichtiges Ziel zu erreichen. Blickt man auf die Erzählung als ganze und stellt die Frage, wie der Text Frau D.’s Kirchenbindung insgesamt schildert, kann folgendes Bild gezeichnet werden: Von der kirchlichen Trauung abgesehen, verdanken sich die Kreuzungspunkte von Frau D.’s Lebensweg und der Kirche keinem geplanten Engagement. Kreuzen sich die Wege, dann wird die konkrete Ausformung der Beziehung zur Kirche nach dem Nutzenprinzip beschrieben: Trägt Frau D. einen Nutzen davon, sei es soziale Einbindung oder Realisierung eines wichtigen Zieles, dann wird die Beziehung zur Kirche positiv evaluiert und interaktionsnahe Formen der Kommunikation werden berichtet. Ist der Nutzen für Frau D. nicht gegeben, werden Phänomene der Abstandnahme von der Kirche und ihren Angeboten berichtet. Stellt man die Frage nach dem Bild von Kirche, das hinter dieser Form der Kirchenbindung steht, so bietet sich ausgehend vom Moment des Nutzens das Bild einer Kirche als Gebrauchsgröße an. Wo sie im Leben begegnet, entscheidet das Maß ihres Nutzens darüber, ob und in welcher Weise sie gebraucht wird. In dieser Hinsicht stellt die Kirche keine Besonderheit in der biografischen Selbstexplikation Frau D.’s dar. Jede konkrete Lebensstation und jedes soziale Gefüge, von dem der Text berichtet, wird aus der Perspektive des Nutzenprinzips beschrieben. Einziger Unterschied der Kirche zu den anderen im Text genannten Lebenssituationen und sozialen Gefügen: Sie wird nicht nur an einer bestimmten Stelle der Lebensge304
schichte thematisiert, sondern taucht immer wieder aufs Neue auf. Frau D., so schildert es der Text, geht mit der Kirche einen eigenen Weg. Die Spielregeln dafür bestimmt sie selbst.
3. Synthetisch-fallübergreifende Analyse und Zusammenfassung Der Weg, den die vorliegende Untersuchung bis zu dieser Stelle abgeschritten hat, setzt mit der Problematisierung einer diffusen und paradoxen Haltung ein, die in Kirche und Theologie angesichts der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche anzutreffen ist. Darauf wurde mit der Theorie der mediatisierten Kommunikation eine Zugangsweise präsentiert, die es erlaubt, soziale Bindung in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Kirche im Speziellen in einem umfassenden, komplexen Sinn zu verstehen. Indem die Theorie der mediatisierten Kommunikation den Begriff der sozialen Bindung normativ neutralisiert und nicht, wie gemeinhin üblich, mit sozialer Vergemeinschaftung gleichsetzt, ist es möglich, soziale Bindung und soziales Miteinander nicht nur unter der Perspektive der Defizitbeschreibung in den Blick zu bekommen. Vielmehr wird eine Perspektive auf Formen sozialer Koordination eröffnet, mit deren Hilfe gelingende Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erkennbar werden, die gerade nicht über den Modus der Vergemeinschaftung organisiert werden. In Bezug auf die soziale Bindung in der Kirche kann die Theorie der mediatisierten Kommunikation zu verstehen helfen, wie die Stabilität der Kirchenbindung unter der Mehrzahl der Kirchenmitglieder zustande kommt, ohne dass dazu primär die gemeinschaftlichen Lebensformen der Kirche in Anspruch genommen würden. Erkenntnistheoretisch gesehen ist der hier unterbreitete Vorschlag, die Stabilität moderngesellschaftlicher Kirchenbindung aus der Perspektive der Theorie der mediatisierten Kommunikation heraus zu erklären, auf der Ebene einer Hypothese anzusiedeln. Der Zugang auf dieser Ebene resultiert aus der eingangs entfalteten Problemlage zur Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche. Die Rekonstruktion der diversen Diskurse zur Kirchenbindung hat aufgezeigt, dass jenseits von reiner Deskription einerseits und Defizitwahrnehmung andererseits bislang keine systematisch angelegten und empirisch gesättigten Theoriemodelle vorhanden sind, mit deren Hilfe nicht primär auf Vergemeinschaftung basierende Formen moderner Kirchenbindung erklärt werden können. Indem die vorliegende Untersuchung die Theorie der mediatisierten Kommunikation auf die Frage der sozialen Bindung in der Kirche bezieht, wird im praktisch-theologischen Diskurs erstmals ein Theoriemodell vorgestellt, das das scheinbare Paradox von großer Stabilität der Kirchenbindung einerseits und – gemessen an der Gesamtzahl der Kirchenmitglieder – 305
niedrigem Niveau kirchlicher Vergemeinschaftung andererseits systematisch erklären kann. Damit ist ein Anfang gemacht, aber noch keine abschließende Klärung erfolgt. Eine solche kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht erfolgen. Wohl aber kann die Hypothese, wonach die soziale Bindung in der Kirche als mediatisierte Form der Kommunikation zu begreifen ist, weiter präzisiert und erläutert werden. Einen ersten Beitrag dazu sollten – der erkenntnistheoretischen Figur des hermeneutischen Zirkels folgend – die empirischen Fallanalysen dieses Kapitels leisten. Wie weit ist die empirische Präzisierung mediatisierter Kommunikation bisher vorangeschritten? Mit den vier Fallanalysen wurden ganz unterschiedliche Beispiele dafür präsentiert, wie sich mediatisierte Kommunikation seitens des Individuums realisiert. So bieten die ausführlich dargestellten und analysierten Biografien einen direkten Zugang zu je individuell gewendeten Formen mediatisierter Kommunikation. Das kann deswegen so gesagt werden, weil nur Biografien, d.h. die erzählten Lebensgeschichten konkreter Personen, die Möglichkeit bieten, die zahlreichen, aus der funktionalen Primärdifferenzierung der Gesellschaft resultierenden Publikumsrollen und Inklusionen in soziale Beziehungen nach und nach zu bearbeiten und zu rekonstruieren. Als Geschichte des Individuums repräsentiert die Biografie die temporäre Reihung unterschiedlicher sachlicher Ereignisse und fasst sie sinnhaft zusammen: Bestimmte Ereignisse und Erlebnisse aus der Lebensgeschichte werden thematisiert (Inklusion), andere dagegen nicht (Exklusion); die angesprochenen Ereignisse und Erlebnisse werden entweder nur kurz angesprochen oder auch vertieft (Variabilität). Führt man sich das vor Augen, wird deutlich, dass Biografien eine eigenständige Realitätsebene einnehmen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als mediatisierte Kommunikation bezeichnet wird. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die hier präsentierten Biografien als individuell gewendete mediatisierte Kommunikation betrachtet werden und sie im Sinne eines hermeneutischen Zirkels zur Präzisierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund sind die Fallbeispiele als jeweils in sich geschlossene Empiriezugänge zu sehen, die nicht miteinander zu verrechnen sind. Sie stehen je für sich und haben ihre je eigene empirische Evidenz und Aussagekraft. Formal und material gesehen ist die empirische Präzisierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation mit der Darstellung der Einzelfälle bereits abgeschlossen. Werden im folgenden die vier Einzelfälle miteinander in Beziehung gesetzt, so erfolgt das aus zwei Gründen. Zum einen soll dadurch über die entsprechenden Passagen der Einzelfallanalysen hinausgegangen werden und die Theorie der mediatisierten Kommunikation in verdichteter Form am 306
Beispiel der sozialen Bindung in der Kirche weiterentwickelt werden. Zum anderen soll dadurch eine argumentative Basis geschaffen werden, auf der im folgenden Schlusskapitel Eckpunkte für die praktisch-theologische Reflexion moderner Kirchenbindung formuliert werden können. 3.1 Zum methodischen Vorgehen Die folgende synthetisch-fallübergreifende Analyse unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den vorangegangenen Einzelfallanalysen. Dort bestand das Ziel in der Erhebung von Biografien, deren Gestaltung und Struktur weitestgehend in den Händen der erzählenden Personen lag und nicht durch externe, aus vorgegebenen Theoriemodellen hergeleiteten Kategorien präformiert wurde. Nur auf diese Weise konnten je individuell gewendete Formen mediatisierter Kommunikation gewonnen und erkennbar werden. Im Unterschied dazu greift die synthetisch-fallübergreifende Analyse nun auf externe Kategorien zu, um die Einzelfälle miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei handelt es sich um die zentralen Kategorien der Theorie der mediatisierten Kommunikation, wie sie in Kapitel 2 entfaltet wurden: Distanz, Distanz und Nähe sowie Variabilität.68 Ferner richtet sich der Fokus der folgenden Ausführungen nicht mehr auf die gesamte Biografie als Kontext von Kirchenbindung, sondern dezidiert auf Aspekte, die für die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche relevant sind. Auch dadurch wird in die Analyse eine externe Kategorie eingetragen, die im Rahmen der Einzelfallanalysen noch nicht relevant war. Mit diesem Vorgehen erfolgt eine Verdichtung der empirischen Befunde: Das Forschungsinteresse eines tiefergehenden Verständnisses moderner Kirchenbindung, die Prämissen der Theorie der mediatisierten Kommunikation und die in den Einzelfallanalysen gewonnenen empirischen Befunde treten in ein Gespräch miteinander. Der hermeneutische Zirkel, der den 68 Im Rahmen der oben vorgenommenen Skizzierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation wurden Anonymität und Intimität sowie Solidarität als weitere Kategorien im Theoriemodell der mediatisierten Kommunikation genannt. Wenn im Rahmen der folgenden synthetisch-vergleichenden Ausführungen diese Kategorien nicht explizit betrachtet werden, dann geschieht das, um Redundanzen zu vermeiden. Schließlich beziehen sich die Kategorien Anonymität und Intimität aber auch Solidarität auf die Grundfigur der Theorie der mediatisierten Kommunikation, wonach auf der Basis des Ausgangsmodus sozialer Distanz bedingt durch Variabilität der Kommunikationsintensität immer wieder auch ein Wechsel von sozialer Distanz hin zu sozialer Nähe erfolgen kann. Wie auf der Grundlage sozialer Distanz oder von Anonymität so etwas wie Intimität oder auch Solidarität zustande kommen kann, wird in den Ausführungen zur Kategorie Distanz und Nähe (Variabilität) erkennbar sein. Eine eigenständige Betrachtung dieses Sachverhaltes ist deshalb nicht notwendig.
307
Forschungsprozess der vorliegenden Untersuchung strukturiert, erreicht damit eine im Vergleich zu den Einzelfallsanalysen weitere Stufe. Werden die Einzelfälle im folgenden in Beziehung zueinander gesetzt, so geschieht das nach den Regeln des kontrastiven Vergleichs. In der Perspektive des minimalen Vergleichs werden die Einzelfälle hinsichtlich geringer Unterschiede kontrastiert. Strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten, sich wechselseitig bestätigende Sachverhalte und das Aufzeigen von Stereotypen in allen oder mehreren Fallbeispielen stehen dabei im Vordergrund. Der maximale Vergleich dagegen nimmt eine Kontrastierung hinsichtlich höchster Verschiedenheit vor. Sich unterscheidende, gegebenenfalls sich widersprechende Modi der Textstruktur und des Inhalts sind hier von Interesse.69 Noch eine Bemerkung zur Frage der Bildung einer Typologie als möglichem Ergebnis der synthetisch-fallübergreifenden Analyse: Gemeinhin dienen Vergleiche und Kontrastierungen in der empirischen Sozialforschung dazu, durch die Bildung von Gruppen, Klassen oder anderen trennscharfen Verallgemeinerungen zu Typen bzw. Idealtypen zu kommen, die charakteristische Unterschiede sozialer Phänomene beobachtbar machen. Voraussetzung dafür ist der Zugriff auf eine möglichst große Zahl von Einzelfällen. In den methodischen Ausführungen zu Beginn der Einzelfallanalysen wurde bereits darauf hingewiesen, dass die präsentierten Einzelfallanalysen keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben können und wollen. Für den folgenden Vergleich der Einzelfälle heißt das, dass keine repräsentativen, etwa die Gesamtheit aller Kirchenmitglieder betreffenden Ergebnisse erzielt werden. Vielmehr geht es um den Vergleich typischer Einzelfälle. Dabei heißt typisch, dass die Einzelfälle ausschließlich für sich selbst und im Unterschied zu anderen Einzelfällen typisch sind. Nicht typisch sind sie im Sinne der Kumulation von gemeinsamen Merkmalen innerhalb einer größeren Stichprobe. Faktisch wurden die Typen der vorliegenden Untersuchung durch die Auswahl der hier ausgewerteten Interviews bereits vor der Interpretation der Einzelfälle festgelegt. Entscheidendes Auswahlkriterium dabei war die Trennschärfe, d.h. die Vergleichbarkeit der Interviews und nicht die Repräsentativität von textlichen Reaktionstypen. 3.2 Soziale Distanz als Grund- und Ausgangmodus der Kirchenbindung Soziale Distanz ist im Theoriemodell der mediatisierten Kommunikation die Ausgangs- und Zentralkategorie. Sie richtet sich auf den Sachverhalt, dass die alltägliche Interaktionsebene einander fremder Personen immer weniger 69 Zum Verfahren des kontrastiven Vergleichs vgl. Nassehi 1995, 348–352, und grundsätzlich zur Vergleichbarkeit von Einzelfällen Flick 2000, 254.
308
durch sachliche Gemeinsamkeiten der Lebenslage, normative Übereinstimmungen oder identische Lebensmuster strukturiert ist. Theoretische Konzepte wie Pluralisierung und Individualisierung, aber auch individuenbezogene Biografisierung thematisieren die aus dem Schwund verbindender Gemeinsamkeiten konkreter Personen resultierende soziale Distanz. Die vier hier präsentierten Fallbeispiele veranschaulichen, wie die mit der individuenbezogenen Biografisierung einhergehende Differenzierung auf der Ebene konkreter Personen aussieht. Keines der präsentierten Fallbeispiele gleicht dem anderen. Es gibt keine sachlichen Gemeinsamkeiten der Lebenslage, keine explizit normativen Übereinstimmungen und auch keine identischen Lebensmuster. Dokumentiert ist das durch die je völlig unterschiedlichen Kompositionsmuster und Selektionsstrukturen der biografischen Erzählungen. Analytisch aufgegriffen werden die Differenzen zwischen den Fallbeispielen durch die funktionale Betrachtung der Biografien, wie sie im Rahmen der Einzelfallanalyse erfolgt ist. Dadurch werden die Biografien als Reaktionen auf ganz unterschiedliche Bezugsprobleme mit je ganz verschiedenen Problemlösungsstrategien und Plausibilisierungen erkennbar. So fragt der Text über Herrn A.’s Lebensgeschichte, wie sich mit äußerem Druck und inneren Spannungen leben lässt; die Erzählung über Frau B. kreist um die Frage, warum sie in ihrem Leben in bestimmten Situationen verbleibt, andere dagegen verlässt; bei Herrn C. wird gefragt, in welchem Lebensbereich er Leistung erbringen kann; die Biografie Frau D.’s schließlich sucht eine Antwort auf die Frage, welcher Weg Frau D. in ihr aktuelles soziales Beziehungsgefüge geführt hat. So unterschiedlich diese von den biografischen Erzählungen thematisierten Bezugsprobleme sind, so unterschiedlich sind deren Lösungsangebote und Lösungsversuche. Aus der Perspektive des minimalen Vergleichs können zwischen den vier Fallbeispielen keinerlei Gemeinsamkeiten festgestellt werden. So unterschiedlich die Menschen, so unterschiedlich sind auch ihre Biografien. Die Perspektive des maximalen Vergleichs unterstreicht das: Die Unterschiede könnten kaum größer sein, es liegen vier trennscharfe Fallbeispiele vor. Doch steht hier nicht die Frage im Vordergrund, wie die vier in den Fallbeispielen thematisierten Personen in Beziehung zueinander stehen. Statt dessen geht es um die Frage, wie die Biografien jeweils deren soziale Bindung zur Kirche beschreiben und ob es unter diesem Aspekt Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt. In Bezug auf die hier interessierende Analysekategorie der sozialen Distanz kann für alle vier Fallbeispiele eine Gemeinsamkeit konstatiert werden kann: Keine der vier Biografien stellt das Thema Kirche in den Mittelpunkt. Damit markieren die Biografien soziale Distanz zur Kirche als den Normalfall. Gemessen am Gesamtumfang einer jeden Biografie wird das Thema 309
Kirche weitestgehend ausgeblendet. Es findet kaum Berücksichtigung. Distanz zur Kirche ist der Normalfall. Andere Themen sind angesichts der den interviewten Personen gestellten Aufgabe, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, d.h. die eigene Lebensgeschichte zu biografisieren, relevanter. Beruf, Familie, andere soziale Beziehungen usw. stehen dabei im Vordergrund. Bezogen auf die zur Beschreibung der Kirchenbindung im herkömmlichen Sinne häufig verwendeten Kategorien der Kirchennähe bzw. Kirchenferne ist dieser Befund sehr bedeutsam. Im herkömmlichen, alltagssprachlichen Sinn würden Frau B. und, in etwas abgeschwächterem Maße, auch Herr C. als sogenannte kirchennahe Menschen bezeichnet. Als solche wurden sie dem Interviewer auch tatsächlich von den vermittelnden Personen vorgestellt: Frau B. als engagierte Kirchenvorsteherin und Herr C. als Mann, der gerne den Gottesdienst, aber auch bestimmte andere gemeindliche Veranstaltungen besucht und ein Interesse an Gesprächen mit dem Pfarrer hat. Umgekehrt ließen sich Herr A. und Frau D. als kirchenferne Menschen bezeichnen. Sie haben keine bzw. so gut wie keine Kontakte zum Leben einer Kirchengemeinde. Der Perspektivenwechsel zur biografisierten Ebene mediatisierter Kommunikation hebt die vordergründige Unterscheidung der vier in den Fallbeispielen thematisierten Menschen in Kirchennahe und Kirchenferne auf. Für alle, egal ob vermeintlich kirchennah oder kirchenfern, gilt: Der durch die Biografie erkennbare Grund- und Ausgangsmodus der Kirchenbindung ist soziale Distanz. Nichtthematisierung und Nichtberücksichtigung sind der biografische Normalfall. Nur partiell und in je ganz unterschiedlicher Weise Wechseln die Biografien von Nichtthematisierung zur Thematisierung von Kirche und von ihrer Nichtberücksichtigung zu Berücksichtigung. Aus der Perspektive mediatisierter Kommunikation ist soziale Distanz somit nicht nur für vermeintlich kirchendistanzierte Menschen der Grund- und Ausgangsmodus der Kirchenbindung, sondern auch für vermeintlich kirchennahe. Unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft und der sie kennzeichnenden mediatisierten Kommunikationsform ist soziale Distanz für alle Kirchenmitglieder die Voraussetzung zur Gestaltung einer individuellen Form der Kirchenbindung. Die in kirchlichen Kreisen häufig anzutreffenden und dort sowohl auf analytischer als auch auf strategisch-operativer Ebene mit hohem Gewicht versehenen Kategorien von sogenannter Kernund Randgemeinde erweisen sich auf dieser Grundlage als irreführend und problematisch. Für alle Kirchenmitglieder, d.h. auch für diejenigen, die sich qua Selbstbeschreibung der sogenannten Kerngemeinde zurechnen, ist die je individuelle Kirchenbindung ein dynamisch verfasstes Geschehen im Spannungsraum von sozialer Distanz als kommunikativem Ausgangsmodus und sozialer Nähe als kommunikativem Ausnahme- und Sonderfall. Wie 310
die Kirchenbindung über den alle verbindenden Modus sozialer Distanz hinaus je individuell konturiert wird, zeigen die folgenden Abschnitte. 3.3 Distanz und Nähe – Variabilität der Kirchenbindung Die Fallbeispiele zeigen, dass soziale Distanz der Grund- und Ausgangsmodus von Kirchenbindung ist. Gleichwohl bieten die Biografien je ganz unterschiedlich konturiert Informationen über Erfahrungen und Erlebnisse, die die Biografinnen und Biografen im Laufe ihres bisherigen Lebens mit der Kirche gemacht haben. In solchen Fällen wechselt der Modus der Kommunikation über Kirchenbindung von sozialer Distanz zu sozialer Nähe. Unter dem Stichwort der Variabilität wurde diese Möglichkeit im Rahmen der Theorieskizze näher erläutert. Auf der Ebene interaktionsnaher Kommunikation konkreter Personen vollzieht sich der Wechsel von sozialer Distanz (Exklusion) zu sozialer Nähe (Inklusion) auf der sprachlichen Ebene. Konkret erfolgt der Wechsel, so wurde es oben in der Theorieskizze der mediatisierten Kommunikation beschrieben, über das Ansprechen bestimmter Sachverhalte, d.h. über Thematisierung (Inklusion). Thematisierung im Modus Sprache steht dabei nicht für eine Art Einheitsform sozialer Nähe. Vielmehr eröffnet das Medium Sprache vielfältige Möglichkeiten, ein Thema anzusprechen und auszuführen. Die durch Thematisierung kommunikativ vermittelte soziale Nähe kann völlig unterschiedlich konturiert sein. Sie reicht von kurzer Nennung eines Datums oder Faktums über ausführliche Ausgestaltung und Vertiefung. Im folgenden soll nun detailliert betrachtet werden, wie Kirche von den vier Biografien thematisiert wird, d.h. wie genau sich die Variabilität im Umgang mit dem Thema Kirche gestaltet. Das erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird der Tatsache Rechnung getragen, dass der Interviewer bei der Kontaktaufnahme mit den Befragten bzw. im Rahmen der Erzählaufforderung zu Beginn eines jeden Interviews das Thema Kirche bereits angesprochen und damit in die Interviewkommunikation eingetragen hat. Die Bitte an die Interviewten, bei der Schilderung der eigenen Lebensgeschichte auch Erfahrungen und Erlebnisse zu berücksichtigen, die mit der Kirche gemacht wurden, stellt einen spezifischen Erwartungshorizont in den Raum, zu dem sich die Befragten zwangsläufig verhalten müssen. Der erste Analyseschritt im Zusammenhang mit der Thematisierung von Kirche in den einzelnen Biografien betrachtet aus diesem Grund dezidiert, inwieweit dieser Erwartungshorizont die Gestalt der Interviewkommunikation prägt. Der zweite Schritt nimmt dann die jeweiligen Gesamtbiografien in den Blick und betrachtet die Konturen der in den Biografien anzutreffenden Thematisierungen von Kirche en detail. 311
3.3.1 Erwartungshorizonte Ein biografisch-narratives Interview reagiert auf spezifische Erwartungen. Diese Erwartungen werden einerseits vom Interviewsetting vorgegeben. So werden die Interviewpartner im Vorfeld des Interviews und auch in der Erzählaufforderung unmittelbar zu Beginn der Interviewkommunikation über Erwartungen informiert, die aus dem Forschungsinteresse resultieren. Andererseits reagiert ein biografisch-narratives Interview auch auf Erwartungen, die erst im Laufe der Interviewkommunikation erzeugt werden. Deutlich wird das beim Blick auf den typischen Verlauf einer Haupterzählung: Nachdem der Interviewer die Erzählaufforderung ausgesprochen hat, folgt eine von den Interviewten eigenständig komponierte freie Rede, die zunächst auf den gegebenen Erzählstimulus reagiert, auf Grund des Schweigens des Interviewers gleichzeitig aber darauf angewiesen ist, immer wieder neu Erwartungen imaginierend zu generieren, auf die der weitere Verlauf der Erzählung reagieren kann. Die Reaktionen auf diese Art von Erwartungen erlauben es zu rekonstruieren, welches die Erwartungshorizonte sind, die die Interviewten selbst mit dem Erzählstimulus und der Forschungsfrage assoziieren. Leitfragen, die im folgenden dazu dienen sollen, die Erwartungshorizonte der vier Fallanalysen miteinander zu vergleichen, lauten: – Was möchte die Sprecherin bzw. der Sprecher transportieren? – Was soll gesagt werden? – Welche Sprecherintention liegt dem Gesagten zugrunde? Es sei nochmals daran erinnert: Es geht bei all dem nicht um die psychische Realität oder Befindlichkeit der Handelnden Sprecherinnen und Sprecher. Es sind allein die vom Text kommunikativ erzeugten Personen, auf die sich die folgenden Analyseergebnisse beziehen.70 Der kontrastive Vergleich, der den Erwartungshorizont der vier Fallbeispiele fokussiert, setzt bei der minimalen Perspektive an. Dabei wird zunächst gefragt, an welcher Stelle der Interviewkommunikation das Thema Kirche erstmals angesprochen wird und welche Intention hinter der Erstthematisierung steckt. Der erste Blick lässt folgende Konturen erkennen: Herr A. und Frau B. kommen unverzüglich, noch im Rahmen der unmittelbaren Reaktion angesichts der Erzählaufforderung auf das Thema Kirche zu sprechen. Bei Herrn C. und Frau D. ist das dagegen erst später der Fall. Auch im Hinblick auf die Intention, die der Erstthematisierung von Kirche zugrunde liegt, gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Herrn A. und Frau B.: Beide wollen durch die Erstthematisierung von Kirche grundsätzlich darle70 Vgl. ebd., 373.
312
gen, wie das Verhältnis zur Kirche gestaltet ist. Herr A. bringt das mit folgenden Worten zum Ausdruck: Herr A.: Meine Eltern selbst waren nicht gläubig, mein Vater katholisch, Mutter evangelisch. Obwohl eben aus der mütterlichen Seite eben sehr viele Pastoren (mh)- also die ganze Familie eigentlich. Wir hatten noch sehr viele Bilder von-, also Ölschinken so, im Treppenhaus hängen und das waren eigentlich alle bis ins 17. Jahrhundert alles Priester gewesen (mh). Ich denke, da ist so eine Ader bei mir hochgekommen. Meine selbst war nicht gläubig. Wir gingen halt ein Mal im Jahr in die Kirche zu Weihnachten, wie das so üblich ist. (A/51–59)
Bei Frau B. wird die grundsätzliche Aussage zum Kirchenverhältnis dagegen mit diesen Worten artikuliert: Frau B.: Weil (mh) jetzt dadurch, dass ich jetzt in der Kirche mitarbeite, hat es schon damit zu tun, dass ich eigentlich von Kind an so geführt worden bin (ja, ja). Also ich würde jetzt hier nicht mitarbeiten, wenn ich nicht von zu Hause schon geprägt worden wäre (ja, ja, mh). Also das meinen Sie schon so. (B/25–29)
Die beiden Zitate zeigen, dass es zwischen Herrn A. und Frau B. zwar eine Übereinstimmung in der Funktion gibt, die die Erstthematisierung von Kirche erfüllt: Es wird gleichsam die Programmformel genannt, unter der das folgende zu lesen ist. Gleichzeitig lenken die Zitate den Blick auch auf Unterschiede zwischen den beiden Fallbeispielen und den hinter ihnen stehenden Erwartungshorizonten. Die Perspektive des maximalen Vergleichs verdeutlicht das. Herrn A.’s Erstthematisierung von Kirche geht eine ebenfalls programmatisch zu verstehende Aussage voraus, die das erzählte Ich als spirituell aktiv in Szene setzt. Herr A.: Und ich kann mich erinnern, dass ich schon als Junge schon-. Ich hatte eine sehr starke so spirituelle, schon Beziehung (mh), ich habe also- die natürlich auch auf Furcht basierte (mh). (A/43–45)
Kurz danach folgt das bereits wiedergegebene Zitat zum Kirchenverhältnis. Nimmt man beide Zitate zusammen, so kann die Intention, die hinter ihnen steht, darin gesehen werden, Herrn A. zwar als spirituell aktiven Menschen in Erscheinung treten zu lassen, der auf Grund der Familiengeschichte in gewisser Weise dafür prädisponiert ist („spirituelle Ader“!). Gleichzeitig wird jedoch unterstrichen: Für die von Herrn A. praktizierte Spiritualität spielt die Kirche keine maßgebliche Rolle. Die weitere Interviewkommunikation bringt das immer wieder deutlich zum Ausdruck. In den unterschiedlichen Lebensphasen und –situationen, in denen Herr A. geschildert wird, sind immer wieder dessen spirituelle Erfahrungen und Praktiken Thema. Seien es Gotteserfahrungen, die Herr A. im Rahmen seiner Landwirtschaftslehre in der Natur macht, seien es Gotteser313
fahrungen, die ihm bei der Ausübung seines Berufs als Schauspieler widerfahren, seien es die Erfahrungen im Zusammenhang des Sterbens der Eltern – vor allem der Mutter – oder seien es schließlich die Erfahrungen, die er bei der Praxis der Zen-Meditation erlebt. Dass Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche bei all dem keine Rolle spielen, unterstreicht insbesondere die Haupterzählung: Nach der anfänglichen programmatischen Äußerung kommt sie kein einziges Mal mehr auf das Thema Kirche zu sprechen. Wesentlich ist es dem Text, Herrn A. als Menschen zu zeichnen, dem es gelingt, durch eigene spirituelle Praxis und Erfahrung im Einklang mit sich selbst, seiner Umwelt und mit Gott zu leben. Die dem Zen zugrunde liegende Philososphie, das zeigt das folgende Zitat, schlägt sich dabei deutlich nieder. Herr A.: Ja, und so kann ich eigentlich sagen, Toderfahrungen, die haben mich sehr geprägt (ja), sehr geprägt (2). Aber ebenso jetzt auch diese Erfahrung bei den Sessions natürlich (ja) mit=mit-, ja, dieses Sitzen, den ganzen Tag, mehrere Tage hintereinander zu sitzen (mh) und sich wahrzunehmen, wie man ist (mh, mh) (6). Und danach die zehn- (3), wie alles ist-. Danach kommt man raus und sieht jeden Baum als ganz besondere-, jeden Stein, jeden Industriekomplex (mh, mh), alles einfach mit ganz anderen Augen. Natürlich ist so etwas wie Natur nach wie vor heilender von seiner Wirkung (mh) für mich, aber- (3). Ja, ich sehe nicht mehr-, es ist eine-. So etwas, was durch das Zen natürlich stattgefunden hat. So zum Beispiel eine Erfahrung: Ich sitze an einem Bach und habe das Gefühl, dass der Bach durch mich fließt (mh), also das Geräusch durch mich. Das, was mich früher, das Ich eben, was sehr hart war bei mir früher, was sehr getrennt hat von mir (mh) und meiner Umwelt, das weicht sich eben auf (mh, mh), und ich erfahre eben Gott als permanent in mir (mh). Wenn ich permanent-, das klingt so-, es gibt Tage, wo ich mich aus dem Paradies verbannt fühle (mh). Aber eigentlich so dieses ist zunehmend, dass ich mich als transpersonal empfinde (ja), also als mit den Dingen zusammengehörend (mh). Und das ist ein sehr schönes, das ist eine sehr schöne-. Dass ich sehr, sogar durch alles was ich denke, fühle, meine Umwelt beeinflusse, genauso wie meine Umwelt mich (mh) beeinflusst. (A/957–981)
Betrachtet man den Erwartungshorizont, der der Erzählung über Herrn A.’s Lebensgeschichte zugrunde liegt, in der Summe, dann ergibt sich folgendes Bild: Herr A. wird als spirituell und religiös aktiver Mensch beschrieben. Die frühe Thematisierung von Kirche und die gleichzeitige Abgrenzung von Kirche als Element der Pflege der eigenen Spiritualität bringen eine Differenzierung zwischen kirchlicher und persönlicher Spiritualität und Religiosität zum Ausdruck. Der weitere Verlauf der Erzählung legt unmissverständlich klar, dass der Text Herrn A. als autonom, aktiv und erfolgreich Handelnden in Sachen Spiritualität verstanden wissen will. Das Wesentliche, das der Text angesichts des angesprochenen Themas Kirche sagen möchte, kann etwa so formuliert werden: Entscheidend ist, dass man spirituell aktiv ist. Nicht entscheidend dagegen ist es, dass die spirituelle Praxis im kirchlichen Kontext erfolgt. 314
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Hinter dem Erwartungshorizont, den die Erzählung über Herrn A. erkennen lässt, steckt nicht der Slogan „Religion ja, Kirche nein“. Insbesondere der Nachfrageteil zeigt, dass Herr A. durchaus kirchliche Kontakte pflegt. Das macht er in typisch volkskirchlicher Weise, indem er vor allem das Kasualangebot der Kirche in Anspruch nimmt. Nur: Für die vom Text als wesentlich herausgestellte Pflege der eigenen Spiritualität spielt Herrn A.’s Kirchenmitgliedschaft keine Rolle. Das folgende Zitat bringt, das für Herrn A. kennzeichnende Gefüge zwischen Akzeptanz und Wertschätzung der Kirche und gleichzeitiger nicht vorhandener Inanspruchnahme zum Ausdruck: Herr A.: Sagen wir mal so: Ich weiß, dass die Kirche, das Gebet in der Kirche, ein Mantel ist. Zen-Buddhismus ist ein anderer Mantel. Der Inhalt ist komplett das Gleiche (mh). Es geht für mich um denselben Gott (mh). Nun ist jetzt die Praxis des Meditierens für mich eine, die ich eben überall ausführe (mh), und insofern ist es eine Fortentwicklung (mh), für mich eine-. Die hat was mit meinem Schlafen zu tun, mit meinem Gehen (mh), mit meinem Arbeiten, und ich finde die christliche Lehre einfach noch zu-, die ist mir zu platt (mh). Sehr oft im Protestantischen, wenn ich Predigten höre, das liegt mir überhaupt nicht, das ist mir zu sehr Tagespolitik (mh), die greifen mich also in meinen Tiefen nicht an (mh). Und in der katholischen ist sie mir oft zu verkrustet (mh). Aber wenn ich jetzt sozusagen Gemeinde hätte vor Ort, würde ich mit denen beten und meditieren (mh). Wenn ich den entsprechenden Pfarrer kennen würde, oder die Gemeinde auch. Die Gemeinde macht ja auch den Pfarrer, es geht ja nicht immer nur so rum. (A/1664–1679)
Bei Frau B. liegen die Dinge anders. Die Erzählung über ihre Lebensgeschichte rückt das in der Familiengeschichte gegründete Kirchenverhältnis nicht zur Seite, um dann – wie im Fall von Herrn A. – zu zeigen, welchen alternativen Weg zur kirchlichen Spiritualität Frau B. einschlägt. Vielmehr geht es hier darum, Frau B. als durch und durch kirchlich geprägt zu inszenieren: Frau B.: Geboren bin ich im [Name einer Landschaft] und (mh) in einer Großfamilie. Bin also das dritte Kind von vieren. Und meine Mutter ist Pfarrerstochter, also der Großvater, mein Großvater war Pfarrer. Und meine Mutter ist natürlich als Pfarrerstochter sehr geprägt gewesen durch das Pfarrhaus in der damaligen Zeit. Deswegen bin ich damit auch-, also mit Kindergebeten und (mh) dieser Fürsorge und (mh), ja-. (B/30–36)
Kirche wird hier nicht nur als Teil der Familiengeschichte zur Sprache gebracht, sondern als in der Familie verankerte Größe, die Frau B. entscheidend geprägt hat. Die Erstthematisierung von Kirche in der Erzählung über Frau B.’s Lebensgeschichte hat es bereits angedeutet und weitere Passagen über Frau B.’s frühe Prägung durch kirchliche Einflüsse präzisieren es: Entscheidend an Frau B.’s kirchlicher Prägung durch ihre Herkunftsfamilie sind die Aspekte Gemeinschaft und vor allem die Dimenison des 315
Handelns, die sich in der Möglichkeit zu prakizierter Nächstenliebe manifestiert. Dabei geht es dem Text nicht darum zu sagen, dass die Kirche der einzige Ort sei, an dem man diesen Werten Rechnung tragen könnte. Im Gegenteil: Nachdem die Erzählung Frau B.’s kirchliche Prägung geschildert hat, kommt sie kaum noch auf Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen, die Frau B. im Laufe ihres Lebens mit der Kirche gemacht hat. Stattdessen stehen nun die unterschiedlichen Etappen von Frau B.’s Berufsbiografie im Vordergrund. Der Zweck dieser Schwerpunktsetzung besteht darin zu zeigen, wie Frau B. an den unterschiedlichen Stationen ihrer Berufsbiografie versucht hat, ihren kirchlich geprägten Normen und Werten nachzukommen. Das gilt auch für das letzte Betätigungsfeld, auf das die Erzählung über Frau B. zu sprechen kommt – ihr Engagement im Kirchenvorstand. Auch hier geht es nicht darum, Frau B. als kirchlich zu inszenieren, weil sie sich im Kirchenvorstand betätigt. Stattdessen soll wie schon bei den vorangegangenen Etappen von Frau B.’s Lebensgeschichte gezeigt werden, ob und, wenn ja, wie der Kirchenvorstand ein Ort sein kann, an dem Frau B. ihren kirchlich geprägten Lebensmaßstäben Rechnung tragen kann. Ähnlich wie Herr A. zielt auch Frau B. darauf, die Dimension des Handelns stark zu machen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass für Frau B. der kirchliche Hintergrund nicht wie bei Herrn A. als Weg zur Pflege der eigenen Spiritualität ausscheidet. Im Gegenteil: Er ist die Basis, gleichsam das ethische Orientierungsinstrument, mit dem Frau B. durch das Leben geht. Der Erwartungshorizont, der der Erzählung über die Lebensgeschichte von Frau B. in Sachen Kirche zu entnehmen ist, lautet: Bei der Kirche kommt es vor allem darauf an, dass man nach bestimmten Werten – Gemeinschaft und praktizierte Nächstenliebe – handelt. Zweitrangig ist dagegen die Frage, wo das geschieht. Das kann im kirchlichen Kontext sein, wie z.B. im Rahmen eines Engagements im Kirchenvorstand. Das kann aber auch in jeder anderen Lebenssituation sein. Entscheidend ist das Dass und nicht das Wo. Nun zu Herrn C. und Frau D.: Die Gemeinsamkeit, die sich aus der Perspektive des minimalen Vergleichs zwischen beiden erkennen lässt, ist die relativ späte Thematisierung von Erlebnissen und Erfahrungen, die mit der Kirche gemacht wurden. Bevor die Erzählungen über die Lebensgeschichten von Herrn C. und Frau D. das Thema Kirche ansprechen, liegt ihnen daran, erst Grundsätzliches zu den jeweiligen Akteuren zu sagen. Und das hat – anders als bei Herrn A. und Frau B. – zunächst einmal nichts mit Kirche zu tun. Die folgende Erzählpassage bringt die Programmatik zum Ausdruck, die die Erzählung über Herrn C.’s Lebensgeschichte stark machen möchte. 316
Herr C.: Mein Vater ist 1991 an Prostatakrebs gestorben, (5) was er-. Er war eigentlich so die zentrale Figur in der Familie, und da ist dann eigentlich einiges abgebrochen in der Art und Weise, also es war so die treibende Kraft. Und ich habe in der ersten Phase mich als Nachfolger betrachtet, weil einfach meine Mutter zu der Zeit, wo der gestorben ist, nicht handlungsfähig gewesen ist. Und da musste ich halt die Dinge übernehmen. War allerdings zu der Zeit schon in [Name einer Großstadt]. (C/49–57)
Herr C. wird als Nachfolger seines Vaters inszeniert, der ein spezifisches Erbe anzutreten hat. Gekennzeichnet ist das Erbe durch die Behinderung des Vaters, die zu einer starken Leistungsorientierung geführt hat mit dem Ziel, trotz Behinderung immer etwas besser zu sein als die anderen. In diese Traditionslinie stellt der Text auch Herrn C.: Er wird als Mensch inszeniert, dem es darum geht, im Leben Leistung zu erbringen. Bei Frau D. gibt es ebenfalls eine Art grundsätzliches Motto, in dessen Licht der Text gleich zu Beginn der Interviewkommunikation Frau D. gestellt wissen will. Frau D.: Ja, da bin ich in die Grundschule gekommen auch hier in [Name eines Stadtteils] (4). Also von der ersten bis zur vierten Klasse da war ich eigentlich recht gut, so dass ich dann aufs Gymnasium bin. Fünfte, sechste Klasse und war eigentlich gar nicht so schlecht in der Schule. Allerdings war ich da irgendwie so sturköpfig, dass ich gesagt habe „Ich will...“, also ich wollte nicht studieren (mh). Ich habe mir gesagt „Wozu? Ich möchte nicht studieren, ich möchte Geld verdienen“, und das damals schon gesagt. Und habe dann deswegen entschieden, dass ich nach der sechsten Klasse runtergegangen bin auf die Realschule, weil ich mir gedacht habe, wofür muss ich das Abitur machen, für was? (mh) Und dass-. Meine Eltern haben mir das eigentlich, meine Entscheidung-. Die waren zwar nicht so begeistert drüber, weil sie gesagt haben, ich hätte es halt auch schaffen-. Also ich hätte es geschafft, wahrscheinlich, aber wenn ich nicht weiß, wofür ich es mache? [...] Und dann bin ich in die-, zur siebten Klasse eben auf die Realschule gegangen (mh). (D/42–58)
Frau D. hat Ziele im Leben – konkret gesprochen: Sie möchte Geld verdienen – und sie tut etwas dafür. Zweck- und Nutzenorientierung sind die entscheidenden Momente, die die Inszenierung Frau D.’s gleich zu Beginn der Interviewkommunikation ausmachen. Aus der Perspektive des minimalen Vergleichs gibt es zwischen Herrn C. und Frau D. auch eine Übereinstimmung bezüglich der Erstthematisierung von Kirche. Beide Erzählungen kommen erst auf Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche zu sprechen, als die Akteure selbst zum ersten Mal bewusst in ihrer Lebensgeschichte einer institutionalisierten Form von Kirche begegnen. Bei beiden geschieht das im Jugendalter. Im Fall von Herrn C. ist es der Konfirmandenunterricht, im Fall von Frau D. dagegen der Religionsunterricht in der Realschule. Die Perspektive des maximalen Vergleichs fördert die Unterschiede der Erwartungshorizonte zutage, auf die die Erzählungen über die Lebensge317
schichten von Herrn C. und Frau D. reagieren. Herr C. wird, wie bereits herausgearbeitet wurde, konsequent unter der Perspektive der Leistungsorientierung inszeniert. Dabei nimmt die Erzählung eine Spezifizierung vor und stellt als den Bereich, der Herrn C. in besonderem Maße die Möglichkeit zum Erbringen von Leistung bietet, die Sinnsuche heraus. Sinnsuche wird damit als wesentlicher Lebensinhalt Herrn C.’s kenntlich gemacht. Dabei ist dem Text sehr daran gelegen, für alle Lebensphasen und -stationen zu unterstreichen, dass Kirche ein wichtiger Ort ist für Herrn C.’s Leistungsstreben in Sachen Sinnsuche. In bilanzierender Weise bringt das das folgende Zitat auf den Punkt: Herr C.: Ich bin allerdings auch nach der Konfirmation schon immer noch, ich sage mal pseudoregelmäßig, zur Kirche gegangen. Und ich hab dann in der Nähe von [Name einer Stadt] in [Name einer Stadt] studiert. Und dort war eigentlich immer Kirche so eine Begleitung, so die Semestereröffnungsgottesdienste, irgendwelche Sonntagsgottesdienste, zu denen man ging. Und das behalte ich mir eigentlich bei. Wobei ich in die Kirche gehe, um aus der Kirche, ich denke, etwas zu gewinnen quasi. Und ich stelle oft fest, dass irgendwie irgendwelche Zweifel in mir sind als, dass komischerweise diese Predigt oft passt. Ich bestätige und stelle seit Jahren schon fest, dass-, lösen sich Dinge einfach auf. (C/135–145)
Neben dem Gottesdienst und vor allem dem Predigthören sind es Gespräche und Kontakte zu Pfarrerinnen und Pfarrern, die für Herrn C.’s Sinnsucheaktivitäten wichtig sind: Herr C.: Ja, dann ging es während der Studienzeit, ging es weiter mit diesen kirchlichen Kontakten, weil ich mich relativ gern mit irgendwelchen Pfarrern unterhalten habe. Das ist bis jetzt so. Ich verbringe ab und zu mal ein Wochenende in einem Kloster. Und in [Name eines Klosters], wer [Name einer Großstadt] kennt-. Und es geht=es ist ganz interessant. (C/160–165)
Der Erwartungshorizont von Herrn C., so weit er bis zu dieser Stelle erhoben werden kann, besteht darin, Sinnsuche als wesentliche Lebensleistung zu benennen und gleichzeitig zu unterstreichen, dass die Kirche dabei eine wichtige Rolle spielt – vor allem mit ihrem gottesdienstlichen Angebot, und dabei vor allem der Predigt, und, personifiziert durch Pfarrerinnen und Pfarrer, der Möglichkeit, Gespräche über Sinnfragen führen zu können. Wichtig ist dem Text aber auch, die Rolle und die Funktion der Kirche in einen weiteren Kontext zu stellen und zu spezifizieren. So traut der Text der katholischen Kirche hinsichtlich des Umgangs mit Sinnfragen nicht sehr viel zu: Herr C.: Die Kinder sind übrigens katholisch erzogen. Eigentlich bin ich nicht besonders glücklich damit, weil mir so einige Dinge an der katholischen Kirche nicht behagen, wie zum Beispiel Zölibat, wie zum Beispiel die Papstfigur, wie zum Beispiel das weltliche Machtstreben, letztendlich, was in der evangelischen Kirche bestimmt auch vorhanden ist, aber nicht so deutlich präsentiert wird, sag ich mal. Und die Rolle
318
der Kirche oder die Haltung der katholischen Kirche zur Verhütung oder=oder zur Abtreibung oder so was, da wäre mir schon etwas eine liberalere Sicht der Dinge. Und ich, vielleicht ist das für [Name einer Großstadt] typisch, bin eigentlich nicht geneigt, in die katholische Kirche zu gehen, weil ich dort die Predigten irgendwie weniger gehaltvoll finde, wie es eigentlich bei Evangelen-. Also es ist eine andere Orientierung aus meiner Sicht jetzt, die nicht maßgeblich ist, und die kommt rein aus meiner Empfindung. (C/232–246)
Der Erwartungshorizont, dass Kirche eine kompetente Instanz für Sinnfragen ist, wird durch die Abgrenzung von der katholischen Kirche zunächst einmal an die evangelische Kirche gebunden. Gleichzeitig geht es dem Text aber auch darum, Herrn C.’s Sinnsucheaktivitäten nicht kirchlich eng zu führen. So unterstreicht der Text, dass das Wesentliche des religiösen Interesses Herrn C.’s Orientierung in Sinnfragen und praktizierte Nächstenliebe seien. Abgesehen vom Islam unterstreicht der Text im diesem Zusammenhang ein großes Interesse Herrn C.’s an anderen Religionen und insbesondere an mystischen Traditionen. Überblickt man den Erwartungshorizont, wie er der Erzählung über Herrn C.’s Lebensgeschichte zu entnehmen ist, als ganzen, dann können folgende Konturen festgehalten werden: Entscheidend im Leben Herrn C.’s ist es, Leistung zu erbringen. Das bezieht sich nicht auf den beruflichen Bereich oder darauf, materielle Werte anzusammeln. Es bezieht sich vielmehr auf den Bereich der Sinnsuche. Herr C. wird in der Summe als aktiver Sinnsucher inszeniert. Dabei ist der Erzählung daran gelegen, der Kirche – d.h. besonders der evangelischen Kirche – eine wichtige Rolle im Rahmen von Herrn C.’s Sinnsucheaktivitäten zuzuweisen. Als kompetente Instanz für Sinnfragen ist die Kirche für Herrn C. interessant und wird sie von ihm folglich auch genutzt. Bei Frau D. liegen die Dinge anders. Wie das oben wiedergegebene Zitat zum Ausdruck bringt, formuliert auch die Erzählung über ihre Lebensgeschichte gleich zu Beginn eine Art Motto, wie Frau D. als Akteurin verstanden werden soll. Die Stichworte Zweck- und Nutzenorientierung stehen für dieses Motto. Entscheidend für die Erhebung des Erwartungshorizonts, auf den die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte reagiert, ist die hohe Bedeutung der sozialen Dimension, die der Erzählung zu entnehmen ist. Neben dem Geldverdienen ist es das gelungene Eingebundensein in soziale Beziehungsgefüge, das die Nutzen- und Zweckorientierung Frau D.’s maßgeblich bestimmt. Eingebundensein in ein soziales Beziehungsgefüge und Geldverdienen, das sind die Momente, die die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte als das Wesentliche im Leben herausstellt. Im Unterschied zu Herrn C., so wird es in der Perspektive des maximalen Vergleichs erkennbar, spielt Kirche im Rahmen dieser Lebensorientierung keine entscheidende Rolle. 319
Werden in der Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte dennoch Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche angesprochen, dann ist es jedoch gerade der Aspekt der Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge, um den es dabei im wesentlichen geht. Seien es die Schilderungen über die positiven Erlebnisse mit der Religionslehrerin im Religionsunterricht der Realschule, sei es die Konfirmandenfreizeit – stets wird Kirche thematisiert, weil es um gelungene Formen der sozialen Einbindung Frau D.’s geht. Genauso wird Kirche thematisiert, wenn Kirche diesem sozialen Zweck nicht mehr Rechnung trägt. So wird der Gottesdienstbesuch an Heiligabend eingestellt, wenn er die familiäre Gemeinschaft trennt, weil die Großeltern nicht mehr mitkommen können. Ebenso wird Frau D.’s Kirchenaustritt mit der Tatsache begründet, sie ginge nicht mehr zur Kirche und nehme nicht mehr am Gemeinschaftsleben der Gemeinde teil. In Bezug auf die kirchliche Trauung Frau D.’s ist es stärker der Nutzen- als der Gemeinschaftsaspekt, der die Kontaktaufnahme mit der Kirche motiviert: Frau D. und ihr Mann verfolgen einen bestimmten Zweck bzw. ein bestimmtes persönliches Ziel, nämlich die kirchliche Trauung, und treten deshalb in Kontakt zum Pfarrer. Für Frau D. bedeutet das, wieder in die Kirche eintreten zu müssen. Die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte ist gegenüber der reinen Kosten-Nutzen-Kalkulation in Sachen Kirche aber auch bestrebt, die Frage des Kirchenkontakts und die generelle Frage nach dem Glauben zu differenzieren. Frau D.: Eigentlich eine finanzielle Sache (mh), ganz=ganz muss ich zugeben, (ja) dass das eigentlich-. Ich bin nicht, ich sag mal, ich bin nicht in die Kirche gegangen (mh). Und, haja „Wozu zahle ich das? (mh) Ich gehe nicht hin, also-.“ Ich glaube, also ich bin gläubig sozusagen. Ich glaube an Gott. Da habe ich mit dem [Name eines Pfarrers] mal diskutiert (ja), also wie da=wie da beim Traugespräch (ja) und so. Da habe ich das auch, sag ich-, „Um an Gott zu glauben, muss ich an die Kirche an die Kirche glauben da“, hat er gesagt. Nein, dann würde man an irgendjemand (mh) glauben, aber nicht an den christlichen Gott. Ich meine, das sehe ich jetzt immer noch ein bisschen anders, aber- (4) (mh). Ich bin halt nicht so jemand, der am Wochenende, der die=die Gemeinde braucht (mh), oder was weiß ich. Weil, ich habe meine Freunde, meine Familie (ja), meine Umgebung und muss jetzt nicht um=um-. Das hebt er ja so hoch der Herr [Name eines Pfarrers] also. Darf ich das alles sagen ja? (ja ja) Dann heißt es nachher- (es ist alles anonym und so). Er meinte halt dann so (3) ja, dass man halt die Gemeinde braucht (ja) und-, um halt gläubig zu sein. Und (mh) das sehe ich halt nicht so, also, und deswegen habe ich halt aus finanziellen Gründen-. (D/978–996)
Das Zitat markiert zugleich eine Gemeinsamkeit wie auch in noch stärkerem Maß einen Unterschied zu Herrn C.: Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass Frau D. ebenso wie Herr C. an einer übergeordneten Fragestellung – der Frage nach Gott und dem Glauben – interessiert ist. Der ent320
scheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass sie die Kirche dafür nicht so intensiv in Anspruch nimmt wie Herr C. Frau D. nimmt sie nur in Anspruch, wenn sie mit ihrer Zweck- und Nutzenorientierung in Einklang zu bringen ist. Für die Frage nach Gott und dem Glauben dagegen greift sie auf die Kirche nicht zu. Versucht man den Erwartungshorizont, auf den die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte reagiert, in seinen wesentlichen Konturen nachzuzeichnen, ergibt sich folgendes Bild: Grundsätzlich ist das Leben davon bestimmt, bestimmte Zwecke zu verfolgen und einen bestimmten Nutzen zu erzielen. Bei Frau D. sind das die gelungene Einbindung in ein soziales Beziehungsgefüge und das Geldverdienen. Daran hat sich alles im Leben zu messen. So wird auch die Kirche unter dem Kosten-Nutzenprinzip wahrgenommen. Sie ist eine Instanz, die sich in der Perspektive Frau D.’s daran messen lassen muss, ob man in ihr Gemeinschaft findet und ob sie zur Realisierung anderer persönlicher Zielsetzungen – wie bspw. der kirchlichen Trauung – einen Beitrag leistet. Geht die Kosten-Nutzen-Rechnung auf, wird der Kontakt mit der Kirche und auch die Kirchenmitgliedschaft aufrechterhalten. Geht diese Rechnung dagegen nicht auf, erfolgt der Abbruch des Kontakts. Weitet man den Blick des kontrastiven Vergleichs der Erwartungshorizonte, auf die die biografischen Erzählungen reagieren, auf alle vier Fallbeispiele, so kann folgendes beobachtet werden: Die erste Zuordnung aus der Perspektive des minimalen Vergleichs, wonach eine Nähe zwischen Herrn A. und Frau B. einerseits so wie zwischen Herrn C. und Frau D. andererseits festgestellt wurde, kann auf Grund der Befunde des maximalen Vergleichs der vier Fallbeispiele nicht aufrecht erhalten bleiben. Stattdessen werden gewisse Ähnlichkeiten zwischen Herrn A. und Herrn C. sichtbar. Beide Erzählungen zielen darauf, die Akteure als aktiv Handelnde in Sachen Bewusstseinsarbeit zu inszenieren. Bei Herrn A. ist das der Bereich der Spiritualität, bei Herrn C. der Bereich der Sinnsuche. Beide Erzählungen bringen zum Ausdruck, dass zwischen der Bewusstseinsarbeit der Akteure und der Kirche eine große Nähe besteht. Der Unterschied zwischen Herrn A. und Herrn C. liegt lediglich darin, dass sie die Kirche im Rahmen ihrer eigenen Bewusstseinsarbeit auf je unterschiedliche Weise nutzen: Herr A. überhaupt nicht, Herr C. dagegen sehr intensiv. Übereinstimmung herrscht in beiden Fällen darin, dass Kirche nicht der alleinige Ort ist, der Hilfestellung in Sachen Bewusstseinsarbeit leistet. Auch zwischen Frau B. und Frau D. gibt es Ähnlichkeiten, die die Unterschiede deutlich überwiegen. Beide werden von den Texten rückgebunden an eine normative Prägung. Bei Frau B. sind das die Werte der Gemeinschaft und praktizierter Nächstenliebe, bei Frau D. ist es ebenfalls der Wert 321
der Gemeinschaft und des materiellen Zugewinns (Geldverdienen!). Zwar spielt die Kirche bezogen auf die Genese dieser Normen bei Frau B. und Frau D. eine völlig unterschiedliche Rolle. So führt der Text über Frau B.’s Lebensgeschichte die Genese der Werte direkt auf kirchliche Prägungen zurück. Bei Frau D. ist das dagegen überhaupt nicht der Fall. Doch gibt es eine bedeutende Übereinstimmung zwischen beiden Fällen: Die Lebensgeschichten, die unterschiedlichen Lebensetappen und -stationen werden jeweils aus der Perspektive der zugrunde liegenden Normen dargestellt und auch evaluiert. Sowohl Frau B. als auch Frau D. gehen dabei nicht besonders stark auf die Kirche ein. Erlebnisse und Erfahrungen mit der Kirche stehen auf einer Ebene mit anderen Erlebnissen und Erfahrungen, auf die die Erzählungen jeweils zu sprechen kommen. Genauso wie alle anderen Lebensetappen und -stationen, so werden auch diejenigen, bei denen die Kirche eine Rolle spielt, aus der Perspektive des jeweils zugrunde liegenden Normenrasters geschildert und bewertet. Sowohl bei Frau B. als auch bei Frau D. hat sich Kirche auf der Grundlage der bestimmenden Normen zu bewähren. Damit wird sie bei Frau B. und Frau D. stärker als Gegenüber wahrgenommen, bei Herrn A. und Herrn C. dagegen stärker als eine Art Kooperationspartnerin – sei es potentiell oder faktisch –, die Unterstützung zu einer zu bewältigenden Lebensaufgabe bietet. 3.3.2 Einordnung des Themas Kirche in die Gesamtbiografie Im Rahmen der bisher vorgenommenen synthetisch-fallübergreifenden Analyse wurde der Frage nach der Einordnung von Erfahrungen und Erlebnissen mit der Kirche in biografische Kontexte, in Lebenskonzepte und textlich erzeugte Sinnhorizonte bereits intensiv nachgegangen. Dabei war die biografische Gesamtbewertung von Kirche eher ein latentes Thema. Jenseits der Frage nach textstrukturellen Bedingungen und nach der Komposition unterschiedlicher Thematisierungsebenen richtet sich der Fokus im folgenden ausschließlich auf das Thema Kirche, wie es sowohl in den Haupterzählungen als auch den Nachfrageteilen der Interviews angesprochen wird. Die Beantwortung von vier Leitfragen steht dabei im Mittelpunkt: – Welche Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche werden angesprochen? – Welche Motivation seitens der Sprecherin bzw. des Sprechers liegt den angesprochenen kirchlichen Kontakten zugrunde? – Welcher biografische Stellenwert wird den angesprochenen Erfahrungen und Erlebnissen mit der Kirche beigemessen? – Wie wird das Thema Kirche evaluiert? 322
Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche Überblickt man die Erzählung über Herrn A.’s Lebensgeschichte insgesamt, so werden dort vermutlich alle Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche angesprochen, an die sich Herr A. erinnern kann. Konkret handelt es sich dabei um die Besuche des Weihnachtsgottesdienstes in Herrn A.’s Kindheit, seine Konfirmation, die kirchliche Trauung, die Taufe seiner Kinder und die kirchlichen Bestattungen seiner Eltern. Es kennzeichnet die Erzählung über Herrn A.’s Lebensgeschichte, dass alle diese Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche erst veranlasst durch entsprechende Impulse des Interviewers im Nachfrageteil des Interviews zur Sprache kommen. Aus freien Stücken werden sie im Rahmen der Haupterzählung nicht thematisiert (Exklusion). Die Selektivität des Textes setzt hier andere Schwerpunkte. Betrachtet man sich das Spektrum der angesprochenen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche von Herrn A. als ganzes, so kann es mit seiner Fixierung auf den Weihnachtsgottesdienst und die Kasualien als typisch volkskirchliches Partizipationsmuster qualifiziert werden. Anders verhält es sich bei Frau B. Die Erzählung über ihre Lebensgeschichte spricht die typisch volkskirchlichen Berührungspunkte mit der Kirche gerade nicht an. Vielmehr sind es die untrennbar mit Frau B.’s Lebensgeschichte verwobenen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche, die thematisiert werden – und das ohne eigens darauf zielenden Erzählstimulus bereits im Rahmen der Haupterzählung. Zu nennen ist Frau B.’s familienbedingter Kontakt zur Kirche, der sich aus der Tatsache ergibt, dass der Großvater Pfarrer und die Mutter folglich Pfarrerstochter ist. Ferner sind Frau B.’s Erfahrungen, die sie im christlichen Hospiz in Rom oder auch bei ihrer Tätigkeit als Kinderkrankenschwester in einem von katholischen Nonnen geführten Krankenhaus macht, zu nennen, so wie schließlich ihre Mitwirkung im Kirchenchor und ihr Engagement im Kirchenvorstand. All diese Berührungspunkte mit der Kirche ergeben sich aus dem spezifischen Verlauf von Frau B.’s Lebensgeschichte. Kasualien oder andere Gottesdienstbesuche werden von der Erzählung über Frau B.’s Lebensgeschichte dagegen kein einziges Mal erwähnt. Bei Herrn C. wiederum liegt eine Mischung aus volkskirchlich bedingten und rein individuell bedingten Kirchenkontakten vor. So geht die Erzählung vor allem im Rahmen der Haupterzählung auf die direkt an die Person Herrn C.’s rückgebundenen Kirchenkontakte ein. Zu nennen sind hier das Erlebnis, das er mit dem Jugendbetreuer bei der Konfirmandenfreizeit hatte, die persönlichen Kontakte zu und Gespräche mit Pfarrerinnen und Pfarrern sowie seine Gottesdienstbesuche mit dem Ziel, durch die Predigten eine Art Orientierungshilfe zu erhalten. Im Nachfrageteil spricht die Erzählung verstärkt Kasualien an, die Herr C. in seiner bisherigen Lebensgeschichte 323
erlebt hat – das im Vergleich zu den ihn ganz persönlich betreffenden Berührungspunkten mit der Kirche jedoch stets nur sehr knapp. Zu nennen sind seine kirchliche Trauung, Taufe, Erstkommunion und Firmung seiner Kinder und schließlich die Beerdigung seines Vaters. Die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte ähnelt bezüglich der angesprochenen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche wiederum dem Muster Herrn A.’s. Auch die Erzählung über ihre Lebensgeschichte nennt mit Kinderbibelwoche, Konfirmandenunterricht, schulischem Religionsunterricht und kirchlicher Trauung mit Taufe des Sohnes typisch volkskirchliche Berührungspunkte mit der Kirche. Bezogen auf die in den biografischen Erzählungen angesprochenen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche sticht vor allem die Erzählung über Frau B.’s Lebensgeschichte hervor: Im Unterschied zu den anderen Erzählungen geht sie mit keinem Wort auf volkskirchliche Berührungspunkte mit der Kirche ein. Alle Erfahrungen und Erlebnisse mit Kirche, die diese Erzählung thematisiert, sind rein lebensgeschichtlich individueller Natur. Ganz anders die Erzählungen über die Lebensgeschichten von Herrn A. und Frau D.: Hier werden ausschließlich volkskirchlich geprägte Formen des Kirchenkontaktes angesprochen. Eine Mischform zwischen Frau B. einerseits und Herrn A. und Frau D. andererseits stellt die Erzählung über Herrn C.’s Lebensgeschichte dar: Sie berücksichtigt sowohl lebensgeschichtlich individuelle Berührungspunkte mit der Kirche als auch volkskirchlich bedingte Formen des Kirchenkontakts. Motivation des Kirchenkontakts So sehr die Erzählung über Herrn A.’s Lebensgeschichte im Nachfrageteil vermutlich auf alle kirchlichen Kontakte, die Herr A. im Laufe seiner bisherigen Lebensgeschichte hatte, zu sprechen kommt, so wenig wird Herr A. als Akteur inszeniert, dem sich die Motivation zur Kontaktaufnahme mit der Kirche verdankt. Herrn A.’s Kirchenkontakte sind Kasualkontakte auf der Ebene des Jahreszyklus’ und des Lebenslaufs. Als solche verdanken sie sich gesellschaftlichen Mustern und stellen sich gleichsam ohne das Zutun Herrn A.’s ein. Auch die Erfahrungen und Erlebnisse, die Frau B. mit der Kirche macht und von denen die Erzählung über ihre Lebensgeschichte berichtet, verdanken sich nicht der Motivation Frau B.’s. Ihre von der Erzählung als kontingent strukturiert dargestellte Lebensgeschichte führt sie in Situationen und an Orte, die Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche mit sich bringen. Sie selbst trägt nichts dazu bei. Der Unterschied zu Herrn A. besteht – wie oben bereits herausgearbeitet – darin, dass Frau B.’s Berührungspunkte mit der Kirche sich nicht den volkskirchlichen Kontaktformen verdanken, sondern rein individuell lebensgeschichtlichen. 324
Herr C. dagegen wird vom Text als motivierter Mensch geschildert, wenn es darum geht, Kontakt zur Kirche herzustellen. Seine Motivation zielt vor allem auf die Herstellung des Kontakts zu Pfarrerinnen und Pfarrern sowie den Besuch von Gottesdiensten und das Hören von Predigten. Hinsichtlich der weiteren vom Text geschilderten Berührungspunkte mit der Kirche ist eine Motivation Herrn C.’s dagegen nicht erkennbar. Ebenfalls als motiviert in Sachen Kontaktaufnahme mit der Kirche wird Frau D. beschrieben. Allerdings zielt die Motivation in ihrem Fall ebenso wie bei Herrn C. auf einen ganz spezifischen Bereich des Kirchenkontakts: Die kirchliche Trauung. Um diese zu ermöglichen, so schildert es der Text, tritt Frau D. wieder in die Kirche ein. Was die weiteren kirchlichen Kontakte betrifft, die die Erzählung über Frau D.’s Lebensgeschichte nennt, ist dagegen keine Motivation Frau D.’s erkennbar. Der Überblick über alle vier Fallbeispiele zeigt hinsichtlich der Motivation zum Kirchenkontakt diesmal eine Nähe zwischen Herrn A. und Frau B. einerseits und Herrn C. und Frau D. andererseits. Biografischer Stellenwert der Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche Die bisherigen Analyseergebnisse des kontrastiven Vergleichs im Allgemeinen und diejenigen zur Frage nach der Einordnung von Erfahrungen und Erlebnissen mit der Kirche im Speziellen lassen es bereits erkennen: Für die Gesamtbiografie von Herrn A. spielt die Kirche keine besondere Rolle. Die Berührungspunkte mit der Kirche sind gesellschaftlich bedingt und kasueller Natur, es ist keine Motivation zur Kontaktaufnahme mit der Kirche erkennbar und auch hinsichtlich der Bewältigung des von der Erzählung herausgestellten Bezugsproblems sind Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche unbedeutend. Bei Frau B. ist das anders. Zwar geht die Erzählung über ihre Lebensgeschichte nicht sehr häufig auf Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche ein. Dennoch spielt die Kirche im Rahmen dieser Erzählung eine herausragende Rolle. Schließlich sind es kirchliche Prägungen, die Frau B.’s Verhalten im Laufe der Lebensgeschichte bestimmen. Die kirchliche Prägung im Milieu von Pfarrer- und Lehrerkreisen in den Nachkriegsjahren wird in der Erzählung als das entscheidende Instrumentarium für Frau B.’s Lebensorientierung und -gestaltung inszeniert. Einen ebenfalls hohen Stellenwert spielen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche in der Erzählung über die Lebensgeschichte von Herrn C.: Gespräche mit Pfarrerinnen und Pfarrern sowie Gottesdienstbesuch und Predigthören werden verteilt über die Erzählung immer wieder als wichtige Formen der Sinnsuche Herrn C.’s inszeniert. Anders dagegen wieder bei Frau D.: Auch wenn die Erzählung über ihre Lebensgeschichte in einem konkreten Fall schildert, wie die Motivation zur 325
Kontaktaufnahme mit der Kirche von Frau D. ausgeht, so spielen Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche aufs Ganze gesehen keine wesentliche Rolle für Frau D. In der Zusammenschau ergibt sich unter dem Aspekt des biografischen Stellenwerts von Kirche eine Nähe zwischen Herrn A. und Frau D. einerseits – Kirche spielt hier keine bzw. keine sehr große Rolle – und zwischen Frau B. und Herrn C. andererseits – bei ihnen ist Kirche ein wesentlicher Faktor in der Gesamtbiografie. Evaluation von Kirche Nachdem nun die in den Erzählungen über die unterschiedlichen Lebensgeschichten genannten Erfahrungen und Erlebnisse nebeneinandergestellt wurden, die Frage nach der Motivation zur Kontaktaufnahme mit der Kirche näher betrachtet wurde und schließlich der Stellenwert, den Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche in den Biografien spielen, ermittelt und verglichen wurde, soll abschließend betrachtet werden, wie die Erzählungen die Kirche insgesamt bewerten. Dazu wird auf aussagekräftige Zitate aus den Erzählungen zurückgegriffen. So ist der Erzählung über die Lebensgeschichte Herrn A.’s folgendes Zitat zu entnehmen: I: Wenn Du so schildern solltest wie-, ja, welche Rolle die Kirche auf ganz unterschiedliche Art und Weise, auch in einem sehr weiten Sinne, in Deinem Leben spielt, wie würdest Du das beschreiben? B: Die Kirche als Institution spielt für mich keine wesentliche Rolle mehr. Aber ich weiß-, ich unterstütze sie weiter durch meine Kirchensteuer, weil ich weiß, dass sie eine wahnsinnig wichtige Funktion in dieser Gesellschaft hat. Wenn ich mir denke, dass die Seelsorger in den Gemeinden wegbrechen würden (mh), wenn Gemeinden schließen würden, was für eine zunehmende Verelendung in dieser Gesellschaft (mh) sich Raum greifen würde, also eine menschlich, eine herzensmäßige Verelendung (mh), eine seelische, dass ich glaube, dass sie für ganz viele Leute wichtig sind. (A/1651–1663)
Das Zitat fällt eindeutig positiv aus. Angesichts der bisherigen Analyseergebnisse, wonach sich Herrn A.’s Kirchenkontakte auf kasuelle Formen beschränken, von ihm keine Motivation zur Kontaktaufnahme ausgeht und Kirche in der Gesamtbiografie keine wesentliche Rolle spielt, mag die positive Evaluation überraschen. Andererseits zeigt die spezifische Konstellation von niedriger biografischer Relevanz der Kirche für Herrn A. bei gleichzeitig positiver und wertschätzender Evaluation, dass das eine das andere nicht ausschließen muss. Umgangssprachlich formuliert: Warum soll man die Kirche nicht gut finden, auch wenn man sie selbst nicht nutzt? Ambivalent ist die Evaluation der Kirche dagegen im Fall von Frau B.: 326
B: Mit der Kirche oder mit meiner Kirche ((lachend))- (Sie entscheiden)-. Positives Erlebnis ist natürlich, dass, ich sage jetzt mal, ich hingekriegt habe, dass wir das hundertjährige Jubiläum feiern konnten. Mit allem drin, was ich mir gewünscht habe (mh) und was dann auch funktioniert hat. Dass also die Jugend mitgemacht hat. Die haben ja die Unterführung ausgemalt. Dass in allen Sparten Musik, Malerei, Märchenerzählen und so weiter, das alles realisiert werden konnte und dann eben auch schön geworden ist (ja). Also dahinter steht die Idee umzusetzen und dass es auch wirklich realisiert werden konnte und alle dann mitgemacht haben. Also, dass man mit irgendetwas-, alle zusammen irgendetwas machen kann (2). Das war für mich wirklich sehr positiv (4). Das Negative ist halt auch-, Personen-. Also, dass ich einfach von Personen enttäuscht war, von der Zwiegesichtigkeit (mh). Und was mir doch auch immer mal wieder unterkommt, also was ich immer wieder erlebt habe, und das ist angefangen von den Diakonissen und jetzt eben auch bei manchen Hauptamtlichen-, dass ich auch persönlich alleine gelassen worden bin, ja ((lachend)). (B/1287–1304)
Frau B., so schildert es der Text und so lässt es auch das Zitat erkennen, hat im Laufe ihrer bisherigen Lebensgeschichte ihre Erfahrungen mit der Kirche gemacht. Da es sich bei den Erfahrungen und Erlebnissen, die Frau B. mit der Kirche gemacht hat, stets um intensive Formen der Interaktion (gemeinsames Leben und Arbeiten) gehandelt hat, überrascht diese Evaluation nicht: Wo Menschen zusammen leben und arbeiten, gibt es schöne Erlebnisse, aber auch Enttäuschungen. Eindeutig positiv dagegen fällt wieder die Evaluation bei Herrn C. aus: B: Ich sehe die Rolle der Kirche als Institution zum einen als eine soziale Einrichtung. Weil das Wesentliche am Christentum soll Nächstenliebe empfinden. Wortklauberei, da halte ich nichts davon. Das ist nicht mein Ding. Aber man spürt etwas, und das ist für mich so etwas, was die Kirche für mich darstellt: Lebenshilfe, Orientierung. (C/1731–1736)
Mit den Stichworten „Lebenshilfe“ und „Orientierung“ deutet der Text einen Zusammenhang an zwischen dem, was für Herrn C. das Wesentliche im Leben ist, nämlich die Suche nach Sinn, und dem Angebot der Kirche. Hier passt das eine zum anderen mit dem Ergebnis einer positiven Evaluation. Ebenfalls positiv fällt die Evaluation im Fall von Frau D. aus: I: Ja, Traumtaufe, da haben wir drüber gesprochen. Jetzt würde mich so zum Schluss noch mal interessieren, was so Ihr schönstes Erlebnis irgendwie mit der Kirche war und ihr Erlebnis, wo Sie sagen würden, das war eigentlich gar nichts oder so, wenn es so was gibt? B: Es gibt eigentlich gar nichts, also ich habe wie gesagt nicht so ein intensives Ding (ja). Also immer in diesen Zeiten als Jugendlicher oder als Kind die Kinderbibelwoche oder so (ja ja), wo ich eigentlich schöne Erinnerungen habe (ja) dran. Aber so, dass ich jetzt irgendein schlechtes Erlebnis mit der Kirche habe, kann ich überhaupt nicht sagen (mh). Gab es eigentlich gar nicht (mh). Ich habe auch, auch in der
327
Schule-, also Religionslehrerinnen oder-, es war eigentlich immer positiv (ja), kann ich eigentlich sagen (mh). Ich kann, obwohl ich dann nie immer so regelmäßig in die Kirche gegangen bin (ja) oder so (ja)-, aber ich kann jetzt kein negatives Erlebnis-. Das Schönste war natürlich schon die Trauung und die Taufe, (mh) auf jeden Fall. Das war schon das Schönste (mh). Und natürlich halt die Freizeiten (ja) und-. Aber das war jetzt halt echt nicht so mit der Kirche zu tun (ja), weil irgendwie ist es halt mehr die=die Gruppe und (mh) die (4) (mh), ja. (D/1545–1564)
Angesichts des geringen Stellenwerts, den die Kirche in Frau D.’s Biografie einnimmt, mag die positive Evaluation ähnlich wie im Fall von Herrn A. auf den ersten Blick überraschen. Auf den zweiten Blick jedoch mag die Erkenntnis folgen: Nicht die Quantität, sondern die Qualität der kirchlichen Kontakte bzw. Erfahrungen und Erlebnisse bestimmt die Evaluation. Betrachtet man alle in den vier Fallbeispielen gegebenen Evaluationen im Überblick, so ergibt sich – von einer Einschränkung bei Frau B. abgesehen – ein durchweg positives Bild von Kirche. Bemerkenswert dabei ist, dass dieses Bild so ausfällt, obwohl zwischen den vier Fallbeispielen erhebliche Unterschiede zwischen der Art der Kirchenkontakte und den damit einhergehenden Erfahrungen und Erlebnissen bestehen. Ebenso groß sind die Unterschiede hinsichtlich der persönlichen Motivation, in Kontakt mit der Kirche zu treten, und in Bezug auf den Stellenwert der Kirche in der Gesamtbiografie. Nimmt man diese Tatsache ernst, dann wird deutlich, dass die biografische Relevanz von Kirche und die Evaluation von Kirche als voneinander unabhängige Variablen zu betrachten sind. Rückschlüsse wie beispielsweise hohe Partizipation – positive Evaluation oder niedrige Partizipation – negative Evaluation scheinen auf den ersten Blick zwar plausibel. Auf Grund der hier angestellten Beobachtungen sind sie jedoch nicht haltbar. Die Idee der sprichwörtlichen Abstimmung mit den Füßen ist auf den Bereich der Kirchenbindung nicht anwendbar. 3.4 Zusammenfassung und Resümee Mit der synthetisch-fallübergreifenden Analyse ist der empirische Teil der vorliegenden Untersuchung abgeschlossen. Eine prägnante Zusammenfassung der Ergebnisse sollte die Einzelfälle in ihrer je individuellen Typik erkennbar werden lassen und gleichzeitig Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Einzelfälle im Vergleich mit den je anderen Fällen sichtbar machen. Die je individuellen Konturen der Biografisierung im Allgemeinen und die je individuell mediatisierten Formen der Kirchenbindung im Speziellen sollten überblicksweise erfassbar sein. Diesen Anforderungen trägt eine grafische Darstellungsform in besonderer Weise Rechnung. Die Komplexität der Untersuchungsergebnisse kann in übersichtlicher Art und Weise 328
veranschaulicht und die beobachteten Einzelfälle können gegenübergestellt werden. Diese Art der Ergebnissicherung stellt das empirische Material in komprimierter Form den folgenden praktisch-theologischen Reflexionen zur Verfügung.
Ergebnisübersicht Herr A.
Frau B.
Herr C.
Frau D.
Die kontrollierte Bedrängnis
Auf dem Weg zu einem geeigneten Lebensraum
Sinnsuche als Lebensleistung
Die regulierte Aktivität
I. Grundproblematik im Interview (Bezugsproblem) Was entscheidet Wie lässt sich mit über den Verbleib äußerem Druck in oder das Verlasund inneren Spannungen leben? sen von bestimmten Lebenssituationen?
In welchen Lebensbereichen kann Leistung erbracht werden?
Welcher Weg führte in das aktuelle soziale Beziehungsgefüge?
II. Bewältigungsstrategie im Interview 1. Erleben – Handeln Handeln
Erleben
Handeln
Erleben
Bedrängendes Erleben und bewusster, eigenständiger Umgang damit
Notwendigkeit reaktiven Handelns unter Maßgabe fremdbestimmter ethischer Normen
Herausgeforderte Leistung in selbstgewähltem Lebensbereich
Selbstrechtfertigung angesichts infragegestellten Handelns
Individuelle Spiritualität
Anwendung kirchlich geprägter Wertmaßstäbe
Aktive Sinnsuche
Versuch der Mitgestaltung von Kontingenz
329
2. Relevanz der Kirche Irrelevanz auf der Handlungsebene/ Fiktives Lösungspotenzial
Teilrelevanz auf der Handlungsebene/ Quelle des Lösungspotenzials
Relevanz auf der Handlungsebene/
Irrelevanz auf der Handlungsebene/
Wesentlicher Beitrag zur Problemlösung
Kein Lösungspotenzial
III. Erwartungshorizonte Unmittelbarer Rekurs auf Kirche
Unmittelbarer Rekurs auf Kirche
Autonome Kirchliche Prägung Gestaltung individer Lebensmaßdueller Spiritualität stäbe Kirche als Sinnhintergrund
Kirche als Normen- und Wertehintergrund/ Kirche als Ort, der sich an eigenen Maßstäben messen lassen muss
Mittelbarer Rekurs auf Kirche
Mittelbarer Rekurs auf Kirche
Praktizierte Sinnsuche in der Kirche
Kirche kann, muss aber nicht nützlich sein
Kirche als kompetente Instanz zur Sinnsuche
Kirche als Gebrauchsgröße
IV. Kirche und Gesamtbiografie 1. Berührungspunkte / Kontaktprofil Volkskirchlich
330
Individuell
Volkskirchlich/ Individuell
Volkskirchlich
2. Motivation zur Kontaktaufnahme Keine Motivation/ Selbstbestimmt
Keine Motivation/ Fremdbestimmt
Motivation/ Selbstbestimmt
Keine Motivation/ Fremdbestimmt (Ausnahme: Kirchliche Trauung)
3. Stellenwert für die Biografie Niedrig
Hoch
Hoch
Niedrig
Positiv
Positiv
4. Evaluation Positiv
Teils/Teils
331
KAPITEL 4 Kirchenbindung in der modernen Gesellschaft als Herausforderung für die praktisch-theologische Theoriebildung
Das Schlusskapitel der vorliegenden Untersuchung spitzt die bisher erzielten Befunde zu und möchte auf dieser Basis ausgewählte Facetten einer Praktischen Theologie der Kirchenbindung entfalten. Dabei wird eine spezifische Haltung, eine Art Grundierung unterlegt. Sie stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt und ist bestrebt, dessen Fragen, Lebensbedingungen, seine Lebenskunst, das individuelle Relevanzsystem seines gelebten Lebens zur Sprache zu bringen, praktisch-theologisch aufzugreifen und zu bedenken.1 Mit diesem Zugang verbindet sich die Hoffnung, dass sich eine so konturierte Praktische Theologie im Handeln der Kirche niederschlägt. Die leitende Vision ist eine Kirche, die Menschen bindet, indem sie sie als die eigentlichen Experten gelebten Lebens und gelebten Glaubens ernstnimmt. Akzeptanz, Wertschätzung und das Angebot unaufdringlicher Begleitung im Leben sind die zentralen Stichworte, die die vorliegende Untersuchung im Zusammenhang mit dem Thema Kirchenbindung stark machen möchte. Die folgenden Ausführungen umfassen vier Schritte. Zunächst wird die Problemwahrnehmung zum Thema Kirchenbindung vertieft. Das geschieht, indem eine Brücke geschlagen wird von der eingangs vorgenommenen Rekonstruktion der diversen Diskurse zur Kirchenbindung hin zur Theorie der 1 An dieser Stelle ist die vorliegende Untersuchung inspiriert von der seit geraumer Zeit erfolgenden Renaissance der philosophischen Lebenskunstdebatte auf dem Feld der praktischen Philosophie. An prominenter Stelle sind dabei insbesondere die Arbeiten von Wilhelm Schmid zu nennen (vgl. Schmid 1998; 2000a; 2000b; 2004). Hinter dem großen Erfolg seiner Schriften dürfte mehr stecken als nur eine kurz anhaltende Mode. Gerade die auf der Ebene der funktionalen Primärdifferenzierung der Gesellschaft erfolgende Ausblendung der Frage nach der Ganzheit und der Identität des Menschen und die damit einhergehende Privatisierung der Frage nach der Konstitution je individuellen Lebens dürfte das Interesse der Individuen für Fragen der praktischen Lebenskunst in erheblichem Maße fördern. Gerade aus der Sicht einer den Einzelnen und die Einzelne in den Mittelpunkt der Reflexion stellenden Praktischen Theologie gibt es gute Gründe, das Nachdenken über Fragen der Lebenskunst nicht allein der praktischen Philosophie zu überlassen, sondern sich dem auch aus praktisch-theologischer Perspektive zu widmen.
332
mediatisierten Kommunikation, wie sie in der Theorieskizze eingeführt und auf empirischem Wege weiter präzisiert wurde. Hierbei wird erkennbar, dass der Weg zu einem vertieften Verständnis der sozialen Bindung in der Kirche über die Subjekte der Kirchenbindung selbst führen sollte. Ein zweiter Schritt setzt sich daher mit der Subjektorientierung in der Praktischen Theologie auseinander und fragt insbesondere nach Chancen und Grenzen, die das Theorem der gelebten Religion für die praktisch-theologische Wahrnehmung der Kirchenbindung bietet. Der dritte Schritt knüpft daran an und forciert eine Profilierung der praktisch-theologischen Subjektorientierung. Profilierung heißt in diesem Fall, das Subjekt stärker als aktive Größe in den Blick zu nehmen und dessen eigene Deutungsleistungen über das individuelle Leben, über Religion und Kirche in die praktisch-theologische Reflexion zu integrieren. Das Gespräch mit ausgewählten außertheologischen Theorieansätzen, die die Eigenleistungen und Kompetenzen der Subjekte des gelebten Lebens in Bezug auf Lebensbewätligung und Lebensdeutung unter den Bedingungen der Moderne heraus stellen, soll die vorgeschlagene Profilierung der praktisch-theologischen Subjektorientierung argumentativ unterstützen. Das Kapitel endet mit einem Epilog, der eine abschließende Bilanz zieht und die Chancen herausstellt, die die Mediatisierung der Kommunikation für die kirchliche Praxis und die Pflege moderner individueller Kirchenbindung mit sich bringt.
1. Probleme im Diskurs über die Kirchenbindung aus Sicht der Theorie der mediatisierten Kommunikation – Eine empirisch gesättigte Vertiefung Zusammengefasst lautet das Ergebnis, zu dem die Rekonstruktion ausgewählter Diskurse zur Kirchenbindung geführt hat: In Kirche und Theologie kann eine grundsätzliche Offenheit für die Strukturen der modernen Gesellschaft und die damit korrespondierenden Modernisierungsphänomene in Bezug auf Kirchenbindung als gegeben gelten. Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung sind dabei die entscheidenden Stichworte. Demgegenüber ist jedoch auch erkennbar, dass es in nicht unerheblichem Maße Blockaden und Gegenkräfte gibt, die auf der heuristischen Ebene die tiefergehende Wahrnehmung dieser Modernisierungsphänomene verhindern und sie auf der strategisch-operativen Ebene in einem restaurativen Sinne revidieren wollen. Eine exklusive Fixierung auf Gemeinschaft und soziale Nähe im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Gestaltung von Kirchenbindung stehen für diesen Aspekt. Gibt man sich mit dieser die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche prägenden Diskrepanz zwischen einer Offenheit für die Konstitutionsbedingungen der modernen Gesell333
schaft einerseits und andererseits dem Bestreben, im restaurativen Sinne vormoderne Modi sozialer Koordination zum Leitbild für die Reflexion und Gestaltung der Kirchenbindung zu erheben, zufrieden, sind für die Wahrnehmung und das tiefergehende Verständnis moderner Formen der Kirchenbindung keine Fortschritte zu erwarten. Aus diesem Grund bezieht die vorliegende Untersuchung die Theorie der mediatisierten Kommunikation auf die Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche. Indem diese Theorie soziale Bindung nicht einseitig und normativ über soziale Nähe definiert, sondern, sozialer Nähe korrespondierend, auch soziale Distanz als integralen und im Vergleich zu sozialer Nähe maßgeblichen Bestandteil sozialer Bindung auffasst, wird ein Erklärungsversuch unterbreitet, mit dessen Hilfe die vermeintlich distanzierte Kirchenbindung der Mitgliedermehrheit als stabile Form der Kirchenbindung verstehbar wird. Soziale Distanz, so die Theorie der mediatisierten Kommunikation, ist gerade keine Mangelerscheinung in Bezug auf Kirchenbindung. Für das einzelne Kirchenmitglied ist sie stattdessen die Basis und die Voraussetzung, ein je individuelles Verhältnis zur Kirche gestalten zu können. Auf der Basis eines durch Variabilität gekennzeichneten Koordinationsmechanismus ist soziale Distanz geradezu die Voraussetzung, von sozialer Distanz auf soziale Nähe – und umgekehrt – umzuschalten. Im Umkehrschluss zeigt die Theorie der mediatisierten Kommunikation, dass Formen sozialer Nähe – in der Theorieskizze berücksichtigt unter den Stichworten Intimität und Solidarität – aus dem Grundmodus der sozialen Distanz heraus durchaus möglich sind. Und nicht nur das. In der Form, in der soziale Nähe als Intimität oder Solidarität unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft anzutreffen ist und verstanden wird, ist das nur möglich, wenn der Grund- und Ausgangsmodus gesellschaftlicher Kommunikation soziale Distanz ist. Nur auf dieser Basis ist dem moderngesellschaftlichen Individuum das Eingehen einiger weniger, intensiver und aufwendig zu gestaltender Sozialbeziehungen möglich, die auf soziale Nähe, mithin Intimität oder Solidarität, zielen. Als Grundmodus gesellschaftlicher Kommunikation scheidet soziale Nähe dagegen aus. Unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft würde die Fülle der alltäglich zu bewältigenden kommunikativen Kontakte die Leistungsfähigkeit des oder der Einzelnen bei weitem überfordern, sollten all diese Kontakte sozial vertieft werden. Soziale Nähe, so wurde es in der Theorieskizze herausgestellt, ist unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation zwar nicht unmöglich. Wohl aber ist sie ein Sonderfall. Wird im Zusammenhang mit der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche nachdrücklich auf die Herstellung sozialer Nähe als exklusive Form der Kirchenbindung abgehoben, dann wird ebendieser Sonderfall zum Standard und Maßstab gemacht. Eine im Sinne sozialer Nähe verstandene 334
Kirchenbindung muss dann zwangsläufig eine Ausnahmeerscheinung sein. Hinzu kommt, dass soziale Nähe nicht nur ein Sonderfall ist, sondern darüber hinaus ein labiles Phänomen. Schließlich bleibt auch angesichts gegebener sozialer Nähe die Variabilität in der Gestaltung gesellschaftlicher Kommunikation erhalten. Wird eine nahe Beziehung zu aufwendig, vielleicht zu intim und zu vertraut, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, von Nähe wieder auf Distanz umzuschalten. Macht man sich den Ausnahmecharakter und die Labilität sozialer Nähe als Bindungsform bewusst, so wird erkennbar, dass kirchlich-theologische Bindungsdiskurse, die auf soziale Nähe als einzig legitime Form der Kirchenbindung zielen, damit etwas forcieren, was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Aus der Perspektive des oder der Einzelnen wird das besonders gut erkennbar. Der Aufbau, die Gestaltung und die Pflege naher Sozialbeziehungen sind ein kräfteintensives, aufwendiges und auch riskantes Unternehmen. Wo und auf welche Weise solche Beziehungen aufgebaut werden, will aus der Perspektive des Individuums gut überlegt sein. Warum soll das ausgerechnet im Umfeld von Kirche geschehen? Sicher, es kann dort passieren, muss es aber nicht. Kirche stellt hier wie die Gesellschaft als ganze allenfalls einen Möglichkeitsraum dar. Ferner entscheidet allein der oder die Einzelne, wie intensiv und wie lange eine nähere Sozialbeziehung gepflegt wird. Es ist ein Normalfall, dass auf sozialer Nähe basierende Bindungen zeitlich befristet, oft nur punktuell sind, und zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder in den Ausgangsmodus sozialer Distanz wechseln. Beides zusammen genommen, die strukturelle Unwahrscheinlichkeit, dass sich ausgerechnet in der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche massenhaft intensive und tiefe Sozialbeziehungen ereignen, und diese zusätzlich ausgerechnet dort auf Dauer gestellt sein sollen, zeigen, wie problematisch eine Identifikation von sozialer Nähe und Kirchenbindung ist. Nimmt man diese Argumentation ernst, so bleibt die weit verbreitete Identifikation von sozialer Nähe und Kirchenbindung nicht folgenlos. Sie steht für die Missachtung grundlegender Kommunikationsstrukturen moderner Gesellschaften und stellt die Kirchenmitglieder vor eine heillose Alternative: Entweder sind sie qua sozialer Nähe gebunden oder qua sozialer Distanz ungebunden, sprich nicht dazugehörig. Scheidet in dieser Perspektive Distanz als legitimer Bindungsmodus aus, so wird der und dem Einzelnen von vornherein die Grundlage entzogen, eine individuelle Beziehung zur Kirche zu gestalten – und das heißt unter Umständen auch zeitlich befristete Formen sozialer Nähe. Schließlich ist aus der Sicht der Theorie der mediatisierten Kommunikation die Realisierung des Sonderfalls sozialer Nähe nur aus dem Ausgangsmodus sozialer Distanz heraus möglich. Die exklusive Fixierung von Kirchenbindung auf soziale Nähe dagegen verhindert nicht nur die Wahrnehmung distanter Formen der Kirchenbindung. Auf der strategisch335
operativen Ebene kirchlichen Handelns grenzt sie überdies den größten Teil der Menschen von vornherein aus, indem hier etwas völlig Extraordinäres gefordert und zur vermeintlich einzig theologisch legitimen Norm erhoben wird. Faktisch liegt damit ein Phänomen der Exkommunikation vor. Der empirische Blick auf die Kirchenbindung führt die Annahmen der Theorie der mediatisierten Kommunikation fort und präzisiert sie am Beispiel der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche. Der Befund ist eindeutig: Bindungsformen, die auf sozialer Nähe basieren, werden so gut wie gar nicht angesprochen. Aber auch Formen der Kirchenbindung, die statistisch gesehen bei der Mitgliedermehrheit auf breite Resonanz stoßen, wie z.B. die Kasualien,2werden kaum erwähnt oder gar biografisch vertieft. Beides überrascht aus der Perspektive der Theorie der mediatisierten Kommunikation nicht. So beziehen sich die Kasualien auf persönliche Themen des familiären und lebensgeschichtlichen Kontextes. Hier werden Intimitäten angesprochen. Als solche jedoch werden sie im Rahmen mediatisierter Kommunikation exkludiert, d.h. nicht thematisiert. Das Geschehen der Kasualien selbst trägt der kommunikativen Exklusion, oder anders formuliert: Distanz, dadurch Rechnung, dass hier vermittelt, mediatisiert, über einen konkreten Kasus und über rituelle Vollzüge kommuniziert wird. Die Form, in der Kasualien in der Regel gestaltet sind, öffnet einen Distanzraum, in dem sich die Betroffenen und Teilnehmenden mittels individueller Rezeptionsleistungen in ein ebenso individuelles Verhältnis zum Geschehen setzten. Gerade der von den Kasualien eröffnete Distanzraum ist es, der so vielen Menschen die Beteiligung daran ermöglicht und sie zu einer Art Fundament volkskirchlicher Partizipationsformen werden lässt. Auf der kommunikativen Ebene der biografisch-narrativen Interviews der vorliegenden Utersuchung drückt sich die soziale Distanz in der Regel durch Nichtthematisierung aus. Um es nochmals zu betonen: Das bedeutet nicht, dass die Kasualien für die Kirchenbindung unwichtig seien. Das Gegenteil ist der Fall. Grund- und Ausgangsmodus der Kirchenbindung ist die soziale Distanz. In diesem Bereich ist auch die Kasualpartizipation der Kirchenmitglieder anzusiedeln. Sie ist eine Art Basis, die als solche nicht thematisiert wird. Der Blick auf die hier präsentierten empirischen Fallbeispiele unterstreicht das. Allen vier Interviews lässt sich entnehmen, dass die Befragten alle Kasualien miterlebt haben, die sie im Laufe ihrer bisherigen Lebensgeschichte potenziell miterleben konnten. Eingehend thematisiert werden Kasualien dagegen in keiner der Biografien.3 2 Vgl. Karle 2004. 3 Der hier geschilderte Sachverhalt unterstreicht, wie wichtig es ist, neben qualitative auch quantitative empirische Erhebungsmethoden zu stellen. Würde man moderne
336
Aber auch das geringe Ausmaß, in dem Kirchenbindungsformen thematisiert werden, die für soziale Nähe stehen, überrascht aus der Sicht der Theorie der mediatisierten Kommunikation nicht. Sind unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation Formen sozialer Nähe wie z.B. Intimität oder Solidarität ohnehin schon ganz grundsätzlich seltene Ausnahmen, dann ist das bezogen auf den Kontext einer gesellschaftlichen Großorganisation wie der Kirche erst recht so. Dennoch thematisieren die ausgewerteten Interviews solche Sonderfällen. Beispiele dafür sind etwa Frau B.’s Engagement im Kirchenvorstand ihrer Gemeinde, Herrn C.’s Gespräche mit Theologinnen und Theologen und Frau D.’s Erlebnisse im Konfirmandenund Religionsunterricht. Die Analyse der Kompositionsstruktur der betreffenden Biografien erläutert die Hintergründe, mit denen sich die Thematisierung dieser Formen sozialer Nähe erklären lässt. Bei Frau B. ist es das von der Biografie ausgeführte Bezugsproblem, Orte zu finden, an denen sie ihren eigenen Lebensmaßstäben Rechnung tragen kann und aktive Nächstenliebe praktizieren kann. Der Kirchenvorstand wird von der Erzählung als Ort inszeniert, an dem Frau B. das versucht. Bei Herrn C. ist das Bezugsproblem die Frage, in welchem Lebensbereich er Leistung erbringen kann. Als Antwort stellt der Text den Bereich der Sinnsuche heraus. Eine Gelegenheit, bei der, so der Text, Herr C. dem Erbringen von Leistung in Sachen Sinnsuche besonders gut nachkommen kann, sind Gespräche mit Theologinnen und Theologen. Die Erzählung über die Lebensgeschichte von Frau D. schließlich inszeniert die Frage, wie Frau D. in ihr aktuelles soziales Beziehungsgefüge mit Ehemann und Kind gelangt ist, als Bezugsproblem. Der Weg dorthin, so die Erzählung, führt über eine Kette diverser Lebensstationen, bei denen Frau D. in gelungener Weise in soziale Beziehungsgefüge integriert war. Konfirmanden- und Religionsunterricht waren solche Stationen und werden deshalb in vertiefter Form thematisiert und als Erfahrungen sozialer Nähe inszeniert. Der Blick auf die empirischen Befunde der vorliegenden Untersuchung unterstreicht es nochmals: Kirchenbindung lässt sich in angemessener Form nur biografisiert wahrnehmen. Auf diese Weise kann sie als mediatisierte Bindungsform wahrgenommen werden. Ihre je individuelle Kontur kann besonders gut rekonstruiert werden, wenn sie im Kontext der Biografie gesehen wird. Dabei wird vieles exkludiert und somit nicht thematisiert. Anderes dagegen wird angesprochen und vertieft, d.h. inkludiert. KirchenFormen der Kirchenbindung nur qualitativ untersuchen, käme die hohe Bedeutung, die die Kaualien für die volkskirchliche Mitgliedschaft spielen, unter Umständen bei weitem nicht im dem Maße in den Blick, wie das faktisch – ermittelt auf massenstatistischem Wege – der Fall ist. Gerade an einem Untersuchungsgegenstand wie der Kirchenbindung in der Moderne zeigt sich, dass qualitative und quantitative Methoden stets miteinander in Beziehung gesetzt werden sollten.
337
bindung kann als ein lebensgeschichtlich verortetes Phänomen verstanden werden, das sich im Rahmen einer je individuellen Dynamik des Wechsels von sozialer Distanz und sozialer Nähe realisiert. Dabei ist soziale Distanz die Basis. Dass diese Basis die Kirchenbindung tatsächlich nachhaltig zu tragen vermag, zeigt zum Beispiel die Biografie von Herrn A. Die Erzählung über seine Lebensgeschichte nimmt keinerlei thematische Vertiefung vor, die sich auf soziale Nähe zur Kirche beziehen würde. Um Herrn A. als autonomen spirituellen Akteur und gleichzeitig als Kirchenmitglied zu inszenieren, verbleibt die Erzählung ausschließlich im Modus der Distanz und das heißt im Modus der Nichtthematisierung von Kirche. Welche Konsequenzen hat all das für die praktisch-theologische Reflexion über Kirchenbindung? Eine Praktische Theologie, die die Kirchenbindung der Menschen als Bindung und nicht als Bindungslosigkeit wahrnehmen und näher erforschen will, kann die Gemeinschaftsfixierung, wie sie in einigen Diskursen zur Kirchenbindung anzutreffen ist, nicht teilen. Sie würde damit die Leugnung real bestehender Kirchenbindung und die institutionelle Ausgrenzung (Exkommunikation) eines großen Teils der Kirchenmitglieder wie auch potenzieller Kirchenmitglieder unterstützen. Doch das ist für die gegenwärtige Praktische Theologie kaum eine reale Option. Das hat die oben vorgenommene Rekonstruktion des praktisch-theologischen Diskurses im Speziellen und die dort anzutreffende erkenntnistheoretische Grundhaltung im Allgemeinen gezeigt: Eine im weiten Sinne verstandene phänomenologische Wahrnehmungsarbeit und eine programmatische Skepsis gegenüber traditionellen und in ihrer Leistungsfähigkeit kaum noch weiter ausschöpfbaren Deutungskategorien (vgl. z.B. die diversen Säkularisierungsthesen) werden, bei aller Vielfalt der jeweiligen praktisch-theologischen Zugänge, die nähere Zukunft praktisch-theologischer Forschung prägen. Für die weitere Erforschung und ein vertieftes Verständnis der sozialen Bindung in der Kirche, das belegen die bisherigen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, ist die praktisch-theologische Forschung an die Einzelne und den Einzelnen, und das heißt an die Subjekte der Kirchenbindung verwiesen. Dort liegt der Schlüssel zum Verstehen von Kirchenbindung unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft. Im Unterschied zu kirchlichen Organisationen steht dieser Weg der praktisch-theologischen Forschung tatsächlich offen. Anders als kirchliche Organisationen ist praktischtheologische Forschung nicht an spezifische kirchliche Organisationszwecke gebunden, aus deren Perspektive die Individuen nie als ganze, sondern stets unter einem bestimmten Rollenaspekt, d.h. lediglich partiell wahrgenommen werden können. Nimmt man diesen Sachverhalt ernst, dann kann es geradezu als Pflicht praktisch-theologischer Forschung betrachtet werden, die Chance zu nutzen und den Einzelnen oder die Einzelne als autonome und unparzellierte Subjekte wahrzunehmen. Sie leistet damit etwas, was kirchliche Orga338
nisationen aus strukturellen Gründen nicht leisten können, aber gerade für deren Arbeit eine wichtige Orientierungshilfe darstellen kann.4
2. Die Praktische Theologie auf dem Weg zum Subjekt – Chancen und Grenzen des Theorems der gelebten Religion für dieWahrnehmung der Kirchenbindung An die Adresse der praktisch-theologischen Theoriebildung gerichtet dürfte es keine Überraschung sein, wenn auch in Sachen Kirchenbindung nicht kirchlich-institutionelle oder dogmatisch-theologische Aspekte den Ausgangspunkt des Reflexion bilden, sondern der und die Einzelne – und das heißt das Subjekt. Dafür steht alleine schon die historische Genese des Faches Praktische Theologie, die sich maßgeblich der im 18. Jahrhundert vorbereiteten und später zum Konstitutivum protestantischer Theologie werdenden Differenzierung zwischen einer lehrmäßig orientierten Dimension der Theologie und einer an der Praxis der individuellen religiösen Vorstellungen interessierten Dimension der Theologie verdankt. Nachdem diese Form der theologischen Differenzierung in den Jahrzehnten der Dominanz dialektischer Theologien weitestgehend irrelevant geworden war, ist sie insbesondere in der Praktischen und der Systematischen Theologie mit der seit Ende der 60er Jahre verstärkt ins Spiel gebrachten Programmformel der gelebten Religion5 nachdrücklich reaktualisiert worden. Für die Praktische Theologie bedeutete das vor allem die Erinnerung daran, dass ihre heuristische Präferenz vor der Norm der Empirie gilt, vor dem System dem Subjekt, vor der Idee der Wirklichkeit. In jüngerer Zeit haben sich ganze Programmentwürfe der Praktischen Theologie der Formel der gelebten Religion angeschlossen.6 Die Existenz einer Vielzahl von Programmentwürfen bringt dabei zum Ausdruck, dass die Formel von der gelebten 4 Damit ist die Frage nach dem spezifischen Nutzen und den Nutzern, sprich: der Öffentlichkeit der Praktischen Theologie angesprochen. Gerade unter den Bedingungen der Reduzierung sowohl der materiellen und personellen Grundlagen im Wissenschaftsbetrieb als auch der hochschulpolitisch immer wieder neu angefragten Legitimation von Theologie im Allgemeinen und Praktischer Theologie im Speziellen als Studienfach an staatlichen Hochschulen gilt es diesbezüglich stärker als bisher nach überzeugenden Antworten zu suchen; vgl. Pohl-Patalong 2006. 5 Zu Genese, Konturen und Gebrauch der Programmformel der gelebten Religion vgl. Grözinger/Pfleiderer 2002. 6 Vgl. Albrecht 2004, 296–298. Exemplarisch seien die Entwürfe von Dietrich Rössler, Gert Otto, Volker Drehsen, Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock, Wilhelm Gräb und Wolfgang Steck genannt. Außerdem sind in diesem Zusammenhang die subjekttheoretisch ausgerichteten Arbeiten von Henning Luther zu sehen; vgl. Rössler 1994, Otto 1986, Drehsen 1988, Failing/Heimbrock 1998, Gräb 1998, Steck 2000, Luther 1992.
339
Religion gerade nicht für ein methodisch einheitliches, gemeinsames Programm steht. Wohl aber verweist sie auf eine gemeinsame Suchhaltung, die im Zusammenhang mit dem Thema Religion das gelebte Leben der Menschen in den Blick nimmt.7 In Bezug auf die praktisch-theologische Wahrnehmung und Reflexion moderner, d.h. je individuell mediatisierter Kirchenbindung ist es genau diese Suchhaltung in der Lebenswelt und im Alltag des Subjekts,8 die den Rekurs auf die Programmformel der gelebten Religion nahe legt. Doch was genau können Praktische Theologien gelebter Religion in diesem Zusammenhang leisten? Wie kommt das gelebte Leben hier zur Sprache? Wie die Biografie? Wie die gelebte Religion? Und wie die individuelle Kirchenbindung? Diesen Fragen wird im folgenden im Gespräch mit drei neueren praktisch-theologischen Programmentwürfen nachgegangen. Dabei handelt es sich um die Entwürfe von Wolf-Eckart Failing/Hans-Günter Heimbrock, Wolfgang Steck und Wilhelm Gräb. Im Anschluss daran, wird die Frage aufgeworfen, wo die Chancen, wo aber auch die Grenzen der den Theorien gelebter Religion innewohnenden Subjektorientierung in Bezug auf die Wahrnehmung moderner mediatisierter Kirchenbindung liegen. Doch zunächst zu den Theorien gelebter Religion:9 Hinsichtlich der Konturierung der Praktischen Theologie schlagen Wolf-Eckart Failing und HansGünter Heimbrock die Umstellung von einer handlungstheoretischen Orientierung hin zur Wahrnehmungswissenschaft gelebter Religion vor. Mit den beiden Leitbegriffen Alltag und Wahrnehmung bieten sie eine Alternative zu genuin neuzeitlichen Signalbegriffen wie Handlung, Machen und Krise an. Damit wollen Failing und Heimbrock den neuzeitlichen Zwang zur Universalisierung der Handlungskategorie, in den sie sowohl die protestantische Theologie im Allgemeinen als auch die Praktische Theologie im Speziellen verwoben sehen, durchbrechen.10 Programmatisch formuliert wollen sie den „Wirklichkeitsverlust der gesamten Theologie“11 wettmachen. Dabei besteht 7 Vgl. Grözinger 2002c, 7. 8 Der auf analytische und theoretische Weite zielende Fokus der hinter der Programmformel gelebte Religion stehenden Suchhaltung wirkt sich auch auf die für die unterschiedlichen Programmentwürfe zentralen Begriffe der Lebenswelt, des Alltags und des Subjekts aus. Diese sind, wie auch der Begriff gelebte Religion selbst, je unterschiedlich gefüllt; vgl. zu den jeweiligen Differenzierungen der Begriffe Erne 2002, 17–73. 9 Die Art der Beschreibung, Reflexion und Problemwahrnehmung der im folgenden geschilderten Theorien gelebter Religion ist von Georg Pfleiderers kritischer Relektüre dieser Theorien geprägt; vgl. Pfleiderer 2002. Im Unterschied zu seinem Fokus, der Herausstellung von Kontinuitäten zwischen theologischen Denkfiguren Karl Barths und den aktuellen Theorien gelebter Religion, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen maßgeblich auf das Verständnis der Kategorie Subjekt, das den Theorien gelebter Religion innewohnt. 10 Vgl. Heimbrock 1998, 28. 11 Ebd., 22.
340
das Ziel in der Lösung der neuzeittypischen Verknüpfung des Religionsbegriffs mit dem Ausnahmezustand, d.h. der extraordinären Krise. Zwar halten auch Failing und Heimbrock an der neuzeitlichen Deutung des Religionsbegriffs als Differenzerfahrung und als Umgang mit Differenzerfahrung fest. Doch sie wollen sie aus der Fixierung auf den Bereich des Extraordinären lösen: Religion als Erfahrung, Erhellung und Ausdrücklichmachung von Differenz tritt aber nicht nur und nicht erst in extrem verunsichernden Lebenskrisen in Wirkung, sondern knüpft ebenso und gerade an die alltäglichen Umbrüche, an die scheinbar nebensächlichen Störungen der Routine an. Solche Differenz umfasst schließlich auch das Gewahrwerden des Gelingens eines fragilen und zerbrechlichen Alltags, die Momente des Staunens über das Wunder des geglückten Alltags.12
Der Blick auf den Alltag in der Moderne führt vor Augen, dass dieser keineswegs religiös durchsetzt ist. Doch gerade die plurale Strukturierung des Alltags bietet „besondere Chancen und Notwendigkeiten der religiösen Deutung.“13 Der moderne Alltag verlange von den Menschen geradezu „synchron wie diachron die permanente Um- und Neuorientierung in einer reichen Pluralität der Lebenswelten, in wechselnden Etappen der Lebensgeschichte wie in neuen sozialen Beziehungen.“14 Diese Orientierungsleistungen habe die institutionelle Religionspraxis aufzugreifen, indem sie die Umbrüche, die Menschen zu bewältigen haben, bewusst durcharbeitet „in der rituellen Ausgestaltung der Zwischenräume, in allem in Schritten, die die Fragilität des Alltags ausdrücklich machen.“15 Auch wenn sich Failing und Heimbrock von der extraordninären Krisensituation, d.h. der Krise an sich, abwenden und gelebte Religion an den vielen kleinen Fraktalen des Alltags aufspüren wollen, so bedienen sie sich doch weiterhin der Krise als Deutungskategorie, um gelebte Religion sichtbar zu machen. Indem sie diese Kategorie jedoch in die Dimension des Alltags verlagern, wird der Krisengenius der Moderne einer Art Enthypostasierung bzw. Entmetaphysizierung unterzogen. Doch wie genau kommt bei Failing und Heimbrock in den alltäglichen Situationen der Um- und Neuorientierung, der alltäglichen Krise, die Religion ins Spiel? In diesem Zusammenhang greifen sie auf die Kategorie des Heiligen zu, wie sie Rudolf Otto in den religionstheoretischen Diskurs eingebracht hat. Ebenso wie die Kategorie der Krise wird auch die des Heiligen fraktalisiert. Das Heilige steht hier für das Außeralltägliche, das im Alltag stets kopräsent ist. Religion lebt somit von der Spannung zwi12 13 14 15
Ebd., 30. Ebd. Ebd. Ebd.
341
schen Alltag und dem Heraustreten aus ihm. Auf dieser Basis lässt sich präzisieren, welche Aufgabe die Autoren der Praktischen Theologie als Wahrnehmungswissenschaft zuweisen: Es handelt sich um eine spezifische Form phänomenologischer Spurensuche, die sich auf ebensolche Spannungsphänomene zwischen Alltag und dem Heraustreten aus ihm bezieht. Mit diesem Blick auf den Zugang zur gelebten Religion, wie ihn Failing und Heimbrock wählen, lassen sich die oben gestellten Fragen hinreichend beantworten: Das Leben wird von vornherein als krisenhaftes, fragiles Leben gedeutet, Religion wird rückgebunden an die Kategorie des Heiligen und damit ebenfalls deutend fixiert. Gelebte Religion beschreibt somit einen Teilaspekt von Biografien. Umschreiben lässt sich dieser als alltägliche Umbruchssituation, in dem das Außeralltägliche (das Heilige) in Spannung zum Alltäglichen tritt und sich das Gewahrwerden des Gelingens eines fragilen und zerbrechlichen Alltags einstellt. Aus dieser Deutungsperspektive auf Leben und gelebte Religion lassen sich schließlich relevante Ansatzpunkte für die Kirchenbindung erkennen: Sie liegen überall dort, wo die kirchliche Praxis die Fragilität des Alltags ausdrücklich macht. Wie stellt sich demgegenüber Wolfgang Stecks Zugang zur gelebten Religion dar? Ebenso wie Failing und Heimbrock knüpft Steck seine phänomenologische Konzeption von gelebter Religion an eine spezifische Neuzeitbzw. Modernetheorie. Konkret handelt es sich dabei um die Christentumstheorie, aus deren Perspektive Christentum als Religion zu sehen ist, die sowohl auf der Phänomen- als auch auf der Theorieebene zu deuten ist. Aus diesem Grund ist die „Praktische Theologie untrennbar mit der Praxis der gelebten Religion verwoben.“16 In der Ausführung von Stecks Praktischer Theologie äußert sich das darin, dass der Zeichnung der „Konturen des neuzeitlichen Christentums“17 der bei weitem größte Raum gewidmet wird. Doch wie greift Steck auf die gelebte Religion zu? Im Unterschied zu Failing und Heimbrock bedient er sich nicht der Leitkategorie von Alltag/ Außeralltäglichkeit, sondern derjenigen von Privatheit und Öffentlichkeit. Dabei hat Religion einen affirmativen Charakter: Angesichts der Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit sichert und unterstützt Religion das Private gegen das Öffentliche. Seine Option der affirmativen Anbindung von Religion an das Private illustriert Steck dadurch, dass er als die genuin neuzeitlich-religiösen Lebenswelten der Religion die Privatsphäre, d.h. das Haus, die Familie – besonders die Kleinkindfamilie – und diverse Formen alltäglicher Individualitätspflege herausstellt. Auch bei Stecks Konzeption handelt es sich um eine Krisenphänomenologie. Ausdruck der Krise ist die prekäre Konstitution des Privaten und 16 Steck 2000, 14. 17 Ebd., 194ff.
342
Intimen und insbesondere der Familie. Aus dieser Perspektive erscheint Religion dann als deutender Umgang mit dieser prekären Verfasstheit und als ihr Therapeutikum. Mit der Formulierung von der „private[n] Signatur der kirchlichen Religionskultur“18 bringt Steck zum Ausdruck, dass er auch die kirchliche Verfasstheit des neuzeitlichen Christentums der Kategorie der Privatheit zuordnet. Aus dieser Perspektive scheint Kirche als substantiale Vergesellschaftungsform der Religion mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zu verschwinden und die Intimität der Kleinkindfamilie zum Ort der eigentlichen Sichtbarkeit der Religion zu avancieren. Hinsichtlich der Frage nach der Subjektorientierung weist Stecks Theoriearchitektur im Spektrum der Praktischen Theologien gelebter Religion eine Besonderheit auf. Zwar ist für Steck die Individualisierung der Religion das entscheidende Charakteristikum der Konstitution des neuzeitlichen Christentums. Doch heißt das keineswegs, dass dem Individuum oder gar – programmatisch formuliert – dem Subjekt der Status einer zentralen Kategorie zukäme. Für Steck ist die Individualisierung der Religion vielmehr eine Art Richtungsangabe, mit der die Verlagerung der Religion von der öffentlichen in die private Sphäre zum Ausdruck gebracht wird. Sie zeigt an, dass Religion gleichsam die Systemebene wechselt: Sie wandert von der öffentlich-institutionellen zur privat-familiären Ebene. Diese Verschiebungen auf der Systemebene sind es, die Steck im Rahmen seiner Praktischen Theologie gelebter Religion in den Vordergrund stellt. Die Kategorie des Individuums bzw. des Subjekts im engeren Sinne spielt in seinem Entwurf keine herausragende Rolle. Ihr begegnet er spektisch: „Das in der bürgerlichen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung ausformulierte Individualisierungsaxiom mutierte in der industriell-technischen Gesellschaft zu einer – allerdings hochwirksamen – Fiktion.“19 Somit steht Stecks Konzeption weniger für eine Subjektorientierung in der Praktischen Theologie, sondern vielmehr für eine systemtheoretisch grundierte Orientierung hin zur Privatheit des Systems Kleinkindfamilie. In der Zusammenschau kann in Bezug auf Stecks Konzeption gelebter Religion festgehalten werden, dass er sie konsequent aus der Perspektive der neuzeitlichen Christentumstheorie bestimmt: Nachdem Religion in der Neuzeit in zunehmendem Maße aus dem Bereich der Öffentlichkeit schwindet, ist der Ort gegenwärtig gelebter Religion vornehmlich in der Privatheit der Kleinkindfamilie sehen. Hier erfüllt sie auch ihre spezifische Funktion: Sie ermöglicht den deutenden Umgang mit der krisenhaften Verfasstheit, die Privates und Intimes in der Neuzeit charakterisiert. Dort hat unter den Bedin18 Ebd., 308. 19 Ebd., 168.
343
gungen des neuzeitlichen Christentums auch das kirchlich verfasste Christentum seine Anhaltspunkte und wird Kirchenbindung somit zum Thema. Schließlich zu Wilhelm Gräb: Wie schon bei den vorangegangenen Autoren basiert auch sein Begriff gelebter Religion unmittelbar auf einer Theorie der Moderne und des neuzeitlichen Christentums. Er bestimmt Religion als den Vollzug individueller Lebenssinnsynthese im unübersichtlich gewordenen Gestrüpp sozialer Rollenpluralisierung. Zu dieser Sinnfrage verhält sich das neuzeitliche Christentum praktisch-reflexiv. Nachdem es eine neuzeitliche Umformungskrise durchlaufen hat, kann es einen „Sinn des Sinnes“20 vermitteln. Das ist möglich, weil es seine Glaubensbestände insgesamt funktional in Bezug auf individuelle Sinnfindungsbedürfnisse auszulegen vermag. Sein Verständnis gelebter Religion lautet: Die Religion, mit der man heute außerhalb der Kreise der Berufstheologen und der kirchlichen Kerngemeinden etwas anfangen kann, wird als individuelle Sinnthematisierung, als Suche nach einem umfassenden Orientierungsrahmen für die eigene Lebensführung verstanden.21
Wie die bisher betrachteten Autoren will auch Gräb die Praktische Theologie von einer Handlungs- auf eine Wahrnehmungsorientierung umstellen. Nur so kann aus seiner Sicht der pluralen Differenziertheit individuellbiografischer Sinnsuchen und religiöser Sinnvergewisserungen Rechnung getragen werden. Auf dem Wege der Wahrnehmungsorientierung kann sich die Praktische Theologie sowohl „an der Kommunikation über Religion wie an der Kommunikation als Religion“22 maßgeblich beteiligen. In dieser Perspektive eignet Gräbs Theorie gelebter Religion ein Doppelsinn. Auf der einen Seite handelt es sich um eine hermeneutische Theorie individueller Sinnvergewisserung. Religion wird hier verstanden als mit der Kunst verwandtem Akt der Selbstvergewisserung von Identität. Deshalb liegen für Gräb religiöse und ästhetische Erfahrung dicht beieinander: „Wo es zur ästhetischen und wo es zur religiösen Erfahrung kommt, ereignet sich vielmehr [...] ein zweckloses Zusammenspiel der in der Struktur der Subjektivität liegenden Erkenntnisfunktionen.“23 Sowohl religiöse als auch ästhetische Erfahrungen sieht Gräb an den „Unterbrechungen des kulturellen, auch und gerade des konsum-kulturellen Alltagsbewusstseins“24 haften. In diesem Zusammenhang traut Gräb vor allem moderner Kunst vieles zu. Für die andere Seite des Doppelsinns seiner Theorie gelebter Religion steht die Aufgabe der Praktischen Theologie. Als Theorie gelebter Religion 20 21 22 23 24
344
Gräb 1998, 26. Ebd., 31. Ebd., 39f. Ebd., 111. Ebd., 115.
führt sie vor, wie die Umsetzungen traditionaler Glaubensbestände in sinnfindungsfunktionale Sprachformen übersetzbar sind. Sie widmet sich der Arbeit an einer „gegenwartsplausiblen Interpretation der biblischen Begriffe von Schöpfung und Sünde, Rechtfertigung und Erlösung, dass diese für die Menschen die grundlegende Funktion ihrer Lebensorientierung gewinnen können.“25 Auch bei Gräb kommt das Leben als krisenhaftes, d.h. der Sinnstiftung bedürftiges in den Blick. Wo sich deutend Sinn einstellt, dort ereignet sich Religion. Wie bei Failing, Heimbrock und Steck liegt der Ort von Religion damit im alltäglichen Leben der Menschen, in den Unterbrechungen des Alltags, in denen sich, ästhetisch motiviert, Sinn einstellt. Aus dieser Perspektive erklärt sich die Aufgabe der Kirche als Institution, die den Menschen neuzeitangemessene Angebote der Sinndeutung machen und sie auf diese Weise an sich binden sollte. Aus Gräbs Perspektive bindet die Kirche Menschen, indem sie Kirche für die Religion der Menschen ist. Überblickt man die drei hier vorgestellten Theorieentwürfe zur gelebten Religion, so ist erkennbar, dass lebensweltlich-nichtprofessionelle Lebensdeutungen nicht mehr als Konkurrenzunternehmen der Theologie betrachtet werden. Stattdessen wird eine Theologie gelebter Religion geradezu als theoretische und praktische Unterstützung solcher Lebensdeutungen konzipiert. Ein normatives Verständnis über die Aufgabe der Theologie wird durch ein analytisches ersetzt. Alle Entwürfe sind getragen von der Erkenntnis, dass religiöse oder theologische Sinnsynthesen – im Unterschied zu den theologischen Großfiguren dialektischer Theologien – sich niemals unmittelbar auf das Ganze der gegenwärtigen Wirklichkeit beziehen können, sondern immer vermittelt sind durch die Konstruktion eines Horizonts der Einheit eines individuellen Lebenszusammenhangs. Das ist die maßgebliche Basis dafür, Religion wieder zu einem Thema der Theologie zu machen. Andererseits sind den drei Theorieentwürfen in Bezug auf die Wahrnehmung der Subjekte auch Grenzen gesetzt. Bei aller Abkehr von normativen Mustern theologischer Reflexion haben die hier betrachteten theologischen Bemühungen um gelebte Religion und ihre Deutung immer noch einen normativen Gehalt. Sie setzen zwar bei der individuellen Selbstgestaltung bzw. Individualisierung (Steck) von Religion an, unterbreiten dabei jedoch gleichzeitig einen jeweils klar konturierten Vorschlag, wie die jeweiligen Formen individuell gestalteter Religion aussehen sollten. Damit eignet auch den Theorien der gelebten Religion ein fundamentaltheologischer Anspruch, von dem sie sich jedoch in programmatischer Hinsicht gerade absetzen wollen. Dogmatik bleibt ein Stück Praktischer Theologie – auch wenn sie unter der Überschrift der gelebten Religion firmiert. 25 Ebd., 46.
345
An den oben betrachteten Entwürfen ablesbar ist der fundamentaltheologische Anspruch zum Beispiel darin, dass alle Entwürfe von einer spezifischen Neuzeit- bzw. Modernetheorie ausgehen, die explizit oder implizit die Kategorie der Krise stark macht. Damit unterliegt der Zugang, den die Entwürfe zum gelebten Leben der Menschen wählen, immer schon einem hermeneutischen Vorverständnis. Das gilt auch für den Zugang zur Religion. Mittels einer Definition von Religion wird jeweils eine theoretisch fundierte Sichtbarmachungsstrategie für Religion im Leben der Menschen angeboten. Bei Failing und Heimbrock sind das Momente einer substantialen Religionsdeutung im Sinne einer Deutung von Religion als Umgang mit dem Heiligen, Steck bietet in diesem Zusammenhang eine explizit christentumstheoretische Umformung der Religionstheorie hin zum System Kleinkindfamilie an und bei Gräb wird Religion in funktionaler Sicht auf Sinndeutungsakte bezogen. Auf dieser Grundlage legen schließlich alle Theorieentwürfe eine deduktiv generierte theologische Ekklesiologie nahe, die aus der Perspektive gelebter Religion in ein Ergänzungsverhältnis zu den gegebenen Organisationsmodellen von Kirche treten. Bei Failing und Heimbrock richtet sich das Augenmerk auf die Frage, wie Kirche mit dem Heiligen umgehen kann, bei Steck darauf, wie Kirche die Krise des Privaten und Intimen im System Kleinkindfamilie deutend aufgreift, und bei Gräb schließlich auf den Aspekt der Deutung individuellen Sinns. Diese fundamentaltheologischen Gehalte der diversen Theorien gelebter Religion bringen zum Ausdruck, dass die unmittelbaren Selbstthematisierungen des neuzeitlichen Bewusstseins auch von den Theorien gelebter Religion zugunsten eines als produktiver und reflexionspraktisch höherstufig betrachteten theologischen Religionsbegriffs abgewertet werden. Auf dieser Basis lassen sich moderne Varianten der Kirchenbindung in ihrer je individuell mediatisierten Form nicht hinreichend wahrnehmen und theoretisch begreifen. Die Theorien gelebter Religion wollen (Steck) bzw. können (Failing, Heimbrock, Gräb) nur bedingt zu den empirisch wahrnehmbaren Subjekten durchdringen. So wie die Subjekte hier je gedeutete und spezifisch präformierte Subjekte sind, so kommt auch Kirchenbindung lediglich gedeutet und spezifisch präformiert in den Blick. Was heißt das alles in Bezug auf die Wahrnehmung von Kirchenbindung, wie sie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung aus der Perspektive der Theorie der mediatisierten Kommunikation erfolgt? Kann die spezifische Form der Subjektorientierung, wie sie den diversen Theorien gelebter Religion eignet, mediatisierte Formen der Kirchenbindung theoretisch einholen? Damit ist die Frage nach Chancen und Grenzen der Theorien gelebter Religion für die Wahrnehmung moderner mediatisierter Kirchenbindung gestellt. Die dominante Lösungsstrategie, derer sich evangelische Theologie zur Deutung der Wirklichkeit bedient, ist seit der Reformationszeit dialektisch 346
angelegt. Dafür stehen Konstellationen wie Gesetz und Evangelium, Gerechter und Sünder, Schuld und Gnade usw. Die skizzierten Theorien gelebter Religion stehen diesbezüglich fest auf dem Boden der Tradition. Auch sie zeichnen sich durch einen dialektisch strukturierten Zugang zur Wirklichkeit, und das heißt konkret: zum gelebten Leben aus. Sie bedienen sich dazu nicht mehr der theologischen Großformen, wie das beispielsweise die Dialektische Theologie getan hat. Vielmehr brechen sie die dialektischen Reflexionsfiguren auf die Ebene des Alltags herunter und finden so einen Zugang zu je individualisierter Religionspraxis. In der Perspektive der Theorien gelebter Religion kehren die dialektischen Reflexionsfiguren in der Weise wieder, dass einem im Modus der alltäglichen Krisen im Kleinen gedachten Leben diverse Formen religiöser Deutung und Plausibilisierung gegenübergestellt werden. Neben die alltäglichen Umbruchs- und Neuorientierungssituationen, die das Leben des neuzeitlichen Subjekts auszeichnen, tritt die Religion mit ihren Deutungs- und Plausibilisierungsangeboten. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel Biografien, dann lassen sie sich ausschließlich im Modus einer Identität in Unterbrechung wahrnehmen. Die den Theorien gelebter Religion innewohnende dialektische Grundstruktur schlägt sich in der Weise nieder, dass das Subjekt nur als fragmentiertes Subjekt in Erscheinung treten kann. Gelebte Religion dient dann der De-fragmentierung des Subjekts. Sie vollzieht sich, indem neben die Umbruchs- und Orientierungssituationen des neuzeitlichen Subjekts religiöse Phänomene gestellt werden, sei es das Heilige oder diverse Formen der Sinndeutung. In dieser Weise können auch die Biografien betrachtet werden, die die vorliegende Untersuchung präsentiert: Jede der vier Biografien weist eine je spezifisch neuzeitliche Krisensignatur auf, indem sie Situationen des Umbruchs und der Neuorientierung thematisiert. Dementsprechend lassen sich auch religiöse Deutungs- und Plausibilisierungsstrategien identifizieren, wie sie die hier betrachteten Theorien gelebter Religion anbieten. Schließlich ließe sich daran anknüpfend für jede Biografie sagen, inwieweit die Kirche in der Lage ist, mit bestimmten, auf die gelebte Religion bezogenen Praxisformen die jeweiligen Subjekte der Biografien zu binden. Mit all dem tritt tatsächlich gelebte Religion zutage und wird als solche greifbar. Es stellt sich nur die Frage, wer die eigentlichen Subjekte solchermaßen definierten gelebten Lebens und gelebter Religion sind. Sind es noch die Subjekte, die die jeweiligen Biografien hervorgebracht haben, deren Leben, Religion und Kirchenbindung hier zur Sprache kommt? Bei allem Anhalt der Theorien gelebter Religion an den realen Lebensbedingungen der Subjekte bzw. Individuen muss diese Frage dennoch verneint werden. Der normativ-dialektisch angelegte Zugriff der Theorien 347
gelebter Religion auf modernetypische Biografien führt zwangsläufig zu einem Regiewechsel in der Deutungshoheit der jeweiligen Biografien. Indem diese von vornherein fragmentiert, d.h. als Identität in Unterbrechung wahrgenommen werden, werden die Deutungsleistungen der biografiegenerierenden Subjekte größtenteils zugunsten der von außen an die Biografien herangetragenen theologischen Deutungsleistungen verdrängt. Die Subjekte der auf dieser Grundlage bestimmten gelebten Religion sind dann nicht mehr die biografiegenerierenden Subjekte, sondern die theologisch deutenden Subjekte.26 Aus der Sicht der eigentlichen biografischen Subjekte, d.h. aus Sicht der Erzählerinnen und Erzähler stellt sich das alles anders dar. Die von ihnen entfalteten Biografien stehen gerade nicht für eine Identität in Unterbrechung. Vielmehr sind in ihnen Versuche einer seriellen Identitätsstiftung zu sehen. Dabei werden weniger Definitionsleistungen erbracht, etwa im Sinne einer Bestimmung der Krisensituation des modernen Menschen oder der neuzeitspezifischen Religion, sondern vor allem Assoziationsleistungen: Aus dem Erzählstoff, den die Lebensgeschichte bereitstellt, wird ausgewählt, gewichtet, moduliert. Wie sich die und der Einzelne in ein Verhältnis zur Wirklichkeit und insbesondere zur sozialen Wirklichkeit, d.h. zum Beispiel auch zur Kirche, gesetzt sehen will, wird auf je individuelle Weise entschieden und kann, so die These der vorliegenden Untersuchung, als individualisierte Form mediatisierter Kommunikation verstanden werden. Was aus der Sicht der Theorien gelebter Religion dialektisch formiert gegenübergestellt wird, z.B. eine Alltagskrise hier und die dazu passende religiöse Plausibilisierung dort, das stellen die biografiegenerierenden Subjekte im Modus serieller Kontinuität assoziativ nebeneinander. Aus ihrer Sicht müssen die Relationen, die die Theorien gelebter Religion anbieten, keineswegs zutreffen. So können religiöse Erfahrungen geschildert werden, ohne automatisch auf Krisenphänomene bezogen zu werden. Umgekehrt können Krisenphänomene narrativ plausibilisiert werden, ohne auf Religion Bezug zu nehmen. Oder Erfahrungen mit der Kirche können geschildert werden, ohne dass das etwas mit der Religion der Erzählerin oder des 26 Hier zeigt sich einmal mehr die Tragfähigkeit der These von Joachim Matthes, wonach Religion und Religiöses diskursive Tatbestände sind. Hinter jeder Rede von Religion steht ein spezifisches Verständnis davon, was jeweils darunter zu verstehen ist. Um Religion und Religiöses in der Moderne angemessen erfassen zu können, würde es keinen Sinn ergeben, wenn nun jede Position auf der alleinigen Richtigkeit ihrer Position beharren würde und nur die aus ihrer Perspektive als Religion und Religiöses bestimmbaren Tatbestände als Religion anerkennen würde. Der pluralen Verfasstheit moderner Gesellschaften entsprechend kann Religion, so Matthes, nur angemessen erfasst werden, wenn sie nicht auf bestimmte, definitorisch festgelegte Tatbestände beschränkt wird, sondern als Diskurs unterschiedlicher Positionen, die sich gegenseitig bedingen; vgl. Matthes 1992.
348
Erzählers zu tun hat. Hier gibt es je eigene Logiken, die von den Theorien gelebter Religion nicht eingeholt werden können.27 Für die Wahrnehmung moderner mediatisierter Kirchenbindung hat das zur Folge, dass die Theorien der gelebten Religion nur eine begrenzte Leistungsfähigkeit haben. Unumstritten ist, dass sie eine Reflexionsperspektive bieten, die den neuzeitlichen Lebensbedingungen und Verfasstheiten von Religion in wesentlich höherem Maße Rechnung tragen, als dogmatische Globalaussagen. Die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit sind jedoch ebenfalls offenkundig: Ihr deutend-normativer Zugriff auf moderne Biografien versperrt den Blick auf die Deutungsleistungen der Subjekte des gelebten Lebens. Die Art und Weise, wie Erfahrungen und Erlebnisse mit der Kirche in die je individuelle Biografie eingewoben werden, und die dahinter stehenden Entscheidungen und Bewusstseinsleistungen können mit den Theorien der gelebten Religion nicht hinreichend erfasst werden. Die empirisch wahrnehmbaren Subjekte an sich sind aus dieser Perspektive nicht einzuholen. In Bezug auf die Praktischen Theologien gelebter Religion heißt das, dass zwar eine Hinwendung und theologische Aufwertung des Subjekts stattfindet. Seine eigentlichen Bewusstseinsleistungen, auf die hin sich die jeweiligen Theorien orientieren, können jedoch nur insoweit erfasst und theologisch gewürdigt werden, als sie von dem Koordinatensystem der jeweiligen Theorie erfasst werden können. Damit stehen die Theorien gelebter Religion hinsichtlich der Wahrnehmung moderner Formen der Kirchenbindung in der Gefahr, bestimmte Bindungsphänomene, die theoriekonform sind, zugunsten anderer, die nicht theoriekonform sind, aufzuwerten. Auch wenn diese Distinktionen gewiss nicht auf Vergemeinschaftung als einzig legitime Form der Kirchenbindung zielen, so können sie auf Grund ihrer theoriebezogenen Zweckgebundenheit individuell mediatisierte Formen der Kirchenbindung nicht hinreichend erfassen.
27 An dieser Stelle sei an Henning Luthers Überlegungen zum Verhältnis von Identität und Fragment erinnert. Indem er aus der Perspektive des christlichen Glaubens auf die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität hinweist, macht er deutlich, dass Identitätsbildungsprozesse unabschließbar sind; vgl. Luther 1992, 160–182. So richtig diese Feststellung ist, so groß ist gerade für Theologie und Kirche die Gefahr, den Einzelnen und die Einzelne ausschließlich aus der Perspektive der Fragmentarität heraus zu betrachten und ihn oder sie deutend darauf festzulegen. Die individuellen Deutungsleistungen, die Menschen in Bezug auf ihre je eigene Identität erbringen und die gleichsam als Momentaufnahmen beispielsweise in biografisch-narrativen Interviews vorliegen, können dabei leicht aus dem Blick geraten. Zumindest für den Augenblick sind solche Momentaufnahmen Versuche, eine Identität in ihrer Ganzheit zu zeichnen. Dies gilt es theologisch wahrzunehmen und zu würdigen, um ein unangemessenes Hierarchiegefälle zwischen den theologisch deutenden einerseits und den theologisch gedeuteten Subjekten andererseits zu vermeiden.
349
3. Profilierung der praktisch-theologischen Subjektorientierung Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die fundamentaltheologischen Implikationen, die die betrachteten Theorien gelebter Religion mit sich führen, einerseits die Grundlage für die Subjektorientierung der Praktischen Theologie bilden können, andererseits jedoch gerade diese fundamentaltheologischen Implikationen in Gestalt ihrer dialektisch einander zugeordneten Definitionen moderner Lebensbedingungen und Religion einer konsequenten Subjektorientierung im Wege stehen. Unter konsequenter Subjektorientierung ist im Duktus der vorliegenden Untersuchung eine praktisch-theologische Hinwendung zu den empirisch wahrnehmbaren Subjekten zu verstehen, die die Lebens- und Reflexionsvollzüge der Menschen nicht sogleich ihrerseits deutend rezipiert, sondern ihre je individuellen Bewusstseinsleistungen in Gestalt von Lebensdeutungen und den diversen Formationen narrativer Plausibilisierung als eigenständige Beiträge im Kontext theologischer Reflexion wahrnimmt und würdigt. Eine solche Form der Subjektorientierung wäre die Voraussetzung dafür, die Konturen je individuell mediatisierter Formen der Kirchenbindung theologisch wahrnehmen und als eigenständige Leistung würdigen zu können, mit der es gelingt, eine dem je individuellen Leben entsprechende Form der Kirchenbindung zu gestalten. Kurz: Soll die Subjektorientierung der Praktischen Theologie im hier zugrunde gelegten Sinn konsequent profiliert werden, dann gilt es, nach Wegen zu suchen, die die Subjekte dem Status des zu deutenden Objekts entheben und sie als aktiv handelnde ins Licht rücken. Der Beitrag, den die vorliegende Untersuchung zu einer so verstandenen Profilierung der Subjektorientierung in der Praktischen Theologie leisten möchte, besteht in einem Gespräch mit außertheologischen Theoriebeiträgen, die das Subjekt mit seinen je spezifischen Eigenleistungen in Bezug auf die individuelle Lebensbewältigung und -deutung stark machen. Das Gespräch soll vor Augen führen, dass es gute Gründe gibt, das Subjekt nicht nur in einem tendenziell defizienten und angesichts alltäglicher Krisen- und Umbruchssituationen auf religiöse Deutungshilfe angewiesenen Modus zu betrachten, sondern mit je eigenen Kompetenzen der Subjekte zu rechnen, wenn es darum geht, das Leben unter den Bedingungen der Moderne zu bewältigen – und auch so etwas wie die Bindung zur Kirche zu gestalten. In dieser Weise wird im folgenden das Gespräch mit Hans Blumenberg und vor allem Helmuth Plessner aufgenommen. Diese Wahl mag überraschen. Schließlich haben beide Theoretiker in Epochen gewirkt, die lange vergangen sind, so dass es zunächst fraglich erscheinen kann, ob sich von Blumenberg und Plessner in der Gegenwart überhaupt etwas lernen lässt, das für ein tiefergehendes Verständnis des Subjekts in der Moderne nützlich sein könnte. Gerade im Hinblick auf den Prozess der Individualisierung, der das 350
Leben in modernen Gesellschaften maßgeblich prägt, könnte gefragt werden, warum nicht auf neuere Theorieansätze rekurriert wird – etwa diejenigen von Ulrich Beck und Gerhard Schulze. In der Tat bieten Beck und Schulze profunde Beschreibungen und Reflexionen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse. Doch indem Beck vor allem die Risiken heraus stellt, die die fortschreitende Individualisierung für die Menschen mit sich bringt,28 und Schulze die Konturen einer nicht mehr enden wollenden Erlebnisspirale zeichnet, in die die Menschen durch die Individualisierung gedrängt werden,29 liegt der Schwerpunkt und das konstruktive Potenzial dieser Theorieansätze stärker auf dem Aspekt der Problemanalyse. Strategien, Kompetenzen und Fertigkeiten, mittels derer die Individuen das Leben unter den Bedingungen der Moderne bewältigen, kommen dagegen weniger in den Blick. Der Hauptgrund, nun dezidiert das Gespräch mit Blumenberg und Plessner aufzunehmen, liegt in dem Interesse, das beide gerade den Strategien, Kompetenzen und Fertigkeiten entgegenbringen, mit denen Menschen auf die Lebensbedingungen der Moderne reagieren. Die historischen Kontexte, in denen beide jeweils zu verorten sind, erklären dieses Interesse und die Intensität, mit der es verfolgt wird. So hat das Werk Blumenbergs den Schwerpunkt seiner Genese in den 70er und 80er Jahren. Nicht zuletzt die damalige gesellschaftliche und kulturelle Grundgestimmtheit, die etwa von der Atmosphäre des kalten Krieges und dem zunehmenden Bewusstsein für ökologische Fragen geprägt ist, macht Blumenberg besonders sensibel für die Frage, wie der Mensch unter den Bedingungen der Moderne sein Leben bewältigen, ja, wie er überleben kann. Blumenberg leuchtet dabei einerseits die Lebensbedingungen der Menschen aus. Andererseits führt er aber auch konsequent die Fertigkeiten vor Augen, die die Menschen entwickelt haben, um das Leben unter den Bedingungen der Neuzeit zu bewältigen. Sind es bei Blumenberg eher die äußeren Lebensbedingungen des neuzeitlichen Subjekts, die seine Überlegungen prägen, so liegt bei Plessner der Schwerpunkt auf der Frage, wie Menschen unter den Bedingungen der Moderne ihr inneres, seelisches Leben gestalten. Plessners Fragestellung und der dazu gehörende Antwortvorschlag haben ihren Ort in den 20er Jahren. Dabei ist es insbesondere die Radikalisierung des Gemeinschaftsgedankens, wie sie sowohl von kommunistischer als auch nationalsozialistischer Seite forciert wird, die ihn sensibel macht für die Frage nach den soziologischen Aspekten des Inneren des Menschen, seiner Individualität – von ihm Seele genannt –, die sich der radikalen Vergemeinschaftung sperrt. 28 Vgl. z.B. Beck 1986. 29 Vgl. Schulze 1997.
351
In der Zusammenschau bieten Blumenberg und Plessner zwei in gewisser Weise komplementäre Zugänge zu der Frage, wie Menschen unter den Bedingungen der Moderne ihr Leben bewältigen. Bei Blumenberg steht dabei gleichsam die Außenseite des Menschen im Vordergrund, bei Plessner seine Innenseite. Für das Gespräch mit Plessner spricht neben den bisher genannten Gründen, dass gerade sein frühes Werk, auf das sich die folgenden Ausführungen beziehen werden, nach einer langen Phase der Vergessenheit eine Renaissance erfährt bzw. in Teilen ganz neu entdeckt wird und insbesondere in den Sozialwissenschaften inspirierende Perspektiven für die Analyse der modernen Gesellschaft bereitstellt – eine Entwicklung, die auch der Theologie neue Forschungsperspektiven eröffnen kann.30 Zunächst zu Blumenberg: Gleichsam wie ein Leitmotiv zieht sich durch die meisten seiner Schriften ein zweiteiliger Grundgedanke hindurch.31 Der erste Teil dieses Grundgedankens besteht aus der These einer gleichgültigen und rücksichtslosen Übermacht einer für sich genommen sinnlosen Wirklichkeit. Sie stellt die Wirklichkeit als Absolutismus heraus. Erläutert wird dieser Absolutismus der Wirklichkeit in mehreren Schritten. Da ist zunächst der spätmittelalterliche Gedanken von einer unzuverlässigen Welt, die sich in der Macht eines Willkürgottes befindet.32 Gottes „potentia absoluta“33 macht Gott zu einem “deus absconditus”.34 Als solcher ist er für die Menschen so gut wie ein toter Gott, denn von seiner Fürsorge für die Welt und den Menschen ist nichts mehr erkennbar.35 An die Stelle des spätmittelalterlichen Willkürgottes treten dann die öden und sinnleeren Himmelswüsten des unermesslichen Weltalls: „Es ist dem Menschen nicht gelungen [...] zu erweisen, dass die Welt nur deshalb keine Wüste ist, weil er existiert, sie anschaut und über sie sprechen kann.“36 Einerseits vernichten diese Erkenntnisse die Wichtigkeit, Besonderheit und Bedeutsamkeit des Menschen. Andererseits gilt: Je klarer es wird, dass sich die stumme und unermessliche Welt um den Menschen nicht kümmert, desto stärker muss das Interesse des Menschen an sich selbst und seine Sorge um sich selbst sein.37 In Arbeit am Mythos38 führt Blumenberg explizit die Rede vom Absolutismus der Wirklichkeit ein. Nun gilt es als ausgemacht, dass die 30 Vgl. zur aktuellen Renaissance bzw. Neuentdeckung Plessners die Beiträge des Sammelbandes Eßbach u.a. 2002. 31 Vgl. Wetz 1993, 157–166. 32 Vgl. Blumenberg 1996. 33 Ebd., 179. 34 Ebd., 404. 35 Vgl. Wetz 1993, 32f. 36 Blumenberg 1981b, 184. 37 Vgl. Wetz 1993, 79. 38 Blumenberg 1986a.
352
Welt eigentlich grund- und zwecklos existiert und den Überlebens- und Sinninteressen des Menschen gegenüber rücksichtslos, unbarmherzig und gleichgültig ist: Der Mensch hat „die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand.“39 Doch Blumenberg lässt es nicht bei der Problemanalyse bewenden, sondern richtet seinen Blick auch auf die Kompetenzen und Fertigkeiten, mittels derer die Menschen das Leben bewältigen. So folgt auf den ersten Teil des Blumenbergschen Grundgedankens ein zweiter. Für die Menschen als schwache und hinfällige Wesen wäre der Absolutismus der Wirklichkeit unerträglich und unaushaltbar. Seit jeher suchen die Menschen deshalb nach Möglichkeiten, sich vom Absolutismus der Wirklichkeit zu entlasten. Blumenberg beschreibt diese als Leistungen der Distanz. Auf dem Wege des Domestizierens, Relativierens und Liquidierens versucht der Mensch die als Absolutismus erlebte Wirklichkeit auf Abstand zu bringen.40 Blumenberg nennt mehrere unterschiedliche Distanzleistungen, mit denen der neuzeitliche Mensch versucht, dem Absolutismus der Wirklichkeit zu begegnen. So etwa Wissenschaft und Technik, die dem Absolutismus der Wirklichkeit entgegengestellt werden41 oder den Versuch, die Erde als einzige Oase in der öden und unermesslichen Himmelswüste zu interpretieren, auf der die Menschen zumindest bis zu einem gewissen Grad ein sinnerfülltes Dasein fristen können.42 Ferner weist er sinnstiftenden Mythen, Erzählungen und Geschichten die Funktion zu, die sinnleere und übermächtige Wirklichkeit vom Menschen fernzuhalten43 und rekurriert auf die Figur der Lebenswelt, die für eine Behaglichkeit gewährende Stätte fragloser Selbstverständlichkeiten steht.44 Ähnlich verhält es sich schließlich mit der Kultur,45 die mit ihren Institutionen und Gewohnheiten angesichts des Absolutismus der Wirklichkeit Zuverlässigkeit, Übersicht und Orientierung gewährt.46 Nachdrücklich betont Blumenberg immer wieder, dass der Mensch solche Distanzierungen unbedingt benötigt, um die unerträgliche, übermächtige Wirklichkeit aushalten zu können. Mit seiner Argumentation ruft Blumenberg in einem umfassenden Sinn ins Bewusstsein, wie die Selbstwahrnehmung des Menschen in der Moderne näher beschrieben werden kann. Im Rahmen der Skizzierung der Theorie der mediatisierten Kommunikation wurde bereits dargestellt, dass der 39 Ebd., 9. Weiter illustriert Blumenberg den Absolutismus der Wirklichkeit an den Phänomenen Zeit und Raum; vgl. Blumenberg 1986b und 1989. 40 Vgl. Wetz 1993, 158. 41 Vgl. Blumenberg 1996. 42 Vgl. Blumenberg 1981b. 43 Vgl. Blumenberg 1986a. 44 Vgl. Blumenberg 1986b. 45 Vgl. Blumenberg 1989. 46 Vgl. Wetz 1993, 158.
353
Mensch auf der Ebene der funktionalen Primärdifferenzierung der Gesellschaft in seiner Ganzheit, in seiner Identität nicht mehr in Erscheinung tritt und wahrgenommen wird. Nicht mehr der Mensch als ganzer ist hier die relevante Größe, sondern spezifische Rollenaspekte. So gesehen, so könnte man es in der Blumenbergschen Diktion ausdrücken, ist der Mensch auf der Ebene der gesellschaftlichen Primärdifferenzierung einem Absolutismus der Wirklichkeit ausgeliefert, der konkret in einem Absolutismus der gesellschaftlichen Teilsysteme zu sehen ist, die den Menschen ihren jeweiligen Systemanforderungen entsprechend, dividieren. Geht es um den Menschen als ganzen, um seine Identität, so wurde es oben bereits dargestellt, ist der Mensch einzig auf sich selbst verwiesen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird die Mediatisierung der Kommunikation als eine spezifische Leistung des einzelnen Menschen herausgestellt, die es ihm ermöglicht, sich vom Absolutismus der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu distanzieren und sich im Sinne der notwendigen Selbstsorge in ein angemessenes Verhältnis zu ebendieser Gesellschaft zu setzen. Das gilt auch für das Verhältnis, in das sich der und die Einzelne zur gesellschaftlichen Großorganisation Kirche als Teil des Religionssystems der Gesellschaft stellt. Auch hier muss der und die Einzelne auf eine bestimmte Art des Absolutismus der Wirklichkeit reagieren. Der Blick auf den Grundgedanken, der dem Werk Blumenbergs zu entnehmen ist, zeigt, dass die Mediatisierung der Kommunikation in einer Reihe zahlreicher weiterer Distanzierungsformen zu sehen ist, auf die Menschen in der Moderne rekurrieren müssen, um dem Absolutismus der sie umgebenden Wirklichkeit im Sinne praktizierter Selbstsorge zu begegnen. Es ist jedoch nicht nur der notwendige Umgang mit dem gleichsam von außen wirkenden Absolutismus der Wirklichkeit, der den Menschen zur Selbstsorge drängt. Es ist, in gewisser Weise dem korrespondierend, auch das Moment der Innerlichkeit, das notwendige Umgehen mit der eigenen Seele, das den Menschen dazu veranlasst, für sich selbst Sorge zu tragen – gerade im Blick auf seine Wahrnehmung in der Gesellschaft. An dieser Stelle wird nun das Gespräch mit Helmuth Plessners aufgenommen.47 Die 47 Plessner kommt in den letzten Jahren zunehmend ins Gespräch, vor allem im Bereich der Sozialwissenschaften. Genauso wie Blumenberg fasziniert Plessner durch eine Vielzahl an Themen, die er anspricht. Eine originelle Kant-Exegese, ästhetische Phänomene, biophilosophische und sozialphilosophische Fragen, geschichtliche Prozessdarstellungen, methodische Reflexionen und polemische Eingriffe in die Diskurse seiner Zeit bilden das Spektrum seines Werkes, das, ohne einem System zu folgen, dennoch einen Zusammenhang findet im Programm einer philosophischen Anthropologie. Systematisch entfaltet ist diese in Plessners im Jahr 1928 erschienenem Grundlagenwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (vgl. Plessner 1975). In der theologischen Debatte, insbesondere in der Seelsorgelehre, wird Plessner bislang kaum rezipiert. So findet sich beispielsweise weder im Lehrbuch von Klaus Winkler (Winkler 1997) noch in dem
354
folgenden Ausführungen basieren auf seinem Buch Grenzen der Gemeinschaft aus dem Jahr 1923.48 In der programmatischen Schrift setzt sich Plessner kritisch mit dem sozialen Radikalismus und den Gemeinschaftsgedanken seiner Zeit auseinander. Dabei bezieht sich die Kritik weniger auf die Formen der Gemeinschaft, vielmehr geht es ihr um eine Begrenzung der Erwartung der radikalen Auflösung aller Fremdheit in der Gemeinschaft.49 So konfrontiert Plessner den Idealtypus von Gemeinschaft, der sich in der Idee des völligen Aufgehobenseins der individuellen Persönlichkeit in der Gemeinschaft Ausdruck verschafft, mit den „realen Gegebenheiten.“50 Für Plessner ist ein völliges Aufgehen des Individuums in der Gemeinschaft aus anthropologischen Gründen undenkbar: Mag hundertmal nach der Idee das Ineffabile individueller Eigenart vom Seinsgrund der Gemeinschaft und damit von all ihr Angehörenden mit erfasst sein, tatsächlich durchdringen die Menschen sich doch nie bis auf den Grund, der gar nicht festliegt, weil er ewige Potentialität ist.51
Plessner definiert als den Ort dieser ewigen Potentialität die Seele. Sie ist stets mehr als das, was nach außen hin von ihr erkennbar ist, d.h. sie ist stets mehr als ihre Form. Die Seele ist „mehr als diese geformte Wesenheit, sie ist der Urquell dazu, der Urgrund von Fähigkeiten, die Gestalt werden können, ohne Gestalt zu werden.“52 Im Blick auf die Idee der Gemeinschaft heißt das: Jedes Zusammenleben führt immer schon die Möglichkeit des Aneinandervorbeilebens mit sich, weil die Seelen mehr sind, als was sie wirklich sind. Plessner schließt daraus: „Auf die Gnade völligen Einklangs der Wesen lässt sich Gemeinschaft nicht bauen.“53 Distanz gehört somit immer schon zum Zusammenleben von Menschen, auch in Gemeinschaft, dazu. Auf diesem Hintergrund fragt Plessner, was genau die Menschen in Distanz voneinander treibt. Ist es eine Schwäche der menschlichen Natur, Stolz, Eitelkeit, Hochmut? Plessner lehnt solche Erklärungsversuche ab. Für ihn ist es stattdessen das „Bewusstsein vom Besitz einer Seele“,54 das die Menschen im sozialen Umgang miteinander auf Distanz hält. Es ist „das Leben im Zentrum einer empfindenden, wollenden, denkenden, der Umwelt und dem eigenen Leibe gegenüber eigenwilligen, an Tiefe und innerer aktuelleren von Jürgen Ziemer (Ziemer 2000) ein Hinweis auf Plessner. Zu Plessners Werk und Person vgl. Haucke 2000, 7–18. 48 Plessner 2002. 49 Vgl. Eßbach u.a. 2002, 9. 50 Plessner 2002, 59. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., 62.
355
Eigenschaftsfülle unvergleichlichen Innerlichkeit.“55 Gekennzeichnet sei diese Innerlichkeit, die Seele, durch eine spezifische Form der Zweideutigkeit. So erschöpfe sie sich nie im Gewordenen. Vielmehr passiere sie dieses Stadium der Bestimmtheit und Erschöpftheit nur, um wieder ins Werden, d.h. in die lebendige Aktualität überzugehen: „Aus einem unauslotbaren Quellgrund, dem Innern, steigen ihre schwer fassbaren Gestalten ins Licht des Bewusstseins, an dem sie wieder wie alle echten Geschöpfe der Nacht zergehen.“56 Damit sei die Seele Werden und Sein in einem. Plessner zieht daraus den Schluss, dass die Seele keine endgültige Beurteilung erträgt, sondern sich stattdessen gegen jede Festlegung und Formulierung ihres individuellen Wesens wehrt. Andererseits fordere sie das Urteil geradezu heraus und dränge danach, vom fremden Bewusstsein gesehen zu werden. Das seelische Leben sei daher notwendig von zwei Grundkräften bestimmt. Das sind „der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit.“57 Aus diesem „Antagonismus der Kräfte“,58 aus der Zweideutigkeit ihres Seins, kommt die Seele nicht heraus, weder durch Flucht ins Urteil noch durch die Flucht vor dem Urteil. In Bezug auf die Äußerung des Seelischen, seine Darstellung, hebt Plessner das Risiko der Lächerlichkeit hervor. So wirke der „pure Affekt, das Sich-los-lassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung [...] – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich.“59 Kein Ernst sei vor dem Umkippen ins Komische sicher. Erscheinend büße sie „die Kraft, welche ein Erscheinen bedingt und rechtfertigt“,60 zwangsläufig ein. Aus diesem Grund, gleichsam als Schutzfunktion gegen eine lächerliche Wirkung, täusche die Seele bei ihrem sichtbaren Hervortreten immer noch mehr vor, als sie faktisch schon ist. Sie „bekleidet sich mit Form“,61 damit sie auch das an der Oberfläche bleibt, was sie in ihrer unsichtbaren Tiefe ist. Es geht darum, „bei einem Maximum an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ein Maximum an gegenseitigem Schutz voreinander“62 herzustellen. Plessners entscheidende Frage ist es nun, wie es in der Fülle alltäglicher Interaktionssituationen gelingen kann, beidem, dem Drang nach außen und dem Schutz nach innen, Rechnung zu tragen. Seine Antwort: „Kann der 55 56 57 58 59 60 61 62
356
Ebd. Ebd. Ebd., 63. Ebd., 64. Ebd., 70. Ebd., 71. Ebd., 72. Ebd., 79.
Mensch es nicht wagen, einfach und offen das zu sein, was er ist, so bleibt ihm nur der Weg, etwas zu sein und in einer Rolle zu erscheinen.“63 Das ist zwangsläufig ein Kompromiss. Einerseits tritt der Mensch als solcher durch die ihn verallgemeinernde und objektivierende Maske zurück. Andererseits ermöglicht ihm dieselbe Maske, als Person nicht völlig zu verschwinden. Sollen alltägliche Interaktionen einander fremder Menschen gelingen, ist die Akzeptanz und Beachtung der jeweiligen Rolle, d.h. die Beachtung der Formen, von entscheidender Bedeutung: Unangreifbarkeit der Individualität wird mit stellvertretender Bedeutung erkauft. Stellvertretende Bedeutung setzt gleichbleibende Abstände zwischen die Individuen und wirkt als Form kompensatorisch einer Entwertung des Menschen in der Erscheinung entgegen.64
Als eigentliche Kraft, die hinter der Rolle, hinter der Form des Individuums steckt, und das soziale Miteinander reguliert, verweist Plessner auf den Nimbus. Um einen Nimbus zu erzeugen, genüge zunächst das einfache Vorgeben von etwas, das da sein und wirken soll, ohne tatsächlich da zu sein. Solle der Nimbus jedoch seine Funktion auch wirklich erfüllen, müsse zusätzlich das Gefühl hinzutreten, einer realen Macht gegenüberzustehen. Er muss mit einem gewissen Nachdruck in Szene gesetzt werden. Der Weg über den Nimbus befreit die Seele aus der dialektischen Dynamik einer ewig nach Berührung verlangenden und diese Berührung doch fliehenden, nach Antastung strebenden Unantastbarkeit [...]. An die Stelle des ursprünglichen, aber verwundbaren, zerstörbaren Nimbus, der in dem Noli me tangere-Charakter alles Psychischen gegeben ist, tritt durch die Irrealisierung der Person ein unzerstörbarer Nimbus, der das Rätsel löst: einen Menschen gleichzeitig maximal sichtbar zu machen und zu verhüllen.65
Damit schafft der Nimbus seinem Träger zugleich Raum und Anziehungskraft, Maske und Gesicht. In Bezug auf die Frage des sozialen Miteinanders stellt sich die Frage, wie mit dem so verstandenen Nimbus umgegangen wird, wie er angewandt wird. Plessner führt diesbezüglich zwei Kategorien ein. Die erste ist die Idee des Zeremoniells. Diese bezieht sich auf gleichbleibende, ruhende Verhältnisse zwischen Personen. Die Gesetze und Formen des Zeremoniells sind bindend und bedürfen keiner rationalisierenden oder moralisierenden Begründung. Das Zeremoniell ist da, um übernommen und angewandt zu werden. Dabei eignet ihm ein gewisser Spielcharakter. Die Individualität ordnet sich ihm unter. Als ein Allgemeines verbindet es eine Fülle von 63 Ebd., 82. 64 Ebd., 84. 65 Ebd., 84f; Hervorhebung G.K.
357
Personen, die in spezifisch definierten Verhältnissen zueinander oder zu dritten stehen, zu einheitlichem Verhalten von objektiv geregeltem Gepräge. Das Zeremoniell erfüllt die Funktion, die persönlichen Reibungsflächen auf ein Minimum zu reduzieren und gleichzeitig die Sicherheit und Würde des Benehmens zu erhöhen. Gerade die neuzeittypische Aufwertung der individuellen Persönlichkeit zieht die Ausbildung eines verstärkten Schutzes der Seele vor Preisgabe, Verletzung und Erniedrigung in der Öffentlichkeit nach sich und legt die Idee des Zeremoniells nahe.66 Die zweite Kategorie, die Plessner hinsichtlich der Sicherung des Nimbuseffektes einführt, ist die des Prestiges. Sie korrespondiert dem Zeremoniell so, dass diesem als starrer Lebensordnung, die den Einzelnen schützt, ihm und ihr aber aufgrund der von der seelischen Natur aufgedrungenen Vereinzelung keine Entfaltungsmöglichkeit bietet, ein Möglichkeitsraum geboten wird, der „Individualität für die Abenteuer des praktischen Lebens ein besonderes, einzigartiges Ansehen zu geben.“67 Wie das Zeremoniell hat auch das Prestige die Funktion, den und die Einzelne durch Unangreifbarkeit zu schützen. Im unterschied zum Zeremoniell ist die vom Prestige erzeugte Unangreifbarkeit jedoch nicht formal-abstrakt, objektiv-regelhaft angelegt, sondern ist als eine „aus der persönlichen Natur stammende, möglichst nicht eindeutig definierbare Kraft“ zu verstehen, „die dem einzelnen Kredit einbringt und die Umwelt an ihn glauben macht.“68 So verstanden ist das Prestige ein der Person spezifischer Kraftnimbus. Plessner fasst zusammen: Zeremoniell bewegt sich in äußeren Formen, die gemeinhin vergehen. Es stiftet Regeln und Gebräuche, treibt auf diese Art auch wohl manches Bleibende, doch ohne sonderliche Absicht, hervor. Prestige verlangt nach dauerhaften Mitteln, es erzeugt, indem es reelle Kräfte mobil macht, ernsthafte Bemühung um die Kraftquellen des menschlichen Daseins, es stiftet Kultur.69
In Bezug auf die Sorge um die eigene Seele, hält Plessner fest: Es ist nicht gut, sich zu sehr sehen zu lassen, wie man ist, auch nicht gut, restlos in einer Expression aufzugehen, die Folgen dieser Preisgabe vor dem eigenen Bewusstseinsblick, vom Blick der anderen ganz zu schweigen, machen sich stets in Ernüchterung und Schrumpfung gleichsam des seelischen Spannungsvolumens fühlbar und sichtbar. Wir bedürfen der Hemmung um unserer selbst willen, der Verhaltung, der Stauung, um Gefälle zu haben, und diesen bedeutenden Dienst erweisen Zeremoniell und Prestige durch die Rücksicht, die sie von uns verlangen.70 66 67 68 69 70
358
Vgl. ebd., 85–87. Ebd., 88. Ebd. Ebd., 90. Ebd., 91.
Der und die Einzelne sind in Bezug auf ihre Individualität und Identität einzig auf sich selbst verwiesen. Diesbezüglich, so hat es die Theorieskizze zur mediatisierten Kommunikation herausgestellt, gibt es kein gesellschaftliches Teilsystem, das dem und der Einzelnen zur Seite stehen würde. Auf der Ebene der modernetypischen funktionalen Primärdifferenzierung der Gesellschaft wird das Individuum als ganzer Mensch nicht wahrgenommen. Der einzige Ort, an dem eine Wahrnehmung dieser Art stattfindet, sind folglich die Individuen selbst. Im Gespräch mit Blumenbergs Neuzeitanalyse, die mit dem Theorem des Absolutismus der Wirklichkeit näher beschrieben wurde, wurde unterstrichen, dass dem einzelnen Menschen unter den Bedingungen der Moderne gar keine andere Wahl bleibt, als das individuelle Leben und seine je eigenen Zusammenhänge selbst zu organisieren und zu bewältigen. Das Gespräch mit Plessners Überlegungen zum Hygienesystem der Seele bekräftigt und präzisiert diese Sichtweise. Wie bei Blumenberg so sind es auch bei Plessner für den Einzelnen und die Einzelne unentrinnbare Strukturen, die dazu Anlass geben, dass das Individuum das je eigene Leben für sich selbst organisieren und bewältigen muss. Bei Plessner ist es die durch ein dynamisches Spannungsverhältnis konstituierte Seele mit ihrem gleichzeitigen Drang nach verborgener Innerlichkeit und expressiver Äußerlichkeit, die dem und der Einzelnen Sorge für sich selbst abverlangt. Der konkrete Weg der Selbstsorge führt bei Plessner ebenso wie bei Blumenberg über den Modus einer Distanznahme. Der Nimbus und die mit ihm einhergehenden gesellschaftlichen Koordinationsformen des Zeremoniells und des Prestiges sind die Distanzformen, die Plessner hervorhebt, um zu zeigen, wie Individuen in modernen Gesellschaften so leben können, dass sie der notwendigen Sorge um sich selbst Rechnung tragen können. Dabei gilt es zu unterstreichen, dass der Nimbus und insbesondere das Prestige eine Eigenleistung der Individuen darstellen, um an der gesellschaftlichen Kommunikation teilnehmen zu können. Das je individuelle Prestige stellt einen Distanzraum dar, der die Seele in einer spezifischen Form in Szene setzt, sie gleichzeitig aber auch vor gefährdender Entblößung schützt. Das kann im Einzelfall besser oder auch schlechter gelingen, es kann bewusst oder auch unbewusst geschehen. Fest steht in jedem Fall, dass es geschieht und dass die Organisation des je individuellen Prestiges eines Menschen niemand sonst übernehmen kann als der betreffende Mensch selbst. Schlägt man auf dieser Basis wieder eine Brücke zu den empirischen Fallbeispielen der vorliegenden Untersuchung, dann können die hier präsentierten und analysierten Biografien als je individuelle Formen des Prestiges konkreter Menschen gesehen werden. Es sind Versuche einzelner Personen, ein Bild von sich zu zeichnen, das das Innerste auf eine spezifi359
sche Art und Weise in Erscheinung treten lässt und es gleichzeitig, ähnlich wie eine Maske, schützt. Versucht man zwangsläufig verkürzend, nur mit einem Stichwort, das Prestige zu umschreiben, dass die vier Fallbeispiele zum Ausdruck bringen wollen, so könnte bei Herrn A. das Prestige eines ganz und gar spirituell lebenden Menschen erkennbar sein, bei Frau B. das Prestige einer Frau voller Tatendrang zum Wohle anderer Menschen, bei Herrn C. das Prestige des unentwegten Sinnsuchers und bei Frau D. das Prestige eines aktiven Gemeinschaftsmenschen. Damit ist jeweils der Rahmen benannt, in den die je individuell konturierten Formen mediatisierter Kirchenbindung eingezeichnet sind. Innerhalb dieses Rahmens gibt es einzelne Felder oder Punkte, an denen Kirche als Thema virulent wird, die übrige Fläche des Rahmens bleibt dagegen anderen Themen vorbehalten. Wohl gemerkt: Die je individuell gefüllten Rahmen stehen nicht für die reale Kirchenbindung und auch nicht für das reale Leben der Menschen. Es sind Deutungs- und Interpretationsleistungen, die Menschen nach außen geben, um ihrer Erscheinung ein bestimmtes Profil zu geben, gleichzeitig aber auch, um ihr Innerstes in seiner Unabschließbarkeit zu schützen – eben ein Prestige. Für die Profilierung der Subjektorientierung in der Praktischen Theologie, die auf der Basis formuliert wird, individuelle Formen der Kirchenbindung als Formen mediatisierter Kommunikation wahrzunehmen und darin die Eigenleistungen zu sehen, die Menschen unter den äußeren (Blumenberg) und den inneren seelischen (Plessner) Lebensbedingungen immer schon erbringen, ergeben sich folgende Konsequenzen: Die Hinwendung zum Subjekt, wie sie insbesondere die Theorien gelebter Religion vornehmen, ist unhintergehbar. Was jetzt erfolgen sollte, wäre gleichsam der nächste Schritt, nämlich der Wechsel des Fokus’ von der wissenschaftlichtheologischen und religionstheoretisch interessierten Deutung der Subjekte hin zu den genuinen Deutungs- und Inszenierungsleistungen, die die Subjekte in Bezug auf ihr Leben und damit auch in Bezug auf ihre Religion und ihre Bindung zur Kirche selbst hervorbringen. Nimmt man Plessners Überlegungen zur nicht abschließbaren Potentialität der Seele und zu ihrer im Prestige stets nur punktuellen Explikation – hier verstanden als eigenständige und notwendige Deutungs- und Inszenierungsleistung des Menschen – ernst, dann stellt sich damit eine niemals abschließbare Aufgabe. Doch das sollte kein Hinderungsgrund sein. Schließlich weiß die Theologie um die im Schöpfungshandeln Gottes angelegte Uneinholbarkeit des Lebens und die Einzigartigkeit einer jeden Seele, mit der ebenfalls die Unmöglichkeit einer völligen Einholbarkeit verknüpft ist. Im Grunde wendet Plessner genau diesen theologischen Sachverhalt in die Sprache sozialanthropologischer Rede und bringt auf diese Weise die Seele im Sinne ihrer letzten Verfügbarkeit zur Sprache. 360
Mit dem Interesse an den Eigendeutungen und Eigeninszenierungen des gelebten Lebens der Menschen gerät die Subjektorientierung der Praktischen Theologie vordergründig in eine paradoxe Lage. Einerseits wird ihr bewusst, dass ein abschließender theologischer Zugang zu den Subjekten nicht möglich ist: sie zeigen sich nur partiell, treten immer nur partiell in Erscheinung. Andererseits jedoch eröffnen sich durch das Gespräch mit den Lebensdeutungen und -inszenierungen der Subjekte gerade die hermeneutischen Zugänge, die die Subjekte als Subjekte in die praktisch-theologische Reflexion auf Augenhöhe integrieren können. Für die praktisch-theologische Reflexion über Kirchenbindung heißt das, dass sie ebenfalls nicht abschließbar ist. Indem jedoch auch in diesem Zusammenhang die Deutungs- und Inszenierungsaktivitäten der Subjekte verstärkt wahrgenommen werden, kann es ebenfalls zu hermeneutischen Freiräumen kommen, die neue Sichtweisen auf Kirchenbindung unter den Bedingungen der Moderne ermöglichen. Forschungspraktisch können die genuinen Deutungsleistungen der Subjekte auf dem Wege empirischer, genauer: qualitativ-empirischer Forschung in den praktisch-theologischen Diskurs eingeholt werden. Verfolgt man den hier vorgeschlagenen Weg der Profilierung praktisch-theologischer Subjektorientierung, dann ist empirische Forschung keine Zuarbeit mehr, auf die dann die eigentliche theologische Reflexion folgt. Vielmehr wird durch die praktisch-theologische Integration der Deutungsleistungen der Subjekte empirische Forschung bereits zu einer eigenständigen Form des TheologieTreibens auf Augenhöhe mit den im engeren Sinne hermeneutischen Vollzügen praktisch-theologischer Reflexion.71 Theologisch sprechen für diesen Vorschlag nicht zuletzt wesentliche Spezifika reformatorischer Theologie. Schließlich war der reformatorische Glaube eine Bewegung in die Welt hinein. Neu war die Sichtweise, den Glauben in der Welt bewähren zu können und zu dürfen, weil Gott als der Schöpfer diese Welt liebt. Auf Kosten sakramentaler Aus- und Abgrenzungen kam es so zu einer erneuerten Heiligung der Profanität. Aus der Sicht des reformatorischen Christentums ist die irdische Existenz damit nicht heillos, sondern, auf die Geschöpflichkeit der Welt verwiesen, heil-versprechend. Empirisch-sozialwissenschaftliches Arbeiten wird so gesehen theologisch virulent und „latent offenbarungshaltig.“72
4. Epilog Die vorliegende Untersuchung begann mit der Problemwahrnehmung, dass in Theologie und Kirche neben einem theologisch qualifizierten Gewahrwer71 Vgl. Ziebertz 2004. 72 Rau 2000, 586.
361
den modernetypischer sozialstruktureller Charakteristika wie Individualisierung, Pluralisierung und Differenzierung und der daraus resultierenden Vielfalt unterschiedlicher Formen der Kirchenbindung (Binnenpluralismus!) eine Fokussierung auf Vergemeinschaftung und die Herstellung sozialer Nähe als den eigentlich theologisch legitimen Formen der Kirchenbindung existiert. Auf dieser Grundlage ist der Begriff wie auch die Wahrnehmung der Kirchenbindung normativ präformiert: Kirchenbindung wird mit der Partizipation am Gemeinschaftsleben der Kirche und folglich mit sozialer Nähe identifiziert. Je nach Perspektive und theologischer Grundgestimmtheit resultiert daraus eine Wahrnehmung und Diagnose gegenwärtiger Kirchenbindung, die entweder von einer Bindungskrise und einem Bindungsverlust auf breiter Basis ausgeht oder unter Chiffren wie zum Beispiel „distanzierte Kirchlichkeit“ mit einem Wandel traditioneller Formen der Kirchenbindung hin zu modernetypischen Formen der Kirchenbindung rechnet. So steht in der gegenwärtigen Praktischen Theologie dem Postulat des Zerfalls das des Wandels gegenüber. Diese normativ grundierte Spannungslage steht einem vertieften Verständnis von Kirchenbindung unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft offenbar im Wege. Die praktisch-theologische Wahrnehmung von Kirchenbindung ist, zugespitzt formuliert, festgefahren. Angesichts dieser Problemlage wurde deshalb der Versuch unternommen, Distanz normativ zu neutralisieren und in der Perspektive mediatisierter Kommunikation in einem modifizierten Modell sozialer Koordination konstruktiv zu arrangieren. Natürlich ist auch dieser Vorschlag perspektivisch geschlossen. Im Vergleich zu den vorhandenen Zugangsweisen versteht er sich daher nicht als die richtigere Interpretation der Kirchenbindung in der Moderne, sondern als weitere Interpretation neben anderen. Distanz und Bindungslosigkeit als Bindung zu betrachten, ist auf den ersten Blick verwirrend. Üblicherweise steht gerade Nähe für sozialen Zusammenhalt und damit für Bindung. Die hier vorgeschlagene Änderung des Verständnisses von Bindung wird greifbarer in der Differenz von Nähe und Distanz. Indem das Konzept der mediatisierten Kommunikation sich nicht sogleich auf Nähe konzentriert, sondern vielmehr bei der Distanz ihren Ausgang nimmt, erklärt sie sozialkulturelle Differenz und wechselseitige Fremdheit zum Normalfall moderner interaktionsnaher Kommunikationsbeziehungen. Der Luxus naher und intimisierter Sozialbeziehungen wird dagegen für begrenzte Ausnahmesituationen reserviert. Dabei werden intimere Sozialbeziehungen jedoch keineswegs als zusammenhaltender oder konfliktfreier verstanden als distante Beziehungen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um die, je nach konkreter Lage, anstrengenderen, konfliktreicheren oder interessanteren. Für die überwiegende Mehrzahl der alltäglichen interaktionsnahen Kommunikationsbeziehungen einander fremder Menschen heißt das, dass 362
sie über mediatisierte Kommunikation bewältigt werden. In ihr ist eine Form sozialer Koordination zu sehen, die variabel angelegt ist, durch soziale Distanz und Anonymität motiviert ist und sich über einen Schaltmechanismus zwischen Nähe und Distanz situativ in intimisierter oder distanzierter Form reproduzieren kann. Aus dieser Perspektive betrachtet ergibt sich die scheinbare Paradoxie, dass erst auf der Basis von sozialer Distanz die modernen Bedürfnisse nach Authentizität, Gemeinschaft und Verständnis entstehen und im relativ konsequenzenfreien Raum mediatisierter Kommunikation ausgelebt werden können. Bezogen auf die Frage nach der Kirchenbindung heißt das, dass gerade die aus normativer Perspektive beklagte Distanz die Voraussetzung darstellt für das Zustandekommen der ebenfalls aus normativer Perspektive angestrebten sozialen Nähe in Form konkreter Vergemeinschaftung. Normativ neutralisiert und in der Logik mediatisierter Kommunikation ausgedrückt kann man sagen: Das eine, soziale Nähe, ist ohne das andere, soziale Distanz, nicht zu haben; wobei der Normalfall und Ausgangsmodus die soziale Distanz ist. Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass gerade die solchermaßen mediatisierte Form der Kommunikation innerhalb der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche die Voraussetzung dafür ist, dass so viele Menschen in einem konfliktfreien und stabilen, den eigenen Lebensumständen entsprechenden Verhältnis zur Kirche stehen können. Distanz und Nähe sind dabei keine Gegensätze, sondern im Horizont konkreter Lebensgeschichten – das haben die empirischen Fallbeispiele gezeigt – zwei Seiten einer Medaille. In praktisch-theologischer Sicht wurde mit dem Vorschlag, Kirchenbindung als Form mediatisierter Kommunikation zu betrachten, Neuland betreten: Soziale Distanz wurde nicht normativ rezipiert, sondern in ihrer Eigenschaft als einer modernetypischen Variante sozialer Bindung zur Kirche eingeführt. Ein solcher Zugang ist sowohl für die praktischtheologische Theoriebildung als auch für die kirchliche Praxis mit ihren vielfältigen Praxisfeldern relevant. Diese Relevanz kann sich jedoch nicht darin niederschlagen, nun eine Praktische Theologie der Kirchendistanz zu formulieren. Vielmehr umreißt der hier gewählte Zugang moderne gesellschaftliche Strukturen der Kommunikation, mit denen sich auch Theologie und Kirche konfrontiert sehen, die das Leben der Kirchenmitglieder und damit die Form ihrer Kirchenbindung betreffen sowie auf die vielfältigen Interaktionsformen in den diversen Praxisfeldern kirchlichen Handelns Einfluss nehmen. Mit dem Vorschlag einer Profilierung der Subjektorientierung der Praktischen Theologie wurde zumindest auf der Theorieebene eine erste Konsequenz gezogen, die die Prämissen der Theorie der mediatisierten Kommunikation praktisch-theologisch aufgreift. 363
Eine direkte Umsetzung der hier präsentierten Ausführungen über soziale Distanz in die kirchliche Praxis dagegen wäre vermessen. Dabei wären im Vorfeld mehrere Vorstufen und Überlegungen zu berücksichtigen. Zunächst wäre ganz grundsätzlich zu fragen, ob man sich überhaupt auf den Modellvorschlag einlassen will, Kirchenbindung im Koordinationsmodus mediatisierter Kommunikation zu betrachten. Fiele die Antwort positiv aus, wäre in einem weiteren Schritt zu klären, ob mediatisierte Kommunikation überhaupt konkreter Konsequenzen in der kirchlichen Praxis bedarf. Gerade die empirischen Fallbeispiele sollten zeigen, dass sich dieser Bereich der kirchlichen Beeinflussung weitgehend entzieht. Es sind vielmehr das Leben und die konkreten Lebensumstände, die hier prägenden Einfluss haben. Das Gespräch mit Blumenberg und Plessner hat das unterstrichen. Allerdings erstreckt sich die Reichweite kirchlicher Praxis auch auf eine kirchliche Nichteinmischung. Trotz des theologischen Anspruchs, durch die kirchliche Praxis den Menschen als ganzen wahrzunehmen – etwa in Form des am Lebenszyklus orientierten Kasualhandelns, des am Jahreszyklus ausgerichteten Kirchenjahres oder der vielfältigen Formen beratender Seelsorge –, kann sich die kirchliche Praxis nie auf alle Bereiche im Leben eines konkreten Menschen beziehen. Vielleicht wäre eine Konsequenz, die sich aus der Anwendung der Theorie der mediatisierten Kommunikation auf Fragen der Kirchenbindung ergibt, das Plädoyer für eine konsequente Nichteinmischung seitens der Kirche. Wie auch immer man mit der Frage nach konkreten Konsequenzen für die kirchliche Praxis umgehen mag, die vorliegende Untersuchung rechnet mit Erklärungsstärken des theoretisch basierten Modells der mediatisierten Kommunikation hinsichtlich der Frage nach der sozialen Bindung in der Kirche im Speziellen und der Koordination interpersonaler Kommunikation unter einander fremden Menschen im Allgemeinen. Sie verweist darauf, dass auch die kirchliche Kommunikation in modernen Gesellschaften von der Nichtkommunikation des Inkommunikablen betroffen ist und sie sowohl durch die kirchlichen Mitarbeitenden als auch durch die Kirchenmitglieder nicht nur durch das gestaltet wird, was Thema ist, sondern auch durch das, was im Modus kommunikativer Distanz nicht thematisiert wird. In der Praktischen Theologie, vor allem aber in den Programmatiken kirchlichen Handelns wird diese Distanz (bekannt als Autonomie und in problematisierender Absicht als geringe wechselseitige Kongruenz der Perspektiven73) im Kontext von Fragen der Kirchenbindung kaum reflektiert. Allerdings hat sich die kirchliche Praxis ohne Rücksicht auf die theoretischen Ungeklärtheiten unter der Hand längst auf moderne mediatisierte Kommunikationsformen eingerichtet. So decken die Partizipationsformen, 73 Vgl. zu dieser Problemlage besonders die Analysen von Matthes (1975, 1990).
364
die die Institution Kirche gegenwärtig anbietet, das gesamte Spektrum ab von ideeller Verbundenheit in Form eines Eintrags ins Mitgliedschaftsregister über die massenmedial vermittelte Teilnahme an einem Fernsehgottesdienst bis hin zur jahrelangen Teilnahme an einem wöchentlich stattfindenden Bibelkreis in einer Gemeinde. Aber auch interaktionsnahe Formen des kirchlichen Lebens im Speziellen wie z.B. der sonntägliche Gottesdienst folgen den Grundannahmen der mediatisierten Kommunikation: Die liturgisch-rituellen Vorgaben des Gottesdienstes wie Gebete, Lieder, Gesten etc. stellen Formen mittelbarer Kommunikation dar; ebenfalls diese liturgischen Vorgaben sind es, die dem Moment der geringen wechselseitigen Rückkopplung entsprechen; das Eingebettetsein in die Gruppe der Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes, die man keineswegs alle kennt und kennen kann, ermöglicht Anonymität und Distanz; schließlich fordern die vielfältigen Zeichenprozesse, die das gottesdienstliche Geschehen auf der Ebene von Raumerfahrung, Musik und Sprache ausmachen, hochgradige Selektion und individuelle Deutungsleistungen auf Rezipientenseite geradezu heraus.74 Die Liste der Organisationsformen und Angebote, an denen erkennbar wird, wie sehr auch die Institution Kirche mediatisiert kommuniziert, ließe sich leicht erweitern. Als Stichworte zum Weiterdenken seien das diakonische Handeln der Kirche genannt, ihre kulturellen Aktivitäten und ihre vielfältigen Formen der Bildungsarbeit. In der Konsequenz des Ansatzes der vorliegenden Untersuchung konnte die kirchliche Praxis auch gar nicht anders, als sich auf moderne mediatisierte Kommunikationsformen einzurichten, weil die Praxis genau unter den Verhältnissen stattfinden muss, die sie empirisch vorfindet. Für den Bereich der kirchlichen Praxis heißt das, dass sich die Beteiligten unmittelbar mit den Bedingungen destandardisierter sozialkultureller Verhältnisse auseinandersetzen. In ihrer Alltagspraxis korrespondiert der Pluralität von Einstellungen, Werthaltungen, Handlungs- und Lebensmustern75 eine Kommunikation der Mittelbarkeit und der geringen Wechselseitigkeit der Perspektiven wie in sonstigen Alltagsinteraktionen einander fremder Personen. Über ein mittlerweile standardisiertes wechselseitiges 74 In der praktisch-theologischen Theoriebildung hat man – zumindest implizit – mediatisierte Kommunikation als den Normalfall kirchlich-institutioneller Kommunikation schon seit längerem wahrgenommen. Insbesondere praktisch-theologische Reflexionen, die im Gespräch mit Rezeptionsästhetik und Semiotik erfolgen, reagieren darauf und zeigen Perspektiven auf, wie die unterschiedlichen Formen kirchlicher Praxis unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation gestaltet werden können. Als Beispiele solcher praktisch-theologischer Reflexionen vgl. z.B. Martin 1984; Garhammer/Schöttler 1998; Engemann 1993; Bieritz 1995; Meyer-Blanck 2000. 75 Das konkrete Ausmaß dieser Pluralität lässt sich leicht vor Augen führen, indem man sich klar macht, dass etwa Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer in der Regel für 1500 bis 2000 Gemeindeglieder zuständig sind.
365
Desinteresse, so könnte man als These formulieren, eröffnet die mediatisierte kirchliche Kommunikation einen neuen Variationsraum kirchlicher Beziehungen. Dieser Variationsraum basiert auf sozialer Distanz und Anonymität und erlaubt auf dieser Basis kirchliches Engagement und Formen wechselseitiger Solidarität als befristeten Luxus. Dauerzustände eines hochmotivierten kirchlichen Engagements würden alle Beteiligten überfordern und lassen sich in der empirisch wahrnehmbaren Praxis in der Regel nur als Farce aufrechterhalten. In der kirchlichen Praxis unterstützt mediatisierte Kommunikation somit die modernen Organisationsformen kirchlicher Institutionalisierung. Sie hilft in der kirchlichen Praxis, mit sozialkultureller Heterogenität und Diffusität umzugehen, weil diese Phänomene größtenteils nicht mehr kommuniziert werden müssen. Indem mediatisierte kirchliche Kommunikation immer mehr die Themen und Anforderungen einklammert, die von der kirchlichen Praxis unter modernen sozialkulturellen Verhältnissen nicht mehr zu bewältigen wären – zu denken wäre etwa an Postulate einer bedingungslosen und strengen Orientierung an normativ-dogmatischen Setzungen oder das Bestehen auf der Einhaltung eines engen kirchlichen Verhaltenskodex für die alltägliche Lebensführung –, bleibt professionelle kirchliche Arbeit unter institutionalisierten Bedingungen weiterhin möglich, auch wenn sich die Inhalte und die Formen kirchlicher Praxis im Vergleich zu früheren Zeiten verändert haben mögen. Dass es sich dabei keineswegs um einen einschränkenden Prozess pragmatischer Anpassung handelt, dafür stehen die empirischen Ausnahmen einer intimisierten kirchlichen Kommunikation, die erst durch die Destandardisierung traditioneller kirchlicher Verkehrsformen ermöglicht wurden. Paradigmatisch steht für diese intimisierten Formen kirchlicher Kommunikation der gesamte Bereich des sogenannten kerngemeindlichen Lebens. Trotz aller Distanz in der Kommunikation gibt es immer wieder Menschen, die in einer bestimmten Lebensphase größere soziale Nähe zur Kirche suchen und dementsprechende Angebote der Kirchengemeinden in Anspruch nehmen. Indem mediatisierte Kommunikation einen neuen Varianzraum möglicher kirchlicher Interaktionsbeziehungen schafft, werden neue Elemente in die kirchliche Praxis eingeführt, die über ausschließlich normativ motivierte Fürsorge oder über eine ideologisch angeregte Demonstration von Dauerengagement hinausgehen.76 76 Teilt man die Annahmen der Theorie der mediatisierten Kommunikation, dann ist das sogenannte kerngemeindliche Leben, das häufig zum Leitmodell für die Gestaltung kirchlicher Beziehungen stilisiert wird, keineswegs der letzte Rest eines in ungebrochener Tradition zur urchristlichen Gemeinde stehenden authentischen christlichen Miteinanders, sondern eine noch nicht all zu alte Form kirchlicher Beziehungsgestaltung, die in dieser Weise nur unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft möglich ist. Zur historischen Dynamik der organisationalen Strukturprinzipien von Kirche im Wandel der Zeit
366
Bleibt ein letzter Aspekt, der im Zusammenhang mit der Mediatisierung der Kommunikation in der Kirche bedacht werden soll. Es handelt sich um die Frage, wie mit sozialer Distanz als möglichem Ziel kirchlicher Bildungsarbeit umzugehen ist. Weder zielt diese Frage darauf, die Menschen zur Beziehungslosigkeit zur Kirche zu motivieren, noch darauf, den Menschen das Ideal kirchlicher Vergemeinschaftung aufzuzwängen. Letztlich bleibt der Umgang mit moderngesellschaftlichen kirchlichen Beziehungsstrukturen, so haben es die empirischen Fallbeispiele der vorliegenden Untersuchung gezeigt, der persönlichen Kompetenz des und der einzelnen überlassen. Eine solche Kompetenz lässt sich auf dem Wege institutionalisierter Bildung nicht vermitteln. Wohl aber kann es zum Ziel kirchlicher Bildungsarbeit erhoben werden, diese Fähigkeiten zu unterstützen. In der Perspektive protestantischer Theologie nicht überraschend bleiben religiöse Selbständigkeit und Autonomie die Elemente, die eine Brücke schlagen zwischen theologischen Ansprüchen und praktischer kirchlicher Bildungsarbeit. Die Orientierung an diesen Elementen vermag die hinter ihnen stehenden theologischen Ansprüche handlungspraktisch-situativ, nicht aber „technisch“ umzusetzen.
vgl. Pohl-Patalong 2003, 64–131, und zur historischen Einordnung der gegenwärtig präsenten kerngemeindlichen Leitvorstellungen dort besonders 97–109.125–128.
367
Literatur1
Abromeit, Hans-Jürgen, Was ist Spirituelles Gemeindemanagement? Notwendige Standards für die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, in: ders. u.a. (Hg.), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 9–30. Albrecht, Christian, Art. Religion, VI. Religion als Thema der Praktischen Theologie, in: RGG4, Bd. 7, Tübingen 2004, 295–298. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. Baacke, Dieter, Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien, München 1973. Barrenstein, Peter, Aufgewacht – „eMp“: Die Idee einer kleinen Revolution, in: Brummer, Arnd/Nethöfel, Wolfgang, Vom Klingelbeutel zum Profitcenter? Strategien und Modelle für das Unternehmen Kirche, Hamburg 1997, 129–133. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. Becker, Rolf-Walter, Religion in Zahlen. Ursprung und Wege der quantifizierenden Erforschung religiöser Orientierungs- und Verhaltensweisen, Heidelberg 1968. Berger, Johannes, Modernitätsbegriffe und Modernitätskritik in der Soziologie, in: Soziale Welt 2 (1988), 224–236. Berger, Peter L., The Noise of Solemn Assemblies, Garden City/New York 1961 (dt.: Kirche ohne Auftrag, Stuttgart 1962). –, The Sacred Canopy, Garden City/New York 1967 (dt.: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973). –, A Rumor of Angels, Garden City 1969 (dt.: Auf den Spuren der Engel, Frankfurt/M. 1970). Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, The Social Construction of Reality, New York 1966 (dt.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie zur Wissensoziologie, Frankfurt/M. 1991). –, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995. Bieler, Andrea, ‚You never look into another persons‘ eyes while passing the peace.‘ Hybridität und Ritualisation als Kategorien einer kritischen Liturgiewissenschaft im multikulturellen Kontext, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 9–21. Bieritz, Karl-Heinz, Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, Stuttgart 1995. –, Kult-Marketing. Eine neue Religion und ihre Götter, in: ZdZ 50 (1996), 204–209. Bismarck, Klaus von, Kirche und Gemeinde in soziologischer Sicht, in: ZEE 1 (1957), 17–30. Bloth, Peter C., Praktische Theologie (Grundkurs Theologie, Bd. 8), Stuttgart u.a. 1994. 1 Im fortlaufenden Text und in den Anmerkungen wird auf die im Literaturverzeichnis aufgeführten Werke mit dem Namen des Autors bzw. der Autorin und dem Erscheinungsjahr (gegebenenfalls mit zusätzlichen unterscheidenden Kleinbuchstaben) verwiesen. Die Abkürzungen folgen dem von S. Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie, Berlin/New York 1976.
368
Blumenberg, Hans, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981 [zit. 1981a]. –, Die Genesis der kopernikanischen Welt, 3 Bd., Frankfurt/M. 1981 [zit. 1981b]. –, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1986 [zit. 1986a]. –, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 1986 [zit. 1986b]. –, Höhlenausgänge, Frankfurt/M. 1989. –, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1996. Bobert, Sabine, Selbsttransformationen als Tor zum Heiligen. Zur Praktischen Theologie des multiplen Selbst und seiner Transformation in religiös und medial konstituierten Spielräumen, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 23–40. Bohnsack, Ralf, „Dokumentarische Methode“, in: Hitzler, Ronald/Honer, Anne (Hg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen 1997, 191–212. –, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 1999. Bohren, Rudolf, Predigtlehre, München 1971. Brandt, Sigrid, „Erfahrbare Kirche als soziales System. Antwort auf Rückfragen“. Rückfragen an Antworten, in: EvTh 52 (1992), 467–470. Breitenbach, Günter, Gemeinde leiten. Eine praktisch-theologische Kybernetik, Stuttgart u.a. 1994. Bremer, Helmut, Problemstellung: Die ‚Milieuverengung‘ und das Problem der ‚Distanzierten‘, in: Vögele, Wolfgang u.a. (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002, 55–67 [zit. 2002a]. –, Problemstellung: ‚Gesamtbild‘ und ‚Nahaufnahme‘: Anlage und Forschungsmethoden der Studie ‚Kirche und Milieu‘, in: Vögele, Wolfgang u.a. (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002, 135–148 [zit. 2002b]. Brüggemeier, Franz-Josef, Aneignung der Vergangenheit – Der Beitrag der Oral History, in: Voges, Wolfgang (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, 145–169. Bruhn, Manfred, Vorwort, in: ders. (Hg.), Ökumenische Basler Kirchenstudie. Ergebnisse der Bevölkerungs- und Mitarbeitendenbefragung, Basel 1999, IV–VI. Bruhn, Manfred/Lischka, Andreas, Qualitätswahrnehmungen und Zufriedenheit der Bevölkerung mit den Kirchen, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 43–68. Bruhn, Manfred/Lischka, Andreas/Siems, Florian/Portmann, Adrian/Schenker, Dominik, Zusammenfassung der Hauptergebnisse, in: ders. (Hg.), Ökumenische Basler Kirchenstudie. Ergebnisse der Bevölkerungs- und Mitarbeitendenbefragung, Basel 1999, 280– 298. Brummer, Arnd/Nethöfel, Wolfgang (Hg.), Vom Klingelbeutel zum Profitcenter?, Hamburg 1997. Dahlgrün, Corinna, Auf der Suche nach der zukünftigen, bleibenden Statt – Praktische Theologie im 21. Jahrhundert, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 41–54. Daiber, Karl-Fritz, Problemfeld Gottesdienst. Von der Analyse zur theologisch verantworteten Praxis, in: LM 13 (1974), 193–196. –, Empirische Sozialforschung im kirchlichen Auftrag, in: WPKG 64 (1975), 140–150. –, Bedingungen einer praxisbezogenen kirchensoziologischen Forschung. Überlegungen zur Vorbereitungsphase der VELKD-Studie, in: Seitz, Manfred/Mohaupt, Lutz (Hg.), Gottesdienst und öffentliche Meinung, Stuttgart/Freiburg 1977, 65–82. Degele, Nina, Art. Modernisierung, in: Endruweit, Günter/Trommsdorff, Gisela (Hg.), Wörterbuch zur Soziologie, Stuttgart 22002, 376f. Dehn, Günther, Die religiöse Gedankenwelt der Proletarierjugend in Selbstzeugnissen dargestellt, Berlin 1924.
369
Drechsel, Wolfgang, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus biographischer Perspektive, Gütersloh 2002. Drehsen, Volker, Die neuzeitlichen Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Gütersloh 1988. –, Lebensgeschichtliche Frömmigkeit. Eine Problemskizze zu christlich-religiösen Dimensionen des (auto-)biographischen Interesses der Neuzeit, in: Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 33–62. Dusza, Hans-Jürgen, Das Gottesdienst-Projekt „Guten-Abend-Kirche“ in Billmerich, in: Abromeit, Hans-Jürgen u.a. (Hg.), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 129–136. Ehlich, Konrad, Der Alltag des Erzählens, in: ders. (Hg.), Erzählen im Alltag, Frankfurt/M. 1980. EKD (Hg.), Brücken bauen, Heft 1: Das Rahmenmodell, Hannover o.J. [zit. EKD o.J.a]. –, Brücken bauen, Heft 2: Brücken bauen als Kirchenentwicklungsprogramm, Hannover o.J. [zit. EKD o.J.b]. –, Brücken bauen, Heft 3: Kommunikationstraining, Hannover o.J. [zit. EKD o.J.c]. –, Brücken bauen, Heft 4: Öffentlichkeitsarbeit, Hannover o.J. [zit. EKD o.J.d]. –, Brücken bauen, Heft 5: Glauben entdecken, Hannover o.J. [zit. EKD o.J.e]. Engelhardt, Klaus/Loewenich, Hermann von/Steinacker, Peter (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997. Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen, Tübingen/Basel 1993. Erne, Thomas, Rhetorik und Religion. Studien zur praktischen Theologie des Alltags, Gütersloh 2002. Eßbach, Wolfgang/Fischer, Joachim/Lethen, Helmut, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte, Frankfurt/M. 2002, 9–14. Evangelisch-Lutherisches Dekanat München, Das Evangelische Münchenprogramm eMp (überarbeitete Fassung zum Stand der Umsetzung im Juli 1998, basierend auf der Zusammenfassung der Ergebnisse vom 22. Juli 1996), München 2001. Evangelischer Pressedienst, Zentralausgabe Nr. 90 vom 12. Mai 2003, Frankfurt/M. 2003. Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998. Fechtner, Kristian, Praktische Theologie als Erkundung. Religiöse Praxis im spätmodernen Christentum, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 55–66. Feige, Andreas, Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Zentrale Perspektiven empirischer Forschungsarbeiten im problemgeschichtlichen Kontext der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945, Gütersloh 1990 [zit. 1990a]. –, Empirische Daten zur gegenwärtigen biographischen Rolle von Religion, in: Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 63–78 [zit. 1990b]. –, Einführung, in: ders./Dressler, Bernhard/Lukatis, Wolfgang/Schöll, Albrecht: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen, Münster 2000, 15–32. Feige, Andreas/Dressler, Bernhard/Lukatis, Wolfgang/Schöll, Albrecht: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen, Münster 2000. Feige, Andreas/Lukatis, Ingrid, Empirie hat Konjunktur. Ausweitung und Differenzierung der empirischen Forschung in der deutschsprachigen Religions- und Kirchensoziologie seit den 90er Jahren – ein Forschugnsbericht, in: PrTh 39 (2004), 12–32.
370
Fetzer, Joachim u.a. (Hg.), Kirche in der Marktgesellschaft, Gütersloh 1999. Fischer, Wolfram, Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten: in: Kohli, Martin (Hg.), Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978, 311–336. –, Soziale Konstitution von Zeit in biographischen Texten und Kontexten, in: Heinemann, Gottfried (Hg), Zeitbegriffe, Freiburg 1986, 355–377. Fischer, Wolfram/Kohli, Martin, Biographieforschung, in: Voges, Wolfgang (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, 25–49. Flick, Uwe, Design und Prozess qualitativer Forschung, in: ders./Kardorff, Ernst von/ Steinke, Ines (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 252–265. Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines, Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick, in: Diess. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 13–29. Fuchs-Heinritz, Werner, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Opladen 2000. Fürstenberg, Friedrich/Mörth, Ingo, Religionssoziologie, in: König, René (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 14, Religion. Bildung. Medizin, Stuttgart 1979, 1–84. Garhammer, Erich/Schöttler, Heinz-Günther (Hg.), Predigt als offenes Kunstwerk. Homiletik und Rezeptionsästhetik, München 1998. Geißler, Rainer, Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992. Gerstenkorn, Uwe, Hospizarbeit in Deutschland. Lebenswissen im Angesicht des Todes, Stuttgart u.a. 2004. Gerster, Gerhard/Pfister, Xaver, Die Basler Situation, in: Bruhn, Manfred (Hg.), Ökumenische Basler Kirchenstudie. Ergebnisse der Bevölkerungs- und Mitarbeitendenbefragung, Basel 1999, 7. Göbel, Markus, Art. Interaktion [3], in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995, 308. Göhre, Paul, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Sozialreportage eines Pfarrers um die Jahrhundertwende, hrsg. v. Joachim Brenning/Christian Gremmels, Gütersloh 1978. Görler, Hartmut/Lutterbeck, Karl-Erich/Espelöer, Martina/Ebert, Christhard, Spirituelles Gemeindemanagement in der Praxis, in: Abromeit, Hans-Jürgen u.a. (Hg.), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 137–162. Goldschmidt, Dietrich u.a. (Hg.), Soziologie der Kirchengemeinde, Opladen 1960. Gräb, Wilhelm, Der hermeneutische Imperativ. Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung, in: Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 79–89. Gräb, Wilhelm, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. Grözinger, Albrecht, Es bröckelt an den Rändern. Kirche und Theologie in einer multikulturellen Gesellschaft, München 1992 [zit. 1992a]. –, Die Predigt soll nicht Antworten geben, sondern Antworten finden helfen. Zum Verständnis der Predigt bei Henning Luther, in: ThPr 27 (1992), 209–218 [zit. 1992b]. –, Stadt als Lebensform. Anmerkungen zu einem verlockenden Paradigma für die Kirche in einer multikulturellen Gesellschaft, in: ThPr 28 (1993), 296–303. –, Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft, Waltrop 1994 –, Seelsorge im multikulturellen Krankenhaus, in: WzM 47 (1995), 389–400 [zit. 1995a]. –, Der Protestantismus im Streit der Moderne, in: Heimbucher, Martin/Scholl, Hans (Hg.), Hilfreiches Erbe? Zur Relevanz reformatorischer Theologie, Bovenden 1995, 161–165 [zit. 1995b]. –, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995 [zit. 1995c].
371
–, Geschichtenlos inmitten von Geschichten. Die Erlebnisgesellschaft als Herausforderung für die Seelsorge, in: WzM 48 (1996), 479–488 [zit. 1996a]. –, Das Heilige in der Erlebnisgesellschaft. Eine protestantische Deutung, Waltrop 1996 [zit. 1996b]. –, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, in: ders./Lott, Jürgen (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns. FS Gert Otto, Rheinbach 1997, 311–328. –, Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998. –, Welche Qualifikationen müssen pastoral Tätige in einer Kirche im urbanen Umfeld haben? – Beobachtungen und Folgerungen anhand der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 217–230. –, Stadt ohne Gott oder Die Rückkehr des Heiligen?, in: PrTh 37 (2002), 87–99 [zit. 2002a]. –, Leib Christi – Kirche als Organisation aus theologischer Perspektive, in: WzM 54 (2002), 359–372 [zit. 2002b]. –, Zur Einführung: „Gelebte Religion“ – Konzeptionalisierungen eines Programmbegriffs, in: Grözinger, Albrecht/Pfleiderer, Georg (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002, 7–12 [zit. 2002c]. –, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004. Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred, Vorwort der Herausgeber, in: Dies. (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 7–9. Grözinger, Albrecht/Luther, Henning (Hg.), Religion und Biographie. Perspektiven zur gelebten Religion, München 1987. Grözinger, Albrecht/Pfleiderer, Georg (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002. Grözinger, Albrecht/Plüss, David/Portmann, Adrian/Schenker, Dominik, Empirische Forschung als Herausforderung für Theologie und Kirche, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 13–32. Gutmann, Hans-Martin, Praktische Theologie im neuen Jahrhundert – nichts Neues?!, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 67–78. Hanselmann, Johannes u.a. (Hg.), Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchemitgliedschaft, Gütersloh 1984. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981. Hahn, Alois, Biographie und Lebenslauf, in: Brose, Hans-Georg/Hildenbrand, Bruno (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988. Hartmann, Klaus/Pollack, Detlef: Gegen den Strom. Kircheneintritte in Ostdeutschland nach der Wende, Opladen 1998. Haucke, Kai, Plessner zur Einführung, Hamburg 2000. Hauschildt, Eberhard: Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches, Göttingen 1996. –, Milieus in der Kirche. Erste Ansätze zu einer neuen Perspektive und ein Plädoyer für vertiefte Studien, in: PTh 87 (1998), 392–404. –, Praktische Theologie – neugierig, graduell und konstruktiv. Verabschiedungen, Trends und Optionen, in: ders./Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 79–99.
372
Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002. Heesch, Matthias, Lehrbare Religion? Studien über die szientistische Theorieüberlieferung und ihr Weiterwirken in den theologisch-religionspädagogischen Entwürfen Richard Kabischs und Friedrich Niebergalls, Berlin/New York 1997. Heik, Thomas/Hansen, Kai, Das Evangelische Eckernfördeprogramm. Strukturgestaltung zwischen Kernkompetenz, Projektorganisation und Marketing, in: Pohl-Patalong, Uta (Hg.), Kirchliche Strukturen im Plural. Analysen, Visionen und Modelle aus der Praxis, Hamburg 2004, 235–247. Heimbrock, Hans-Günter, Welches Interesse hat Theologie an der Wirklichkeit? Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft, in: Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998, 11–36. Herbst, Michael, Kirche wie eine Behörde verwalten oder wie ein Unternehmen führen? Zur Theologie des Spirituellen Gemeindemanagements, in: Abromeit, Hans-Jürgen u.a. (Hg.), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 82–110. Hermelink, Jan, Gibt es eine kirchliche Effizienz? Betriebswirtschaftliche Beiträge zur Theorie kirchlichen Handelns, in: PTh 86 (1997), 567–588. –, Pfarrer als Manager? Gewinn und Grenzen einer betriebswirtschaftlichen Perspektive auf das Pfarramt, in: ZThK 95 (1998), 536–564. –, Kameraden, Klienten oder Kunden? Die Adressaten des kirchlichen Handelns im Spiegel aktueller Leitvorstellungen, in: Fetzer, Joachim u.a. (Hg.), Kirche in der Marktgesellschaft, Gütersloh 1999, 81–99. –, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung, Göttingen 2000. –, Praktische Theologie als Theorie der kirchlichen Organisation, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 101–119. Hermelink, Jan/Kähler, Reinhard/Weyel, Birgit, In der Vielfalt liegt die Stärke. Konsequente Mission oder interessierte Kommunikation – wie soll sich die Kirche orientieren?, in: ZZ 2/11 (2001), 38–40. Herms, Eilert, Theorie für die Praxis. Beiträge zur Theologie, München 1982. –, Religion und Organisation. Die gesamtgesellschaftliche Funktion von Kirche aus Sicht der evangelischen Theologie, in: Härle, Wilfried (Hg.), Kirche und Gesellschaft. Analysen, Reflexionen, Perspektiven, Stuttgart 1989, 59–86 [zit. 1989a]. –, Die evangelische Kirche in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung ‚Das Parlament‘ B 49/89, 1989, 14–23 [zit. 1989b]. –, Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990. –, Pluralismus aus Prinzip, in: Bookhagen, Rainer (Hg.), „Vor Ort“. Praktische Theologie in der Erprobung. FS Peter C. Bloth, Nürnberg 1991, 77–95. –, Erfahrbare Kirche als soziales System. Antwort auf Rückfragen, in: EvTh 52 (1992), 454–467. –, Überlegungen zum Wesen des Gottesdienstes. Aus Anlass des Entwurfs für eine „Erneuerte Agende“, in: KuD 40 (1994), 219–247 [zit. 1994a]. –, Vom halben zum ganzen Pluralismus. Einige bisher übersehene Aspekte im Verhältnis von Staat und Kirche, in: EvTh 54 (1994), 134–157 [zit. 1994b]. –, Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirche im vereinten Deutschland, Tübingen 1995. –, Was heißt es, im Blick auf die EKD von „Kirche“ zu sprechen? Eine Fallstudie zum Verhältnis zwischen Partikularkirche und Universalkirche im reformatorischen Verständnis, in: Marburger Jahrbuch Theologie, 8. Jg., 1996, 83–119.
373
Herold, Gerhart, McKinsey und die Kirche – nur ein Schnupperkurs? Das Evangelische Münchenprogramm (eMp) heute, in: Pohl-Patalong, Uta (Hg.), Kirchliche Strukturen im Plural. Analysen, Visionen und Modelle aus der Praxis, Hamburg 2004, 249–261. Hild, Helmut, Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1974. Hillebrecht, Steffen W., Einführung in eine schwierige Thematik, in: ders. (Hg.), Kirchliches Marketing, Paderborn 1997, 7–17 [zit. 1997a]. –, Entwicklungslinien des kirchlichen Marketings in Deutschland, in: ders. (Hg.), Kirchliches Marketing, Paderborn 1997, 34–65 [zit. 1997b]. Höhmann, Peter, Kirchliche Bindung und Schließungsprozesse. Eine Sekundäranalyse der Mitgliedersituation der Evangelischen Kirche in Deutschland, in: Matthes, Joachim (Hg.), Fremde Heimat Kirche – Erkundungsgänge. Beiträge und Kommentare zur dritten EKD-Untersuchung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2000, 154–185. Höhmann, Peter/Krech, Volkhard, Die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Alles wie gehabt?, in: PrTh 39 (2004), 3–12. Huber, Wolfgang, Viele Kulturen – eine Gesellschaft. Multikulturalität in europäischer Perspektive, in: ZEE 36 (1992), 111–124. –, Die Verbindlichkeit der Freiheit. Über das Verhältnis zwischen Verbindlichkeit und Freiheit in der evangelischen Ethik, in: ZEE 37 (1993), 70–81. –, Nicht schwarz sehen. Kirche muss offen, öffentlich und eigenständig sein, in: EK 27 (1994), 28–31 [zit. 1994a]. –, Öffentliche Kirche in pluralen Öffentlichkeiten, in: EvTh 54 (1994), 157–180 [zit. 1994b]. –, Gestalten und Wirkungen christlicher Freiheit in Kirche und Gesellschaft heute, in: ZThK 92 (1995), 278–286 [zit. 1995a]. –, 103 [zit. 1995b]. –, Christliche Freiheit in der freiheitlichen Gesellschaft, in: EvTh 56 (1996), 99–116. –, Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche. Ein Zwischenbericht, in: EvTh 58 (1998), 461–479 [zit. 1998a]. –, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998 [zit. 1998b]. –, Die säkulare Metropole. Die Berliner sind kirchenfern, aber nicht unreligiös, in: EK 32 (1999), 7–10. –, Die Kirche als intermediäre Institution in der Mediengesellschaft, in: Drägert, Christian/Fricke-Hein, Hans-Wilhelm (Hg.), Medienethik. Freiheit und Verantwortung. FS Manfred Kock, Stuttgart 2001, 137–150. –, Protestantismus und Kultur am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Baier, Helmut (Hg.), Kultur gestalten in einer ‚schlanken‘ Kirche, Neustadt a.d. Aisch 2002, 11–24. Huber, Wolfgang u.a. (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. Josuttis, Manfred, „Unsere Volkskirche“ und die Gemeinde der Heiligen. Erinnerungen an die Zukunft der Kirche, Gütersloh 1997. –, Kirche auf dem Markt – Ausverkauf oder Geistbegabung. Ein Protest, in: ders., Wirklichkeiten der Kirche. Zwanzig Predigten und ein Protest, Gütersloh 2003, 125–145. Karle, Isolde, Volkskirche ist Kasualien- und Pastorenkirche!, in: DtPfBl 104 (2004), 625–630. Kehrer, Günther, Das religiöse Bewusstsein des Industriearbeiters. Eine empirische Studie, München 1967. Kelle, Udo/Erzberger, Christian, Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz, in: Flick, Uwe u.a. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 299–309. Kirchenamt der EKD (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland, Hannover 1997.
374
–, Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land, Hannover 2000. –, Kirche. Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten Kirchenbindung Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2003. –, Evangelische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2005. Klostermann, Siegfried, Verkündet es von den Dächern. Vom Sinn kirchlichen Marketings, in: Hillebrecht, Steffen W. (Hg.), Kirchliches Marketing, Paderborn 1997, 18–33. Koecke, Johannes Christian/Sachs, Matthias, Religion – Politik – Gesellschaft. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, Sankt Augustin 2003. Könemann, Judith, „Ich wünschte, ich wäre gläubig, glaub’ ich“. Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebensführung der späten Moderne, Opladen 2002. Köster, Reinhard, Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, Stuttgart 1959. Korczak, Janusz, Das Recht des Kindes auf Achtung, Göttingen 1998 [zit. 1998a]. –, Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 1998 [zit. 1998b]. Kretzschmar, Gerald, Bevölkerungsstruktur und Religionszugehörigkeit, in: Mueller, Ulrich u.a. (Hg.), Handbuch der Demographie, Bd. 2, Berlin u.a. 2000, 1138–1171. –, Distanzierte Kirchlichkeit. Eine Analyse ihrer Wahrnehmung, Neukirchen-Vluyn 2001. –, Wahrnehmung statt Mission. Alternative Sichtweisen zum EKD-Papier „Das Evangelium unter die Leute bringen“, in: PTh 91 (2002), 328–343 [zit. 2002a]. –, Für die Gemeinde nur das Beste. Qualität in gemeindlicher Arbeit, in: Lernort Gemeinde 20 (2002), 27–31 [zit. 2002b]. –, Milieutheorien als Wege zum Menschen? Problemgeschichtliche und erkenntnistheoretische Überlegungen zu neuen Referenztheorien der Praktischen Theologie, in: WzM 55 (2003), 229–244. –, Mit der Theorie der mediatisierten Kommunikation auf der ‚Suche nach dem Religiösen‘, in: PrTh 39 (2004), 42–47 [zit. 2004a]. –, Art. Schichtstatistik/soziale Schichten, in: RGG4, Bd. 7, Tübingen 2004, 883f [zit. 2004b]. –, „Und er hat auch sehr schön geredet ...“ Kasualien als Bewusstseinsphänomene, in: WzM 57 (2005), 271–282. –, Art. Kirche//Gemeinde/Milieu/Typologien der Kirchenmitgliedschaft/Theologie und Empirie, in: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Handbuch der Praktischen Theologie, Gütersloh 2007. Krysmanski, Hans Jürgen/Mies, Thomas, Art. „Klassen“, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg 1990, 777–795. Lamnek, Siegfried, Qualitative Sozialforschung. Bd. 2: Methoden und Techniken, Weinheim 1995. Laube, Martin, Art. Milieu, in: RGG4, Bd. 5, Tübingen 2002, 1225f. Lindner, Herbert, Spiritualität und Modernität. Das Evangelische München-Programm, in: PTh 86 (1997), 244–264. –, Kirche am Ort. Ein Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden (völlig überarbeitete Neuausgabe), Stuttgart u.a. 2000. Löhr, Hans, Fähigkeit zur Veränderung? Die Umsetzung des McKinsey-Konzepts „eMp“, in: Brummer, Arnd/Nethöfel, Wolfgang, Vom Klingelbeutel zum Profitcenter? Strategien und Modelle für das Unternehmen Kirche, Hamburg 1997, 121–127. –, Das Evangelische Münchenprogramm eMp. Vom Auftrag Jesu Christi zu den Aufgaben der Mitarbeitenden, in: Vögele, Wolfgang (Hg.), Die Krise der Kirchen ist eine große Chance! Kirchen- und Gemeindereformprojekte im Vergleich [Loccumer Protokolle 17/99), Rehburg-Loccum 1999, 149–156.
375
Lohse, Jens M., Kirche ohne Kontakte? Beziehungsformen in einem Industrieraum, Stuttgart/Berlin 1967. Lott, Jürgen, „Religion und Lebensgeschichte“ in praktisch-theologischen Handlungsfeldern. Zur Thematisierung von Erfahrungen mit Religion, in: Grözinger, Albrecht/Lott, Jürgen (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, Rheinbach-Merzbach, 1997, 157–174. Luckmann, Thomas, Neuere Schriften zur Religionssoziologie, in: KZfSS 12 (1960), 315–326 [zit. 1960a]. –, Vier protestantische Kirchengemeinden. Bericht über eine vergleichende Untersuchung, in: Goldschmidt, Dietrich u.a. (Hg.), Soziologie der Kirchengemeinde, Opladen 1960, 132–143 [zit. 1960b]. –, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963. –, The Invisible Religion. The Transformation of Symbols in Industrial Society, New York/London 1967 (dt.: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1991). Luhmann, Niklas, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. –, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Wössner, J. (Hg.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, 245–285. –, Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977. –, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1994. –, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt/M. 1999. –, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000. Lukatis, Ingrid, Empirische Religions- und Kirchensoziologie in Deutschland. Entwicklung, Stand und zukünftige Aufgaben eines Forschungsbereiches, in: ZEE 26 (1982), 306–327. –, Empirische Forschung zum Thema Religion in Westdeutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz, in: Daiber, Karl-Fritz/Luckmann, Thomas (Hg.), Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, München 1983, 199–220. Luther, Henning, Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992. Marhold, Wolfgang, Fragende Kirche. Über Methode und Funktion kirchlicher Meinungsumfragen, München/Mainz 1971. Martin, Gerhard Marcel, Predigt als ‚offenes Kunstwert‘? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 44 (1984), 46–58. Matthes, Joachim u.a. (Hg.), Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, Köln/Opladen 1965ff. Matthes, Joachim, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.), Erneuerung der Kirche, Gelnhausen/Berlin 1975, 83–112. –, Unbestimmtheit: Ein konstitutives Merkmal der Volkskirche? Anmerkungen zu einem Thema der Diskussion um die EKD-Mitgliedschaftsstudien 1972 und 1982, in: ders. (Hg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel, Gütersloh 1990, 149–162. –, Auf der Suche nach dem „Religiösen“. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis 30 (1992), 129–142. Mehlhausen, Joachim (Hg.), Pluralismus und Identität (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 8), Gütersloh 1995. Merkens, Hans, Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, in: Flick, Uwe u.a. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, 286–299. Meuser, Michael/Wienold, Hanns, Art. Sozialforschung, qualitative, in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995, 613. Meyer-Blanck, Michael, Zeichen verstehen. Die hermeneutische Dimension der Semiotik und der semiotische Beitrag zur praktisch-theologischen Hermeneutik, in: Hauschildt, Eberhard u.a. (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums (FS Wolfgang Steck), Rheinbach 2000, 49–68.
376
–, Theorie und Praxis der Zeichen. Praktische Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 121–132. Mies, Thomas/Steigerwald, Robert, Art. Klassenbewusstsein, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg 1990, 795–812. Müller, Eckart, Kirche in der Marktgesellschaft – ein Unternehmen der besonderen Art. Eine Einführung, in: Fetzer, Joachim u.a. (Hg.), Kirche in der Marktgesellschaft, Gütersloh 1999, 11–17. Müller, Hans-Peter, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992. Nassehi, Armin, Die Deportation als biographisches Ereignis. Eine biographieanalytische Untersuchung, in: Weber, Georg u.a. (Hg.), Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945–1949, II. Die Deportation als biographisches Ereignis und literarisches Thema, Köln u.a. 1995, 5–412. –, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration. Die Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsthese, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt/M. 1997, 113–149. Niebergall, Friedrich, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage. Erster Band. Grundlagen, Tübingen 1918. –, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage. Zweiter Band. Die Arbeitszweige, Tübingen 1919. Nüchtern, Michael, Kirche in Konkurrenz. Herausforderungen und Chancen in der religiösen Landschaft, Stuttgart 1997. Offe, Claus, Die Utopie der Null-Option. Modernität und Modernisierung als politische Gütekriterien, in: Berger, Johannes (Hg.), Die Moderne. Kontinuitäten und Zäsuren, Sonderband 4 der Sozialen Welt, Göttingen 1986, 97–118. Otto, Gert, Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986. Pfleiderer, Georg, „Gelebte Religion“ – Notizen zu einem Theoriephänomen, in: Grözinger, Albrecht/ders. (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002, 23–41. Piechowski, Paul, Proletarischer Glaube. Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen, Berlin 1928. Plagentz, Achim/Schwab, Ulrich, Religionswissenschaftlich-empirische Theologie: Friedrich Niebergall, in: Grethlein, Christian/Meyer-Blanck, Michael (Hg.), Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 1999, 237–278. Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt/M. 2002. –, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975. Plieth, Martina, Praktische-Theologie als immanent-transzendent bezogene Wahrnehmungs- und Ausdruckstheorie bzw. –lehre mit kondeszendenter Verankerung, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 133–141. Plüss, David, Wider die Rhetorik vom sinkenden Schiff – Erwägungen zum kommunizierten Selbstbild der Kirche, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 231–250. Pohl-Patalong, Uta, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003.
377
–, Theologisches Marketing. Die Frage nach der „Kundschaft“ Praktischer Theologie, in: Kretzschmar, Gerald u.a. (Hg.), KIRCHE MACHT KULTUR, Gütersloh 2006, 45–63. Pollack, Detlef, Wandel im Stillstand. Eine traditionelle Institution wandelt sich und bleibt doch dieselbe, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche. Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten Kirchenbindung Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2003, 71–75. Popper, Karl R., Logik der Forschung, Tübingen 1976. Portmann, Adrian, „Mitglieder ohne Eigeninteresse“ – Über Distanz und Verbundenheit der distanzierten Kirchenmitglieder, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 185–200. Preul, Reiner, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York 1997. Rade, Martin, Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter, in: Die Verhandlungen des 9. Evangelisch-sozialen Kongresses in Berlin am 2.-3. Juni 1898, Göttingen 1898, 66–130. Rammstedt, Otthein, Art. Modernisierung, in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 31995, 447. Rau, Gerhard, Art. Sozialwissenschaften, III. Praktisch-theologisch, in: TRE 31, Berlin/New York 2000, 586–598. Rehbein, Jochen, Biographisches Erzählen, in: Lämmert, Eberhard (Hg.), Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1982. Rendtorff, Trutz, Die soziale Struktur der Gemeinde. Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart. Eine kirchensoziologische Untersuchung, Hamburg 1958. –, Theologische Probleme der Volkskirche, in: Lohff, Wenzel/Mohaupt, Lutz (Hg.), Volkskirche – Kirche der Zukunft?, Hamburg 1977, 104–131. Ricoeur, Paul, Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988. Rössler, Dietrich, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994. Rosenthal, Gabriele, „...Wenn alles in Scherben fällt...“ Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration, Opladen 1987. –, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/M. 1993. Roth, Ursula, Die Beerdigungsansprache. Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, Gütersloh 2002. Rüegger, Hansueli, Der VIII. Europäische Theologenkongress in Wien, in: Neue Zürcher Zeitung, 1. Oktober 1993, Nr. 228, 27. Sandberger, Jörg Victor, Pädagogische Theologie. Friedrich Niebergalls Praktische Theologie als Erziehungslehre, Göttingen 1972. Sander, Uwe, Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998. Schelsky, Helmut, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, München 1979, 449–499. –, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (hrsg. v. Jacob Frerichs), Berlin 1850. Schibilsky, Michael, Religiöse Erfahrung und Interaktion. Die Lebenswelt jugendlicher Randgruppen, Stuttgart u.a. 1976. Schleiermacher, Friedrich D.E., Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1850. Schluchter, Wolfgang, Individuelle Freiheit und soziale Bindung. Vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen, Heidelberg 1994. Schlüter, Carsten/Clausen, Lars (Hg.), Renaissance der Gemeinschaft? Stabile Theorie und neue Theoreme, Berlin 1990.
378
Schmid, Wilhelm, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998. –, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt/M. 2000 [zit. 2000a]. –, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt/M. 2000 [zit. 2000b]. –, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt/M. 2004. Schmidtchen, Gerhard, Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD, Stuttgart/Freiburg 1973. –, Machtverlust der Kirche und religiöse Entwicklung der Gesellschaft, in: Seitz, Manfred/Mohaupt, Lutz (Hg.), Gottesdienst und öffentliche Meinung, Stuttgart/Freiburg 1977, 21–46. Schröer, Henning, Art. Praktische Theologie, in: TRE 27, Berlin/New York 1997, 190–220. Schroeter-Wittke, Harald, Praktische Theologie als Performance. Ein religionspädagogisches Programm mit 7 Programmpunkten, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 143–159. Schütze, Fritz: Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit, in: Lämmert, Eberhard (Hg.): Erzählforschung, Stuttgart 1982, 568–590. –, Biographieforschung und narratives Inteview, in: Neue Praxis 13 (1983), 283–293. –, Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens, in: Kohli, Martin/Robert, Günther (Hg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984, 78–117. Schulze, Gerhard, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1997. Schwab, Ulrich, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen, Stuttgart u.a. 1995. –, Geschlossene Konzeption und permanenter Wandel. Religiosität in der Moderne zwischen institutioneller Bindung und individueller Konstruktion, in: Grözinger, Albrecht/Lott, Jürgen (Hg.), Gelebte Religion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, Rheinbach-Merzbach, 1997, 130–141. –, Lebensgeschichte erzählen. Wandlungen in der Wahrnehmung einer religiösen Gattung durch die Praktische Theologie, in: Hauschildt, Eberhard u.a. (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums (FS Wolfgang Steck), Rheinbach 2000, 290–303. –, Wahrnehmen und Handeln. Praktische Theologie als subjektorientierte Theorie, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 161–175. Schwab, Ulrich/Hauschildt, Eberhard, Vorwort der Herausgeber, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 7f. Schweitzer, Friedrich, Praktische Theologie und Hermeneutik. Paradigma – Wissenschaftstheorie – Methodologie, in: van der Ven, Johannes A./Ziebertz, Hans-Georg (Hg.), Paradigmenentwicklung in der Praktischen Theologie, Kampen/Weinheim 1993, 19–47. Seitz, Manfred, Vorwort zu: Schmidtchen, Gerhard, Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD, Stuttgart/Freiburg 1973, XI–XVI [zit. 1973a]. –, Die Umfrageergebnisse als Aufgabe, in: Schmidtchen, Gerhard, Gottesdienst in einer rationalen Welt. Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD, Stuttgart/Freiburg 1973, 150–160 [zit. 1973b]. Sinner, Alex von, „Diakonie“ als Faktor im Kirchenmarketing – Über die latente Gefahr, Chancen zu verpassen, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 201–215.
379
Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990. Spencer Brown, George, Laws of Form, London 1971. Spiegel, Yorick, Praktische Theologie als empirische Theologie, in: Klostermann, Ferdinand/Zerfaß, Rolf (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 178–194. Steck, Wolfgang, Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. 1, Stuttgart u.a. 2000. Strauss, Anselm L., Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung, München 1994. Strunk, Klaus-Martin, Marketing-Orientierung in der Gemeindearbeit, in: Abromeit, Hans-Jürgen u.a. (Hg.), Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen – Strategien – Beispiele, Göttingen 2001, 42–81. Studien- und Planungsgruppe der EKD, Quellen religiöser Selbst- und Weltdeutung. Die themenorientierten Erzählinterviews der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Bd. I: Dokumentation, Hannover 1998. Tanner, Klaus, Unternehmen Kirche!, in: Fetzer, Joachim u.a. (Hg.), Kirche in der Marktgesellschaft, Gütersloh 1999, 51–56. Tenbruck, Friedrich H., Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft. Ergebnisse und Deutung der „Reutlingen-Studie“, in: Goldschmidt, Dietrich u.a. (Hg.), Soziologie der Kirchengemeinde, Opladen 1960, 122–132. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1979. Ungeheuer, Gerold, Was heißt Verständigung durch Sprechen?, in: ders., Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verstehen, Achen 1987, 34–69. Vester, Michael, Die sozialen Milieus der Bundesrepublik Deutschland, in: Vögele, Wolfgang u.a. (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002, 87–107 [zit. 2002a]. –, Einführung: Die Analyse der gesamtgesellschaftlichen Milieustruktur, in: Vögele, Wolfgang u.a. (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002, 267–274 [zit. 2002b]. Vischer, Georg, Zusammengehören in der Kirche – Reflexionen zur unterschiedlichen Beteiligung von Christinnen und Christen an ihren kirchlichen Institutionen, in: Grözinger, Albrecht/Bruhn, Manfred (Hg.), Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg (Schweiz) 2000, 155–167. Vögele, Wolfgang/Bremer, Helmut/Vester, Michael (Hg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002. Vögele, Wolfgang/Vester, Michael (Hg.), Kirche und die Milieus der Gesellschaft. Abschlussbericht einer Studie [Loccumer Protokolle 56/99 I), Rehburg-Loccum 1999. Wagner-Rau, Ulrike, Praktische Theologie als „Schwellenkunde“. Fortschreibung einer Anregung von Henning Luther, in: Hauschildt, Eberhard/Schwab, Ulrich (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2002, 177–191. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972. Weidenfeld, Werner/Rumberg, Dirk, (Hg.), Orientierungsverlust – Zur Bindungskrise der modernen Gesellschaft, Gütersloh 1994. Welker, Michael, Die Aufgaben der Theologie in gefährdeter kultureller Umwelt, in: DtPfBl 90 (1990), 187–189. –,Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1993. –, Der Mythos "Volkskirche", in: EvTh 54 (1994), 180–193. –, Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995. –, Die evangelische Freiheit, in: EvTh 57 (1997), 68–73. –, Missionarische Existenz heute, in: EvTh 58 (1998), 413–424. –, Warum brauchen pluralistische Gesellschaften christliche Theologie?, in: Gräb, Wilhelm u.a. (Hg.), Christentum und Spätmoderne. Ein internationaler Diskurs über Praktische Theologie und Ethik, Stuttgart u.a. 2000, 10–26.
380
Welsch, Wolfgang, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 1993. Wetz, Franz-Josef, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 1993. Weyel, Birgit, Mission oder Kommunikation? Zur prinzipiellen Wechselseitigkeit protestantischer Kommunikationskultur, in: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Praktische Theologie und protestantische Kultur, Gütersloh 2002, 249–266. Wienold, Hanns, Art. Sozialforschung, quantitative, in: Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995, 613f. Winkler, Klaus, Seelsorge, Berlin/New York 1997. Wölber, Hans-Otto, Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959. Wohlrab-Sahr, Monika, Religiöse Kommunikation in Ostdeutschland. Vorläufige Thesen einer Zugereisten, in: Ratzmann, Wolfgang/Ziemer, Jürgen (Hg.), Kirche unter Veränderungsdruck. Wahrnehmungen und Perspektiven, Leipzig 2000, 91–96. Zeithaml, Valerie A./Berry, Leonard L./Parasuraman, Anantharanthan, Kommunikationsund Kontrollprozesse bei der Erstellung von Dienstleistungsqualität, in: Bruhn, Manfred/Stauss, Bernd (Hg.), Dienstleistungsqualität. Konzepte, Methoden, Erfahrungen, Wiesbaden 2000, 115–141. Ziebertz, Hans-Georg, Empirische Forschung in der Praktischen Theologie als eigenständige Form des Theologie-Treibens, in: PrTh 39 (2004), 47–55. Ziemer, Jürgen, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 2000.
381
Personenregister
Abromeit 71f Albrecht 339 Anders91 Baacke 91 Barrenstein 65 Beck 50, 53, 351 Becker 40f Berger, Johannes 21 Berger, Peter L. 11, 44, 59 Bieler 85 Bieritz 62, 365 von Bismarck 49 Bloth 17 Blumenberg 350–354 Bobert 85 Bohnsack 133 Bohren 71 Brandt 28 Breitenbach 70 Bremer 49f, 54 Brüggemeier 144 Bruhn 73–76 Brummer 62 Dahlgrün 85 Daiber 45 Degele 21 Dehn 41 Drechsel 124 Drehsen 124, 339 Dusza 72 Ehlich 134f Engelhardt 48, 126 Engemann 365 Erne 340 Eßbach 352, 355 Failing 339–342 Fechtner 84 Feige 43, 45f, 59, 124, 126 Fetzer 62 Fischer 128, 133, 140 Flick 126, 308 Fuchs-Heinritz 127, 136, 139, 142 Fürstenberg 44
382
Garhammer 365 Geißler 50 Gerstenkorn 126, 128, 140, 142f Gerster 72 Göbel 67 Göhre 41 Görler 72 Goldschmidt 43 Gräb 81f, 124, 339f, 344–346 Grözinger 25, 29–31, 73, 76, 124, 339f Gutmann 85 Hanselmann 47 Habermas 135 Hahn 133f Hartmann 126 Haucke 355 Hauschildt 49, 83f, 126 Heesch 91 Heik 65 Heimbrock 339–342 Herbst 71 Hermelink 62, 70, 82f, 84 Herms 25–29 Herold 65 Hild 46f Hillebrecht 61f Höhmann 12, 58 Huber 11, 31–34, 49 Josuttis 62 Karle 336 Kehrer 43 Kelle 126 Klostermann 62 Koecke 14 Könemann 126 Köster 43 Korczak 91 Kretzschmar 16, 19, 41, 43, 45, 47, 49f, 59f, 70, 74 Krysmanski 51, 53 Lamnek 123 Laube 50 Lindner 65, 70
Löhr 63f Lohse 43 Lott 124 Luckmann 11, 44 Luhmann 26, 44, 92, 96, 100, 102, 106, 137, 143 Lukatis 41, 43, 59 Luther 124, 339, 349 Marhold 41 Martin 365 Matthes 18, 44, 48, 59, 348, 364 Mehlhausen 25 Merkens 144 Meuser 126 Meyer-Blanck 85, 365 Mies 51, 53 Müller, Eckart 61 Müller, Hans-Peter 56 Nassehi 127f, 132–137, 142–144, 146f, 308 Niebergall 91 Nüchtern 61 Offe 21 Otto 17, 339 Pfleiderer 338, 340 Piechowski 41 Plagentz 91 Plessner 91, 350–360, 364 Plieth 85 Plüss 77 Pohl-Patalong 339, 367 Pollack 60, 126 Popper 123 Portmann 76 Preul 82 Rade 41 Rammstedt 21 Rau 361 Rehbein 136 Rendtorff 12, 19, 42f, 45f Ricoeur 134 Rössler 17, 79–81, 339 Rosenthal 128–130, 132, 140, 146 Roth 126
Rüegger 24f Sandberger 91 Sander 14, 21f, 90–117 Schelsky 50 Schibilsky 124 Schleiermacher 17, 79 Schluchter 90 Schlüter 90 Schmid 332 Schmidtchen 45 Schröer 17 Schroeter-Wittke 85 Schütze 126–128, 133, 139, 141f Schulze 51–53, 351 Schwab 83–85, 91, 122, 124, 126 Schweitzer 73 Seitz 45 von Sinner 77 Sparn 124 Spiegel 73 Steck 80f, 339–344 Strauss 123 Strunk 71 Tanner 62 Tenbruck 42f Tönnies 90 Ungeheuer 105 Vester 54–56 Vischer 76 Vögele 55f, 126 Wagner-Rau 85 Weber 90 Weidenfeld 11 Welker 34–39 Welsch 30 Wetz 352–354 Weyel 67, 70 Wienold 126 Winkler 354 Wölber 42f, 47 Wohlrab-Sahr 69 Zeithaml 74 Ziebertz 361 Ziemer 355
383
Anhang: Transkriptionszeichen
, . (3) „Text“ vielnein Ja=ja [...] [lachend] (mh), (aha)
384
kurzes Absetzen Ende einer Äußerung Dauer einer Pause in Sekunden Wiedergabe wörtlicher Rede/in wörtlicher Rede formulierter Gedanken Abbruch betont schneller Anschluss Auslassung im Transkript Kommentar des Transkribierenden parasprachliche Äußerungen der Person, die gerade zuhört