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German Pages [337] Year 2020
Karoline Reinhardt
Migration und Weltbürgerrecht Zur Aktualität eines Theoriestücks der politischen Philosophie Kants
BAND 96 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495820728
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 96
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Karoline Reinhardt
Migration und Weltbürgerrecht Zur Aktualität eines Theoriestücks der politischen Philosophie Kants
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Karoline Reinhardt Migration and Cosmopolitan Right On the relevance of a core concept in Kant’s political philosophy Migration is a controversial topic. It is widely discussed by politicians, the media and the public – but also within philosophy. The argumentative starting point of Migration and Cosmopolitan Right is the observation that Kant’s ideas on this subject stand in a position of »productive disharmony« to the main lines of argumentation in the current philosophical debate on migration. In order to substantiate this claim the book lays out this debate by summarising three prominent lines of argumentation with regard to immigration and emigration: communitarianism, egalitarian cosmopolitanism and liberal nationalism. After that the author contrasts these arguments with Kant’s ideas on migration. Here, his concept »cosmopolitan right« plays a central role. Finally, the systematic relevance of Kant’s thoughts is highlighted by applying his ideas to key issues currently discussed in political philosophy and ethics with regard to migration: refugee status, legitimate and illegitimate grounds for refusal, statelessness, naturalisation, the right to emigrate, individual duties of assistance and a »cosmopolitan attitude«. In this way the book not only gives an overview on the current debate and on cosmopolitan right, but also outlines a Kantian theory of migration. The Author: Karoline Reinhardt studied philosophy and political science in Tübingen, New York (NYU) and London (LSE). From 2012 to 2018 she was a research fellow and scientific coordinator of the Research Center for Political Philosophy in Tübingen. She held guest lectureships in Ankara and Graz and was a Visiting Scholar at Tulane University (New Orleans). Currently, she is working as a Postdoctoral Research Associate in the department »Society, Culture and Technological Change« at the International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW) at the University of Tübingen. Her dissertation was awarded the Kant-Award by the Immanuel Kant Foundation and the Walter-Witzenmann-Award by the Heidelberg Academy of Sciences and Humanities.
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Karoline Reinhardt Migration und Weltbürgerrecht Zur Aktualität eines Theoriestücks der politischen Philosophie Kants Das Thema Migration wird in Politik, Medien und Öffentlichkeit, aber auch in der Philosophie kontrovers diskutiert. Die Studie Migration und Weltbürgerrecht geht von der These aus, dass sich Kants Überlegungen zu diesem Thema in einer produktiven Disharmonie zu den philosophischen Hauptströmungen in der Migrationsdebatte befinden. Zur Begründung dieser These wird zunächst die neuere Debatte um Migration anhand dreier Theoriestränge erschlossen, die diese maßgeblich strukturieren: der Kommunitarismus, der egalitaristische Kosmopolitismus und der liberale Nationalismus. Anschließend werden die für die Migrationsdebatte entscheidenden Argumentationsgänge in Kants politischer Philosophie erschlossen. Eine zentrale Rolle nimmt dabei Kants Theoriestück des Weltbürgerrechts ein. Auf ihm aufbauend wird schließlich die Produktivität und systematische Relevanz von Kants Theorie für die Hauptfragen der gegenwärtigen Debatte herausgearbeitet und die Grundzüge einer rechtsmoralischen Migrationstheorie entworfen. Es werden dabei insbesondere die Themengebiete Asyl, legitime und illegitime Abweisungsgründe, Staatenlosigkeit, der Erwerb der Staatsbürgerschaft, das Recht auf Auswanderung und individuelle Hilfspflichten sowie die Frage nach der Notwendigkeit einer »weltbürgerlichen Gesinnung« diskutiert. Die Autorin: Karoline Reinhardt hat in Tübingen, New York (NYU) und London (LSE) Philosophie und Politikwissenschaften studiert. Von 2012–2018 war sie Mitarbeiterin und zuletzt Koordinatorin der Forschungsstelle Politische Philosophie in Tübingen. Nach Gastdozenturen in Ankara und Graz sowie einem Aufenthalt als Visiting Scholar in New Orleans (Tulane University) ist sie gegenwärtig Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) im Bereich »Gesellschaft, Kultur und technischer Wandel« an der Universität Tübingen. Ihre Dissertation wurde mit dem Kant-Förderpreis der Immanuel Kant-Stiftung und dem Walter-WitzenmannPreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49054-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82072-8
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Meinen Eltern
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Danksagung
Erste Anregungen für diese Arbeit habe ich während einer Sommerakademie erhalten. Den beiden Leitern der dortigen Arbeitsgruppe Nele Schneidereit und Oliviero Angeli möchte ich daher als erstes danken. Der größte Dank gebührt meinen beiden Betreuern: Otfried Höffe an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und, während eines Forschungsaufenthalts an der London School of Economics, Katrin Flikschuh. Ohne ihre freundliche und zugleich fordernde Unterstützung sowie ihre ausführlichen Hinweise und Anmerkungen wäre diese Studie nicht zustande gekommen. Außerdem möchte ich mich bei Dagmar Borchers und Rike Schick für ihre überaus umfassende Unterstützung sowie die Übernahme der Zweit- und Drittgutachten bedanken. Weiterhin möchte ich Moritz Hildt danken, der alle Teile dieser Studie gelesen und ausführlich kommentiert hat und mir während der Abschlussphase immer wieder mit Rat und Tat zur Seite stand. Für die finanzielle wie ideelle Förderung dieser Arbeit bin ich der Heinrich-Böll-Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes zu großem Dank verpflichtet. Für die vielen guten Gespräche in den letzten Jahren danke ich ganz besonders Dirk Brantl, Annika Friedrich, Rolf Geiger, Moritz Heger, Jakob Huber, Paola Romero, Ailika Schinköthe, Oliver Sensen, Amelie Stuart und Wolfgang Zwierzynski. Einzelne Kapitel und Aspekte konnte ich auf Konferenzen und bei Vorträgen an Universitäten in Bordeaux, Bremen, Brighton, Düsseldorf, Graz, London, Manchester, Salzburg, Trier und Tübingen vorstellen. Ich danke allen Beteiligten für ihre wertvollen Kommentare. Einen stetigen Ort des Austauschs stellte in den vergangenen Jahren das Forschungskolloquium von Otfried Höffe dar: Für die dortigen Gespräche und Anregungen möchte ich mich beim Leiter und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken. Die eingereichte Dissertation, auf der diese Studie beruht, wurde 2018 von der Immanuel Kant-Stiftung mit dem Kant-Förderpreis Migration und Weltbürgerrecht
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Danksagung
ausgezeichnet. Ich möchte mich bei Stiftungsvorstand Berthold Lange und stellvertretend für die gesamte Jury bei ihrem Vorsitzenden Bernd Dörflinger für diese Auszeichnung bedanken. 2019 wurde die Dissertation von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit dem Walter-Witzenmann-Preis ausgezeichnet. Für diese Anerkennung möchte ich mich herzlich bedanken. Schließlich möchte ich zwei anonymen Gutachtern für ihre wertvollen Kommentare und den Herausgebern für die Aufnahme dieser Studie in die Reihe Praktische Philosophie danken. Tübingen, Juli 2019
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis 1. 1.1 1.2 1.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung: Migration als Herausforderung für die politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . Wanderung, Migration, Flucht . . . . . . . . . . . Politische Philosophie und Wanderungsbewegungen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 17
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19 22 27 29
Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Debatte . . . Kommunitarismus (Walzer) . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Mitgliedschaft als ›Sphäre der Gerechtigkeit‹ . . 2.1.2 Acht Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Selbstbestimmung ohne geschlossene Grenzen? Egalitaristischer Kosmopolitismus (Carens) . . . . . . . 2.2.1 Ein Plädoyer für offene Grenzen . . . . . . . . 2.2.2 Drei Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Legitimatorischer Individualismus und universale Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . Liberaler Nationalismus (Miller) . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Nationen und Einwanderung . . . . . . . . . .
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35 40 42 44 50 53 54 54
. . .
58 62 63
TEIL I Geschlossene Grenzen – Offene Grenzen: Die Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie 2. 2.1
2.2
2.3
Migration und Weltbürgerrecht
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Inhaltsverzeichnis
Drei Argumente für offene Grenzen . . . . . . Zuwanderung und Territorialrechte . . . . . . Die Grenzen der Selbstbestimmung . . . . . . Legitimatorischer Individualismus und Territorialrechte . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlossene Grenzen – Offene Grenzen: Zwischenfazit
. . .
64 68 71
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72 76
. . . . . . . .
81
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2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
2.4
TEIL II Immanuel Kants Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre 3.
Das Thema Migration bei Kant: Einleitung
4. 4.1 4.2 4.3
Begriffsklärungen . . Weltbürgerlich . . . Weltbürger . . . . . Weltbürgerrecht . .
. . . .
87 88 92 95
5.
Zum Kontext und den Adressaten des Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre . . . . . . . . . .
100
Hospitalität und Hostilität: Zum Inhalt des Weltbürgerrechts I . . . . . . . . . . . Das Recht auf Wirtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Was ist Hospitalität? . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Was ist ›allgemeine‹ Hospitalität? . . . . . . . . 6.1.3 Welche ›Einschränkung‹ ? . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Kants Vorgänger I: Vitoria . . . . . . . . . . . 6.1.5 Kants Vorgänger II: Grotius . . . . . . . . . . 6.1.6 Keine Hospitalität in der Rechtslehre? . . . . . 6.1.7 Weltbürgerrecht als Hospitalitätsrecht? . . . . . 6.1.8 Das China-Japan-Beispiel . . . . . . . . . . . . Die Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten . . . . 6.2.1 Kants Begriff der Feindseligkeit und des Feindes 6.2.2 Der Begriff des Feindes und das Weltbürgerrecht 6.2.3 Grundeigentum und Weltbürgerrecht . . . . .
107 109 109 111 112 113 115 117 119 120 124 125 126 127
6. 6.1
6.2
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Inhaltsverzeichnis
7. 7.1 7.2 7.3
Kant und der Kolonialismus: Zum Inhalt des Weltbürgerrechts II . . . . . . . . . . Kants Kolonialismusbegriff . . . . . . . . . . . . . . . Kant als Verteidiger oder als Kritiker des Kolonialismus? Kants Kolonialismuskritik . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
135 137 140 146
8. 8.1 8.2 8.3
Rechte und Pflichten: Zur Form des Weltbürgerrechts . . Das Gebot der Nichtabweisung als unvollkommene Pflicht? Korrespondieren dem Weltbürgerrecht positive Pflichten? Ergeben sich aus dem Weltbürgerrecht special duties? . . .
155 157 162 163
9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Zur Begründung des Weltbürgerrechts: Fünf Lesarten Recht auf Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . Weltöffentlichkeit und Aufklärung . . . . . . . . . . Friedensfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . Das eine »angeborne Recht« . . . . . . . . . . . . . Das Rechtsprinzip und die Kugelgestalt der Erde . . .
10. 10.1 10.2 10.3
Produktive Disharmonie: Ein Zwischenfazit Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . Systematische Einwände . . . . . . . . . Mögliche Antworten . . . . . . . . . . . 10.3.1 Zu wenig Gemeinschaft? . . . . 10.3.2 Zu wenig Egalitarismus? . . . . 10.3.3 Zu wenig Universalismus? . . . . 10.3.4 Zu viel Optimismus? . . . . . . 10.3.5 Zu viel Gemeinschaft? . . . . . . 10.4 Produktive Disharmonie . . . . . . . . .
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170 172 176 178 181 187
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194 194 198 200 200 202 203 204 205 206
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Inhaltsverzeichnis
TEIL III Weltbürgerrecht und Migration 11.
Die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12. Das Weltbürgerrecht als Non-refoulement-Prinzip? . 12.1 Unterlassungspflichten sind vollkommene Pflichten . . 12.2 Was bedeutet »Untergang«? . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Ist »Untergang« gleichbedeutend mit Tod? . 12.2.2 Der ›Untergang des Königs‹ und Kants Personenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Kant und »die hungernde irische Landbevölkerung« . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Das moralische Selbst als normatives Kriterium für ein Recht auf Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 »What happens when the numbers are not small?« . .
. . . .
14.1 14.2 14.3
14.4
14
212 215 216 217
. . 218 . . 221 . . 224 . . 226
13. Illegitime und legitime Abweisungsgründe . . . . . . . 13.1 Vier Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.1 Das Verbot der Aneignung fremden Eigentums 13.1.2 Der Inhalt des Kommunikationsaktes . . . . . 13.1.3 Das Verbot von Verbrechen gegen den Staat . . 13.1.4 Keine arbiträren Merkmale . . . . . . . . . . 13.2 Feindseligkeit als legitimes Abweisungskriterium . . . . 13.3 Das Verhältnis von Exklusionsrecht und Souveränität . . 14.
. . . .
209
. . . . . . . .
233 234 234 236 237 238 239 241
»Der natürliche Mensch ist gleichsam vogelfrei«: Kants Weltbürgerrecht und Staatenlosigkeit . . . . . . . Was ist Staatenlosigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf welche philosophische Frage verweist Staatenlosigkeit? Zwei Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Anachronismusproblem . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Institutionalisierungsproblem . . . . . . . . . . Ein Weg aus der Staatenlosigkeit? . . . . . . . . . . . .
245 246 247 248 249 252 258
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Inhaltsverzeichnis
15.
»An Unbridgeable Gap«? Der Übergang vom Besuchs- zum Gastrecht . . . . . . 15.1 Das Recht auf Mitgliedschaft und der ›wohltätige Vertrag‹ 15.1.1 Einseitiger Erwerb, nicht Wohltätigkeit . . . . 15.1.2 Aufenthalt, nicht Mitgliedschaft . . . . . . . . 15.2 Staatsbürger durch Vertrag? . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Freiwilligkeit als zentrales Merkmal von Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Legitime Einschränkungen der Vertragsfreiheit 16. Das Recht auf Auswanderung . . . . . . . . . . . . . 16.1 Der Untertan hat das Recht der Auswanderung . . . . 16.2 »[D]er Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Recht auf Auswanderung ohne Recht auf Einwanderung?
. . . . .
261 262 263 265 267
. 268 . 268 . 272 . 274 . 277 . 280
17. 17.1 17.2 17.3 17.3
Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten . . . . . Zum Begriff der Tugendpflicht . . . . . . . . . . . . . . Hilfspflicht und Pflicht zur Wohltätigkeit . . . . . . . . . Die Wohltätigkeit des »reichen Mannes« . . . . . . . . . Teilnehmung, Dankbarkeit und weltbürgerliche Gesinnung
284 285 289 293 295
18.
Mehr als gerechte Mitgliedschaft Zwischenfazit, Zusammenfassung, Ausblick . . . . . . . .
298
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglenverzeichnis
Kants Schriften werden, wenn nicht anders angegeben, im Text nach der Akademie-Ausgabe (Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff.) ausgewiesen. Der Band wird römisch, die Seite arabisch gezählt. Die Manuskripte Döhnhoff und Dohna zu Kants Vorlesungen über Physische Geographie werden als Band 26.2 in der Akademie-Ausgabe erscheinen. Werner Stark hat die Mitschriften elektronisch dokumentiert und zugänglich gemacht: http://kant.bbaw.de/base.htm/ index.htm. Die im Text der vorliegenden Studie genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die Seiten dieser digitalen Dokumentation. Anth BDG
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117–333) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (II 63–163) Dohna Vorlesungen zur Physischen Geographie: Dohna Döhnhoff Vorlesungen zur Physischen Geographie: Döhnhoff FEV Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen (I 193– 213) Gemeinspruch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) Idee Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–31) KpV Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) KrV Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1–252, B: III) KU Kritik der Urteilskraft (V 165–485) NTH Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt (I 215–368) Päd Pädagogik (IX 437–499) PG Physische Geographie (IX 151–436) R Reflexionen zur Rechtsphilosophie (XIX, 442–613)
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Siglenverzeichnis RGV RL TL VARL VATL VAZeF Vigilantius ZeF
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Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1– 202) Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI 203–372) Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 373–493) Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (XXIII 207–370) Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (XXIII 371–420) Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden (XXIII 152–192) Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (XXVII 600–712) Zum ewigen Frieden (VIII 341–386)
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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1. Einleitung: Migration als Herausforderung für die politische Philosophie
Wanderungsbewegungen und Verpflichtungen gegenüber Fremden waren seit jeher Themen der politischen Philosophie. Auch wenn sie selten im Zentrum der Überlegungen standen, widmen sich einige einschlägige Werke auch schon vor jenen Immanuel Kants, der in dieser Studie im Mittelpunkt stehen wird, Fragen, die diese Themenkomplexe berühren: Platon diskutiert beispielsweise in den Nomoi mögliche Migrationsursachen (IV, 708b), die Vor- und Nachteile kultureller Homogenität (708c–d) und Pflichten gegenüber Fremden und Schutzsuchenden (729e–730a). Seneca erörtert in seiner Trostschrift Ad Helviam matrem, dass an allen Orten sich Menschen finden, die ihre Heimat verlassen haben, und »dass Stämme und ganze Völker ihren Wohnsitz gewechselt haben« (VII, 1). Augustinus setzt sich in De civitate Dei mit Fragen nach der Gewährung von Asyl auseinander (I, 4–7 u. 34). Thomas von Aquin diskutiert in der Summa Theologiae den Umgang mit Fremden (Summa, Ia IIae, q. 105, art. 3). In den frühneuzeitlichen Utopien – sei es Morus’ Utopia, Campanellas Sonnenstaat oder Bacons Neu-Atlantis – finden sich Überlegungen zur Aufnahme von Fremden, Koloniebildung und den Vor- und Nachteilen der Öffnung und Schließung von Grenzen. Auch die Vertragstheoretiker Hobbes, Locke und Rousseau sind sich dessen bewusst, dass Wanderungsbewegungen philosophisch von Belang sind: Hobbes beschäftigt sich im Leviathan, wenn auch nur kurz, mit Kolonien (Kap. 30, 387). Rousseau fragt sich, ob bereits im bloßen Aufenthalt in einem Staat die Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag gesehen werden kann (Contrat Social, IV 2). Locke geht der Frage nach, wie ›Fremde‹ zum Mitglied einer Gesellschaft werden können (Second Treatise, VIII 95). Zu nennen sind aber auch die Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus wie wir sie bei den Theoretikern des Völkerrechts, etwa bei Vitoria in seinen Vorlesungen De indis recenter inventis oder auch bei den französischen Moralisten, z. B. in Montaignes Essais, finden. Viele weitere Beispiele könnten Migration und Weltbürgerrecht
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Einleitung
angeführt werden. 1 Die Rede vom ›Schattendasein‹ des Themas Migration in der Philosophie ist daher nur zum Teil richtig. 2 In der gegenwärtigen politischen Philosophie haben die genannten und ähnliche Fragen ebenfalls Konjunktur. Angesichts der Fluchtbewegungen von bislang ungekanntem historischen Ausmaß, 3 die unsere Welt momentan erlebt, werden die Themen Zu- und Einwanderung, Flucht und Migration, Integration und Staatsbürgerschaft viel diskutiert, und das nicht allein in Fachkreisen. In der politischen Philosophie und der Angewandten Ethik aber ist das Interesse an diesen Fragen nicht allein durch die tagespolitische Aktualität bestimmt, auch wenn diese freilich oft den Impuls für die angestellten Überlegungen liefert. 4 Für die politische Philosophie werfen Wanderungsbewegungen eine Fülle von Fragen auf, die vielfältige Themengebiete betreffen: Etwa a) das methodische Vorgehen bei der Entwicklung von Rechtsund Gerechtigkeitsprinzipien, beispielsweise wer bei der Konstruktion eines Urzustandes in die Überlegungen miteinbezogen wird; b) die inhaltliche Ausgestaltung spezifischer Gerechtigkeitsgrundsätze, beispielsweise ob ein Recht auf universale Freizügigkeit zu den Grundrechten jedes Menschen zu zählen ist oder nicht; c) die Legi-
Für weitere Beispiele s. auch Kristeva (1990), ebenso Coulmas (1990) und Cavallar (2002). 2 Zu dieser These etwa Blake: »There is a wide academic literature on immigration; very little of it has been produced by philosophers« (2003, 225). Oder Benhabib, die diese These nur für die gegenwärtige Philosophie vertritt: »[I]t is surprising that the cross-border movements of peoples, and the philosophical as well as policy problems suggested by them, have been object of such scant attention in contemporary political philosophy« (2004, xiii). Jüngst auch Dietrich: »In der Geschichte der politischen Philosophie haben sich […] nur wenige Autoren […] dem Thema der Immigration (bzw. Emigration) gewidmet« (2017a, 16). Dagegen Schramme: »Tatsächlich beschäftigen sich Philosophinnen und Philosophen schon seit geraumer Zeit mit den ethischen Fragen, die Flucht und Vertreibung betreffen, und mit dem Status und den moralischen Ansprüchen von Flüchtlingen« (Schramme 2015, 380). Schramme bezieht sich mit seiner Einschätzung aber vor allem auf Dummett (2001). 3 Im Jahr 2015 hat die Zahl der Flüchtlinge weltweit erstmals in der Geschichte die 60-Millionen-Marke überschritten; daher auch die Rede vom »ungekannten Ausmaß« und »einem Rekordniveau«. Gleichwohl muss man Angeli zustimmen, der dazu aufruft, diese Zahlen nicht zu dramatisieren, denn sie bedeuten auch Folgendes: »Weniger als 1 % der Weltbevölkerung ist auf der Flucht. […] Auch der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung ist mit 3,3 % überschaubar und nur unwesentlich höher als 1960« (Angeli 2018, 25). 4 Vgl. etwa Ott (2016, 7). 1
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Einleitung
timität von Zu- und Einwanderungspolitiken, sowohl im Sinne der Möglichkeit der Rechtfertigung dieser Politiken überhaupt wie auch der Legitimität spezifischer Zu- und Einwanderungspolitiken; d) ob die Funktionen und Zwecke, die Zu- und Einwanderungspolitiken erfüllen rechtsmoralisch begründbar sind – oder nicht; e) die Frage nach der Stabilität politischer Ordnungen und ob diese durch Wanderungsbewegungen gefährdet oder befördert wird, und f) die Frage nach dem Verhältnis individueller Freiheit und staatlicher Souveränität und damit die Frage, inwiefern die zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden darf oder nicht. 5 Migration stellt die politische Philosophie also in mindestens fünffacher Hinsicht vor eine Herausforderung. Wanderungsbewegungen bilden daher den Anlass für philosophische Überlegungen, die aber letztlich auf grundlegende Fragen politischer Philosophie verweisen. Manche Autoren stellen die Fähigkeit der Philosophie infrage, überhaupt Antworten auf komplexe politische Situationen wie die Frage nach dem richtigen politischen Umgang mit großen Fluchtbewegungen zu liefern (Schramme 2015): Politische Philosophie müsse an der Komplexität dieser Phänomene scheitern, da sie bislang nicht über die notwendigen methodischen Möglichkeiten verfüge, derartige Fragen zufriedenstellend zu bearbeiten (Schramme 2015, 318). Man kann sich fragen, ob Schrammes Kritik nicht ein wenig zu weit geht. Vielleicht kann man seinen Beitrag aber auch als einen Aufruf zur Vorsicht und Zurückhaltung lesen. Allzu leicht dient die philosophische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Autoren wie auch Klassikern der Philosophiegeschichte der Untermauerung der eigenen (politischen) Grundhaltung. Selten wird sie als Anregung zur kritischen Reflexion der eigenen Position verstanden. Nehmen wir die Klassiker ernst, da, wo sie ›quer‹ zu unseren Überzeugungen stehen, und da, wo sie heute für selbstverständlich gehaltene Argumentationsmuster unterlaufen, bietet uns das die Chance, in der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen neue Einsichten zu gewinnen, die Implikationen bestimmter Gedankengänge zu erforschen und nebenbei auch unser Bild von der Position des jeweiligen Autors zu hinterfragen. Diese Arbeit soll ein Angebot hierzu sein. Sie wird sich insbesondere mit Immanuel Kants Position zum Themenkomplex der Die Punkte c–f sind an Özmens Begründungsfragen der politischen Philosophie angelehnt (Özmen 2013, 33).
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Einleitung
Migration auseinandersetzen. Dabei wird sich herausstellen, dass Kant in einer, wie ich es nennen möchte, produktiven Disharmonie zu in der gegenwärtigen politischen Philosophie häufig anzutreffenden Argumentationsstrukturen steht. Es wird sich aber auch zeigen, dass sich manche gängige Einschätzung Kants als vorschnell gefasst erweist: Seine Position zum Themenkomplex der Migration ist facettenreich; manchmal wird sie positiv überraschen, manchmal wird sie vielleicht auch enttäuschen. Als der Auseinandersetzung wert, auch mit Hinblick auf die Fragen der Migrationsdebatte, wird sie sich in jedem Fall erweisen.
1.1 Wanderung, Migration, Flucht Zunächst sind aber einige Worte zu jenen Begriffen und Phänomenen, die hier aus ethisch-philosophischer Perspektive untersucht werden sollen, angebracht. Die folgenden Bestimmungen können dabei freilich nur kurz nennen, was Gegenstand ausführlicher ethnologischer, historischer, juristischer, kulturwissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher, soziologischer und sprachwissenschaftlicher Forschung ist. Sie ermöglichen es aber, einen Eindruck von der Bandbreite des Phänomens und der begrifflichen Schärfen und Unschärfen zu erlangen – und darüber hinaus einen Arbeitsbegriff für die vorliegende Studie festzulegen. Das Wort Wanderung tritt laut dem Grimmschen Wörterbuch schon im späteren Mittelhochdeutschen auf. Es bezeichnet seltener, wie ›Wanderschaft‹, ein längeres fortgesetztes Wandern oder Reisen und wird auch, aber nur gelegentlich, für die Walz der Handwerkszünfte verwendet. »Besonders« jedoch »wird wanderung (nach migratio) von den zügen der völker gebraucht« (Grimm, Bd. 27, 1704). Daneben kann es auch die Bedeutung »wegwandern« und »Abreise« annehmen. Darüber hinaus finden sich auch zahlreiche übertragene Verwendungsweisen. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch bezeichnet das Begriffspaar ›Abwanderung und Zuwanderung‹ die Bewegungen von Personen und Gruppen, die auf eine längerfristige oder dauerhafte »Verlagerung des Lebensmittelpunktes« (Oltmer 2012, 18) abzielen. Dabei spielt es im Gegensatz zu dem Begriffspaar ›Aus- und Einwanderung‹ keine Rolle, welche Hintergründe, Distanzen, Ziele oder Ergebnisse mit diesen Bewegungen verbunden sind: »Beide Begriffe verweisen 22
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sowohl auf intra- und interregionale als auch auf grenzüberschreitende Bewegungen« (ebd.). ›Aus- und ›Einwanderung‹ bezeichnen nach Oltmer im Gegensatz zu ›Ab- und Zuwanderung‹ : »Landesgrenzen überschreitende und nach Wanderungsabsicht oder Wanderungsergebnis mit einer dauerhaften Niederlassung im Zielland verbundene Migration« (ebd.). Die Wanderungsformen oder -typologien sind dabei vielfältig. Der Begriff kann sich auf Arbeitswanderung, Bildungs- und Ausbildungswanderung, Entsendung wie etwa bei Diplomaten oder Vertretern international agierender Unternehmen oder auch auf Gesellenwanderung, Heirats- und Liebeswanderung, Kulturwanderung, Nomadismus, Siedlungswanderung, Sklaven- und Menschenhandel, Wanderarbeit, Wanderhandel, Wohlstandswanderung (»lifestyle migration«) und Zwangswanderungen wie Flucht, Vertreibung, Deportation und Umsiedelung beziehen (ebd., 20 f.). 6 Die einzelnen Formen lassen sich freilich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen: Beispielsweise kann es sich bei einer ›Kulturwanderung‹, die etwa in der Verlagerung des Lebensmittelpunktes in eine kulturell attraktive Stadt besteht, auch um eine Wohlstandswanderung handeln, die sich durch die freie Wahl eines neuen Wohnortes durch finanziell unabhängige Personen auszeichnet. Außerdem waren die einzelnen Wanderungsformen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich häufig. So waren beispielsweise im 16. bis 19. Jahrhundert die von Europa ausgehenden Kolonisationsbestrebungen, die sich hieran anschließenden Massenabwanderungen aus Europa und der mit ihnen einhergehende Sklavenhandel aus Afrika prägende Elemente des Bildes von Migration. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sind Arbeits- und Siedlungswanderungen entscheidende Wanderungsbewegungen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird von Zwangsmigrationen, Flucht, Vertreibung und Deportation sowie Kriegsfolgewanderungen bestimmt. 7 Auch wenn es zwischen diesen Phasen Überschneidungen gibt, werfen die jeweils anderen Facetten von Wanderungsbewegungen auch jeweils unterschiedliche Probleme auf. Dies spiegelt sich zum Der Begriff der Migration scheint im Gegensatz dazu gemeinhin enger gefasst zu werden. Bauböck ist beispielsweise der Ansicht, dass Nomadentum, Tourismus, Sklavenhandel und Umsiedlungen nicht als ›Migration‹ zu bezeichnen sind (2008, 818). 7 Diese Einteilung folgt im wesentlichen Oltmer (2012). 6
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Teil auch in den philosophischen Texten, die Wanderungsbewegungen diskutieren, wider. Spielt etwa im 16. und 17. Jahrhundert die Rechtfertigung der kolonialen Landnahme im Rahmen von Siedlungswanderungen eine größere Rolle, setzt sich die politische Philosophie des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eher mit Wanderungsbewegungen auseinander, die durch Gefälle im globalen Wohlstandsniveau verursacht werden,. 8 Auch entsteht ein Interesse an durch Klimaveränderungen verursachten Wanderungsbewegungen. 9 Jüngst werden vor allem Fragen nach den Verpflichtungen von Staaten gegenüber Flüchtlingen diskutiert. Dabei können aber auch Formen, die als überwunden oder überholt galten, plötzlich – gegebenenfalls in modifizierter Gestalt – in anderen historischen oder geographischen Kontexten wieder Relevanz erlangen. Während im deutschen Sprachraum lange die Begriffe ›Ein- und Auswanderung‹ üblich waren, um Migrationsbewegungen zu bezeichnen, hat sich in den letzten Jahrzehnten der Begriff ›Migration‹ als Lehnwort aus dem Englischen auch in der deutschen Alltags- und Wissenschaftssprache etabliert (Han 2010, 5 f.). Der Begriff ›Migration‹ stammt dabei freilich aus dem Lateinischen von migrare oder migratio. Diese Begrifflichkeiten bedeuten so viel wie wandern, auswandern, aus- und wegziehen, übersiedeln bzw. Wanderung, Auswanderung, Umzug. Imigrare bedeutet einwandern, einziehen; emigrare entsprechend auswandern, ausziehen. In den Sozialwissenschaften wird unter dem Begriff der Migration eine Bewegung von Personen, Personengruppen oder ganzen Bevölkerungen im Raum verstanden, die einen dauerhaften Wohnortwechsel zur Folge hat (Han 2010, 6). 10 Einige Kontroversen wirft dabei vor allem die Bestimmung des Begriffs der Dauerhaftigkeit auf: Ist der Aufenthalt an einem Ort ›dauerhaft‹, wenn er einige Monate, ein Jahr oder mehrere Jahre umfasst? Hierzu gehen die Positionen in den Sozialwissenschaften auseinander. 11 Die Vereinten Nationen unterscheiden temporäre Migration von der Langzeitmigration: Nach dieser Differenzierung handelt es sich bei einer Migrationsbewegung Da die Literatur zu diesem Thema ausufernd ist, hier nur einige einschlägige Beispiele: Carens (1987), Singer (1993), Pogge (2002), Schlothfeld (2002 u. 2012), Cheneval/Rochel (2012) und Ladwig (2012). 9 Zum Beispiel Risse (2009). 10 Vgl. auch Oltmer (2012, 17). 11 Für einen Überblick über die unterschiedlichen Positionen s. Han (2010, 6). 8
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dann um temporäre Migration, wenn der Aufenthalt kürzer als ein Jahr, aber länger als drei Monate ist. Ab einem Jahr ist für die Vereinten Nationen das Kriterium der Dauerhaftigkeit erfüllt und es handelt sich um Langzeitmigration (IOM 2003, 296). Es wird also eine gewisse ›Mindestdauer‹ des Aufenthalts angenommen, wenn von Migration gesprochen wird. Gemeinhin werden daher auch Reisende und Pendler nicht den Migrationsbewegungen zugerechnet (Han 2010, 6). Der Begriff der Wanderung scheint im Gegensatz dazu offener zu sein, da er z. B. auch Reisende und Nichtsesshaftigkeit erfasst, wobei natürlich auch der Begriff der Migration so definiert werden kann, dass er diese Phänomene ebenfalls abdeckt. Eine weitere viel diskutierte Frage lautet, welche Art von politischer Grenze überschritten werden muss, damit die Bewegung einer Person im Raum zur Migrationsbewegung wird und sich damit etwa von einem Umzug innerhalb einer Stadt oder einer Gemeinde unterscheidet. In diesem Zusammenhang wird daher auch von Binnenmigration und von internationaler Migration gesprochen, wobei Binnenmigration jene Migrationsströme umfasst, die sich innerhalb einer definierten politischen Grenze bewegen; internationale Migration dagegen jene, die nationale Grenzen überschreiten (ebd., 7 f.). Was man bei all diesen Unterscheidungen jedoch nicht vergessen sollte, ist, dass es sich bei Wanderungsbewegungen um grundsätzlich ergebnisoffene Prozesse handelt. Oltmer hat dies treffend wie folgt beschrieben: Räumliche Bewegungen werden beispielsweise abgebrochen, weil bereits ein im Zuge einer Transitwanderung zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort unverhofft neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert. Zudem kann der Erfolg im Zielgebiet die Rückkehr in die Heimat möglich oder der Misserfolg nötig machen. Häufig wird eine geplante Rückkehr aufgeschoben, bis die Fremde zur Heimat geworden ist und die alte Heimat zur Fremde (Oltmer 2012, 25 f.). 12
Darüber hinaus werden in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung vielfältige Typen von Migration unterschieden. Eine Grundunterscheidung bildet dabei jene zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration, wobei diese Grenzziehung selbst bereits umstritten ist. 12
Ähnlich auch Hoerder (2010, 11).
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Flucht und deren moralische Implikationen werden gegenwärtig aufgrund der tagespolitischen Aktualität dieses Themas auch aus philosophisch-ethischer Perspektive viel diskutiert. 13 Es handelt sich hierbei aber nicht um die einzige Form der ›unfreiwilligen‹ Migration. Auch hinsichtlich erzwungener Migration oder Zwangsmigration können vielfältige Formen beschrieben werden. Es kann sich beispielsweise um Deportation, Evakuierung, Flucht, Umsiedelung oder Vertreibung handeln (ebd., 31). Allen Typen der Zwangsmigration ist aber gemein, dass sie »durch eine Nötigung zur Abwanderung verursacht [werden], die keine realistische Handlungsalternative zulässt« (ebd.). Gelegentlich wird vorgeschlagen, ›Wanderung‹ als Oberbegriff zu ›Migration‹ und ›Flucht‹ zu verstehen (Ott 2016, 11): »Flüchtlinge seien« dabei auf der einen Seite »definiert als Schutzsuchende, denen ein weiterer Aufenthalt in ihren Heimat- und Herkunftsländern unzumutbar ist« (ebd.). »Migrantinnen« möchten dagegen auf der anderen Seite »ihre Lebensaussichten und die ihrer Angehörigen durch Auswanderung verbessern« (ebd., 12). Die Dringlichkeit, die im ersten Fall angenommen wird, sei im zweiten nicht gegeben. Diese hier angeführten Unterscheidungen haben große Auswirkungen darauf, welche Migrationsströme überhaupt als solche statistisch erfasst werden. Einige dieser Unterscheidungen, wie etwa die zuletzt angeführte, haben auch moralische Implikationen: Die Unterscheidung von Flüchtenden auf der einen Seite und Migrantinnen und Migranten auf der anderen legt auch nahe, dass Staaten zwischen diesen Gruppen unterscheiden müssen und gegenüber der einen Gruppe Verpflichtungen hätten, die sie gegenüber der anderen nicht haben. In dieser Arbeit werde ich sowohl von Wanderung als auch von Migration sprechen: Mit dem Begriff der Migration, der stark durch seine tagespolitische Aktualität geprägt ist, gehen häufig vorgefertigte Vorstellungen einher. Der Begriff der Wanderung vermag es daS. beispielsweise die Beiträge in dem Band »Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?« (Grundmann/Stephan 2016). Aber auch Özmen (2015), Sedmak (2015), Ott (2016) und Nida-Rümelin (2017, 111–121). Auch die Beiträge in Hruschka/Joerden (2017). Angelis Essay beschäftigt sich nicht vorrangig mit dem Thema Flucht, wurde aber »unter dem Eindruck der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ und den damit verbundenen Debatten und Verwerfungen« verfasst (Angeli 2018, 95). S. zu Angelis Essay auch Reinhardt (2019b) Für einen Überblick über die Hintergründe und Ereignisse der sogenannten Flüchtlingskrise s. Luft (22017).
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gegen, auf die Vielfältigkeit des Phänomens zu verweisen, gängige Implikationen des Begriffs Migration zu unterlaufen und gegenwärtig seltenere Formen der ›Bewegung im Raum‹ mit in den Blick zu nehmen. In dieser Studie werden auch Themen wie koloniale Landnahme und Nomadismus angeschnitten werden. Dies sind Themenkomplexe, die in der gegenwärtigen Debatte um Flucht und Migration keine Rolle spielen, die aber für eine historisch fundierte Auseinandersetzung mit Wanderungsbewegungen durchaus von Bedeutung sind. Gleichwohl lässt sich der Begriff der Migration kaum umgehen, wenn eine Anschlussfähigkeit der hier angestellten Überlegungen an die gegenwärtige Debatte um Migration in der politischen Philosophie sichergestellt werden soll.
1.2 Politische Philosophie und Wanderungsbewegungen Auf einige historische Referenzpunkte für die philosophische Auseinandersetzung mit Wanderungsbewegungen bin ich schon zu Beginn dieser Einleitung kurz eingegangen, auch auf grundlegende Herausforderungen, die Wanderungsbewegungen für die politische Philosophie aufwerfen. Wie begegnet sie diesen? Die gegenwärtige Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft in der politischen Philosophie, die in den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts in Gang gekommen ist und in den zurückliegenden Jahren durch die tagespolitische Aktualität dieser Themen noch einmal deutlich lebhafter geworden ist, hat ihren Ursprung in der Debatte um globale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt standen daher zunächst Fragen der sozioökonomischen Verteilungsgerechtigkeit und wie diese durch Mitgliedschaft in bestimmten politischen Gemeinwesen beeinflusst wird. 14 Ihren Ausgangspunkt nahm diese Debatte bei John Rawls’ A Theory of Justice. In der Abgrenzung zur dortigen Vorstellung von Gerechtigkeit und der Wiederbelebung einer liberalen politischen Vertragstheorie wurden im weiteren Verlauf Überlegungen zur kulturellen Über den Zusammenhang von Migration und (globaler) soziökonomischer Ungleichheit auch Ladwig (2012, 67–71). Zu Migration und globaler Gerechtigkeit s. ebenfalls Koller (1998), Schlothfeld (2002 u. 2012), Cheneval/Rochel (2012) und Cassee (2016, 183–201). Grundsätzlich kritisch zur Behebung von Armut mit den Mitteln liberaler Einwanderungsregime Pogge (2002). Auf weitere einschlägige Texte wird an entsprechender Stelle im ersten Teil dieser Studie verwiesen werden.
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Selbstbestimmung von politischen Gemeinwesen angestellt. 15 Der Ursprung der Debatte um Migration in jener um globale Gerechtigkeit wirkt bis in die Gegenwart fort und spiegelt sich auch in den vorherrschenden Argumentationssträngen wider. In jüngster Zeit ist in der deutschsprachigen politischen Philosophie eine vermehrte Hinwendung zum Thema Migration zu beobachten. 16 Während sich hier die Diskussion bis vor wenigen Jahren einerseits noch stärker mit der Legitimität staatlicher Grenzen auseinandergesetzt, 17 andererseits das Thema Migration mit jenem der Integration enggeführt hat, 18 konzentrieren sich die jüngsten Beiträge, wie bereits erwähnt, auf Fragen von Flucht und Zuwanderung. Kant wird innerhalb der Diskussion um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie selten rezipiert: Es gibt bislang keine umfassende Studie zu Kants Überlegungen zu Wanderungsbewegungen mit Hinblick auf die Fragen der gegenwärtigen Debatte. Diese Studie ist gleichwohl nicht die erste, die sich mit den Implikationen kantischer Philosophie für Themenkomplexe, die durch Migrationsbewegungen aufgeworfen werden, befasst: Zu nennen ist hier insbesondere Seyla Benhabibs The Rights of Others (2004), in welchem sie sich im Kapitel »On hospitality: rereading Kant’s cosmopolitan right« mit Kants Weltbürgerrecht und seinen Implikationen für die Rechte von Nichtstaatsbürgern auseinandersetzt. Ihre Interpretation des Weltbürgerrechts basiert dabei hauptsächlich auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Kants Ausführungen zum Weltbürgerrecht in der Rechtslehre spielen für Benhabib eine untergeordnete Rolle wie
Beispielsweise Walzer (1983, 31–63), Kymlicka (1995, 75–106) zuvor auch schon in Kymlicka (1989, 162–181), Miller (2007, 214–230). Dagegen etwa: Scheffler (2007). Auf weitere einschlägige Texte wird an entsprechender Stelle im ersten Teil der vorliegenden Studie verwiesen werden. 16 Chwaszcza (2015), Neuhäuser (2015), Özmen (2015), Ott (2016), Grundmann/Stephan (2016), Cassee (2016), Dietrich (2017a), Nida-Rümelin (2017), Angeli (2018). Auch in Einführungen wird diesem Thema mittlerweile Raum geschenkt, s. u. a. Dietrich/Zanetti (2014, 85–111). Zu Angeli, Dietrich und Nida-Rümelin s. auch Reinhardt (2019b, 2018b u. 2018c). 17 S. beispielsweise Chwaszcza (1998 u. 2006), Koller (2001), Ottmann (2001). Auf weitere einschlägige Texte wird an entsprechender Stelle im ersten Teil der vorliegenden Studie verwiesen werden. 18 S. beispielsweise Celikates (2012), Goppel (2012), Zurbuchen (2007 u. 2012). Auf weitere einschlägige Texte wird an entsprechender Stelle im ersten Teil der vorliegenden Studie verwiesen werden. 15
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Überblick
auch andere Passagen zum Themenkomplex der Migration, die sich dort finden. 19
1.3 Überblick Die Studie gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil stelle ich drei vorherrschende Strömungen der Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie anhand von drei ausgewählten Texten vor. Im Fokus der im ersten Teil dieser Studie skizzierten ›Landkarte‹ der Debatte um Migration werden der Kommunitarismus, der egalitaristische Kosmopolitismus und der liberale Nationalismus stehen. Ich werde mich bei der Vorstellung dieser drei Ansätze auf jeweils einen Autor beschränken, der für diese Debatte einschlägig ist. Den Kommunitarismus werde ich anhand von Michael Walzers Sphären der Gerechtigkeit (Kap. 2.1) vorstellen. Den egalitaristischen Kosmopolitismus werde ich exemplarisch an Joseph H. Carens’ Aufsatz »Aliens and Citizens« (Kap. 2.2) diskutieren und den liberalen Nationalismus am Beispiel von David Millers National Responsibility and Global Justice (Kap. 2.3). Diese Auswahl kann freilich kein vollständiges Bild der Debatte um Migration zeichnen. Sie dient vielmehr dazu, den Problemkosmos zu eröffnen, wie wir es ausgehend von diesen zentralen Texten in Abstufungen sowie Verfeinerung auch in den jüngeren Beiträgen zur Debatte vorfinden. Außerdem stellen die ausgewählten Autoren zentrale Referenzpunkte der gegenwärtigen Diskussion dar, ob nun im anglophonen oder im deutschsprachigen Raum. 20 Sie ermöglicht es darüber hinaus, auf für die folgende Auseinandersetzung wichtige Weiterhin sind zu nennen: Loewe (2010), der die rechtsmoralischen Implikationen untersucht, die Kants Weltbürgerrecht mit Hinblick auf die Verpflichtungen hat, die politische Gemeinwesen gegenüber Flüchtlingen haben. Auch Cavallar (2002); dort insbesondere das Kapitel »Kant and the Ius Cosmopoliticum«. Diese Untersuchung erfolgt allerdings nicht in systematischer, sondern vor allem in historisch interpretativer Absicht. Ebenso Cavallar (2015). Weiterhin ist Keil (2009) zu nennen, der Kants Weltbürgerrecht aus juristischer Perspektive mit Bezug zum geltenden Aufenthalts-, Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht analysiert. 20 Auch der für die deutschsprachige Debatte einschlägige und ansonsten von deutschsprachigen Autoren bestrittene Sammelband Migration und Ethik (Cassee/ Goppel 2012) kommt nicht ohne Texte von Carens, Miller und Walzer aus. Ebenso Dietrich (2017b). Auch für Angeli (2018) bleiben sie zentrale Gesprächspartner. Zu Dietrich s. auch Reinhardt (2018b). 19
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Punkte hinzuweisen. Einige möchte ich bereits hier im Rahmen der Einleitung erwähnen, da sie im Verlauf der vorliegenden Studie immer wieder eine Rolle spielen werden. Nonegalitaristische Ansätze in der politischen Philosophie stehen häufig im Verdacht, sich im politischen Spektrum eher ›rechts‹ zu positionieren. Dies gilt nicht nur mit Hinblick auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Migrationsbewegungen, sondern auch für andere Fragen nach politischer Gerechtigkeit. Jedoch, so hat bereits Angelika Krebs herausgearbeitet, sind hier Fragen der Begründung von jenen der politischen Umsetzung strikt zu trennen: Ein nonegalitaristischer Gerechtigkeitsansatz misst Gleichheit auf der Begründungsebene keinen zentralen Eigenwert zu. Auf der Ebene praktischer Konsequenzen kann ein nonegalitaristischer Gerechtigkeitsansatz jedoch sogar auf mehr Gleichheit hinauslaufen als ein egalitaristischer (Krebs 2002, 17).
Auch in Bezug auf die Migrationsdebatte lässt sich dies beobachten: Während beispielsweise Walzer in seinen Überlegungen zunächst von der Notwendigkeit ›geschlossener‹ Grenzen ausgeht und Carens auf der anderen Seite von einem Recht auf universale Freizügigkeit, ist nicht klar, inwiefern die aus ihren Ansätzen folgenden Einwanderungspolitiken für mehr oder weniger Gleichheit hinsichtlich der grenzüberschreitenden Bewegungsfreiheit sorgen würden. Die in der gegenwärtigen politischen Philosophie häufig aufgemachte Dichotomie von ›offene Grenzen‹- und ›geschlossene Grenzen‹-Ansätzen erweist sich also auch deshalb als fragwürdig. Kant steht in gewisser Hinsicht ›quer‹ zu diesen Hauptströmungen. Seine Position weist Elemente aller drei Strömungen auf, ohne aber zu den gleichen Schlüssen zu gelangen. Manchmal gelangt Kant zu ähnlichen Schlüssen, aber auf einer anderen Begründungsgrundlage. Er befindet sich zur Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie in einer, wie ich es nennen möchte, produktiven Disharmonie. Die Disharmonie wird besonders deutlich im zweiten Teil dieser Studie hervortreten; die Produktivität im dritten. Im zweiten Teil dieser Studie werde ich mich nach einigen einleitenden Bemerkungen (Kap. 3) der Behandlung des Themas der Wanderungsbewegungen und ihrer rechtsmoralischen Implikationen bei Kant zuwenden. Den Hauptreferenzpunkt wird hierbei das von ihm in der Schrift Zum ewigen Frieden und dem ersten Teil der Metaphysik der Sitten, der Rechtslehre, formulierte Weltbürgerrecht spielen. 30
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Zunächst werde ich den Begriff des Weltbürgerrechts von den ihm verwandten Begriffen ›weltbürgerlich‹ und ›Weltbürger‹ abgrenzen (Kap. 4). Im darauffolgenden Kapitel werden der Kontext, in dem das Weltbürgerrecht in der Friedensschrift und der Rechtslehre steht, und seine Adressaten erläutert (Kap. 5). In den nächsten zwei Kapiteln werden die zwei inhaltlichen Teilaspekte des Weltbürgerrechts im Zentrum der Überlegungen stehen: einerseits die geforderte allgemeine Hospitalität sowie die geforderte Unterlassung von Feindseligkeiten (Kap. 6), andererseits die antikolonialistische Stoßrichtung des Weltbürgerrechts (Kap. 7). Anschließend wird zu erörtern sein, welche Arten von Pflichten dem Weltbürgerrecht korrespondieren (Kap. 8). Schließlich wird die Begründung des Weltbürgerrechts zu klären sein (Kap. 9). Im Schlusskapitel zu diesem Teil wird unter Rückgriff auf die Ergebnisse des ersten Teils dieser Studie die Disharmonie von Kants Position mit jenen oben benannten Hauptströmungen der gegenwärtigen Debatte herausgestellt (Kap. 10). Im dritten Teil dieser Studie wird untersucht werden, warum wir aufgrund dieser Disharmonie – sei es auf der Ebene der Begründung, der Schlussfolgerungen oder der geforderten politischen Praxis – zu anderen, zum Teil weitreichenderen und komplexeren Antworten auf in der gegenwärtigen politischen Philosophie formulierte Fragen gelangen können. Den Ausgangspunkt dieses Teils bilden fünf Elemente, die nach Benhabib eine kosmopolitische Theorie der gerechten Mitgliedschaft beinhalten muss, und die Frage, ob Kants Überlegungen zu Wanderungsbewegungen ihnen genügen können. Es wird dabei gezeigt werden, dass Kants Problembewusstsein sogar weiter geht und auch Themen behandelt, die von Benhabib – wie auch anderen Autorinnen und Autoren – nicht in den Blick genommen werden. Benhabib argumentiert dafür, dass ein Konzept gerechter Mitgliedschaft fünf Merkmale erfüllen müsse: (1) die Anerkennung des moralischen Anspruchs von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf Erstaufnahme, (2) ein Regime »poröser Grenzen« für Einwanderer, (3) ein Verbot des Entzugs der Staatsbürgerschaft und den Verlust der staatsbürgerlichen Rechte, (4) das Recht eines jeden Menschen, eine Rechtsperson zu sein, ausgestattet mit bestimmten unveräußerlichen Rechten – ein »Recht auf Rechte« im Arendt’schen Sinne – und (5) schließlich, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, das Recht, die Staatsbürgerschaft zu erlangen (Benhabib 2004, 3). In Kapitel 12 werde ich mich der Frage zuwenden, ob das kantische Weltbürgerrecht dem ersten von Benhabib genannten Merkmal, Migration und Weltbürgerrecht
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den moralischen Ansprüchen von Flüchtlingen auf Erstaufnahme, gerecht werden kann. Benhabibs zweites Merkmal werde ich indirekter behandeln, indem ich eine Frage aufnehmen werde, die in der Kant-Forschung hinsichtlich des Weltbürgerrechts diskutiert wird, nämlich: Kann man für andere Migrationsbewegungen außer Flucht auf der Grundlage von Kants Überlegungen zwischen legitimen und illegitimen Abweisungsgründen sinnvoll unterscheiden (Kap. 13)? Je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen wird, werden sich die von Kant geforderten Grenzen als ›poröser‹ oder weniger ›porös‹ in Benhabibs Sinne erweisen. Anschließend soll untersucht werden, wie der mögliche Umgang mit Staatenlosigkeit und der Übergang zur Staatsbürgerschaft – Benhabibs Punkte 3 bis 5 – aus einer kantischen Perspektive auf Migration aussehen könnten (Kap. 14 u. 15). Im darauffolgenden Kapitel wird eine Wanderungsbewegung diskutiert werden, die in der gegenwärtigen Debatte kaum eine Rolle spielt, die Auswanderung. Denn Kant behandelt nicht nur Fragen der Zu-, sondern auch der Abwanderung, wobei auch das Recht auf Auswanderung zur Sprache kommt (Kap. 16). Im nächsten Kapitel werde ich vorschlagen, dass man das Weltbürgerrecht und die ihm korrespondierenden Pflichten immer auch flankiert von weitergehenden Tugendpflichten denken muss: Die dem Weltbürgerrecht korrespondierender Pflichten sind nicht die einzigen Pflichten, die mit Hinblick auf Migrationsbewegungen bestehen. Ich werde argumentieren, dass es eine Stärke der kantischen Konzeption darstellt, dass durch die Flankierung der Rechtspflichten durch die Tugendpflichten und vice versa zwei verbreitete Reduktionismen der gegenwärtigen Debatte um Migration vermieden werden: nämlich alle Verpflichtungen, die gegenüber einwanderungswilligen Personen bestehen, entweder als Gerechtigkeitspflichten oder als Hilfspflichten zu verstehen (Kap. 17). Im Kapitel 18 wird das Zwischenfazit zum dritten Teil mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse der gesamten Studie und einem Ausblick auf weitergehende Fragen verbunden.
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TEIL I Geschlossene Grenzen – Offene Grenzen: Die Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie
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2. Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Debatte
Migrationsbewegungen waren in der Geschichte philosophischen Denkens kein Hauptthema, wurden aber dennoch verschiedentlich diskutiert. Auf einige Beispiele bin ich in der Einleitung bereits eingegangen (Kap. 1). Die gegenwärtige Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft in der politischen Philosophie, die etwa seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts in Gang gekommen und in den zurückliegenden Jahren durch die tagespolitische Aktualität dieser Themen noch einmal deutlich lebhafter geworden ist, verläuft größtenteils losgelöst von diesen historischen Ansätzen. 21 Sie hat ihren Ursprung in den Diskussionen um globale Gerechtigkeit, die wiederum stark von Rawls beeinflusst sind. Mit der Veröffentlichung seiner Theory of Justice 1971 hatte Rawls die politische Philosophie wiederbelebt, zugleich aber ihren Fokus auf Fragen der Gerechtigkeit und dabei insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit gelenkt. Die Theory beschränkt sich dabei bekanntlich auf die Untersuchung innerstaatlicher Verteilungsfragen. An ihre Veröffentlichung schloss sich aber auch eine breite Diskussion der Frage nach zwischenstaatlichen, gegebenenfalls auch globalen Verteilungspflichten an. Einige Befürworter solcher globaler Verpflichtungen entwickelten schließlich Ansätze zu einer globalen Vertragstheorie. 22 Einem solchen Ansatz wird Rawls selbst aber in The Law of Peoples widersprechen (1993/1999). In der Zwischenzeit hatte sich aber bereits in Auseinandersetzung mit der Debatte zur globalen Gerechtigkeit jene zur Migration Am ehesten wird von den Klassikern der Philosophiegeschichte hier Kant rezipiert (s. hierzu Benhabib 2004; Marti 2012), in einer spezifischen Unterdebatte zum Gemeinbesitz an der Erde in jüngster Zeit auch Grotius (Risse 2009 u. 2012). 22 Die Debatte zur globalen Gerechtigkeit ist mittlerweile zu umfassend, um sie hier auch nur zu skizzieren. Einige der wegweisenden Beiträge zu dieser Debatte sind Beitz (1979), Barry (1989) und Pogge (1989), Höffe (1999a), O’Neill (2000), Nagel (2005) und Nussbaum (2007). 21
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entwickelt: Ausgehend von der auch für das Problem der globalen Gerechtigkeit wichtigen Frage, was der Anwendungsbereich von Gerechtigkeitsverpflichtungen sei, kristallisierte sich das Thema der Mitgliedschaft in der betreffenden Gemeinschaft als wesentlich heraus. Denn wenn Verpflichtungen der distributiven Gerechtigkeit nicht zwischen allen Individuen gleichermaßen bestehen, sondern die gemeinsame Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften relevant ist, dann erhält die Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in diesen Gemeinschaften eine besondere Bedeutung. Die Frage, auf welcher Ebene die für die Teilhabe an Mechanismen distributiver Gerechtigkeit relevante Mitgliedschaft anzusiedeln sei – ob beispielsweise auf regionaler, staatlicher oder globaler Ebene –, ist dabei zunächst als offene Frage zu betrachten: Staatsbürgerschaft wäre aber nicht die einzig denkbare Mitgliedschaft, sowohl was die Ebene angeht (staatlich) als auch mit Hinblick auf die Form der Mitgliedschaft auf dieser Ebene. Die Beiträge zur gegenwärtigen Debatte richten ihre Aufmerksamkeit jedoch vor allem auf diese. In der Diskussion um Mitgliedschaft und Migration wurde das Bild des globalen Urzustandszenarios und Vertragsschlusses bald wieder aufgenommen (Carens 1987). Zuvor hatte sich jedoch bereits Walzer dem Thema der Mitgliedschaft dezidiert zugewendet und diese zu einem Gut erhoben, welches ebenfalls unter Aspekten der Verteilung zu diskutieren sei: Von unserer Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft hängen alle weiteren Entscheidungen hinsichtlich anderer distributiver Gerechtigkeitsverpflichtungen ab (Walzer 1983, 31). Innerhalb der Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie lassen sich drei dominante Strömungen ausmachen: der Kommunitarismus, der egalitaristische Kosmopolitismus und schließlich der liberale Nationalismus (liberal nationalism). Der Kommunitarismus betont das Selbstbestimmungsrecht politischer Gemeinschaften, auch mit Hinblick auf Migrationsbewegungen. Der egalitaristische Kosmopolitismus hebt in vielen seiner Ausführungen das Recht des Individuums auf Freizügigkeit hervor. Der liberale Nationalismus schließlich geht von der Vereinbarkeit individueller Freiheit mit dem Selbstbestimmungsrecht von politischen Gemeinschaften auch hinsichtlich von Einwanderungsbewegungen bzw. deren Einschränkung aus. Im Folgenden werde ich diese drei Hauptströmungen anhand von einschlägigen Vertretern vorstellen. Als kommunitaristische Po36
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sition wird die bereits erwähnte von Walzer im Mittelpunkt stehen (Kap. 2.1). Als egalitaristisch-kosmopolitische Position wird exemplarisch jene von Carens diskutiert werden (Kap. 2.2). Der liberale Nationalismus wird anschließend anhand von Millers Ansatz erläutert werden (Kap. 2.3). Abschließend werde ich ein Zwischenfazit ziehen, welches die Ergebnisse des ersten Teils dieser Studie zusammenfasst (Kap. 2.4). Die Diskussion von Millers Ansatz wird größeren Raum einnehmen, da auf den ersten Blick der Eindruck entstehen könnte, dass sie der von mir später bei Kant herausgearbeiteten Position am nächsten kommt. Die ausführliche Diskussion Millers wird es aber erlauben, die bestehenden Unterschiede zwischen seiner und Kants Position – sowohl in der Rechtfertigungsstruktur als auch in den Einzelthesen – deutlich herauszustellen. Die gegenwärtige Debatte um Migration wird oft in Ansätze, die für offene Grenzen votieren, und in solche, die für geschlossene Grenzen argumentieren, unterteilt. 23 Dabei wird der Fokus auf Einwanderungsbewegungen gelegt: Geschlossene Grenzen sind keine nach innen geschlossenen Grenzen. ›Offen‹ heißt offen für Einwanderungsbewegungen; ›geschlossen‹ meint geschlossen für Einwanderungsbewegungen. Für Auswanderungsbewegungen wird offenbar kein vergleichbarer Diskussionsbedarf gesehen. Dies könnte unter anderen darin begründet sein, dass die Möglichkeit der Auswanderung mehrheitlich als nicht kontroverses »Freiheitsrecht und Bedingung für die Legitimität staatlicher Regierungsgewalt« (Bauböck 2008, 819) verstanden wird. Die Einschränkung dieses Rechts wird als ein Merkmal totalitärer Systeme gesehen (Dowty 1987). Eine Ausnahme bildet hier die Debatte um das Thema brain drain. Unter dieSo folgt der Schlagabtausch von Miller (2005) und Kukatash (2005) dieser Unterteilung. S. auch Bauböck (2008, 820–822), Cole/Wellman (2011) und Wellman (2015). Auch Goodin folgt in seinem Artikel dieser Logik (1992), ebenso Bader (2005), Seglow (2005); Ypi (2008), Pevnick (2011), Ladwig (2012), Risse (2012b), Cassee (2016) und Miller erneut in (2016, Kap. 3 u. 4). S. auch den Sammelband von Gibney (1998). Einen weiteren Strang der Debatte stellt das Thema der moralischen Relevanz von Grenzen dar (vgl. u. a. Miller 1988, mit ganz anderer Stoßrichtung auch Goodin 1988, Koller 2001, Chwaszcza 2006; zur Diskussion von Kollers Beitrag Ottmann 2001). Auch diese Unterdebatte entspringt den Diskussionen um globale Gerechtigkeit und arbeitet sich vielfach an Rawls’ Position ab, dass Grenzen, wenn auch ihr Bestehen sowie ihr Verlauf historisch kontingent seien, dennoch gerechtfertigt werden können: »It does not follow from the fact that boundaries are historically arbitrary that their role in the Law of Peoples cannot be justified« (Rawls 1999, 39).
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sem Begriff versteht man die Auswanderung von besonders gut ausgebildeten oder talentierten Personen, deren massenhafte Abwanderung einen beträchtlichen Verlust für das jeweilige Auswanderungsland bedeuten würde. Diesem drohenden Verlust gilt es, so die Argumentation, gegebenenfalls durch Einwanderungsbeschränkungen im potentiellen Einwanderungsland oder eben durch die Begrenzung der Auswanderungsmöglichkeiten für diese Personengruppen zu begegnen. 24 Gelegentlich wird auch diskutiert, ob Menschen sogar eine individuelle moralische Verpflichtung dazu haben, dort zu bleiben, wo sie gegebenenfalls mehr gebraucht werden, und von Auswanderungsplänen abzusehen (u. a. De Lora/Ferracioli 2015). Aufseiten der Argumente für die ›Schließung‹ von Grenzen stehen u. a. Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung der kulturellen Eigenart eines Landes (Walzer 1983; Kymlicka 1995, 125; Miller 2005a, 199 ff.), der politischen Selbstbestimmung eines Staates (Wellman 2008), der Notwendigkeit des Bestehens eines relativ klar umrissenen Staatsvolks für das Funktionieren von Demokratie (Whelan 1998), 25 wirtschaftlicher Nachteile und im Zusammenhang damit ebenso der Tragfähigkeit von staatlichen Wohlfahrtssystemen (u. a. Hoppe 1998). Auch Sicherheitsüberlegungen spielen in den philosophischen Diskussionen zum Thema Einwanderung wie auch in der öffentlichen Debatte häufig eine Rolle. Oft werden diese selbst von Autoren ins Feld geführt, die eigentlich für eine (relative) Öffnung von Grenzen eintreten. 26 Mit Blick auf die Auswanderungsgesellschaft werden auch brain-drain-Argumente herangezogen, um eine Einschränkung von Einwanderung zu rechtfertigen. Für die (relative) Öffnung von Grenzen argumentieren vor allem Autorinnen und Autoren, die dem kosmopolitischen Egalitarismus zugerechnet werden (Carens 1987, 1999 u. 2000; Bader 1995; Benhabib 2004). Diese Position betont die moralische Gleichheit aller Personen und fordert eine weitgehende politische Gleichbehandlung auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg, sofern nicht ›gewichtige Gründe‹ dagegen sprechen. Warum aus der Prämisse der mora24 Für eine Übersicht über die Argumente in der brain-drain-Debatte vgl. den Band von Brock/Blake (2015) und für die jüngeren Argumentationsstränge Cassee (2016, 187–194). Für eine kritische Auseinandersetzung mit brain-drain-Argumenten aus kosmopolitischer Perspektive s. u. a. Kapur/McHale (2006). 25 Für eine Kritik an dieser Position s. Cole (2000, 184–186). 26 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsargumenten gegen Einwanderung s. Kukatash (2005, 217–219).
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lischen Gleichheit auch eine politische Gleichbehandlung abzuleiten ist, wird dabei sehr unterschiedlich begründet. Auch die Frage, welche Gründe legitimerweise zur Begrenzung von Zuwanderung angeführt werden dürfen, wird unterschiedlich beantwortet. Sicherheitsüberlegungen können je nach Position, wie bereits oben erwähnt, durchaus derartige Einschränkungsgründe liefern. 27 Rechtfertigungstheoretisch können diese Ansätze in der liberalen Vertragstheorie (Carens 1987), im Utilitarismus (Goodin 1992; Singer 1993) oder auch in der Diskurstheorie (Benhabib 2004) verwurzelt sein. Die Position des kosmopolitischen Egalitarismus basiert oft auf der moralischen Intuition, mit der Krebs den neueren Egalitarismus insgesamt charakterisiert: »Niemand soll aufgrund von Dingen, für die er nichts kann, schlechter dastehen im Leben als andere« (Krebs 2000, 7). Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat wird dabei, da in der Regel zunächst durch Geburt und ohne weiteres eigenes Zutun erworben, als solch ein ›Ding, für das man nichts kann‹, verstanden. Dies, also die Staatsangehörigkeit, würde aber in einer Welt, in der die Ressourcen und Möglichkeiten zwischen den einzelnen Staaten so unterschiedlich verteilt sind wie in der unseren, damit einhergehen, dass einige Menschen in ihrem jeweiligen Leben ›schlechter dastehen‹ als andere, ›ohne dass sie etwas dafür können‹. 28 Die häufig gewählte Einteilung in Positionen, die für ›offene Grenzen‹, und Positionen, die für ›geschlossene Grenzen‹ argumentieren, ist also einerseits sinnvoll, denn die Debatte erscheint häufig wie ein Schlagabtausch zwischen diesen beiden Standpunkten. AndererCarens führt, wie im Folgenden noch genauer erläutert werden wird, etwa eine »public order restriction« ein (Carens 1987, 259). Auch Singer, der die Position vertritt, dass im Fall von Flüchtlingen die meisten Argumente für die Einschränkung von deren Aufnahme nicht gerechtfertigt seien, ist der Ansicht: »[T]here might come a point at which tolerance in a multicultural society was breaking down because of resentment among the resident community, whose members believed that their children were unable to get jobs because of competition from hard-working new arrivals; and this loss of tolerance might reach a point at which it was a serious danger to the peace and security of all previously accepted refugees and other immigrants from different cultures« (Singer 1993, 261 f.). Für eine kritische Auseinandersetzung mit Argumenten für die Einschränkung von Einwanderung aufgrund von Sicherheitsüberlegungen vgl. u. a. Kukatash (2005, 217 f.). 28 Carens’ Vergleich von der Staatsangehörigkeit in westlichen liberalen Demokratien mit »feudal birthright privileges« (Carens 1987, 252) zielt etwa darauf ab. Erneut auch in Carens (2013, 226). Ebenso Shachar (2007 u. 2009) und Hirschl/Shachar (2007) sowie Bhaba (2009). 27
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seits droht diese Dichotomie das Problembewusstsein bezüglich des Themenbereichs Migration auf die Frage nach dem zulässigen oder wünschenswerten Maß an Einwanderung zu verengen. Darüber hinaus entsteht leicht der Eindruck, dass es letztlich um eine Allesoder-nichts-Lösung gehen müsse. Dies wird der Komplexität der Ansätze wie auch des Phänomens jedoch nicht gerecht und unterschlägt zudem, dass, wie ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeigen werde, nicht immer ersichtlich ist, welches faktische Maß an Einwanderung die jeweiligen Ansätze erlauben würden: Ein Ansatz, der argumentativ zunächst von einem Recht auf Ausschluss ausgeht, kann sich als erstaunlich ›offen‹ für Einwanderung erweisen. Umgekehrt erlaubt ein Ansatz, der von einem Recht auf Freizügigkeit ausgeht, bei näherer Betrachtung gegebenenfalls ein Maß an Zuwanderung, welches hinter einem vermeintlich restriktiveren Ansatz sogar zurückbliebe. Ich möchte daher in den nun nachfolgenden Ausführungen einen anderen Weg gehen. Anstatt die Ansätze nach ihren Argumenten für und wider offene Grenzen zu unterteilen, werde ich sie nach ihrem rechtfertigungstheoretischen Hintergrund diskutieren: Nimmt die Argumentation ihren Ausgangspunkt bei dem Selbstbestimmungsrecht von politischen Gemeinwesen oder bei der individuellen Freiheit – oder handelt es sich um eine Zwischenposition?
2.1 Kommunitarismus (Walzer) Mit dem den Begriff des Kommunitarismus werden Theorien bezeichnet, die die Bedeutung der Gemeinschaft für die Ausbildung von Werten und die Entwicklung von Individuen betonen. Es werden dabei so unterschiedliche Theorien und Fragestellungen unter dieser Überschrift gefasst wie beispielsweise jene von Alasdaire MacIntyre (1981 u. 1988), Michael Sandel (1982), Michael Walzer (1983) und Charles Taylor (1989). 29 Der Kommunitarismus ist zunächst in Auseinandersetzung mit Rawls’ Theory entstanden. Die Kritik des Kommunitarismus am Liberalismus bezieht sich jedoch nicht allein auf Rawls. Die Abgren-
Zum Verhältnis von moralisch-politischem Liberalismus und Kommunitarismus s. Höffe (1996). Für eine Verhältnisbestimmung von Kommunitarismus und Kosmopolitismus hinsichtlich der Migrationsdebatte s. Nida-Rümelin (2017, 66–82).
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zung erfolgt auch zu anderen dem Liberalismus zugerechneten Autoren, wie beispielsweise Kant. 30 Die Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus bezieht sich dabei auf fünf Themengroßkomplexe: Die Konstitution des Selbst, die Fragen nach dem Vorrang von Rechtem oder Gutem, die Integration von politischen Gemeinwesen, die Frage nach Universalismus oder Kontextualismus, also nach der räumlich-zeitlichen Gebundenheit oder Ungebundenheit ethischer Normen, sowie die Frage nach Universalismus und Partikularismus. 31 In seiner metaethischen Spielart stellt der Partikularismus die Existenz von allgemeinmenschlichen Normen und Prinzipien infrage und steht damit dem moralischen Relativismus nahe. Er geht davon aus, dass moralische Urteile nur kontextsensitiv möglich sind, sich nicht aus allgemeingültigen Prinzipien ableiten und nur in Bezug auf Einzelfälle treffen lassen. 32 Mit dem metaethischen Partikularismus geht häufig die These einher, dass die so gewonnenen moralischen Urteile inkommensurabel sind, d. h., nicht mit demselben ›moralischen Maßstab‹ gemessen werden können. Der ›ethische Partikularismus‹ wiederum steigert diese metaethische Überzeugung zur Erlaubnis, gelegentlich sogar zur moralischen Forderung nach Parteilichkeit (partiality) gegenüber den Mitgliedern jener Gemeinschaft, die die betreffenden spezifischen Normen teilt. 33 Für die Debatte um Migration in der politischen Philosophie sind insbesondere zwei dieser Themenkomplexe von Bedeutung, wobei freilich alle fünf wechselseitig aufeinander verweisen: die vom Kommunitarismus betonte notwendige, auch ethische Integration von (politischen) Gemeinschaften und das Verhältnis von Universalismus S. beispielsweise Sandel (1982, 2–6 u. 1984). Für eine Übersicht über die verschiedenen Diskussionsstränge in der Kommunitarismusdebatte s. Forst (1993). 32 Zum metaethischen Partikularismus Horn (2008c). Von universalistischer Seite werden des Öfteren auch Universalismus und Unparteilichkeit enggeführt, s. beispielsweise Barry (1995). 33 Sei dies nun in der Verteidigung von Patriotismus (Macintyre 1984) oder von besonderen Verpflichtungen (special duties) gegenüber Mitbürgern (Miller 2005b), gegebenenfalls verbunden mit pragmatischen Überlegungen (Rorty 1996). Es ist dabei möglich, einen ethischen Partikularismus, verstanden als Forderung nach Parteilichkeit, beispielsweise gegenüber den Mitbürgern zu vertreten, ohne dass dieser in einem metaethischen Partikularismus gründet (Hurka 1997). Umgekehrt folgt aus einem metaethischen Partikularismus nicht notwendigerweise ein ethischer Partikularismus. 30 31
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und Partikularismus insbesondere mit Blick auf die Frage, inwiefern Parteilichkeit gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft erlaubt, gegebenenfalls sogar gefordert ist. Hinsichtlich des ersten Punktes wird von kommunitaristischen Positionen Zuwanderung als zumindest potentielle Bedrohung der für das Funktionieren eines politischen Gemeinwesens notwendigen ethisch-sittlichen Integration verstanden. Mit Bezug auf den zweiten Punkt stellt für Kommunitaristen die Ungleichbehandlung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern zunächst keine größere argumentative Schwierigkeit dar. Um diese kommunitaristischen Thesen zu veranschaulichen, werde ich sie nachfolgend anhand eines einschlägigen Autors näher diskutieren.
2.1.1 Mitgliedschaft als ›Sphäre der Gerechtigkeit‹ Die wichtigste kommunitaristische Position in der Migrationsdebatte hat Walzer 1983 in seinem Werk Spheres of Justice vorgelegt. 34 Ausgangspunkt von Walzers Überlegungen ist die Annahme, dass es nicht nur einen einzigen Gerechtigkeitsmaßstab gibt, sondern vielmehr verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien für verschiedene »Sphären« der Gerechtigkeit (Walzer 1983, 6). In Spheres of Justice untersucht Walzer mehrere solcher Verteilungssphären: Mitgliedschaft, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter, harte Arbeit, Freizeit, Bildung, Verwandtschaft und Liebe sowie göttliche Gnade. Die ›Sphäre‹ der Mitgliedschaft, verstanden als Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft, hat in Walzers Argumentation eine besondere Bedeutung. Für Walzer setzt die Idee von Verteilungsgerechtigkeit bereits Folgendes voraus: »a bounded world within which distribution takes place« (ebd., 31). Da die zu verteilenden
Eine frühere Version des einschlägigen Kapitels wurde bereits 1981 unter dem Titel »The Distribution of Membership« (Walzer 1981) veröffentlicht. Die weitere Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, die unterschiedliche Wellen mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten erlebt hat, klammere ich hier aus. Für einen guten Überblick über diese Debatte s. die Einleitung in dem von Honneth herausgegebenen Band Kommunitarismus. Eine Debatte über die Grundlagen moderner Gesellschaften (Honneth 1993) sowie den Beitrag von Forst zu ebendiesem Band (Forst 1993).
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Güter für Walzer immer soziale Güter sind (ebd., 7), 35 also ihren Bedeutungsgehalt erst durch soziale Interaktionen erhalten, kann jedes Gerechtigkeitsargument nur in einem Rahmen geführt werden, in welchem diese Bedeutungen von den interagieren Personen geteilt werden. Für Walzer ist dieser Rahmen die politische Gemeinschaft, denn: »[T]he political community is probably the closest we can come to a world of common meanings« (ebd., 28). 36 Gleichzeitig ist Mitgliedschaft aber auch selbst ein Gut, welches verteilt wird (ebd., 29). Die Frage nach der Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft ist für Walzer daher die grundlegendste Verteilungsfrage. Ihre Vergabe unterliegt dabei nicht immer den Anforderungen der Gerechtigkeit: »The distribution of membership is not pervasively subject to the constraints of justice. Across a considerable range of decisions that are made, states are simply free to take in strangers (or not)« (ebd., 61). Um zu seinem Begriff der politischen Gemeinschaft zu gelangen, diskutiert Walzer im Mitgliedschaftskapitel in Spheres of Justice drei Analogien: Nachbarschaften, Clubs und Familien. 37 Danach untersucht er die Bedeutung des (Staats-)Territoriums im Verhältnis zur Mitgliedschaft, anschließend Fragen der Naturalisierung, also der
Anhängerinnen und Anhänger des Capabilities Approach, wie er etwa von Nussbaum (1992, 200 u. 2011) und Sen (2002) formuliert wurde, aber auch Vertreter einer »transzendentalen Tauschgerechtigkeit« (Höffe 1987) sowie alle Verteidiger von grundrechtsbasierten Ansätzen, insbesondere jenes Strangs der »interest theory of rights«, beispielsweise Caney (2010, 164 f.) ausgehend von Raz (1986, Kap. 7), würden dieser Grundannahme Walzers freilich widersprechen. 36 Oft wird gegen Walzer der Einwand vorgebracht, dass nicht ersichtlich sei, warum gerade die politische Gemeinschaft der Ort sein sollte, den wir sinnvollerweise als eine »world of common meanings« bezeichnen können: Warum sollten wir nicht davon ausgehen, so dieser Einwand weiter, dass wir diese geteilte Bedeutungswelt eher innerhalb einer kulturellen oder historischen Gemeinschaft oder auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft finden? Walzer könnte hierauf jedoch m. E. antworten, dass diese Aspekte jeweils nicht allein ausreichen, um eine solche Welt der geteilten Bedeutungen zu schaffen. Erst in der politischen Gemeinschaft kommen nach Walzer all diese Aspekte zusammen: »Language, history, and culture come together (come more closely together here than anywhere else) to produce a collective consciousness« (Walzer 1983, 28). 37 Für eine ausführlichere Diskussion der Analogien vgl. u. a. Carens (1987, 266–268), Mona (2012, 154–160). Auch bei anderen kommunitaristischen Autoren findet sich der Vergleich von Familie und Staat: Sandel (1982, 33), MacIntyre (1984, 121), Taylor (1993, 111). Für eine Diskussion der Analogie zur Familie bei Walzer s. Cassee (2016, 118–121). 35
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Einbürgerung, und zuletzt auch das Verhältnis von Mitgliedschaft und Gerechtigkeit. Im Folgenden möchte ich vor allem Walzers Thesen hinsichtlich der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitiken von Staaten näher betrachten.
2.1.2 Acht Thesen Staaten haben nach Walzer erstens das Recht, über ihre Einwanderungspolitik frei zu bestimmen – dieses Recht darf nur durch die Entscheidungen ihrer Mitglieder oder durch die Forderungen des Prinzips der wechselseitigen Hilfe (mutual aid) eingeschränkt werden. Für dieses Recht argumentiert Walzer mit Verweis auf die Wahrung der kulturellen Eigenart einer politischen Gemeinschaft: »The distinctiveness of culture and groups depends upon closure and, without it, cannot be conceived as a stable feature of human life. If distinctiveness is a value, as most […] people believe, then closure must be permitted somewhere« (Walzer 1983, 39). 38 Staaten haben aber, so die zweite für den hier verfolgten Zusammenhang entscheidende These, kein Recht, Auswanderung zu kontrollieren: The restraint of entry serves to defend the liberty and welfare, the politics and culture of a group of people committed to one another and to their common life. But the restraint of exit replaces commitment with coercion. So far as the coerced members are concerned, there is no longer a community worth defending (ebd.). 39
Es besteht zweifelsohne ein argumentativer Sprung vom Stellenwert der Besonderheit von Kulturen und Gruppen (distinctiveness of cultures and groups) zur Notwendigkeit des Ab- bzw. Ausschlusses (closure), um diese Besonderheit zu erhalten. Kritisch zu diesem Punkt etwa Benhabib (2004, 119–122), Mona (2012, 160–164). Auch Carens hat darauf hingewiesen, dass sich kulturelle Eigenarten auch ohne die Möglichkeit der formalen Abgrenzung entwickeln und erhalten können (Carens 1987, 266 f.). Selbst wenn man davon ausgeht, dass die kulturelle Eigenart von irgendeiner Form der Schließung abhängt, besteht immer noch eine konzeptionelle Lücke zwischen der Notwendigkeit von closure und der Annahme, diese müsste auf der Ebene des Staates erfolgen (vgl. Bader 1995, 237); sowohl supranationale als auch subnationale Grenzziehungen wäre denkbar. 39 Mona sieht hier eine entscheidende Inkonsistenz in Walzers Konzeption: »Wäre die Erhaltung einer bestimmten Kultur in einem bestimmten Zustand absolut vorrangig, müsste man zudem auch die Auswanderung verbieten« (Mona 2012, 155). Walzer scheint jedoch nicht für einen absoluten Vorrang des Erhalts von kultureller Eigenart 38
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Drittens steht dem Recht auf Auswanderung kein universales Einwanderungsrecht gegenüber. Für Walzer sind Ein- und Auswanderung moralisch asymmetrisch (ebd.). Leider erläutert Walzer sein Verständnis des Begriffs der moralischen Asymmetrie nicht näher. Gemeint ist vermutlich, dass mit Einwanderungs- und Auswanderungsbewegungen je andere moralische Verpflichtungen verbunden sind. Dabei sei die Verpflichtung, jemanden nicht an der Auswanderung zu hindern, (moralisch) stärker zu gewichten als Fragen der Einwanderung. Viertens dürfen Staaten in der Auswahl von Einwanderern nach dem »kinship principle« verfahren. Das heißt einerseits, dass Familienangehörige von bereits eingewanderten Personen Vorrang bei der Aufnahme haben, andererseits aber auch, dass Staaten gegenüber Gruppen, zu denen eine besondere Verbindung besteht, eine besondere Verantwortung tragen: Mitglieder dieser Gruppe »have no legal membership rights, but if they are persecuted in the land where they live, they look to their homeland not only with hope but also with expectations. I am inclined to say that such expectations are legitimate« (ebd., 42). 40 Fünftens ist es Regierungen verboten, Menschen auszuweisen. Interessanterweise gilt dieses Ausweisungsverbot nicht nur für die Mitglieder der politischen Gemeinschaft, sondern für alle Menschen, die sich auf dem Territorium des jeweiligen Staates aufhalten. Walzer schreibt hierzu: [T]he men and women who determine what membership means, and who shape the admissions policies of the political community, are simply the men and women who are already there. New states and governments must make their peace with the old inhabitants of the land they rule […] always including aliens of one sort or another – whose expulsion would be unjust (ebd., 43; Hervorhebung K. R.). 41 zu argumentieren. Sein Ansatz bleibt in dieser Hinsicht einem begründungstheoretischen Individualismus treu: Sollte sich die politische Gemeinschaft in oppressiver Weise gegen das Individuum richten, indem es ihm die Auswanderung verbietet, dann stellt nach Walzer diese Gemeinschaft für das betroffene Individuum kein schützenswertes Gut mehr dar (Walzer 1983, 39). 40 Jedoch betont Walzer: »Though recognition of national affinity is a reason for permitting immigration, nonrecognition is not a reason for expulsion« (Walzer 1983, 42). 41 Auch hier sieht Mona eine Inkonsistenz in Walzers Konzeption. Nach ihm würde, selbst wenn man Walzer einige andere schwierige Punkte zugestehen würde, die folgende Frage offen bleiben: »Warum soll man nicht auch all diejenigen Mitbürger ausschließen, die dieses Selbstverständnis stören, weil sie sich gar nicht verhalten wie die Migration und Weltbürgerrecht
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Sechstens besteht eine Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen (ebd., 50). Jedoch hat nach Walzer ein Flüchtling kein Recht auf Aufnahme in einen bestimmten Staat. Staaten können allerdings auch hier wieder besondere Verpflichtungen gegenüber bestimmten Gruppen haben: Gegenüber Menschen, die durch das Handeln der politischen Gemeinschaft zu Flüchtlingen geworden sind, und Menschen, die verfolgt und unterdrückt werden, weil sie, wie Walzer sich ausdrückt, »wie wir sind« (ebd., 49), haben die entsprechenden Staaten eine besondere Aufnahmeverpflichtung. Walzer betont in diesem Zusammenhang das für ihn notwendige Gemeinschaftsgefühl sogar so stark, dass er zu dem Schluss gelangt: »[C]ommunities […] depend with regard to population on a sense of relatedness and mutuality. Refugees must appeal to that sense. One wishes them success; but in particular cases, with reference to a particular state, they may well have no right to be successful« (ebd., 50). Walzer kennt also keine bedingungslose Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen. Selbst mit Hinblick auf jene überwiegt für ihn die Frage, ob ein »sense of relatedness and mutuality« besteht oder nicht, um über die Aufnahme von Personen zu entscheiden. Die Schutzbedürftigkeit stellt für ihn kein alleiniges Kriterium dar. 42 anderen Mitglieder der Gemeinschaft« (Mona 2012, 159)? Auch in diesem Punkt müsste man wohl – bei aller sonstigen Problematik von Walzers Ansatz – letztendlich wieder auf seinen begründungstheoretischen Individualismus verweisen: Die politische Gemeinschaft stellt für ihre Mitglieder nur solange einen zu schützenden Wert dar, wie sie sich nicht gegen ihre eigenen Mitglieder richtet. Gleichwohl mag man gegen Walzer einwenden, dass er die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn wir es – wie wohl in den meisten Gemeinschaften – nicht mit einem monolithischen Selbstverständnis zu tun haben, unterschätzt. Ein Problem, das sich hieraus für Walzers Konzeption ergeben könnte, benennt etwa, wenn auch etwas generalisierend, Benhabib: »To want to excise the outsider [diesen Punkt kann man m. E. Walzer nicht unterstellen] or to close one’s doors to newcomers is always accompanied by the need to discipline the outsiders within and to prevent reform, innovation, dissent, and transformation within the walls of one’s own parish. The politics of immigration is closely linked to the politics of conformism and disciplining the opposition at home« (Benhabib 2004, 173). 42 Man könnte Walzer an dieser Stelle auch so verstehen, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl erst dann von Bedeutung ist, wenn die Flüchtlingszahlen so groß sind, dass unter den Personen eine Auswahl zu treffen ist: »[W]hen the number increases, and we are forced to choose among the victims, we will look, rightfully for some more direct connection with our own way of life. If […] there is no connection at all with particular victims, antipathy rather than affinity, there can’t be a requirement to choose them over other people equally in need« (Walzer 1983, 49 f.). Walzer scheint in diesem Punkt zu schwanken. Dies wird auch insbesondere in der Fußnote zu der
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Siebtens besteht für Walzer ein Recht auf Asyl. Asylsuchende sind für ihn Flüchtlinge, die sich bereits auf dem Territorium eines Staates befinden. Diese Unterscheidung von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf der Grundlage, wer sich auf dem Territorium eines Staates befindet und wer nicht, irritiert zunächst: Kann man nicht auch andernorts Asyl in einem bestimmten Land begehren? Tatsächlich deckt sich diese Differenzierung aber auch mit der Rechtsprechung verschiedener Länder. Fraglich ist jedoch, ob sie auch aus rechtsmoralischer Perspektive haltbar ist: Warum sollte gegenüber Personen, die sich bereits auf dem Territorium eines Staates befinden, eine stärkere moralische Verpflichtung bestehen als gegenüber jenen, die in ihrem Heimatstaat verfolgt werden bzw. denen dort Verfolgung droht, die diesen aber nicht verlassen können, weil ihnen die hierfür notwendigen Ressourcen fehlen? So vertritt Singer die Position, dass die Unterscheidung von Flüchtlingen, die sich noch nicht auf dem Territorium des jeweiligen Staates befinden, und Asylsuchenden, die sich bereits auf dem Territorium befinden, wie Walzer sie hier vornimmt, auf Sachverhalten beruht, die moralisch nicht relevant seien: auf räumlicher Nähe, der Unterscheidung von Handlungen und Unterlassungen, der Identifizierbarkeit der Betroffenen und der Zahlenverhältnisse (Singer 1993, 254 f.). Personen, die sich bereits auf dem Territorium des Staates befinden, sind schlicht näher an ›uns‹ dran. Die bloße räumliche Nähe ist aber, so Singer, für unsere moralischen Verpflichtungen irrelevant. Diese bestehen unabhängig davon, wie weit die von unseren Handlungen betroffenen Personen von uns entfernt sind. Die Überlegung – dass räumliche Nähe eben doch relevant ist – scheint allerdings bei Walzer durchaus eine Rolle zu spielen. 43 Weiterhin scheint für Walzitierten Passage deutlich. Bezugnehmend auf Ackerman schreibt Walzer dort: »People publicly committed to the destruction of ›liberal conversation‹ can rightfully be excluded – or perhaps Ackerman would say that they can be excluded only if their numbers or the strength of their commitment poses a real threat« (Walzer 1983, 50). Da er aber auch hier zu dem Schluss kommt, dass jede Gemeinschaft, ob nun liberal oder nicht, ein Recht hat »to protect their members’ shared sense of what they are about« (ebd.), scheint meine Interpretation, dass die Schutzbedürftigkeit für Walzer kein alleiniges Kriterium darstellt, zutreffend zu sein. 43 Außerdem müssten, so Singer weiter, jene Personen, die sich bereits auf dem Territorium des Staates befinden, ausgewiesen werden, was Handlungen erfordert, während die Nichtaufnahme von Flüchtlingen in Flüchtlingscamps in anderen Staaten eine Unterlassung darstellt. Unterlassungen aber, die anderen Personen Schaden zuMigration und Weltbürgerrecht
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zers Unterscheidung von Flüchtlingen und Asylsuchenden anhand ihres Aufenthaltsorts ein pragmatischer Grund zu sprechen: Es handelt sich schlicht um weniger Personen, die es tatsächlich bis zum jeweiligen Land schaffen, in dem sie dann Asyl beantragen können. Aber auch dieser Punkt wird von Singer aus moralischer Perspektive heraus für irrelevant erklärt (ebd.). 44 Auch wenn man also Walzers Differenzierung nun mit Singer oder auch aus anderen Gründen mit einem Fragezeichen versehen möchte, ist das, was für ihn aus dieser Unterscheidung folgt, sehr interessant: Für Asylsuchende gilt nach Walzer das Verbot der Ausweisung ebenso wie für alle anderen Einwohner des betreffenden Staates (Walzer 1983, 51). Für das Asylrecht von Flüchtlingen sprechen für Walzer zwei Gründe: Erstens müsse man sonst Gewalt gegen Hilflose und Verzweifelte anwenden und zweitens sei die Anzahl der Asylsuchenden gering und sie könnten somit leicht in die Gesellschaft aufgenommen werden. 45 Sollte ihre Zahl jedoch bestimmte Größen überschreiten, dann wären Staaten nicht mehr verpflichtet, alle aufzunehmen (ebd.). Auch beim Asylrecht gilt also für Walzer, dass letztendlich das Selbst-
fügen, werden, so die an dieser Stelle implizite Annahme von Singer, gemeinhin als moralisch weniger problematisch empfunden als Handlungen, die anderen schaden. Diese Unterscheidung aber, so Singers hier wieder implizite Prämisse, lässt sich jedoch nicht halten. Außerdem würde es für Menschen einen Unterschied machen, ob von einer Handlung eine klar identifizierbare Person bzw. eine klar umrissene Personengruppe betroffen ist – oder ob man zwar weiß, dass eine spezifische Handlungen auch mit negativen Folgen für Dritte verbunden ist, allerdings nicht, wer diese Personen sind. Auch ist Singers abermals implizite Annahme, dass dieser Unterschied zwar faktisch vielfach eine Rolle spielt, jedoch aus einer moralischen Perspektive keine Rolle spielen sollte (Singer 1993, 254 f.). 44 Auch gegen Singer könnte man einige Einwände formulieren: Etwa dass, auch wenn die räumliche Entfernung keinen moralisch relevanten Grund darstellt, doch Effektivitäts- und Effizienzüberlegungen, die für eine utilitaristische Position durchaus von Bedeutung sind, für die Einbeziehung dieses Faktors sprechen: Jenen Personen, die sich in der Nähe befinden, kann schneller geholfen werden als jenen, die sich in weiter Ferne befinden. Das kann sich als ressourcenschonender erweisen, weshalb letztlich gegebenenfalls insgesamt sogar mehr Menschen geholfen werden könnte. 45 Beide Annahmen sind gleichwohl problematisch: Sowohl die Annahme, dass außer in Ausnahmen die Anzahl der asylsuchenden Personen gering sei, als auch die Zuspitzung, dass es sich bei allen Asylsuchenden um »helpless and desperate people« handelt, geht an der Wirklichkeit vorbei.
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verständnis der Gemeinschaft entscheidend ist, nicht die Schutzbedürftigkeit der asylsuchenden Personen: to take in large numbers of refugees is often morally necessary; but the right to restrain the flow remains a feature of communal self-determination. The principle of mutual aid can only modify and not transform admissions policies rooted in a particular community’s understanding of itself (ebd.).
Walzers achte These lautet, dass jedem Menschen, der eingewandert ist, die Möglichkeit offenstehen muss, auch die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Dies sei eine Frage politischer Gerechtigkeit (ebd., 59). Begründet wird dies folgendermaßen: »Men and women are either subject to the state’s authority, or they are not; and if they are subject, they must be given a say, and ultimately an equal say, in what that authority does« (ebd., 61). Für Walzer gilt, dass, wenn Personen der Herrschaftsgewalt eines Staates unterworfen sind, dies nur darüber legitimiert werden kann, dass sie an der Ausgestaltung dieser Herrschaftsgewalt mitwirken können – andernfalls sei das Bestehen derselben nicht gerechtfertigt. 46 Gastarbeiter aufzunehmen, ohne ihnen die Möglichkeit zur Erlangung der Staatsbürgerschaft zu geben und damit die Möglichkeit zur politischen Mitbestimmung, unterläuft nach Walzer das Prinzip der politischen Selbstbestimmung der Gemeinschaft, welches überhaupt erst die Möglichkeit des Ausschlusses von Nichtmitgliedern begründet hat. 47 Vgl. zu diesem Punkt Benhabibs Kritik: »Walzer also argues that, once individuals have been admitted into a country, they cannot remain foreigners forever and must be naturalized. Yet the basis for this claim is unclear; there certainly is no such thing as a human right to membership in Walzer’s view; why existing polities should feel an obligation to naturalize foreigners is left unexplained« (Benhabib 2004, 119). Benhabibs Kritik, dass Walzer die Notwendigkeit der Einbürgerungsmöglichkeit für Gastarbeiter nicht begründen würde, scheint jedoch zu weit zu gehen. Es scheint sich vielmehr so zu verhalten, dass Walzer lediglich keine – wie Benhabib es wohl favorisieren würde – menschenrechtliche Begründung anführt; eine Begründung liefert er gleichwohl. 47 Hier sieht Carens eine Inkonsistenz in Walzers Argumentation: »If states have a right to self-determination, […] they must have a right to choose political forms and political practices different from those of liberal democracies. That presumably includes the right to establish categories of second-class citizens (or, at least, temporary guest workers)« (Carens 1987, 268). Allerdings gesteht er zu, dass Walzer an dieser Stelle nicht eindeutig herausarbeitet, dass dies für alle Staaten gilt. Man könnte Walzer hier auch so verstehen, dass diese Praxis dem Selbstverständnis liberaler Demokratien widerspricht und daher für diese – und gegebenenfalls nur für diese – kritikwürdig ist. 46
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2.1.3 Selbstbestimmung ohne geschlossene Grenzen? Zu den Stärken von Walzers Position zählt, dass er auf die Bedeutung der ethischen Integration politischer Gemeinwesen aufmerksam macht und mit seinem Ansatz zumindest auch die Frage aufwirft, ob politische Gemeinwesen auf geteilte Werte verweisen können müssen, um überhaupt ›lebensfähig‹ zu sein, d. h., ihre Strukturen auf Dauer reproduzieren zu können. Besonders hervorzuheben ist, dass Walzer das Recht auf Auswanderung betont, da dieses in der gegenwärtigen Debatte sonst eher eine nachgeordnete Rolle spielt (s. Kap. 16). Es gibt aber auch zahlreiche Einwände, die man gegen Walzers Position vorbringen kann. Beispielsweise kann man Walzers Annahme infrage stellen, dass die Besonderheit einer politischen Gemeinschaft von der Möglichkeit der Abgrenzung und des Ausschlusses abhängt. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass sich kulturelle Eigenarten sehr wohl auch ohne die Möglichkeit der formalen Abgrenzung entwickeln und erhalten können (Carens 1987, 266 f.; Mona 2012, 155), wenn auch – wie man wohl ergänzen sollte – unter Schwierigkeiten. Weiterhin ist Walzer an zahlreichen Stellen begrifflich unscharf. So liefert er keine Definition der politischen Gemeinschaft. Außerdem könnte man auch sein methodisches Vorgehen hinterfragen: Was sollen die Analogien zu Nachbarschaften, Clubs und Familien zeigen? Dass es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Formen der Vergemeinschaftung gibt, zeigt noch nicht, dass es diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch jeweils geben soll: Die Beschreibung dieser Formen von Gemeinschaft kann für sich genommen noch keine normative Begründung liefern. 48 Auf diesen Einwand könnte Walzer eventuell erwidern, dass man sie als Mittel der indirekten Begriffsklärung verstehen muss: Über die Beschreibung dessen, wie Mitgliedschaft in anderen Gemeinschaften funktioniert, wird ein besseres Verständnis hinsichtlich der Art und Funktion von Mitgliedschaft in Staaten hergestellt. Viel-
Goodin hat dieses Problem einmal wie folgt formuliert: »[I]s their argument [jenes der Kommunitaristen, K. R.] for the rootedness of moral agents a proposition about psychology or about ethics? If it is the former, saying merely that everyone has to start somewhere – grow up in some particular community, and so on – then the claim is undoubtedly true but of doubtful relevance to moral assessment« (Goodin 1992, 9).
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leicht setzt Walzer hier aber auch bereits voraus, was er eigentlich erst zeigen müsste, dass nämlich ›unser‹ Verständnis von ›unserer Gemeinschaft‹ entscheidend ist, da wir nur hermeneutische Selbstaufklärung über die eigenen Ansichten betreiben (können). 49 Es bliebe aber auch hier die methodische Frage bestehen, warum, um zu diesem Verständnis zu gelangen, gerade die drei gewählten Analogien geeignet sind und nicht etwa statt der Nachbarschaft die eigene Stadt, statt dem Club das private Unternehmen und statt der Familie der Haushalt – jeweils Beispiele, die einen ähnlichen Bereich abdecken, die aber anderen Aufnahme- und Ausschlussprozeduren folgen als die von Walzer gewählten. Weiterhin könnte man einwenden, dass wir in politischen Gemeinschaften, insbesondere in pluralistischen Gesellschaften, vielfach keine von allen gleichermaßen geteilten Überzeugungen vorfinden, wie sie Walzer annimmt. Die geteilten Überzeugungen bilden aber nach Walzer die Grundlage für ein gemeinsames Selbstverständnis jeder politischen Gemeinschaft und dieses Selbstverständnis begründet wiederum, wer zu dieser Gemeinschaft dazugehört und wer nicht. Wenn aber ein solches gemeinsames Selbstverständnis nicht besteht, kann es auch nicht als Grundlage für eine entsprechende Einwanderungspolitik dienen. Selbst wenn ein geteiltes Selbstverständnis vorhanden sein sollte, sollte dies nicht einer kritischen moralischen Reflexion enthoben sein. Diese Problematik bezeichnet Rainer Forst auf Joshua Cohen verweisend als »kommunitaristisches Dilemma«. Dieser Begriff meint den Umstand, »daß eine Theorie, die auf der Basis eines ›gemeinsamen Verständnisses‹ argumentiert, diese Überzeugungen entweder nicht kritisieren kann oder ihre Maßstäbe der Kritik diesen nicht eindeutig entnehmen kann« (Forst 1993, 203). Dieses Dilemma würde Walzer aber auflösen, indem er das »gemeinsame Verständnis« »in einer diskursiv-demokratischen Weise versteht: Gemeinsame Überzeugungen sind erst dann gemeinsam, wenn sie von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft aus freier Überzeugung geteilt werden« (ebd.). Gleichwohl besteht die Gefahr, dass jede Ausschlusspolitik, die in irgendeiner Form ethnisch oder kulturell basiert ist, Gruppen oder Allerdings müsste man dann wohl Waldron recht geben, der in einem anderen Zusammenhang angemerkt hat: »It seems odd to regard the fact that something is ›our‹ norm […] as part of the reason, if not the central reason, for having the norm, and for sustaining and following it« (Waldron 2000, 234).
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Einzelpersonen, die bereits Mitglieder der (pluralistischen) Gemeinschaft sind, diskriminiert bzw. ihnen das Signal sendet, dass sie ›eigentlich‹ nicht dazugehören. 50 Ich möchte an dieser Stelle insbesondere auf wichtige Punkte für die Frage nach der Legitimationsgrundlage von Einwanderungspolitiken aufmerksam machen. Walzer votiert in seiner Argumentation auf der einen Seite für Asylrecht und die Aufnahme von Flüchtlingen sowie für umfassende politische Inklusion in Form eines Rechts auf Staatsbürgerschaft. Auf der anderen Seite betont er das Recht eines Staates auf Ausschluss (right of closure), wobei er sogar so weit geht, rassistische Einwanderungspolitiken wie etwa die sogenannte WhiteAustralia-Politik, 51 für prinzipiell akzeptabel zu halten. 52 Dies ist in mindestens zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Für die politische Inklusion aller sich auf dem Territorium eines Staates befindlichen Personen in Form der Staatsbürgerschaft und der mit ihr verbundenen politischen Rechte spricht laut Walzer, dass diese Personen der Staatsgewalt unterworfen sind und daher auch ein Mitspracherecht bezüglich ihrer Ausgestaltung haben sollten. Den-
Vgl. hierzu auch Miller: »Given that virtually every state already contains significant numbers of people belonging to cultural minorities, liberal principles of equality demand that immigration policy should be culturally neutral« (Miller 2007, 228). 51 Die White-Australia-Politik bezeichnet mehrere Gesetze und Regularien zur Verhinderung »nicht-weißer« Einwanderung nach Australien ab 1901. Diese wurden ab 1949 nach und nach beseitigt bis zum endgültigen Ende dieser Politik 1973. 52 Unter der Bedingung, dass die politische Gemeinschaft einen Teil des von ihr nicht genutzten Territoriums abgibt, ist für Walzer auch eine rassistisch motivierte Einwanderungspolitik akzeptabel: »Assuming, then, that there actually is superfluous land, the claim of necessity would force a political community like that of White Australia to confront a radical choice. Its members could yield for the sake of homogeneity, or they could give up homogeneity […] for the sake of the land« (Walzer 1983, 47). Die Berechtigung zur Nötigung der Aufgabe von nichtgenutztem Land findet sich bereits in Morus’ Utopia, steht aber auch in einer Locke’schen Tradition, wobei Walzer auf diese Referenzpunkte nicht verweist: Morus diskutiert diesen Punkt im Rahmen der Beschreibung der Koloniebildung der Utopier (II, 73). Locke wiederum geht davon aus, dass ungenutztes Land als gemeinsamer Besitz der Menschheit zu betrachten sei, welches nach Gottes Wille aber kultiviert werden müsse (Second Treatise, V 34). Zur Frage des Verhältnisses von ungenutztem Land und Einwanderungsbeschränkung auch sehr interessant ist der von Walzer viel rezipierte Sidgwick: »[T]hough theoretically I cannot concede to a state possessing large tracts of unoccupied land an absolute right of excluding alien elements, I have not proposed any limitations of this right in the case of civilized countries generally« (Elements of Politics, Kap. 18, § 3). 50
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noch ist Walzer der Ansicht, dass keine Notwendigkeit besteht, einwanderungswillige Personen in die Ausgestaltung der Einwanderungspolitik miteinzubeziehen, obwohl diese mit Hinblick auf die Regularien der first admission ebenfalls als »subject to the state’s authority« betrachtet werden müssten. Festzuhalten ist, dass Walzer das Selbstverständnis von politischen Gemeinschaften zum Maßstab für Einwanderungspolitiken erhebt und nicht für vollständig ›geschlossene‹ Grenzen argumentiert: Die Selbstbestimmung von politischen Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Einwanderungsregularien wird durch das Prinzip der wechselseitigen Hilfe eingeschränkt: Es besteht für ihn eine Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen – auch wenn diese nicht bedingungslos gilt. Weiterhin besteht für ihn ein Recht auf Asyl. Schließlich argumentiert er für eine inklusive Einbürgerungspolitik.
2.2 Egalitaristischer Kosmopolitismus (Carens) Die Souveränität von Staaten in Bezug auf Einwanderungspolitiken wird von Vertreterinnen und Vertretern eines egalitaristischen Kosmopolitismus grundlegend infrage gestellt. Sie sind der Ansicht, dass aus der moralischen Gleichheit aller Menschen auch die Forderung nach einer Gleichbehandlung über Staatsgrenzen hinweg ableitbar ist. Mit Hinblick auf die Migrationsdebatte wird diese Forderung nach Gleichbehandlung auch auf die Regularien zur Einwanderung und Einbürgerung übertragen. Der Übergang von der moralischen Gleichheit zur politischen Gleichheit wie auch jener von der Gleichheitsannahme zur Begründung von Ansprüchen gegen andere bedarf aber der Begründung. Im Folgenden werde ich anhand von Carens’ Aufsatz »Aliens and Citizens: The Case for Open Borders« (1987) einen solchen Begründungsversuch genauer darstellen. 53
Im Anschluss an bzw. in Auseinandersetzung mit Carens wurden einige Versuche zur Begründung von ›offenen Grenzen‹ bzw. eines Rechts auf universale Freizügigkeit vorgelegt. So beispielsweise von Abizadeh (2008), Brezger (2014), Cassee (2016) und Oberman (2016).
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2.2.1. Ein Plädoyer für offene Grenzen Carens hat mit diesem Aufsatz den einschlägigen Text für eine egalitaristisch-kosmopolitische Position in der Migrationsdebatte vorgelegt. Er ist der Ansicht, »that borders should generally be open and that people should normally be free to leave their country of origin and settle in another, subject only to the sorts of constraints that bind current citizens in their new country« (Carens 1987, 251). Staatsbürgerschaft in westlichen liberalen Demokratien sei als »modern equivalent of feudal privilege – an inherited status that greatly enhances one’s life chances« zu betrachten (ebd., 252). Um diese These zu untermauern, versucht er zu zeigen, dass man sowohl ausgehend von Nozicks Libertarismus als auch von Rawls’ Vertragstheorie sowie dem Utilitarismus zu Argumenten für die Öffnung von Grenzen gelangt. Die Übereinstimmung dieser drei sehr verschiedenen theoretischen Ansätze in diesem Punkt nimmt er als Indiz dafür, dass es wenig Grundlage für die Rechtfertigung von Grenzschließungen gibt. Nachfolgend werde ich Carens’ Rekonstruktion der Argumente von Nozick, Rawls und dem Utilitarismus kurz darstellen und sie hinsichtlich ihrer Implikationen für Fragen, die mit Migrationsbewegungen in Zusammenhang stehen, näher untersuchen.
2.2.2 Drei Theorien Nozicks Argument für einen Minimalstaat in Anarchy, State, and Utopia (1974) basiert auf der Annahme, dass staatliche Gewalt allein über den Schutz der Rechte von Individuen im Territorium des Staates gerechtfertigt werden kann. Ein Staat hat die Aufgabe, die Gewährleistung jener Rechte sicherzustellen, die Individuen bereits im Naturzustand haben. Eingriffe des Staates sind nur dann legitim, sollten durch diese Interaktionen die Rechte Dritter verletzt werden. Carens geht in seinem Aufsatz der Frage nach, ob Nozicks Minimalstaat gerechtfertigtermaßen Einwanderung beschränken dürfe und gelangt zu der Schlussfolgerung: Der bloße Akt der Grenzüberschreitung stelle, so Carens ausgehend von Nozick, noch keine Verletzung der Rechte Dritter dar. Da aber Eingriffe des Staates eben nur gerechtfertigt seien, wenn eine solche Verletzung vorliegt, hätte, so Carens, Nozicks Staat kein Recht, Einwanderung zu 54
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begrenzen bzw. Personen an ihren Wanderungsbewegungen zu hindern (ebd., 253). 54 Auch aus Rawls’ Perspektive in Theory, die in Carens’ Aufsatz am ausführlichsten diskutiert wird, hält Carens Einwanderungsbeschränkungen für nicht gerechtfertigt. 55 Würde man die dort skizzierte Urzustandssituation global anwenden, dann würde, so Carens, das Recht ein- oder auszuwandern (right to migrate) in die Liste der Grundfreiheiten aufgenommen werden. 56 Diesen Überlegungen liegt die Annahme der Analogie zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Bewegungsfreiheit zugrunde: »[O]ne has only to ask whether the right to migrate freely within a given society is an important liberty. The same sorts of considerations make migration across state boundaries important« (ebd., 258). 57 Diese Grundfreiheit dürfe jedoch eingeschränkt werden, wenn durch zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit andere Grundfreiheiten unterminiert würden. Da die Wahrung aller Grundfreiheiten von der Wahrung der öffentlichen Ordnung abhänge, führt Carens auf Rawls verweisend, eine »public order restriction« ein: »Suppose that unrestricted immigration would lead to chaos and the breakdown of order. Für eine libertäre Position, die zu einem gegenteiligen Schluss kommt s. Hoppe 1998. 55 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Carens’ Aufsatz waren Rawls’ eigene Arbeiten zur Ausweitung seiner Vertragstheorie auf die zwischenstaatliche Ebene noch nicht erschienen. In The Law of Peoples, Rawls’ Werk zu den internationalen Beziehungen liberaler Staaten, geht Rawls nicht den Weg, den Carens in seinem Aufsatz beschreibt, sondern argumentiert sogar gegen eine Ausweitung des Urzustands in der von Carens beschriebenen Weise (Rawls 1999, 82 f.). Weiterhin besteht laut Rawls zwar ein Recht auf Auswanderung, nicht aber auf Einwanderung (ebd., 74). 56 Vgl. hierzu auch Benhabibs Interpretation von Carens: »From a moral point of view, the borders which circumscribe our birth and the papers to which we are entitled are arbitrary, since their distribution among individuals does not follow any clear criteria of moral achievement and moral compensation. Citizenship status and privileges, which are simply based on territorially defined birthright, are no less arbitrary than one’s skin color and other genetic endowments. Therefore, claims Carens, liberal democracies should practice policies which are as compatible as possible with the vision of a world without borders« (Benhabib 2004, 95). Zuvor schon in Benhabib (2001, 39). 57 Später im Text, bei seiner Auseinandersetzung mit Walzer, wird Carens noch einmal deutlicher: »No liberal state restricts internal mobility. Those states that do restrict internal mobility are criticized for denying basic human freedoms. If freedom of movement within the state is so important that it overrides the claims of local political communities, on what grounds can we restrict freedom of movement across states?« (Carens 1987, 267). 54
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Then all would be worse off in terms of their basic liberties« (ebd., 259). 58 In solchen Fällen sei eine Einschränkung der Grundfreiheiten und damit auch der zwischenstaatlichen Bewegungsfreiheit erlaubt, denn: »This would be a case of restricting liberty for the sake of liberty« (ebd.). Die Entscheidung für eine Einschränkung müsse dabei auf »reasonable expectations« basieren und dürfe nur in einem angemessenen Maß stattfinden. Weiterhin dürften die möglicherweise feindseligen Reaktionen der Bevölkerung eines Staates gegenüber einer Politik der offenen Grenzen nicht zum Anlass genommen werden, Einwanderung zu beschränken (ebd.). 59 Der Ausdruck der »reasonable expectation« stammt dabei von Rawls. Dieser bestimmt ihn in der Theory folgendermaßen: »This expectation must be based on evidence and ways of reasoning acceptable to all« (Rawls 1971,187). 60 Carens übernimmt diese Bestimmung. Schließlich könnten nach Carens auch aus utilitaristischer Perspektive Argumente für die Öffnung von Grenzen formuliert werden. 61 Wenn man sich auf die ökonomischen Auswirkungen von Einwanderung konzentriert, dann wäre nach Carens aus utilitaristischer Perspektive jene Einwanderungspolitik die beste, die den ökonomischen Gesamtnutzen maximiert (Carens 1987, 263). In solch einer Rechnung wären die Personen, die bereits Mitglieder der entsprechenden Gesellschaft sind, jenen gleichgestellt, die in diese Gesell-
Rawls selbst diskutiert in jenen Passagen der Theory, auf die Carens verweist, jedoch nicht Bewegungs-, sondern Gewissensfreiheit und Fragen der Toleranz (Rawls 1971, 187 u. 213). Diese beiden Freiheiten sind jedoch sehr verschieden, auch was die Auswirkungen auf andere Personen und deren äußere Freiheit anbelangt. Es bliebe zu zeigen, dass man Rawls’ Überlegungen hinsichtlich der Gewissensfreiheit ohne weitere Qualifikation auf die Bewegungsfreiheit übertragen könne. 59 Wie bereits ausführlicher erläutert, sieht ein weiterer egalitaristischer Kosmopolit, Singer, dies anders: Für ihn spricht ein »Toleranzverlust« der ansässigen Bevölkerung durch Einwanderung gegenüber weiterer Immigration, der ab einem gewissen Grad eine Bedrohung für Einwanderer darstellen könne, damit durchaus gegen die weitere Aufnahme von Einwanderern (Singer 1993, 261 f.). So auch schon Sidgwick in Elements of Politics (302–310). S. zu diesem Argument auch Dietrich (2017, 14a) 60 Den letzten Teil dieser Bestimmung führt Rawls dabei in der Theory noch etwas weiter aus: »It must be supported by ordinary observation and modes of thought (including the methods of rational scientific inquiry where these are not controversial) which are generally recognized as correct« (Rawls 1971, 187). 61 Für einen genuin utilitaristischen Ansatz in der Migrationsdebatte vgl. Singer (1993, 247–263). 58
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schaft einwandern möchten. Ausgehend von der empirischen Annahme, dass die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit zur Maximierung wirtschaftlicher Gewinne beiträgt, kommt Carens zu dem Schluss: »So, despite the fact that the economic costs to current citizens are morally relevant in the utilitarian framework, they would probably not be sufficient to justify restrictions« (ebd.). Carens gesteht zu, dass nicht alle utilitaristischen Ansätze sich allein auf ökonomischen Nutzen beziehen, behauptet aber, dass in jeder utilitaristischen Rechnung die Anliegen der einwanderungswilligen Personen eine Rolle spielen müssten. Wenn diese aber miteinbezogen würden, dann würden die Vorteile der Öffnung von Grenzen die Vorteile einer Einwanderungsbeschränkung überwiegen. Denn, global betrachtet, würden wesentlich mehr Personen von einer Öffnung der Grenzen profitieren als von restriktiven Einwanderungspolitiken: [W]hen so many millions of poor and oppressed people feel they have so much to gain from migration to the advanced industrial states, it seems hard to believe that a utilitarian calculus […] would justify significantly greater limits on immigration than the ones entailed by the public order restriction (Carens 1987, 264).
Auch wenn also die (ökonomischen) Kosten, die für Staatsbürger eines Staates durch die Öffnung der Grenzen entstünden, in eine utilitaristische Rechnung miteinbezogen werden müssten, würden sie angesichts der vielen Menschen, die nach Carens von einer Grenzöffnung profitieren würden, nicht ausreichen, um Zuwanderungsbeschränkungen zu legitimieren (ebd., 263). Es bleibt jedoch der Eindruck bestehen, dass ein solcher Kalkulus sehr viele Aspekte außer Acht lassen würde: Beispielsweise nimmt er die Verluste und Kosten der Auswanderung für den Einzelnen nicht mit auf, geht auch nicht auf die Kosten der Auswanderung einiger für die im Auswanderungsland verbleibenden Menschen ein – insbesondere wenn es sich um die Abwanderung gutausgebildeter Fachkräfte handelt. Viele weitere Punkte wären zu nennen, von denen die Frage nach der politischen Stabilität der Einwanderungs- wie auch der Auswanderungsländer nur die ersten einer längeren Liste wären. Die von Carens angedeutete Evidenz dieser Rechnung scheint nicht gegeben zu sein.
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2.2.3 Legitimatorischer Individualismus und universale Freizügigkeit Auch an Carens’ Argumentation muss man einige Rückfragen stellen. Methodisch muss gefragt werden, was die Übereinstimmung von drei Theorien hinsichtlich der Frage nach offenen Grenzen leistet. Carens kündigt in der Einleitung zu seinem Aufsatz sein Projekt wie folgt an: »The fact that all three theories converge upon the same basic result with regard to immigration despite their significant differences in other areas strengthens the case for open borders« (Carens 1987, 252). Es ist tatsächlich aber fraglich, wie signifikant die Unterschiede zwischen den drei ausgewählten Theorien tatsächlich sind. Für Carens sind alle drei untersuchten Ansätze in der liberalen Tradition verwurzelt und berufen sich seiner Ansicht nach auf zwei universalistische Prinzipien: auf den gleichen moralischen Wert aller Individuen und den Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft (ebd.). Nach Carens müssten die ausgewählten drei Ansätze, da sie diesen beiden Prinzipien verpflichtet sind, die Belange aller Individuen gleichermaßen in ihre Überlegungen miteinbeziehen – und deshalb für eine Öffnung der Grenzen votieren. Wenn aber alle drei Ansätze tatsächlich in der liberalen Tradition verwurzelt sind, ist es nicht verwunderlich, dass sie alle die Freiheit des Individuums betonen. Die größere argumentative Last bestünde darin zu zeigen, dass die universale Freizügigkeit zu jenem Teil der individuellen Freiheit gehört, der nicht staatlich eingeschränkt werden darf. In diesem Punkt bleiben Carens’ Argumente jedoch sehr zurückhaltend. 62 Es würde Carens’ Argument stärker machen, wenn er auch eine nichtliberale Position diskutieren würde, die ebenfalls zu der gleichen Schlussfolgerung gelangen würde. Oder er müsste zugestehen, dass sein Ansatz weniger zeigt als ursprünglich intendiert, nämlich, dass verschiedene Theorien der liberalen Tradition, wenn man sie auf bestimmte Weise interpretiert, zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen könnten. Vor allem gegen Ende des Aufsatzes hat es tatsächlich In »Migration and Morality. A Liberal Egalitarian Perspective« ist Carens etwas ausführlicher. Dort argumentiert er, dass die Bewegungsfreiheit mit zentralen Elementen jeder liberal-egalitären Position zusammenhängt: Freiheit, Chancengleichheit und Reduktion von Ungleichheiten (Carens 1992, 26). Die »burden of proof«, dass die Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden dürfe, sieht er daher bei der Gegenseite (ebd., 25).
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den Anschein, dass diese Beschreibung eher Carens’ Projekt entspricht. Es ist gleichwohl aber ein bescheideneres Projekt als das, was er in der Einleitung zu seinem Aufsatz angekündigt hatte. Man könnte auch Carens’ Annahme, dass die drei ausgewählten Ansätze diesen zwei Prinzipien verpflichtet sind, infrage stellen: Der Utilitarismus geht gerade nicht vom Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft aus, sondern betont das Kollektivwohl, dem das Individuum durchaus untergeordnet werden darf. 63 Es bedürfte zumindest einiger Ausführungen und gegebenenfalls auch einiger Qualifikationen, um auch dem Utilitarismus attestieren zu können, er würde dem Individuum jederzeit Vorrang gewähren. Außerdem könnte man anzweifeln, dass die von Carens ausgewählten Theorien in der Frage nach universaler Freizügigkeit so reibungslos konvergieren, wie Carens es in seinem Aufsatz erscheinen lässt: Zwar tendieren gegenwärtige utilitaristische Autoren dazu, in ebenjener von Carens skizzierten egalitaristisch-kosmopolitischen Weise zu argumentieren, 64 mit einigen Klassikern des Utilitarismus verhält es sich aber durchaus anders: John Stuart Mill hat sich für nationale Homogenität ausgesprochen (Considerations on Representative Government, Kap. XVI); Henry Sidgwick für das Recht von Staaten, frei zu entscheiden, wen sie zu welchen Bedingungen aufnehmen (The Elements of Politics, Kap. XVIII, § 3). Es bliebe zu zeigen, dass die Souveränität von Staaten mit Hinblick auf Einwanderungsfragen nicht mit utilitaristischen Argumenten vereinbar wäre. 65 Carens bleibt diesen argumentativen Schritt schuldig. Ähnliche Fragen könnte man in Bezug auf Carens’ Interpretation des libertären und des Rawlsschen Ansatzes aufwerfen. 66 Es stellen sich aber auch inhaltliche Fragen. Man kann etwa infrage stellen, warum aus der Analogie zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Freizügigkeit eine universale Freizügigkeit, ein Für Bentham sind Menschenrechte beispielsweise Nonsense Upon Stilts. S. auch Schefflers Kritik am Utilitarismus (1982). 64 Vgl. hierzu die von Singer vertretende Position (1993, 247–263). 65 Für eine kritische Diskussion utilitaristisch motivierter Argumente für die generelle Öffnung von Grenzen s. Wellman (2011a, 105–116) 66 Man muss Carens freilich zugestehen, dass er auch keine reine Interpretation der drei gewählten Ansätze vorlegen möchte: »My strategy is to take advantage of three well-articulated theoretical approaches that many people find persuasive to construct a variety of arguments for (relatively) open borders« (Carens 1987, 252). Die ausgewählten Theorien stellen in einem gewissen Sinne für ihn nur ›Steinbrüche‹ für überzeugende Argumente dar. 63
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right to migrate folgen soll: Auch innerstaatlich genießen Menschen selbst in liberalen Demokratien keine unbegrenzte Freizügigkeit, sondern müssen sich beispielsweise im Rahmen der durch Privateigentum vorgegebenen Grenzen bewegen. 67 Der Analogieschluss scheint also auf unzutreffenden Annahmen über die innerstaatlichen Gegebenheiten zu basieren. Weiterhin könnte man die Rückfrage stellen, ob Carens den allen drei Theorien attestierten legitimatorischen Individualismus in der Ausführung seines eigenen Argumentes durchhält. Oder in anderen Worten: Könnte tatsächlich keiner der Betroffenen eine Politik, die auf Carens’ Überlegungen aufbaut, begründeterweise ablehnen? Ein wenig Skepsis scheint angebracht: Carens lässt z. B. außer Acht, dass zu den Zielen der größten Migrationsströme unserer Zeit nicht allein die entwickelten Industrienationen gehören, sondern auch ein paar der ärmsten Länder der Welt. Eine generelle Aufforderung zur Öffnung von Grenzen würde jene Länder ökonomisch vergleichsweise härter treffen als die wohlhabenden Industrienationen. Diese Konsequenz scheint nicht in Carens’ Sinn zu sein, wäre aber dennoch ein möglicher Nebeneffekt seiner Überlegungen. Ebenso müsste die Abwanderung von gut ausgebildeten Fachkräften (brain drain) und die damit verbundenen Kosten und Verluste für die im Heimatland verbliebenen in die Überlegungen miteinbezogen werden: Von einer Politik der offenen Grenzen wären nicht allein die Menschen, die einwandern, und die bereits ansässigen betroffen, sondern auch jene, die selbst nicht auswandern können oder wollen und in den Auswanderungsländern zurückbleiben. 68 Vgl. hierzu auch Wellman: »My right to freedom of movement does not entitle me to enter your house without your permission, […], so why must we assume that I may enter Norway without first obtaining Norway’s permission?« (Wellman 2011, 88). Miller ist daher auch der Ansicht, dass liberale Demokratien ihren Mitgliedern nicht unbeschränkte Freizügigkeit bieten müssen, sondern lediglich ein ausreichendes Maß an Freizügigkeit: »[L]iberal societies in general offer their members sufficient freedom of movement to protect the interests the human right to free movement is intended to protect, even though the extent of free movement is very far from absolute« (Miller 2007, 206). Wenn Miller Recht hat, dann folgt aus der Analogie von innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Freizügigkeit keine universale Freizügigkeit, da auch die innerstaatliche Freizügigkeit nur in bestimmten Grenzen stattfinden darf. 68 S. hierzu auch Nida-Rümelin (2017): »Es darf nicht sein, dass die Länder des globalen Südens Bildungsanstrengungen unternehmen, im besten Fall den größten Teil des Steueraufkommens für Bildung, Innovation und Qualifikation einsetzen, um 67
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Egalitaristischer Kosmopolitismus (Carens)
Letztlich scheint sogar fraglich, wie viel von Carens geforderter Politik der offenen Grenzen unter den Bedingungen unserer nichtidealen Welt ›übrig‹ bliebe: Die bereits erwähnte public order restriction würde Anwendung finden. Carens ist sich zwar sicher, dass auch dann Einwanderungspolitiken immer noch weniger restriktiv wären als die, die gegenwärtig in Kraft seien (Carens 1987, 260). Die empirische Grundlage hierfür ist jedoch leider unklar. 69 Eine Merkwürdigkeit von Carens’ Anwendung seines Ansatzes auf die ›nichtideale‹ Welt besteht etwa darin, dass für ihn die Verpflichtung zur Aufnahme von Menschen geringer ausfällt, je gerechter die bestehenden Institutionen innerhalb des entsprechenden Staates sind: »[T]he conditions of the real world greatly strengthen the case for state sovereignty, especially in those states that have relatively just domestic institutions« (ebd.). Nun stellt dies vielleicht einen Anreiz für Staaten dar, möglichst gerechte Institutionen im Inneren aufzubauen, was man gegebenenfalls begrüßen möchte. Die Motivation für dieses Verhalten, die Möglichkeit des Ausschlusses von einwanderungswilligen Personen, erscheint aber fragwürdig. Gleichzeitig unterläuft Carens’ Zugeständnis an die ›öffentliche Sicherheit‹ den legitimatorischen Individualismus: Warum sollten gerade Staaten, die gerechter sind, nicht im selben Maß zur Öffnung ihrer Grenzen verpflichtet sein, wie Staaten, die nicht so gerecht sind? Für das betroffene Individuum ist es unter Umständen wünschenswerter, in einem gerechten Staat zu leben als in einem ungerechten. Gerade dieser kann es nun aber mit Verweis auf seine weitgehend gerechten Institutionen leichter ausschließen. Wir müssen also festhalten: Obwohl Carens generell für ›offene‹ Grenzen plädiert, ist ungewiss, wie viel Einwanderung nach seinem Ansatz unter ›nichtidealen‹ Bedingungen tatsächlich erlaubt wäre. Außerdem scheinen nicht alle Aspekte seines Ansatzes den Anforderungen eines legitimatorischen Individualismus zu genügen, welcher eigentlich ein wesentliches Element seiner Theorie darstellt. dann zu erleben, dass ihre erfolgreichsten Absolventen das Land so schnell wie möglich in Richtung USA, Europa oder die Golfstaaten verlassen« (2017, 140 f.). 69 Zu weitergehenden Überlegungen hinsichtlich idealer und nichtidealer Theoriebildung mit Blick auf Fragen der Gerechtigkeit von Zu- und Einwanderungspolitiken s. Carens (1999). In diesem Zusammenhang äußert Carens die Einschätzung, dass es vermutlich noch weitere legitime Gründe gäbe, Zuwanderung einzuschränken, als die von ihm in seinem »Aliens and Citizens«-Aufsatz angenommenen (ebd., 1088). Das hieße gegebenenfalls ein Noch-Weniger an Zuwanderung. Migration und Weltbürgerrecht
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2.3 Liberaler Nationalismus (Miller) Auch in Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Walzer und Carens hat sich der sogenannte liberal nationalism 70 entwickelt, der versucht zu zeigen, dass das Recht von Staaten, über ihre Einwanderungspolitiken souverän zu entscheiden, mit der individuellen Freiheit, der sich der Liberalismus verpflichtet sieht, durchaus vereinbar ist. 71 Dieser Ansatz hat es sich zum Ziel gesetzt, einen moderaten Nationalismus zu vertreten, ohne chauvinistische, rassistische oder expansive Aspekte. 72 Die Nation wird dabei meist als eine »imaginary community« verstanden, als eine kulturelle Gemeinschaft, die durch gemeinsame kulturelle Praktiken und durch Selbstzuordnung der Individuen zu dieser Gemeinschaft entsteht (Tamir 1993, 8) – im Gegensatz etwa zu einer Abstammungsgemeinschaft. 73 Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet im ›liberalen‹ Nationalismus das Individuum, welches Vorrang vor der Gemeinschaft hat. Ein zentraler Vertreter dieses Theoriestrangs ist David Miller, der in zahlreichen Aufsätzen und Monographien seine Position entwickelt hat und an dem ich im Folgenden den liberal nationalism in Hinblick auf die gegenwärtige Debatte um Migration in der politischen Philosophie exemplarisch vorstellen möchte.
Für drei maßgebliche Positionen, die diese moderate Form des Nationalismus vertreten, s. Tamirs Liberal Nationalism (1993), Millers On Nationality (1995) und Gans’ The Limits of Nationalism (2003). Auch Hurka verteidigt einen moderaten Nationalismus, allerdings nicht einen partikularistischen, sondern, wie er es nennt, einen universalistischen Nationalismus (Hurka 1997). 71 Vgl. hierfür etwa Tamir: »[T]he liberal tradition, with its respect for personal autonomy, reflection, and choice, and the national tradition, with its emphasis on belonging, loyalty, and solidarity, although generally seen as mutually exclusive, can indeed accommodate one another« (Tamir 1993, 6). Vgl. auch Miller (2008, 389 f.). 72 »Liberal nationalism is predicated on the idea that all nations should enjoy equal rights, and in fact derives its universal structure from the theory of individual rights found at its core. If national rights rest on the value that individuals attach to their membership in a nation, then all nations are entitled to equal respect« (Tamir 1993, 9). Zur Möglichkeit eines moderaten ›aufgeklärten‹ Nationalismus s. auch Höffe (1999, Kap. 6, insbesondere 6.3). 73 Der Ausdruck »imaginary community« erinnert natürlich an Andersons »imagined communities« (Anderson 1983). Auch Koller betont die Bedeutung einer nationalen Kultur »für das Gelingen des sozialen Zusammenlebens und damit auch für das Wohlergehen der Menschen« (Koller 1996, 229). 70
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2.3.1 Nationen und Einwanderung Im Kapitel »Immigration and Territorial Rights« 74 seiner Monographie National Responsibility and Global Justice (2007) erläutert Miller, dass das right to migrate innerhalb der liberalen politischen Philosophie als ein grundlegendes Menschenrecht (basic human right) verstanden werde (204). 75 Anhand von drei Argumenten, die innerhalb der Debatte für dieses Recht vorgebracht werden, möchte er anschließend verdeutlichen, dass es kein solches Menschenrecht darstellt. Er untersucht hierfür ein Argument, welches auf dem Recht auf Bewegungsfreiheit (freedom of movement) beruht, eines, welches sich auf das Recht auszuwandern bezieht und schließlich eines, welches seinen Ausgangspunkt in dem right to free association nimmt. Für Miller steht nach dieser Untersuchung fest, dass es sich bei der Möglichkeit, in ein Land einzuwandern, nicht um ein Recht, sondern lediglich um einen Anspruch (claim) handelt. Miller versteht unter einem Anspruch dabei Folgendes: »A claim is something less than a right, but those who refuse it must give the claimant a reason for doing so« (ebd., 213). Einem Anspruch steht also nicht wie einem Recht eine Verpflichtung, diesem Recht entsprechend zu handeln, gegenüber, sehr wohl aber eine Verpflichtung, im Fall der Nichtentsprechung eine Rechtfertigung zu liefern. Anschließend geht Miller dazu über zu begründen, dass Nationen »territoriale Rechte« (territorial rights) haben, d. h. das Recht, über ein bestimmtes Territorium Herrschaftsgewalt auszuüben, welches wiederum verschiedene weitere Rechte begründet u. a. das Recht, weitgehend souverän über Fragen der Zuwanderung und Einwanderung zu entscheiden. Es wird sich zeigen, dass während viele seiner Einwände gegen gegenwärtig in den Debatten der politischen Philosophie und der Angewandten Ethik angeführte Argumente für die Öffnung von Grenzen überzeugen, seine (positive) Begründung
Die erste Übersetzung dieses Kapitels ins Deutsche ist jüngst im von Dietrich herausgegebenen Band Ethik der Migration erschienen (2017b, 77–97). 75 Miller verweist dabei auf Carens und Hampton. Millers Einschätzung unterschlägt freilich, dass viele Vertreter der liberalen politischen Philosophie nicht dieser Ansicht sind: Für Rawls gibt es beispielsweise kein ›Menschenrecht auf Migration‹ (1999, 65), ebenso wenig für Höffe (1999, 356–359) und viele andere gegenwärtige liberale Philosophen. 74
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der staatlichen Souveränität in Zu- und Einwanderungsfragen hingegen deutliche Schwächen aufweist. 76
2.3.2 Drei Argumente für offene Grenzen Als erstes untersucht Miller das Argument, dass das Recht auf Bewegungsfreiheit auch die zwischenstaatliche bzw. internationale Freizügigkeit miteinschließt. Während Miller dieses Recht nicht prinzipiell infrage stellt, ist er doch der Ansicht, dass man den räumlichen Umfang dieses Rechtes sehr genau betrachten muss. Oder in anderen Worten: Wie viel Platz auf der Erde muss tatsächlich zur Verfügung stehen? (Miller 2007, 205) In Hinblick auf die innerstaatliche Bewegungsfreiheit weist Miller zu Recht darauf hin, dass auch diese, beispielsweise durch Privateigentum, eingeschränkt ist: I cannot move on to private property without consent of its owner, except perhaps in emergencies or where a special right of access exists – and since most land is privately owned, this means that a large proportion of physical space does not fall within the ambit of a right to free movement (ebd.).
Selbst der Zugang zu öffentlichen Räumen sei in bestimmten Grenzen, z. B. durch Öffnungszeiten, reguliert. Die Analogie von innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Freizügigkeit würde daher auch zwischenstaatlich nur eine Bewegungsfreiheit in ›bestimmten Grenzen‹ erlauben. Allerdings scheint Miller bei seiner Analogie zum öffentlichen Raum zu übersehen, dass die Einschränkungen immer einer weiteren Begründung bedürfen, die immer an das Individuum zurückgebunden wird. Generelle Ausgangssperren werden in liberalen Demokratien nur höchst selten und wenn, dann zum Schutz der Sicherheit des Einzelnen verhängt. Man geht zumindest in liberalen Demokratien, so könnte man argumentieren, zunächst von der Freiheit des Einzelnen aus. Deren Einschränkung muss vom Gemeinwesen gegenüber dem Einzelnen gerechtfertigt werden und diese Rechtfertigung erscheint nur akzeptabel, wenn ihr die Zustimmung wohlüberlegterweise nicht versagt werden kann. Willkürliche Straßensperrungen, willkürliche Ausgangssperren, willkürliche EinMiller hat sein Position verschiedentlich reformuliert, s. seine jüngeren Beiträge zur Debatte (Miller 2016a, 2016b u. 2017). Von der grundsätzlichen Stoßrichtung seines Argumentes ist er dabei nicht abgerückt.
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schränkungen der Öffnungszeiten von Ämtern und anderen öffentlichen Räumen sind dagegen nicht akzeptabel – und dies nicht, weil der Staat dem Individuum dann keine ›ausreichende‹ Anzahl von Möglichkeiten mehr einräumen würde, sondern weil sie nicht zustimmungsfähig und damit zu rechtfertigen sind. Dieser Gedanke wird in Kapitel 2.3.5 wieder aufgegriffen werden. Miller fährt fort, dass immer lediglich gefragt werden könne, wie viel Raum dieser Bewegungsfreiheit gegeben werden muss. Er vertritt die Ansicht, dass auch innerstaatlich immer nur ›ausreichend‹ Raum eingeräumt werden muss. Absolute Freizügigkeit muss so Miller auch innerstaatlich nicht eingeräumt werden, um einem Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit zu entsprechen. 77 Für Miller heißt dies, dass Individuen auch mit Hinblick auf Migrationsentscheidungen kein Recht auf eine unbegrenzte Anzahl an Zielorten haben: »What a person can legitimately claim as a human right is access to an adequate range of options to choose between« (ebd., 207). »Adequacy« solle hier, so führt Miller weiter aus, im Sinne der Erfüllung generischer menschlicher Bedürfnisse (generic human needs) verstanden werden (ebd.). Er vertritt dabei eine kontextsensitive Konzeption von Grundbedürfnissen: Für Miller sind sie »the conditions that must be met for a person to have a decent life given the environmental conditions he faces« (ebd., 184). Eine Person müsse innerhalb der Gesellschaft, »to which she belongs«, ein »minimal decent life« leben können (ebd., 181). Universale Freizügigkeit stellt für Miller kein solches Grundbedürfnis dar. Er gelangt daher zu der Schlussfolgerung: »[A]lthough people certainly have an interest in being able to migrate internationally, they do not have a basic need of the kind that would be required to ground a human right« (ebd., 207). Miller gesteht zwar zu, dass es oftmals der Fall ist, dass ein Individuum nur dann seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, wenn es in ein anderes Land zieht. Man könnte nach Miller nun sogar der Meinung sein, dass in diesen Fällen das entsprechende Individuum sogar ein Recht hat, in ein anderes Land zu gehen. Jedoch würde es »The point here is that liberal societies in general offer their members sufficient freedom of movement to protect the interests that the human right to freedom of movement is intended to protect, even though the extent of free movement is very far from absolute« (Miller 2007, 206). Für eine kritische Diskussion dieser Beschreibung der innerstaatlichen und der zwischenstaatlichen Bewegungsfreiheit s. Cole (2011, 297).
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sich bei diesem Recht immer nur um das Recht handeln, in einen anderen Staat zu wandern, der diese Möglichkeiten bietet, nicht in einen spezifischen, und es würde sich in diesen Fällen nach Miller um ein Abhilferecht (remedial right) und nicht um ein Menschenrecht handeln. Das heißt also um ein Recht, welches bereits bestehende Ungerechtigkeiten ausgleicht bzw. korrigiert, ohne jedoch die Handlung selbst, durch die diese Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden, zum Recht zu machen. Nach der Diskussion von Migration als einem Teil des Rechts auf Bewegungsfreiheit wendet Miller sich einer Untersuchung des Arguments zu, dass ein Recht auf Auswanderung nutzlos sei, wenn ihm nicht ein korrespondierendes Recht auf Einwanderung gegenüberstünde. 78 Das Argument lautet, dass eine Person nur aus einem Land auswandern könne, wenn sie auch in einem anderen Land aufgenommen werde. Sie könne also nur dann ihr von liberalen Philosophinnen und Philosophen gemeinhin anerkanntes Recht auf Auswanderung nutzen, sofern es ein korrespondierendes Recht auf Einwanderung gäbe. Auch gegen dieses Argument wendet Miller legitimerweise ein, dass das Recht auf Auswanderung nicht den Zugang zu einer unbegrenzten Auswahl an Einwanderungsmöglichkeiten erfordert (ebd., 208 f.). Daher ließe sich auch hieraus keine Verpflichtung eines spezifischen Staates ableiten, spezifische Personen aufzunehmen. Miller gesteht zwar zu, dass das Recht auf Auswanderung nutzlos wäre, wenn es keinen Staat gäbe, der bereit wäre, Personen, die auswandern wollen, aufzunehmen, ist aber optimistisch, dass es unwahrscheinlich ist, dass dieser Fall eintreten werde (ebd., 209). Worauf dieser Optimismus basiert, erläutert Miller an dieser Stelle nicht. Schließlich diskutiert Miller noch das Argument, dass das Recht auf Migration auf dem »right of free association« beruhe. 79 Einer PerTan macht diesen Punkt beispielsweise in seiner Auseinandersetzung mit Rawls’ Werk The Law of Peoples (1998, 293) stark; ebenso Cole (2000, 46). Ich werde im dritten Teil dieser Studie noch einmal auf dieses Argument zurückkommen (Kap. 16.3). 79 Miller weist zu Recht darauf hin, dass die Figur der freedom of association interessanterweise sowohl für als auch gegen offene Grenzen angeführt wird (2007, 211). Auch wenn freedom of association eine nicht unerhebliche Rolle in der gegenwärtigen Migrationsdebatte innerhalb der Politischen Philosophie und der Angewandten Ethik spielt (s. etwa White 1997; Wellman 2008; Fine 2010), wirft der Begriff jedoch einige Fragen auf, insbesondere auch hinsichtlich seiner Übertragbarkeit ins Deutsche bzw. in den Rahmen einer anderen Rechtstradition: Die deutsche Übersetzung ›Vereinigungsfreiheit‹ trifft den mit dem Ausdruck freedom of association gefassten Sach78
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son müsse es, nach diesem Argument, offenstehen, sich die Personen, mit denen sie zusammenleben möchte, auszusuchen. Auszuwandern – und in ein anderes Land einzuwandern – müsse nach diesem Argument als Teil der freedom of association verstanden werden. Auch hier lautet Millers Haupteinwand, dass es keinen Grund gibt, die freedom of association so weit zu interpretieren, dass sie auch ein Recht auf Migration mitumfasst (ebd., 212 f.). Ergänzend zu diesem Punkt führt er ein Kapazitätsargument an: It is relevant here that granting an unlimited right to migration, on the basis of an equally unlimited right of free association, might have very high costs, if large numbers of people chose at the same time to move to a small and already crowded society, putting huge strain on its institutions and infrastructure, and thereby putting other basic needs at risk (ebd., 213). 80
Durch die Widerlegung der drei ausgewählten Argumente, die für ein Recht auf Migration und damit für die Öffnung von Grenzen votieren, versucht Miller zu zeigen, dass es kein Menschenrecht auf Einwanderung gebe (ebd.). Miller lehnt eine menschenrechtsbasierte Begründung eines Rechts auf Einwanderung also ab. Er ist jedoch der Ansicht, dass Personen, wenn auch kein Recht, so doch einen Anspruch (claim) auf Einwanderung haben können. Die Ablehnung eines Anspruchs aber würde immer eine Begründung erfordern. 81
verhalt nicht ganz. Der Begriff der Vereinigungsfreiheit bezieht sich nach Art. 9 GG lediglich auf Vereinigungen und Gesellschaften. Selbst die religiöse Vereinigungsfreiheit wird bereits als Teil der Religionsfreiheit und nicht mehr der Vereinigungsfreiheit im strengen Sinne gefasst. In den USA ist die freedom of association nicht Teil der Verfassung, sondern wurde durch zahlreiche Gerichtsbeschlüsse näher bestimmt. Sie umfasst nach dem gängigen Verständnis beispielsweise auch intimate associations wie etwa Ehe und Familie, wird also deutlich weiter verstanden. Dieses weite Verständnis wird auch in der Lektüre von Texten, die sich mit freedom of association beschäftigen, deutlich (beispielsweise durch die zahlreichen Beispiele, die die Wahl eines Ehepartners betreffen). Ich habe mich daher, um diesem Unterschied Rechnung zu tragen, entschieden, den englischen Ausdruck freedom of association im Text beizubehalten und ihn nicht mit ›Vereinigungsfreiheit‹ zu übersetzen. 80 Vgl. auch Höffe (1999, 356). 81 Man könnte meinen, hier Forsts »Recht auf Rechtfertigung« (2007) wiederzuerkennen. Ein wichtiger Unterschied zu diesem besteht jedoch darin, dass das Recht auf Rechtfertigung jedem Betroffenen zukommt, während für Miller bereits ein Anspruch (claim) bestehen muss, bevor eine Rechtfertigung notwendig wird. Migration und Weltbürgerrecht
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2.3.3 Zuwanderung und Territorialrechte Die Basis für eine solche Begründung sieht Miller in den »Territorialrechten« (territorial rights) eines Staates. 82 Mit der Einführung der Territorialrechte geht Miller, nachdem er drei in der gegenwärtigen Debatte gängige Argumente zurückgewiesen hat, nun zur positiven Begründung der Souveränität von Staaten in Einwanderungsfragen über. Um diese Territorialrechte zu begründen, unterscheidet Miller zwei Fragen: Warum dürfen Staaten, erstens, überhaupt über ein geographisches Gebiet Herrschaftsgewalt ausüben? Und zweitens: Warum darf ein bestimmter Staat gerade innerhalb eines bestimmten Territoriums diese Herrschaftsgewalt innehaben (ebd., 214)? Die erste Frage ist die Frage nach der Rechtfertigung von Staatsgewalt überhaupt. Die zweite Frage betrifft die Zuweisung spezifischer Staatsgebiete. Hinsichtlich der ersten Frage gibt Miller eine, wie er es nennt, utilitaristische Antwort: »[E]veryone subject to such authority can expect to benefit from its existence« (ebd., 215). Die Existenz von Staaten schafft Sicherheit – für Miller auch vor allem im Sinne der Rechtssicherheit – und erlaubt es, dass eine Reihe von Aufgaben übernommen wird, die nur Staaten übernehmen können. In Bezug auf Fragen der Einwanderung heißt dies nach Miller, dass Personen, die sich auf dem Territorium eines Staates befinden, rechtmäßigerweise unter dessen Jurisdiktion fallen. Hierauf folgt ein argumentativer Sprung, denn Miller führt weiter aus: »And that authority must include the right to require him to leave, since a system of territorial authority cannot function without some control over who falls within its scope« (ebd., 215 f.). Millers Antwort auf die zweite Frage, warum bestimmte Staaten über bestimmte Territorien Herrschaftsgewalt ausüben dürften, beruht auf der Annahme, dass Staaten die Repräsentanten der Völker sind, die sie regieren. Nationen sind für Miller der wichtigste Fall eines solchen Repräsentationsverhältnisses (ebd., 217).
Die Debatte zu Territorialrechten hat in den letzten Jahren einen großen Aufwind erlebt. Es soll daher hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auf einige ausgewählte Texte verwiesen werden. Zur gegenwärtigen Debatte um Territorialrechte vgl. u. a. Steiner (1996 u. 2005), Meisels (2005), Angeli (2008 u. 2015), Stilz (2009 u. 2011), Ypi (2013 u. 2014a).
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Nationen erfüllen nach Miller fünf Merkmale: Es handelt sich um eine Gruppe von Menschen mit einer (1) gemeinsamen Identität, die zumindest zum Teil auch konstitutiv ist für die Identitäten ihrer Mitglieder; (2) sie zeichnen sich aus durch eine »public culture«, d. h. ein geteiltes Verständnis darüber, wie sie ihr Leben als Gruppe gestalten möchten, insbesondere über die Prinzipien ihres Zusammenlebens als politischer Verbund und ihre politische Entscheidungsfindung; (3) ihre Mitglieder sind der Ansicht, dass sie zueinander besondere Pflichten (»special obligations«) haben; (4) die fortgesetzte Existenz der Nation wird von ihren Mitgliedern als wertvoll erachtet und (5) sie haben eine »aspiration to be politically self-determining« (ebd., 124–126). 83 Nationen haben dabei nach Miller territoriale Rechte, 84 weil sie den Charakter des Gebiets, 85 auf dem sie leben, entscheidend prägen – vor allem im Sinne einer ökonomischen Wertsteigerung – und durch dieses selbst geprägt werden: 86 The culture must adapt to the territory if the people are to prosper […]. But equally the territory will in nearly every case be shaped over time according to the cultural priorities of the people […]. It has become the people’s home, in the sense that they have adapted their way of life to the physical constraints of the territory and then transformed it to a greater or lesser extent in pursuit of their common goals (ebd., 217 f.). 87
Unklar bleibt, warum aus diesem zunächst einmal kontingenten Faktor der wechselseitigen Beeinflussung von Bewohnern und Territo-
Für eine ausführliche Diskussion der Frage, was Nationen von anderen sozialen Gruppen unterscheidet s. Miller 1995, Kap. 2 (17–47). 84 Interessanterweise wechselt Miller in den Passagen zu den Nationen stillschweigend zur Formulierung national rights to territory während er vorher von territorial rights spricht: Nun scheint die Begründung von Rechten über ein Territorium und dem Recht auf ein Territorium argumentativ Unterschiedliches zu verlangen. Miller erweckt den Eindruck, immer beides zu meinen, ohne dies jedoch explizit zu machen. 85 Miller spricht, wenn er den Fall der Nationen diskutiert, von ›Territorium‹. Er schreibt etwa: »[T]he nation is responsible for the eventual character of the territory it inhabits« (Miller 2007, 218). Meines Erachtens ist diese Verwendung jedoch irreführend, da der Begriff des Territoriums bereits einen Hoheitsanspruch impliziert, an diesem Punkt der Argumentation jedoch lediglich das Verhältnis der Nation zu dem von ihr bewohnten Gebiet diskutiert wird. 86 Andere mögliche Begründungsmuster wie etwa die Effektivität der Herrschaft über das Territorium lehnt Miller ab (Miller 2007, 216 f.). 87 Für eine Diskussion der Schwierigkeiten bei der Zuordnung kultureller Erzeugnisse und kultureller Praktiken zu einer bestimmten Nation s. Appiah (2007, 143–166). 83
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rium die Legitimität des Anspruchs der entsprechenden Nation auf das entsprechende Gebiet folgen solle. 88 Doch Miller führt noch einen zweiten Grund für die territorialen Rechte von Nationen an: deren symbolische Bedeutung (symbolic significance of national territory; ebd., 218). Neben dem gestiegenen ökonomischen Wert sei das spezifische Gebiet, welches von einer Nation bewohnt wird, durch historische Ereignisse, Monumente und die freien Künste, die in ihren Werken die Landschaften und Orte dieses Gebietes einfangen, in seiner Bedeutung für die Angehörigen der betreffenden Nation derart aufgeladen worden, dass sich für Miller hieraus ergibt: The case for having rights over the relevant territory is then straightforward: it gives members of the nation continuing access to places that are especially significant to them, and it allows choices to be made over how these sites are to be protected and managed (ebd., 219).
Für Miller sind durch diese zwei Argumente – dem gestiegenen Wert des Gebietes und seiner symbolischen Bedeutung – die Rechte von Nationen an einem bestimmten Territorium gerechtfertigt. 89 Warum stellt die Regulierung von Einwanderung einen Teil der territorialen Rechte dar? Für Miller wird die Verbindung über den Wert der Selbstbestimmung (value of self-determination) hergestellt. Diesen definiert er folgendermaßen: »the importance to a political community of being able to determine its future shape« (ebd., Miller selbst bezeichnet sein Argument als »quasi-Lockean« (Miller 2007, 220) und dies macht die Stoßrichtung seines hier vorgetragenen Gedankens deutlicher: Er spricht davon, dass durch die Veränderungen, die durch eine Nation vorgenommen wurden, der Wert des entsprechenden Gebiets gestiegen sei und die Nation nun als Ganzes einen Anspruch auf diesen gesteigerten Wert habe. Die möglichen Komplikationen, die daraus entstehen könnten, etwa dass es sich bei Lockes Ansatz um eine Rechtfertigung von Privateigentum – und nicht von Kollektiveigentum – handelt, diskutiert Miller nicht. Er geht lediglich auf einen Einwand ein, der sich gegen eine vermeintlich zu enge Bindung seiner Begründung an das Konzept des Privateigentums richtet (s. ebd.). Darüber hinaus liegt Millers Argument die Annahme zugrunde, dass jedwede Einwirkung auf ein Gebiet einer Wertsteigerung gleichkäme. Die ›Wertminderung‹ eines Gebiets durch Ausbeutung der natürlichen Ressourcen bis hin zur Unbewohnbarkeit – man denke etwa an anthropogene Desertifikation – diskutiert Miller nicht. 89 Selbst wenn man diese zwei Argumente plausibel finden mag, bleibt doch fraglich, ob sie zusammengenommen das leisten, worauf Miller abzielt: eine Rechtfertigung spezifischer Rechte von spezifischen Nationen an einem spezifischen geographischen Gebiet. 88
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223). Die »zukünftige Gestalt einer politischen Gemeinschaft« ist für Miller bereits Teil des Begriffs der Selbstbestimmung. »Gestalt« bezieht sich für ihn dabei ganz eindeutig nicht nur auf politische Grundstrukturen und Verfahren, sondern auch auf die Bevölkerungszusammensetzung. Für ihn sind daher »questions of membership […] intimately involved in such decisions« (ebd.). Dies stellt freilich keinen notwendigen Zusammenhang dar. Weitergehende vertiefende Ausführungen und Argumente wären daher zu begrüßen. Auch die Diskussion einiger Rückfragen hinsichtlich der Abgründe, in die eine solche Definition von politischer Selbstbestimmung führen könnte, wäre wünschenswert: Wenn politische Gemeinschaften über ihre Zusammensetzung entscheiden dürfen, dann ist es angezeigt, dass dieses Vorgehen argumentativ gegen ebenjene chauvinistischen und rassistischen Tendenzen abgesichert ist, von denen sich der liberale Nationalismus frei machen möchte. Miller führt daher auch Grenzen dieser so definierten Selbstbestimmung ein: die Aufnahme von Flüchtlingen und das Kriterium der kulturellen Neutralität.
2.3.4 Die Grenzen der Selbstbestimmung Aber auch Flüchtlinge haben für Miller zwar »a very strong, but no absolute, right to be admitted to a place of safety« (2007, 227). Staaten muss nach Miller auch bei der Entscheidung, ob sie Flüchtlinge aufnehmen wollen oder nicht, große Freiheit gelassen werden, 90 auch wenn dies in der Konsequenz bedeuten sollte, dass die Menschenrechte der betroffenen Person nicht gewährleistet werden können: »At the limit, therefore, we may face tragic cases where the human rights of the refugees clash with a legitimate claim by the receiving state that its obligation to admit refugees has already been exhausted« (ebd.). Für Miller gibt es wie für Walzer also keine unbedingte Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen. Eine weitere Grenze der großteils selbstbestimmten Einwanderungspolitik stellt für Miller der Maßstab der »kulturellen Neutralität« dar. Nach Miller darf ein Staat nicht aufgrund von ethnischen S. beispielsweise folgende Passage: »[T]hey are entitled to consider the overall number of applications they face, the demands that temporary or long-term accommodation of refugees will place on existing citizens, and whether there exists any special link between the refugee and the host community« (Miller 2007, 226 f.).
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oder kulturellen Überlegungen auswählen. Er lehnt daher auch die bereits von Walzer diskutierte White-Australia-Politik ab (ebd., 228). Als Grund hierfür führt er an, that cultural selection at the point of entry has come to seem incompatible with the equal treatment of cultural groups that already belong to the state […]. Given that virtually every state already contains significant numbers of people belonging to cultural minorities, liberal principles of equality demand that immigration policy should be culturally neutral (ebd.). 91
Es bleibt jedoch unklar, wie dieser Teil von Millers Ansatz mit anderen Aspekten seines Argumentes in Einklang zu bringen ist. An verschiedenen anderen Stellen lässt er durchaus ›kulturelle Nichtneutralität‹ zu: Beispielsweise in jenem Punkt, dass Staaten – sogar mit Hinblick auf Flüchtlinge – das Bestehen von besonderen Verbindungen (special links) der einwanderungswilligen Person zum Aufnahmestaat in ihre Überlegungen miteinbeziehen dürften, »for instance, similarities of language or culture« (ebd., 227).
2.3.5 Legitimatorischer Individualismus und Territorialrechte Zu den Stärken von Millers Ansatz gehört, dass er kommunitaristische Einwände gegen eine im doppelten Sinne ›liberale‹ Einwanderungspolitik, wie Carens sie vorschlägt, ernst nimmt und versucht, eine Konzeption zu entwickeln, die in gewisser Weise einen Brückenschlag zwischen Liberalismus und Kommunitarismus in Bezug auf Fragen der Zu- und Einwanderung darstellt. Auch seine kritische Perspektive auf universale Freizügigkeit vermag in vielen Punkten zu überzeugen. Selbst für die Annahme der Vereinbarkeit von individueller Freiheit und staatlichen Grenzen spricht einiges. Ihre Begründung bei Miller, vor allem die Konzeption der Territorialrechte, scheint aber gelegentlich mehr Schwierigkeiten aufzuwerfen als zu In früheren Schriften scheint für Miller die Nichtdiskriminierung von Einwanderern wichtiger zu sein als in späteren Texten (vgl. zu dieser Einschätzung auch Wellman 2011, 145) und mehr als die kulturelle Neutralität zu umfassen. In »Immigration: The Case for Limits« schreibt er etwa: »To be told that they belong to the wrong race, or sex (or have hair of the wrong color) is insulting, given that these features do not connect to anything of real significance to the society they want to join. Even tennis clubs are not entitled to discriminate among applicants on grounds such as these« (Miller 2005, 204).
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beseitigen. Einige mögliche Kritikpunkte habe ich bereits in der Vorstellung des Ansatzes erwähnt. Auf ausgewählte weitere möchte ich nachfolgend kurz eingehen. Zunächst finden sich hinsichtlich der Terminologie in Millers Text einige Vagheiten insbesondere mit Blick auf die für sein Argument so zentralen Begriffe des Rechts (right) und des Anspruchs (claim). So definiert Miller auf der einen Seite »claim« etwa unpräzise als »something less than a right« (Miller 2007, 213) und versäumt es, dieses Konzept von jenem der Anspruchsrechte (claim-rights) abzugrenzen. Hinsichtlich des Konzepts des Rechts auf der anderen Seite scheint Miller beispielsweise davon auszugehen, dass man »sehr starke« von »absoluten Rechten« unterscheiden könne (ebd., 227), erläutert aber nicht, wie diese Grade von Recht zustande kommen. Diese Vagheiten setzen sich in seiner Diskussion der Menschenrechte fort, die für ihn, wie bereits erläutert, auf den menschlichen Grundbedürfnissen basieren. Bezüglich eines vermeintlichen Rechts auf Migration, welches sich aus einem right of free association ableiten würde, formuliert Miller den Einwand, dies würde die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse gefährden, und wirft anschließend die rhetorische Frage auf: »How, then, can it be regarded as a human right?« (ebd., 213). Man könnte hier freilich an Miller die Frage zurückgeben: Aber ist nicht die Erfüllung vieler klassischer Menschenrechte mit enormen Kosten verbunden? Und können nicht viele der klassischen Menschenrechte in Millers Sinne in einem (ökonomischen) Konkurrenzverhältnis zueinander stehen? Das Recht auf Nahrung kann etwa unter Mangelbedingungen das Recht auf Bildung einschränken. Dies allein scheint noch kein gutes Argument gegen das Bestehen eines spezifischen Menschenrechts zu sein. Auch ist unklar, ob Miller angemessen mit ›staatenlosen‹ Nationen umgehen könnte, die zwar seine Definitionsmerkmale für eine Nation erfüllen, aber kein festgeschriebenes Gebiet bewohnen und dessen Charakter prägen könnten, weil sie nomadisch leben, vertrieben wurden oder auch weil das von ihnen ursprünglich bewohnte Gebiet unbewohnbar geworden ist. 92 Damit geht bei Miller ein Aspekt Miller erläutert zwar, dass eine Nation B, die eine andere Nation A vertreibt, nicht sofort territoriale Rechte über das eroberte Gebiet innehat, ist aber der Ansicht, dass sie diese mit der Zeit erwirbt, sodass nach einer gewissen Dauer der Annexion Nation B einen ebenso starken oder sogar stärkeren Anspruch auf das entsprechende Gebiet haben kann: »[W]ho has the better title at any moment will be a matter of judgement« (Miller 2007, 219).
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verloren, der dem moderaten liberal nationalism ursprünglich einiges an Plausibilität verliehen hat: eben gerade der Verweis auf das Schicksal von ›Nationen ohne Staat‹ in der Geschichte und der Gegenwart, wie etwa das der Juden, der Armenier, der Kurden 93 oder auch der Roma, für deren politische Selbstbestimmung sich der liberal nationalism argumentativ eingesetzt hat. Weiterhin decken die drei von Miller ausgewählten Argumente nur einen Teil der gegenwärtigen Positionen ab, die für universale Freizügigkeit plädieren: Man muss etwa nicht notwendigerweise der Ansicht sein, dass es ein right to migrate im Sinne eines Menschenrechts auf universale Freizügigkeit gibt, um für (relativ) offene Grenzen und zu plädieren. Dies zeigte beispielsweise schon Carens’ Ansatz, der seine Argumentation nicht auf ein Menschenrecht stützt, sondern eine vertragstheoretische Rechtfertigung liefert. Außerdem handelt es sich bei den drei von Miller ausgewählten Argumentationssträngen – freedom of movement, right to exit, right to free association – zwar um drei gegenwärtig sehr populäre Ansätze, um universale Freizügigkeit zu begründen, allerdings stellt sich – ähnlich wie bei Carens, wenn auch in anderer Weise – die Frage: Wie viel hat Miller gezeigt, wenn er diese drei Ansätze entkräftet hat? Er gelangt in seinem Text zu der Schlussfolgerung, »that one cannot justify an unconditional right to immigrate on the basis of the (genuine) human rights of the would-be migrant« (ebd.). Diese wäre aber nur dann gerechtfertigt, wenn er auch darlegen könnte, dass es keine anderen möglichen Kandidaten für eine solche menschenrechtsbasierte Argumentation gibt. Miller bleibt diesen Schritt schuldig. Die gewichtigste Frage, die sich aber in Hinblick auf Millers Ansatz stellt, ist folgende: Wie ›liberal‹ ist Millers Nationalismus wirklich? Auch wenn eine ausführliche Diskussion dieser Frage hier nicht vorgenommen werden kann, möchte ich doch auf zwei Punkte hinweisen: Den Ausgangspunkt jedes liberalen Argumentes bildet die Freiheit von Individuen. Anschließend kann man zur Rechtfertigung der legitimen Einschränkungen übergehen. 94 Miller entspricht mit Hinblick auf den Aufbau seines Textes diesem Vorgehen: Er beginnt mit Vgl. zu diesem Punkt auch Miscevic (2014). Vgl. hierzu beispielsweise Mill: »[T]he burden of proof is supposed to be with those who are against liberty; who contend for any restriction or prohibition« (The Subjection of Women, Kap. 1, 262).
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dem right to migrate als Teil der freedom of choice und geht erst anschließend zu den Territorialrechten einer Nation gegenüber Individuen über. Inhaltlich verhält es sich aber anders: Wie wir gesehen haben, geht Miller von einer Verneinung des Rechtes auf Migration aus und erläutert anschließend nur, warum Territorialrechte einen angemessenen Grund liefern, um einen etwaigen Anspruch eines Individuums auf Einwanderung zu negieren. Damit verbunden ist ein zweiter Punkt, den man als ›rechtfertigungstheoretisches Problem‹ bezeichnen könnte. Gemeinhin gilt der legitimatorische Individualismus als ein weiteres zentrales Charakteristikum liberaler Theorien: [L]iberalism rests on a certain view about the justification of social arrangements […]. Liberals are committed to a conception of freedom and of respect for the capacities and the agency of individual men and women, and […] these commitments generate a requirement that all aspects of the social should either be made acceptable or be capable of being made acceptable to every last individual (Waldron 1987, 128).
Höffe, der den Begriff des legitimatorischen Individualismus geprägt hat (1999, 45–48), bezieht den dem Liberalismus inhärenten Individualismus noch stärker als Waldron auf Fragen der Rechtfertigung der Zwangsbefugnis von Staaten: »Die Zwangsbefugnis ist nur unter der anspruchsvollen Bedingung legitim, daß man ihr die Zustimmung nicht überlegterweise versagen kann« (47). Entscheidend ist dabei, dass sich »das Gemeinwesen vor jedem einzelnen rechtfertigen« muss und »nicht umgekehrt, wie in einem legitimatorischen Kollektivismus, das Individuum vor dem Gemeinwesen« (46). 95 Unabhängig von der genauen Ausformung des Begriffs muss man festhalten, dass Miller in seiner Rechtfertigung von Einwanderungsregulierungen den Theorierahmen des legitimatorischen Individualismus verlässt: Er zeigt nicht, warum das von ihm vorgeschlagene System der Einwanderungsregulierung für alle zustimmungsfähig wäre bzw. die betroffenen Individuen ihm die Zustimmung nicht wohlüberlegt versagen könnten. Die Rechtfertigung der weitgehenden Selbstbestimmung von Nationen über Einwanderungsregularien erfolgt bei Miller allein über die Territorialrechte Zum verwandten Begriff des normativen Individualismus s. von der Pfordten (2004, 2007 u. 2014). Ich verwende hier den Ausdruck ›legitimatorischer Individualismus‹, weil er sich vorrangig auf die Legitimation von politischer Herrschaft und Machtausübung bzw. die Frage nach der Zwangsbefugnis bezieht.
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von Nationen, d. h. von Kollektiven. Sie wird nicht erneut an die betroffenen Individuen zurückgebunden. Damit erfüllt Millers liberal nationalism zwei zentrale Charakteristika liberaler Theorien nicht. Dies hat zweifelsohne auch Auswirkungen auf das gesamte Projekt der Vereinbarkeit der Freiheit von Individuen und staatlicher Souveränität in Fragen der Einwanderung: Miller führt hier mit den Territorialrechten Gründe an, die für die staatliche Souveränität sprechen, zeigt aber nicht deren Vereinbarkeit mit individueller Freiheit. Insofern könnte man sich fragen, ob es sich bei Millers Position zwar um einen ›moderaten‹ Nationalismus handelt, der aber weit von einem ›liberalen‹ Nationalismus entfernt ist. Dies stellt das Projekt, diese Vereinbarkeit herauszuarbeiten, nicht grundsätzlich infrage. Fraglich ist nur, ob Millers Antwort überzeugt.
2.4 Geschlossene Grenzen – Offene Grenzen: Zwischenfazit Ich habe in diesem Kapitel die drei Hauptströmungen der Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie anhand der Ansätze von einschlägigen Vertretern vorgestellt und kritisch diskutiert. Walzers kommunitaristische und Carens’ egalitaristisch-kosmopolitische Position erschienen dabei zunächst als einander diametral entgegengesetzt. Erstere argumentiert für das Recht von Gemeinschaften auf Ausschluss, während letztere genau dieses Recht grundlegend infrage stellt. Es bleibt jedoch, wie sich gezeigt hat, unklar, wie viel Zu- und Einwanderung sie tatsächlich erlauben würden. Begründungstheoretisch sind beide Ansätze deutlich verschieden. Aber auch hier haben wir gesehen, dass sich Walzer auf der einen Seite stärker einem rechtfertigungstheoretischen Individualismus verbunden sieht, als man dies vielleicht zunächst erwarten würde. Carens auf der anderen Seite scheint wiederum den von ihm vertretenen rechtfertigungstheoretischen Individualismus nicht konsequent durchzuhalten. Die oft vorgenommene, zu Beginn dieses Kapitels beschriebene Unterteilung der diskutierten Ansätze nach dem Maß an Einwanderungsbeschränkung bzw. der Offenheit der Grenzen erweist sich also als irreführend, da die in der gegenwärtigen Debatte dominanten Ansätze immer für eine relative Öffnung oder Schließung der Grenzen plädieren, wie auch in der Diskussion der Ansätze von Walzer 76
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und Carens deutlich geworden ist: Ob eine Einwanderungspolitik, die sich an einem dieser Ansätze orientieren würde, tatsächlich mehr oder weniger Einwanderung erlauben würde, ist eine nicht gerade leicht zu beantwortende Frage. Miller versucht eine zwischen partikularistischen und universalistischen Ansätzen vermittelnde Position einzunehmen. Allerdings haben wir gesehen, dass seine Position vor zahlreichen Problemen steht und schließlich sogar infrage steht, ob sie wirklich eine vermittelnde Position ist oder letztendlich nur einen modifizierten Partikularismus darstellt, der entscheidende Elemente einer liberalen Theorie vermissen lässt. In den folgenden Teilen dieser Studie werde ich herausarbeiten, dass sich der von Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden und in der Metaphysik der Sitten vertretene Ansatz in einer produktiven Disharmonie zu den in der gegenwärtigen Debatte vorherrschenden Strömungen befindet, da er einen moralischen Universalismus vertritt, in seiner politischen Philosophie aber durchaus partikularistische Elemente erkennen lässt und dennoch zu ganz anderen Schlüssen als der liberal nationalism gelangt.
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3. Das Thema Migration bei Kant: Einleitung
Momentan werden – wie auch im ersten Teil dieser Studie deutlich geworden ist – in der politischen Philosophie wie auch der normativen politischen Theorie und der Angewandten Ethik Fragen, die durch Migrationsbewegungen aufgeworfen werden, intensiv diskutiert. Diese Hinwendung zum Themenbereich Migration und Staatsbürgerschaft lässt sich dabei nicht allein aus den aktuellen politischen Debatten erklären, vielmehr weisen Ein- und Auswanderung auf grundlegende Fragen hinsichtlich der Rechtfertigungsmöglichkeit von Einwanderungs- und Einbürgerungspolitiken hin. Das Spektrum der innerhalb der Diskussion um Migration erörterten Fragen und Positionen ist dabei vielfältig und spannungsreich. Während in der gegenwärtigen Debatte egalitär-kosmopolitische Theoretikerinnen und Theoretiker dazu tendieren, das Recht des Individuums auf Freizügigkeit zu betonen, vertreten kommunitaristische Autoren Positionen, die das Selbstbestimmungsrecht von politischen Gemeinschaften in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rücken. Philosophen, die dem sogenannten liberalen Nationalismus nahestehen, sind wiederum der Ansicht, dass der zentrale Stellenwert, den die Freiheit des Individuums in liberalen Theorien einnimmt, sehr wohl mit dem Recht von Staaten auf die weitgehend souveräne Bestimmung über Einwanderungspolitiken vereinbar ist. Im vorangegangenen Teil dieser Arbeit stand die Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie im Fokus. Dieser Teil wird sich nun der Position eines Autors widmen, dessen Ansatz einen interessanten Kontrapunkt zu den gegenwärtigen Ansätzen bereithält. Er weist Elemente aller drei diskutierten heutigen Hauptströmungen auf, gelangt jedoch zu radikal anderen Schlüssen: Immanuel Kant. Er hat in seinem Werk neben anderen Innovationen auch eine bis dahin neue Sphäre des öffentlichen Rechts eingeführt, das Weltbürgerrecht, welches die Rechte von Individuen gegenüber anderen Staaten als ihren Herkunftsländern betrifft, und damit FraMigration und Weltbürgerrecht
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gen um Migration und Staatsbürgerschaft bzw. Einbürgerung berührt. 96 Diese Innovation stellt für die gegenwärtige Debatte um Migration in der politischen Philosophie den Hauptanknüpfungspunkt bei Kant dar. In dieser Debatte wird Kant als eine Schlüsselfigur kosmopolitischen Denkens wahrgenommen. 97 Doch was heißt in diesem Kontext kosmopolitisch? In ebenjener Debatte werden, wie deutlich wurde, jene Positionen als kosmopolitisch bezeichnet, die ausgehend von der moralischen Gleichheit aller Menschen für überwiegend offene bzw. poröse Grenzen argumentieren. Nach dieser Perspektive soll sich die moralische Gleichheit aller Menschen auch mit Hinblick auf Migration und Staatsbürgerschaft in politische Gleichheit übersetzen. Einschränkungen von Migrationsbewegungen wären nach dieser Perspektive nur erlaubt, wenn es schwerwiegende Einwände gegen eine universale Freizügigkeit gäbe. Kant selbst hat bekanntermaßen nicht für offene Grenzen und universale Freizügigkeit votiert. Dieser Umstand wird von den Vertreterinnen und Vertretern kosmopolitischer Positionen, sofern sie auf Kant eingehen, als ein Zurückbleiben hinter den Anforderungen des von ihm vertretenen moralischen Universalismus verstanden. 98 Ob Kant aber in seiner Konzeption des Weltbürgerrechts hinter den Anforderungen eines moralischen Universalismus zurückbleibt oder ob er gute Gründe für seine Position anführen kann, aus einem moralischen Universalismus, den er sehr wohl vertritt, keinen politischen Universalismus abzuleiten, hängt auch davon ab, worin man die mögliche Rechtfertigungsrundlage für das Weltbürgerrecht lokalisiert (Kap. 9). Zum Weltbürgerrecht als Innovation vgl. Höffe (2012, 257 f. u. auch schon 2001, 11). Ebenso Gerhardt: Der dritte Definitivartikel »ist systematisch völlig neu, und unter den Bedingungen der Weltgesellschaft, die zu Kants Zeit im Entstehen begriffen war, ist er von höchster Aktualität« (1995, 105). Auch Eberl/Niesen: »Die Kategorie des Weltbürgerrechts gilt als eine der wichtigsten rechtsphilosophischen Innovationen Kants« (2011, 248). Ähnlich auch bei Benhabib: »The conceptual innovation of Kant’s doctrine of cosmopolitanism is that Kant recognized three interrelated but distinct levels of ›right‹, in the juridical sense of the term« (2006, 21): neben dem Staatsrecht und dem Völkerrecht auch das Weltbürgerrecht. 97 Zur häufig vorschnellen Einordnung Kants in kosmopolitische Lager vgl. auch Muthus Einschätzung: »In contemporary debates about the priority of ethical commitments to particular groups versus fidelity to humanity as such, commentators often tout Kant as the historical standard bearer of the cosmopolitan camp« (2000, 23). 98 Vgl. zu dieser Position u. a. Benhabib (2004, 35, 38 u. 42). 96
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Bis in die späten 1990er Jahre wurde das Weltbürgerrecht in der Literatur zur politischen Philosophie Kants größtenteils vernachlässigt. 99 Hierfür mag es verschiedene Gründe geben. Da Kants Überlegungen Eingang in zahlreiche Völkerrechtsdokumente gefunden haben, erscheint der Inhalt des Weltbürgerrechts vielleicht als allzu selbstverständlich. Auch entsteht bei einer ersten Lektüre von Zum ewigen Frieden leicht der Eindruck, die ersten beiden Definitivartikel seien inhaltlich deutlich dichter als der dritte. In der Rechtslehre wirkt die Diskussion des Weltbürgerrechts sogar fast wie eine Art Anhang zum Völkerrecht. 100 Auf einen weiteren Punkt weist Hackel zu Recht hin: In anderen, früheren Texten Kants zur politischen Philosophie wird die Trennung von Weltbürgerrecht und Völkerrecht noch nicht in der in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre deutlichen Strenge vorgenommen. 101 Sowohl das 200-jährige Jubiläum der Veröffentlichung von Zum ewigen Frieden im Jahre 1995 als auch das schon seit den 1980er Jahren zunehmende allgemeinere Interesse an Kants politischer PhiloIn zahlreichen einschlägigen Darstellungen zu Kants politischer Philosophie und Rechtsphilosophie erfährt das Weltbürgerrecht kaum Beachtung: vgl. etwa Murphy (1970), Deggau (1983), Riley (1983), Rosen (1993), Hüning/Tuschling (1998), Axinn/ Kneller (1998), Kater (1999). Shell (1980, 175) widmet dem Weltbürgerrecht eine knappe Seite; ebenso Ludwig (1988, 177 f.). Kersting konzentriert sich in seiner Darstellung auf das Privat- und das Staatsrecht (1984). Stolzenberg schreibt in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes Kant in der Gegenwart zwar: »Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Kant, so scheint es, zum Philosophen der Welt geworden. […] Kants Modell einer weltbürgerlichen Gesellschaft autonomer Staaten ist weiterhin aktuell« (Stolzenberg 2007, 1). Im Sammelband findet sich jedoch kein Aufsatz, der dezidiert der völker- und weltbürgerlichen Dimension von Kants Rechtsphilosophie gewidmet ist. Auch in den zahlreichen Monographien und Sammelbänden zu Kants Friedensschrift wurde dem Weltbürgerrecht oft kein eigener Aufsatz gewidmet, vgl. etwa Merkel/Wittmann (1996). Eine größere Beachtung findet das Weltbürgerrecht bei Goyard-Fabre (1975), Cavallar (1992, 1999 u. 2015), Höffe (1995b, 1999c, 2001 u. 2012), Gerhardt (1995), Dicke/Kodalle (1998), Flikschuh (2000), Byrd/Hruschka (2010), Kleingeld (2012) und Horn (2014). 100 Cavallar geht etwa von folgender Beobachtung aus: »Auf den ersten Blick ist nicht ganz klar, warum Kant überhaupt einen dritten Definitivartikel für nötig hält« (Cavallar 1992, 223). Zur Frage der langen Vernachlässigung des Weltbürgerrechts vgl. Kleingeld (1998, 73) und Dicke (1998, 116); zu den Einschätzungen aus einer völkerrechtlichen Perspektive Hackel (2000, 95 f.). 101 »Noch in ›Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis‹ geht Kant von einer Zweiteilung des öffentlichen Rechts aus. Das Wort ›weltbürgerlich‹ bezeichnete in der Schrift von 1793 den bürgerlichen Rechtszustand auf Weltebene« (Hackel 2000, 96). 99
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sophie und Rechtsphilosophie 102 haben seitdem allerdings zu einem beträchtlichen Zuwachs an Literatur zur Friedensschrift und zur Rechtslehre und damit später auch an Literatur zum Weltbürgerrecht geführt. In der Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft ist Kants Konzeption des Weltbürgerrechts ebenfalls inzwischen schon Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. 103 Die bisherige Rezeption und Diskussion des Weltbürgerrechts hält sich dort aber bislang in Grenzen. Kant berührt die Themen Zu- und Einwanderung sowie Abund Auswanderung in verschiedenen Kontexten. Am bekanntesten ist sicherlich seine Auseinandersetzung im Rahmen der Diskussion des Weltbürgerrechts im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden und in § 62 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten. Kant behandelt aber auch in anderen Passagen Migrationsbewegungen, so in seiner Kritik am Kolonialismus in den §§ 15 und 58 und ebenso in seiner Diskussion zu Fragen von Auswanderung, Einwanderung und Verbannung im § 50 der Rechtslehre. Diese Passagen werden in der gegenwärtigen Debatte um Migration weit weniger diskutiert als jene zum Weltbürgerrecht, gehören aber zu einer vollständigen Interpretation von Kants Position zu Ein- und Auswanderungsbewegungen dazu. Ich werde daher im Folgenden, wie bereits im einleitenden Kapitel zu dieser Arbeit genauer erläutert, nicht nur auf die bekannteren Passagen aus Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre eingehen, sondern auch die weniger stark rezipierten Passagen berücksichtigen. Weiterhin werde ich da, wo es ratsam scheint und zu einem besseren Verständnis des veröffentlichten Werks beiträgt, auf die Vorarbeiten, die Reflexionen sowie den Briefwechsel Kants zurückgreifen. Der Schwerpunkt wird jedoch auf dem veröffentlichten Werk Kants liegen. Da der Begriff Weltbürgerrecht mit zwei weiteren zentralen 102 Für die frühen 1980er vgl. die Literaturberichte von Kersting (1983), Küsters (1983) und Smid (1985). Für die 1990er Jahre vgl. Flikschuh (1997). Die Literatur zu Kants politischer Philosophie und Rechtsphilosophie ist in den letzten Jahren so gewachsen, dass hier nur einige ausgewählte Monographien genannt werden können: In jüngerer Zeit etwa Cavallar (1992, 1999 u. 2002), Rosen (1993), Gerhardt (1995), Flikschuh (2000), Höffe (2001), Muthu (2003), Ripstein (2009), Kleingeld (2012), Mosayebi (2013) und Horn (2014). 103 Insbesondere Benhabibs Interpretation des Weltbürgerrechts im Kontext ihrer Argumentation für »poröse Grenzen« in The Rights of Others (2004, 25–48) ist hier zu nennen; auch Keil (2009) sowie Loewe (2010).
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Begriffen verwandt ist, ›weltbürgerlich‹ und ›Weltbürger‹, wird es zunächst notwendig sein, diese Begriffe voneinander abzugrenzen (Kap. 4). Anschließend werde ich mich einer genauen Untersuchung des Weltbürgerrechts bei Kant zuwenden: In welchem Kontext steht das Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre und welche Adressaten hat es (Kap. 5), welchen Inhalt (Kap. 6 u. Kap. 7), welche Form (Kap. 8)? Schließlich werde ich auf der Grundlage dieser ausführlichen Interpretation des Weltbürgerrechts dessen Rechtfertigungsgrundlage untersuchen. Hierbei werden fünf in der Sekundärliteratur vertretene Lesarten im Mittelpunkt stehen (Kap. 9). In einem abschließenden Kapitel werde ich die bisherigen Ergebnisse kurz zusammenfassen und die produktive Disharmonie, in der Kant zu den im vorhergehenden Teil diskutierten Argumentationsrichtungen der Debatte um Migration steht, herausstellen (Kap. 10). Diese Interpretation des Weltbürgerrechts bei Kant wird dabei immer mit Blick auf die Implikationen erfolgen, die Kants Ansatz hinsichtlich der Fragen der gegenwärtigen Debatte zu Migration hat. Diese werden dann eingehender im nächsten, dem dritten Teil dieser Studie diskutiert werden. Wenn man sich mit der Rechtslehre auseinandersetzt, sind einige Anmerkungen zur Textsituation nicht nur angebracht, sondern auch notwendig. In der veröffentlichten Fassung ist die Textstruktur und -abfolge der Rechtslehre zuweilen irritierend und unzugänglich. Dieser Umstand hat zunächst zu einer breiten Ablehnung dieses Werks und später zu einem weitgehenden Desinteresse geführt, obzwar die Rechtslehre direkt nach ihrer Veröffentlichung breit diskutiert wurde. 104 Auch Schopenhauers berühmte »Senilitätsthese«, nach der der Grund für den schlechten Zustand des Textes in den schwindenden intellektuellen Kräften Kants lag, hat dieses Desinteresse bestärkt. 105 Trotz eines begrenzten Wiederaufflammens des In104 Ludwig verweist auf die hohe Zahl der Rezensionen zu Kants Rechtslehre ebenso wie auf den Umstand, dass bereits 1798 eine Neuauflage erschien, was wohl nicht allein aus einer geringen Höhe der ersten Auflage zu erklären sei. Bis 1801 erschienen darüber hinaus acht Kompendien zur Rechtslehre (vgl. Ludwig 1986, XXIV f.). 105 »Die Rechtslehre ist eines der spätesten Werke Kants und ein so schwaches, daß, obgleich ich sie gänzlich mißbillige, ich eine Polemik gegen dieselbe für überflüssig halte, da sie, gleich als wäre sie nicht das Werk dieses großen Mannes, sondern das Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohnes, an ihrer Schwäche natürlichen Todes sterben muß« (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Anhang, S. 667 f.).
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teresses an der Rechtslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt die Senilitätsthese weiterhin Unterstützung – durchaus auch von KantKennern. 106 Seit den 1980er Jahren nimmt nun, wie gesagt, die Literatur zur Rechtslehre zu und die Auseinandersetzung mit Kants politischer Philosophie und Kants Rechtsphilosophie wieder einen breiten Raum in der Kant-Forschung ein. 107 Im Zuge dessen wurde auch die These populär, dass der Drucklegung von 1797 ein verderbtes Manuskript zugrunde lag und dass sich aus diesem Umstand die stellenweise Dunkelheit des Textes erklären lässt. Um den ursprünglichen Gedankengang des Werkes zu rekonstruieren, sei daher eine Umstellung des Textes notwendig. Bernd Ludwig legte mit seiner Edition der Rechtslehre den bislang umfassendsten Umstellungsvorschlag vor (Ludwig 1986). 108 Da es sich bei den größeren Umstellungen jedoch um Textabschnitte handelt, die nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen, werden nachfolgend die Verweise auf Kants Schriften auch mit Hinblick auf die Rechtslehre der Akademie-Ausgabe folgen. 109 Dort, wo ein Verweis auf das durch Ludwigs Umstellungen veränderte Argument notwendig scheint, werde ich diesen in der Fußnote angeben.
106 S. beispielsweise Arendts Bemerkungen in ihren Vorlesungen zu Kants politischer Philosophie, die sie 1970 gehalten hat (Arendt 1982, 16), und Ritter (1971, 14 u. 19 ff.). Auch Iltings Einschätzung (»mit nicht mehr ausreichender Kraft«) geht in diese Richtung (Ilting 1981, 326). Für einen Überblick zur Rezeption der Rechtslehre bis ins 20. Jahrhundert s. Küsters (1988). 107 Im Gegensatz dazu Arendts Einschätzung: »Im Unterschied zu so vielen Philosophen – Platon, Aristoteles, Augustin, Thomas, Spinoza, Hegel und anderen – hat Kant niemals eine Politische Philosophie geschrieben« (Arendt 1982, 16). 108 Ludwig weist darauf hin, dass bereits Buchda in seiner Dissertation Das Privatrecht Immanuel Kants von 1929 auf einen fehlerhaften Texteinschub in § 6 des Privatrechts hingewiesen hatte. Weiterhin stellte Berkemann 1972 Unstimmigkeiten hinsichtlich der »Allgemeinen Anmerkung« zum Staatsrecht und Mautner 1981 in § 10 fest (Ludwig 1986, XXVIII). Zu Ludwigs Editionsthese und den größeren von ihm vorgenommenen Umstellungen: Ludwig (1986, XXVI–XL). Zur Textgestalt der Rechtslehre s. auch Küsters (1988, 6–13) und Unruh (1993, 21–26). Zur Entstehungsgeschichte der Rechtslehre vgl. Ludwig (1986, XIV–XXIV u. 1988, 7–43). 109 Am wichtigsten für diese Studie ist die Positionierung des § 50 innerhalb der Rechtslehre: In der Ludwig-Ausgabe wird dieser als »Allgemeine Anmerkung F« geführt und steht gemeinsam mit den anderen »Allgemeinen Anmerkungen« am Ende des »Staatsrechts«.
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4. Begriffsklärungen
Mit dem Begriff Weltbürgerrecht sind zwei weitere zentrale Begriffe in Kants Werk verwandt: ›weltbürgerlich‹ und ›Weltbürger‹. Deren Bedeutung werde ich im Folgenden von jener des Weltbürgerrechts abgrenzen, um dann anschließend im nächsten Kapitel das Weltbürgerrecht bei Kant in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre ausführlich hinsichtlich seines Kontextes, seiner Adressaten, seines Inhaltes und seiner Form zu diskutieren. Während die Ausdrücke ›weltbürgerlich‹ und ›kosmopolitisch‹ bei Kant »in einer verwirrenden Vielfalt von Kontexten und Funktionen« (Niesen 2012, 311) vorkommen, verhält es sich mit dem Begriff des Weltbürgerrechts (ius cosmopoliticum) anders. Wie ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeigen werde, taucht dieser Begriff in Kants Werk wesentlich seltener auf und ist außerdem inhaltlich klarer umgrenzt als die beiden mit ihm verwandten Begriffe. Der Umstand, dass im Begriff des Weltbürgerrechts der Bestandteil ›Weltbürger‹ bei weitem nicht so umfassend zu verstehen ist wie das Adjektiv ›weltbürgerlich‹, wird in der Literatur häufig übersehen und infolgedessen die Mannigfaltigkeit der Bedeutung des Ausdrucks ›weltbürgerlich‹ oft unhinterfragt auf den Begriff des Weltbürgerrechts übertragen. 110 Ich werde hier keine ausführliche Untersuchung der Begriffe ›weltbürgerlich‹ und ›Weltbürger‹ hinsichtlich ihrer philologischen Wurzeln vorlegen, da erstens diese Arbeit schon andernorts geleistet wurde 111 und es hier zweitens auf drei Kernpunkte anRimoux jedoch ist sensibel für die Begriffsentwicklung von der Idee hin zur Friedensschrift und der Rechtslehre, unterscheidet die drei Begriffe aber nicht inhaltlich (2015, 116 f.). 111 Vgl. hierzu etwa Nussbaum (1996). Für einen historischen Überblick zum kosmopolitischen Denken s. Coulmas (1990). Für einen historischen Überblick über das kosmopolitische Denken bis zur Gegenwart vgl. den Sammelband von Lutz-Bachmann et al. (2010). Zum weltbürgerlichen Denken von Hobbes über Leibniz bis Kant s. Cheneval (2002); für einen historischen Überblick über das kosmopolitische Denken von 110
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kommt, die sich vor allem auf Kants Verwendung der drei Begriffe beziehen: Die Begriffe ›weltbürgerlich‹ und ›kosmopolitisch‹ werden von Kant tatsächlich äußerst vielfältig verwendet, behalten aber häufig eine in gewisser Hinsicht ›apolitische‹ Bedeutung. Der Begriff ›Weltbürger‹ wiederum wird dem des Erdensohns und dem des bloßen Weltbeschauers (cosmotheoros) gegenübergestellt, beschreibt aber entgegen der häufig vorgenommenen politischen Deutung des Begriffs bei Kant vor allem die Mitgliedschaft in einer moralischen Gemeinschaft aller und erfüllt keinerlei Funktion in Kants späteren, dezidiert politischen Schriften Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre. 112 Den Begriff des Weltbürgerrechts gebraucht Kant dagegen ausschließlich im politischen Kontext; er stellt einen dezidiert rechtsmoralischen Begriff dar. Im Anschluss werde ich diese drei Punkte ausführlicher darlegen.
4.1 Weltbürgerlich Die Begriffe ›weltbürgerlich‹ und ›kosmopolitisch‹ verwendet Kant in Bezug auf so unterschiedliche Bezugsgrößen wie Vereinigung, Gesinnung, Absicht, Gesellschaft, Regenten, Regiment, Föderation, Republik, Verfassung, Gemeinwesen, moralische Gemeinschaft, Gut, das Ganze, Sozietät, publizistische Methode, Tugend und Geschichtsschreibung. Es ist in diesen Passagen nicht immer eindeutig, was die jeweiligen Gegenstände als ›weltbürgerlich‹ auszeichnet bzw. sie zu ›weltbürgerlichen‹ macht. Im Untertitel zum dritten Abschnitt von Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis kann sogar der Eindruck entstehen, Kant Vitoria bis Smith auch Cavallar (2005a). S. auch Cavallar (2011). Zum Weltbürgerdiskurs um 1800 vgl. u. a. Kleingeld (1999, 2012) und Albrecht (2005). Für zwei gegenwärtige kosmopolitische Konzeptionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten s. Höffe (1999) und Appiah (2007). 112 Für Hoesch bezeichnet der Begriff ›Weltbürger‹ bei Kant schlicht »den Menschen in seiner Beziehung auf das Ganze der Menschheit« (2015a, 2620). Laut Hoesch wird mit diesem Begriff durch Kant hervorgehoben, »dass Menschen qua Gattungszugehörigkeit und der Tatsache, dass sie unter Bedingungen einer geteilten und endlichen Erde leben müssen, einen besonderen Schutzanspruch genießen« (ebd.). Diese Definition verwischt jedoch den Unterschied von genus humanum und humanitas, also der Gattung der Menschen und dem Wesen der Menschen, der für Kant wesentlich ist. Zu diesem Unterschied s. Höffe (2012, 239).
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gebrauche als Synonym ›philanthropisch‹, lautet dieser doch »Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht in allgemein-philanthropischer, d. i. kosmopolitischer Absicht betrachtet« (VIII 307; Hervorhebung K. R.). 113 Man kann angesichts dessen Peter Niesens Diagnose von der »verwirrenden Vielfalt von Kontexten und Funktionen« durchaus zustimmen. Höffe hat weiterhin gezeigt, dass auch in Bereichen, in denen Kant den Ausdruck ›weltbürgerlich‹ nicht explizit verwendet, der Sache nach oft eine kosmopolitische Dimension des Gegenstandes erörtert oder auf diese hingewiesen wird. Der Kosmopolitismus, da er eine der vier zentralen Antriebskräfte Kants darstelle, sei mit allen Bereichen der Philosophie Kants verwoben (Höffe 2012, 47–65). Höffes Ansicht nach ist Kants Philosophie in sieben Hinsichten als ›kosmopolitisch‹ zu bezeichnen: bezüglich des Wissens, der Moral, der Einheit von Natur und Moral, der Pädagogik, des sensus communis, des Rechts und der Geschichte (ebd., 50). 114 Kants Begriff ›kosmopolitisch‹ sorgt darüber hinaus nicht zuletzt auch deshalb immer wieder für Irritationen, weil er im Gegensatz zum gegenwärtigen Verständnis des Ausdrucks letztlich in einem gewissen Sinn apolitisch ist (vgl. ebd., 62). 115 Dies mag aus heutiger Per113 Wobei Kant in der Fußnote zu diesem Untertitel folgenden differenzierenden Hinweis anfügt: »Es fällt nicht sofort in die Augen, wie eine allgemein-philanthropische Voraussetzung auf eine weltbürgerliche Verfassung, diese aber auf die Gründung eines Völkerrechts hinweise, als einen Zustand, in welchem allein die Anlagen der Menschheit gehörig entwickelt werden können, die unsere Gattung liebenswürdig machen« (VIII 307). Auf das vielschichtige Verhältnis des Weltbürgerrechts zur Philanthropie bzw. zur Menschenliebe werde ich im Laufe dieser Studie immer wieder zurückkommen, s. insbesondere Kap. 6, 7 u. 8. 114 Zu Kants umfassenden Kosmopolitismusverständnis bzw. zu den verschiedenen ›Kosmopolitismen‹ in Kants Philosophie s. auch Kleingeld (2012, 3) und Cavallar (2015, Kap. 2). Hoesch ist dagegen der Ansicht, dass sich der Ausdruck ›kosmopolitisch‹ bei Kant »auf die Ganzheit aller Menschen bezieht« und dass dies »[v]orwiegend […] im rechtlichen Sinn intendiert [sei], d. h. Kant bezieht sich auf die globalen Rechtsverhältnisse, die das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht umfassen« (Hoesch 2015d, 1288). 115 Leider wird in der gegenwärtigen Kosmopolitismusdebatte – oder in den verschiedenen Kosmopolitismusunterdebatten – die facettenreiche Verwendung und die vielfältigen Bedeutungsdimensionen von ›Kosmopolitsmus‹ durch die Geschichte der westlichen Philosophie hindurch oft auf ein in der jeweiligen Debatte dominantes Verständnis verkürzt: »In current moral and political philosophy, ›cosmopolitanism‹ is most often equated with the endorsement of the idea that a theory of global justice should address the needs and interests of human individuals directly – regard them as citizens of the world – rather than indirectly, via their membership in different states«
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spektive zunächst paradox erscheinen, schließt aber an eine lange Tradition an: Kants Kosmopolitismusverständnis weist deutliche Bezüge zur antiken Kosmopolitismustradition auf, 116 hierbei vor allem zur Philosophie der Stoa. Schon beim kosmou politês der Stoa lag der Schwerpunkt auf dem Kosmos, nicht auf der Polis: 117 Der Ausdruck ›Bürger‹ bezog sich nicht auf die Mitgliedschaft in einer weltumspannenden politischen Gemeinschaft, sondern auf die Mitgliedschaft in einem gemeinsamen moralischen Kosmos. Diese Bezüge hat Martha Nussbaum in ihrem Aufsatz »Kant and Cosmopolitanism« untersucht und kommt zu dem Ergebnis: Although his own version of cosmopolitanism grows out of a distinctive eighteenth-century tradition, both the tradition itself and Kant’s own approach to it are saturated with the ideas of ancient Greek and especially Roman Stoicism, where the idea of the kosmou politês (world citizen) received its first philosophical development (Nussbaum 1997, 28). 118
(Kleingeld 2012, 4). Zur Taxonomie verschiedener Kosmopolitismen aus der Perspektive der gegenwärtigen Kosmopolitismusdebatte vgl. Scheffler (1999). Zu einem Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatte s. den Sammelband von Brock (2013). Zu verschiedenen Kosmopolitismusspielarten im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts s. Kleingeld (1999). 116 Der Einfluss antiker Autoren auf Kant wird an vielen Stellen deutlich. Für eine detailreiche Untersuchung von Kants Antike-Rezeption in seiner Dissertation, der Kritik der reinen Vernunft, der Grundlegung, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft vgl. Santozki (2006). Eine wichtige Quelle zu Kants Lektüre stellt fraglos Warda (1922) dar. 117 Der Begriff ist in seiner erstmaligen Verwendung für Diogenes von Sinope belegt – auch wenn er vielleicht auf Sokrates zurückgeht (vgl. Cicero, Tusculanae disputationes, V 8) –, der auf die Frage, woher er komme, geantwortet haben soll: »Ich bin ein kosmou politês.« (Diogenes Laërtius, VI 63). Vgl. zur Entwicklung des Begriffs des Weltbürgers Höffe (1999, 230–242). 118 Vgl. zur besonderen Bedeutung der Stoa für Kant auch Santozkis Einschätzung: »Die Grundtendenz der kantischen Philosophie ist vielmehr durch die hellenistischen Schulen, die er aus intensiver Eigenlektüre kannte, und vor allem stoisch geprägt« (2006, 7; zur Präsenz stoischer Ideen bei Kant vgl. auch Horn 2008). Diese Prägung – nicht nur mit Hinblick auf seine Kosmopolitismuskonzeption – wurde jedoch lange Zeit übersehen: »Man kann sogar – mit Ausnahme einer kurzen, noch zu Kants Lebzeiten beginnenden Phase – sagen, dass seine Philosophie wohl mehr mit allen anderen antiken Philosophen verglichen worden ist als mit derjenigen Schule, der er am meisten verpflichtet war: den Stoikern« (Santozki 2006, 7). Jedoch scheint Nussbaum in ihrem Endergebnis etwas zu weit zu gehen, wenn sie schreibt: »[W]e may say that Kant’s conception of a world politics in which moral norms of respect for humanity work to contain aggression and to promote mutual solidarity is a close adaptation of Cicero’s Stoic ideas to the practical problems of his own era« (Nussbaum 1997, 39).
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Weltbürgerlich
Diese Verwurzelung in der stoischen Kosmopolitismustradition führt zu ebenjenem oft apolitischen Verständnis von ›weltbürgerlich‹, welches uns in Kants Werk an zahlreichen Stellen begegnet. Es handelt sich bei Kants Kosmopolitismus vielfach um einen moralischen Kosmopolitismus, der nur bedingt einen politischen Kosmopolitismus nach sich zieht. 119 Unter moralischen Kosmopolitismus verstehe ich hier, wie auch Pauline Kleingeld (1997 u. 1999), die Position, dass alle Menschen einer universellen moralischen Gemeinschaft angehören, Teil eines gemeinsamen moralischen Kosmos sind. In der gegenwärtigen Debatte wird diese Position etwa von Nussbaum vertreten (1996). Unter politischem Kosmopolitismus verstehe ich – wieder ebenso wie Kleingeld – jene Position, dass eine weltumspannende, globale politische Ordnung etabliert werden müsse, die alle Menschen als Bürger dieser Ordnung umfasst. 120 Nussbaum hat dieses Verhältnis wie folgt beschrieben: In Kant as in Stoicism, this idea is less a specific political proposal than a regulative ideal that should be at the heart of both moral and political reflection and that supplies contraints upon what we may politically will. It also supplies moral motives and awe that provide powerful incentives to fulfill the moral law (Nussbaum 1997, 36). 121
Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Verwendung der Begriffe ›weltbürgerlich‹ und ›kosmopolitisch‹ bei Kant also festhalten, dass sie auf die kosmopolitische Dimension sehr unterschiedlicher GegenStoische Ideen spielen zweifelsohne eine große Rolle; um von einer »close adaptation« zu sprechen, sind die Unterschiede der beiden Konzeptionen aber zu offensichtlich. 119 Vgl. hierzu auch Kleingeld: »Kant adds to his moral cosmopolitanism a cosmopolitan political theory. He started out defending the strong view [cosmopolitan situation similar to a civil commonwealth] and only later modified it into the weak position [the formation of a league of states without coercive powers]« (Kleingeld 1999, 510). Zur Frage, ob Kant neben seinem moralischen Kosmopolitismus auch einen politischen vertritt, vgl. auch Kleingeld (1997). 120 Diese Position wird in der gegenwärtigen Debatte – nicht bloß als Ergänzung zu einem moralischen Kosmopolitismus, sondern gewissermaßen freistehend – etwa von Pogge (1992), Held (1995) und Habermas (1999) vertreten. 121 Man kann sich natürlich fragen, ob Nussbaum hier nicht den apolitischen Charakter sowohl der Stoa als auch von Kant ein wenig überbetont. Höffe weist beispielsweise zu Recht darauf hin, dass man nicht die gesamte Stoa als apolitisch oder nur gering politisch bezeichnen könne: Bei Zenon von Kition findet sich etwa die Idee eines homogenen Weltstaates (Höffe 1999, 236) und auch Kants Kosmopolitismuskonzeption hat durchaus politische Elemente. Es ist nur wichtig festzuhalten, dass sie sich nicht allein auf diese beschränkt, sondern auch apolitische Bereiche betrifft. Migration und Weltbürgerrecht
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stände verweisen und dabei durchaus eine apolitische Konnotation haben. Mit ihnen ist nicht notwendigerweise eine Forderung nach einer konkreten politischen Ordnung verbunden, wie es in der gegenwärtigen Debatte eher der Fall ist. Wie verhält es sich beim Begriff des ›Weltbürgers‹ ?
4.2 Weltbürger Der Begriff ›Weltbürger‹ taucht in Kants veröffentlichtem Werk an 13 verschiedenen Stellen auf. Der Großteil davon findet sich in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) – nicht in Zum ewigen Frieden (1795) oder der Rechtslehre (1797). An keiner Stelle liefert Kant eine Bestimmung des Begriffs. Manchmal hat es den Anschein, dass der Weltbürger lediglich ein Erdenbürger, also ein Bewohner der Welt sei, etwa wenn Kant in der Anthropologie dem Staatsbürger den ›bloßen‹ Weltbürger entgegensetzt. 122 Manchmal scheint der Weltbürger auch nur derjenige zu sein, der nicht in seinem Heimatland lebt. 123 In der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle steht der Weltbürger jedoch dem bloßen »Erdensohn« oder dem bloßen »Weltwesen« 124 oder dem »Weltbewohner« 125 gegenüber und zeichnet sich 122 »Denn wenn der Jüngling gleich früh genug das Vermögen hat, seine und eines Weibes Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch lange noch nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und sein Kind zu erhalten« (Anth, VII 325). 123 »Die Eingeschränktheit des Geistes aller Völker, welche die uninteressierte Neubegierde nicht anwandelt, die Außenwelt mit eigenen Augen kennen zu lernen, noch weniger sich dahin (als Weltbürger) zu verpflanzen, ist etwas Charakteristische an denselben, wodruch sich Franzosen, Engländer und Deutsche vor anderen vorteilhaft unterscheiden« (Anth, VII 316). 124 Hinsichtlich der Verpflichtungen von Eltern gegenüber ihren Kindern schreibt Kant: »Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel […] und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern ein Weltbürger in einem Zustand herüber gezogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann« (RL, VI 281). Vgl. auch die Reflexionen zur Anthropologie: »Man kan in Ansehung des interesse, was an dem, was in der Welt vorgeht, at, zwey Standpunkte nehmen: den Standpunkt des Erdensohnes und den des Weltbürger« (XV 517) und: »Hofleute sind Erdensohne. Weltbuerger muß die Welt als Einsaße und nicht als Fremdling betrachten. Nicht Weltbeschauer, sondern Weltbürger seyn« (XV 518). 125 Die einschlägige Passage stammt aus dem Opus postumum: »der Mensch als (Cosmopolita) Person (moralisches Wesen) sich seiner Freyheit bewuste Sinnenwesen
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Weltbürger
durch eine weltbürgerliche Haltung, einen weltbürgerlichen Standpunkt bzw. eine weltbürgerliche Perspektive aus: Vom Standpunkt des Erdensohnes »interessirt nichts als geschäfte, und was sich auf Dinge bezieht, so fern sie einflus auf unser wohlbefinden haben« (Reflexionen zur Anthropologie, XV 517). Vom Standpunkt des Weltbürgers aber »interessirt die Menschheit, das Weltganze, der Ursprung der Dinge, ihr innerer Werth, die letzten Zwecke, wenigstens gnug, um darüber mit Neigung zu urtheilen« (ebd.). Einen weiteren Gegenbegriff zum Weltbürger oder Kosmopoliten bildet im Opus postumum jener des Cosmotheoros, 126 des Weltbeschauers (XXI 553). Höffe hebt diesbezüglich zu Recht hervor, dass sich der »Kosmopolit« im Gegensatz »zu dem lediglich der Erkenntnis verpflichteten Cosmotheoros […] durch eine moralisch-praktische Einstellung aus[zeichnet]« (Höffe 2012, 61). In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) wird der Weltbürger darüber hinaus mit Vernunft und Planmäßigkeit assoziiert. 127 In der Schrift Über den Gemeinspruch (1793) wird er dem Privat- und Geschäftsmann sowie dem Staatsmann gegenübergestellt (Gemeinspruch, VIII 277). In der Anthropologie schließlich wird der Weltbürger als jemand bestimmt, der eine nichtegoistische Denkungsart vertritt. 128 Er ist jemand, der, wie Kant über die Deutschen bemerkt, keinen Nationalstolz hat, sondern »gleich als Kosmopolit, auch nicht an seiner Heimat« hängt. »In dieser aber«, so Kant weiter, »ist er gastfreier gegen Fremde, als irgend eine andere Nation« (Anth, VII 317). »Der Deut-
(Weltbewohner) das vernünftige Sinnenwesen in der Welt« (XXI 31, § 9). Zur Interpretation dieser Stelle s. auch Höffe (2012, 61). 126 »Cosmotheoros der die Elemente der Welterkentnis a priori selbst schafft aus welchen er die Weltbeschauung als zugleich Weltbewohner zimmert in der Idee« (Opus postumum, XXI 31 § 9) und: »Sie ist ein Princip der Formen 1 der Persönlichkeit in mir 2 der Weltbeschreibung, Cosmotheoros ausser mir 3tens (nach Spinoza) des Systems der Wesen die als in einem System in mir und dadurch ausser mir gedacht werden (im Gegensatz mit dem Erfahr. Princip)« (XXI 101). 127 »Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinktmäßig wie Tiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte wie etwa von den Bienen oder den Bibern von ihnen möglich zu sein« (Idee, VIII 17). 128 »Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten« (Anth, VII 130). Migration und Weltbürgerrecht
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sche«, so Kant in den Reflexionen zur Anthropologie, »[l]ernt alle Sprachen und übersetzt aus allen. Bey ihm ist ieder Fremde wie zu Hause.« Deutschland sei daher auch »das Land der Weltbürger« (R, XV 590, 1352). Es zeigt sich also, dass auch der Begriff des Weltbürgers bei Kant in einem gewissen Sinne apolitisch, d. h. von einer konkreten politischen Affiliation losgelöst, ist. Auch hier scheint wieder das antike Verständnis des Begriffes durch. Denn auch beim kosmou politês lag der Schwerpunkt, wie bereits erläutert, zunächst auf dem Kosmos, nicht auf der Polis: Der Ausdruck ›Bürger‹ bezog sich nicht auf die Mitgliedschaft in einer weltumspannenden politischen Gemeinschaft, vielmehr verwies er auf die Mitgliedschaft in einem gemeinsamen moralischen Kosmos. Diese Konnotation des Weltbürgerbegriffs findet sich auch bei Kant, etwa in jener Passage aus Zum ewigen Frieden, in der Kant die rechtliche Freiheit, die rechtliche Gleichheit und die rechtliche Abhängigkeit konstatiert und diskutiert: Die Gültigkeit dieser angebornen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte wurde durch das Prinzip der rechtlichen Verhältnisse des Menschen selbst zu höheren Wesen (wenn er sich solche denkt) bestätigt und erhoben, indem er sich nach eben denselben Grundsätzen auch als Staatsbürger einer übersinnlichen Welt vorstellt (ZeF, VIII 350).
Der Mensch wird hier als »Staatsbürger einer übersinnlichen Welt« angesehen, als zu der gehörig er sich selbst betrachten muss. Auch hier scheinen offenbar stoische Motive durch. 129
129 Vgl. etwa Seneca: »[K]ein Verbannungsort wird sich innerhalb der Welt finden; denn nichts, was innerhalb der Welt liegt, ist dem Menschen fremd. Allenthalben, wo sich der Blick von gleicher Ebene zum Himmel erhebt, ist in gleichem Abstand alles Göttliche von allem Menschlichen entfernt« (Ad Helviam, VIII 5). Oder: M. Claudius Marcellus zitierend, wobei es sich vermutlich um einen Verweis auf ein DemokritWort handelt: »Du hast dir soviel Bildung erworben, daß du wissen solltest, jeder Ort sei einem weisen Manne Vaterland« (Ad Helviam, IX 7). Vgl. hierzu Demokrit: »Dem weisen Mann steht die ganze Erde offen; das Universum (kosmos) ist das Vaterland der guten Seele« (Diels/Kranz 68B247). Und schließlich auch: »Die zwei schönsten Dinge werden uns folgen, wohin wir uns auch begeben: die allgemeine Natur und unser eigener sittlicher Wert« (Ad Helviam, VIII 2), welches auch eine Parallelstelle zu einem berühmten Kant-Wort darstellt: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht […]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« (KpV, V 161; vgl. zu dieser Feststellung Rozelaar 1976, 205 f.).
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Interessanterweise taucht in den dezidiert politischen Schriften Kants, in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre, der Begriff des Weltbürgers entweder gar nicht (ZeF) oder nur ein einziges Mal auf (RL) – und das auch nur im Rahmen des Privatrechts (RL, VI 281). Im Rahmen der Diskussion des Staats-, des Völker- und des Weltbürgerrechts verwendet Kant den Begriff des Weltbürgers nicht. Man könnte vermuten, dass dies der Fall ist, weil es sich eben auch beim Begriff des Weltbürgers um einen letztlich apolitischen Begriff handelt, der für Kant vielmehr von moralischer als von rechtsmoralischer Bedeutung ist.
4.3 Weltbürgerrecht Ganz anders verhält es sich mit dem Kompositum ›Weltbürgerrecht‹. 130 Dieser Ausdruck taucht bei Kant seltener auf als jener des Weltbürgers, darüber hinaus ausschließlich im Kontext der politischen Philosophie: Im gesamten veröffentlichten Werk kommt der Ausdruck Weltbürgerrecht – oder die lateinische Fassung ius cosmopoliticum – zehnmal vor: in Zum ewigen Frieden gehäuft und zwar siebenmal (VIII 349, 357, 360, 368, 371, 377 u. 384); in der Metaphysik der Sitten nur an drei Stellen (VI 210, 311 und 352). Beim Begriff des Weltbürgerrechts handelt es sich, anders als beim Begriff des Weltbürgers, um einen dezidiert politischen bzw. rechtsmoralischen Begriff. Von der Idee oder dem Gemeinspruch herkommend, könnte man vielleicht erwarten, dass mit dem Weltbürgerrecht jenes Recht 130 Auch mit Hinblick auf das Weltbürgerrecht geht Nussbaums Betonung der Parallelen zwischen Cicero und Kant wohl zu weit, wenn sie schreibt: »There are close parallels between the two thinkers’ discussion of the hospitality right« (Nussbaum 1996, 37). So ist es zwar richtig, dass Cicero die Bedeutung der Gastlichkeit (hospitalitas) betont und Kant später das Weltbürgerrecht »auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität« einschränken wird. Jedoch hat Cicero lediglich eine generelle Verpflichtung zur Gastfreundschaft im Blick, die darüber hinaus vorrangig privaten und dabei sogar durchaus instrumentellen Charakter hat sowie vor allem für bestimmte Personengruppen gilt (Cicero, De officiis, II 64). Dies verhält sich bei Kants Weltbürgerrecht anders, wie ich im nächsten Kapitel herausarbeiten werde. Nussbaum weist aber durchaus auch auf wichtige Unterschiede zwischen den Stoikern und Kant hin. Beispielsweise findet sich bei den Stoikern keine Ablehnung des Kolonialismus, wie sie in Kants Formulierung des Weltbürgerrechts eine Rolle spielt (Nussbaum 1996, 38).
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beschrieben wird, welches den weltbürgerlichen Zustand bzw. die Weltrepublik reguliert. 131 Dies ist aber unwahrscheinlich. Erstens aus einem textlichen Grund: Der Begriff des Weltbürgerrechts taucht erst ab 1795 in den Schriften Kants auf. Erst in der Friedensschrift wird Kant vom »Weltbürgerrecht« sprechen. 132 Zweitens aus mehreren inhaltlichen Gründen, die vor allem im nächsten Kapitel deutlicher zu Tage treten werden. In der Idee findet sich die Forderung nach einem Völkerbund, den Kant auch als den »weltbürgerlichen Zustand der äußeren Staatssicherheit« (Idee, Siebter Satz, VIII 26) beschreibt. Er formuliert die Hoffnung, dass »ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde« (Idee, Achter Satz, VIII 28). Die »gesetzmäßigen äußeren Staatsverhältnis [se]« werden von Kant hier als »Zustand«, der »einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich« sei, beschrieben (Idee, VIII 25), einem Völkerbund, der sich durch »vereinigte Macht« und »Gesetze des vereinigten Willens« auszeichnet (VIII 24). 133 Der Begriff des Weltbürgerrechts als Bezeichnung der dritten Rechtsphäre des öffentlichen Rechts taucht jedoch noch nicht auf. Ein systematischer Grund könn-
131 Byrd/Hruschka etwa bezeichnen das Weltbürgerrecht als »the law of world citizens« (2010, 205). Hier klingt ebenjenes Verständnis des Weltbürgerrechts als des Rechts an, welches den weltbürgerlichen Zustand reguliert, insbesondere wenn man ihre weiteren Ausführungen hinzunimmt: »People are world citizens, however, only in one united world state«, da Kant diesen aber ablehnen würde, wäre auch die ganze Bezeichnung »›cosmopolitan‹ […] somewhat misleading« (ebd.). Diese Deutung ist freilich in zweifacher Hinsicht problematisch: einerseits da der Ausdruck, wie in diesem Kapitel schon mehrfach angesprochen, in seiner Begriffsgeschichte nicht immer (nur) eine politische Bedeutung hatte – seine Wurzeln sogar eher apolitisch sind; andererseits auch weil das Weltbürgerrecht nicht Kants Bezeichnung für das Recht innerhalb der Weltrepublik ist, wie im Weiteren ausgeführt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Keils Interpretation des Weltbürgerrechts als »negatives Surrogat des Weltstaatsbürgerrechts« (2009, 43). 132 Vgl. zu dieser Problematik auch Hackel: »Zu der begrifflichen Verwirrung trägt bei, daß Kant den Terminus des weltbürgerlichen Zustands auch nach Einführung des Weltbürgerrechts weiter als Bezeichnung für den im Weltstaat bestehenden öffentlichen Rechtszustand gebraucht« (Hackel 2000, 96 f.). 133 Zu einer Gesamtinterpretation des Siebten Satzes der Idee mit einem Schwerpunkt auf den Unterschieden der Völkerbundkonzeption in diesem Text und späteren Texten Kants vgl. Kleingeld (2011).
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Weltbürgerrecht
te hierfür sein, dass es innerhalb eines staatenähnlichen weltumspannenden Gebildes keines Weltbürgerrechts bedarf. 134 Im Gemeinspruch klingt Kants Forderung zunächst bescheidener: die Not des zwischenstaatlichen Naturzustandes soll »doch zu einem Zustande zwingen, der zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist« (Gemeinspruch, VIII 311). Dieses Völkerrecht ist aber im Gemeinspruch noch umfassender zu verstehen als später in Zum ewigen Frieden: »ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen)« (VIII 312). Nun könne man dies zwar für »ein bloßes Hirngespinst« halten (ebd.). Kant vertraut jedoch auf die Theorie, die von dem Rechtsprinzip ausgeht, wie das Verhältnis unter Menschen und Staaten sein soll, und die den Erdengöttern die Maxime anpreiset, in ihren Streitigkeiten jederzeit so zu verfahren, daß ein solcher allgemeiner Völkerstaat dadurch eingeleitet werde, und ihn also als möglich (in praxi), und daß er sein kann, anzunehmen (VIII 313; Hervorhebung K. R.)
Im Gemeinspruch geht Kant noch von einer Zweiteilung des Rechts in Staatsrecht und Völkerrecht aus. 135 Der Begriff des Weltbürgerrechts, als diese zwei Rechtsphären ergänzendes Recht, kommt auch hier noch nicht vor. 136 Das Weltbürgerrecht wird im nächsten Kapitel ausführlich diskutiert werden, daher werde ich mich hier zunächst darauf beschränken, die relevanten Passagen zum Weltbürgerrecht lediglich zu nennen: In der Schrift Zum ewigen Frieden bestimmt Kant als eine der drei Sphären des Rechts jene, »die nach dem Weltbürgerrecht, sofern Menschen und Staaten, in äußerem aufeinander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats an134 So etwa Gerhardt: »Denn in einer Weltrepublik bedürfte es des Weltbürgerrechts nicht« (1995, 104). 135 Der Ausdruck ›weltbürgerlich‹ bezeichnet den bürgerlichen Rechtszustand auf Weltebene. Vgl. hierzu auch Hackel (2000, 96). 136 Vgl. zum Unterschied der Konzeptionen in der Idee und im Gemeinspruch im Gegensatz zu jenen in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre auch Niesens Einschätzung: »Der Kant der ›weltbürgerlichen Verfassung‹ ist ein Autor des globalen institutionellen Kosmopolitismus. Der Kant des ›Weltbürgerrechts‹ ist ein Theoretiker des Kosmopolitismus in einem Land« (Niesen 2012, 327).
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zusehen sind (ius cosmopoliticum)« (ZeF, VIII 349). Hier könnte man meinen, dass aus dem Weltbürgerrecht die Forderung nach einem weltumspannenden Staat, einer Weltrepublik abzuleiten ist und das Weltbürgerrecht dann das Recht wäre, welches den bürgerlichen Rechtszustand auf Weltebene regulieren würde. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Später findet sich dann im dritten Definitivartikel der Schrift die berühmte Formulierung: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (VIII 357). Am Ende desselben Definitivartikels heißt es dann: »So ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als des Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden« (VIII 360). Im ersten Zusatz der Friedensschrift nimmt Kant innerhalb der Diskussion der Friedensförderlichkeit des Handelsgeists noch einmal auf das Weltbürgerrecht Bezug. 137 In der Friedensschrift finden sich noch zwei weitere Erwähnungen des Weltbürgerrechts: im ersten Teil des Anhangs »Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden« in der Trias »Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht« (VIII 371), aber ohne dass eine inhaltliche Bestimmung beigefügt ist, und im zweiten Anhang »Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts« in der etwas dunklen Passage: »Was das Weltbürgerrecht betrifft, so übergehe ich es hier mit Stillschweigen: weil wegen der Analogie desselben mit dem Völkerrecht die Maximen desselben leicht anzugeben und zu würdigen sind« (VIII 384). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Ausdruck ›weltbürgerlich‹ bei Kant tatsächlich in einer großen Vielfalt auftaucht und in sehr verschiedenen Kontexten verwendet wird, was mit gewissen Bedeutungsverschiebungen einhergeht. Darüber hinaus weicht Kants Verwendungsweise von dem gegenwärtig vorherrschenden politischen Verständnis des Begriffs ab. 138
137 Die Einordnung dieser Passage wird insbesondere im Rahmen der Erörterung der Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts noch einmal zu diskutieren sein (Kap. 9). 138 Für einen Ansatz, der die verschiedenen Verwendungen ordnet, vgl. Höffe (2012, 47–65).
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Weltbürgerrecht
Die Verwendungsweise des Ausdrucks ›Weltbürger‹ ist zwar weniger facettenreich. Die apolitische Grundtendenz setzt sich aber auch hier fort: Der Weltbürger wird in vielen Bedeutungsdimensionen diskutiert, jedoch nicht als Bürger eines irgendwie gearteten politischen Gemeinwesens. Der Weltbürger ist nicht als der Bürger des weltbürgerlichen Zustands zu verstehen. Beim Begriff des Weltbürgerrechts handelt es sich dagegen um einen dezidiert politischen Begriff. Dessen Kontext in der Friedensschrift und der Rechtslehre, sein genauer Inhalt und dessen genaue Ausformung sowie Begründung stellen die Schwerpunkte der folgenden Kapitel dar.
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5. Zum Kontext und den Adressaten des Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre
Nachdem im 18. Jahrhundert schon eine Reihe von Friedenskonzeptionen veröffentlicht worden waren, legt Kant 1795 seine Friedensschrift vor. 139 Geschrieben unter dem Eindruck des Basler Sonderfriedens, entwickelt Kant in Zum ewigen Frieden eine Friedenskonzeption, die insbesondere im 19. Jahrhundert viel kritisiert wurde, 140 allerdings bald auch große Wirkungsmacht entfalten sollte. Nach dem Vorbild eines klassischen Friedensvertrags gliedert sich diese Schrift in Präliminarartikel, welche die negativen Bedingungen eines »ewigen Friedens« enthalten, 141 verstanden als »das Ende aller Hostilitäten« (ZeF, VIII 343); das Ende aller Feindseligkeiten. Sodann folgen Definitivartikel, welche die hinreichenden Bedingungen zur Herstellung des Friedenszustandes nennen, zuletzt noch zwei Zusatzartikel und ein Anhang. Der erste Zusatz formuliert eine »Ga139 Darunter der berühmte Friedensplan des Abbé Saint-Pierre. Für einen Überblick über die Friedensdebatte in Deutschland um 1800 s. Dietze (1989). Zur Friedensdiskussion vor Kant s. auch Merle (2004). Eine gute Auswahlbibliographie zu diesem Thema findet sich in (Höffe 2004a, 273 f.). Zu Kants Rezeption des Friedensplans des Abbé s. Patzig (1996, 14–16); auch Wood (1996, 69–72). 140 Teile von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) lassen sich beispielsweise als eine implizite Kritik an Kants Weltbürgerrechtskonzeption lesen: Nach § 351 dürfen »zivilisierte Nationen andere, welche ihnen in den substantiellen Momenten des Staates zurückstehen […] als Barbaren mit dem Bewußtsein eines ungleichen Rechts, und deren Selbstständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln.« Auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie im beginnenden 20. Jahrhundert wird Kant immer wieder vorgeworfen, die ›Kulturmission‹ der europäischen Staaten nicht hinreichend argumentativ untermauert zu haben. Zu einer ausführlichen Darstellung der Kritik an Kants Weltbürgerrechtskonzeption »im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus« s. exemplarisch Cavallar (1992, 235–241). 141 Für einen Gesamtkommentar zu Zum ewigen Frieden unter Einbeziehung der entsprechenden Passagen aus der Rechtslehre s. Eberl/Niesen (2011), auch Patzig (1996). Zur Interpretation der einzelnen Präliminarartikel s. Gerhardt (1995, 41–73), Saner (2004), auch Hidalgo (2012, 60–66) und Rimoux (2015, 65–84). Zu der Bezeichnung der Präliminarartikel als »negative Bedingungen des Friedens« s. Saner (2004).
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rantie des ewigen Friedens« (ZeF, VIII 360). 142 Beim zweiten handelt es sich – dem Vorbild wirklicher Friedensverträge folgend und sie zugleich persiflierend – um einen geheimen Artikel, der dann doch nichts anderes enthält als die Forderung nach Öffentlichkeit. Dem gesamten Entwurf ist darüber hinaus eine clausula salvatoria vorangestellt. 143 Für den hier verfolgten Zusammenhang sind die Definitivartikel entscheidend und hierbei vor allem der dritte. Die Definitivartikel gliedern sich nach den drei Sphären des öffentlichen Rechts: dem Staatsrecht, dem Völkerrecht und dem Weltbürgerrecht. 144 Der erste bezieht sich auf das Staatsrecht und formuliert die Forderung, dass alle Staaten republikanisch werden sollen (ZeF, VIII 349). Der zweite hat eine völkerrechtliche, d. h. zwischenstaatliche, Bedingung zum Inhalt: »Das Völkerrecht soll auf einem Föderalism freier Staaten gegründet sein« (VIII 354). Im dritten Definitivartikel führt Kant dann eine dritte Sphäre des öffentlichen Rechts ein. Nach dem Staatsrecht, welches das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern zum Inhalt hat, und dem Völkerrecht, welches das Verhältnis verschiedener Staaten untereinander betrifft, erläutert Kant nun, wie sich Individuen und Gruppen gegenüber fremden Staaten, nichtstaatlichen Gruppen und Gemeinwesen und diese wiederum gegenüber fremden Individuen, Gruppen und Gemeinwesen verhalten sollen. Diesen dritten Bereich des öffentlichen Rechts bezeichnet Kant als Weltbürgerrecht. Die Ergänzung der Rechtssphären des Staatsrechts und des Völkerrechts um eine dritte, und die sich daraus ergebende Dreiteilung des öffentlichen Rechts, stellt philosophiehistorisch eine Neuerung dar. Sie rückt Individuen in Hinblick auf ihre grenzüberschreitenden, zwischenstaatlichen Interaktionen in den Vordergrund. 145 In der Friedensschrift bestimmt Kant das Weltbürgerrecht als »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden« (VIII 358). Dies heißt aber nicht, dass das Weltbürgerrecht sich nur Zur Interpretation der Garantie vgl. etwa Ypi (2010), Höffe (2011) und Hidalgo (2012, 66–74). 143 Zu einer detaillierten Interpretation der clausula salvatoria vgl. Gerhardt (1995, 33–40). 144 Zu einer detaillierten Interpretation der einzelnen Definitivartikel s. Gerhardt (1995, 74–106). Ebenso Kersting (2004), Höffe (2004) und Brandt (2004a), auch Rimoux (2015, 84–124). 145 Vgl. hierzu auch Höffe (1999b, 13). 142
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an Individuen richtet, wie die weiteren Beispiele, die Kant anführt, schnell deutlich machen: Auch nomadische Stämme, die »handeltreibenden Staaten unseres Weltteils« (ebd.) und die Reaktionen von China und Japan auf die selbigen werden im weiteren Verlauf diskutiert. In der Rechtslehre erwähnt Kant sowohl »Erdbürger« (VI 353) als auch Völker (VI 352 f.) sowie »Hirten- oder Jagdvölker« – »wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen« (VI 353) – als Adressaten des Weltbürgerrechts. Der Begriff des Volkes ist bei Kant dabei, vor allem in der ersten hier angeführten Verwendung, nicht als allzu weit vom Begriff des Staates entfernt zu verstehen. In § 53 der Rechtslehre erläutert Kant, dass man den Begriff des Volkes nämlich auch in rechtlicher Bedeutung verstehen könne: Dann seien die Angehörigen eines Volkes »als von einer gemeinschaftlichen Mutter (der Republik) geboren« zu betrachten, »deren Glieder (Staatsbürger) alle ebenbürtig sind«, und die als Bürger einer Republik den Naturzustand verlassen haben. Weiterhin weist Kant darauf hin, dass das »Völkerrecht« eigentlich »Staatenrecht« heißen müsse (VI 343). Kleingeld fasst das Verhältnis von Volk und Staat bei Kant daher wie folgt zusammen: »In beiden Fällen ist deutlich, daß ›Volk‹ die politische Institution bezeichnet, die auch Staat genannt wird« (Kleingeld 1997, 339 Fn.). 146 Nicht vergessen sollte man jedoch, dass Kant neben den staatlich verfassten Völkern auch jene Gruppen betrachtet, die »wiederum wegen der gesetzlosen Freiheit, die sie gewählt haben, […] gleichfalls Völkerschaften, aber nicht Staaten ausmachen« (VI 343). Kant diskutiert also sowohl staatlich verfasste Völker wie auch nichtstaatliche Völker bzw. Völkerschaften. Dass sich das Weltbürgerrecht aber eben auch an Staaten – nicht nur an Völker – richtet, wird dabei schon in einer früheren Passage aus Zum ewigen Frieden deutlich. In einer Fußnote zu Beginn der Erläuterung der Definitivartikel schreibt Kant: Es handele sich um die Rechtssphäre des Weltbürgerrechts »so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als
146 Hierzu auch Höffe: »Von Anfang an – ›Völker als Staaten‹ (354, 3) – meint er nicht ›gentes‹, ›Blutsgemeinschaften‹, sondern ›civitates‹, also jene Völker im Sinne von Bürgerschaften, die die Verfassungssprache meint, wenn sie sagt: ›Alle Gewalt geht vom Volke aus‹. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Staaten ethnisch homogen oder heterogen, ob es homogene Nationalstaaten oder multinationale Staaten sind« (2004, 110).
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Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind« (VIII 349 Fn.; Hervorhebung K. R.). Das Weltbürgerrecht richtet sich also an Staaten sowie an nichtstaatliche Gruppen, Verbände, Gemeinwesen und Individuen gleichermaßen. 147 Individuen werden dabei nicht in Bezug auf ihren Heimatstaat angesprochen, sondern vielmehr in ihrem Verhältnis zu einem Staat, dessen Staatsbürger sie gerade nicht sind: »Nicht unter das Weltbürgerrecht fällt der Schutz der Bürger vor dem eigenen Staat« (Hackel 2000, 93). 148 Die Menschen und Menschengruppen müssen dabei nicht im Privatbesitz des von ihnen bewohnten Territoriums stehen, um in die Sphäre des Weltbürgerrechts zu fallen: Gerade von den nomadisch lebenden Hirten- und Jagdvölkern, die Kant in § 62 der Rechtslehre erwähnt, nimmt er an, dass sie gar kein Privateigentum des Bodens kennen würden (Allgemeine Anmerkung B, VI 324). Trotzdem sind sie Adressaten des Weltbürgerrechts. Privateigentum an Grund und Boden ist demnach keine Voraussetzung, um von der im Weltbürgerrecht angelegten Möglichkeit der Abweisung Ankommender Gebrauch zu machen. Dieser Umstand ist insbesondere bezüglich Kants Position zum Kolonialismus (Kap. 7) wie auch der Frage, ob Kant berechtigte von unberechtigten Abweisungsgründen unterscheiden kann, relevant (Kap. 13). Das Weltbürgerrecht betrifft also internationale und transnationale, grenzüberschreitende Interaktionen. Kant verwendet für diese Interaktionen in der Rechtslehre auch den Ausdruck commercium. Dieser Ausdruck soll jedoch nicht nahelegen, wie einige Interpreten annehmen, dass das Weltbürgerrecht sich allein mit Handel beschäftigt. 149 Dass dies nicht der Fall sein kann, zeigt sich schon darin, dass 147 Byrd/Hruschka vertreten in ihrem Kommentar zur Metaphysik der Sitten die Position, dass Kant in der Rechtslehre sich an Völker bzw. Staaten richtet und nicht an Individuen: »[C]osmopolitan law in the Doctrine of Right does not govern the rights of an individual stranger, but instead the rights of ›a people‹ ›to offer themselves to each other for commerce‹. Not individual persons, but instead a whole people have this right« (2010, 208). Kleingeld bemerkt zu Recht, dass der Verweis auf »das Recht des Erdbürgers« nahelegt, dass Kant auch in der Rechtslehre weiterhin Einzelpersonen in den Blick nimmt (2012, 74 Fn.). 148 Inwiefern das Weltbürgerrecht auch auf Staatenlose angewendet werden kann, ist in der Literatur umstritten. Diese Frage wird ausführlicher in Kapitel 14 der vorliegenden Studie diskutiert. 149 Dagegen beispielsweise Shell (1980, 175) und Thompson (2008). Byrd/Hruschka sind der Ansicht, dass Kant den Ausdruck ›Verkehr‹ zwar generell weiter verstehe, im
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der Begriff commercium bereits in der Kritik der reinen Vernunft als »ein wechselseitiger Einfluß, d. i. eine reale Gemeinschaft« bestimmt wird (B 261/A214). In der Rechtslehre wird er dann ganz ähnlich, nämlich als eine Situation »der physischen möglichen Wechselwirkung« (VI 352) beschrieben. Kant hat also einen sehr umfassenden Begriff von commercium. Jedweder wechselseitige Einfluss jenseits des eigenen Heimatlandes ist demnach Gegenstand des Weltbürgerrechts. Dass der dritte Definitivartikel nicht allein Handelsbeziehungen bezieht, wird zum Ende desselbigen noch einmal besonders deutlich. Dort schreibt Kant, »daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird« (ZeF, VIII 360). 150 Kleingeld fasst diesen Passus treffend zusammen, indem sie schreibt: »Here the community in question is clearly not an economic one, but rather community of right and a community of concern« (2012, 76). Auch die Wiederaufnahme des Begriffs commercium im Rahmen der Tugendlehre (§ 48) legt nahe, dass dieser nicht allein auf Handelsbeziehungen bezogen sein kann. Dort schreibt Kant: Es ist Pflicht, so wohl gegen sich selbst, als auch gegen andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten unter einander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas) […]; zwar sich einen unbeweglichen Mittelpunkt seiner Grundsätze zu machen, aber diesen um sich gezogenen Kreis doch auch als einen, der den Teil von einem allbefassenden, der weltbürgerliche Gesinnung, ausmacht, anzusehen (VI 473; Hervorhebung K. R.). 151
Kontext des Weltbürgerrechts verweise er aber nur auf ›Handelsverkehr‹ (Byrd/ Hruschka 2010, 209). Für sie ist das Weltbürgerrecht, wie es in der Rechtslehre diskutiert wird, ein Vorläufer zum General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) (ebd.). Diese Interpretation verwundert, da die Inhalte des GATT wie etwa Zölle, innerstaatliche Subventionen und dergleichen in Kants Weltbürgerrecht keinerlei Rolle spielen. Kleingeld erläutert dagegen zutreffend (2012, 75), dass Kant neben dem Ausdruck ›Verkehr‹ auch viele Begriffe verwendet, die sich schwerlich allein wirtschaftlich verstehen lassen, etwa das berühmte »sich zur Gesellschaft anzubieten« (VIII 358) oder den Passus »die Gemeinschaft versuchen« (VI 353). Flikschuh ist auch der Ansicht, dass es in Kants Weltbürgerrecht primär um wirtschaftliche Beziehungen gehen würde. Jedoch bezeichnet sie mit dem Ausdruck ›wirtschaftliche Beziehungen‹ alle Beziehungen mit Auswirkungen auf Besitz- und Eigentumsverhältnisse (Flikschuh 2000, 189). 150 Vgl. dazu auch die Entsprechung aus der Rechtslehre: »daß Übel und Gewalttätigkeit, an einem Ort unseres Globs, an allen gefühlt wird« (VI 353). 151 Zum Begriff des ›Verkehrs‹ und seiner philosophischen Funktion bei Kant s. auch Williams (2015).
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Zum Kontext und den Adressaten des Weltbürgerrechts
Das Weltbürgerrecht betrifft also alle Formen grenzüberschreitender Interaktion wie etwa Handel, aber auch Reisen, Pilgerfahrten, Ausund Einwanderung sowie alle Arten akademischen und künstlerischen Austausches. 152 Ein weiterer Aspekt des Weltbürgerrechts, der nur allzu schnell übersehen wird, ist, dass es sich sowohl mit Interaktionen auseinandersetzt, die freiwillig, als auch mit solchen, die unfreiwillig zustande kommen: Das Weltbürgerrecht betrifft sowohl jene Personen, die Handelsbeziehungen etablieren möchten, als auch jene Personen, die nach einem Sturm als Schiffsbrüchige an Land gespült werden. Im Entwurf zu Zum ewigen Frieden unterscheidet Kant sogar explizit zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Interaktionen: Wer diesen [den Besuch] Willkührlich macht kann allerdings von den Einwohnern abgewiesen aber nicht bekriegt werden der aber unwillkührlich dahin verschlagen wird (ein Schiff das im Sturm einen Nothhafen sucht oder ein gestrandestes Schiffsvolk) kann nicht von den Küsten oder Oase wohin er sich gerettet hat in die drohende Gefahr wieder verjagt noch weniger erobert werden sondern muß bis zur günstigen Gelegenheit der Abkunft daselbst seinen Aufenthalt finden können (XXIII 173). 153
Ob sich jemand aber aufgrund von ungünstigen Umständen, die sich seiner Kontrolle entzogen, in einem fremden Land aufhält, wie im Falle des Schiffsbrüchigen, oder ob es seine Entscheidung war anzulanden, wie im Falle des Handeltreibenden, hat Implikationen für die Verpflichtungen, die gegenüber dieser Person bestehen. In der Rechtslehre behält Kant die bereits in Zum ewigen Frieden angelegte Dreiteilung des öffentlichen Rechts bei: Nachdem Kant dort zunächst eine Untersuchung des Privatrechts vornimmt, folgt im zweiten Teil der Rechtslehre auf das Staatsrecht eine Unter-
Vgl. hierzu u. a. Kleingeld (1998, 75), Eberl/Niesen (2011, 251), Höffe (2012, 258). Vgl. hierzu eine interessante Parallelstelle aus dem § 17 im Sachenrecht (in der Ludwig-Edition § 16): »Das Stranden aber, es sei der Menschen, oder der ihnen zugehörigen Sachen, kann, als unvorsätzlich, von dem Strandeigentümer nicht zum Erwerbrecht gezählt werden; weil es nicht Läsion (ja überhaupt kein Faktum) ist, und die Sache, die auf einen Boden geraten ist, der doch irgend einem angehört, nicht als res nullius behandelt werden kann« (VI 269 f.). Zwar steht diese Passage in einem ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang, nämlich der Deduktion des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung, festhalten kann man dennoch für den hier verfolgten Zusammenhang folgende Punkte: Das Stranden wird als unvorsätzlich bestimmt. Es stellt kein Faktum dar, d. h. nichts ›Gemachtes‹, keine Handlung. Weiterhin ist es daher auch keine Läsion, keine Verletzung. 152 153
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suchung des Völkerrechts und schließlich des Weltbürgerrechts. Im Unterschied zu Zum ewigen Frieden wird das Thema Migration deutlicher in allen Teilen der Rechtslehre berührt: So wird beispielsweise die Errichtung von Kolonien sowohl im Privatrecht diskutiert (§ 15) wie auch im Völkerrecht (§ 58) und im Rahmen des Weltbürgerrechts (§ 62). Im Folgenden werde ich Kants Weltbürgerrecht eingehend hinsichtlich seines Inhalts und der Form der aus ihm resultierenden Verpflichtungen und Rechte untersuchen, um anschließend die Implikationen, die sich hieraus für Fragen zum moralisch und rechtsmoralisch angemessenen und richtigen Umgang mit Wanderungsbewegungen und Migration ergeben, darstellen zu können.
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6. Hospitalität und Hostilität: Zum Inhalt des Weltbürgerrechts I
Der dritte Defintivartikel von Zum ewigen Frieden lautet: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (VIII 357). Es fordert, wie wir bereits gesehen haben, dass ein Fremder »seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen von diesem nicht feindselig behandelt« werde, »solange er […] auf seinem Platz sich friedlich verhält« (VIII 358). Hospitalität und Feindseligkeit – oder eben Hostilität – sind also zwei zentrale Begriffe des Weltbürgerrechts bei Kant. Ich werde im Anschluss zunächst das von Kant hier formulierte Recht auf Hospitalität genauer untersuchen (Kap. 6.1). Danach werde ich mich der mit ihm verbundenen Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten zuwenden (Kap. 6.2). In Kapitel 6.1 wird zunächst zu untersuchen sein, was Kant unter ›Hospitalität‹ versteht (Kap. 6.1.1) und was es heißen soll, dass es sich bei der im dritten Definitivartikel geforderten Hospitalität um eine ›allgemeine‹ Hospitalität handeln soll (Kap. 6.1.2). Außerdem wird diskutiert werden, was es bedeutet, dass das Weltbürgerrecht auf diese allgemeine Hospitalität ›eingeschränkt‹ werden soll (Kap. 6.1.3). Insbesondere hierfür ist ein Blick auf zwei Vorgänger Kants, Vitoria und Grotius, hilfreich, um in einem kurzen Vergleich mit ihnen Kants Position deutlicher herauszustellen (Kap. 6.1.4 u. Kap. 6.1.5). Im auf diesen Vergleich folgenden Unterkapitel wird festgestellt, dass Kant, anders als in der Friedensschrift, in der Rechtslehre den Ausdruck Hospitalität nicht verwendet. Es wird argumentiert werden, dass dies einmal mehr auf die Betonung des Rechtscharakters der im Weltbürgerrecht formulierten Forderungen hinweist (Kap. 6.1.6). Weiterhin wird in diesem Kapitel die in der gegenwärtigen Debatte häufig vorgefundene Verkürzung des Weltbürgerrechts auf ein Recht auf Hospitalität zu erörtern sein. Diese Verkürzung wird zurückgewiesen (Kap. 6.1.7) und anschließend an einem Anwendungsfall illustriert werden: dem China-Japan-Beispiel Migration und Weltbürgerrecht
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in der Friedensschrift. Die isolationistische Politik Chinas und Japans scheint zunächst in einer gewissen Spannung zum Recht auf Hospitalität zu stehen. Kant kritisiert diese Politik jedoch nicht; er scheint sie sogar gut zu heißen (Niesen 2007, 90–108). Hieraus ergibt sich die Frage, ob dies einen Widerspruch darstellt oder ob sich das Beispiel mit der im Weltbürgerrecht geforderten Hospitalität vereinbaren lässt. Anhand des China-Japan-Beispiels lässt sich erneut die Zweischneidigkeit des Weltbürgerrechts veranschaulichen (Kap. 6.1.8). Im Unterkapitel 6.2 wird zunächst der Begriff der Feindseligkeit bei Kant erläutert (Kap. 6.2.1), bevor dieser auf das Weltbürgerrecht angewandt wird (Kap. 6.2.2). Anschließend wird auf eine in der KantForschung diskutierte Frage einzugehen sein, die für das Verständnis des Weltbürgerrechts nicht unerheblich ist: Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden, dass das Weltbürgerrecht in einem Spannungsverhältnis zu den Eigentumsrechten zu stehen scheint, da eine ankommende Person einen Raum einnimmt. Die Nutzung dieses Platzes könnte man nun als eine Verletzung der Eigentumsrechte jener Person verstehen, der dieser Platz gehört (Kleingeld 1998, 80). Im letzten Teil des Kapitels werde ich mich daher mit der Frage auseinandersetzen, wie sich Kants Weltbürgerrecht zum Eigentum an Grund und Boden verhält. Ich werde dabei herausarbeiten, dass das Weltbürgerrecht nicht im Widerspruch zum Eigentumsrecht steht und daher die Beanspruchung eines Platzes im Sinne des Weltbürgerrechts auch nicht als Feindseligkeit zu betrachten ist (Kap. 6.2.3). Die im letzten Teil dieses Kapitels behandelte Frage ist dabei auch über die Kant-Forschung hinaus interessant: In welchem Verhältnis Migrationsbewegungen und unsere Verpflichtungen gegenüber Ankommenden zu Eigentumsrechten stehen, wird beispielsweise auch in der gegenwärtigen Debatte um Migration immer wieder diskutiert. So basiert etwa, wie in Teil I dieser Studie erläutert, das von Carens ausgehend von Nozick entwickelte libertäre Argument für die Öffnung von Grenzen auf der Annahme, dass das bloße Überschreiten der Grenze noch keine Rechtsverletzung darstellt und mit ihm keine Verletzung von Eigentumsrechten einhergeht. 154
154 Eigentumsrechte werden aber auch für die Rechtfertigung der Souveränität von Staaten mit Hinblick auf Zuwanderungsfragen angeführt; s. beispielsweise Pevnick (2011). Dagegen Carens (2016, 70–96).
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Das Recht auf Wirtbarkeit
6.1 Das Recht auf Wirtbarkeit Der Ausdruck Hospitalität ist für den heutigen Sprachgebrauch ungewöhnlich. Auch Kants erläuternder Zusatz im Haupttext, der Hospitalität als »Wirtbarkeit« bestimmt, hilft dem heutigen Leser bei der Erschließung dieser Passage kaum weiter. Eine genauere Untersuchung dieses Begriffs scheint daher angebracht zu sein. 155 Kleingeld hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ausdruck Hospitalität all zu leicht missverstanden werden kann »as meaning the right to be a guest« (2006, xx). Man könnte leicht den Eindruck gewinnen, Kant hätte hier generelle Verpflichtungen zur Gastfreundschaft im Sinn. Dies ist jedoch nicht der Fall. 156 Er erläutert vielmehr, dass »hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede« 157 sei, »und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden« (ZeF, VIII 357 f.). Kant macht hier darauf aufmerksam, dass es auch andere Kontexte gibt, in denen von Hospitalität gesprochen wird. Im Kontext des Rechts aber hat der Begriff eine spezifische Bedeutung, nämlich jene, die er anschließend erläutert.
6.1.1 Was ist Hospitalität? Kant versteht unter Hospitalität das Recht eines Fremden, »seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es 155 Zu einem Überblick über neuere Literatur zum Begriff der Hospitalität s. den Literaturbericht von Liebsch (2015). 156 Benhabib stellt daher zutreffend fest: »[H]ospitality is not to be understood as a virtue of sociability, as the kindness and generosity one may show to strangers who come to one’s land or who become dependent on one’s act of kindness through circumstances of nature or history« (2006, 22). Es ist daher nicht ganz zutreffend, das von Kant formulierte »Recht auf Hospitalität« mit Ciceros Recht auf Hospitalität parallel zu setzen, wie Nussbaum es tut (1997, 37). Wie bereits in Kapitel 4 erwähnt, hat Cicero in der von Nussbaum angeführten Passage eher ebensolche generellen Verpflichtungen der Gastfreundschaft im Sinn, wenn er schreibt, »daß die Häuser angesehener Persönlichkeiten angesehenen Gästen offenstehen« (De officiis, II 64). 157 Vgl. hierzu auch die Formulierung in den Vorarbeiten: »In diesem Artikel ist, so wie in den beyden vorigen, nur vom Recht nicht von der Philanthropie die Rede und da bedeutet Hospitalität …« (VAZeF, XXIII 172).
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ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen« (ZeF, VIII 357 f.). 158 Ein Fremder hat demnach das Recht, nicht feindselig behandelt zu werden – solange er sich selbst friedlich verhält. Es sei jedoch »kein Gastrecht worauf dieser [der Fremde] Anspruch machen kann […], sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten« (ebd.). 159 Man darf sich also »zur Gesellschaft anbieten«, die Entscheidung über die Aufnahme obliegt aber weiterhin dem potenziellen Gastgeber. Er hat das Recht, »alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus) ist« (RL, VI 353). Ein Staat besitzt nach dem Weltbürgerrecht also auch das Recht, einen Fremden abzuweisen, solange gewahrt bleibt, dass dies »ohne seinen Untergang geschehen kann« (ZeF, VIII 358). Jemanden, der sich aufgrund widriger Umstände auf dem Territorium eines fremden Staates befindet, dem darüber hinaus Gefahr für Leib und Leben drohen würde, wiese man ihn ab, darf man das Recht des Aufenthaltes nicht verwehren. 160 Es gibt demnach, wie auch Reinhard Brandt zu Recht betont, zwei Arten, wie das Weltbürgerrecht verletzt werden kann: »Dadurch, daß dem Ankömmling das Betreten des Bodens verweigert oder er als beliebige Sache behandelt wird, und umgekehrt durch die Anmaßung des Imperiums über das fremde Land« (Brandt 2004a, 143). 161 Das Recht, nicht feindselig behandelt zu werden, solange man sich selbst ebenfalls friedlich verhält, besteht unabhängig davon, 158 Wie weit der Begriff ›Untergang‹ zu verstehen ist, wird genauer in Kapitel 12.2 dieser Studie diskutiert werden. 159 Ähnlich in § 62 in der Rechtslehre: »sich zum Verkehr untereinander anzubieten« (RL, VI 352). Zum Begriff des Gastrechts im Unterschied zum Besuchsrecht s. LutzBachmann (2015). 160 Eberl/Niesen unterscheiden daher auch »eine positive und eine negative Bedeutung von Hospitalität«: »Ein rechtlicher Zustand soll in begrenztem Umfang etabliert werden; gleichzeitig sollen zu weitgehende, vereinheitlichende rechtliche Konsequenzen abgewehrt werden« (2011, 248 f.). 161 Ähnlich auch Williams: »It [Kantian hospitality] not only guards against violent rejection by those you seek to visit, but also guards against the abuse of our visitor rights to another state« (2007, 67). Später auch Waldron, der argumentiert, dass sich aus dem Weltbürgerrecht zwei Pflichten ergeben: »a duty not to treat another with hostility simply because he shows up with view to contact or commerce« und »a duty not to treat one’s visit or commercial approach as an occasion for oppression or exploitation« (2006, 90). Vgl. zu diesem Themenkomplex auch die Diskussion von Kants Position zum Kolonialismus in dieser Studie (Kap. 7).
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ob man sich freiwillig oder unfreiwillig auf dem Territorium eines fremden Staates befindet. Es besteht, wie bereits im fünften Kapitel dargestellt, sowohl wenn eine Person mit den auf einem fremden Territorium Ansässigen Handelsbeziehungen etablieren möchte wie auch, wenn sie als Schiffsbrüchige an Land gespült wurde.
6.1.2 Was ist ›allgemeine‹ Hospitalität? Die Bedingungen der Hospitalität, auf welche das Weltbürgerrecht eingeschränkt werden soll, werden von Kant als ›allgemein‹ qualifiziert. Wie ist diese Allgemeinheit zu verstehen? Kant unterscheidet in der Grundlegung zwei Begriffe von Allgemeinheit, die generalitas und die universalitas. Die generalitas beschreibt jene Regeln, die im Allgemeinen gelten, also eine komparative oder relative Allgemeinheit, während die universalitas eine strenge Allgemeinheit bezeichnet (GMS, IV 424). Von welcher Allgemeinheit spricht Kant nun, wenn er von der »allgemeinen Hospitalität« spricht? Man könnte zunächst vermuten, dass er hier eine Allgemeinheit im Sinne der generalitas im Blick hat: Die Hospitalität solle nicht allumfassend verstanden werden, sondern auf generelle Verpflichtungen eingeschränkt werden. 162 Aber gerade um diese generellen Verpflichtungen zur Gastfreundschaft scheint es Kant nicht zu gehen, wie bereits erläutert. Für die universalitas spricht darüber hinaus, dass Kant hier den Rechtscharakter – im Gegensatz zum philanthropischen Verständnis – betont: Recht muss aber für Kant gesetzmäßig sein, d. h. von strenger Allgemeinheit. Es ist folglich davon auszugehen, dass Kant die strenge Allgemeinheit im Blick hat; dass er hier also von einer allgemeingültigen, universalen, nicht bloß einer generellen Hospitalität spricht. 163
Vgl. zu dieser möglichen Einschätzung auch Kleingeld (2006, xx). Vgl. hierzu auch Kants Überlegungen in Zum ewigen Frieden hinsichtlich der Erlaubnisgesetze: »Sonst wird man bloß generale Gesetze (die im allgemeinen gelten), aber keine universale (die allgemein gelten) haben, wie es doch der Begriff eines Gesetzes zu erfordern scheint« (ZeF, VIII 348). Zum Begriff der Allgemeinheit bei Kant unter besonderer Berücksichtigung der Kritik der reinen Vernunft s. Messina (2015). Zum Begriff der Allgemeinheit des Gesetzes s. auch Freiin von Villiez (2015). 162 163
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6.1.3 Welche ›Einschränkung‹? Was heißt es aber, dass das Weltbürgerrecht auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität »eingeschränkt« sein soll? Was kann es bedeuten, dass etwas von universaler Anwendung »eingeschränkt« werden soll? Ist der Anwendungsbereich der Hospitalität eigentlich weiter, wie Jaques Derrida annimmt, für den die Einpassung der Gastfreundschaft in das Recht bei Kant bereits eine Beschränkung selbiger darstellt? 164 Soll das Weltbürgerrecht vielleicht sogar nur aus Machbarkeitsüberlegungen und nicht aus moralischen Gründen auf die allgemeine Hospitalität eingeschränkt werden, weil eine absolute Hospitalität nicht umsetzbar wäre, wie es Derridas weitere Überlegungen zu Kants Weltbürgerrecht nahelegen? Ähnlich wie man argumentieren könnte, dass Kant im zweiten Definitivartikel eigentlich die Weltrepublik favorisiert, aber aus Gründen der Machbarkeit für die ›zweitbeste Lösung‹, den Föderalismus freier Staaten, votiert, 165 könnte man daher annehmen, das Weltbürgerrecht sei eigentlich umfassender, würde aber aus Gründen der Umsetzbarkeit, etwa dem inhospitalen Betragen der Kolonialmächte, eingeschränkt. Es gibt mehrere Gründe, die gegen diese Lesart sprechen. Zwei möchte ich hier zumindest kurz benennen: Erstens diskutiert Kant im dritten Definitivartikel, anders als im zweiten, keine alternative Option. Wenn es sich bei dem von Kant ›eingeschränkten‹ Weltbürgerrecht nur um eine ›zweitbeste Lösung‹ handeln würde, bliebe textlich unklar, was die ›beste Lösung‹ wäre. Zweitens weist Kant explizit da164 Derrida ist der Ansicht, dass durch die Einschränkung auf die rechtliche Sphäre im dritten Definitivartikel das Recht auf Hospitalität selbst eine problematische Einschränkung erfährt bzw. sogar die Möglichkeit derselben »an der Wurzel beseitigt«: »Dies hängt mit der Juridizität des Diskurses zusammen, mit der Einschreibung des Prinzips der Gastfreundschaft in ein Recht, während doch die unendliche Idee der Gastfreundschaft dem Recht selbst widerstehen müßte – oder jedenfalls da, wo sie dieses Recht bestimmt, über es hinausgehen müßte« (2001, 55 f.). Und weiter: »Dem Fremden wird Gastfreundschaft geschuldet, gewiß, doch bleibt sie, wie das Recht, an Bedingungen geknüpft, und damit eine in ihrer Abhängigkeit von der Unbedingtheit, die das Recht begründet, bedingte Gastfreundschaft« (ebd., 57). Vgl. zu Derridas Auseinandersetzung mit der unbedingten zur bedingten Gastfreundschaft auch Schurken (2006, 199–201). Dort findet sich auch eine Liste der Quellen, in denen Derrida dieses Verhältnis diskutiert hat. Zu einem Vergleich der Hospitalitätsrechtskonzepte von Kant, Arendt und Derrida s. Liebsch (2008). 165 Diese Interpretation des zweiten Definitivartikels wird beispielsweise von Höffe vertreten (Höffe 2004b).
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rauf hin, dass der mögliche Missbrauch keinen Grund zur Einschränkung des Weltbürgerrechts darstellen kann. Denn er schreibt: »Dieser mögliche Mißbrauch kann aber das Recht des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen« (RL, VI 353). Viel eher scheint es sich bei dieser Einschränkung nicht um einen systematischen, sondern um einen historischen bzw. philosophiehistorischen Punkt zu handeln, wie Eberl und Niesen in ihrem Kommentar zu Zum ewigen Frieden herausgearbeitet haben. Im Gegensatz zu prominenten Vertretern der Naturrechtstradition vertritt Kant eine engere Konzeption des Weltbürgerrechts: »Wenn Kant formuliert, daß das Weltbürgerrecht auf die Bedingung der Hospitalität beschränkt ist, so grenzt er seine Konzeption ab von überschießenden Formulierungen seiner Vorgänger, die kolonialen Eroberungen den Weg bereiten konnten« (Eberl/Niesen 2011, 255). 166 Ein solcher Vorgänger war beispielsweise Vitoria. Eberl und Niesen weisen zwar zu Recht darauf hin, dass nicht nachweisbar ist, ob Kant jemals Vitoria gelesen hat (ebd.), 167 dennoch lassen sich an Vitoria exemplarisch die Argumentationsschritte von der Annahme eines universellen Hospitalitätsrechts hin zur Rechtfertigung kolonialer Landnahme darstellen. Ich werde daher im Folgenden sein Argument kurz darlegen.
6.1.4 Kants Vorgänger I: Vitoria In De Indis recenter inventis (1539) setzt sich Francisco de Vitoria zunächst kritisch mit klassischen Argumenten zum Recht der Spanier auf Landnahme gegen die »Barbaren« auseinander, etwa dass »der in der Todsünde Befindliche keinerlei Eigentum habe« oder »Eigentum durch Unglauben verloren« gehe oder auch, dass die »indischen Barbaren« aufgrund ihrer Unzurechnungsfähigkeit keinerlei Eigentumstitel innehaben könnten (I 5–24). Weiterhin lehnt er die Behauptung ab, dass der Kaiser oder der Papst einen Anspruch auf Weltherrschaft hätten (II 1 u. 3). Jedoch führt Vitoria dann aus, dass die Spanier »das Recht 166 S. auch Ripstein: »By restricting cosmopolitan right to the right to visit, Kant rejects the more expansive versions of cosmopolitan right that had been put forward in early modern defenses of European colonialism« (2009, 296). 167 Ebenso Kaufmann (2015a).
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[haben], in jene Länder einzuwandern und sich dort niederzulassen, sofern sie das tun, ohne den Barbaren damit ein Unrecht zuzufügen, und sie können von ihnen nicht daran gehindert werden« (III 2). Weiterhin haben sie das Recht, mit ihnen Handel zu treiben (III 3) – dies alles aufgrund der »natürliche[n] Gesellschaft und Gemeinschaft aller Menschen« (III 1). Auch an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen dürfen die Spanier durch die ansässige Bevölkerung nicht gehindert werden, »wenn es anderen Fremden erlaubt ist« (III 4). Weiterhin haben die Spanier nach Vitoria wie alle Christen »das Recht zu predigen und das Evangelium zu verkünden« (III 9), d. h. zu missionieren. Sollten die Spanier jedoch von der ansässigen Bevölkerung an der Ausübung ihrer Rechte gehindert werden, dann sollen sie zunächst »durch vernünftige Worte und Überredung jedes Ärgernis vermeiden und mit jedem Vernunftgrunde beweisen, daß sie nicht kommen, um ihnen zu schaden, sondern daß sie in friedlicher Weise bei ihnen wohnen und reisen wollen« (III 6). Aber wenn »die Barbaren sich nicht zufrieden geben, sie vielmehr mit Gewalt vorgehen wollen, so können die Spanier sich verteidigen und alles Notwendige zu ihrer Sicherheit unternehmen« (ebd.). Vitoria betont zwar, dass die Spanier dabei »alles unternehmen [sollen], um jenen den geringsten Schaden zuzufügen« (ebd.), jedoch ist er schließlich der Ansicht: »Wenn die Spanier, nachdem sie alles versucht haben, ihre Sicherheit gegenüber den Barbaren nicht erreichen können, ohne deren Städte zu besetzen und sie zu unterwerfen, so können sie dies auch erlaubterweise tun« (I, III 7). 168 Bei 168 Vitoria führt noch weitere Rechtstitel an, unter denen eine Herrschaft der Spanier über »die Barbaren« rechtmäßig wäre, die aber hier nicht weiter erörtert werden sollen. S. hierzu Vitoria De indis III 12. Auch von der Mission leitet Vitoria schließlich die Möglichkeit der Einsetzung einer Kolonialregierung ab: »Wenn ein guter Teil der Barbaren zu Christo bekehrt wäre, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, also auch wenn sie durch Drohung, Terror oder unter Nichtachtung ihres freien Entscheidungsrechts veranlaßt worden sein sollten, nichtsdestoweniger aber wahre Christen geworden wären, so kann der Papst aus einleuchtendem Grunde ihnen einen christlichen Fürsten geben und die anderen ungläubigen Herren entfernen« (III 14), wobei mit einem christlichen Fürst hier ein europäischer Fürst gemeint ist. Vgl. zu dieser Einschätzung auch Fisch (1984, 220). Die ansässige Bevölkerung kann aber durchaus auch »in eigener Erkenntnis der klugen Verwaltung und der Menschlichkeit der Spanier aus freien Stücken die Herrschaft des Königs von Spanien anerkennen« (III 16). Vitoria verweist noch auf einige weitere Rechtstitel. Cavallar ist gegen die hier vertretene Interpretation der Ansicht, dass für Vitoria der Missionsauftrag Spaniens »nicht die Unterwerfung der Eingeborenen« rechtfertigen würde (1992, 228). Zu einer ausführlichen Interpretation der Argumentation Vitorias vgl. auch Cavallar (2002, 74–119.)
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einer weiteren Verschärfung des Konfliktes »können die Spanier daraufhin sie nicht mehr wie Unschuldige, sondern wie treulose Feinde behandeln, jedes Recht des Krieges gegen sie verfolgen, sie sowohl berauben, in Gefangenschaft abführen, ihre früheren Herren absetzen und auch neue einsetzen« (I, III 8). Das heißt, sollte die ansässige Bevölkerung sich nicht damit zufrieden geben, dass die Spanier auf ihrem Land siedeln, missionieren und ihre natürlichen Ressourcen abbauen, und sich dagegen gewaltsam zur Wehr setzen, dann haben die Spanier das Recht, Land und Bevölkerung zu unterwerfen und eine Kolonialregierung einzusetzen. Aus der kosmopolitischen Annahme der »natürlichen Gesellschaft und Gemeinschaft aller Menschen« folgt für Vitoria – unter den ausgeführten Bedingungen – das Recht zur kolonialen Landnahme.
6.1.5 Kants Vorgänger II: Grotius Ein weiteres Beispiel für einen solchen Vorgänger, der aus dem Recht des Aufenthalts in einem fremden Territorium, wenn auch kein Recht zur kolonialen Unterwerfung, so doch zur Ansiedlung ableitet, ist Hugo Grotius, den Kant in der Friedensschrift auch erwähnt. 169 In De Jure Belli Ac Pacis (1625) setzt sich Grotius unter anderem mit den Zugangsrechten von Personen zum Territorium eines fremden Staates auseinander. Er vertritt beispielsweise die Position, dass es Fremden gestattet sein muss, durch das Staatsterritorium hindurch zu ziehen »für gerechte Zwecke«, d. h., »z. B. wenn jemand aus seinem Lande verjagt, in die Fremde gehen will oder wenn man mit einem jenseitigen Volke einen Handel treiben will oder wenn man das Seinige durch einen gerechten Krieg erlangen will« (II, 2 XIII). Dieses Recht auf Durchzug kann auch nicht durch »die Furcht vor der großen Zahl der Durchziehenden« verweigert werden (ebd.). Auch könne man nicht einwenden, »daß der Durchzug auch anderwärts geschehen könne: denn wenn jeder so spräche, so würde das Recht des Durchzugs vernichtet« (ebd.). Außerdem müsse es den
169 Diese Erwähnung erfolgt allerdings nicht im Zusammenhang des Weltbürgerrechts, sondern bereits im zweiten Definitivartikel. Dort wird Grotius von Kant neben Pufendorf und Vattel als einer der »leidige[n] Tröster« angeführt. Zur Interpretation dieser Passage s. Cavallar (2005b). Für einen Vergleich von Grotius und Kant s. Pinheiro Walla (2016) und Huber (2017a).
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Durchreisenden erlaubt sein, sich für einige Zeit im Land aufzuhalten: »Daraus folgt auch, daß vorübergehend eine Hütte errichtet werden darf, etwa an der Küste, selbst wenn diese bewohnt sein sollte« (II, 2 XV). Grotius ist wie Vitoria der Ansicht, dass es ein Recht zum dauerhaften Aufenthalt gibt, allerdings nur dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Wenn Fremde, »welche, aus ihrer Heimat vertrieben, um Aufnahme bitten« und »sie sich den bestehenden Staatsgewalten und Einrichtungen für die öffentliche Ruhe unterwerfen« (II, 2 XVI). Weit über die von Kant für legitim gehaltenen Forderungen hinaus geht jedoch Grotius folgende These: »Befinden sich jedoch innerhalb des Gebiets verlassene und wüste Ländereien, so müssen sie den Ankömmlingen auf ihr Ersuchen überlassen werden. Ja sie dürfen von ihnen in Besitz genommen werden, weil das, was niemand bebaut, auch nicht als im Besitz befindlich gelten kann« (II, 2 XVII). Hiergegen macht Kant die Rechte von »Hirten- und Jagdvölkern« stark, »deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt« (RL, VI 353). 170 Bebauung ist für Kant keine Vorrausetzung für den Landbesitz. Doch auch Grotius schränkt – implizit gegen Vitoria gerichtet – ein, dass eine solche Inbesitznahme nur gestattet ist, »sofern nur die oberherrliche Gewalt dem alten Volke unversehrt bleibt« (II, 2 XVII), d. h. keine neue Herrschaftsgewalt über das in Besitz genommene Territorium etabliert wird. Ganz nah bei Vitoria – fast schon dem Wortlaut nach – ist Grotius gleichwohl, wenn er schreibt, dass, insofern einem Volk bestimmte Handlungen auf einem Gebiet durch die ansässige Bevölkerung erlaubt werden, diese allen Völkern offenstehen müssen: »Wird z. B. den Fremden gestattet, überall zu jagen, zu fischen, Vögel zu fangen, Perlen zu suchen, durch Testament zu erwerben, zu verkaufen und Ehen zu schließen, […] so darf dieses nicht ausnahmsweise einem Volke versagt werden« (II, 2 XXII). Im Gegensatz scheint für Kant die Auswahl jener Völker, mit denen sich ein gegebenes Volk austauschen möchte, vollständig diesem überlassen zu sein. Zumindest kann man das Beispiel Japans, auf welches Kant in Zum ewigen Frieden eingeht, in dieser Weise verstehen. Dort schreibt Kant: Japan habe den Zugang »nur einem ein-
170 Zum Status von nomadisch lebenden Völkern bei Kant vgl. Muthu (2003, 172– 209) und Stilz (2014).
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zigen europäischen Volk, den Holländern, erlaubt« (VIII 359) – und er scheint diese Entscheidung nicht problematisch zu finden. 171 Es ließen sich noch weitere Vorgänger diskutieren, deren Argumentationen für den hier verfolgten Zusammenhang in entscheidenden Punkten Ähnlichkeit aufweisen, etwa Pufendorfs De iure naturae et gentium (III 3). Zur Illustration sollen aber hier die zwei dargestellten Argumentationen von Vitoria und Grotius, gegen die sich Kant – wenn auch nicht ausdrücklich, so doch der Sache nach – richtet, genügen: Gegen derartig ausufernde Ansprüche setzt Kant sein Weltbürgerrecht ab und beschränkt es auf die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«. 172
6.1.6 Keine Hospitalität in der Rechtslehre? Interessanterweise taucht der Begriff der Hospitalität in Kants Diskussion des Weltbürgerrechts innerhalb der Rechtslehre nicht mehr auf. In den Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden spielt er dagegen eine umso größere Rolle: Wenn Kant in der publizierten Fassung davon spricht, dass auf diese Weise – die des grenzüberschreitenden Austausches – »entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können« (ZeF, VIII 358), verweist Kant in den Vorarbeiten erneut auf den Begriff der Hospitalität und schreibt: »Auf diesen Grad der Geselligkeit kann der Fremdling rechtlichen Anspruch machen aber auch nur mit Einschränkung auf die bloße Hospitalität der Bewohner jener Länder ihm nur nicht feindselig zu begegnen« (VAZeF, XXIII 172). Während Kant das Verhalten der Europäer in der publizierten Fassung von Zum ewigen Frieden als »inhospitales Betragen« bezeichnet, ist es für ihn in den Vorarbeiten eine »Übertretung der Grenzen der Hospitalität«, die »Übel […] über das menschliche Ge171 Wie genau die Beispiele Japans und Chinas in Kants Schrift Zum ewigen Frieden zu verstehen sind, wird in Kapitel 6.1.8 der vorliegenden Studie diskutiert. Auf die Implikationen dieses Beispiels für die Fragen der Migrationsdebatte in der gegenwärtigen politischen Philosophie wird noch einmal in Kapitel 13 eingegangen. 172 Für einen Vergleich von Kant mit Vitoria, Grotius, Hobbes, Wolff und anderen s. Cavallar (2002). Für einen Vergleich von Kant mit Vitoria, Vattel und Pufendorf s. Baker (2011).
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schlecht und selbst über Europa dem unter allen diesen Verkehr aller Völker auf Erden unter einander am meisten bewirkenden Welttheil gebracht habe durch Kriege welche dieses nicht blos über die letztere sondern endlich über sich selbst gezogen hat« (XXIII 173 f.). Darüber hinaus geißelt er in den Vorarbeiten auch den Sklavenhandel als eine »Verletzung der Hospitalität«. Interessanterweise tut er dies nicht nur mit Blick auf die faktischen Opfer, sondern auch hinsichtlich seiner Folgen für Europa (XXIII 174). 173 Einmal mehr wird deutlich, dass Kant hier ganz sicher nicht allein die Verletzung von generellen Verpflichtungen der Gastfreundschaft vor Augen hat, die sich auf äußere Manieren beschränken, sondern schwerwiegendere Sachverhalte: Krieg, Sklaverei, Grausamkeit. Warum spielt der Begriff der Hospitalität nun aber eine zunehmend geringere Rolle in Kants Auseinandersetzung mit dem Weltbürgerrecht, bis er schließlich ganz und gar daraus verschwindet? In den Vorarbeiten wird der Begriff noch häufiger zur Erläuterung des Sachverhalts herangezogen als in der publizierten Fassung von Zum ewigen Frieden, in der Rechtslehre taucht er schließlich überhaupt nicht mehr auf. Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass Kant in der Rechtslehre den Rechtscharakter des Weltbürgerrechts stärker betonen möchte. Die Pflicht zur Gastfreundschaft gibt es jedoch nicht nur im Bereich der Rechtspflichten. Dies wird vor allem durch Kants Hinweis deutlich, dass wir uns hier im Bereich des Rechts befänden, »und da bedeutet Hospitalität« (ZeF, VIII 357) etwas anderes als in jenem der Philanthropie. Es könnte daher sein, dass er den Begriff in der Rechtslehre vermeidet, um Missverständnissen vorzubeugen. Und tatsächlich begegnet uns die hospitalitas in der Tugendlehre, dem zweiten Teil der Metaphysik der Sitten, wieder. Hier nun allerdings als »Gastfreiheit« und nicht als »Hospitalität« oder »Wirtbarkeit«. Auch nimmt sie keinen großen Raum ein: Kant erwähnt sie – aber erst als er im bereits zitierten § 48 die Umgangstugenden und deren Verbindung zur Tugend selbst diskutiert. Dort heißt es – nach der bereits zitierten Stelle – weiter: Obzwar es sich bei den Umgangstugenden nur um Äußerlichkeiten, »welche einen schönen tugendähnlichen Schein geben«, handle, beförderten sie: 173 Auch in den Reflexionen betont Kant den Schaden, den das inhospitale Verhalten für die Kolonialmächte hat: »In der Geschichte Englands jetziger Zeit bringt die Unterwerfung von amerika das cosmopolitische Andenken derselben weit zurück« (R, XV 630, 1444).
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doch das Tugendgefühl, selbst durch die Bestrebung, diesen Schein zur Wahrheit so nahe wie möglich zu bringen in der Zugänglichkeit, der Gesprächigkeit, der Höflichkeit, Gastfreiheit, Gelindigkeit, insgesamt als bloßen Manieren des Verkehrs mit geäußerten Verbindlichkeiten, dadurch man zugleich andere verbindet, also doch zur Tugendgesinnung hinwirken; indem sie die Tugend wenigstens beliebt machen (TL, VI 473 f.; Hervorhebung K. R.).
Die hospitalitas nimmt also selbst innerhalb der Tugendlehre eine untergeordnete Rolle ein: Sie wird nur noch zu den Umgangstugenden gezählt.
6.1.7 Weltbürgerrecht als Hospitalitätsrecht? In der gegenwärtigen Debatte wird Kants Weltbürgerrecht gelegentlich auf ein »right of hospitality« verkürzt. 174 Wenn Kants Weltbürgerrecht mit einem ›Recht auf Hospitalität‹ gleichgesetzt wird, sollte man dies aber mit einem Fragezeichen versehen. Zunächst sollte man dies tun, weil der Begriff der Hospitalität für Kants Auseinandersetzung mit dem Weltbürgerrecht in der Rechtslehre, wie oben bereits dargelegt, keine Rolle mehr spielt. 175 Dort gibt es also eine Formulierung des Weltbürgerrechts, die ganz ohne den Verweis auf den Begriff der Hospitalität auskommt. Dies kann man, wie ich versucht habe zu zeigen, durchaus als eine begriffliche Präzisierung innerhalb der Rechtsphilosophie Kants verstehen. Der systematisch aber wichtigere Punkt, der zur Vorsicht mit dieser Gleichsetzung auffordert, lautet, dass durch eine Verkürzung des Weltbürgerrechts auf ein Recht auf Hospitalität übersehen wird, dass aus ihm, wie erläutert, eine zweifache Verpflichtung erwächst – und eben nicht nur eine Verpflichtung zur Hospitalität: 176 Dem Weltbürgerrecht korrespondiert auch eine Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten und dies sowohl aufseiten der sich vor Ort befindenParadigmatisch hierfür Benhabib (2004). Ich möchte hier keine These hinsichtlich der Frage, welchem der beiden Werke, ob nun der Friedensschrift oder der Rechtslehre, eine größere ›Autorität‹ zugesprochen werden sollte, vertreten. Zu dieser Frage s. Williams (2012, 50–55). Es ist lediglich festzuhalten, dass wir bei Kant zwei Formulierungen des Weltbürgerrechts vorfinden, von denen eine ohne das Konzept der Hospitalität auskommt. 176 Für die aus dem Weltbürgerrecht folgenden Verpflichtungen s. auch Kapitel 8 dieser Arbeit. 174 175
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den Bevölkerung wie auch aufseiten der Neuankommenden. Diese wird im Folgenden genauer untersucht werden (Kap. 6.2). Zunächst werden wir uns jedoch dem China-Japan-Beispiel in Zum ewigen Frieden zuwenden, welches, wie eingangs erläutert, vermeintlich in einer gewissen Spannung zum Recht auf Hospitalität steht.
6.1.8 Das China-Japan-Beispiel Eine Eigenart der Diskussion des Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden besteht darin, dass Kant zwar universelle Hospitalität fordert und doch zugleich die Isolationspolitik Chinas und Japans gutzuheißen scheint. 177 So schreibt Kant im dritten Definitivartikel: China und Japan […], die den Versuch mit solchen Gästen gemacht hatten, haben daher weislich, jenes zwar den Zugang, aber nicht den Eingang, dieses auch den ersteren nur einem einzigen europäischen Volk, den Holländern erlaubt, die sie aber doch dabei, wie Gefangene, von der Gemeinschaft mit den Eingeborenen ausschließen (VIII 359).
Hier scheint zunächst ein Widerspruch zwischen den Anforderungen des Weltbürgerrechts und dem Verhalten Chinas und Japans zu bestehen: Sie verhindern mit ihrer isolationistischen Politik die Kon177 Die Isolationspolitik Chinas und Japans wurde nicht nur von Kant diskutiert, sondern auch von verschiedenen anderen Philosophen kommentiert: Vgl. etwa die Äußerungen Bacons in Neu-Atlantis [1624/1627]. Dort vergleicht er die freizügige Politik Bensalems gegenüber Fremden bei gleichzeitiger Einschränkung der Auswanderungsfreiheit der eigenen Bevölkerung mit der Politik Chinas: »In China ist dies anders, denn die Chinesen unternehmen Seereisen, wohin sie wollen und können. Dies zeigt deutlich, daß ihr Einwanderungsverbot für Fremde nur von kleinlicher Gesinnung und Angst entspringt« (27). Spinoza setzt sich in seinem Theologischpolitischen Traktat [1670] mit Japans Politik gegenüber den Niederländern auseinander: »Dort ist die christliche Religion verboten, und die dort wohnenden Niederländer müssen sich auf Anordnung der Ostindischen Companie jedes äußeren Gottesdienstes enthalten« (Kap. 5, 87). Auch Montesquieu diskutiert in Vom Geist der Gesetze [1748] die Politik Chinas und Japans im Verhältnis zu den Europäern und bewertet das Verhalten Japans als wirtschaftlich unklug: »Man sollte bei seinem Handel keine Nation ohne gewichtigen Grund ausschließen. Das ist der wahre Grundsatz. Die Japaner treiben nur mit zwei Nationen Handel, mit den Chinesen und den Holländern. Die Chinesen verdienen am Zucker tausend Prozent und manchmal genausoviel an den Rückfrachten. Die Holländer machen ähnlich hohe Profite. Jede Nation, die sich nach den japanischen Grundsätzen verhält, wird unweigerlich betrogen. Die Konkurrenz ist es nämlich, die einen gerechten Preis für die Waren zustande bringt« (XX, 9). S. auch Humes Essay Über Handel (187).
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taktaufnahme und unterlaufen damit vermeintlich »das Recht des Erdbürgers«, »die Gemeinschaft mit allen zu versuchen« (RL, VI 353). Kant kritisiert das Verhalten Chinas und Japans jedoch nicht, scheint es sogar zu befürworten. 178 Wie ist dies zu verstehen? Niesen diskutiert dieses Problem ausführlich in seinem Aufsatz »Colonialism and Hospitality« (2007). Dort vertritt er die Position, dass dieser scheinbare Widerspruch durch eine Unterscheidung von »commercial« und »non-commercial speech« aufgelöst werden könne (Niesen 2007, 107 Fn.). Kants Unterstützung der Politik von China und Japan sei nur dann problematisch, so Niesen, »if what he had meant to establish by cosmopolitan law was a universal right to free trade and to free trade-related communication« (ebd., 99). Dies sei aber nicht der Fall: Obwohl Kant sich zwar durchaus der Friedensfunktionalität des Handels bewusst sei, so Niesen, betrachte er ihn trotzdem als ambivalent hinsichtlich seiner Folgen. Dies zeige sich in Kants Kritik an unregulierter wirtschaftlicher Expansion (ZeF, VIII 345) sowie an seiner Kritik am Auftreten der »Handlungsgesellschaften« (VIII 359). Um Niesens Punkt zu Kants ambivalenter Position zum Handel zu stützen, könnte man eine Passage aus der Anthropologie anführen, in welcher Kant schreibt: »Der Handelsgeist ist überhaupt an sich ungesellig« (VII 315). Da es sich bei den Einschränkungen durch Japan und China aber lediglich um Restriktionen hinsichtlich wirtschaftlicher Vorhaben gehandelt habe, seien diese, so Niesen, durchaus im Einklang mit Kants Weltbürgerrecht. 179 Es lassen sich jedoch einige Einwände gegen Niesens Interpretation formulieren: ein historischer, ein textlicher, schließlich auch ein systematischer. Beginnen wir mit dem historischen Einwand: China und Japan haben nicht nur Händlern den Eingang verboten. Die Restriktionen betrafen ebenfalls Missionare und auch alle anderen Reisenden. Die 178 Niesen hat zu Recht auf diesen Widerspruch hingewiesen: »The contradiction between this restriction and the assertion of hospitality as a ›right to visit‹ under universal freedom to travel is rarely noted in the secondary literature« (Niesen 2007, 99). 179 Kleingeld fasst Niesens Argument daher wie folgt zusammen: »In other words, had the government of China and Japan meant to restrict all types of visits, this would have been a violation of cosmopolitan right, but in Niesen’s view, the policies merely pertained to trade« (Kleingeld 2012, 80). In Kapitel 13 werde ich erneut auf Niesens Auseinandersetzung mit dem China-Japan-Beispiel zurückkommen. Dort wird sie hilfreich sein, um herauszuarbeiten, inwiefern Kant in der Lage wäre, legitime von illegitimen Ausschlussgründen zu unterscheiden.
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Isolationspolitik hatte nicht nur die Unterbindung von Handelsbeziehungen zum Ziel, sondern sollte auch religiöse und kulturelle Vermischung verhindern. 180 Im Fall Japans ist sogar davon auszugehen, dass die isolationistische Politik auch innenpolitische Gründe hatte und sie die bestehenden Machtverhältnisse sichern sollte. 181 Mit Hinblick auf die historischen Gegebenheiten ist es schwer, die Isolationspolitik lediglich als eine gegen wirtschaftliche Kontakte gerichtete Politik zu verstehen. Ein zweiter Einwand gegen Niesens Interpretation lautet, dass die Formulierung des China-Japan-Beispiels im dritten Definitivartikel zunächst nicht nahelegt, dass Kant der Ansicht ist, dass sich China und Japan per se richtig verhalten, sondern nur, dass sie klug auf das kolonialistische Verhalten der Europäer reagieren: Bevor Kant das Beispiel einführt, diskutiert er »das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils« (ZeF, VIII 358). Diese Diskussion stellt den Kontext der Passage über China und Japan dar und bettet diese ein: China und Japan haben sich, nachdem sie »den Versuch mit solchen Gästen gemacht hatten, […] weislich« (VIII 359) dafür entschieden, ihre Grenzen weitgehend geschlossen zu halten, d. h. sie haben die Verletzungen des Weltbürgerrechts erlebt. Die Grenzen zu schließen stellt eine Reaktion hierauf dar. Ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch plausibilisiert diese Lesart: Wichtig für die Beurteilung von Kants Position zu der Entscheidung von China und Japan ist die Verwendung des Wortes ›weislich‹. In der zitierten Passage wird es adverbial und nicht adjektivisch verwendet: Während das Adjektiv ›weislich‹ von ›weise‹ stammt und in seiner Bedeutung häufig entweder prudens oder sapiens meint, 182 hat das Adverb sich zunehmend von diesem Begriffshintergrund gelöst und
180 Zum historischen Hintergrund des Japan-Beispiels s. u. a. Cavallar (2002, 352 f.), Eberl (2008, 235–244) und Kleingeld (2012, 72 u. 80). 181 Vgl. hierzu die Schilderung Cavallars in The Rights of Strangers: »The Bakufu, the central administration in Japan headed by a Shogun, was interested in preventing the feudal lords or Daimyos from forming alliances with foreign powers and increasing their wealth and might by transnational trade« (2002, 352). Für weitere Literatur zu diesem Thema vgl. ebd., 352 f. 182 Vgl. hierzu den entsprechenden Eintrag im Grimmschen Wörterbuch: »das adjektiv wîslich, weislich ist verhältnismäszig selten, hält sich aber bis in die heutige sprache. In seiner bedeutung entspricht es dem adjektiv weise; vorherrschend sind die bedeutungen B (prudens) und C (sapiens)« (Grimm, Bd. 28, 1146).
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wird eher im Sinne von ›wissend‹ verwendet. 183 China und Japan wissen um das Verhalten, welches sie von den Europäern erwarten können und haben daher ihre Grenzen geschlossen. Ihr Verhalten ist angemessen, weil es eine angemessene Reaktion auf das Verhalten der Europäer darstellt – und nicht, weil es sich ausschließlich auf Handelsfragen bezieht. 184 Ein dritter, systematischer Einwand wurde von Kleingeld vorgebracht. Sie ist der Ansicht, dass die Isolationspolitik nach Kant auch dann mit dem Weltbürgerrecht kompatibel wäre, wenn sie sich auf alle Arten der Kontaktaufnahme – nicht nur solche zum Zwecke des Handels – beziehen würde (Kleingeld 2012, 80). Nun könnte man, so Kleingeld weiter, zwar einwenden, dass es sich um eine Einschränkung der Möglichkeit der Kontaktaufnahme nicht nur von außen, sondern auch für die Bevölkerungen Japans und Chinas handle. Dies sei jedoch ein Problem der internen, nichtrepublikanischen Organisation dieser Länder, kein Verstoß gegen das Weltbürgerrecht. In anderen Worten: »[H]ad China and Japan been Kantian republics, their citizens would have been entitled to implement the same broadly restrictive policies for the same reasons of self-defense, and this would not have been a violation of cosmopolitan right« (ebd., 81). 185 183 Vgl. hierzu auch den entsprechenden Eintrag im Grimmschen Wörterbuch: »in der ältesten zeit ist das adverb (ahd. Wîslicho, as. Wîslîko) dem adjektiv an häufigkeit etwa gleichwertig. Seit dem mhd. gewinnt das adverb an ausdehnung; in neuerer zeit ist weislich fast ganz auf den adverbialen gebrauch beschränkt. Durch die verbindung mit verben, die zum teil formelhaft werden (s. unter B 3), geht weislich über den inhalt von weise, adj. hinaus und entwickelt neue bedeutungen. Je weiter in der zeit zurück, um so stärker sind die berührungen mit dem adjektiv weise, je jünger, um so selbständiger wird weislich« und weiter »das handeln auf einem bestimmten gebiet bezeichnend. Eine sache (handwerklich, künstlerisch, begriffsmäszig, wissensmäszig) klug, richtig, geschickt ausführen.« Und: »aus dem vorigen entstanden ›wohlweislich‹, ›wohl wissend warum‹, ›in bestimmter, berechnender absicht, aus bestimmten gründen‹ ; im gegensatz zu der vorigen anwendung steht dieser gebrauch in einem negativ bestimmten zusammenhang: man tut oder unterläszt etwas, um etwas anderes nicht tun zu müssen, oder um zu verhindern, dasz etwas anderes geschehe« (Grimm, Bd. 28, 1147). 184 Kleingeld formuliert einen ähnlichen Einwand gegen Niesen (Kleingeld 2012, 80), allerdings hebt sie auf den Umstand ab, dass die Isolationspolitik »well motivated and non-arbitrary« sei und daher zulässig. Die Auslegung des Begriffs ›weislich‹ spielt für ihre Interpretation keine Rolle. 185 Anders sieht dies etwa Williams: »It is legally unacceptable for a state or people to rule out contact with other peoples or to seek to limit the way that contact can be initiated« (2007, 66). Allerdings ist er in Bezug auf das China-Japan-Beispiel folgender Ansicht: »Arguably, however, restricting trading opportunities in this way might
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Das Verhalten Chinas und Japans steht also nicht im Widerspruch zu Kants Weltbürgerrecht, wenn auch aus anderen Gründen, als Niesen sie annimmt.
6.2 Die Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten Dem Begriff der Hospitalität wird in Zum ewigen Frieden jener der Feindseligkeit, der Hostilität, gegenübergestellt: Man darf den Ankommenden nicht feindselig behandeln, solange dieser sich selbst friedlich verhält. Und auch wenn Kant in der Rechtslehre den Begriff der Hospitalität aufgibt, behält er jenen des Feindes bei. Die entsprechende Formulierung in § 62 der Rechtslehre lautet: »ohne das der Auswärtige ihm darum als einen Feind zu begegnen berechtigt wäre« (VI 352). Im Folgenden wird kurz Kants Begriff des Feindes und der Feindseligkeit diskutiert werden. Anschließend wird die Bedeutung dieser Begrifflichkeiten im Kontext des Weltbürgerrechts erläutert. Schließlich werde ich auf ein in der Literatur verschiedentlich an Kant herangetragenes Problem eingehen: das Verhältnis des Weltbürgerrechts zum Eigentum an Grund und Boden. Wie bereits eingangs erläutert, nimmt ein Mensch notwendigerweise einen gewissen Raum ein. Diese Inanspruchnahme eines gewissen Platzes, wie sie vom Weltbürgerrecht zugelassen wird, könnte durchaus als eine Verletzung der Rechte des Eigentümers dieses Platzes verstanden werden (Kleingeld 1998, 80). Aufgrund dieser Konstellation ergeben sich mehrere Anschlussfragen. Es ist beispielsweise zu erwägen, ob hier wirklich eine derartige Rechtsverletzung vorliegt. Wenn dies der Fall ist, dann könnte man sich fragen, ob dann nicht das Weltbürgerrecht im Widerspruch zum Eigentumsrecht steht. Wenn eine Rechtsverletzung vorliegt, müsste man weiterhin untersuchen, warum diese Rechtsverletzung nicht als Feindseligkeit im für das Weltbürgerrecht relevanten Sinne qualifiziert. Der Feind ist für Kant zunächst einmal nur ein Gegner in einer Auseinandersetzung, sei es ein Krieg oder auch nur ein Streit (Trampota 2015, 604). Wenn also die Eigentumsrechte tatsächlich im Widerspruch zum
not be regarded as an act of hostility towards visitors – more as an act of voluntary abstention – and so as not contrary to the right of hospitality« (ebd., 68).
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Weltbürgerrecht stehen, warum sollte diese Rechtsverletzung nicht schon eine Feindseligkeit sein?
6.2.1 Kants Begriff der Feindseligkeit und des Feindes Hostilität ist ein Begriff, den Kant für gewöhnlich im Kontext von Krieg und Frieden verwendet. So bestimmt Kant etwa gleich zu Beginn der Friedensschrift den Frieden im ersten Präliminarartikel als »das Ende aller Hostilitäten« (VIII 343) und in der Rechtslehre wird das Recht zum Krieg in § 56 auch als ein Recht »zu Hostilitäten« bestimmt (VI 346). 186 Der Ausdruck Feind wird dagegen von Kant durchaus auch metaphorisch verwendet, etwa wenn Kant davon spricht, dass die Zerstreuung der Feind aller Erziehung sei (Päd, IX 476). Für Kant ist der Feind zunächst einmal ein Widersacher, ob nun in einem Krieg oder bloß in einem Streit. Er ist jener, der im Gegensatz oder im Widerspruch zu etwas steht. 187 Auf welchen Widerspruch, welchen Gegensatz verweist Kant, wenn er im Rahmen der politischen Philosophie den Begriff des Feindes oder der Feindseligkeit gebraucht? Im Kontext der politischen Philosophie taucht der Begriff der Feindseligkeit bzw. des Feindes bei Kant häufig im Rahmen von Überlegungen hinsichtlich der Frage nach dem Umschlag des Naturzustandes in den Rechtszustand auf, wie auch eines Rechtszustandes in einen rechtsfreien Zustand: Es geht in diesen Passagen gleichermaßen um den Übergang in den Rechtszustand durch die Einrichtung eines bürgerlich-gesetzlichen Zustandes wie auch um die Aufhebung dieses Zustandes durch Revolution oder andere Formen der Überwindung des bestehenden Rechtszustandes. Die Relevanz der Verwendung des Begriffs des Feindes und der Feindseligkeit in den Erläuterungen zum Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre wird in Gänze im Zusammenhang mit diesen Parallelstellen deutlich. So schreibt Kant etwa in der Einleitung zu den Definitivartikeln, 186 Zur Verwendung und der Funktion des Begriffs der Hostilität bei Kant s. auch Kaufmann (2015b). 187 Zur metaphorischen Verwendung des Begriffs des Feindes s. Trampota (2015, 604). Trampota geht auch auf die Verwendung des Feindesbegriffes und seine Funktion im staatsphilosophischen und moralphilosophischen Kontext ein, jedoch nicht auf die Verwendung im Weltbürgerrecht im dritten Definitivartikel der Friedensschrift und in § 62 der Rechtslehre.
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dass »[d]er Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, kein Naturzustand (status naturalis) [sei], der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenngleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben« (ZeF, VIII 348 f.). Der Rechtszustand des Friedens wird dem Naturzustand, der ein Zustand faktischer oder latenter Feindseligkeit ist, entgegengesetzt. 188 Es ist dieser Kontext, in dem der Begriff der Feindseligkeit in Zum ewigen Frieden wiederholt zum Tragen kommt. Kant führt weiter aus: [D]ie Unterlassung der letzteren [der Feindseligkeiten] ist noch nicht Sicherheit dafür und ohne daß sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln (ebd.).
»Als einen Feind« darf jener behandelt werden, der der Aufforderung zum Übergang in einem gesetzlichen Zustand nicht nachkommt. Man würde zwar gemeinhin annehmen, »daß man gegen niemand feindlich verfahren dürfe, als nur wenn er mich schon tätig lädiert hat« (ZeF, VIII 349 Fn.). Dies würde aber nur auf den bürgerlich-gesetzlichen Zustand zutreffen (ebd.). Für den Naturzustand gilt, dass es »nicht nötig [ist], die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten« (RL, § 42, VI 307). Der Begriff des Feindes ist demnach für den Umschlag vom Naturzustand in den Rechtszustand und vom Rechtszustand in den Naturzustand relevant. 189
6.2.2 Der Begriff des Feindes und das Weltbürgerrecht Wie lässt sich dies nun auf das Weltbürgerrecht übertragen? Auch im Weltbürgerrecht haben wir es mit einem Grenzbereich von Rechtszustand und Naturzustand zu tun. Die Beteiligten sind in einer Perspektive Teil eines bürgerlich-gesetzlichen Zustandes, in einer anderen befinden sie sich im Naturzustand. Sie sind, beispielsweise als 188 Auch im zweiten Definitivartikel wird die Feindseligkeit dem Rechtszustand entgegengesetzt, wenn Kant von der »rechtsscheuenden, feindseligen Neigung« spricht (ZeF, VIII 357). 189 S. auch Kants Überlegungen zum »ungerechten Feind«, durch den »kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte« (RL, § 60, VI 349), und Kants Überlegungen zur Revolution (VI 320–322).
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Gesandte der Handelsgesellschaften, Bürger ihres Heimatstaates und damit Mitglied in einem bürgerlich-gesetzlichen Zustand, befinden sich aber (noch nicht) in einem Rechtsverhältnis mit dem sie aufnehmenden oder sie abweisenden Gemeinwesen. Die Mitglieder dieses Gemeinwesens wiederum sind ebenfalls Mitglieder eines bürgerlich-gesetzlichen Zustandes, stehen aber in keinem Rechtsverhältnis zu den Ankommenden. Diese Lücke schließt das Weltbürgerrecht. Mit ihm wird ein Rechtsverhältnis errichtet, welches zwischen Menschen besteht, die nicht Mitglieder ein und desselben bürgerlich-gesetzlichen Zustandes sind. Deshalb sind sie nicht berechtigt, sich als Feinde zu behandeln. Durch das Weltbürgerrecht befinden sie sich in einem Rechtszustand, wenn auch keinem staatlichen Zustand, miteinander. Während sie im (bloßen) Naturzustand nicht abwarten müssen, ob sich das Gegenüber feindselig verhält, bevor sie befugt sind, das Gegenüber zu zwingen (RL, § 42, VI 307), müssen sie es unter den Bedingungen des Weltbürgerrechts sehr wohl. Hier dürfen sie »ihm nicht feindlich begegnen«, »solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält« (ZeF, 358). 190
6.2.3 Grundeigentum und Weltbürgerrecht Jemandem zu erlauben, sich irgendwo aufzuhalten, kann mit einer Verletzung der Eigentumsrechte an einem spezifischen Stück Grund und Boden einhergehen. Kleingeld weist daher zutreffend auf ein Problem für die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts hin, wenn sie schreibt: »[T]o let a stranger use a piece of land, even if it is as small as the space needed for a body, seems an infringement upon the property rights of its owners« (Kleingeld 1998, 80). 191 Besteht also zwischen dem Weltbürgerrecht und den Eigentumsrechten von Personen an 190 Wie genau dieser Verrechtlichungsakt zu denken ist bzw. warum für Individuen im Naturzustand durch das Postulat des öffentlichen Rechts eine Verpflichtung zur Staatlichkeit zu bestehen scheint, die nicht mehr im Falle des Weltbürgerrechts – insbesondere mit Hinblick auf nichtstaatlich verfasste Völker, z. B. Nomaden – besteht, stellt eine gewisse Schwierigkeit dar. Zur Diskussion damit zusammenhängender Fragen s. Flikschuh (2010, 480) und Stilz (2014). 191 Auch Marti geht der Frage nach, »inwiefern Zuwanderung tatsächlich im Sinne des Kant’schen Kriteriums als widerrechtliche Beanspruchung des durch sozialstaatliche Institutionen garantierten ›Eigentum‹ der Einheimischen gelten kann« (2012, 89).
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Grund und Boden eine Spannung? Diese Frage scheint sich auch für die in diesem Teil vorgeschlagene Interpretation des Weltbürgerrechts zu stellen. Analogie zum Argument für Besteuerung Kleingeld versucht, dieses Problem mit Verweis auf das vermeintlich analoge Argument Kants für die Erhebung von Steuern zu lösen (Kleingeld 1998, 80 f. u. 2012, 85 f.). Die zentrale Textstelle hierzu findet sich in der »Allgemeinen Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins C« zum Staatsrecht in der Rechtslehre. Hier schreibt Kant: »Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbei zu schaffen« (VI 326).
Da Menschen und Staaten nach dem Weltbürgerrecht, »als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind« (VIII 349 Fn.), sofern sie sich in einem »äußerem aufeinander einfließendem Verhältnis« befinden (ebd.), geht Kleingeld davon aus, man könne die innerstaatliche Annahme, dass eine Gesellschaft dazu verpflichtet sei, jene, »die es selbst nicht vermögen, zu erhalten« (VI 326), auch auf jene Fälle, die im Weltbürgerrecht behandelt werden, übertragen (Kleingeld 1998, 81). Nach Kleingeld folgt hieraus: »Those who own territory on which foreigners arrive due to forces beyond their control can then be required under cosmopolitan law to let foreigners use part of their property if this is necessary for their survival« (ebd.). Drei Einwände Nun lassen sich gegen Kleingelds Analogie als Lösungsvorschlag für die Spannung zwischen Eigentumsrechten und Weltbürgerrecht mindestens drei Einwände formulieren. Zunächst einmal kann man einwenden, dass die Analogie, die Kleingeld aufmacht, nicht trägt, da sich das Besteuerungsargument an die Angehörigen ein und desselben Staates richtet, während das Weltbürgerrecht sich gerade mit internationalen und transnationalen Interaktionen beschäftigt: Es geht in der Anmerkung C »um die Glie128
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der dieser Gesellschaft«, nicht um Nicht- oder Noch-nicht-Mitglieder. Die herangezogene Bestimmung des Weltbürgerrechts aus jener Fußnote in Zum ewigen Frieden, nach der nach dem Weltbürgerrecht Menschen und Staaten »als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind« (VIII 349 Fn.), vermag diese Disanalogie nicht zu überbrücken. Dieser Passus ist nicht so zu verstehen, dass einfach alle innerstaatlichen Regelungen auf alle Menschen und Staaten zu übertragen seien: »Cosmopolitan Right is not domestic Right writ large« (Flikschuh 2010, 476). Weiterhin handelt es sich bei der durch die Besteuerung zu erfüllenden Pflicht um eine positive Verpflichtung: Mit den erhobenen Steuern sollen das »Armenwesen« und die »Findelhäuser« unterhalten werden, um so jenen zu helfen, die ihre Grundbedürfnisse nicht selbst stillen können. Beim Weltbürgerrecht handelt es sich jedoch primär um eine negative Verpflichtung: Man soll es unterlassen, Personen nur qua ihrer Anwesenheit auf einem ihnen fremden Territorium feindlich zu behandeln. Weiterhin soll man niemanden abweisen, für den dies den Untergang bedeuten würde. Die positive Verpflichtung zur Erhaltung der Armen und Waisen scheint daher systematisch recht weit von der negativen Verpflichtung entfernt zu sein, die Kant im Weltbürgerrecht formuliert. Als weiterer Einwand kann angeführt werden, dass Kleingelds Steuerargument nur jene betrifft, die sich selbst nicht erhalten können (»necessary for their survival«) und die unfreiwillig angekommen sind (»due to forces beyond their control«). Wie bereits herausgearbeitet wurde, betrifft das Weltbürgerrecht aber nicht nur unfreiwillige Interaktionen, sondern auch freiwillige (Kap. 5). Auch für jene Personen, die freiwillig ankommen, gilt, dass sie nicht feindlich zu behandeln seien, solange sie sich selbst friedlich verhalten. Auch sie dürfen wegen ihrer »Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt werden« (ZeF, VIII 358). Auf dessen Boden befinden sie sich gleichwohl – und auch sie müssten von Kleingelds Analogie zum Argument für Besteuerung erfasst werden. Es handelt sich bei ihnen aber nicht notwendigerweise um Personen, die sich nicht allein ›erhalten‹ könnten. Wie ließe sich die Spannung zwischen Eigentumsrechten und Weltbürgerrecht dennoch auflösen? Ich möchte im Folgenden zwei mögliche Ansätze diskutieren, die, komplementär angewendet, womöglich eine Lösung des Problems erlauben. Der erste bezieht sich auf eine wichtige Änderung des Textes, die Kant von den Vorarbeiten Migration und Weltbürgerrecht
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zu Zum ewigen Frieden hin zur publizierten Fassung vorgenommen hat und die für den hier diskutierten Zusammenhang erhellend ist. Der zweite macht die Institution des Obereigentums des Staates stark, die Kant in der »Allgemeinen Anmerkung B« der Rechtslehre einführt. Eine Schwerpunktverschiebung In den Vorarbeiten wird das Weltbürgerrecht von Kant noch als »das Recht eines Fremdlings zu einem Grundeigenthümer der bloßen Ankunft auf seinem Boden wegen, von ihm nicht feindselig begegnet zu werden« (VAZeF, XXIII 172; Hervorhebung K. R.) bestimmt. In der veröffentlichten Fassung von Zum ewigen Frieden heißt es dann aber, das Weltbürgerrecht sei »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden« (ZeF, VIII 357 f.; Hervorhebung K. R.). Von den Vorarbeiten hin zur Druckfassung von Zum ewigen Frieden erweitert Kant also den Bereich, in welchem das Weltbürgerrecht Anwendung finden soll: Es ist nicht mehr allein vom Grundeigentümer die Rede, sondern allgemeiner von »dem Boden eines andern«. Die Eigentümer von Grund und Boden sind nicht mehr die alleinigen Adressaten dieser Passage. Diese Ausweitung erlaubt es Kant, auch nichtstaatlich verfasste Gruppen oder nomadisch lebende Völker innerhalb des begrifflichen Rahmens des Weltbürgerrechts zu diskutieren, auch wenn diese kein Privateigentum bzw. kein Grundeigentum kennen. 192 Dass ihm dies ein Anliegen ist, wird insbesondere in seiner Diskussion des Weltbürgerrechts in der Rechtslehre deutlich. Dort macht er, wie wir gesehen haben, die Rechte der »Hirten- oder Jagdvölker« stark. Auch im bereits diskutierten § 15, in welchem Kant argumentiert, dass man Menschen, mit denen kein rechtlicher Zustand bestünde, nicht über die Gründung von Kolonien in einen solchen bringen dürfe, zeigt sich dieses Anliegen. Auch ohne die Institution des Privateigentums an Grund und Boden hat das Weltbürgerrecht Geltung; die Existenz der Institution des Privateigentums ist keine Voraussetzung für die Möglichkeit der Abweisung von Kolonialakten. Es ist fraglich, ob man so weit gehen muss wie Williams, wenn er schreibt: »Kant seems to subscribe to the 192 Die Ansicht, dass nomadisch lebende Völker kein Privateigentum des Bodens kennen würden, vertritt Kant in der »Allgemeinen Anmerkung B« (RL, VI 324).
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view that most human communities on the globe already have some form of political organization, however rudimentary« (2007, 69). Gleichwohl kann man mit Williams durchaus festhalten: »Those who already live in civil societies are by all means entitled to prevent any damaging impact that non-civil societies may have on their own internal order, but they are not entitled to export that order to others without their consent« (ebd.). Nun stehen wir allerdings vor dem Problem, dass uns diese aus den Vorarbeiten und Zum ewigen Frieden gezogene Beobachtung zwar auf eine Schwerpunktverschiebung hinweist, bezüglich der Frage aber, wie sich Weltbürgerrecht und Privateigentum an Grund und Boden zueinander verhalten, liefert sie uns noch keine Antwort. Sie stellt noch keine Lösung für das Problem dar, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen tatsächlich die Institution des Privateigentums an Grund und Boden existiert: Inwiefern kann ein Staat Platz für den Aufenthalt des Ankommenden zur Verfügung stellen, ohne dass es sich dabei um eine empfindliche Einschränkung der Eigentumsrechte an ebenjenem Platz handelt? Der Beherrscher als Obereigentümer Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns der »Allgemeinen Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins B« zuwenden, in welcher Kant der Frage nachgeht, ob »der Beherrscher als Obereigentümer (des Bodens), oder […] nur als Oberbefehlshaber in Ansehung des Volkes durch Gesetze betrachtet werden« muss (RL, VI 323). 193 Kants Antwort lautet, dass der Landesherr als Obereigentümer (dominus territorii) zu betrachten sei, da »der Boden die oberste Bedingung ist, unter der allein es möglich ist, äußere Sachen als das Seine zu haben, deren möglicher Besitz und Gebrauch das erste erwerbliche Recht ausmacht« (ebd.). Dieses Recht müsse aber von dem Souverän abgeleitet werden. Das Obereigentum ist dabei »nur eine Idee des bürgerlichen Vereins« (ebd.), die für die Vorstellung einer Aufteilung des Bodens notwendig ist. Der Boden gehört dabei gleichwohl dem Volk, »und zwar nicht kollektiv- sondern distributiv genommen« (VI 324). 194 Der Souverän stellt die ungestörte Nutzung Zur Interpretation dieser Passage s. auch Wood (2008, 197 f.). Vgl. zur Anmerkung B auch Kersting: »Auch wenn Kant den Landesherrn als Obereigentümer bestimmt, ist damit keine Mediatisierung des besitzindividualisti193 194
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des Privatbesitzes sicher. Er ist, wie es in einer Reflexion Kants heißt, »der Schutzgeist des Eigenthums aller« (R, XIX 454, 7559), darf aber selbst »kein Privateigentum an irgend einem Boden haben (denn sonst machte er sich zu einer Privatperson), sondern dieses gehört nur dem Volk« (RL, VI 324). Er ist selbst kein Glied der Gesellschaft, sondern »nichts anders als die Ganze Gesellschaft« (R, XIX 555, 7921). Aus dieser Funktion des Souveräns als Obereigentümer ergeben sich für Kant eine Reihe von Rechten des Landesherren: das Recht, »die Privateigentümer des Bodens zu beschatzen« (VI 325), das Recht der Staatswirtschaft, des Finanzwesens und der Polizei, das Recht der Aufsicht, weiterhin auch das Recht auf Verteilung der Ämter und Würden und das Strafrecht (VI 328), 195 wobei für den hiesigen Zusammenhang vor allem das erste und das zweite Recht von Bedeutung sind. Obereigentum und öffentlicher Raum Begründungstheoretisch können wir mit Verweis auf das Obereigentum noch einen Schritt weitergehen, als Kleingeld dies mit Rekurs auf die Möglichkeit der Besteuerung zum Zwecke der Erhaltung der Glieder einer Gesellschaft, »die es selbst nicht vermögen«, tut: Durch Verweis auf das Obereigentum können wir das Recht zur Besteuerung von dem Zwecke der Erhaltung der Gesellschaft lösen, wie es in der Anmerkung C beschrieben wird. Das Recht zur Beschatzung der Privateigentümer des Bodens besteht, da in dieser Konstruktion »das Volk sich selber beschatzt, weil dieses die einzige Art ist, hiebei nach Rechtsgesetzen zu verfahren, wenn es durch das Korps der Deputierten desselben geschieht« (VI 325). Damit könnten wir das im ersten hier vorgestellten Einwand vorgebrachte Problem umgehen, schen Gehalts des Eigentumsbegriffs verbunden. In systematischer Hinsicht entspricht die Institution des Obereigentums dem Gemeinbesitz und entsprechend der Landesherr als Souverän dem Gesamtbesitzer; im Obereigentum begegnet also die staatsrechtliche Anwendung des obersten sachenrechtlichen Geltungsprinzips« (1984, 214 Fn.). Und weiter: »So hat es bei Kant nurmehr die Funktion der Anwendung einer reinen privatrechtlichen Begründungsstruktur auf den konkreten Bereich eines Staates; es erinnert die geltungstheoretische Herkunft des privaten Bodenbesitzes, der summiert, das Territorium des Staates bildet, der dieses genauso besitzt, wie der vereinigte Wille in der Idee den gesamten Boden besessen hat, nämlich nicht als privater Eigentümer, sondern zum Zwecke der Errichtung privaten Eigentums« (ebd.). 195 Vgl. zur Interpretation der mit der Funktion des Souveräns verbundenen Rechte des Landesherrn Saage (1973, 58 f.).
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dass sich die Anmerkung C nur auf die Mitglieder ein und derselben Gesellschaft und deren Erhaltung beziehe. Die Anmerkung B hat längst ein Recht zur Beschatzung der Privateigentümer etabliert, welches unabhängig von diesem Zweck besteht. Weiterhin werden wir durch das Recht zur Staatswirtschaft, welches Kant hier anführt, daran erinnert, dass nicht das gesamte Territorium eines Staates aus Privatbesitz besteht, sondern dass es dort durchaus öffentlichen Raum gibt: Der Landesherr darf Verkehrswege bauen, Land urbar machen und dergleichen. Das heißt aber auch, dass es sich nicht bei jedem Aufenthalt auf dem Territorium eines Staates um eine Verletzung von Privateigentum handeln muss. Beim »Boden eines andern« kann es sich durchaus um den öffentlichen Raum handeln. 196 Gleichwohl muss man festhalten, dass die Verpflichtung zur Nichtfeindseligkeit, die im Weltbürgerrecht formuliert wird, nach Kant sowohl im öffentlichen Raum wie auch auf Privatgrund zu gelten scheint: Man darf einer Person nicht feindselig begegnen, nur weil sie sich auf dem eigenen Grund und Boden befindet, man darf sie aber gleichwohl bitten, diesen wieder zu verlassen – und sich gegebenenfalls wieder in den öffentlichen Raum zu begeben. Mit Rekurs auf diesen Aspekt des Obereigentums ließe sich also auch der zweite Einwand umgehen, vor dem Kleingelds Analogie zur Besteuerung zum Zwecke der Erhaltung der Gesellschaft steht: Die (negative) Pflicht zur Nichtfeindseligkeit gilt in jedem Fall. Das Vorhandensein von öffentlichem Staatsterritorium erlaubt es aber, Menschen aufzunehmen, ohne damit notwendigerweise Privateigentum zu verletzen. Es könnte durchaus sein, dass nach Kant ein Einzelstaat die Verpflichtung hätte, (öffentlichen) Raum bereitzuhalten, um gegebenenfalls seiner Verpflichtung durch das Weltbürgerrecht nachkommen zu können, jene nicht abzuweisen, für die dies den »Untergang« bedeuten würde. Die (negative) Pflicht zur Nichtfeindseligkeit gilt freilich unabhängig von der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit des Aufenthaltes sowie der Frage, ob von der Aufenthaltsmöglichkeit die Verhinderung des Untergangs abhängt. Eine Betonung der Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten vermag es also auch, den dritten oben erläuterten Einwand zu umgehen. Der Ansatz, auf das Ober196 Zur Bedeutung von öffentlichen Raum für die Argumentation Kants in der Rechtslehre s. auch Ripstein (2009, 232–266).
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eigentum zu verweisen, um die Spannung zwischen Privateigentum und Weltbürgerrecht aufzulösen, scheint also vielversprechender zu sein als der Verweis auf die Analogie zum Besteuerungsargument. Er kann mit allen drei formulierten Einwänden umgehen. Es zeigt sich also, dass die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Verpflichtungen, insbesondere jene, jemanden aufgrund seines bloßen Aufenthaltes nicht feindselig zu behandeln, nicht im Widerspruch zum Privateigentum an Grund und Boden stehen.
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7. Kant und der Kolonialismus: Zum Inhalt des Weltbürgerrechts II
Auffälligerweise wird das Weltbürgerrecht im dritten Definitivartikel von Kant negativ bestimmt: Es soll »auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (ZeF, VIII 357). Während in Kapitel 6.1.3 schon diskutiert wurde, was darunter zu verstehen ist, dass das Weltbürgerrecht eingeschränkt sein soll, soll nun die antikolonialistische Stoßrichtung des Weltbürgerrechts, auf die diese negative Formulierung verweist, Gegenstand der folgenden Untersuchung sein: Kant erläutert ausführlich und mit vielen Beispielen, wie »das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils«, zur »Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken«, geführt hat (VIII 359), und verurteilt damit die damalige Kolonialpolitik – vor allem, wenn auch nicht nur – der europäischen Nationen. 197 Die Diskussion um Kants Verhältnis zum Kolonialismus hat jüngst stärkere Aufmerksamkeit erfahren. 198 Doch bevor Kant von ›Kantianerinnen‹ und ›Kantianern‹ ausführlich zu diesem Thema befragt wurde, spielte er bereits eine größere Rolle in den Arbeiten seiner Kritiker: Kant wurde oft als Verteidiger des Kolonialismus gelesen, dessen Position zur europäischen Expansion sich nahtlos aus seiner in früheren Schriften vertretenen Theorie der ›Rassenhierarchie‹ ergebe. 197 Auch Brandt hebt hervor, dass das Weltbürgerrecht zwar auf zwei Weisen verletzt werden kann, die zweite Möglichkeit aber historisch von größerer Bedeutung ist: »Dieses Recht wird lädiert, wenn der Besuch Fremder nicht geduldet wird. Welthistorisch wichtiger war der Rechtsbruch auf der Gegenseite, auf der Seite der Imperialisten« (Brandt 2004a, 145). Hackel wiederum weist auf Folgendes hin: »Allerdings geht es zu weit, die entscheidende Funktion des Weltbürgerrechts in der Verhinderung des Kolonialismus zu sehen« (2000, 98). 198 Insbesondere die Arbeiten von Muthu, hier vor allem Enlightment against Empire (2003), und der Sammelband Kant and Colonialism (Flikschuh/Ypi 2014) sowie Williams’ Colonialism in Kant’s Political Philosophy (2014) und Niesens Historisches Unrecht im Völker- und Weltbürgerrecht (2014) sind hier zu erwähnen.
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Diese Lesart wird etwa von Robert Bernasconi vertreten. Kleingeld hat dieser Position ausführlich widersprochen und mit umfassender Textkenntnis argumentiert, dass sich Kants Position in Bezug auf eine vermeintliche Hierarchie der Rassen in den 1790er Jahren gewandelt hat (Kleingeld 2007), was wiederum Auswirkungen auf seine Haltung zum kolonialen Gebaren der europäischen Nationen hatte (Kleingeld 2014). 199 Andere nehmen Kants Rassismus in den früheren Schriften zur Kenntnis, versuchen aber zu zeigen, dass dieser nicht wesentlich sei für die zentralen Theoriestücke der kantischen Philosophie: Kant sei letztlich ein Universalist, der sich mit Hinblick auf die ›Rassenhierarchie‹ selbst widerspreche. 200 Wieder andere entschuldigen Kant mit Verweis auf den Umstand, dass nahezu alle Figuren der Geschichte der Philosophie auf dieser Grundlage kritisiert werden könnten (Wood 2008, 9). Wiederum andere versuchen, Kant als aufrechten Kolonialismusgegner zu lesen, dessen rassistische Äußerungen in seinen früheren Schriften als ein intellektueller Lapsus zu betrachten seien (Muthu 2003, 183 f.). Wie ist Kant also zu verstehen, als Verteidiger oder als Kritiker des Kolonialismus? Ausgehend von Kleingelds Überlegungen zu dieser Frage werde ich argumentieren, dass sich Kants Position zum Kolonialismus über die Jahre gewandelt hat; dass er in den 1780er und frühen 1790er Jahren den Kolonialismus als unproblematisch einschätzt, ab der Mitte der 1790er Jahre – und damit auch in den für die in der vorliegenden Studie verfolgte Fragestellung relevanten Schriften Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre – aber als deutlicher Kritiker des Kolonialismus auftritt. Dieser Umstand wird sowohl von den Kritikern Kants übersehen als auch von jenen, die Kant allein als einen aufrechten Antikolonialisten verstehen wollen (Kap. 7.2). Wenn Kant jedoch in den für uns relevanten Schriften als Kritiker des Kolonialismus zu verstehen ist, dann stellt sich die Anschlussfrage, was Kant am Kolonialismus für kritikwürdig erachtet. Auch hierüber besteht in der Literatur Uneinigkeit (Kap. 7.3). Dieser Frage 199 Bernasconi hat später Kleingelds Entwicklungsthese widersprochen (Bernasconi 2011). Seine dort formulierten Einwände entkräftet sie jedoch überzeugend (2014, 60–65). 200 Für Beispiele zu dieser Position s. Kleingeld (2012, 94 Fn.).
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Kants Kolonialismusbegriff
werde ich gegen Ende dieses Kapitels nachgehen, bevor ich schließlich zusammenfassen werde, welche Auswirkungen dies – die Diagnose eines Positionswandels wie auch der Inhalt der Kritik am Kolonialismus – auf unser Verständnis des Weltbürgerrechts hat (Kap. 7.4). Zunächst werde ich aber herausarbeiten, was Kant unter Kolonien und unter Kolonialismus versteht (Kap. 7.1)
7.1 Kants Kolonialismusbegriff In § 58 der Rechtslehre, welcher das »Recht nach dem Kriege« zum Inhalt hat, definiert Kant eine Kolonie – oder Provinz – wie folgt: ein Volk das zwar seine eigene Verfassung, Gesetzgebung, Boden hat, auf welchem die zu einem anderen Staat Gehörige nur Fremdlinge sind, aber dennoch über jenes die oberste ausübende Gewalt hat. Der letztere heißt der Mutterstaat. Der Tochterstaat wird von jenem beherrscht, aber doch von sich selbst […] regiert (civitas hybrida) (RL, VI 348).
Als Beispiele für Mutterstaaten nennt Kant Athen in Bezug auf verschiedene griechische Inseln und – als zeitgenössisches Beispiel – Großbritannien in seinem Verhältnis zu Irland. Kants historische Referenzpunkte für seine Kolonie-Definition sind vielfältig: Zum einen scheint er antike Beispiele vor Augen zu haben – und hierbei sowohl die Kolonien der griechischen Stadtstaaten als auch die römischen Provinzen. Andererseits scheint er gleichzeitig an die neuzeitlichen Kolonien zu denken und hierbei wiederum sowohl an Beherrschungs- wie auch Siedlungskolonien. Die sogenannten Stützpunktkolonien spielen für ihn in seiner Kolonie-Definition keine Rolle, werden aber anderer Stelle diskutiert (RL, VI 358 f.). 201 Nun kann man diese Vielfalt an Beispielen und Referenzpunkten wie Pagden als eine Ursache dafür sehen, dass alles, was Kant über Kolonien zu sagen hat, »seemingly confused and contradictory« sei (Pagden 2014, 19). Oder aber man nimmt zur Kenntnis, dass Kant auf recht unterschiedliche historische Erscheinungsformen des Phänomens verweist und versucht, die verschiedenen Aspekte des Koloniebegriffs mit seiner Definition abzudecken. Vergleicht man Kants Definition mit modernen Definitionen der neuzeitlichen Kolonie,
201 Zu den Merkmalen von Beherrschungs-, Stützpunkt- und Siedlungskolonien s. Jansen/Osterhammel (2012, 17 f.).
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Kant und der Kolonialismus: Zum Inhalt des Weltbürgerrechts II
fällt auf, dass sie zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. So definieren Osterhammel und Jansen den Begriff der Kolonie wie folgt: Eine Kolonie ist ein durch Invasion (Eroberung und/oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde, dessen landfremde Herrschaftsträger in dauerhaften Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich entfernten ›Mutterland‹ oder imperialen Zentrum stehen, welches exklusive ›Besitz‹-Ansprüche auf die Kolonie erhebt (2012, 16).
Auch Kant beschreibt den politischen Charakter der Kolonie (»Verfassung, Gesetzgebung, Boden«). Er geht auch auf das Abhängigkeitsverhältnis, welches zwischen Mutterstaat und Kolonie besteht, ein (»Der Tochterstaat wird von jenem beherrscht«). Weiterhin weist er darauf hin, dass diejenigen Personen, die die Herrschaftsgewalt innehaben, nicht selbst aus der Kolonie stammen, sondern aus dem Mutterstaat (»auf welchem die zu einem anderen Staat Gehörige nur Fremdlinge sind, aber dennoch über jenes die oberste ausübende Gewalt hat«). Was Kant in seiner Definition jedoch nicht in den Blick nimmt, sind die Besitzansprüche des Mutterstaates gegenüber der Kolonie, die Dauerhaftigkeit des Abhängigkeitsverhältnisses, die Tatsache, dass Koloniebildungen an vorkoloniale Zustände anknüpfen, und die räumliche Distanz zwischen Mutterstaat und Kolonie. Letzteres könnte dem Umstand geschuldet sein, dass Kant in der zitierten Passage versucht, gleichermaßen die Begriffe der Kolonie und der Provinz zu definieren. Hier scheint er eher die römische Provinz vor Augen zu haben, die in enger räumlicher Verbindung zum Rest des römischen Imperiums stand. Die Unterwerfung eines anderen Staates als Kolonie nach einem Krieg verbietet Kant in § 58: Es handele sich hierbei um eine »Abwürdigung« des »überwundenen Staates« und würde den vorangegangenen Krieg zu einem Strafkrieg machen, welchen Kant ablehnt (RL, VI 358). Kant kennt aber auch zwei legitime Formen der Koloniebildung: erstens eine Kolonie verstanden als eine Siedlung in unbewohnten Gebieten eines Staates auf Einladung des dortigen Souveräns hin, wie in § 50 der Rechtslehre erläutert: »Der Landesherr hat das Recht der Begünstigung der Einwanderung und Ansiedlung Fremder (Kolonisten), obgleich seine Landeskinder dazu scheel sehen möchten; wenn ihnen nur nicht das Privateigentum derselben am Boden gekürzt wird« (VI 338). 138
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Kants Kolonialismusbegriff
Dieser Fall weicht von dem Begriff der Kolonie ab, wie Kant ihn später in § 58 im Rahmen des Völkerrechts einführt. Dies zeigt sich auch darin, dass in der Kolonie, die in § 50 beschrieben wird, eine Herrschaftsbeziehung, wie Kant sie in seiner Koloniedefinition in § 58 annimmt, ausgeschlossen ist, da sich die Kolonisten der Souveränität des einladenden Landes unterwerfen und nicht von ihrem Heimatstaat beherrscht werden. Was Kant hier wohl im Sinn hat, ist einerseits die Ansiedlungspolitik seines eigenen Heimatstaates: Preußen verfolgte eine aktive Ansiedlungspolitik. 202 Andererseits spielte auch in vielen anderen Staaten eine aktive Ansiedlungspolitik eine wichtige Rolle. 203 Kleingeld macht daher zu Recht darauf aufmerksam, dass derartige Siedlungen und Einladungen ein Normalfall preußischer Politik waren: »Colonists and colonies in this sense were a live issue in Prussia at that time, as Prussia had a policy of very actively promoting immigration« (Kleingeld 2014, 59). Die zweite legitime Form der Koloniebildung, die Kant diskutiert, ist jene der Ansiedlung in »neuentdeckten Ländern« in der Nähe eines anderen Volkes durch einen Vertragsschluss mit diesem, allerdings »nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien« (RL, VI 353). Auch dieser Fall unterscheidet sich von der oben zitierten Definition der Kolonie, allerdings nicht ganz so eindeutig. Es wird hier zwar die Unterwerfung des bereits vor Ort lebenden Volkes untersagt, jedoch ist nicht ausgeschlossen, dass die sich ansiedelnde Gruppe von einem Mutterstaat im beschriebenen Sinn beherrscht wird. Ein naheliegendes Beispiel für diesen Fall wäre Neuengland im Verhältnis zu Großbritannien bis zur Amerikanischen Revolution. Ein solches Herrschaftsverhältnis wird jedoch nicht notwendigerweise durch den Charakter dieser Siedlungsform impliziert. 204 202 Um nur einige Beispiele zu nennen: Friedrich Wilhelm I. unterstützte etwa die Ansiedlung der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten. Im 16. Jahrhundert hatte Preußen Mennoniten eingeladen. Nach der Ausweisung der Protestanten aus Salzburg 1731/32 wanderten 14.000 nach Preußen. Zur Trockenlegung der Oder-, Warthe- und Netzebrüche wurden viele tausende Personen angesiedelt. 203 Man denke etwa an das Banat, die angrenzende Donauregion, die Wolgamündung und weitere Regionen, die seit dem 16. Jahrhundert Ziele einer systematischen Ansiedlungspolitik waren. 204 Auch eine weitere – dritte Form – der legitimen Koloniebildung in diesem hier angedeuteten weiten Sinn des Koloniebegriffs wäre mit Kant denkbar, auch wenn er sie nicht eigens diskutiert: eine prima occupatio in neuentdeckten Ländern, die unbesiedelt sind und auch nicht von in größerer Entfernung lebenden Völkern genutzt
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Pagdens oben erwähnte Einschätzung scheint u. a. darin begründet zu sein, dass er übersieht, dass Kant einmal Kolonien im Rahmen des Staatsrechts beschreibt und damit sozusagen aus einer innenpolitischen Perspektive, dann aber auch im Rahmen des Völkerrechts aus einer außenpolitischen Perspektive. Dass es dort zu Bedeutungsverschiebungen kommt, ist erwartbar und sinnvoll. Ist Kant nun aber als Verteidiger oder als Gegner des Kolonialismus zu betrachten?
7.2 Kant als Verteidiger oder als Kritiker des Kolonialismus? Obwohl das Thema des Kolonialismus für Kant eher ein randständiges Thema ist und auch für die Politik Preußens im 18. Jahrhundert kaum eine Rolle spielte (Flikschuh/Ypi 2014, 1), wird Kant von manchen Kritikern als eine zentrale Figur für die Entwicklung der theoretischen Rechtfertigung der europäischen Expansion verstanden. 205 Flikschuh und Ypi weisen aber richtigerweise auf Folgendes hin: »Kant’s own voice within the contemporary debate on colonialism
werden. Aus Kants Überlegungen im ersten Zusatz zu Zum ewigen Frieden hinsichtlich der Besiedlung der Welt wird jedoch klar, dass Kant diesen Fall für hochgradig unwahrscheinlich hält. Dort beschreibt Kant nämlich, welche Vorsehungen die Natur getroffen hat, damit Menschen alle Erdgegenden bevölkern können und dies auch faktisch tun. Es ist also fraglich, für wie wahrscheinlich Kant es einstufen würde, dass es – selbst zu seiner Zeit – irgendwo noch nicht bereits in Besitz genommenes Territorium gäbe, dass im Sinne einer prima occupatio erstmalig beansprucht werden könnte. Kategorisch ausgeschlossen ist dieser Fall deshalb jedoch nicht und es ließen sich auch historische Beispiele anführen. Zu den legitimen Formen der Koloniebildung vgl. auch Pagden (2014, 33–41) und Kleingeld (2014, 58–60), wobei mir scheint, dass Pagden eher die Optionen zwei und drei vor Augen hat, während Kleingeld die Optionen eins und zwei diskutiert. 205 Vgl. hierzu Eze (1995), Bernasconi (2001 u. 2002). Auch Tully: »The Kantian theory or metanarrative is imperial in the classically modern sense. Firstly, while it does not justify the excessive violence and pillage of European colonial imperialism and of the on-going remaking of the world in the political, legal and economic image of European state formation, it is presented as the universally necessary and irresistible path of development and modernization. Secondly, it presents its postcolonial phase of development as a universal system of formally identical European state forms, abstracted from their continuing colonial relations of historical construction, deepening dependency and substantive inequality, and as a system of informal imperial rule through the league, in a completely non-imperial vocabulary« (2008, 148).
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and cosmopolitanism was less central and more complex than his current critics tend to portray him as having been« (ebd., 7). Gleichwohl gibt es durchaus Passagen in Kants Werk, die Kant als Apologeten des Kolonialismus erscheinen lassen. Einen wichtigen Referenzpunkt für diese Einschätzung stellt etwa Kants Äußerung in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aus dem Jahr 1784 dar, Europa sei jener Kontinent, »der wahrscheinlicherweise allen anderen dereinst Gesetze geben wird« (VIII 29). 206 Manche Kommentatoren versuchen jedoch, diese Passage mit Hinblick auf Kants späteren Antikolonialismus schwächer zu lesen. Muthu plädiert etwa dafür, die entsprechende Aussage wertungsfrei, rein deskriptiv zu verstehen. 207 Auch Hedrick versucht der Bemerkung ihre Schärfe zu nehmen, indem er argumentiert, Kant würde hier nicht eine faktische Herrschaft der anderen Weltteile durch Europa vor Augen haben, vielmehr würde er von einer gegebenenfalls gewaltlosen Ausbreitung des »europäischen Modells« ausgehen. Als Beleg für diese Interpretation führt Hedrick Kants Verdammung der Kolonialpolitik an: »His [Kant’s] condemnation of European colonial policies makes it clear that this diffusion will not culminate in European direct rule of the world« (Hedrick 2008, 262). Nachfolgend wird sich zeigen, dass die Einschätzung von Muthu und Hedrick die historische Entwicklung von Kants Position zu den Themenkomplexen ›Rassenhierarchie‹ und Kolonialismus übersieht. Mit anderen Worten: Man kann Kants spätere scharfe Kritik am Kolonialismus, wie wir sie in Zum ewigen Frieden (1795) und der Rechtslehre (1797) vorfinden, nicht heranziehen, um seine frühere Position, die er etwa in der Idee (1784) formuliert, zu verstehen bzw. gegebenenfalls abzuschwächen. Um diesen Punkt genauer herauszuarbeiten, hilft ein Blick auf einige Parallelstellen. Auch in den »Entwürfen zu dem Colleg über Anthropologie« aus den 1770er und 1780er Jahren finden sich zahlreiche Passagen, Zu einer Gesamtinterpretation des Neunten Satzes der Idee, in welcher sich dieser Passus findet, s. Horn 2011. Zur Frage, ob Kant in der Idee den Kolonialismus verteidigt, s. Kleingeld (2014, 43–45). Die folgenden Überlegungen zur Entwicklung von Kants Position zum Kolonialismus orientieren sich mit Modifikationen an Kleingelds Darstellung in »Kant’s Second Thoughts on Colonialism« (2014). 207 »Kant anticipates – here without judgement – that ›the political constitutions of our continent […] will probably legislate eventually for all other continents‹« (Muthu 2003, 186; Hervorhebung K. R.) 206
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die den Eindruck untermauern, dass Kant zu dieser Zeit der Auffassung war, dass verschiedene Rassen nur in unterschiedlicher Weise überhaupt in der Lage seien, sich selbst zu regieren. Dort heißt es etwa: »Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven« (XV 878). Über die amerikanischen Ureinwohner schreibt Kant weiterhin: »[S]ie kennen nur den Zwang und nicht das Recht und Freyheit. Gelangen nicht zu Begriffen der wahren Ehre und Tugend« (XV 877). Schließlich versteigt er sich sogar zu der Einschätzung: »Der Neger kan disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisirt werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit« (XV 878). Weiterhin schreibt er: »Beyde [vermutlich Indianer und Tataren] perfectioniren sich nicht, reisen nicht, sind keiner Gesetze fähig« (XV 879). Wenn jedoch eine Selbstregierung nicht möglich ist, dann liegt auch der Schluss nahe, dass eine Kolonialregierung nicht grundsätzlich abzulehnen sei. 208 Und so heißt es auch in dem bisher unveröffentlichten Manuskript Dönhoff zu Kants Vorlesungen über Physische Geographie, welches vermutlich 1782 entstanden ist, über Indien: »[S]oviel aber ist gewiß, daß wenn sie unter der Herrschafft eines Europäischen Souverains stehen möchten, so würde die Nation glüklicher werden« (Döhnhoff 178). 209 Auch in Kants Bemerkungen zur Sklaverei in der niederländischen Kolonie Surinam in der Schrift Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) klingt noch keine Kritik an den kolonialen Verhältnissen an. Dort heißt es: Um nur ein Beispiel anzuführen, so bedient man sich in Surinam der rothen Sklaven (Amerikaner) nur allein zu häuslichen Arbeiten, weil sie zur Feldarbeit zu schwach sind, als wozu man Neger braucht. Gleichwohl fehlt es hier nicht an Zwangsmitteln; aber es gebricht den Eingebornen dieses Welttheils überhaupt an Vermögen und Dauerhaftigkeit (II 438 Fn.).
Kant beschreibt hier lediglich, zu welchen Arbeiten man sich der Sklaven »bedient« und wozu diese geeignet seien, ohne eine kritische 208 Kleingeld vertritt die etwas schärfere Interpretation, dass Kant die Hierarchie der ›Rassen‹ und die Unfähigkeit zur Selbstregierung anführt, um die Kolonialherrschaft zu rechtfertigen: »Kant invokes this racial hierarchy – along with the thesis that nonwhites are incapable of genuine freedom, and that whites, by contrast, do have the requisite capabilities – to justify whites’ subjection and governing non-whites through colonial rule« (2014, 47). 209 Vgl. zu diesem Zitat auch die Interpretation von Kleingeld (2014, 46–48).
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Distanz zu diesen Vorgängen einzunehmen: Kleingeld macht darauf aufmerksam, dass Kant in dieser Passage durch die Verwendung des Ausdrucks ›man bedient sich‹ die Perspektive der Sklavenhalter einnimmt (Kleingeld 2014, 47) und sich nicht von dieser distanziert. 210 Auch nachdem Kant massive Kritik an seiner Position zur ›Rassenhierarchie‹ durch Johann Gottfried Herder, Johann Daniel Metzger und Georg Forster erfahren hat, revidiert er, wie Kleingeld herausgearbeitet hat, seine Position nicht, 211 sondern verteidigt sie gegen diese Vorwürfe – insbesondere gegen Forsters Einwände – in seiner Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788). 212 Dort führt Kant beispielsweise aus: Und wo haben Indier oder Neger sich in nordlichen Gegenden auszubreiten gesucht? – Die aber dahin vertrieben sind, haben in ihrer Nachkommenschaft (wie die kreolischen Neger oder Indier unter dem Namen der Zigeuner) niemals einen zu ansässigen Landanbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen (VIII 174).
210 Diese Perspektive scheint Kant auch in den Vorlesungen zur Physischen Geographie nach dem Dönhoff Manuskript einzunehmen. Dort heißt es: »Die Mandique sind unter allen Negern bis zum Gambiastrom die allerbeliebtesten, weil sie die arbeitsamsten sind. Diese sucht man vorzüglich zu Sklaven, weil diese in der größte Hitze Arbeit vertragen, die kein Mensch aushalten kann. Von dieser Neger Nation müßen jährlich 20.000 gekaufft werden, um den Abgang derselben in America zu ersetzen, wo sie zur Bearbeitung der Gewürz-Bäume und überhaupt des gantzen Etablissements gebraucht werden. Man kriegt die Neger indem sie sich einander greifen müßen, und man muß sich ihrer mit Macht bemächtigen. Um sie zu encouragiren, giebt man ihnen Brandwein, den die Neger gern saufen, so daß sie sich Himmel dik besaufen und tolle Streiche angeben« (Dönhoff 189). Allerdings wird dort zumindest auch vermerkt: »Ihr Transport sieht abscheulich aus, er hat ein Stük von einem Klammer am Halse, woran hinten ein Stok ist, so daß er den Kopf nicht drehen kann, er trägt die Stange des, der vor ihm geht auf dem Rüken, und der hinter ihm geht, hat wieder seine Stange auf dem Rüken und der hinter ihm geht hat wieder seine Stange auf der Schulter« (ebd.). Jedoch nimmt Kant gleich darauf wieder die Perspektive der Sklavenhändler ein: »Wenn sie zu Schiffe gebracht werden sollen, sind sie gantz desperat, und müßen denn sehr in Acht genommen werden, daß sie sich nicht umbringen« (Dönhoff 190 f.). 211 Für Kleingelds Erörterung der Kritik durch Herder s. Kleingeld 2012, 98. Zur Kritik von Johann Daniel Metzger s. Kleingeld 2012, 101 f. Zur Debatte zwischen Forster und Kant s. Kleingeld (2012, 92–123 u. 2014, 49 f.) und Gray (2012). 212 »Die Varietät unter Menschen von eben derselben Rasse ist aller Wahrscheinlichkeit nach eben so zweckmäßig in dem ursprünglichen Stamme belegen gewesen, um die größte Mannigfaltigkeit zum Behuf unendlich verschiedener Zwecke, als der Rassenunterschied, um die Tauglichkeit zu weniger, aber wesentlichern Zwecken zu gründen und in der Folge zu entwickeln« (VIII 166).
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Auf diese Passage folgt eine Fußnote, in welcher Kant ausführlich die Position eines antiabolitionistischen Pamphlets wiedergibt und diese bekräftigt. Weiterhin heißt es in dieser Schrift auch, die Ureinwohner Amerikas seien »zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige und unfähig zu aller Kultur (wozu sich doch in der Naheit Beispiel und Aufmunterung genug findet), noch tief unter dem Neger selbst steht, welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt, die wir als Rassenverschiedenheiten genannt haben« (VIII 176). Der Wortlaut dieser Passage lässt offen, ob mit »Beispiel und Aufmunterung« das Beispiel der europäischen Kolonialherren gemeint ist, wie Kleingeld annimmt (2014, 50). In jedem Fall muss man festhalten: Selbst in der Auseinandersetzung mit expliziter Kritik an seinen Positionen ändert Kant diese zunächst nicht. Kants Äußerungen zur ›Rassenhierarchie‹, die oft in Verbindung stehen mit Aussagen über die vermeintlich unterschiedlichen Fähigkeiten einzelner Rassen, sich selbst zu regieren, stellen keine Ausnahmeerscheinungen in seinem Werk dar, sondern ziehen sich durch mehrere seiner Schriften. Auch wenn man die Verbindung zwischen Kants rassistischen Positionen und seiner unkritischen Position zur Kolonialherrschaft nicht überall so stark lesen möchte, wie Kleingeld dies tut, ist diese Verbindung doch nicht von der Hand zu weisen. Auch in den Dohna-Mitschriften zu den Vorlesungen zur Physischen Geographie (1792) finden sich zahlreiche Beispiele für Kants Position, dass bestimmte Völker nur bedingt für den »bürgerlich rechtlichen Zustand« geeignet seien. Dort heißt es beispielsweise: »Höchstwahrscheinlich wird man diese canadische Wilden nie zu einer gesetzmäßigen Verfassung bringen können« (Dohna 238). Darüber hinaus wird von ihnen keine Selbstregierung erwartet. Die Frage ist vielmehr, inwiefern die Kolonialmächte in der Lage sein werden, dort den Rechtszustand herzustellen. Besonders eindrücklich ist eine Passage, die die Kolonialherrschaft auf den sogenannten Zuckerinseln beschreibt: Weit wichtiger ist St. Domingo. Auf dem französischen Theil dieser Insel allein sind 350.000 Neger, auf Iamaika 200.000 auf Martinique, Gadaloupe den Grenaden wechselt die Zahl der Neger sehr; sie ist der eigentliche Maasstab des Reichtums. Die alten indianischen Einwohner (Caraiben, jezt nur noch auf St. Vicent wohnend) können diese Arbeiten so wenig als Europäer ertragen, dazu sind blos Neger geschaffen. Portorico ist wenig genutzt – wie die Spanier es allenthalben thun. Solange der Boden fett
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bleibt wird das wohl gehen, sobald er aber Dünger bedarf muß der Ertrag sehr abnehmen. – Denn nur die alte fruchtbare Erde (Dammerde) bewirkt den großen Gewinnst dieser Inseln (Dohna, 241).
Wenn man diese Beschreibung der kolonialen Zustände mit jener scharfen Kritik, die wir in Zum ewigen Frieden finden, vergleicht, könnte der Unterschied in der Haltung zu diesem Themenkomplex kaum größer sein: Vergleicht man hiemit das inhospitale Betragen der gesitteten, vernehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag (VIII 358 f.).
Und über die in der zitierten Passage aus der Dohna-Vorlesungen diskutierten Verhältnisse auf den Zuckerinseln schreibt Kant in Zum ewigen Frieden: Das Ärgste hiebei (oder, aus dem Standpunkt eines moralischen Richters betrachtet, das Beste) ist, daß sie dieser Gewalttätigkeit nicht einmal froh werden, daß alle diese Handlungsgesellschaften auf dem Punkte des nahen Umsturzes stehen, daß die Zuckerinseln, dieser Sitz der allergrausamsten und ausgedachtesten Sklaverei, keinen wahren Ertrag abwerfen (VIII 359).
Kleingeld fasst den Unterschied zwischen den zitierten Passagen treffend zusammen, wenn sie schreibt: »Instead of providing information regarding the kind of slaves needed and most useful for labor in these colonies, Kant now condemns the European conduct on the very same islands as reprehensible violence and cruelty« (Kleingeld 2014, 52). Diese veränderte Position zum Kolonialismus zieht sich durch alle späteren Schriften Kants zur politischen Philosophie. Auch in seiner 1798 veröffentlichten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht fehlen Verteidigungen einer ›Rassenhierarchie‹ oder unkritische Darstellungen kolonialer Verhältnisse. 213 Kant argumentiert hier, dass 213 Auch wenn man sich fragen kann, ob Muthus Einschätzung hinsichtlich Kants Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie zutreffend
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das Konzept der »Rasse« keinerlei pragmatische Relevanz habe (VII 120). 214 Ab Mitte der 1790er Jahre erweist sich Kant zudem als starker Kritiker des Kolonialismus. 215 Insbesondere die Parallelstelle aus der Dohna-Vorlesung im Vergleich zu den Ausführungen Kants zum Kolonialismus in Zum ewigen Frieden zeigt eindrücklich, wie stark sich Kants Position gewandelt hat. Worin aber besteht seine Kritik am Kolonialismus genau?
7.3 Kants Kolonialismuskritik Kant führt aus, dass er das Weltbürgerrecht nicht als Philanthropie, reine Menschenliebe, verstanden wissen möchte. Es handle sich vielmehr um einen Rechtsbegriff (ZeF, VIII 357). 216 Nach Kant gibt es, wie bereits ausgeführt, eine Rechtssphäre, die die Rechtsverhältnisse des Individuums oder nichtstaatlich verfasster Gruppen und Verbände gegenüber fremden Staaten und die von Staaten gegenüber Nichtstaatsbürgern beschreibt. Die Behandlung Fremder ist für ihn keine Frage der Menschenliebe, keine Frage der Wohltätigkeit. Dies zu betonen ist ihm nicht zuletzt deshalb wichtig, weil gerade kolonialistisches Verhalten gern mit vermeintlich philanthropischen Argumenten gerechtfertigt wurde. So ging etwa Vitoria, dessen Argumentation bereits in Kapitel ist – »Kant makes no arguments about the pre-eminence of whites or Europeans over other human races« (Muthu 2003, 184) –, ist der Hinweis, dass Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eine detaillierte Diskussion des Rassebegriffs umgeht, indem er auf Christoph Girtanners Arbeit Über das kantische Prinzip für die Naturgeschichte (1796) verweist, in welcher Vererbungstheorien lediglich auf nichtmenschliche Tiere angewandt werden, zutreffend (Auch wenn Muthu den Autor versehentlich als »Christoph Girtenner« bezeichnet): Der Abschnitt »Der Charakter der Rasse« umfasst in der Anthropologie kaum eine Textseite. Zur Kritik an Muthus Einschätzung hinsichtlich der Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie s. Kleingeld (2007). 214 Vgl. zu diesem Punkt auch Kleingeld (2014, 58). 215 Zu einer Diskussion möglicher Einwände gegen diese hier in Anlehnung an Kleingeld vertretene Entwicklungsthese s. Kleingeld (2014, 60–65). 216 Anders scheint sich dies jedoch noch in der früheren Schrift Über den Gemeinspruch (1793) zu verhalten: Dort überschreibt Kant, wie bereits zitiert, den dritten Abschnitt zum Völkerrecht noch mit dem Titel: »Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht in allgemein-philanthropischer, d. i. kosmopolitischer Absicht betrachtet«. Das »d. i.« kann man hier durchaus als eine Gleichsetzung verstehen. S. Kapitel 4.1 der vorliegenden Arbeit.
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6.1.4 skizziert wurde, davon aus, dass es für »die Babaren« notwendig sei, »um das ewige Heil zu erlangen, an Christum zu glauben und sich taufen zu lassen« (De Indis II 12). Er widerspricht zwar in der Folge – gegen Thomas von Aquin – der Ansicht, dass der Widerstand gegen die Taufe und die damit einhergehende Nichtannahme des christlichen Glaubens allein bereits einen hinreichenden Kriegsgrund darstellen würde (II 15). 217 Allerdings sei es legitim, bereits zum Christentum bekehrte ›Babaren‹ im Land durch Krieg zu schützen und gegebenenfalls die bisherigen Herrscher abzusetzen (III 13). Darüber hinaus dürfe der Papst auch, »[w]enn ein guter Teil der Babaren zu Christo bekehrt wäre, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht […], ihnen einen christlichen Fürsten geben und die anderen ungläubigen Herren entfernen« (III 14). So folgt bei Vitoria aus der Sorge um das Seelenheil der indigenen Bevölkerung schließlich doch, wenn auch aus anderen Gründen als bei seinen Vorgängern, die legitime Kolonialherrschaft. Kant geht es jedoch nicht um das Seelenheil der kolonisierten Bevölkerungen, sondern um die Frage, ob die Schaffung eines Rechtszustandes die Einrichtung einer Kolonialherrschaft legitimieren würde. So diskutiert Kant in § 15 der Rechtslehre die Frage, ob, wenn uns weder die Natur noch der Zufall, sondern bloß unser eigener Wille in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht, in der Absicht, diese zu stiften und diese Menschen (Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen […] befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt, oder durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten (VI 266). 218
In diesem hier beschriebenen Fall haben wir es nicht mit dem unfreiwilligen Besucher zu tun, der als Opfer eines Schiffunglücks zufällig an die Küste eines ihm fremden Landes gespült wird, wie in jener Passage aus den Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden. Es handelt sich vielmehr um Personen, die bloß durch ihren eigenen Willen in die Nähe eines anderen Volkes gebracht wurden, bei welchem sie nicht erhoffen können, dass sie mit ihm nun eine »bürgerliche Verbin-
Vgl. zu dieser Passage auch Cavallars Interpretation (2002, 113). Der § 15 wird von der Ludwig-Edition zu den Vorarbeiten gezählt und nicht in den Text der Rechtslehre mitaufgenommen. Unter der Überschrift des § 15 »Nur in einer bürgerlichen Verfassung kann etwas peremtorisch, dagegen im Naturzustande zwar auch, aber nur provisorisch, erworben werden« steht in der Ludwig-Edition der § 17, der dem Text des vormaligen § 16 der Akademie-Ausgabe folgt. Für die Gründe für diese Umstellungen und Streichungen s. Ludwig (2009, XXXIV). 217 218
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dung« eingehen werden. Kant formuliert daraufhin die Frage, ob in einem solchen Fall auch Gewalt oder die Strategie des Territoriumserwerbs zu einem fiktiven Preis angewendet werden dürfe, um den Rechtszustand herzustellen. Die Frage lautet also, ob man zum Zweck der Etablierung eines Rechtszustandes in einem ansonsten rechtsfreien Raum Kolonien errichten darf. Diese Frage ist für Kant nicht nur von randständigem Interesse, sondern berührt ein zentrales Scharnierstück seiner politischen Philosophie: den Übergang vom Naturzustand in den Rechtszustand. Das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 der Rechtslehre stellt die Forderung auf, man solle »im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem [dem Naturzustand] heraus, in einen rechtlichen Zustand […] übergehen« (VI 307). Es sei dabei »nicht nötig die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten«, sondern man ist auch ohne diese »zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht« (ebd.). In der Vorlesungsmitschrift Vigilantius spricht Kant nicht nur von Zwang, sondern sogar von Gewaltanwendung. Dort heißt es, dass wenn man die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Staatserrichtung im Naturzustand verbieten würde, so würde dies den gesetzlosen Zustand verteidigen, mithin einen Zustand, wo kein Gesetz vorhanden oder nicht anerkannt wäre: dies ist aber ein dem allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit zuwiderlaufender Zustand, mithin muß man annehmen, daß die Natur es zulasse, in der Art, die freie Willkür der Menschen mit der allgemeinen Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen; und also ist hier ein natürliches Erlaubnisgesetz zu der angewandten Gewalt vorhanden (XXVII 515).
Im Naturzustand ist man befugt, das Gegenüber in ein (staatlich verfasstes) Rechtsverhältnis zu zwingen; nach der Vorlesungsmitschrift Vigilantius sogar dazu, Gewalt zu diesem Zwecke anzuwenden. Warum sollte dies also nicht auch in Bezug auf ein Volk legitim sein, »welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung […] verspricht« (RL, VI 266)? Kants Einschätzung in § 15 der Rechtslehre fällt jedoch eindeutig aus: »Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit (Jesuitism), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also verwerflich« (ebd.). Diese Antwort ist auch deshalb bemerkenswert, weil es nach Kant zur Errichtung des Rechtszustandes im Naturzustand erlaubt ist, Boden 148
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oder andere Dinge außer meiner selbst (provisorisch) zu erwerben. Diese Erwerbung kann aber nur unter der Vorstellung eines vereinigten Willens aller als rechtmäßig gedacht werden, »denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden« (VI 264). Genau diese Verbindlichkeit erlegt man anderen aber auf, wenn man Eigentum erwirbt, denn »[d]as Recht in einer Sache ist ein Recht des Privatgebrauchs einer Sache« (RL, § 11, VI 261). Das heißt mit der Erwerbung einer Sache oder von Boden schließt man andere vom Gebrauch dieser aus und erlegt ihnen damit eine Verbindlichkeit auf. Diese Erwerbung erfolgt im Naturzustand nach Kant freilich nur provisorisch, erst im bürgerlichen Zustand ist peremtorische Erwerbung möglich (RL, § 15, VI 264). Der provisorische Besitzstand darf aber »im Überschritt aus dem Naturzustande in den bürgerlichen, als ein, obwohl unrechtmäßiger, […] fortdauern« (ZeF, VIII 357). Er ist unrechtmäßig, weil er durch einen einseitigen Willen erfolgt ist, ohne die Wirklichkeit (RL, VI 264) eines vereinigten Willens. Er darf aber fortdauern, weil er dem Erlaubnisgesetz des Naturrechts folgt (ZeF, VIII 357). Diese ursprüngliche provisorische Erwerbung ist jedoch nur möglich, wenn sie »in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung« (RL, VI 264) erfolgt. 219 Nur mit Hinblick und in Absicht der Einrichtung eines bürgerlichen Zustandes ist eine solche Erwerbungsart denkbar. 220 Man könnte aber meinen, dass diese Punkte in dem in § 15 geschilderten Fall durchaus erfüllt sind. Handelt es sich nicht um eine Erwerbung, die auf die Errichtung eines Rechtszustandes gerichtet ist, der zuvor nicht bestand? Und ist für die Errichtung eines solchen nicht auch die Anwendung von Zwang, wenn man der VigilantiusVorlesung folgt sogar von Gewalt, gerechtfertigt? Was unterscheidet 219 Vgl. zu diesen Punkten auch § 14 der Rechtslehre: »Der Wille aber, die Sache (mithin auch ein bestimmter abgeteilter Platz auf Erden) solle mein sein, […] kann in einer ursprünglichen Erwerbung nicht anders als einseitig […] sein« (VI 263). Und später weiter: »Derselbe Wille aber kann doch eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d. i. durch die Vereinigung der Willkür aller, die in ein praktisches Verhältnis gegen einander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist« (ebd.). 220 Vgl. hierzu auch die Formulierung aus § 16, der die ursprüngliche Erwerbung als »einleitend« zu einem rechtlichen Zustand bezeichnet (VI 267); nach der LudwigEdition § 17.
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also, die beschriebene Situation von jener des Naturzustandes? Meines Erachtens sind mindestens zwei Dinge hier wichtig. Zunächst einmal qualifiziert Kant das Argument als »Jesuitism«, was in diesem Zusammenhang pejorativ zu verstehen ist: Ebenjenes Argument für den Kolonialismus basiert nach Kant auf ›Wortverdreherei‹. Zum einen handle es sich nur um »vermeintlich gute Absichten« (VI 353), zum anderen seien gerade nicht alle Mittel zu billigen, die gute Zwecke befördern – und in dem spezifischen Fall der Errichtung der Kolonialherrschaft können selbst vermeintlich gute Absichten »den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen« (VI 353). 221 Nicht alle Mittel zu guten Zwecken sind unter allen Umständen zu billigen. Das Erlaubnisgesetz hat einen klaren Anwendungsbereich – und dieser wird hier nicht erfüllt. Dies bringt uns zu dem zweiten für diesen Zusammenhang wichtigen Punkt: In der beschriebenen Situation befinden sich die Beteiligten gerade nicht im ›bloßen‹ Naturzustand. Mindestens eine Partei ist Teil eines bürgerlich-rechtlichen Zustandes. Wie aber bereits erläutert, gilt nach dem Weltbürgerrecht, dass, wenn mindestens eine Partei bereits Mitglied eines Rechtszustandes ist, sich die Anwendung von Gewalt gegenüber einer Gruppe (oder Einzelperson), mit der sich diese Partei noch nicht im Rechtszustand befindet, verbietet, auch wenn durch diese Gewaltanwendung ein bürgerlich-rechtlicher Zustand geschaffen werden könnte. Dies ist eine entscheidende Grenze des Erlaubnisgesetzes. 222 Das Weltbürgerrecht verbietet es, Gewalt anzuwenden, um den Rechtszustand mit und zwischen nichtstaatlichen Gemeinschaften herzustellen. 223 221 Eine überzeugende Interpretation dieses Passus mit Hinblick auf nichtstaatliche Völker liefert Niesen: »Der bleibende ›Flecken der Ungerechtigkeit‹ kann darin gesehen werden, dass die Restitution ihrer Freiheit in den Formen bindenden Zwangsrechts erfolgen und die willkürlichen Grenzen früherer kolonialer Herrschaft festschreiben wird, die die europäischen Staaten errichtet hatten. Selbst in dem Fall, in dem der Prozess der Dekolonisierung zur Verfassungsgebung unter Bedingungen politischer Freiheit führt, kann das Unrecht der Kolonisierung nicht vollständig rückgängig gemacht werden« (2014, 534). 222 Zur Problematik des Erlaubnisgesetzes s. Brandt (2004b, zuvor schon ausführlicher 1982, s. auch 1996, 40 44) und Flikschuh (2000, 113–143). 223 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Eberl/Niesen (2011, 257). S. auch Niesen: »Im Gegensatz zum Naturzustand zwischen Individuen kann der Einsatz äußerer Gewalt die Gründung eines öffentlich-rechtlichen Zustandes für eine nichtstaatliches Volk nicht mit Verweis auf ein ›Erlaubnisgesetz‹ gerechtfertigt werden« (2014, 533).
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Kant zeigt sich hier also als ein scharfer Kritiker des Kolonialismus. Die Kolonialismuskritik ist freilich im ausgehenden 18. Jahrhundert für die Philosophie kein neues Thema mehr. Kants Vorgänger kritisieren dabei aber vor allem die Brutalität und Grausamkeit der Kolonialherrschaft oder die ökonomische Widersinnigkeit des Festhaltens an Kolonien. 224 Auch in Kants Argumentation schwingt 224 So hatte sich beispielsweise bereits Montaigne in seinen Essais deutlich gegen das Verhalten der Europäer in der ›Neuen Welt‹ gewandt. Er schreibt in dem Text »Über Kutschen«: »Zerstörte Städte, ausgerottete Völker, Millionen erschlagener Menschen, völliger Umsturz im reichsten und schönsten Weltteil, nur weil man Perlen und Pfeffer einheimsen wollte!« (325) Allerdings ist Montaignes Antikolonialismus stark von der Vorstellung des ›edlen Wilden‹ getragen, der durch den europäischen Einfluss verroht wird: »Wie hätte sich die ganze Welt verjüngt und gebessert, hätte das Verhalten der ersten Vertreter unserer Welt, die die Völker drüben zu sehen bekamen, diese veranlaßt, unsere Auffassung von Tugend zu bewundern und nachzuahmen […]. Wie leicht wäre es gewesen, die Seelen von Menschen zu gewinnen, die so unberührt, so lernbegierig waren und in der Regel so glücklich veranlagt! Aber nein; wir haben ihre Unwissenheit und Unerfahrenheit dazu mißbraucht, sie an Verat, Unzucht, Habsucht, Grausamkeit und unmenschliches Verhalten aller Art zu gewöhnen, weil sie unsere Sitten sahen und sich danach richteten« (ebd.). Zuvor wurde das brutale Vorgehen der spanischen Kolonisatoren freilich schon durch den Dominikanermönch Las Casas kritisiert. S. Las Casas [1552]. Mit der Kolonialismuskritik vor Kant sind aber eben auch Namen wie Suarez, Acosta, Vázquez de Menchaca oder auch Sepúlveda verknüpft. Für das 18. Jahrhundert wäre beispielsweise Diderot zu nennen, der sowohl durch seine Mitwirkung an Raynals Die Geschichte beider Indien [1770] als auch durch den Dialog »Nachtrag zu ›Bougainvilles Reise‹« [1772] als Kritiker des Kolonialismus in Erscheinung tritt. In letzterem Text schreibt er Folgendes über das Verhalten der Jesuiten in Paraguay gegenüber der indigenen Bevölkerung: »Sie hatten sie zu unablässiger Arbeit verurteilt; sie mästeten sich auf Kosten ihres Schweißes, sie ließen ihnen kein Recht auf Eigentum; sie hielten sie in der Verdummung des Aberglaubens, forderten von ihnen tiefe Verehrung, gingen unter ihnen mit der Peitsche in der Hand umher und schlugen unterschiedslos jedes Alter und jedes Geschlecht« (Abschn. 1, 159). Und in der Abschiedsrede des Greises heißt es dann: »Derjenige, den du in Besitz nehmen willst wie ein Stück Vieh, der Tahitianer, ist dein Bruder. Beide seid ihr Söhne der Natur. Welches Recht hast du über ihn, wenn er kein Recht über dich hat?« (Abschn. II, 164). Aus ökonomischen Gründen kritisierte etwa Adam Smith den Kolonialismus: Kolonialwirtschaft sei schlichtweg nicht wirtschaftlich. Vgl. hierzu etwa folgende Passage aus Wealth of Nations [1776]: »The monopoly of the colony trade, therefore, like all the other mean and malignant expedients of the mercantile system, depresses the industry of all other countries, but chiefly that of the colonies, without in the least increasing, but on the contrary diminishing, that of the country in whose favour it is established« (IV vii 3). Auch Bentham setzte sich wenige Jahre vor Erscheinen von Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre kritisch mit dem Kolonialismus auseinander. Allerdings basiert seine Kritik ebenfalls vorwiegend auf wirtschaftlichen Gründen [1793]. Die Erstveröffentlichung dieses Textes erfolgte aber erst 1830.
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durchaus mit, dass Kolonien unwirtschaftlich seien. Diesem Umstand wird aber eine andere Konnotation verliehen: Die Kolonialmächte würden »dieser Gewalttätigkeit nicht einmal froh werden«, da etwa auch die Zuckerinseln, »dieser Sitz der allergrausamsten und ausgedachtesten Sklaverei, keinen wahren Ertrag abwerfen« (ZeF, VIII 359). Die Unwirtschaftlichkeit der Kolonien, die für Kant zwar ohne Frage gegeben ist, ist für ihn nicht der Ausgangspunkt seiner Kritik. Ein entscheidender Aspekt, der Kants Kritik am Kolonialismus von jenen seiner Vorgänger unterscheidet, besteht darin, dass er ihn nicht allein aufgrund der Zerstörung und des Unheils, das dieser über ganze Völker gebracht hat, verurteilt bzw. wegen seiner Unwirtschaftlichkeit kritisiert, sondern dass Kant vielmehr auch auf ein grundlegendes Rechtsproblem hinweist – welches auch dann bestünde, wenn es einen wirtschaftlich einträglichen Kolonialismus gäbe oder einen, der ganz ohne Bedrohung für Leib und Leben daherkäme. 225 Im Folgenden werde ich dieses zugrunde liegende Rechtsproblem an jenem Beispiel deutlich machen, welches Kant im § 62 der Rechtslehre diskutiert. Dort wirft er die Frage auf, »ob ein Volk in neuentdeckten Ländern eine Anwohnung […] und Besitznehmung in der Nachbarschaft eines Volkes, das in einem solchen Landstriche schon Platz genommen hat, auch ohne seine Einwilligung unternehmen dürfe« (RL, VI 353) – welches eine der zentralen Fragen bezüglich der Rechtmäßigkeit des Kolonialismus ist. 226 Das Weltbürgerrecht kann nur dann Recht genannt werden, wenn es das Allgemeine Prinzip des Rechts erfüllt. Dieses führt Kant zu Beginn der Einleitung in die Rechtslehre ein: Nach Kant ist eine Handlung Recht, »die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Ge225 Gegen diese Interpretation Nussbaum: »But we should observe that what Kant objects to in colonialism is the oppressive and brutal treatment of the inhabitants more than the fact of rule itself« (Nussbaum 1997, 38). Hoesch wiederum übersieht, dass auch schon in den Unterdrückungspraktiken und der Brutalität der Kolonialherren hinreichende Gründe für eine (auch rechtliche) Verdammung der Kolonialherrschaft bestehen, wenn er schreibt, Kant könne »auf der Grundlage des Weltbürgerrechts (und nur auf dieser Grundlage) das ›inhospitale Betragen‹ der europäischen Kolonialmächte als rechtlich illegitim erweisen und einer scharfen Kritik unterziehen« (Hoesch 2015b, 2621). Brandt weist darauf hin, dass Kant »die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übliche Kritik des europäischen Kolonialismus [teilt,] und begründet diese allgemeine Haltung mit seiner Rechtstheorie« (2004a, 145). 226 Hier greift Kant wohl Überlegungen Wolffs auf, s. Cavallar (1992, 229).
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setze zusammen bestehen kann« (RL, VI 230). Nur wenn das Weltbürgerrecht also ein Prinzip formuliert, nach welchem die Freiheit der Willkür des Einen mit jedermanns Freiheit zusammengebracht werden kann, kann es Recht sein. Kants Antwort auf die obige Frage lautet dann auch: Wenn sich die Ansiedlung in solch einer Entfernung von dem bereits siedelnden Volk befindet, dass jenes nicht durch die Anwesenheit der Neuankömmlinge gestört wird, dann dürfen diese dort auch ohne deren Einwilligung siedeln. Sollten diese aber in irgendeiner Weise die bisherigen Freiheiten jener einschränken, bedürfte es eines gesonderten Vertrags (RL, VI 353). Das Problem, das durch koloniales Verhalten aufgeworfen wird, besteht also in Kants Augen nicht allein in jenen Verbrechen, die faktisch mit Kolonialismus einhergehen. Vielmehr besteht die Frage, ob überhaupt eine Form von Kolonialismus denkbar wäre, die dem Allgemeinen Prinzip des Rechts genügen würde: 227 Kolonien entstehen – abgesehen von den zwei von Kant als legitim erachteten Formen der Koloniebildung – immer auf ungerechte Weise; entweder durch Eroberungskriege oder durch betrügerischen Kauf. Sie werden von einem Mutterstaat beherrscht, d. h., ihnen wird die Möglichkeit der Selbstregierung genommen. Schließlich verursacht eine Kolonialherrschaft klassischerweise »die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken«. Man kann also Arthur Ripstein zustimmen, wenn er schreibt, dass nach Kant Kolonien auf drei Ebenen mit Rechtsverletzungen einhergehen: »the wrongfulness of colonial conquest, the wrongfulness of the status of a colony, and the wrongfulness of the ways in which colonial rule is typically carried out« (2014, 168). 228 Abschließend lässst sich festhalten, dass Kant Kolonien in vielfältiger Weise diskutiert und neben den kritikwürdigen Formen auch 227 Kleingeld ist folgender Ansicht: »In the Doctrine of Right, Kant defines a ›colony‹ in a way that makes the colonial relation necessarily unjust« (Kleingeld 2014, 52). Dies müsste man wohl präzisieren: Kant definiert den Begriff der Kolonie nicht nur in einer Weise, die jede Form der Kolonialherrschaft zu Unrecht erklärt; Kolonien und Kolonialherrschaft sind nach Kants Rechtsverständnis schlicht Unrecht. Wie weiter oben gezeigt wurde (Kap. 7.1), deckt Kants Kolonialismusdefinition die wesentlichen Bestandteile auch heute noch gängiger Definitionen von Kolonien ab. Seine Definition ist also keineswegs idiosynkratrisch, sondern beschreibt das Phänomen treffend. Kolonialherrschaft ist also nicht nur nach seiner Definition von Kolonien notwendigerweise Unrecht, sondern per se. 228 Ripstein (2014) macht die Rechtsverletzungen auf diesen drei Ebenen allerdings an anderen Sachverhalten fest, als ich sie hier angeführt habe.
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zwei legitime Formen der Koloniebildung kennt, wobei die letzteren nicht mit einem Herrschaftsverhältnis über die bereits ansässige Bevölkerung einhergehen und entweder auf Einladung erfolgen oder ohne die Ansprüche der ansässigen Bevölkerung zu tangieren. Alle anderen Formen von Koloniebildung – und alle Formen von Kolonialherrschaft – sind nach Kant illegitim. Allerdings arbeitet er diese Position in aller Deutlichkeit erst ab Mitte der 1790er Jahre heraus. Zuvor erscheint Kant – auch aufgrund der von ihm bis dahin vertretenen ›Rassenhierarchie‹ – dem Gebaren der Kolonialmächte gleichgültig, möglicherweise sogar wohlwollend gegenüberzustehen. Erst ab dem Punkt, an dem er beginnt, sich eingehender mit rechtsphilosophischen Fragen zu beschäftigen (Zum ewigen Frieden und Rechtslehre), gibt er das Konzept der ›Rassenhierarchie‹ auf. Gleichzeitig verlässt er seinen deskriptiven – bis unterstützenden – Standpunkt zum Kolonialismus und formuliert eine scharfe Kritik an den Kolonialmächten. Diese Diskussion des Weltbürgerrechts mit Hinblick auf den Kolonialismus hilft uns einerseits, es in einer seiner Anwendungen zu illustrieren. Andererseits lässt sich so deutlich machen, dass es Kant in seiner Kolonialismuskritik nicht allein um eine Kritik des Verhaltens der Kolonialmächte in den Kolonien geht, sondern er darüber hinaus auf die Rechtsverletzung verweist, welche allein schon durch die Errichtung und das Bestehen von Kolonien – mit Ausnahme der zwei legitimen Formen – erfolgt. So verdeutlicht Kants Kolonialismuskritik einmal mehr, warum das Weltbürgerrecht nicht allein auf ein ›Recht auf Hospitalität‹ verkürzt werden sollte, wie es in der gegenwärtigen Debatte um Migration innerhalb der politischen Philosophie oft geschieht: Eine derartige Verkürzung würde es nicht erlauben, die antikolonialistische Stoßkraft der von Kant gewählten Formulierung abzubilden. Das Weltbürgerrecht ist ›zweischneidig‹ und kann auch auf zwiefache Weise verletzt werden: durch Feindseligkeit gegenüber Fremden, die sich friedlich verhalten, aber eben auch durch koloniales oder imperialistisches Verhalten. Dies wirft die Frage auf, welche Arten von Rechten und Pflichten aus dem Weltbürgerrecht folgen. Diese Frage ist der Gegenstand des folgenden Kapitels.
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Bereits aus der Kritik der praktischen Vernunft ist die Unterscheidung von Form und Materie von Nötigungen und Verbindlichkeiten bekannt, wobei die Materie die Gegenstände, das Objekt, den Inhalt der Verbindlichkeit meint, während die Form deren innere Struktur beschreibt. 229 In der Metaphysik der Sitten nimmt Kant diese Unterscheidung wieder auf und schreibt dort: »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Weise dazu verbunden werden können« (VI 222). Wenn wir uns diese Redeweise einmal zu eigen machen wollen, dann könnte man sagen, dass bislang von der ›Materie‹ der Pflichten, die in den Passagen zum Weltbürgerrecht von Kant benannt werden, die Rede war: der Verpflichtung zur Nichtfeindseligkeit, sowohl aufseiten des Ankommenden wie auch der Ansässigen, und der Verpflichtung zur Nichtzurückweisung bei drohendem Untergang. Doch was ist die Form, die innere Struktur dieser Verbindlichkeiten? Oder, anders gefragt: Um was für Pflichttypen handelt es sich hier? Das bezieht auch die Frage ein, ob sich aus dem Weltbürgerrecht vollkommene oder unvollkommene Pflichten ableiten? Benhabib, die das Weltbürgerrecht primär als ein »Recht auf Hospitalität« liest – und für die der zweite Aspekt des Weltbürgerrechts, der Antikollonialismus, daher in den Hintergrund rückt –, ist der Ansicht, dass diesem Recht eine unvollkommene moralische Pflicht korrespondieren würde: This duty is ›imperfect‹ – i. e., conditional, in that it can permit exceptions, and can be overridden by legitimate grounds of self-preservation. There is
Zur Unterscheidung von Materie und Form in der Kritik der praktischen Vernunft s. KpV (V 21, 27, 29 u. 33 f.).
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Rechte und Pflichten: Zur Form des Weltbürgerrechts
no obligation to shelter the other when doing so would endanger one’s own life and limb (Benhabib 2004, 36, Hervorhebung im Original).
Benhabib weist darauf hin, dass es in der Literatur umstritten ist, wie eng oder weit man unvollkommene Pflichten interpretieren darf. Ihre Annahme, dass aus dem Weltbürgerrecht ›unvollkommene‹ Pflichten abzuleiten sind, erscheint jedoch eigentümlich. Benhabib ist der Ansicht, dass die mit dem Weltbürgerrecht einhergehende Pflicht mit einer Hilfspflicht gleichzusetzen sei. Es stellt sich die Frage, ob dies Kants Konzeption des Weltbürgerrechts gerecht wird. Wir wollen daher im Anschluss kurz – auch wenn dadurch den Feinheiten der Behandlung dieser Frage innerhalb der Kant-Forschung nicht genüge getan werden kann – betrachten, was Kant unter einer vollkommenen und einer unvollkommenen Pflicht versteht und wie die aus dem Weltbürgerrecht folgenden Pflichten in dieser Systematik zu fassen sind. Ich werde dafür argumentieren, dass mit dem Weltbürgerrecht vollkommene Rechtspflichten verbunden sind (Kap. 8.1). Eine weitere Frage, die für die gegenwärtige Diskussion nicht unbedeutend ist, lautet, ob aus dem Weltbürgerrecht auch positive Hilfspflichten abgeleitet werden könnten. Wie ich im ersten Abschnitt zeigen werde, korrespondieren dem Weltbürgerrecht (negative) Unterlassungspflichten. Dennoch scheint beispielsweise die unterlassene Abweisung eines Ankommenden unter bestimmten Bedingungen auch positive Leistungen, wie etwa die Versorgung mit Essen und Kleidung, nach sich zu ziehen. Wie verhalten sich diese positiven Verpflichtungen zum Weltbürgerrecht? Ich werde argumentieren, dass das Weltbürgerrecht durch verschiedene andere Pflichten – durchaus auch durch Hilfspflichten – flankiert wird oder werden kann, dass aber dem Weltbürgerrecht selbst keine (positiven) Leistungspflichten korrespondieren (Kap. 8.2). 230 Außerdem könnte man, insbesondere in Bezug auf die im letzten Kapitel erfolgte Untersuchung von Kants Position zum Kolonialismus, fragen, ob aus dem Weltbürgerrecht auch eine special duty folgt: etwa eine besondere Verpflichtung der Kolonialmächte gegenüber den von ihnen kolonialisierten Völkern. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels werde ich daher untersuchen, wie man eine solche Spezialverpflichtung konzeptualisieren könnte. Ich werde zwei Mög230 Welche Verpflichtungen gegenüber Ankommenden über jene dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten hinaus bestehen, wird im dritten Teil dieser Studie erörtert (Kap. 17).
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Das Gebot der Nichtabweisung als unvollkommene Pflicht?
lichkeiten vorstellen, diese dann aber im weiteren Verlauf des Arguments zurückweisen (Kap. 8.3).
8.1 Das Gebot der Nichtabweisung als unvollkommene Pflicht? Kant unterscheidet bekanntermaßen vollkommene und unvollkommene Pflichten. Was genau aber unter diesen Pflichttypen zu verstehen ist, ist Gegenstand umfangreicher Debatten. Vor allem die Frage, was eine Pflicht zu einer ›unvollkommenen‹ Pflicht macht, ist hierbei umstritten. 231 Manche Autoren sind der Ansicht, die unvollkommenen Pflichten seien deswegen unvollkommen, weil sie Ausnahmen erlauben. Dieses Verständnis wird etwa durch den Text der Grundlegung gestützt. Dort schreibt Kant, vollkommene Pflichten erlauben »keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung« (GMS, IV 421). 232 Im Umkehrschluss müssten dann, so jene Interpretation, unvollkommene Pflichten Ausnahmen in diesem Sinne erlauben. Am Beispiel der Hilfspflicht hieße dies: Ich soll zwar nicht generell gegen fremde Not gleichgültig sein. Es kann aber Situationen geben, in denen ich gezwungen bin, eine Abwägung zwischen meinen Interessen und der Hilfspflicht zu treffen. Unter bestimmten Umständen, oder weil die Hilfe mit besonders wichtigen Interessen in Konflikt gerät, sei es dann gestattet, eine Ausnahme zu machen. Benhabib versteht das Konzept der unvollkommenen Pflicht in dieser Weise (Benhabib 2004, 36). 233 231 Für eine prägnante Übersicht über Möglichkeiten, auf welche Weise eine Pflicht ›unvollkommen‹ sein kann, s. O’Neill (1989, 224 f.). Die hier vorgenommene Differenzierung zwischen verschiedenen Lesarten unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten von O’Neills, auch weil es ihr in der Bestimmung der unvollkommenen Pflicht nicht allein auf eine Kant-Interpretation ankommt. Für eine prägnante Übersicht, in welchen Weisen Kant von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten spricht, s. auch Hill (1971). Eine hilfreiche Interpretation, wie sich die Begriffspaare ›vollkommene und unvollkommene Pflichten‹, ›Tugend- und Rechtspflichten‹ sowie enge und weite Pflichten zueinander verhalten, bietet O’Neill (1975, 111–135). 232 O’Neill ist gleichwohl der Ansicht, dass die Formulierung aus der Grundlegung irreführend ist (1975, 122 Fn.). 233 Zur Diskussion der Frage, ob unvollkommene Pflichten Ausnahmen erlauben, s. u. a. O’Neill (1975, 119–122), Baron (1995), Hill (2002, 201–243). Zu den Begriffen ›Pflicht und Pflichtenkollision‹ s. Forschner (72008a, 240 f. und 72008b, 241 f.), ebenso Herman (1993, 79–83) und Höffe (2001, Kap. 3 sowie 2007, Kap. 20 u. 21).
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Andere sind der Ansicht, dass die unvollkommenen Pflichten allein deshalb unvollkommen sind, weil sie eine gewisse Unbestimmtheit hinsichtlich der geforderten Handlung aufweisen, da sie zunächst einmal dazu verpflichten, eine bestimmte Maxime zu haben. Wieder am Beispiel der Hilfspflicht hieße dies: Ich habe zwar die Pflicht, gegen fremde Not nicht gleichgültig zu sein, in welcher Form ich aber helfen soll, ist durch diese Pflicht nicht vorgeschrieben. Die unvollkommene Pflicht erlaubt mir also einen gewissen Spielraum in der Wahl meiner Handlungen, um diese Pflicht zu erfüllen (Baron 1987, 250). Manche Autoren betonen, dass bei den unvollkommenen Pflichten nicht nur eine Unterbestimmung in der Wahl der passenden Handlung besteht, sondern auch bezüglich des notwendigen Grades der Pflichterfüllung. Diese Position vertritt etwa Mosayebi (2013, 132). Gestützt wird diese Interpretation etwa durch Passagen in den nachgelassenen Schriften wie der folgenden: »so daß in Ansehung einzelner Fälle Freyheit der Wahl so wohl der Art als des Grades übrig gelassen wird« (VATL, XXIII 380). 234 Wieder andere verstehen den Spielraum, den die unvollkommenen Pflichten in ihrer Erfüllung erlauben, so, dass nicht allein hinsichtlich der Wahl der Mittel Freiräume bestehen, sondern dass ich auch »angesichts begrenzter Möglichkeiten einen Anwendungsbereich zugunsten eines anderen relativieren kann«, ohne dabei die Gültigkeit der betreffenden Pflicht einzuschränken (Höffe 1983, 195). Diese Lesart wird etwa durch jene Passage in der Tugendlehre gestützt, in der es heißt: »Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die Einschränkung einer Pflichtenmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden« (VI 390). Dieses Verständnis der unvollkommenen Pflichten wird etwa von Mary Gregor geteilt, allerdings nur mit Hinblick auf die Metaphysik der Sitten (1963, 96). 235 234 S. auch folgende Passage aus den Vorarbeiten zur Tugendlehre: »Gebietet aber das Gesetz nur nicht unmittelbar die Handlung sondern nur die Maxime der Handlung läßt es dem Urtheil des Subjects frey die Art und das Maas in welchem Grad das Gebotene ausgeübt werden solle« (VATL, XXIII 394). Tieftrunk geht sogar davon aus, dass es dem Subjekt im Falle der unvollkommenen Pflichten offenstünde zu entscheiden, »ob« etwas »zu thun Pflicht sey« (Tieftrunk 1798, 101; zitiert nach Mosayebi 2013, 131). 235 Die Grundlegung versteht Gregor so, dass sie hinsichtlich der unvollkommenen Pflichten sehr wohl die Möglichkeit »of an arbitrary and subjective choice not to act
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Eine weitere mögliche Lesart könnte lauten, dass die Unvollkommenheit der unvollkommenen Pflichten darin besteht, dass ihnen keine spezifischen Inhaber von Rechten gegenüberstehen: Die Erfüllung der unvollkommenen Pflichten stellt einen »Verdienst« dar (wieder VI 390); sie ist aber niemandem geschuldet. 236 In der Metaphysik der Sitten ist, im Gegensatz zur Grundlegung, die Unterscheidung von Rechtspflichten und Tugendpflichten weitaus bedeutender als jene von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, wobei Rechtspflichten Pflichten sind, »für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist«, und Tugendpflichten solche, »für welche eine solche nicht möglich ist« (RL, VI 239; vgl. auch TL, VI 379). 237 Dies liegt u. a. darin begründet, dass Rechtspflichten bestimmte Handlungen gebieten, während Tugendpflichten fordern, dass man sich bestimmte Zwecke zur Pflicht macht (TL, VI 383). Dabei wird bei der Bewertung der Erfüllung einer Rechtspflicht von der Maxime einer Handlung abgesehen, während für die Erfüllung einer Tugendpflicht die Maxime der Handlung zentral ist. Den Rechtspflichten korrespondieren darüber hinaus Rechte anderer, was wiederum bei den Tugendpflichten nicht der Fall ist (ebd.). Oft wird angenommen, die Rechtspflichten entsprächen den vollkommenen und die Tugendpflichten den unvollkommenen Pflichten – und die »Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht« (VI 240) legt dies auch nahe. Es ist jedoch nicht klar, ob diese Pflichttypen als miteinander koextensiv zu betrachten sind. Denn während man tatsächlich davon ausgehen kann, dass es sich bei allen Rechtspflichten um vollkommene Pflichten handelt, scheinen nicht alle Tugendpflichten zugleich unvollkommene Pflichten zu sein. 238 Beim Selbstmordverbot handelt es sich zwar um keine Rechtspflicht, sondern um eine Tugendpflicht, allerdings um eine
toward the end in the particular situation or to do less than one might do« einräume (1963, 111). Gegen Gregors Interpretation der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten in der Grundlegung s. Rosen (1993, 97–102). Zu den Unterschieden in der Pflichtensystematik zwischen der Grundlegung und der Metaphysik der Sitten s. Wood (2002). 236 S. zu dieser Möglichkeit O’Neill (1989, 225). 237 O’Neill ist sogar der Ansicht, dass für ein Verständnis der Metaphysik der Sitten die Unterscheidung von unvollkommenen und vollkommenen Pflichten überhaupt nicht notwendig ist (1975, 122). 238 So auch Mosayebi (2013, 125). Dagegen Willaschek, der die Tugendpflichten als unvollkommen charakterisiert (1997, 2006). Migration und Weltbürgerrecht
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vollkommene (TL, § 6, VI 422 f.). Ebenso verhält es sich mit dem Verbot der Lüge (TL, § 9, VI 429–431): Das Lügenverbot stellt eine vollkommene moralische Pflicht dar. Ich darf nach Kant unter keinen Umständen lügen. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine Rechtspflicht. Rechtsrelevant wird eine Lüge nur dann, wenn durch sie »einem anderen unmittelbar an seinem Rechte Abbruch« getan wird (RL, VI 238). 239 Wie ordnet Kant nun das Weltbürgerrecht in sein System der Pflichten ein? Ein Blick in die Einleitung der Metaphysik der Sitten zeigt, wo Kant das Weltbürgerrecht verortet. Nach der Tafel zur »Einteilung der Moral als eines Systems der Pflichten überhaupt« (VI 242) ist das öffentliche Recht, dessen dritter Teil, nach Staats- und Völkerrecht, das Weltbürgerrecht bildet, den Rechtspflichten zuzuordnen. Und nach der »Einteilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht« sind Rechtspflichten vollkommene Pflichten (VI 240). 240 Nach Kants eigener Einteilung handelt es sich beim Weltbürgerrecht demnach um eine vollkommene Rechtspflicht, also um eine Pflicht, »für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist«, da sie bestimmte Handlungen – oder deren Unterlassung – fordert und nicht verlangt, dass man sich bestimmte Zwecke – etwa die Glückseligkeit der Ankommenden – zur Pflicht macht. Der Rechtspflichtcharakter der dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten wird auch durch Kants Hinweis zu Beginn des dritten Definitivartikels der Friedensschrift unterstrichen, es sei »hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede« (VIII 357, vgl. auch RL, VI 352).
239 Nach einer weiteren Lesart bezieht sich der Begriff der Tugendpflicht und der Rechtspflicht lediglich auf die Unterteilung der Pflichten, also darauf, was gegenüber anderen als verdienstlich oder als geschuldet bewertet werden kann. Der Begriff der Tugendpflicht würde dann nur jene Pflichten betreffen, die in den §§ 23–35. aufgeführt werden (Höffe 42010, 207). Nach dieser Lesart würden dann aber die Pflichten gegenüber sich selbst, seien es vollkommene oder unvollkommene, ganz aus der Unterteilung von Rechtspflichten und Tugendpflichten herausfallen. Auch nach dieser Lesart wären also die Begriffspaare ›vollkommene und unvollkommene Pflichten‹ sowie ›Rechts- und Tugendpflichten‹ nicht koextensiv. Zur engen Verbindlichkeit von Tugendpflichten s. Atterton (2007). Zu den ›vollkommenen Tugendpflichten‹ innerhalb von Kants Pflichtensystematik s. Alves (2010). 240 Nach der Akademie-Ausgabe sind beide Schautafeln Teil der »Einleitung zur Rechtslehre«. Die Ludwig-Edition ordnet sie der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« zu.
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Jedoch ist immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es einige textliche und inhaltliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Systematik der Pflichten in Kants Werk gibt. 241 Man könnte also anzweifeln, dass man in dieser Frage Kants eigener Einordnung vertrauen darf. Unabhängig von Kants eigener Zuordnung lässt sich aber zeigen, dass die mit dem Weltbürgerrecht einhergehenden Pflichten aus systematischen Gründen vollkommene Rechtspflichten sein müssen: Denn das Weltbürgerrecht fordert nicht ein Handeln aufgrund bestimmter Maximen und benennt auch keine Zwecke, die man sich zur Pflicht machen solle. Es ist gerade »nicht von Philanthropie […] die Rede« (ZeF, VIII 357). Das Weltbürgerrecht regelt ausschließlich die äußeren Handlungen. Folglich ist für die sich aus ihm ergebenden Pflichten eine äußere Gesetzgebung möglich. Die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten erfüllen also die oben erarbeiteten Merkmale einer Rechtspflicht. Ungeachtet dessen, ob nun Rechtspflichten immer vollkommene Pflichten sind oder nicht, lässt sich darüber hinaus zeigen, dass es sich beim Weltbürgerrecht in jedem Fall um eine vollkommene Pflicht handeln muss. 242 Es verpflichtet nämlich zu Unterlassungen: Es fordert, die Ankommenden nicht feindselig zu behandeln, solange sich diese selbst friedlich verhalten; weiterhin auch, sie nicht abzuweisen, sollte dies ihren Untergang bedeuten. Darüber hinaus untersagt es koloniale Expansion. Die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten sind also negative Pflichten, nämlich Unterlassungspflichten. Eine geforderte Unterlassung stellt aber immer eine vollkommene Pflicht dar. Es handelt sich demnach bei den dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten, anders als Benhabib annimmt, um vollkommene Rechtspflichten. Nun könnte man die Frage, ob dem Weltbürgerrecht vollkommene oder unvollkommene Pflichten korrespondieren, für eine nur für die Kant-Forschung interessante Frage halten – mit wenig Relevanz für die gegenwärtige Debatte um Migration in der politischen S. etwa Ludwig (1990, XVIII–XXIII). Auch Mosayebi (2013, 124). Zu Kants System der Pflichten s. auch Gregor (22008) und Wood (2008, 161–166). Ich teile Mosayebis Einschätzung, dass es sich bei diesen Schwierigkeiten nicht um Widersprüche, sondern um unterschiedliche »Perspektiven« auf die verschiedenen Pflichttypen handelt (2013, 125). Dagegen Willaschek (1997, 208). 242 Zur Auffassung, dass alle Rechtspflichten negativer Art sind, s. Mosayebi (2013, 134). Dort finden sich auch die Verweise auf die entscheidenden Passagen aus den Vorlesungsmitschriften und den Reflexionen (134 Fn.). 241
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Philosophie. Dies ist jedoch nicht der Fall: Diese Einordnung hat beispielsweise weitgehende Implikationen für die Art und den Umfang der Verpflichtungen, die wir gegenüber Flüchtlingen annehmen. Gehen wir davon aus, dass wir gegenüber Flüchtlingen lediglich (unvollkommene) Tugendpflichten haben, dann sind diese – je nach Begriffsverständnis der unvollkommenen Pflicht, das wir anlegen wollen – gegebenenfalls bloße Hilfspflichten. Sie wären niemanden geschuldet bzw. keine spezifische Person könnte auf sie Anspruch anmelden. Es handelte sich bei ihnen (nur) um ein verdienstliches Mehr, welches zwar lobenswert ist, aber von niemanden eingefordert werden kann. Gegebenenfalls – wieder je nach Begriffsverständnis der unvollkommenen Pflicht – könnten die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten durch andere Anwendungsbereiche relativiert oder sogar außer Kraft gesetzt werden. Je nachdem, ob man die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten also als vollkommene oder als unvollkommene Pflichten charakterisiert, ergibt sich ein radikal anderes Bild etwa des Verpflichtungscharakters gegenüber Flüchtlingen und Migranten. Im dritten Teil dieser Studie werde ich auf diese Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen und Migranten, die sich aus dem Weltbürgerrecht ableiten lassen, zurückkommen.
8.2 Korrespondieren dem Weltbürgerrecht positive Pflichten? Positive Leistungspflichten fordern anders als die negativen Unterlassungspflichten nicht allein, von einer bestimmten Handlung abzusehen, sondern auch, eine bestimmte Tat zu unternehmen, um diese Pflichten zu erfüllen. Im obigen Abschnitt habe ich gezeigt, dass dem Weltbürgerrecht zunächst Unterlassungspflichten gegenüberstehen: Die Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten wie die Pflicht zur Nichtabweisung, sollte diese den Untergang einer Person bedeuten. Vorausgesetzt, dass die bisherigen Überlegungen zutreffend sind und dem Weltbürgerrecht primär Unterlassungspflichten entsprechen, dann ist es systematisch schwierig, aus diesen positive Leistungspflichten herzuleiten. Gleichwohl könnten sich diese in Folge einer Nichtabweisung des Fremden ergeben, etwa im Fall des drohenden ›Untergangs‹ (Eberl/Niesen 2011, 261), aber auch im Fall der gewollten freiwilligen Interaktion zum Zwecke des Handels, des kultu162
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rellen Austausches oder dergleichen. Ebenso gilt für das Opfer des Schiffsunglücks, welches wir aus Kants Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden kennen, wohl auch, dass ihm materiell geholfen werden muss und dass die Verpflichtungen, die ihm gegenüber bestehen, über eine bloße Nichtabweisung und die Unterlassung von Feindseligkeiten hinausgehen: Ein Mensch, der schiffsbrüchig ist, bedarf neben der Nichtabweisung auch der Versorgung mit Essen und Kleidung, gegebenfalls mit einer Unterkunft. Das Weltbürgerrecht muss allerdings für diese Fälle und die sich aus ihnen ergebenden weitergehenden Verpflichtungen nicht die einzig relevante Grundlage bilden. In diesem Teil der Arbeit möchte ich mich zunächst auf die Implikationen des Weltbürgerrechts beschränken. An späterer Stelle wird drauf zurückzukommen sein, welche Pflichten die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten gegebenenfalls sinnvoll flankieren können. Hierbei wird insbesondere auch eine Erörterung des von Kant im dritten Definitivartikel der Friedensschrift erwähnten »wohltätigen Vertrags« und der sich aus ihm ergebenden Pflichten erfolgen (Kap. 15). Weiterhin wird die Rolle der Hilfspflicht und der Pflicht zur Wohltätigkeit zu untersuchen sein (Kap. 17.2 u. 17.3); schließlich auch jene zur Teilnehmung, Dankbarkeit und der weltbürgerlichen Gesinnung (Kap. 17.4). Es wird dabei erörtert werden, ob sich nicht aus anderen Teilen von Kants Werk relevante positive Leistungspflichten mit Hinblick auf Flucht und Migration folgern lassen, oder ob wir hier an Kants Grenzen geraten und gegebenenfalls mit Kant über Kant hinaus denken müssen, um zu befriedigenden Antworten für gegenwärtige Fragen und Herausforderungen zu gelangen.
8.3 Ergeben sich aus dem Weltbürgerrecht special duties? Wie bereits in Kapitel 7 gezeigt, stellt Kants Absage an den Kolonialismus einen zentralen Punkt des Weltbürgerrechts dar. Man könnte nun meinen, dass dem Weltbürgerrecht daher auch sogenannte special duties, also Spezialverpflichtungen erwachsen, die die ehemaligen Kolonialmächte in einer besonderen Verantwortung für die von ihnen kolonisierten Regionen, Ländern und Gruppen sehen. Unter einer sogenannten Spezialverpflichtung wird eine Art von Verpflichtung verstanden, die eine bestimmte Einzelperson oder Gruppe einer anderen bestimmten Einzelperson oder Gruppe schuldet, im GegenMigration und Weltbürgerrecht
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satz zu Verpflichtungen, die alle Menschen gegenüber allen Menschen haben. 243 Zumeist werden derartige besondere Verpflichtungen mit dem besonderen Verhältnis von bestimmten Menschen zueinander gerechtfertigt. Etwa könnte man davon ausgehen, dass Familienmitglieder einander Dinge schulden, die sie niemanden außerhalb ihrer Familie schulden. Oder man könnte argumentieren, wie es häufig in der Debatte um globale Gerechtigkeit geschieht, dass die Bürger eines Staates miteinander in einem Verpflichtungsverhältnis stehen, welches Pflichten der distributiven Gerechtigkeit generiert, die aber nicht gegenüber allen Menschen bestehen. Diese Position vertreten beispielsweise Walzer und Miller, deren Ansätze ausführlicher im ersten Teil dieser Studie diskutiert wurden. Ich möchte dieses Verständnis von Spezialverpflichtung als Verpflichtungen aus gerechtfertigter Parteilichkeit (partiality) bezeichnen. Analog könnte man nun, wie gesagt, argumentieren, dass sich aus dem Weltbürgerrecht eine besondere Verpflichtung der ehemaligen Kolonialmächte gegenüber den von ihnen Kolonisierten ergibt. Es gibt mehrere Weisen, wie man dieses besondere Verhältnis, welches die Spezialverpflichtungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten begründet, charakterisieren könnte: Man könnte es beispielsweise – und zunächst wertungsfrei – als eines der besonders engen Interaktion begreifen. Aufgrund des besonders engen kulturellen, sprachlichen und personellen Austauschs zwischen den Kolonien und dem Mutterstaat ergebe sich, so dieses Verständnis, ein besonders enges Verhältnis, welches gegebenenfalls über die Kolonialherrschaft hinaus besteht und eine gewisse Parteilichkeit beispielsweise in Entwicklungshilfebemühungen des ehemaligen Mutterstaats gegenüber seiner ehemaligen Kolonie erlaubt oder sogar fordert. Frankreichs besonderer Einsatz in der Entwicklungshilfe für ehemalige französische Kolonien ließe sich etwa so begründen oder auch Großbritanniens Fokus auf ehemalige britische Kolonien.
243 S. zur Definition und zu einer Übersicht über die gegenwärtige Debatte um besondere Verpflichtungen Jeske (2014). Für eine konzise Diskussion gegenwärtiger Argumente für besondere Verpflichtungen und gängiger Einwände s. Scheffler (1997 u. 2001). Für eine Diskussion besonderer Verpflichtungen innerhalb von politischen Gemeinschaften s. u. a. MacIntyre (1984), Simmons (1979 u. 1996) Miller (2005), Abizadeh/Gilabert (2008) sowie Moellendorf (2011).
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Es ließe sich aber auch anführen, dass die Kolonialmächte nicht nur besondere Verpflichtungen gegenüber den Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolonien – und deren Bevölkerungen – haben, die sich aus der engen Interaktion der Kolonialherrschaft ergeben, sondern auch aufgrund der historischen Ungerechtigkeit, die der Kolonialismus darstellt. 244 Nach diesem Ansatz handelt es sich bei den Spezialverpflichtungen nicht allein um Pflichten der gerechtfertigten Parteilichkeit aufgrund eines besonders engen Verhältnisses, sondern um Pflichten, die aus vergangenem Unrecht resultieren. Beide Ansätze weisen aber Schwierigkeiten auf. Zunächst einmal erscheint es problematisch, innerhalb eines kantianischen Systems für sogenannte Spezialverpflichtungen zu argumentieren – sowohl im Sinne der gerechtfertigten Parteilichkeit (partiality) wie auch im Sinne der historischen Ungerechtigkeit. Sowohl der kategorische Imperativ der Moralphilosophie als auch der »kategorische Rechtsimperativ« der Rechtsphilosophie Kants schließen Parteilichkeit im Rahmen der Rechtfertigung aus. 245 Gleichwohl ist es möglich, dass bestimmte Personengruppen gegenüber anderen Personengruppen Verpflichtungen haben, die wiederum andere diesen gegenüber nicht haben: So haben etwa Eltern gegenüber ihren Kindern Pflichten, die sie a) nicht gegenüber anderen Kindern haben und b) andere Menschen auch nicht gegenüber Kindern, deren Eltern sie nicht sind. Jedoch werden diese Arten von Verpflichtungen von Kant nicht als ›besondere Verpflichtungen‹ im Gegensatz zu unseren allgemeinen Verpflichtungen konzipiert; vielmehr gelten auch diese Verpflichtungen für alle Menschen – unter der Anwendungsbedingung, dass sie eben Eltern sind. Dies macht die Pflicht selbst nicht konditional und auch nicht besonders. Die Pflicht ergibt sich nicht erst aus einem speziellen Verhältnis. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeinmenschliche Pflicht. Sie hat nur nicht immer einen Anwendungsgegenstand. Ein kurzer Vergleich mit einer anderen Pflicht vermag diesen Punkt illustrieren: Auch von der Hierzu etwa Niesen: »In order to give a comprehensive account of cosmopolitan communicative rights under hospitality, we need to consider the implications of another empirical fact besides the fact of appropriation, the fact of historical injustice« (2007, 104). In seinem Aufsatz »Historisches Unrecht im Völker- und Weltbürgerrecht« geht Niesen dann der Frage nach, inwiefern Verpflichtungen restitutiver Gerechtigkeit mit Kants Überlegungen zum Völker- und Weltbürgerrecht vereinbar sind bzw. ob diese sich nicht sogar direkt aus jenen ableiten lassen (Niesen 2014). 245 Zum Begriff des kategorischen Rechtsimperativs s. Höffe (1995, 126 –150.). 244
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Hilfspflicht ist man nicht entbunden, wenn es keine Hilfsbedürftigen gibt. Nun könnte man meinen, dass in dem Umstand, dass Kant keine Spezialverpflichtungen kennt, eher Kants Fehler als Kants Tugend besteht. Im Folgenden wird sich aber zeigen, dass die special duties nichts leisten, was nicht auch auf andere Weise, aber mit einem kantianischen System kompatibel, eingefangen werden kann. Wenden wir uns zunächst dem Konzept der historischen Ungerechtigkeit zu. Der Rückgriff auf dieses Konzept erscheint auf den ersten Blick naheliegend, denn: »Within the global debate, colonialism tends to be conceptualized as an instance of the more general category of ›historical injustice‹« (Ajei/Flikschuh 2014, 222). Nun steht die Diskussion um den Umgang mit vergangenem Unrecht vor vielen konzeptuellen Schwierigkeiten. 246 Gerade aber in Bezug auf den Kolonialismus kann man durchaus die Frage stellen: »But is colonialism even (or only) a past wrong? If the effects of past colonial domination are with us still, is colonialism not also a present injustice?« (ebd.). 247 Ohne hier auf die umfassende Debatte zur ›historischen Ungerechtigkeit‹ eingehen zu können, möchte ich folgende Rückfrage in Anlehnung an Ajei und Flikschuh hervorheben: Halten wir ›historisches Unrecht‹ nicht meist gerade deshalb für unser heutiges Handeln für moralisch relevant, weil es Auswirkungen bis in die Gegenwart hat – wenn auch mit wachsendem zeitlichen Abstand gegebenenfalls in abnehmender Stärke? Auch wenn dies vielleicht nicht für jeden Fall, der gewöhnlich unter ›historische Ungerechtigkeit‹ subsumiert wird, zutreffend ist, scheint diese Annahme doch zumindest für den Kolonialismus haltbar zu sein. Man muss daher gar nicht auf special duties und ›historische Ungerechtigkeit‹ rekurrieren, um angemessen mit dem ›besonderen Verhältnis‹, welches die ehemaligen Kolonialmächte gegenüber denen von ihnen einstmals kolonisierten Regionen haben, umzugehen. Eines der hier häufig diskutierten Probleme ist das von Parfit (1982) eingeführte »non-identity problem«, welches angewandt auf den vorliegenden Fall besagt: Wie können Personen einen Anspruch auf Kompensation vergangenen Unrechts haben, wenn sie doch nur aufgrund jener Ereigniskette existieren, die auch das vergangene Unrecht umfasst?. 247 Einen ähnlichen Punkt – gleichwohl mit anderer argumentativer Zielstellung – macht auch Fine, die das gegenwärtige System der Einwanderungsbeschränkungen als eine Fortsetzung des Kolonialismus bezeichnet (Fine 2016, 131). 246
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Es scheint vielmehr auszureichen, auf eine wesentlich konventionellere rechtsmoralische Kategorie zu verweisen, jene der korrektiven Gerechtigkeit (Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 5). Unter der korrektiven Gerechtigkeit versteht man den Ausgleich von Transaktionsbeziehungen, die gegen das eigene Wollen stattfinden, wie beispielsweise Diebstahl, Freiheitsberaubung oder Totschlag (vgl. ebd.). Nach einer wohlverstandenen Konzeption der korrektiven Gerechtigkeit müssten dann »z. B. Entschädigungen gegen […] Ureinwohner, deren Besitz teils gewaltsam, teils gegen unzureichende Gegenleistungen erworben wurde« (Höffe 72008, 99), geleistet werden. Weiterhin verlangt die korrektive Gerechtigkeit auch für Sklaverei und Kolonisierung Entschädigung (ebd.). Die Pflichten der Kolonialmächte stellen unter dieser Perspektive keine special duties dar, sondern sind vielmehr das Ergebnis einer allgemeinen Verpflichtung zum Ausgleich begangenen Unrechts. Diese Konzeption kann dem Umstand Rechnung tragen, dass die Kolonialherrschaft ein Unrecht ist, aus welchem Verpflichtungen der Kolonialmächte resultieren, umgeht aber die systematischen Schwierigkeiten sowohl der special duty als auch der Konzeption der ›historischen Ungerechtigkeit‹. Zwar behandelt Kant das Thema der korrektiven Gerechtigkeit nicht (Höffe 1995, 138). Die Vorstellung einer korrektiven Gerechtigkeit ist aber – anders als jene der besonderen Verpflichtung – leicht mit Kant zu vereinbaren: Das »Allgemeine Prinzip des Rechts« liefert ein Kriterium dafür, welche Handlungen Unrecht sind (RL, § C, VI 230). Kolonialherrschaft verstößt, wie bereits herausgearbeitet, grundsätzlich gegen das Allgemeine Prinzip des Rechts und stellt damit ein Unrecht dar (Kap. 7.3). Die Unrechtsabwehr, sei sie nun präventiv oder eben restitutiv, ist wiederum ein zentrales Element der Rechtfertigung der Zwangsbefugnis des Rechts (RL, § D, VI 231; vgl. Höffe 1995, 144). 248
Das heißt nicht, dass nicht auch hier einige argumentative Brückenschläge zu leisten wären, um diesen der kantischen Rechtsphilosophie fremden Begriff in jene zu integrieren. Es geht hier vielmehr nur darum zu zeigen, dass die kantische Rechtsphilosophie sich als offen für eine derartige Erweiterung erweist. Dass Kants Rechtsphilosophie offen für die Vorstellung der korrektiven Gerechtigkeit ist, zeigt sich auch in einem der wohl problematischsten Teile der Rechtslehre: der Erörterung des Strafrechts, in welcher Kant auch auf das Talionsprinzip, das Prinzip der Wiedervergeltung, verweist, welches – bei aller Problematik – eine Unterform der korrektiven 248
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Es gibt in den Werken Kants also sinnvolle Anknüpfungspunkte hinsichtlich der Frage, welche Verpflichtungen die ehemaligen Kolonialmächte gegenüber den von ihnen einst kolonisierten Gebieten haben. 249 Nachdem also in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet wurde, dass dem Weltbürgerrecht zwei Pflichten korrespondieren, nämlich eine Pflicht zur Nichtabweisung bei drohendem »Untergang« sowie eine Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten gegenüber der ansässigen Bevölkerung und gegenüber Ankommenden, solange sich diese selbst friedlich verhalten (Kap. 6 u. 7), wurden in diesem Kapitel drei Fragen zur Form der mit dem Weltbürgerrecht einhergehenden Pflichten diskutiert, die bereits einen gewissen Brückenschlag zur gegenwärtigen Debatte darstellen. Zunächst wurde untersucht, ob das Gebot zur Nichtabweisung eine unvollkommene Pflicht darstellt, wie Benhabib dies vorschlägt (Kap. 8.1). Es hat sich herausgestellt, dass trotz einiger Schwierigkeiten hinsichtlich der Pflichtensystematik Kants diese Pflicht als eine vollkommene Pflicht zu verstehen ist, da es sich um eine (negative) Unterlassungspflicht handelt. Gleiches gilt für die Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten. Gelegentlich ist darüber hinaus darauf hingewiesen worden, dass sich jedoch aus der Erfüllung der Nichtabweisungspflicht weitergehende (positive) Leistungspflichten ergeben würden. Im darauffolgenden Unterkapitel habe ich daher untersucht, in welchem Verhältnis diese Pflichten zum Weltbürgerrecht stehen (Kap. 8.2). Ich habe argumentiert, dass sie nicht dem Weltbürgerrecht korrespondieren. Gleichwohl heißt dies nicht, dass über das Weltbürgerrecht hinaus Verpflichtungen gegenüber ankommenden, insbesondere schutzsuchenden Menschen bestehen. Diese Diskussion wird noch einmal in Kapitel 17 aufgegriffen werden. Weiterhin wäre es möglich, insbesondere mit Hinblick auf die in den Passagen zum Weltbürgerrecht erörterten Kolonialverbrechen, dass aus dem Weltbürgerrecht den Kolonialmächten eine besondere Gerechtigkeit darstellt (RL, VI 332). Für eine ausführliche Diskussion des Wiedervergeltungsrechts bei Kant s. Höffe (1995, Kap. 8) sowie Hüning (2004). 249 Ein anderer Ansatz, der ebenfalls die Schwierigkeiten der special duties umgeht, wurde von Eberl/Niesen formuliert: »[D]ie koloniale Unterwerfung und Enteignung nichtstaatlicher Völkerschaften [wird] weltbürgerrechtlich ebensowenig Bestand haben wie die unrechtmäßige Eroberung besiedelter Territorien oder ihre Erwerbung durch Kauf oder Heirat im Völkerrecht« (2011, 264).
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Verpflichtung (special duty) zur Unterstützung der von ihnen ehemals kolonisierten Regionen erwächst. Diese besondere Verpflichtung könnte beispielsweise wertungsfrei als eine Verpflichtung aufgrund eines besonders engen Interaktionsverhältnisses konzeptualisiert werden oder als eine Verpflichtung aus ›historischer Ungerechtigkeit‹. Ich habe vorgeschlagen, da sich der Gedanke der special duty nur schwer mit einem kantianischen Ansatz vereinbaren lässt, lieber auf jenen der korrektiven Gerechtigkeit zurückzugreifen. Dieser kann, so mein Argument, die Verpflichtung der ehemaligen Kolonialmächte einfangen und kommt dabei ohne die systematischen Schwierigkeit der Konzeption der special duty und der ›historischen Ungerechtigkeit‹ (Kap. 8.3) aus.
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9. Zur Begründung des Weltbürgerrechts: Fünf Lesarten
Innerhalb der Debatte um Migration und Staatsbürgerschaft herrscht die Einschätzung vor, dass Kant, indem er das Weltbürgerrecht auf »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität« einschränkt, hinter dem Anspruch eines moralischen Universalismus zurückbleibt. Und es wird behauptet, dass die Annahme moralischer Gleichheit aller Menschen, wie Kant sie vertritt, eigentlich zu einer ›offene Grenzen‹-Position führen müsste, mit extensiven Rechten für Flüchtlinge und Asylsuchende sowie einem inklusivem Konzept von Staatsbürgerschaft. 250 Ob eine derartige Position plausibel ist oder nicht, ist eng mit der Frage verknüpft, worin die Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts besteht. Nach der ausführlichen Diskussion der Adressaten und des Inhalts des Weltbürgerrechts in den vorangegangenen Kapiteln soll daher in den folgenden Ausführungen die Frage im Zentrum stehen, wie das Weltbürgerrecht bei Kant begründet wird. Diese Frage ist in der Tat nicht einfach zu beantworten, da sowohl die Passagen zum Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden als auch jene der Rechtslehre diesbezüglich einige Schwierigkeiten aufwerfen: Es scheint vom Text her nicht klar zu sein, wie Kant das Weltbürgerrecht begründet. In Zum ewigen Frieden heißt es, dass dieses Recht allen Menschen zukommt: vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können,
250 So etwa bei Benhabib: »Kant clearly demarcated the tensions between the injunctions of a universalistic morality to offer temporary sojourn to all and the legal prerogative of the republican sovereign not to extend such temporary sojourn to full membership« (2004, 42). Und: »I hope to show that a reconstruction of the Kantian concept of the right to external freedom would lead to a more extensive system of cosmopolitan right than Kant himself offered us« (ebd., 35).
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sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere (VIII 358).
Auch in der Rechtslehre nimmt Kant wieder auf die Kugelgestalt der Erde und auf den Gemeinbesitz an der Erdoberfläche Bezug, allerdings mit einer leicht veränderten Nuancierung. Dort heißt es: Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthaltes, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiemit des Gebrauchs oder des Eigentums an demselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung (commercium), d. i. in einem durchgängigen Verhältnisse, eines zu allen anderen, sich zum Verkehr untereinander anzubieten (VI 352).
Diese Passagen werfen einige Fragen auf: Was ist unter dem gemeinschaftlichen Besitz an der Oberfläche der Erde zu verstehen? Was soll dieses Konzept, welches Kant aus der philosophischen Tradition übernimmt, für die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts leisten? Welche Rolle spielt die Kugelgestalt der Erde? Und welche der Umstand der »möglichen Wechselwirkung«? Benhabib ist der Ansicht, dass Kants Argument zur Begründung des Weltbürgerrechts auf zwei Prämissen beruht, deren Beziehung zueinander und deren argumentative Leistung allerdings unklar blieben: Dies sei zum einen die Fähigkeit aller Menschen, »sich zur Gesellschaft anzubieten«, zum anderen der »gemeinschaftliche Besitz der Oberfläche der Erde« (VIII 358). Vor allem der Gemeinbesitz an der Erde stelle uns aber, so Benhabib, vor einige Schwierigkeiten: On the one hand, Kant wants to avoid the justificatory use of this construct to legitimize western colonialist expansions; on the other hand, he wants to base the right of human beings to enter into civil association with one another upon the claim that, since the surface of the earth is limited, at some point or other, we must learn to enjoy its resources in common with others (Benhabib 2004, 30).
Benhabibs folgende Einschätzung ist eindeutig: In ihren Augen leistet der Bezug auf den Gemeinbesitz an der Oberfläche der Erde zu wenig für die Begründung des Weltbürgerrechts (ebd., 31). Kleingeld ist Migration und Weltbürgerrecht
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wiederum der Ansicht: »It is clear enough how the ›original community of the land‹ might be thought to ground a right to be in those parts that do not belong to anyone yet«, jedoch stelle sich die Frage: »Why would the fact that the land must be conceived of as originally held in common constitute a grounding for the right to hospitality at present?« (2012, 81) 251 Aufgrund dieser und anderer Schwierigkeiten finden sich in der Literatur zu Kants Weltbürgerrecht verschiedene Lesarten hinsichtlich der möglichen Begründung. Ich möchte im Folgenden fünf der prominentesten diskutieren. Der ersten Lesart zufolge ist das Weltbürgerrecht im Grunde das Recht auf Mitgliedschaft in einer globalen politischen Gemeinschaft. Die zweite Lesart sieht die Begründung des Weltbürgerrechts in der Beförderung der Weltöffentlichkeit. Eng damit verbunden ist die dritte Lesart, nach der das Weltbürgerrecht vor allem aus seiner Friedensfunktionalität heraus, d. h. gewissermaßen teleologisch zu verstehen sei. Nach der vierten Lesart kann das Weltbürgerrecht vom ›einen angeborenen Recht‹ abgeleitet werden. Die fünfte Interpretation geht schließlich davon aus, dass das Weltbürgerrecht auf bestimmten Beobachtungen der empirischen Bedingungen menschlicher Existenz basiert (Flikschuh 2000). 252 Für alle fünf Lesarten sind Belege im Text zu finden, wobei die Belege, wie ich argumentieren möchte, für die vierte und die fünfte Lesart am stärksten sind. Ich werde daher die fünf Lesarten vorstellen und kritisch diskutieren, bevor ich abschließend für die fünfte Lesart votieren werde.
9.1 Recht auf Mitgliedschaft Nach der ersten Interpretation ist das Weltbürgerrecht als ein Recht auf Mitgliedschaft in einer globalen politischen Gemeinschaft zu verstehen. Diese Interpretation fußt auf Kants Formulierung, dass hinFür eine detaillierte Diskussion von Gemeinbesitz an der Erde und Weltbürgerrecht s. Pinheiro Walla (2016, 172–178) sowie Huber (2017a). 252 Eberl/Niesen (2011, 260) unterscheiden in ihrem Kommentar drei Lesarten. Diese entsprechen den hier diskutierten Ansätzen 1, 4 und 5. Meines Erachtens ist es wichtig, die hier zweite und dritte Lesart aufzunehmen, da sie in der Rezeptionsgeschichte der Friedensschrift einflussreich waren und darüber hinaus in jüngster Zeit durch Cavallars Kant’s embedded Cosmopolitanism (2015) und Horns Nichtideale Normativität (2014) erneute Aufmerksamkeit erfahren haben. 251
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Recht auf Mitgliedschaft
sichtlich des Weltbürgerrechts Menschen »als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind« (ZeF, VIII 849 Fn.). Dieses Verständnis des Weltbürgerrechts als ein Rechts auf Mitgliedschaft insbesondere für kosmopolitische Positionen in der gegenwärtigen politischen Philosophie von großer Bedeutung. 253 Ich werde im Folgenden eine starke von einer gemäßigten Lesart unterscheiden. Beide Lesarten verstehen das Weltbürgerrecht als ein Recht auf Mitgliedschaft. Ich werde zeigen, dass sowohl die starke, als auch die gemäßigte Lesart trotz einer gewissen Anfangsplausibilität vor großen textlichen wie auch systematischen Schwierigkeiten stehen. Den Weltbürger primär als Bürger (eines Globalstaates) zu verstehen, scheint zunächst naheliegend: Auch den Beginn von § 62 der Rechtslehre, der das Weltbürgerrecht zum Inhalt hat, könnte man durchaus in dieser Weise verstehen. Dort wird das Weltbürgerrecht (vermeintlich) als eine »Vernunftidee« bezeichnet und nah an die Existenz eines weltbürgerlichen Zustands herangerückt – »einer friedlichen […] durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden« (VI 352). Unterläuft damit diese Passage nicht die von mir vertretene These, dass das Weltbürgerrecht vom weltbürgerlichen Zustand zu unterscheiden sei (Kap. 4)? Regelt das Weltbürgerrecht doch den weltbürgerlichen Zustand im Ganzen? 254 Macht das Weltbürgerrecht nur unter Annahme eines »allgemeinen Menschenstaats«, einer Weltrepublik, ›Sinn‹ ? Diese starke Lesart lässt sich nicht halten. Zum einen führt Kant das Weltbürgerrecht nun ausgerechnet in jener Schrift ein, in welcher er nicht mehr für die Weltrepublik als letztgültig favorisierter Ausgestaltung des Verhältnisses von Staaten untereinander, sondern für einen Völkerbund argumentiert: Noch in der Idee (1784) und im Ge-
253 Vgl. hierzu z. B. David Held (1996); vgl. auch Eberls/Niesens Einschätzung zu dieser Interpretation (2011, 261). 254 Dies scheint etwa bei Pagden anzuklingen, wenn er schreibt: Kants »sometimes puzzling account of the legitimacy of warfare and of conquest and settlement would seem to derive ultimately from his overriding concern with the need for legal continuity and the tension which this created between his understanding of the ›right of nations‹, [and] his teleology, which requires that all peoples work actively towards the fulfillment of the jus cosmopoliticum« (2014, 19). Kants Teleologie, die die Verwirklichung eines weltbürgerlichen Zustands zum Inhalt hat, scheint hier mit der Verwirklichung des Weltbürgerrechts gleichgesetzt zu werden. Vgl. hierzu auch die bereits angeführte Position von Byrd/Hruschka, die das Weltbürgerrecht als »the law of world citizens« (2010, 205) bezeichnen (Kap. 4).
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meinspruch (1793) spricht sich Kant für die Weltrepublik aus. Das Weltbürgerrecht spielt in diesen Schriften jedoch keine Rolle. In Zum ewigen Frieden votiert er dann für die Einrichtung eines Völkerbundes und nicht mehr für die Weltrepublik. Auch in der Rechtslehre weicht er von dieser Position nicht mehr ab. Man könnte meinen, das Weltbürgerrecht schließe eine Lücke, die erst durch die Aufgabe der Idee einer Weltrepublik entsteht: das Verhältnis von Staaten zu den Angehörigen anderer Staaten. Ob man aber so weit gehen muss wie Hackel, dass »eine Weltrepublik […] das Weltbürgerrecht überflüssig machen würde« (Hackel 2000, 100), 255 lässt sich ebenfalls bezweifeln. Hackels Überlegung, die auf Gerhardts Einschätzung beruht, dass die Staatenvielfalt »die Sinnbedingung des Weltbürgerrechts« sei (Gerhardt 1995, 104), übersieht, dass auch innerhalb eines Weltstaates Fragen von Einwanderung und Auswanderung, Aufnahme und Abweisung eine Rolle spielen würden. Weiterhin spricht gegen diese Lesart zur Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts, dass Kant sowohl in Zum ewigen Frieden als auch in § 62 der Rechtslehre eindeutig bestimmt, worin das Recht besteht, das er als ius cosmopoliticum bezeichnet: Es ist »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden« (ZeF, VIII 358); es ist das »Recht, den Versuch mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einen Feind zu begegnen berechtigt wäre« (RL, VI 352). Von einem Recht auf einen Aktivbürgerstatus, von politischen Partizipationsrechten, von einem Recht auf Mitgliedschaft und dergleichen ist weder in Zum ewigen Frieden noch in der Rechtslehre die Rede. Schließlich bezieht sich das oben zitierte »Diese Vernunftidee« zu Beginn des § 62 nicht, wie man annehmen könnte, auf die Überschrift des Paragraphen »Das Weltbürgerrecht«, sondern vielmehr auf den Abschnitt zuvor, den letzten Paragraphen des Völkerrechts. Dort spricht Kant von der »Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam durch einen Prozeß, nicht auf babarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg zu entscheiden« (VI 351). Es ist jene Idee, auf die er sich zu Beginn des Paragraphs zum Weltbürgerrecht zurückbezieht. Dies ist die Idee »einer friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaft255 S. auch: »Würde ein Weltstaat bestehen, bräuchte man kein Weltbürgerrecht« (Hackel 2000, 91).
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Recht auf Mitgliedschaft
lichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden«, von der in § 62 die Rede ist. Es wird hier jedoch nicht das Weltbürgerrecht als »Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden« (VI 352) bestimmt. Das Weltbürgerrecht stellt also nicht bloß einen Ausschnitt jenes Rechts dar, welches den weltbürgerlichen Zustand regelt, sondern ist klar von diesem zu trennen. Es handelt sich beim Weltbürgerrecht auch nicht um eine Vernunftidee der friedlichen Gemeinschaft aller Völker auf Erden. Außerdem ist es nicht mit Partizipationsrechten verknüpft, sondern wesentlich schmaler zu verstehen. Die Interpretation, die Eberl und Niesen in ihrem Kommentar zu Zum ewigen Frieden denn auch unter dieser Rubrik diskutieren, ist daher auch nicht diese starke Lesart, sondern ein gemäßigter Ansatz. Dieser gemäßigte Ansatz legt dennoch zentralen Wert auf das Weltbürgerrecht als ein Recht auf Mitgliedschaft: Es handelt sich um die Position David Helds, wie er sie vor allem in seinem Aufsatz »Kosmopolitische Demokratie und Weltordnung. Eine neue Tagesordnung« (1996) vorstellt. Den Ausgangspunkt für Helds Überlegungen in diesem Aufsatz stellen Kants Ideen in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht dar, die er mit dessen Überlegungen zum Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden zusammenführt. Allerdings grenzt er sich auch bald von Kant ab, indem er die These vertritt: »[O]hne die Konzeption des kosmopolitischen Rechts als eines kosmopolitisch demokratischen Rechts können die Voraussetzungen für die Erhaltung des Friedens und der Autonomie für jeden und alle nicht befriedigend ins Auge gefaßt werden« (ebd., 230). Und gelangt zu der abschließenden Forderung: Eine Verpflichtung gegenüber dieser Form von Kosmopolitismus bringt die Aufgabe mit sich, auf die Errichtung einer internationalen Gemeinschaft von demokratischen Staaten und anderen Vereinigungen hinzuarbeiten, die sich auf die Wahrung demokratisch öffentlichen Rechts sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Grenzen festlegt: eine kosmopolitische demokratische Gemeinschaft (ebd., 231).
Eberl und Niesen kritisieren dieses Verständnis des Weltbürgerrechts mit Hinweis darauf, dass nach Kant Staatsbürger »immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden« (RL, VI 346). Kant entwirft aber weder in der Rechtslehre noch in Zum ewigen Frieden das KonMigration und Weltbürgerrecht
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zept einer »weltbürgerlichen Verfassung«, welche politische Parizipationsrechte umfasst. Folglich könne das Weltbürgerrecht nicht mit dem Recht auf einen »politischen Aktivbürgerstatus« (Eberl/Niesen 2011, 262) gleichgesetzt werden. Gegen Eberl und Niesens Argumentation ist Skepsis angebracht: Für Kant scheint die Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft nicht von aktiven politischen Partizipationsrechten abzuhängen. Bekanntlich unterscheidet Kant aktive und passive Staatsbürger (RL, § 46). So problematisch diese Unterscheidung heute auch erscheinen mag, insbesondere weil sie den Aktivbürgerstatus von der ökonomischen Selbstständigkeit abhängig macht und alle Gesellen, Dienstboten und Frauen von diesem Status ausschließt, bleibt jedoch bestehen, dass für Kant Staatsbürger durchaus ›passiv‹ sein können. Ihre ›Passivität‹ stellt aber ihre Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft für Kant nicht infrage. Das bloße Fehlen eines Entwurfs einer weltbürgerlichen Verfassung mit entsprechenden politischen Partizipationsrechten scheint mir daher nicht ausreichend, um gegen Helds Verständnis des Weltbürgerrechts als Recht auf Mitgliedschaft zu votieren. Allerdings weicht diese erste Lesart der Rechtfertigungsgrundlage von Kants Weltbürgerrecht so weit von Kants eigenem Ansatz ab, dass man sie wohl eher als einen eigenständigen systematischen Ansatz hinsichtlich eines möglichen Inhalts einer weltbürgerlichen Verfassung betrachten sollte, der von Kant inspiriert ist. Held entwickelt – anders als Eberl und Niesen anzunehmen scheinen – ausgehend von Kant eine eigenständige Position. Wenden wir uns daher der zweiten möglichen Lesart zu.
9.2 Weltöffentlichkeit und Aufklärung Die zweite Lesart, die ich hier diskutieren möchte, verbindet die Begründung des Weltbürgerrechts mit zwei anderen zentralen Begriffen der praktischen Philosophie Kants: Öffentlichkeit und Aufklärung. Für Georg Cavallar besteht das zentrale Ziel des Weltbürgerrechts darin, dass die Weltöffentlichkeit durch den Austausch von Ideen einer schrittweisen (Selbst-)Aufklärung entgegenstreben kann (Cavallar 2015, 54). 256 Diese Interpretation beruht auf einem weiten 256
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Auch wenn man diese Lesart an Cavallars Äußerungen in Kant’s Embedded Cos-
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Weltöffentlichkeit und Aufklärung
Verständnis des von Kant gebrauchten Ausdrucks commercium: Das Weltbürgerrecht umfasst gerade nicht allein die Erlaubnis von Freihandel, sondern soll durchaus auch den künstlerischen, akademischen und kulturellen Austausch miteinschließen (ebd.). Diese Lesart wird dadurch gestützt, dass Kant mit dem Weltbürgerrecht die folgende Beobachtung verbindet: Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee des Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts (ZeF, VIII 360).
Der Kontakt zwischen selbst weit voneinander entfernten Weltteilen hat die Gemeinschaft unter »den Völkern der Erde« so weit verdichtet, dass an Unrecht Anteil genommen wird, unabhängig davon, wo es stattfindet. Es besteht also eine Form der Weltöffentlichkeit, in der Rechtsverletzungen diskutiert werden. 257 In dieser Beobachtung sieht Kant den Beleg dafür, dass das Weltbürgerrecht »keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts« sei, »sondern«, so Kant weiter, »eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts« (ebd.). Der weltweite Kontakt und Austausch zwischen den Völkern befördert die Weltöffentlichkeit. Grundlage und Ermöglichungsbedingung dieses Kontaktes bildet das Weltbürgerrecht, welches es einerseits erlaubt, »sich zur Gesellschaft anzubieten« (VIII 358), es aber andererseits verbietet, diesen Kontakt feindselig auszunutzen. Die globale Weltöffentlichkeit ermöglicht es wiederum, den Austausch von Ideen voranzutreiben und damit einer Selbstaufklärung näher zu kommen (Cavallar 2015, 54). Allerdings steht diese Lesart ebenfalls vor einigen Schwierigkeiten: Es erscheint im Rahmen von Kants Argumentation nicht möglich, in einem durchaus wünschenswerten Ziel (in diesem Fall die Selbstaufklärung der Weltöffentlichkeit) die Rechtfertigung für ein zu ihm führendes Mittel (das Weltbürgerrecht) zu suchen: Das Weltbürgerrecht mag die Selbstaufklärung der Weltöffentlichkeit be-
mopolitanism festmachen kann, scheint er sie nicht durchgängig in seinen Schriften zu vertreten. 257 Zu Kants »hellsichtige[r] Antizipation einer weltweiten Öffentlichkeit« s. Habermas (1999, 203–206). Zur Interpretation der zitierten Passage s. auch Brandt (2004a, 142 f.). Migration und Weltbürgerrecht
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fördern; in der Beförderung derselbigen kann aber nicht die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts liegen.
9.3 Friedensfunktionalität Diese Lesart sieht die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts in seiner geschichtsteleologischen Dimension: Das Weltbürgerrecht ermöglicht es, dass »entfernte Weltteile miteinander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können« (ZeF, VIII 358). Das Weltbürgerrecht ermöglicht Handel, und es »ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann« (ZeF, VIII 368). Die zentrale These dieser Lesart lautet daher: Das Weltbürgerrecht wird durch seine Friedensfunktionalität gerechtfertigt. In jüngster Zeit wurde diese Interpretationslinie vor allem von Christoph Horn vertreten: »Das Kantische Hospitalitätsrecht erhält seine Rechtfertigung offenbar aus der (geschichts-)teleologischen Überlegung, dass es als Weg dazu begriffen wird, wie ›entfernte Welttheile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen‹« (2014, 294). Auch in der Rechtslehre sieht Horn diese teleologische Rechtfertigung. Hierzu zitiert er jene Passage aus § 62, in der es heißt: »Meere können Völker aus aller Gemeinschaft mit einander zu setzen scheinen, und dennoch sind sie vermittelst der Schiffahrt, gerade die glücklichsten Naturanlagen zu ihrem Verkehr« (RL, VI 352). Und er gelangt ausgehend von dieser Passage zu der Schlussfolgerung: »Somit hat das Weltbürgerrecht eine klar teleologische Ausrichtung: Die Völker sind demnach durch Meere miteinander verbunden, um sich mittels der Schifffahrt kennenzulernen« (Horn 2014, 295). Er verbindet diese Perspektive schließlich mit einem Blick auf den ersten Zusatz von Zum ewigen Frieden, »Von der Garantie des ewigen Friedens«. Hier erörtert Kant für alle drei Rechtssphären, was die Natur oder Vorsehung leiste, um in diesen Sphären Frieden zu stiften. Für den Bereich des Weltbürgerrechts sei der Handelsgeist jenes Phänomen, das »am verlässlichsten dazu führt, dass Kriege immer weiter zurückgedrängt werden« (ebd., 296). Nach Kant ist es: der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammenbestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen
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Friedensfunktionalität
der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl eben nicht durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittlungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen (ZeF, VIII 368).
Die in dieser Passage von Kant diskutierte Macht des Geldes erweist sich, so Horn, »als wichtiger Motor in der eigentümlichen Kantischen Einheit aus Natur- und Geschichtsteleologie« (Horn 2014, 296). 258 Auch diese Lesart mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen: Während Kant in früheren Schriften den Handelsgeist nicht immer positiv einschätzt, 259 scheint er in Zum ewigen Frieden zuversichtlicher, was dessen Wirkungen anbelangt. Gerade aber aus der für Horn so wichtigen Passage lässt sich auch ein Einwand gegen seine Interpretation formulieren. In dem Passus zum Handelsgeist heißt es nämlich auch: »so vereinigt sie [die Natur] auch andererseits Völker, die der Begriff des Weltbürgerrechts gegen Gewalttätigkeit und Krieg nicht würde gesichert haben, durch den wechselseitigen Eigennutz« (ZeF, VIII 368; Hervorhebung K. R.). Diese Passage lässt sich folgendermaßen verstehen: Dort, wo der Begriff des Weltbürgerrechts nicht ausreicht, hilft der Eigennutz in Form des Handelsgeistes. Auch der Handelsgeist wird dazu führen, dass Menschen in fremde Weltteile reisen und dort versuchen, in Kontakt mit anderen zu treten. Ebenso wird das Interesse an Waren und Dienstleistungen die friedliche Aufnahme von Fremden begünstigen. Das Weltbürgerrecht wird durch den Rechtsbegriff bereits gerechtfertigt – zusätzlich abgesichert wird seine Ausbreitung durch den Handelsgeist, nicht aber durch dessen Friedensförderlichkeit begründet: Selbst dort, wo der Begriff des Weltbürgerrechts nicht zu überzeugen vermag, wird der
258 Für Dicke ist das Ziel des Weltbürgerrechts, »friedlicher Handel zwischen den Einwohnern der Erde« (1998, 120). Zur Einschätzung der »vergemeinschaftenden Kraft des Welthandels« (Habermas 1999, 199) bei Kant s. ebd. (201–203). 259 Vgl. etwa hierzu jene Passage aus der Kritik der Urteilskraft (1790), in welcher Kant schreibt: »da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt« (KU, § 28, V 263). Zur Frage, wie sich Kants Einschätzung der Handelseffekte im Laufe der Zeit entwickelt hat, s. Kleingeld (2012, 134) sowie Ypi (2014b, 120).
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Handelsgeist die Umsetzung desselbigen notwendig machen. 260 Das geschichtsteleologische Element, in welchem Horn die Rechtfertigungsgrundlage für das Weltbürgerrecht sieht, kommt in Kants Ausführungen zum Weltbürgerrecht jedoch erst über den Handelsgeist in die Überlegung hinein. 261 Das Weltbürgerrecht wird also, anders als Horn annimmt, nicht teleologisch gerechtfertigt. Seine Rechtfertigung liegt nicht allein in der Beförderung eines weltumspannenden Friedenszustandes. Vielmehr nimmt Kant an, dass durch den Eigennutz in Form des Handelsgeistes die Umsetzung des Weltbürgerrechts gewissermaßen teleologisch befördert werden wird, dort, wo der Begriff des Weltbürgerrechts allein nicht ausreicht. 262 Damit unterstützt der Handelsgeist die Ausbreitung und Umsetzung des Weltbürgerrechts. Die Notwendigkeit des Weltbürgerrechts lässt sich aber nicht aus einer vermeintlich ungebrochenen Friedensfunktionalität des Handelsgeists ableiten. 260 Ein ähnlicher Gedanke, wenn auch mit anderer Stoßrichtung, deutet sich bei Ypi an, wenn sie schreibt: »It turns out that commercial relations are not important because they guarantee an end to war or prepare the entrance to a peaceful international order. […] Commerce is, for Kant, simply another route through which we might explain the emergence of global interdependence and communication« (2014b, 122). 261 Und dies passt durchaus zur Aufgabe der Teleologie bei Kant: Sie stellt einen Teil der Antwort auf die Frage dar »Was darf ich hoffen?«; verstanden als »Was darf ich vernünftigerweise hoffen?«. Diese Frage stellt sich insbesondere dort, wo Moral und Rechtsmoral zu versagen scheinen. Dort können teleologische Überlegungen Anlass zu der Hoffnung geben, dass sich trotz individueller Rückschläge die menschliche Gattung in einer (rechts-)moralischen Fortschrittsbewegung befindet. Vgl. hierzu etwa in der Idee: »[E]s wird (was man, ohne einen Naturplan vorauszusetzen, nicht mit Grunde hoffen kann) eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden« (Neunter Satz, VIII 30). 262 Dieser Gedanke Kants scheint darüber hinaus, wie Kleingeld herausgearbeitet hat, überaus problematisch zu sein: Erstens, da Kant mit dem Handelsgeist zunächst nur den völkerrechtlichen Friedenszustand abzusichern; zweitens, da der Handelsgeist »das Hospitalitätsrecht damit nicht für Menschen als solche, sondern nur für Kaufleute« (Kleingeld 1995, 192) zu sichern scheint; und drittens, da »Kriege um Absatzgebiete oder um Gebiete, in denen sich wichtige Rohstoffe befinden« (ebd.), auch zu Kants Zeiten nicht unbekannt waren. Gleichwohl scheinen für Kant die durch den Handelsgeist beförderten Begegnungen trotz alledem die Gemeinschaft unter den Völkern der Erde voranzutreiben, so »daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird« (ZeF, VIII 360).
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9.4 Das eine »angeborne Recht« Die vierte Lesart geht davon aus, dass das Weltbürgerrecht aus Kants Konzeption des einen »angebornen Rechts« (RL, VI 237 f.) abgeleitet werden kann (Kleingeld 1998, 79 u. 2012, 84; Benhabib 2004, 36– 55). 263 Das eine angeborene Recht ist »dasjenige Recht […], welches, unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt« (VI 237). Es betrifft das angeborene oder auch innere Mein und Dein. Den Gegensatz zum angeborenen Recht bildet das erworbene Recht, jenes Recht, »wozu ein solcher Akt erfordert wird« und welches sich auf das äußere Mein und Dein bezieht (ebd.). Kant erläutert weiterhin, dass es nur ein einziges angeborenes Recht gibt, nämlich das Recht auf Freiheit, »sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (ebd.). 264 Die Lesart, die ich nun untersuchen möchte, geht davon aus, dass man, auch wenn Kant dies selbst nicht vornimmt, das Weltbürgerrecht ausgehend vom einen angeborenen Recht rechtfertigen könnte: »The innate human right to freedom is all one needs to back up the principle of hospitality« (Kleingeld 1998, 79). 265 Da das eine angeborene Recht nach § 13 der Rechtslehre auch das Recht aller Menschen umfasse, »da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren 263 Für Muthu ist das Weltbürgerrecht ebenfalls Ausdruck des einen angeborenen Rechts (2003, 191). Für Zenker hat das Recht auf Hospitalität »den Status eines Menschenrechts« (2004, 22). Auch Klemme scheint das eine angeborene Recht als Begründungsgrundlage für das Weltbürgerrecht zu sehen (2013, 176). Auch für Brandt stellt das eine angeborene Recht die Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts dar (2004a, 144 f.). Benhabib wiederum lässt sich nicht in der gleichen Eindeutigkeit dieser Gruppe zuordnen wie Kleingeld. In The Rights of Others schreibt sie: »[T]he cosmopolitan right is a right precisely because it is grounded upon the common humanity of each and every person and his or her freedom of will which also includes the freedom to travel beyond the confines of one’s cultural, religious, and ethnocentric walls« (Benhabib 2004, 40). In Another Cosmopolitanism spricht Benhabib dem Recht auf Hospitalität dann aber einen ›Zwischenstatus‹ zu: »It occupies that space between human rights and civil and political rights, between the rights of humanity in our person and the rights that accrue to us insofar as we are citizens of specific republics« (2006, 22). 264 Zu Kants Konzeption des einen angeborenen Rechts s. auch Mulholland (1990, 199–231), Kersting (1984, 89–100), Ripstein (2009, 30–56) und Höffe (2012, 236– 251) wie auch, zu einer ganz anderen Perspektive auf das eine angeborene Recht, Horn (2014, 113–130). 265 Es handelt sich hier nach Kleingeld um eine Weiterentwicklung eines Vorschlags von Habermas (1999).
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Willen) gesetzt hat« (RL, VI 262), bilde es, so diese Lesart weiter, auch die Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts. 266 Diese Interpretationsposition ist weit verbreitet und genießt auch einiges an Plausibilität, dennoch gibt es Einwände, die man gegen sie anführen kann. Ich möchte vier besonders einschlägige diskutieren: Eberl und Niesen haben, erstens, in ihrem Kommentar zu Zum ewigen Frieden ausgeführt, dass es einen großen systematischen Unterschied zwischen dem einen angeborenen Recht und dem Weltbürgerrecht gebe, sodass es nicht plausibel erscheint, dass man das letztere aus dem ersteren ableiten könne (2011, 260 f.). Das eine angeborene Recht auf der einen Seite wird, nach Eberl und Niesen, von Kant als negatives Freiheitsrecht konzipiert. Mit dem Weltbürgerrecht auf der anderen Seite können jedoch positive Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden verbunden sein. Die Frage, die sich hieraus ergibt, lautet: Wie können diese positiven Verpflichtungen aus einem negativen Freiheitsrecht abgeleitet werden? Diesen möglichen Einwand versucht Kleingeld mit Verweis auf die Möglichkeit der Besteuerung der Bevölkerung zum Erhalt jener, die sich selbst nicht zu erhalten vermögen, zu entkräften (Kleingeld 1998, 80 f. u. 2012, 85 f.). Diese Lösungsmöglichkeit steht vor drei zentralen Schwierigkeiten (s. Kap. 6.2.3), von denen eine auch für die hier zu diskutierende Frage relevant ist: Das Argument zur Besteuerung ist ein dezidiert innerstaatliches und kann nicht ohne Weiteres auf die globale Ebene – und damit auf die Ebene des Weltbürgerrechts – übertragen werden. Gegen Eberl und Niesens Einwand ist allerdings festzustellen, dass dem Weltbürgerrecht, wie ich gezeigt habe, keine positiven Pflichten korrespondieren, sondern lediglich (negative) Unterlassungspflichten (s. Kap. 8.2). Wenn sich in der Folge der Gewährleistung des Weltbürgerrechts Leistungspflichten ergeben, dann weil das Weltbürgerrecht durch andere Pflichten flankiert wird, nicht weil sich
266 Müller scheint sogar so weit zu gehen, im einen angeborenen Recht nicht nur die Rechtfertigungsgrundlage für das Weltbürgerrecht zu suchen, sondern es sogar mit ihm gleichzusetzen: »Im Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum) tritt das Menschenrecht sozusagen wieder bloß, ohne einzelstaatliche Brechung, in Erscheinung« (1999, 265). Zur Frage, ob es sich bei dem Recht, ›irgendwo zu sein‹, um ein angeborenes oder ein erworbenes handelt, s. Huber (2017b, 7–16).
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diese aus dem Weltbürgerrecht selbst ableiten ließen. 267 Der von Eberl und Niesen konstatierte, große systematische Unterschied zwischen dem Recht auf (negative) Freiheit und dem Weltbürgerrecht besteht in dieser Hinsicht also nicht. Somit entpuppt sich, was zuvor als Schwierigkeit von Kleingelds Ansatz erschien, als Tugend dieser Lesart. Ein zweiter Einwand gegen Kleingelds Interpretation lautet: Diese Interpretation kann nur einen Aspekt des Weltbürgerrechts abdecken, jenen der unfreiwilligen Interaktionen. Sie geht davon aus, dass man, da das eine angeborene Recht auch das Recht aller Menschen, »da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat« (RL, § 13, VI 262), umfasst, das Weltbürgerrecht vom Menschenrecht auf Freiheit ableiten könne. Dies betrifft aber nur jene grenzüberschreitenden, internationalen Interaktionen, die unfreiwillig zustande kommen, wie etwa im Fall des Schiffbrüchigen. Es betrifft keine freiwilligen Interaktionen wie etwa Handelsbeziehungen. Gegen den zweiten Einwand führt Kleingeld an, dass die freiwilligen Interaktionen unter einem anderem Aspekt des einen angeborenen Rechts subsumiert werden könnten, nämlich unter dem, was Kant als »ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen« (RL, VI 238), bezeichnet. Kleingeld ist daher der Ansicht: »By extension, one can derive a right to present oneself to others and request entry, interaction, exchange, etc.« (Kleingeld 1998, 80). Diese Antwort überzeugt. Eine Entgegnung auf den nun folgenden dritten Einwand ist jedoch schwieriger: Wenn das Weltbürgerrecht als Recht von Individuen qua ihres angeborenen Rechts auf Freiheit verstanden werden muss, was wäre dann die Rechtfertigungsgrundlage für Staaten und nichtstaatlich verfasste Gemeinschaften, von dem aus sie Einspruch gegen das gegebenenfalls koloniale Gebaren der Ankömmlinge erheben könnten? Kleingeld ist sich dieser Schwierigkeit bewusst. Sie ist aber der Ansicht, dass man mit Kant folgendermaßen argumentieren könnte: »Prospective visitors have no right to intrude into the sphere of freedom of others against their will« (ebd., 79). Nach dieser Antwort bleibt das Weltbürgerrecht aber ein Individualrecht. Ein weiteres Ar267 Eberl/Niesen sprechen selbst auch von den »Folgelasten der Hospitalität« (2011, 261).
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gument wäre notwendig, um erfolgreich zu zeigen, wie sich aus diesem Individualrecht das Recht eines Staates oder einer nichtstaatlichen Gruppe, Besucher abzuweisen, ableiten ließe. Erfolgversprechender scheint es, anders als Kleingeld, die Unrechtmäßigkeit des kolonialen Gebarens aus dem Allgemeinen Prinzip des Rechts abzuleiten, und nicht aus dem einen angeborenen Recht: Der Rechtsbegriff und das Allgemeine Prinzip des Rechts bringen das angeborene Recht auf Freiheit des einen in ein (rechtsförmiges) Verhältnis mit der Freiheit der anderen. Das Rechtsprinzip ist dabei nicht nur vom Textverlauf das frühere Prinzip, sondern ist auch als das systematisch grundlegendere zu betrachten: Der Passus zum einen angeborenen Recht auf Freiheit setzt bereits das Allgemeine Prinzip des Rechts voraus. Dies wird insbesondere deutlich, wenn Kants Formulierung des einen angeborenen Rechts einen entscheidenden Passus des zuvor eingeführten Allgemeinen Prinzip des Rechts wiederholt, wenn es heißt: »sofern sie [die Freiheit] mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (RL, VI 237). Freilich würde es ohne Rechtssubjekte, die sich durch das angeborene Recht auszeichnen, keine Rechtsverhältnisse geben. Der Zeit nach gehen die Rechtssubjekte und das eine angeborene Recht dem Rechtsprinzip voran, dies heißt aber nicht, dass der Begründungszusammenhang ebenso verläuft. Vielmehr verhalten sich das eine angeborene Recht und das Rechtsprinzip hinsichtlich der zeitlichen Abfolge und des gegenläufigen Begründungszusammenhangs analog zum Verhältnis von Erfahrung und Erkenntnis. In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant den vielzitierten Gedanken aus: »Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. Wenn aber gleich all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung« (KrV, III, B 27). Rückübertragen auf das Verhältnis von Rechtssubjekten und Rechtsverhältnissen möchte ich festhalten, dass der Zeit nach die empirische Existenz von Rechtssubjekten, die sich durch das eine angeborene Recht auszeichnen, den Rechtsverhältnissen, die durch das Rechtsprinzip gekennzeichnet sind, vorausgehen. Ohne Rechtssubjekte gibt es in der empirischen Welt auch keine Rechtsverhältnisse. Bezüglich des Ursprungs oder des Begründungszusammenhangs geht das Rechtsprinzip dem angeborenen Recht aber voran, denn dieses angeborene Recht setzt, wenn es überhaupt Recht sein soll, das Rechtsprinzip bereits voraus – wie 184
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sich auch in der textlichen Wiederholung des zentralen Aspektes des Allgemeinen Prinzips des Rechts in der Formulierung des einen angeborenen Rechts zeigt. Relevanz für die menschliche Lebenswelt entfaltet das Rechtsprinzip erst, wenn verschiedene Rechtssubjekte unter den Anwendungsbedingungen der menschlichen Existenz aufeinandertreffen, wodurch sich ein spezifisches Rechtsproblem ergibt, welches durch das Allgemeine Prinzip des Rechts gelöst wird. Diesen Gedanken werde ich im nächsten Unterkapitel ausführlicher erläutern. Gegen die hier vorgestellte Lesart lässt sich schließlich noch ein vierter Einwand formulieren, der uns wieder in die innere Architektur der Rechtlehre zurückbringt: Das eine angeborene Recht und das Weltbürgerrecht werden in der Rechtslehre von Kant so unterschiedlich verortet, dass schwer nachvollziehbar ist, wie sich ein so direkter Zusammenhang herstellen lassen soll, wie Kleingeld ihn annimmt: Das eine angeborene Recht wird bereits in der Einleitung der Rechtslehre erwähnt und ist das, was Kant als das innere Mein und Dein bezeichnet. Das Weltbürgerrecht wird dagegen in jenem Teil der Rechtslehre eingeführt, der sich mit Fragen beschäftigt, die das äußere Mein und Dein betreffen. Das Menschenrecht auf Freiheit kommt »jedermann von Natur« aus zu (RL, Allgemeine Einteilung der Rechtslehre, VI 237). Das Weltbürgerrecht gehört im Gegensatz dazu zum Bereich des erworbenen Rechts. Es bedarf eines rechtlichen Aktes, der dieses Recht etabliert, wogegen das Menschenrecht »unabhängig von allem rechtlichen Akt« jedem Menschen zukommt (ebd.). In einem anderen Kontext fasst Flikschuh das Verhältnis von innerem und äußerem Mein dabei zutreffend wie folgt zusammen: »Something is either internal or external: it cannot be both at the same time. More specifically, an internal right cannot contain an external right« (Flikschuh 2000, 125). Dies trifft auch auf das Verhältnis von einem angeborenen Recht und Weltbürgerrecht zu. Auf diesen vierten Einwand gibt Kleingeld keine explizite Antwort. Darüber hinaus ist mit Kleingelds Lesart noch folgende Schwierigkeit verbunden: Wenn das Weltbürgerrecht allein an das eine angeborene Recht geknüpft wird, läuft man Gefahr zu übersehen, dass Recht bei Kant, wie schon angedeutet, wesentlich relational ist. 268 Es 268 Um diesen Gedanken zu illustrieren s. O’Neill: »We often talk of having rights. […] This way of talking misleads. Talking of rights and talking of obligations are both ways of talking about action, not about items that can be possessed. Moreover, most
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betrifft »das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere« (RL, Einleitung § B, VI 230). 269 Selbst das eine angeborene Recht hat eine solche relationale Komponente, denn dieses Recht auf Freiheit wird durch den Zusatz: »sofern sie [die Freiheit] mit jedes andern Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (VI 237) näher bestimmt. Freiheit ist in diesem Kontext nach Kant die Bedingung der Möglichkeit von Rechtssubjekten überhaupt, verstanden im Gegensatz zu bloßen Objekten des Rechts. Nur Rechtssubjekte können in Rechtsverhältnisse zueinander treten. Durch das Recht wird die Rechtmäßigkeit des äußeren Verhältnisses mehrerer solcher Rechtssubjekte, »sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluss haben können« (RL, VI 320), bestimmt. Die Bedingungen der möglichen, wechselseitigen Einflussnahme werden aber erst durch die Anwendungsbedingungen des Rechts gegeben, die von der nächsten hier zu diskutierenden Lesart ins Zentrum gerückt werden. Ohne diese Bedingungen könnten sich die (dann in gewissem Sinne nur potentiellen) Rechtssubjekte in einer Weise zerstreuen, dass sie nie in äußere Verhältnisse zueinander treten müssten, die rechtsförmig zu ordnen wären. Eine Lesart, die das Weltbürgerrecht allein aus dem einen angeborenen Recht ableiten möchte, kann also zwar einiges an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, jedoch kann sie nicht alle ihr begegnenden Schwierigkeiten lösen: Erst durch eine Fundierung des einen angeborenen Rechts im Allgemeinen Prinzip des Rechts, welches dem angeborenen Recht systematisch vorangeht, und unter Einbeziehung der Bedingungen der menschlichen Existenz, wie die nächste Lesart betont, wird man dem kantischen Text gerecht und können diese Schwierigkeiten aufgelöst werden.
important rights are intrinsically relational in that they are claim rights, which mirror certain sorts of obligation« (O’Neill 2000, 98). Für eine Interpretation des kantischen Rechtsverständnisses, welche das relationale Element betont, s. Flikschuh (2009, 434– 439 u. 2011) 269 S. auch Höffe: »Ein zurechnungsfähiges Subjekt allein schafft keine Rechtssituation. […] Rechtsprobleme ergeben sich erst, wenn es mehrere Personen gibt, die überdies nicht lediglich in einer ästhetischen oder einer theoretischen (kontemplativen) Beziehung, vielmehr in einem praktischen Verhältnis zueinander stehen« (1995, 129).
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9.5 Das Rechtsprinzip und die Kugelgestalt der Erde Diese hier fünfte zu behandelnde Interpretation geht davon aus, dass das Weltbürgerrecht auf dem Allgemeinen Prinzip des Rechts und bestimmten Beobachtungen hinsichtlich der Bedingungen menschlicher Existenz beruht (Höffe 1995; Flikschuh 2000), 270 insbesondere der räumlichen Ausgedehntheit von Menschen und der Kugelgestalt der Erde. 271 Das Allgemeine Prinzip des Rechts ist die normative Grundlage; die empirischen Bedingungen der menschlichen Existenz stellen Menschen vor diejenige (Rechts-)Aufgabe, welche durch das Weltbürgerrecht gelöst wird. Diesen Gedanken möchte ich im Folgenden anhand der Überlegungen von Höffe und Flikschuh entwickeln. Erst durch die zwei genannten Anwendungsbedingungen, die räumliche Ausgedehntheit des Menschen und die Kugelgestalt der Erde, werden Menschen dazu genötigt, in Rechtsverhältnisse miteinander zu treten: Da Menschen einen raumeinnehmenden Leib haben und der Raum, in dem sie sich bewegen, die Erde, begrenzt ist sowie die Oberfläche derselben durch ihre Kugelgestalt in sich geschlossen, ist die wechselseitige Einflussnahme möglich. Die Menschen können sich nicht ins Unendliche zerstreuen. 272 Das Recht betrifft nach Kants Rechtsbegriff genau solche Situationen der mög270 Auch Dicke scheint diese Position zu vertreten, wenn er schreibt, das Weltbürgerrecht sei »mit der Kugelgestalt der Erde gegeben« (1998, 119). Allerdings sei das Ziel des Weltbürgerrechts »friedlicher Handel zwischen den Einwohnern der Erde« (ebd., 120). Dies rückt seine Lesart doch wieder nah an die hier als zweites diskutierte Interpretation. Eindeutiger bei Williams: »Kant derives the idea of cosmopolitan justice from the empirical observation that we are the shared inhabitants of the one planet and the concrete implications that he draws for the relations of human beings to each other under these circumstances« (2007, 64). Auch Marti ist der Ansicht, das Weltbürgerrecht finde »seine Begründung im Faktum der Kugelgestalt der Erde; diese ist keine unendliche Fläche, die es ihren Bewohnern erlauben würde, jeder Begegnung mit ihresgleichen auszuweichen und sich nach Belieben Teile davon anzueignen, ohne mit ihresgleichen in Konflikt zu geraten« (2012, 90). 271 Vgl. zu diesen Fragen auch die Vorarbeiten zum Privatrecht (VARL, XXIII, 320 f.). 272 S. auch Klemme: »Weil die Erde kugelförmig und in ihrer Ausdehnung begrenzt ist, ist die Gemeinschaft mit anderen unvermeidlich. Weil sie faktisch unvermeidlich ist, müssen die Bedingungen realisiert werden, unter denen jeder Person ihr Recht erhalten werden kann« (2013, 168 f.). Allerdings scheint hier von einem Recht ausgegangen zu werden, welches vor der Möglichkeit der Einflussnahme einer Person gegen eine andere besteht, und nur unter den genannten Bedingungen gesichert werden muss.
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lichen praktischen wechselseitigen Einflussnahme von Personen aufeinander (RL, § B, VI 230): Im Paragraphen B der Einleitung in die Rechtslehre wird der Rechtsbegriff von Kant durch drei Elemente bestimmt. Recht beziehe sich erstens auf »das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können« (ebd.). Eine Person allein schafft also noch keine Rechtssituation; es bedarf mehrerer Personen (Höffe 1995, 129). Auch mehrere Personen in verschiedenen voneinander getrennten Welten ohne wechselseitige Einflussmöglichkeit befänden sich in keiner rechtsrelevanten Situation miteinander. 273 Zweitens sei dabei dieses Verhältnis als ein Verhältnis der Willkür des einen auf die Willkür eines anderen zu betrachten. Drittens komme es beim Recht nicht auf die Materie, d. h. das Objekt der Willkür, sondern bloß auf die »Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür« (RL, VI 230) an. Dieses Verhältnis wird dann wie folgt weiter bestimmt: »ob [da]durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse« (ebd.). 274 Demnach sei das Recht »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (ebd.). Hierauf folgt im Paragraphen C der Einleitung mit dem Allgemeinen Prinzip des Rechts ein Kriterium dafür, welche Handlungen diesem Rechtsbegriff entsprechen: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (ebd.). Das später im Text des Paragraphen C genannte »allgemeine Rechtsgesetz« formuliert schließlich einen Imperativ und verbindet den Rechtsbegriff und das Rechtsprinzip mit einem
273 Für diese im Wesentlichen relationale Interpretation des kantischen Rechtsverständnisses s. auch Flikschuh (2009) sowie Ludwig (1988, 92–106). 274 Die Akademie-Ausgabe hat zeitweilig »dadurch« erwogen. Nach der WeischedelAusgabe ist nicht das Verhältnis entscheidend, sondern die Handlung selbst. Dort heißt es: »ob durch die Handlung eines von beiden …«. Die Ludwig-Ausgabe streicht die Präposition: »ob die Handlung Eines von beiden …«. Durch diese Entscheidung wird der Rechtsbegriff näher an das Allgemeine Prinzip des Rechts herangerückt, welches – hier folge ich u. a. Klemme – ein Kriterium darstellt, »welche Handlungen dem Rechtsbegriff genügen« (2013, 166).
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unbedingten Sollen; mit kategorischer Verbindlichkeit. 275 Dieser Imperativ lautet: »handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne« (VI 231). An diesem Rechtsimperativ sind einige Dinge auffällig. Für den hier verfolgten Zusammenhang sind vor allem folgende wichtig: Der Rechtsimperativ hat Selbstverpflichtungscharakter. Die Aufforderung »handle äußerlich so« ist eine Forderung, die die Vernunft an das handelnde Subjekt stellt. Gleichwohl wird »ganz und gar nicht erwartet, […] daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und«, fährt Kant fort und verweist damit bereits auf die Zwangsbefugnis des Rechts, die im nächsten Paragraphen eingeführt werden wird, »von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe« (ebd.). Auch wenn der Rechtsimperativ Selbstverpflichtungscharakter hat, ist er doch, wie zuvor schon der Rechtsbegriff und das Rechtsprinzip, immer schon auf andere bezogen: »[D]er freie Gebrauch deiner Willkür«, so Kant, soll »mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen« können (ebd.). Weiterhin ist festzuhalten, dass die von Kant hier gemeinte Freiheit die Handlungsfreiheit ist – nicht die Willensfreiheit (Höffe 1995, 131). Zu Rechtsbegriff, Rechtsprinzip und Rechtsgesetz tritt nun die Beobachtung hinzu, dass Menschen sich qua geteilter Außenwelt faktisch in einer solchen Situation der möglichen wechselseitigen Einflussnahme befinden. Weiterhin sind Menschen Rechtssubjekte und keine bloßen Objekte des Rechts (ebd., 128): Sie zeichnen sich durch Zurechnungsfähigkeit aus – dem für das Recht relevanten Moment des Personseins (RL, VI 223). Darüber hinaus ist ihre wechselseitige Einflussnahme in dieser geteilten Außenwelt, der Erde, sogar als unvermeidlich zu betrachten: Egal wie weit die Menschen von Nahrungsmittelknappheit und Krieg auseinandergetrieben werden, da die Erde ein Globus ist, ist ihre Oberfläche in sich geschlossen und sie müssen sich irgendwann wieder begegnen. Sie können sich eben nicht »ins Unendliche zerstreuen« (ZeF, VIII 358). In einer Situation des »unvermeidlichen Nebeneinanderseins« aber, gilt das ›Postulat des öffentlichen Rechts‹, welches dazu auffor275 Höffe weist zu Recht darauf hin, dass diese der Sache nach schon im Rechtsbegriff und im Rechtsprinzip enthalten ist (Höffe 1995, 139).
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dert, den Naturzustand, d. h. den vorrechtlichen oder rechtlosen Zustand, zu verlassen und in einen rechtlichen Zustand überzugehen (RL, § 42, VI 307), sogar in einen Zustand des öffentlichen Rechts. 276 Das öffentliche Recht aber hat nach Kant, wie oben bereits ausgeführt, drei Sphären, das Staatsrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht. 277 Für Kant steht das Weltbürgerrecht allen Menschen zu, wie es im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden heißt: [V]ermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden […] müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere (ZeF, VIII 358).
Auch in der Rechtslehre verweist Kant wieder auf die Kugelgestalt der Erde: Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, […]: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiemit des Gebrauchs, oder des Eigentums an demselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung (RL, VI 352).
Die Erdoberfläche ist faktisch begrenzt und daher werden die Menschen, wie gesagt egal wie weit Nahrungsmittelknappheit und Krieg sie voneinander weg treiben, irgendwann wieder aufeinander stoßen: 278 Alle Menschen teilen sich eine gemeinsame Außenwelt und befinden sich folglich in einer Situation des möglichen wechselseitigen Einflusses (Höffe 1995, 129). Unter dieser Bedingung entsteht erst die unvermeidliche Aufgabe zur Schaffung von Rechtsverhältnissen: »Verschiedene Innenwelten – sie mögen noch so heterogen 276 In Zum ewigen Frieden benennt Kant noch die Alternative: »ich kann ihn nötigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen« (VIII 349 Fn.). In der Situation des unvermeidlichen Nebeneinanderseins besteht diese Alternative nicht mehr. 277 S. hierzu auch Flikschuh (2000, 184). 278 »The earth’s spherical surface is that empirically given space for possible agency within which human beings are contained to articulate their claims to freedom of choice and action« (Flikschuh 2000, 133). Es ist dabei wichtig, Folgendes festzuhalten: »[T]he global boundary constitutes an objectively given, unavoidable condition of empirical reality within the limits of which human agents are constrained to establish possible relations of Right« (ebd.).
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sein – können problemlos nebeneinander bestehen; erst dieselbe Außenwelt schafft eine unvermeidliche Rechtsaufgabe« (ebd., 131). Da also die Erdoberfläche begrenzt ist und da alle Menschen darüber hinaus räumlich ausgedehnte Wesen sind, können sie nicht anders als irgendwo zu sein und einander dabei zu begegnen. Bezogen auf das Weltbürgerrecht heißt dies: Ihr Irgendwo-Sein kann nicht an sich als eine Rechtsverletzung betrachtet werden. Folglich sollte eine fremde Person nicht feindselig behandelt werden, nur weil sie sich auf dem Gebiet eines anderen Staates befindet. Nichtsdestotrotz hat niemand das Recht, sich an einem bestimmten Platz der Welt aufzuhalten. Das heißt, ein politisches Gemeinwesen, welches bereits ein bestimmtes Territorium hat, oder eine nichtstaatliche Gruppe, die bereits an einem bestimmten Ort lebt, hat das Recht, eine Person abzuweisen, sollte dies ohne ihren Untergang geschehen können: Die Rechte der (früheren) Erstaneignung können nicht durch das Recht des Aufenthalts des Späterankommenden aufgehoben werden. Ludwig fasst diesen Umstand daher präzise folgendermaßen zusammen: Wenngleich – wie es der § 13 des Sachenrechts zeigte – jeder das Recht auf jeden Platz am Boden hat, so ist jenes Recht jedoch keines der Ansiedlung, sondern nur eines des Besuchs: Das von anderen durch die ›prima occupatio‹ angeeignete Land ist für den später ankommenden nur noch vertraglich rechtmäßig zu erwerben (Ludwig 1988, 178).
Es gibt selbstverständlich einige Rückfragen, die man auch an diese Interpretation stellen könnte. Beispielsweise wird von manchen Interpretinnen und Interpreten die Frage aufgeworfen, inwiefern empirische Beobachtungen, wie die Kugelgestalt der Erde und die räumliche Ausgedehntheit von Menschen, ein Recht begründen können. Würde dann nicht aus einem Sein ein Sollen abgeleitet? 279 Hierauf muss man jedoch antworten, dass in dieser Lesart die empirischen Bedingungen nicht selbst die normative Basis des Weltbürgerrechts bilden. Sie bestimmen vielmehr die Grenzen dessen, was von Personen verlangt werden kann, und folgen dem einfachen Rechtsgrundsatz ultra posse nemo obligatur: Wenn Menschen sich nicht ins Unendliche zerstreuen können und wenn Menschen als räumlich ausgedehnte Wesen Platz beanspruchen, dann kann ihr einfaches Irgendwo-Sein nicht per se als Rechtsverletzung betrachtet 279
S. zu diesem Einwand auch Benhabib (2004, 33).
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werden. Es kann nicht von ihnen verlangt werden, nirgendwo zu sein. Wenn sie darüber hinaus nicht in ihr Heimatland zurückkehren können, da dies zu ihrem »Untergang« führen würde, dann kann auch dies nicht von ihnen verlangt werden. 280 Auf diese und weitergehende Fragen wird noch detaillierter in Teil III dieser Studie eingegangen werden. Eine andere Antwort auf diesen Einwand argumentiert noch grundlegender: Es wird hier kein Sollen aus einem Sein abgeleitet, weil der Rechtsbegriff und das aus ihm folgende Rechtsgesetz auch dann gelten würden, wenn die Anwendungsbedingungen nicht erfüllt wären. Sie werden nur erst unter den genannten Anwendungsbedingungen relevant, aber nicht aus ihnen selbst abgeleitet (Flikschuh 2000, 133). Es hat sich also gezeigt, dass für alle hier diskutierten Interpretationen der Begründungsgrundlage – Weltbürgerrecht als Recht auf Mitgliedschaft, als Weg zur Weltöffentlichkeit, als Weg zum Frieden und das eine angeborene Recht sowie das Rechtsprinzip und die Kugelgestalt der Erde – Belege angeführt werden können. Die zuletzt diskutierte Interpretation scheint jedoch vor weit weniger interpretativen wie auch systematischen Schwierigkeiten zu stehen wie die vier zuvor diskutierten, und erscheint daher als die plausibelste. Worin die Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts gesehen wird, ist nicht allein für eine Interpretation der kantischen Rechtsphilosophie interessant. Die Interpretation der Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts hat auch Auswirkungen auf die Begründung jener Verpflichtungen, die mit Hinblick auf Wanderungsbewegungen bestehen. Ein Ansatz, der die Begründungsgrundlage im angeborenen Recht auf Freiheit sieht und das relationale Element des Rechtsverständnisses Kants unterschlägt, wird eher für eine ›offene Grenzen‹-Position votieren und Einwanderungsbeschränkungen als 280 Zu einer anderen möglichen Antwort auf den Einwand des Sein-Sollens-Fehlschlusses s. Hackel: »Die Ableitung des Weltbürgerrechts erfolgt nicht aus einer Tatsache, sondern aus einem höherrangigen Gebot. Aus der Vernunft ergibt sich für Kant das apriorische Gebot des Friedens, das die Verrechtlichung aller möglichen Konfliktbereiche erfordert. Unter der empirischen Voraussetzung der begrenzten Erdoberfläche, die ein Ausweichen der Menschen verhindert und so diese in die Konfliktsituation zwingt, läßt sich das Friedensgebot nur bei Einhaltung des Weltbürgerrechts realisieren. Ohne das Weltbürgerrecht verbliebe ein gesetzloser Raum. Damit ist das Weltbürgerrecht eine Subsumtion unter den kategorischen Imperativ und ebenso ein Gebot der Vernunft wie das Errichten des bürgerlichen Zustands zwischen den Individuen« (Hackel 2000, 92 f.).
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moralisch dubios verstehen und Kant dort, wo er diese Position nicht teilt, als hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibend (Benhabib 2004, 35). Eine Position aber, die die relationale Komponente von Kants Rechtsverständnis betont und die Rechtsaufgabe ernst nimmt, vor die Menschen, die gemeinsam in einer in sich geschlossenen Welt leben, gestellt werden, hebt nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sich in dieser Welt zu bewegen, sondern auch die Notwendigkeit der Rechtsförmigkeit des Handelns in dieser geteilten Welt der wechselseitigen möglichen Einflussnahme hervor. Die sich aus einer solchen Position ergebenden Verpflichtungen und Beschränkungen sind gleichwohl komplex. Sie werden mit Bezug auf Wanderungsbewegungen im dritten Teil dieser Studie untersucht werden. Zunächst sollen aber die Ergebnisse dieses Teils zusammengefasst und mit dem Problemund Positionsaufriss des ersten Teils zusammengeführt werden.
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Nachdem Kants Weltbürgerrecht in den vorangegangenen Kapiteln hinsichtlich seines Kontextes, seiner Adressaten, seines Inhaltes, der Form seiner ihm korrespondierenden Pflichten und seiner Begründung untersucht wurde, möchte ich nun die gewonnenen Ergebnisse an die Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie zurückbinden. Zunächst werde ich hierfür die Ergebnisse des zweiten Teils dieser Studie zusammenfassen, um anschließend auf jene Einwände einzugehen, die gegen Kants Position aus Perspektive der im ersten Teil dieser Studie diskutierten argumentativen Hauptströmungen – dem Kommunitarismus, dem egalitaristischen Kosmopolitismus und dem liberalen Nationalismus – angebracht werden könnten. In einem nächsten Schritt werde ich aufzeigen, wie sich Kants Weltbürgerrecht, so wie es hier interpretiert wurde, zu diesen drei Grundpositionen verhält und welche Antworten sich ausgehend von einem solchen Verständnis des kantischen Weltbürgerrechts auf diese Einwände formulieren ließen. Ich werde hierbei argumentieren, dass sich Kant in einem Verhältnis der ›produktiven Disharmonie‹ zu den genannten Hauptströmungen der gegenwärtigen Debatte befindet. Während ich gegen Ende dieses Teils die Disharmonie betonen werde, möchte ich im nächsten Teil der Studie dann die Produktivität dieser Disharmonie herausstellen.
10.1 Zusammenfassung In diesem zweiten Teil der Arbeit bin ich Kants Verständnis des Weltbürgerrechts nachgegangen. Ich habe den Begriff des Weltbürgerrechts in Kapitel 4 von zwei anderen mit ihm verwandten Begriffen abgegrenzt: dem Ausdruck ›weltbürgerlich‹ und dem des ›Weltbürgers‹. Es hat sich gezeigt, dass, während Kant ›weltbürgerlich‹ und 194
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Zusammenfassung
›Weltbürger‹ häufig im übertragenen, metaphorischen Sinne verwendet und sie dabei eine apolitische Konnotation aufweisen, der Begriff des Weltbürgerrechts klar umrissen und dezidiert politisch ist. Nach einer Erläuterung des argumentativen Kontexts des Weltbürgerrechts in Kants Schriften Zum ewigen Frieden und Die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre in Kapitel 5, habe ich mich der Frage zugewandt, an wen sich das Weltbürgerrecht richtet. Es wurde herausgearbeitet, dass das Weltbürgerrecht sowohl Individuen als auch Gruppen, und dabei sowohl staatlich verfasste wie auch nichtstaatliche Gruppen, in den Blick nimmt. In Kapitel 6 habe ich mir den Inhalt des Weltbürgerrechts vorgenommen: Zu welchen Handlungen befugt es? Zu welchen verpflichtet es? Welche untersagt es? Ich habe dabei auf die negative Formulierung des Weltbürgerrechts im dritten Definitivartikel der Friedensschrift hingewiesen: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (VIII 357) und herausgearbeitet, worin die geforderte Einschränkung besteht. Um diesen Passus besser zu verstehen, wurde ein Blick auf zwei Vorgänger Kants, Vitoria und Grotius, geworfen, die wesentlich umfassendere Ansprüche für legitim halten. Weiterhin wurde untersucht, ob und inwiefern Kants Würdigung des Verhaltens von China und Japan im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden gegenüber Fremden im Widerspruch zum Weltbürgerrecht steht. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass das Weltbürgerrecht im Wesentlichen dazu verpflichtet, Ankommende nicht bloß aufgrund ihres Daseins auf einem ihnen fremden Stück Land feindselig zu behandeln sowie jene nicht abzuweisen, für die diese Abweisung den Untergang bedeuten würde. Weiterhin verpflichtet es dazu, sich als Ankommender ebenfalls nicht feindselig gegenüber den Ansässigen zu verhalten. Das Weltbürgerrecht dagegen auf ein »Recht auf Hospitalität« zu verkürzen, wie es in der Sekundärliteratur gelegentlich geschieht, hieße u. a. diesen zweiten Aspekt des Weltbürgerrechts zu übersehen. Da der Begriff des Feindes sich als zentral für die Bestimmung des Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden erwies – und dieser Begriff anders als jener der Hospitalität auch für die Diskussion des Weltbürgerrechts in der Rechtslehre von Bedeutung ist, galt es, den Begriff des Feindes sowie der Feindseligkeit näher zu betrachten. Ich habe dabei erläutert, dass Kant im hier zu berücksichtigenden Kontext den Feind als denjenigen begreift, der dem Rechtszustand entMigration und Weltbürgerrecht
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gegensteht: Der Begriff des Feindes ist für den Umschlag vom Naturzustand in den Rechtszustand und vom Rechtszustand in den Naturzustand relevant. Wenn man jedoch ein weites Verständnis des Feindesbegriffs anlegt und den Feind als einen Widersacher oder Gegner in jedweder Auseinandersetzung, auch beispielsweise der argumentativen Auseinandersetzung, versteht – wie Kant dies durchaus an einigen Stellen in seinem Werk tut –, dann könnte man sich fragen, ob nicht die Inanspruchnahme des Weltbürgerrechts eine Feindseligkeit darstellen kann: Steht es nicht, wie verschiedentlich betont wurde, im Widerspruch zu den Eigentumsrechten? Ich habe vorgeschlagen, den vermeintlichen Widerspruch von Eigentumsrechten und Weltbürgerrecht nicht, wie Kleingeld es vornimmt, mit Verweis auf das Besteuerungsargument Kants zu lösen, sondern unter Rückgriff auf die »Allgemeine Anmerkung B«, nach der der Beherrscher eines Staates als Obereigentümer zu betrachten ist und dass dieses Konzept des Obereigentums, wie auch Ripstein annimmt, die Möglichkeit von öffentlichem Raum schafft. Der dritte Definitivartikel in Zum ewigen Frieden geht neben der grundlegenden Frage, welche Rechte und Pflichten Individuen und Gruppen, die nicht demselben politischen Gemeinwesen angehören, gegeneinander haben, auch auf die Kolonialverbrechen ein. In Kapitel 7 habe ich daher untersucht, welche Position Kant zum Kolonialismus einnimmt. Hierbei habe ich hervorgehoben, dass für seine Kritik vor allem die Rechtsverletzung, die jede Kolonialherrschaft darstellt, entscheidend ist. Diese genaue Untersuchung des antikolonialistischen Aspekts des Weltbürgerrechts hat dabei geholfen zu unterstreichen, dass das Weltbürgerrecht nicht allein individuelle Freiheitsrechte in den Blick nimmt, außerdem auch nicht auf ein ›Recht auf Hospitalität‹ verkürzt werden sollte. Das Aufzeigen des antikolonialistischen Aspekts des Weltbürgerrechts macht einmal mehr die zwei Richtungen deutlich, in denen das Weltbürgerrecht verpflichtet: Es verpflichtet sowohl die Ansässigen als auch die Ankommenden. Nachdem damit die beiden inhaltlichen Ebenen des Weltbürgerrechts behandelt waren, habe ich mich in Kapitel 8 der Form des Weltbürgerrechts zugewandt, d. h. der Frage, welche Arten von Pflichten mit dem Weltbürgerrecht einhergehen. In der Forschungsliteratur zum Weltbürgerrecht werden hier hauptsächlich drei Fragen diskutiert: Korrespondieren dem Weltbürgerrecht erstens vollkommene oder unvollkommene Pflichten? Sind zweitens aus dem Welt196
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bürgerrecht in Kants Formulierung auch positive Leistungspflichten abzuleiten? Schließlich drittens: Wenn die Kritik am Kolonialismus ein entscheidender Aspekt des Weltbürgerrechts bei Kant ist, haben dann nicht die ehemaligen Kolonialmächte besondere Verpflichtungen (special duties) gegenüber den ehemals kolonisierten Regionen? Ich habe argumentiert, dass dem Weltbürgerrecht vollkommene Pflichten inhärent sind: Bei diesen handelt es sich um negative Pflichten, d. h. um Pflichten, die zu einer Unterlassung auffordern. Unterlassungspflichten sind immer vollkommene Pflichten. Ein Konzept der special duties, so wurde anschließend deutlich, lässt sich nur schwer mit einem kantianischen Rahmen vereinbaren. Gleichwohl, so habe ich argumentiert, lassen sich auch mit Kant jene Aspekte, die man über das Konzept der special duties mit Hinblick auf das Weltbürgerrecht und seine antikolonialistische Stoßrichtung abdecken möchte, einfangen. Weiterhin habe ich betont, dass es sich bei den Verpflichtungen, die dem Weltbürgerrecht korrespondieren, nicht um die einzigen Pflichten handeln muss, die Individuen gegenüber Ankommenden haben, insbesondere, wenn diese hilfsbedürftig sind. Welche weitergehenden Pflichten nach und mit Kant bestehen, wird im nächsten Teil untersucht werden. In Kapitel 9 habe ich mich schließlich der Frage zugewandt, worin die Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts besteht. Ich habe dabei fünf in der Forschungsliteratur vertretene Ansätze dargestellt und dabei argumentiert, dass sich für alle fünf Interpretationen Belege bei Kant auffinden lassen und daher allen Lesarten eine gewisse Plausibilität zukommt. Dabei haben sich jener Ansatz, der die Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts im einen angeborenen Recht auf Freiheit, und jener, der die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts im Rechtsbegriff unter den Bedingungen der menschlichen Existenz verortet, am vielversprechendsten erwiesen. Der Freiheitsrecht-Ansatz ist jedoch nicht ohne Weiteres in der Lage, die Zweischneidigkeit des Weltbürgerrechts, welches hier nicht allein als ein Hospitalitätsrecht verstanden wird, sondern eben auch die Möglichkeit der Abweisung beinhaltet, abzubilden. Außerdem droht er, die Relationalität des kantischen Rechtsbegriffs zu übersehen. Diese beiden Schwachstellen vermag, die hier zuletzt diskutierte Lesart zu umgehen und erscheint daher letztlich als die plausibelste Interpretation der Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts. Sie hat fürderhin den Vorteil, dass nach dieser Lesart leichter zu verstehen ist, warum sich für Kant ein moralischer Gleichheitsgedanke in Migration und Weltbürgerrecht
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Bezug auf die im Weltbürgerrecht thematisierten Wanderungsbewegungen nicht in ein Recht auf universale Freizügigkeit übersetzt. Nach dieser Lesart steht Kant nicht vor jenem Problem, welches von Vertretern eines egalitaristischen Kosmopolitismus an ihn herangetragen wird, nämlich, dass er hinter seinem moralischen Universalismus zurückbleibe, wenn sich die moralische Gleichheit aller Menschen nicht auch mit Hinblick auf Migrationsbewegungen in politische Gleichheit übersetzt.
10.2 Systematische Einwände In der Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie herrscht die Einschätzung vor, dass Kant hinter den Anforderungen des von ihm vertretenen moralischen Universalismus zurückbleibe, weil für ihn aus diesem kein politischer Universalismus folgt, der die moralische Gleichheit aller Menschen auch in Bezug auf Migrationsbewegungen in politische Gleichheit übersetzt. Denn, so dieses Verständnis weiter, das Weltbürgerrecht fordere zwar die Gewährung eines zeitweiligen Aufenthaltes, nicht aber ein Recht auf universelle Bewegungsfreiheit, auf universale Freizügigkeit oder auf Einwanderung. Diese Rechte aber müssten gewährleistet sein, so der Einwand, wenn man die moralische Gleichheit von Menschen ernst nehmen würde. Diese Kritik an Kant wird vor allem von jenen Autorinnen und Autoren angeführt, die ich im ersten Teil dieser Studien der egalitaristisch-kosmopolitischen Strömung zugeordnet habe. Von kommunitaristischen Autoren wird an liberale Positionen, wie eben auch Kants, der Vorwurf herangetragen, dass sie die Verwurzelung des Individuums in einer bestimmten Gemeinschaft und ihren spezifischen Werten nicht hinreichend berücksichtigen (Sandel 1984). Da Individuen in spezifischen Gemeinschaften verwurzelt seien, sollte der Aufnahme Fremder in diese Gemeinschaften mehr Skepsis entgegengebracht werden: Die liberalen Theorien eigene Betonung der individuellen Freiheit verkehre sich häufig in eine Überbetonung, wenn dem Umstand der Verwurzelung in bestimmten historisch gewachsenen Gemeinschaften nicht hinreichend Rechnung getragen werde. 281 Weiterhin seien, so manche Autoren, viele liberale Denker zu 281
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S. etwa die Diskussion von Walzer und Miller im ersten Teil dieser Arbeit.
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optimistisch, was transnationale Interaktion, wie sie auch das Weltbürgerrecht von Kant zum Inhalt hat, angeht: Denn dort würden wir an Verständnisgrenzen gelangen, da die Wertesysteme so unterschiedlich sind, dass die Möglichkeit einer Einigung über moralische und rechtsmoralische Vorstellungen auf einer ganz grundlegenden Ebene infrage steht. 282 Außerdem, so kommunitaristisch orientierte Autoren des Postkolonialismus, würde der Liberalismus qua Universalismus immer auch die Gefahr eines Imperialismus in sich bergen. Dies würde, so diese Position, insbesondere auch auf Kant zutreffen, der mit seinen Typologisierungen und Kategorisierungen sowie der Annahme einer Geschichtsteleologie und Stufentheorie der Menschheitsentwicklung das ›imperiale Projekt‹ vorbereiten würde. 283 Der ›liberale Nationalismus‹ möchte nun dezidiert eine Brücke zwischen gemeinschaftsorientierten kommunitaristischen und (liberalen) egalitaristisch- kosmopolitischen Positionen schlagen und stellt dabei den Begriff der Nation als Träger legitimer Territorialrechte in den Mittelpunkt der Argumentation (vgl. Kap. 2.3). In seiner Kritik an Kant steht er kommunitaristischen Autoren jedoch deutlich näher als den egalitaristisch-kosmopolitisch orientierten Positionen: Aus der Perspektive des liberalen Nationalismus nimmt Kant die Bedeutung von Gruppenidentitäten – hierbei insbesondere jene von Nationen – nicht ernst genug. Kant mangle es an der Bestimmung klarer Kriterien für Mitgliedschaft in Gemeinschaften (Miller 2011, 109). Weiterhin müsste Miller auch Kants Ablehnung 282 So etwa (Rorty 1989). Walzer ist interessanterweise dagegen der Ansicht, dass es durchaus »a thin and universalist morality« gäbe, die in jeder »thick and particularist morality« stecke und auf die wir uns beziehen, wenn wir über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg interagieren (Walzer 1994, xi). Appiah ist gegen Walzer der Ansicht, dass, erstens fundamentale Meinungsverschiedenheiten auch innerhalb derselben Sprache und Kultur bestehen und zweitens die im engen Sinne fundamentalen Meinungsverschiedenheiten sich nicht dort ergeben, wo wir uns auf verschiedene ›dichte‹ Konzepte beziehen, sondern da, wo Begriffe und Konzepte angeführt werden, die der Gesprächspartner überhaupt nicht kennt. Gleichzeitig vertritt Appiah aber die These, dass eine Übereinstimmung hinsichtlich dieser Konzepte gar nicht das primäre Ziel der Interaktion sein muss, sondern Verständnis für den anderen (2007, 71). Außerdem warnt er davor, die Bedeutung der Übereinstimmung in Wertfragen für das praktische Zusammenleben zu überschätzen (ebd., 94–113). 283 S. paradigmatisch Metha (1999, hier insbesondere 25 u. 84). Metha greift hier Saids Kant-Einschätzung (Said 1979, 119) auf und baut diese aus; vgl. auch Said (1994, 58). Dagegen einschlägig: Muthu (2003, Kap. 5).
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affektiver Momente in der Begründung von Rechten skeptisch gegenüberstehen, da diese, wie wir im ersten Teil dieser Studie gesehen haben, für Millers Argument zur Begründung der Territorialrechte von Nationen wichtig sind (Miller 2007, 218). 284 Während egalitaristisch-kosmopolitisch orientierte Positionen bei Kant für gewöhnlich eher keine Möglichkeit sehen, den Übergang von einem Besuchs- zu einem Gastrecht angemessen zu gestalten, und darüber hinaus den Weg zur vollwertigen Mitgliedschaft in einem anderen politischen Gemeinwesen zu ermöglichen, ist Miller der Ansicht, dass Kant nicht die argumentativen Ressourcen habe, um individuelle Einwanderung überhaupt zu verbieten – und das stelle Kants eigentliches Problem dar: Kants Argument fehle es, so Miller, gerade an einer Begründung der Möglichkeit zur Einwanderungsregulierung als Teil der Territorialrechte eines Staates (Miller 2011, 106). Zugespitzt formuliert: Wo der egalitaristische Kosmopolitismus bei Kant ein Zuwenig an Universalismus diagnostiziert, besteht für den Kommunitarismus schon ein Zuviel; und wo der egalitaristische Kosmopolitismus bei Kant ein Zuwenig an Egalitarismus diagnostiziert, besteht für den liberalen Nationalismus schon ein Zuviel. In der Folge möchte ich kurz einige mögliche Antworten auf diese Einwände aus kantischer Perspektive formulieren.
10.3 Mögliche Antworten 10.3.1 Zu wenig Gemeinschaft? Dem Kommunitarismus und dem liberalen Nationalismus ist der Einwand gemeinsam, Kant würde die Verwurzelung von Individuen in spezifischen Gemeinschaften nicht ernst genug nehmen. Obzwar dies eine weitverbreitete Einschätzung ist, lässt sie sich, wie sich gezeigt hat, mit Verweis auf zahlreiche Aspekte der kantischen politischen Philosophie entkräften. Die Bedeutung staatlich verfasster Gemeinschaften für Kant wird nicht zuletzt im Postulat des öffentlichen Rechts deutlich, welches fordert, in Situationen des unvermeidlichen 284 Ebenso würde Miller wohl Kants explizite Ablehnung von Lockes Arbeitstheorie zur Begründung von Eigentum problematisch finden, da er einen weiteren argumentativen Strang der Begründung der Territorialrechte von Nationen an diese anlehnt (Miller 2007, 220; s. auch Kap. 2.3 der vorliegenden Studie).
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Mögliche Antworten
Nebeneinanderseins aus dem Naturzustand in den Rechtszustand überzugehen, der immer ein ›Gemeinschaftsprojekt‹ ist. Auch die Relationalität des Rechtsbegriffs, die in vielen Punkten dieses Teils eine Rolle spielte, verweist auf die Orientierung der Rechtsphilosophie Kants auf ein Gegenüber. Das Individuum kann mit sich selbst allein in keinen Rechtszustand eintreten. Nun könnten Kommunitaristen freilich sagen, das sei aber eben nicht genug: Auch ein relationales Verständnis von Recht und die Forderung zur Errichtung eines Rechtszustands reiche nicht aus, um der historisch bedingten, spezifischen kulturellen Prägung von Gemeinschaften, Völkern und Nationen gerecht zu werden. Ohne hier die Auseinandersetzung von Liberalismus und Kommunitarismus entscheiden zu wollen, sei doch darauf verwiesen, dass in diesem zweiten Teil der Studie anhand des China-Japan-Beispiels in der Friedensschrift, der Diskussion von Kants Ablehnung der Kolonialherrschaft und der in diesem Zusammenhang stehenden Betonung der Rechte nichtstaatlich verfasster Gemeinschaften herausgearbeitet wurde, dass Kant einen, in Cavallars Worten, Embedded Cosmopolitanism (Cavallar 2015) vertritt. 285 Kant kann durchaus die Bedeutung von Kultur und Gemeinschaft für Individuen einfangen, ohne seine universalistische Begründung von Recht und Moral aufgeben zu müssen. Man kann zwar nicht aus partikularistischen Überlegungen zu einem Universalismus gelangen, man kann aber sehr wohl auf ›universalistischen Wegen‹ zu einem (ethischen) Partikularismus, d. h. zur Forderung von ›Parteilichkeit‹ (partiality) gegenüber bestimmten Personen oder Personengruppen gelangen: Parteilichkeit in einem bestimmten Sinne kann, wie anhand der Verpflichtungen von Eltern gegenüber ihren Kindern dargelegt wurde, auch universalistisch begründet werden (Kap. 8.3). Allerdings wird sie dann nicht bereits auf der Begründungsebene schon vorausgesetzt, sondern erscheint als das Ergebnis von allgemeinmenschlichen Verpflichtungen unter bestimmten Anwendungsbedingungen (z. B. Elternsein). Miller ist der Ansicht, dass Kant nicht hinreichend in der Lage sei, Kriterien für Mitgliedschaft in Gemeinschaften anzugeben. Wie wir gesehen haben, ist für Kant, wie für viele andere Autoren, die das Bild des Naturzustandes bemühen, dieser keine historische Gegebenheit. Es ist davon auszugehen, dass Menschen – wenn auch nicht not285
Vgl. auch Muthu (2003, 122–171).
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wendigerweise, so doch häufig – in Gemeinschaften hineingeboren werden. Diese Mitgliedschaft nimmt Kant vermutlich als kontingent hin. Interessant wird die Frage nach den Mitgliedschaftskriterien für ihn erst bei der Überschreitung der Grenzen der Geburtsgemeinschaft – wie für Miller übrigens auch. Im nächsten Teil werde ich genauer herausstellen, welche Kriterien hierbei angelegt werden dürfen und welche nicht. Es wird sich zeigen, dass Kant in diesem Punkt mehr zu leisten vermag, als Miller annimmt.
10.3.2 Zu wenig Egalitarismus? Der Einwand, dass es inkonsistent – und moralisch fragwürdig – sei, dass Kant seiner moralischen Annahme der Gleichheit aller Menschen mit Hinblick auf Migrationsbewegungen keinen politischen Egalitarismus folgen lässt, scheint mehreren Verwechslungen anheimzufallen: einerseits einer bei vielen egalitaristischen Theorien anzutreffenden Verwechslung von Allgemeinheit und Gleichheit, andererseits der Verwechslung der Ebene der Begründung mit jener der politischen Praxis. Kants Moralphilosophie wie auch die politische Philosophie sind freilich egalitär: Die Annahme der moralischen Gleichheit aller Menschen zieht sich durch die Rechtsphilosophie ebenso wie durch die Moralphilosophie. Gleichwohl vertritt Kant in Fragen der distributiven sozioökonomischen Gerechtigkeit, wie auch in Bezug auf Migration und Staatsbürgerschaft, keine egalitaristische Position: Gleichheit stellt für ihn kein zu erreichendes Ziel von Gerechtigkeitsforderungen dar. Gleichheit ist dabei in vielen Überlegungen zu Fragen politischer Gerechtigkeit ein Nebenprodukt der Erfüllung eines absoluten Gerechtigkeitsstandards – und nicht das eigentliche Ziel. 286 In diesen Fällen ist die Gleichheit nicht der Grund für die Gerechtigkeitsforderung, sondern sie korreliert nur mit der Erfüllung des Gerechtigkeitsstandards: »Die Gleichheitsterminologie« wird dann, in den Worten von Krebs, »redundant. Es geht nichts verloren, wenn man anstelle von ›Alle Menschen sollen gleichermaßen genug zu essen haben‹ einfach nur sagt ›Alle Menschen sollen genug zu essen haben‹« (Krebs 286 Für eine Literaturübersicht zur Kritik am Gleichheitsmaßstab des Egalitarismus s. Krebs (2002, 120).
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Mögliche Antworten
2002, 121). Der Allquantor muss nicht noch um den Begriff der Gleichheit ergänzt werden. Eine universalistische Theorie kann die Anforderung des Allquantors erfüllen, ohne eine zusätzliche Gleichheitsforderung einführen zu müssen. Egalitaristische Theorien verwechseln oft den ›Nebeneffekt‹ der Gleichheit mit dem Grund für diese Gleichheit: den zugrunde liegenden Universalismus der Gerechtigkeitsforderung. Kommen wir nun noch zu dem Punkt, dass Fragen der Begründung eben etwas anderes sind als Fragen der politischen Praxis: Bereits in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, dass Theorien, die in ihrer Begründung nicht egalitaristisch argumentieren, zu egalitaristischeren Politikergebnissen kommen können als jene, die von einem Egalitarismus ausgehen. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen des ersten Teils dieser Studie: Es gab Anlass zur Skepsis, dass egalitaristische Theorien wie jene von Carens oder Singer mit Hinblick auf konkrete Wanderungsbewegungen ein ›Mehr‹ an Zuund Einwanderung erlaubten als eine dezidiert nonegalitaristische Theorie wie jene von Walzer. Wer nun an Kant den Einwand heranträgt, dass seine Konzeption ein ›Zuwenig‹ an Zuwanderung erlaube, weil er seinen moralischen Universalismus nicht in einen politischen Egalitarismus auch in Bezug auf Migrationsbewegungen übersetze, der übersieht also, dass noch auszubuchstabieren wäre, ob dies in konkreten Fällen mit Hinblick auf konkrete Zuwanderungsbewegungen tatsächlich der Fall wäre. 287
10.3.3 Zu wenig Universalismus? Der Vorwurf, Kants Position sei zu wenig egalitaristisch, wenn er die moralische Gleichheit nicht in eine politische Gleichheit mit Hinblick auf Zuwanderung und Staatsbürgerschaft übersetzt, geht in dem Einwand auf, dass Kants Position letztlich überhaupt nicht universalistisch sei. Präziser formuliert: Dass es verwundert, dass er seinen moralischen Universalismus nicht auch in einen politischen Universalismus überführt. Aber ist dies wirklich der Fall? 287 Miller ist beispielsweise, wie bereits erwähnt, der Ansicht, dass man mit Kant überhaupt keine Einschränkung individueller Zuwanderung begründen könne (Miller 2011, 106).
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Produktive Disharmonie: Ein Zwischenfazit
Einerseits ist es sicherlich richtig, dass Kant politische Institutionen nicht universell übertragen sehen möchte. Seine Ablehnung eines weltumspannenden Staates oder auch des kolonialen Expansionismus, wie wir sie in den späteren Schriften finden, sind Belege hierfür. Andererseits ist Kants Rechts- und Staatsphilosophie trotz alledem universalistisch: Der Rechtsbegriff, dem auch das Weltbürgerrecht genügen muss, ist gerade nicht der Rechtsbegriff einer spezifischen Gemeinschaft. Die Verpflichtungen, die dem Weltbürgerrecht korrespondieren, sind, wie gezeigt wurde, allgemeinmenschliche Verpflichtungen. Das Weltbürgerrecht ergibt sich, wie ich argumentiert habe, aus diesem universalistischen Rechtsbegriff unter den bereits skizzierten Anwendungsbedingungen der räumlichen Ausgedehntheit der Menschen und der in sich geschlossenen Oberfläche der Erde. Auch an der Frage nach dem ›Zuviel oder Zuwenig an Universalismus‹ wird also deutlich, dass es wichtig ist zu unterscheiden, ob wir diese auf der Begründungsebene oder mit Hinblick auf konkretes politisches Handeln stellen: Während Kant auf der Ebene der Begründung universalistisch argumentiert, führt diese Argumentation nicht zu einer planen universellen Übertragung der gleichen politischen Institutionen auf alle Menschen und Regionen. Welche Konsequenzen dies für Einwanderungsfragen hat, wird u. a. im nächsten Teil dieser Studie erörtert werden.
10.3.4 Zu viel Optimismus? Kommunitaristisch fundierte Positionen vertreten, wie bereits angesprochen, manchmal die These, dass kulturübergreifende Interaktionen nicht in der Weise denkbar sind, wie sie Kant im Weltbürgerrecht fordert. Die Annahme, dass friedliche und rechtsförmige Interaktion auch über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg möglich sei, sei zu optimistisch. Diese würde schlichtweg an den kulturellen Unterschieden scheitern. Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass die Begründung des Weltbürgerrechts vom Optimismus oder Pessimismus unabhängig erfolgt. An einem späteren Punkt in der Friedensschrift plausibilisiert Kant zwar mit Verweis auf den Handelsgeist die Machbarkeit und die Möglichkeit der Verwirklichung des Weltbürgerrechts, die Hoffnung hierauf ist aber nicht Grundlage für die Notwendigkeit des Weltbürgerrechts: Es stellt für Kant gerade keine historische Notwendigkeit 204
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dar, sondern folgt vielmehr notwendig aus dem Rechtsbegriff unter den Anwendungsbedingungen der menschlichen Existenz. Außerdem ist auch die empirische Plausibilisierung, wie wir sie am Ende der Friedensschrift finden, nicht allein von einem überbordenden Optimismus getragen: Im ersten Zusatz der Friedensschrift betont Kant sogar zunächst die die Menschen trennenden Aspekte. Er bespricht den Krieg, der die Menschen vor allem erst einmal auseinander treibt. Fürderhin auch die Absonderung der Völker voneinander durch die »Verschiedenheit der Sprachen und Religionen« (VIII 367). Erst zum Ende des ersten Zusatzes hin kommt der Handelsgeist als zusammenführendes Element ins Spiel, den Kant aber ebenfalls nicht durchweg positiv bewertet. Es ist also fraglich, wie viel Optimismus Kant tatsächlich an den Tag legt.
10.3.5 Zu viel Gemeinschaft? Wohl gegen jede liberale Position – mit sehr großer Vehemenz aber gegen Kant – wurde der Imperialismusvorwurf vorgebracht: Jeder Universalismus sei der Sache nach expansionistisch veranlagt und stehe in der Gefahr, imperialistisch aufzutreten, d. h., seine Vorstellungen gegebenenfalls gewaltsam auf andere Personen oder Personengruppen zu übertragen. 288 Muthu hat ausführlich dargelegt, dass die Philosophen der Aufklärung entgegen ihrem Ruf oft sogar einen dezidierten »Antiimperialismus« vertreten (Muthu 2003). Wenn man diese These auch nicht in dieser Stärke teilen möchte, lässt sich doch an vielen Stellen von Kants politischer Philosophie deutlich machen, dass er – zumindest in den späteren Schriften – sich gerade mit seiner Kolonialismuskritik gegen das expansionistische Auftreten der europäischen Staaten stellt. Hier zeigt sich wieder einmal, wie entscheidend der Unterschied zwischen einem moralischen und einem politischen Universalismus ist: Ein politischer Universalismus, verstanden als die Forderung nach gleichen politischen Verhältnissen überall, führt leicht zu Interven288 Bei manchen Kant-Interpretationen, die diesen als Wegbereiter eines humanitären Interventionismus verstehen, ist dieser Einwand vielleicht nicht ganz so leicht von der Hand zu weisen, s. beispielsweise Roff (2013). Zu einer präzisen Diskussion zum Thema Kant und humanitäre Intervention s. Hill (2009).
Migration und Weltbürgerrecht
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Produktive Disharmonie: Ein Zwischenfazit
tionismus und Imperialismus. Ein moralischer Universalismus, der nicht einfach in einen politischen Universalismus übersetzt wird, kann genau das Gegenteil bewirken: durch ein internes, moralisch und rechtsmoralisch begründetes Imperialismusverbot.
10.4 Produktive Disharmonie Die Disharmonie der Hauptströmungen zu Kants Position scheint damit offenkundig: Kant lässt sich weder als ein ›einwandfreier‹ egalitaristischer Kosmopolit im umrissenen Sinne verstehen noch – wenig überraschend – als Kommunitarist oder gar als ›liberaler Nationalist‹. Die Disharmonie ist also offensichtlich – wie aber wird sie ›produktiv‹ ? Lassen sich durch diese Abweichungen neue Einsichten und Antworten für die Fragen der gegenwärtigen Debatte erzeugen? Die Arbeitshypothese lautet: An jenen Stellen, an denen Kant über die genannten Strömungen hinausgeht und in der Begründung wie auch in der Anwendung auf konkrete Phänomene andere Wege geht, kann die daraus entstehende Reibung mit den gegenwärtigen Ansätzen zu neuen Einsichten hinsichtlich jener Fragen führen, die durch Zuwanderung, Einwanderung, Flucht und anderen Migrationsbewegungen aufgeworfen werden. Wie genau kantische Antworten auf die Fragen der gegenwärtigen Debatte aussehen könnten, wird der Gegenstand des nächsten Teils der vorliegenden Studie sein.
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TEIL III Weltbürgerrecht und Migration
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11. Die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«: Einleitung
Benhabib ist der Ansicht, dass jede kosmopolitische Theorie der Gerechtigkeit Aussagen darüber treffen muss, wie Mitgliedschaft gerecht zu gestalten ist, und sich nicht allein auf die globale Verteilung von Gütern, auf globale distributive Gerechtigkeit, beschränken darf. Ein Konzept »gerechter Mitgliedschaft« erfüllt nach Benhabib fünf Merkmale: (1) die Anerkennung des moralischen Anspruchs von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf Erstaufnahme, (2) ein Regime »poröser Grenzen« für Einwanderer, (3) ein Verbot des Entzugs der Staatsbürgerschaft und des Verlusts der staatsbürgerlichen Rechte, (4) das Recht eines jeden Menschen, eine Rechtsperson zu sein, ausgestattet mit bestimmten unveräußerlichen Rechten (das »Recht auf Rechte«) und (5) schließlich, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, das Recht, die Staatsbürgerschaft zu erlangen (Benhabib 2004, 3). Gegenwärtige »neo-Kantianische« Theorien der internationalen Gerechtigkeit, so Benhabib weiter, würden diese Kriterien nicht erfüllen. 289 Ungeachtet der Frage, ob Benhabibs Vorwurf gegen diese Theoriegruppe gerechtfertigt ist, weist sie doch auf einen wichtigen Punkt hin: Mitgliedschaft in politischen Gemeinwesen wie etwa Staaten unterliegt freiwilligen wie unfreiwilligen Veränderungen. Migrationsbewegungen stellen uns vor die Frage, wer Anspruch auf Erstaufnahme, Asyl und Einwanderung hat und unter welchen Umständen und nach welchen Kriterien ein Gemeinwesen gegebenenfalls Einwanderung begrenzen darf. Die im Teil II dieser Studie vorgestellte Interpretation des kantischen Weltbürgerrechts wird nun auf diese Fragen angewandt werden. In seiner Anwendung wird sich ihre Relevanz für diese Fragen 289 Benhabib verwendet den Ausdruck mit Hinblick auf die von Kant inspirierten Theorien internationaler Gerechtigkeit von Rawls (1993 u. 1999), Pogge (1992), Beitz (1979 u. 2000) und Buchanan (2000).
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Die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«: Einleitung
erweisen. Es wird sich dabei zeigen, dass Kant für die gegenwärtige Debatte um Migration ein interessanter Gesprächspartner sein kann. Jedoch herrscht in dieser Debatte bislang die Einschätzung vor, dass er, wie bereits erläutert, hinter den Anforderungen eines moralischen Universalismus zurückbleibe, da er nicht der Ansicht ist, dass sich die moralische Gleichheit aller Menschen auch mit Hinblick auf Migrationsbewegungen in politische Gleichheit übersetzt. Im letzten Teil dieser Studie konnte gezeigt werden, dass diese Einschätzung nicht überzeugt. Ich habe dafür argumentiert, dass sie auf einem Missverständnis der Rechtfertigungsgrundlage des Weltbürgerrechts basiert, nämlich der Vorstellung, dass das Weltbürgerrecht allein aus dem einen angeborenen Recht abgeleitet werden könne (Kleingeld 1998; Benhabib 2004). Ich habe anschließend eine alternative Begründungsstrategie vorgeschlagen, die die Bedingungen der menschlichen Existenz miteinbezieht (Höffe 1995; Flikschuh 2000). Die Implikationen, die diese Rechtfertigungsstrategie mit Hinblick auf Migrationsbewegungen hat, konnten im vorangegangenen Abschnitt allerdings nur kurz angerissen werden. Sie werden im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Nach dieser Einleitung werde ich mich vornehmlich auf zwei Fragen bzw. Themenkomplexe konzentrieren, die in der Literatur immer wieder an Kant herangetragen werden und die Benhabibs erstes und zweites Merkmal zum Inhalt haben. Erstens: Wird das Weltbürgerrecht den moralischen Ansprüchen von Flüchtlingen auf Erstaufnahme gerecht (Kap. 12)? Zweitens: Kann man für andere Migrationsbewegungen außer Flucht auf der Grundlage von Kants Überlegungen legitime von illegitimen Ausschlussgründen sinnvoll unterscheiden (Kap. 13)? Anschließend soll untersucht werden, wie der mögliche Umgang mit Staatenlosigkeit und der Übergang zur Staatsbürgerschaft – Benhabibs Punkte 3 bis 5 – aus einer von Kants Weltbürgerrecht ausgehenden Perspektive auf Migration aussehen könnten (Kap. 14 u. 15). Im darauffolgenden Kapitel werden wir uns einer Wanderungsbewegung zuwenden, die in der gegenwärtigen Debatte kaum eine Rolle spielt, der Auswanderung. Das Recht auf Auswanderung zählt zum Kernbestand liberaler Grundrechte. Seine philosophische Begründung ist allerdings selten, und noch seltener überzeugend vorgenommen worden. Bei Kant werden jedoch tatsächlich nicht nur Fragen der Zu-, sondern auch der Abwanderung diskutiert und auch das Recht auf Auswanderung kommt dabei zur Sprache. Ich werde eine Interpretation dieses Rechts auf Auswan210
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Die »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«: Einleitung
derung vorschlagen, die dieses jenseits des einen angeborenen Rechts fundiert. Es wird sich zeigen, dass Kant im Gegensatz zu anderen jüngeren Theorien in der Lage ist, eine überzeugende Begründung des Rechts auf Auswanderung zu liefern (Kap. 16). Anschließend wird die schon in Kapitel 8.2 angekündigte Flankierung der bisher diskutierten Rechts- um die Tugendpflichten vorgenommen. Hierbei werden insbesondere die Hilfspflicht und die Pflicht zur Wohltätigkeit sowie jene der Teilnehmung, der weltbürgerlichen Gesinnung und der Dankbarkeit im Mittelpunkt stehen. Als Sonderfall wird die Wohltätigkeit des Reichen zu diskutieren sein, die auch für die gegenwärtige Diskussion gerade aufgrund ihrer Verwurzelung in der Debatte um globale Verteilungsgerechtigkeit von Relevanz ist (Kap. 17). Es folgt ein kurzes Zwischenfazit, welches die Ergebnisse dieses Teils resümiert, wie auch eine Gesamtzusammenfassung der Ergebnisse der Studie und der Hinweis auf weiterführende Fragen in Form eines kurzen Ausblicks (Kap. 18).
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12. Das Weltbürgerrecht als Non-refoulement-Prinzip?
Kants Weltbürgerrecht ist immer wieder als Vorwegnahme des völkerrechtlichen Non-refoulement-Prinzips, also des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, aufgefasst worden, demzufolge die Rückführung von Personen in Länder, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, untersagt ist. 290 Dieses Prinzip ist u. a. in Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verankert, ergänzt durch das New Yorker Protokoll von 1967. Für die an die Europäische Menschenrechtskonvention gebundenen Staaten besteht weiterhin nach Artikel 3 das Verbot der Zurückweisung bei drohender Gefahr der Folter. 291 290 Vgl. hierzu Müller: »Im Verbot der Wegweisung des Fremden, sofern diese zu seinem Untergang führen würde, kann man eine erstaunliche Vorwegnahme des heutigen non-refoulement Prinzips sehen, das heute als ius cogens des Völkerrechts anerkannt ist« (1999, 266 Fn. 10). Ebenso Benhabib: »Kant’s claim that first entry cannot be denied to those who seek it if this would result in their ›destruction‹ (Untergang) has become incorporated into the Geneva Convention on the Status of Refugees as the principle of ›non-refoulement‹« (2004, 35). Auch Kleingeld: »Kant here anticipates many of the refugee rights that were established in the twentieth century« (1998, 76). Für Keil fordert das Weltbürgerrecht »uneingeschränktes non refoulement« (Keil 2009, 47). Auch Dietrich ist der Ansicht, dass Kant einen Nonrefoulement-Grundsatz formuliert (2017a, 14). Eberl/Niesen vergleichen das Weltbürgerrecht mit dem Non-refoulement-Prinzip, weisen jedoch darauf hin, dass sich Kants Formulierung von jener des Non-refoulement-Prinzips unterscheidet: Während für das Nichtrückführungsprinzip die »Beweggründe[n] für seine Inanspruchnahme« entscheidend sind, seien diese für das Weltbürgerrecht nicht entscheidend (2011, 253). Für eine Untersuchung von Kants Weltbürgerrecht in Hinblick auf die Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen, die aber zu etwas anderen Schlussfolgerungen gelangt, als die hier vorgetragenen, s. Loewe (2010). S. auch Keil (2017). Einige Überlegungen zu diesem Thema habe ich bereits in Reinhardt (2018a) vorgestellt, hier werden sie ausgebaut. 291 Die Genfer Flüchtlingskonvention und andere Richtlinien stellen keinen rein deskriptiven, aber auch keinen rein normativen Maßstab bereit, wer als Flüchtling anzuerkennen ist: Es werden weder alle Personen erfasst, die faktisch vor etwas fliehen, noch alle Personen, die aus moralischen Überlegungen heraus als Flüchtlinge an-
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Der Vergleich des Weltbürgerrechts mit dem Völkerrechtsgrundsatz der Nichtzurückweisung ist auf der einen Seite naheliegend, besagt doch ein Teil von Kants Formulierung des Weltbürgerrechts, dass die Abweisung eines Fremden nur erlaubt sei, »wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann« (ZeF, VIII 358). Da Kants Weltbürgerrecht aber negativ formuliert ist, könnte man auf der anderen Seite den Eindruck gewinnen, dass das Weltbürgerrecht zu restriktiv gefasst sei, um Flüchtlingen hinreichend Schutz zu gewähren: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein«, und es stellt kein Gastrecht dar (ZeF, VIII 357 f.). Leider führt Kant nicht näher aus, wann Personen zurückgewiesen werden dürfen und wann dies unter keinen Umständen geschehen darf. Das einzige Kriterium, das Kant nennt, ist der »Untergang« einer Person, ohne genauer zu bestimmen, was darunter
erkannt werden sollten. Wer als Flüchtling anerkannt wird, ist das Ergebnis von politischen und juristischen Entscheidungsfindungen. In der Genfer Flüchtlingskonvention heißt es, dass Personen aus Staaten, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen bedroht würde, nicht in diese zurückgeschickt werden dürfen. Auch die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz in Massenfluchtsituationen beinhaltet ein Non-refoulement-Gebot (Rat der Europäischen Union 2001). Die Liste der völkerrechtlich anerkannten Fluchtgründe wurde in historischer Perspektive stetig ausgeweitet. War der Flüchtlingsbegriff des modernen Völkerrechts zunächst vor allem dafür entworfen worden, um jene Personen zu erfassen, die vor der Russischen Revolution geflohen sind, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts weitere Fluchtgründe aufgenommen. Dieser Ausweitungsprozess dauert an: Momentan wird beispielsweise darüber diskutiert, inwiefern nicht auch Personen, die vor den Folgen des Klimawandels fliehen, als Flüchtlinge im völkerrechtlichen Sinn anerkannt werden müssten: Vgl. zu dieser Diskussion auch den Beitrag von Lindenbauer, Vertreter des UNHCR für Deutschland und Österreich »Klima- und Umweltflüchtlinge – eine Frage des Flüchtlingsschutzes?« anlässlich der Nürnberger Tage zum Asyl- und Ausländerrecht am 19. und 20. November 2009: »Mangels eines Verfolgungstatbestands wird in diesen Fällen die Genfer Flüchtlingskonvention nur bedingt weiterhelfen können« (2009, 6). In einzelnen nationalen Regelwerken finden sich aber bereits Regelungen zum Schutz von Personen, die aufgrund von Naturkatastrophen fliehen mussten, beispielsweise in Finnland, Schweden und den USA (ebd., 7). Für eine Einführung zum internationalen Flüchtlingsschutz s. Hobe/Kimminich (72000, 365–368). Dort auch weiterführende völkerrechtliche Literatur. Zur unterschiedlichen Interpretation des Artikels 33 im Völkerrecht s. D’Angelo (2009). Für eine philosophische Diskussion des Flüchtlingsbegriffs s. Shacknove (1985). Zur philosophischen Diskussion des Asylrechts als Menschenrecht s. auch Tugendhat (1992, 66–75). Migration und Weltbürgerrecht
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fällt. 292 In der Literatur besteht daher Uneinigkeit darüber, wie umfassend der in der Kant-Passage implizierte Schutz von Flüchtlingen zu verstehen ist. 293 Zwei prominente Diskutantinnen der Frage, wie weit Kants Weltbürgerrecht hinsichtlich des Flüchtlingsschutzes ausgedeutet werden kann, sind Kleingeld und Benhabib: Kleingeld ist der Ansicht, dass unter das Weltbürgerrecht nicht nur der Schutz vor politischer Verfolgung, sondern auch der Schutz vor Hunger und tödlichen Krankheiten fällt (Kleingeld 1998, 76). Benhabib ist dagegen skeptisch, dass bei Kant eine solche Ausweitung des Anwendungsbereiches angelegt ist (Benhabib 2004, 39). Die Pflicht zur Nichtabweisung, die mit dem Weltbürgerrecht einhergeht, bleibt ihres Erachtens nach unklar, außer in jenen Fällen, in denen Leib und Leben bedroht ist. Für Benhabib verpflichtet das Weltbürgerrecht bei Kant nicht zur bedingungslosen Aufnahme, da es sich um eine unvollkommene Pflicht im kantischen Sinne handeln würde (ebd., 36). Es stellen sich mit Hinblick auf diese beiden Interpretationen also zwei Fragen: Handelt es sich bei der im Weltbürgerrecht implizierten Pflicht tatsächlich nur um eine unvollkommene Pflicht – wie
292 Sicherlich ist es so, dass Kants Zeit Flüchtlingsströme in dem Ausmaß, wie sie das 20. und 21. Jahrhundert erlebt haben, nicht kannte. Jedoch gab es auch im 17. und 18. Jahrhundert einige und auch viel diskutierte Beispiele von Massenvertreibungen und -fluchten, beispielsweise die Flucht böhmischer Exulanten vor der habsburgischen Rekatholisierung: Etwa eine Million Menschen verließen nach der Niederschlagung des böhmischen Aufstandes 1620 das Land; auch an die Auswanderung von 150.000 Hugenotten aus Frankreich nach der Aufhebung des Toleranzediktes im Jahr 1685 durch Ludwig XIV. ist zu denken. Weiterhin könnte man die Fluchtwanderung der Mennoniten aus der Pfalz nach 1555, die der Salzburger Exulanten 1731, Le Grand Dérangement 1755, die Flucht der Loyalisten nach 1776 nach Kanada und in die Karibik und die Highland Clearances ab 1780 nennen. Ebenso die Auswanderung der Krimtataren ins Osmanische Reich (vgl. u. a. Sassen 1996, 23–27; Hoerder 2010, 50; North 2005, 126 f.; Osterhammel 2013, 214–221). Es ist daher auch Eberl zu widersprechen, der folgender Ansicht ist: »Vergegenwärtigt man sich aber die Situationen, die Kant vor Augen hatte, so erscheint es unwahrscheinlich, dass er tatsächlich die Flüchtlingsproblematik im Sinn hat, die ein modernes Problem ist« (2008, 252). Die »Flüchtlingsproblematik« ist kein »Problem« der Moderne. 293 Die Frage nach der Berechtigung Schutzsuchender auf Aufnahme und deren Begründung ist dabei sicherlich nicht nur für die Kant-Forschung interessant. Vgl. dazu etwa Özmen: »Während etwa die moralische bzw. menschenrechtliche Berechtigung der durch systematische politische Verfolgung begründeten Asylgesuche zum politikphilosophischen common sense gehört, sind die moralischen Ansprüche der vielen anderen noch nicht abschließend reflektiert und diskutiert worden (2015, 354).
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Unterlassungspflichten sind vollkommene Pflichten
Benhabib annimmt? Und: Wie ist der Ausdruck »Untergang« im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden zu verstehen? Im Folgenden werde ich Kleingelds Position gegen Benhabib verteidigen, indem ich zeige, dass es sich bei der dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflicht zur Nichtabweisung um eine vollkommene Pflicht handelt – hier werde ich im Wesentlichen auf die Ergebnisse aus Kapitel 8.1 dieser Studie verweisen –, und dass der Begriff »Untergang« umfassender verstanden werden kann, als Benhabib dies zugestehen möchte. Im weiteren Verlauf werde ich mich allerdings von Kleingelds Argumentation lösen und zeigen, dass sie nicht alle Fälle, die sie unter den Begriff des Untergangs zu fassen versucht, auch unter diesen Begriff subsumieren kann – zumindest nicht begründetermaßen. Ich werde daher eine alternative Interpretation des Ausdrucks »Untergang« in der betreffenden Passage in der Friedensschrift vorschlagen, die diesen unter Verweis auf Kants Personenbegriff ausdeutet. Anschließend werde ich diese Interpretation auf die Frage rückbeziehen, welchen Personen und Personengruppen gegenüber die Pflicht auf Nichtabweisung gilt. Ich werde dafür argumentieren, dass das entscheidende normative Kriterium aus Kants Konzept der moralischen Persönlichkeit zu gewinnen ist.
12.1 Unterlassungspflichten sind vollkommene Pflichten In Kapitel 8.1 dieser Studie wurde herausgearbeitet, dass Kant zwischen Rechts- und Tugendpflichten unterscheidet und das Weltbürgerrecht mit den ihm korrespondierenden Pflichten dem Bereich der Rechtspflichten zuordnet. Rechtspflichten erfüllen verschiedene Definitionsmerkmale der vollkommenen Pflicht. Ob nun aber gerade die im Weltbürgerrecht von Kant formulierte Pflicht zur Nichtabweisung eine Ausnahme zum Vorteil der Neigung gestattet oder nicht (GMS, VI 421), wobei ersteres sie zu einer unvollkommenen Pflicht machen würde, wird von Benhabib infrage gestellt. Im zweiten Teil dieser Studie konnte gezeigt werden, dass es sich bei den dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten um vollkommene Pflichten handelt, da sie Unterlassungspflichten darstellen: Das Weltbürgerrecht verpflichtet zunächst zur Unterlassung von Feindseligkeiten, weiterhin auch dazu, den Ankommenden nicht abzuweisen, sollte dies seinen Untergang bedeuten. Da eine geforderte Unterlassung immer eine vollkommene Pflicht darstellt, sind die dem Migration und Weltbürgerrecht
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Das Weltbürgerrecht als Non-refoulement-Prinzip?
Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten, anders als Benhabib annimmt, vollkommene Rechtspflichten, die gerade »keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung« (GMS, VI 421) gestatten. Wann aber droht der »Untergang«?
12.2 Was bedeutet »Untergang«? Da man den Ankommenden nach dem dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden nur abweisen könne, »wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann, solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält,« man »ihm nicht feindlich begegnen« dürfe (VIII 358), hängt für Kleingeld die Antwort auf die Frage, für welche Formen von Gefahr das Gebot der Nichtzurückweisung nach Kant gilt, davon ab, wie man den Ausdruck »Untergang« interpretiert. Wenden wir uns daher der zweiten hier zu behandelnden Frage zu: Wie kann der Ausdruck »Untergang« in diesem Zusammenhang verstanden werden? Beziehungsweise: Warum sollten wir diesen Ausdruck weit interpretieren und, wenn wir ihn weit interpretieren, wie weit dürfen wir ihn verstehen? Von vielen Kommentatoren wird der Ausdruck »Untergang« in dieser Passage mit dem physischen Untergang einer Person, also ihrem Tod, gleichgesetzt. 294 Das Weltbürgerrecht würde damit nur bei Lebensgefahr Schutz bieten. Kleingeld ist gleichwohl der Ansicht, dass man den Ausdruck »Untergang« weiter interpretieren könnte: »It could conceivably also include mental destruction or incapacitating physical harm« (1998, 77). Benhabib steht Kleingelds Versuch einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des Untergangsbegriffs jedoch skeptisch gegenüber (2004, 39). Kleingeld liefert für ihre Ausweitung des Anwendungsbereichs leider kein Kriterium. Sie erwähnt nur, dass der Begriff »Untergang« mehr enthalten kann als »a right to political asylum, including protection from starvation or fatal disease« (1998, 76). Diese Bestimmung ist jedoch nicht eindeutig: Auf der einen Seite könnte man den 294 Zu dieser Einschätzung vgl. paradigmatisch den Kommentar von Eberl/Niesen (2011, 252 f.). Eberl auch schon in einer früheren Studie: »Daher wird dieses Recht [das Recht der Abweisung] nur durch den existentiellen Fall eingeschränkt, in dem die Zurückweisung das Leben der Betroffenen gefährden würde« (2008, 250). Jüngst auch Dietrich: »Kant formuliert […] einen – auf die Gefahr der physischen Vernichtung beschränkten – Grundsatz der Nichtzurückweisung« (2017a, 14).
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Was bedeutet »Untergang«?
Eindruck bekommen, dass ihre Interpretation doch nicht so weit ist, wie es zunächst den Anschein hat. Hungersnöte und tödliche Krankheiten verweisen letztlich doch wieder auf den physischen Tod einer Person. Auf der anderen Seite möchte sie durch ihre Interpretation aber auch politische Verfolgung abdecken, die weiter reicht als die Gefahr für Leib und Leben. Die Vagheit von Kleingelds Interpretation in diesem Punkt könnte darin begründet sein, dass sie nicht transparent macht, worauf sich ihre Lesart des Untergangsbegriffs gründet. Ich schlage daher vor, sich an dieser Stelle von Kleingelds Interpretation zu lösen bzw. über diese hinauszugehen. Der Ansatz, den ich im Folgenden skizzieren werde, wird es uns erlauben, den Begriff »Untergang« umfassender zu verstehen, als Benhabib dies für möglich hält, und wird gleichzeitig eine argumentative Grundlage für diese Ausweitung liefern. Ich werde dabei das spezifisch Kantische dieser Passage herauspräparieren und argumentieren, dass dieser Begriff, bezogen auf Personen, auf die Bedingungen der Möglichkeit moralischer Handlungsfähigkeit verweist und damit vor allem auf die Fähigkeit zur Übernahme von Pflichten. Um diese These zu untermauern, müssen wir zunächst einige interpretative Grundlagen schaffen.
12.2.1 Ist »Untergang« gleichbedeutend mit Tod? Wenn Kant mit »Untergang« allein den physischen Tod einer Person gemeint hätte, stellt sich die Frage: Warum hat er es nicht explizit gemacht? Das Wort »Tod« taucht in Kants Werk über 100-mal auf. Interessanterweise verwendet er ihn ausgerechnet in der zitierten Passage aus Zum ewigen Frieden nicht. Hier gebraucht er stattdessen, wie wir gesehen haben, den Ausdruck »Untergang«. Wenn Kant also allein die Lebensgefahr gemeint hätte, wäre es nicht wahrscheinlich anzunehmen, dass er dann auch von Tod und Lebensgefahr gesprochen hätte? Nun ist freilich die Nichtverwendung eines anderen Ausdrucks noch kein hinreichender Grund, um von der Standardlesart abzuweichen. Sie stellt aber gleichwohl ein wichtiges Indiz dar. Welche weiteren Indizien lassen sich anführen? Das Wort »Untergang« findet sich nur an zwölf weiteren Stellen in Kants Werk, also deutlich seltener als das Wort »Tod«. Allerdings verwendet Kant es an diesen Stellen nicht ein einziges Mal in Bezug auf Personen. Kant spricht etwa vom Untergang eines Weltgebäudes Migration und Weltbürgerrecht
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Das Weltbürgerrecht als Non-refoulement-Prinzip?
(NTH, I 318), des Universums (I 311) und des Weltenbaus (I 239), dem Weltuntergang (BDG, II 104; RGV, VI 19) – durchaus auch in einem nichtreligiösen Sinne (NTH, I 235; zweimal in FEV I 213). Weiterhin spricht er vom Untergang eines Glaubens (RGV, VI 107) und dem Sonnenuntergang (PG, IX 177). 295 Nie spricht er vom Untergang eines einzelnen Menschen – außer in der Passage aus Zum ewigen Frieden. Es gibt damit also auch keine Parallelstellen, die nahelegen würden, dass Kant mit dem »Untergang« einer Person deren physischen Tod meinen würde. Weiterhin handelt es sich bei den zitierten Stellen, in denen Kant von »Untergang« spricht, auffallend häufig um figurative Verwendungsweisen. Bestimmte Sachverhalte werden dort mithilfe eines sprachlichen Bildes beschrieben, jenem des Untergangs: Beim Untergang eines Reiches geht es nicht um dessen Versinken im Meer, sondern um dessen Verderben und Verfall. Dies legt nahe, dass auch die Passage aus Zum ewigen Frieden nicht – oder zumindest nicht allein – wortwörtlich zu verstehen sein muss. Aufgrund des Seefahrtskontextes und des Beispiels eines Schiffbrüchigen aus den Vorarbeiten zur Friedensschrift (VAZeF, XXIII 173) könnte man zunächst denken, dass der angesprochene drohende Untergang das Sinken eines Schiffes meint. Wenn es sich aber um eine figurative Verwendungsweise handelt, dann kann der Ausdruck »Untergang« durchaus auch andere bedrohliche Situationen umfassen.
12.2.2 Der ›Untergang des Königs‹ und Kants Personenbegriff Für die Ausdeutung kann ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch hilfreich sein: Auch hier wird neben den Verwendungsweisen des Son-
295 Weiterhin spricht Kant von der Unmöglichkeit des Untergangs Gottes (BGD, II 85) und dem Untergang der trefflichsten und geringschätzigsten Kreaturen (NTH, I 318). Im handschriftlichen Nachlass finden sich darüber hinaus auch Passagen, in denen Kant vom Untergang des Weltganzen oder Weltsystems spricht (XXI 520), dem Untergang aller Landprodukte (XVI 586), dem Untergang eines Volkes (XIX 523), dem Untergang des Feindes (XIX 601). Mit ›Feind‹ ist an jener Stelle – dies ist für den hier verfolgten Zusammenhang wichtig – ein Kriegsgegner, ein feindlicher Staat oder dergleichen gemeint, nicht eine einzelne Person. Schließlich findet sich auch mit Hinblick auf die Unmöglichkeit von positiven principia intellectualia der Psychologie der Hinweis: »kein solcher Ursprung und Untergang als der Korper« (XVI 687).
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Was bedeutet »Untergang«?
nenuntergangs, des Schiffsuntergangs, des Untergangs eines Reiches und dergleichen auf die »figürliche« Verwendung des Begriffs Untergang mit Hinblick auf Menschen hingewiesen: Ein Beispiel für diese Verwendungsweise sei die Formulierung »der Untergang des Königs«, mit welchem eben nicht der Tod desselbigen gemeint ist (Grimm, Bd. 24, 1560). Hierunter ist vielmehr zu verstehen, dass der König aufhört, das innezuhaben, was ihn zum König macht: Er hat seine Macht verloren, gegebenenfalls im Zuge dessen auch sein Amt. Die Amtsperson des Königs ›geht unter‹, die Existenz der physischen Person des Königs ist hiervon aber nicht notwendigerweise betroffen – auch wenn die Vernichtung der Amtsperson mit der der physischen Person zusammenfallen kann. Dass es sich dennoch um zwei getrennte Sachverhalte handelt, wird auch dadurch deutlich, dass im Falle des natürlichen Todes eines Königs gerade nicht von dessen ›Untergang‹ gesprochen wird. ›Untergang‹ heißt hier, die Macht, den Einfluss, die Autorität und dergleichen eines Königs zu verlieren – und damit aufzuhören, im strengen Sinne König zu sein. Diese Verwendungsweise des Ausdrucks ›Untergang‹ lässt sich nun auch auf die Passage zum Weltbürgerrecht übertragen: Neben dem Untergang des »physischen Selbst« durch den Tod, kann vom Untergang nämlich auch das betroffen sein, was die Person überhaupt erst zu einer Person macht. Während Ersteres mit Letzterem notwendig verbunden ist, muss Letzteres, wie im Königsbeispiel, nicht notwendigerweise mit Ersterem zusammenfallen. In der Einleitung zur Metaphysik der Sitten definiert Kant den Begriff der Person wie folgt: Eine Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden) (VI 223). 296
Eine Person wird hier von Kant mit Verweis auf den Begriff der Zurechnungsfähigkeit definiert. Sie besitzt eine moralische und eine psychologische Persönlichkeit. Erstere besteht in der praktischen Freiheit, die die Person zur Moral befähigt, zweitere in dem Ver-
296 Hier zitiert nach der Weischedel-Ausgabe, S. 329. In der Akademie-Ausgabe heißt es: »sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden« (VI 223).
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mögen, die Einheit der Apperzeption, d. h. das Bewusstsein seiner selbst, herzustellen. 297 Ausgehend von dieser Definition ließe sich nun sagen, dass sowohl das Ende der Zurechnungsfähigkeit einer Person als auch das Ende des Bewusstseins der eigenen Identität, verstanden als Einheit der Apperzeption, ihrem »Untergang« gleichkäme. Es gibt zahlreiche Szenarien, die hier vorstellbar wären, die zum Verlust einer oder beider Vermögen führen können, zeitweilig oder dauerhaft. 298 Insbesondere verschiedene Formen von Folter sowie der Isolations- und Lagerhaft können diese Effekte haben. Es zeigt sich also: Das moralische und psychologische Selbst sind für Kant für die Bestimmung dessen, was eine Person zur Person macht, von primärer Bedeutung. Das physische Selbst ist hierfür sekundär. Das physische Selbst stellt jedoch die Bedingung der Möglichkeit eines moralischen Selbst dar und kann daher nicht außer Acht gelassen werden hinsichtlich der Frage, wann vom »Untergang« einer Person zu sprechen ist. 299 Für diese Frage ist das physische Selbst aber eben nur als Bedingung der Möglichkeit einer moralischen bzw. psychologischen Persönlichkeit von Bedeutung. 300 297 Ohne an dieser Stelle tiefer in die Probleme der theoretischen Philosophie Kants einsteigen zu können, möchte ich betonen, dass hier nicht die transzendentale Einheit der Apperzeption gemeint ist, sondern vielmehr die empirisch-subjektive, psychologische Einheit der Apperzeption. Vgl. hierzu auch KrV, B 69 sowie Anthropologie (VII 134). 298 Ein weiterer Aspekt des Untergangsbegriffs besteht darin, dass er nicht notwendigerweise Endgültigkeit impliziert, auch wenn dies in vielen Verwendungsweisen der Fall ist. Das ein Untergang auch nur vorübergehend sein kann, zeigt sich etwa beim Sonnenuntergang: Die Sonne geht unter, um am nächsten Morgen wieder aufzugehen. 299 Da wir hier die moralische und psychologische Persönlichkeit von Menschen betrachten, klammere ich die Frage aus, wie sich dies auf »heilige Wesen« im kantischen Sinne übertragen ließe; weiterhin auch die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. 300 Höffe unterscheidet das »naturale Selbst« vom »moralischen Selbst«. Ersteres hängt »an nichts anderem als dem biologischen Leben, dem Überleben und angenehmen Leben«, letzterem seien andere Aspekte des menschlichen Lebens wichtiger, »beispielsweise die religiöse, politische, sprachliche oder sonstige kulturelle Selbstbestimmung bzw. Freiheit« (Höffe 2010, 133). Ausgehend von dieser Bestimmung des moralischen Selbst könnte man noch weitere Fluchtursachen unter dem Begriff des Untergangs ergänzen, etwa Unterdrückung von Religionsfreiheit und der politischen, sprachlichen und kulturellen Selbstbestimmung. Dies würde jedoch für den hier verfolgten Zusammenhang wohl zu weit gehen: Bei Höffes Unterscheidung handelt es sich um eine Kritik an Hobbes’ Begriff der Selbsterhaltung. Zentral ist bei dieser Kritik, dass nach Höffe die Erhaltung des physischen Selbst für den einzelnen
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12.2.3Kant und »die hungernde irische Landbevölkerung« Oliver Eberl vertritt zur Frage, inwiefern aus Kants Weltbürgerrecht ein normatives Kriterium für die Untersagung der Abweisung abgeleitet werden kann, folgende Position: Aus dem Weltbürgerrecht Kants kann daher kaum eine Antwort dazu abgeleitet werden, ob es sich um eine direkte Bedrohung handeln muss (Schaden am Schiff oder Nahrungsmangel) oder ob auch mögliche Bedrohungen im Herkunftsland die Einschränkung der Zurückweisungsbefugnis auslösen (Eberl 2008, 251).
Anschließend wirft er von dieser Einschätzung ausgehend die Frage auf: »Wäre Japan verpflichtet gewesen, französische Hugenotten aufzunehmen? Hätte Tahiti die hungernde irische Landbevölkerung aufnehmen müssen?« (ebd.) und beantwortet sie negativ: Mir scheint, Kant meint die Pflicht der Japaner, den Hugenotten Proviant und Informationen zur Weiterfahrt zur Verfügung zu stellen, aber nicht die Pflicht, sie so lange aufnehmen zu müssen, bis sie wieder sich in ihre Heimat zurückkehren können. Es würde also allein um die konkrete Bedrohung gehen (ebd.). 301
Eberl ist demnach der Ansicht, dass die Verpflichtung, die sich aus dem Weltbürgerrecht ableiten lässt, nicht über eine Verpflichtung zur Hilfe bei akuter Seenot oder Nahrungsmangel hinausgeht. Diese Einschätzung überrascht nach dem bisher Gesagten in mindestens dreifacher Hinsicht. Zunächst überrascht diese Darstellung der dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten, weil sie diese als Hilfspflichten zu begreifen scheint. Hilfspflichten aber sind unvollkommene Pflichten. Die Position, nach der die mit dem Weltbürgerrecht verbundenen Pflichten unvollkommene Pflichten seien, wurde jedoch bereits zurückgewiesen (Kap. 8.1): Das Weltbürgerrecht kann von HilfspflichMenschen nicht notwendigerweise absoluten Vorrang hat. Beim Begriff des Untergangs geht es allerdings – das ist festzuhalten – um ein Kriterium, welches es Dritten erlauben muss, eine Situation zu bewerten. 301 Zunächst einmal ist es fraglich, ob die Lebensbedrohung im Herkunftsland immer weniger konkret ist als jene auf hoher See, wie Eberl hier anzunehmen scheint. Dies aber einmal beiseitegelassen, scheint die geographische Nähe oder Distanz zum Ort des möglichen Untergangs nicht unmittelbar von (rechts-)moralischer Relevanz zu sein. Dies wird aber durch Eberls Beispiele nahegelegt, ohne dass er dies explizit machen würde. Migration und Weltbürgerrecht
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ten flankiert werden. Ihm stehen aber zunächst die Pflicht zur Nichtabweisung unter den oben erläuterten Bedingungen und die der Unterlassung von Feindseligkeiten gegenüber – und damit vollkommene Pflichten. Sodann verwundert die Darstellung der zwei erwähnten Beispiele: Da die Hugenotten nicht allein an mangelnder Nahrung und fehlenden kartographischen Kenntnissen litten, wäre die von Eberl vorgeschlagene Reaktion wohl kaum die der Situation angemessene gewesen. Sie benötigten vielmehr einen Platz auf dieser Erde zum Leben – und dies wird kaum durch einen Platz an Deck eines Schiffes auf hoher See gewährleistet, egal wie gut dieses mit Nahrung ausgestattet ist. Nach der hier vorgestellten Interpretation des Weltbürgerrechts hätten die Hugenotten von Japan aufgenommen werden müssen, denn Japan hätte kein Recht gehabt, sie abzuweisen, da sie sich nicht feindselig verhalten haben und ihnen andernfalls der Untergang gedroht hätte. Gegebenenfalls hätte Japan versuchen können, mit anderen Ländern Verteilungsmöglichkeiten auszuhandeln und auf Frankreich einzuwirken, um eventuell eine Situation zu schaffen, die eine Rückkehr der Hugenotten ermöglicht hätte. Diese Überlegungen betreffen aber nicht allein das Weltbürgerrecht, sondern reichen auch in das Völkerrecht hinein. Festzuhalten bleibt aber: Die Hugenotten einfach wieder hinaus auf See zu schicken, wäre nicht die angemessene Verhaltensweise gewesen. Bei der »hungernden irischen Landbevölkerung« verhält sich die Situation ein wenig anders. Eberls Schlussfolgerung ist gleichwohl nicht zutreffend: Die Aufnahme ist freilich nicht das probate Mittel gegen Hunger. Hunger lässt sich zunächst einmal auch durch Lebensmittellieferungen in die betroffenen Gebiete zumindest übergangsweise beseitigen. In den letzten Jahrzehnten ist herausgearbeitet worden, dass Hungersnöte nicht allein als »Naturkatastrophen« zu betrachten sind, sondern durch politische Ungerechtigkeiten bedingt werden und daher als menschengemacht zu verstehen sind. 302 Dies lässt sich auch auf Irland zu Zeiten der great famine übertragen. Auch in dieser Situation wäre also ein Maßnahmenpaket zur Lösung dieses Problems vonnöten gewesen (Lebensmittellieferungen, Restrukturierung der Landwirtschaft und des Exports, politische Beeinflussung Englands etc.). 302
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S. Sen (1981) und Drèze/Sen (1989). Vgl. auch Rawls (1999, 109).
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Diese Maßnahmenpakete, die in beiden Fällen wohl angemessen gewesen wären, gehen freilich weit über die Forderungen des Weltbürgerrechts hinaus. Sie betreffen beispielsweise, wie bereits erwähnt, ebenso das Völkerrecht. Jedoch bleibt mit Hinblick auf das Weltbürgerrecht der Punkt bestehen: Tahiti hätte auch in diesem Fall, gemäß der hier vertretenen Interpretation des Weltbürgerrechts, solange die umrissenen Maßnahmen (noch) nicht greifen, die irische Landbevölkerung zunächst nicht ohne Weiteres zurückschicken, d. h. abweisen dürfen, wenn sie denn in Tahiti angelandet wäre. Beide Fälle sind von Eberl natürlich suggestiv gewählt: Es handelt sich hier jeweils um Bevölkerungsgruppen, die in weiter räumlicher Distanz zueinander leben, was vermutlich den Eindruck entstehen lassen soll, dass es jeweils naheliegender Aufnahmeorte gegeben hätte als Japan und Tahiti. Das ist richtig, und diese wurden faktisch ja auch aufgesucht. Die räumliche Distanz bzw. die Dauer der Reise, die die betreffenden Personen hinter sich haben, ändert aber nichts an der rechtsmoralischen Verpflichtung jenes Staates, in dem sie nun einmal anlanden. Außerdem haben wir es in beiden Beispielen mit historischen Fällen zu tun. Zur räumlichen Distanz der betroffenen Bevölkerungsgruppen kommt also noch die zeitliche Distanz hinzu. Es verändert in Bezug auf das Weltbürgerrecht aber die (rechts-)moralische Einschätzung einer Situation, ob ein hypothetischer Fall angenommen wird, wie Eberl es hier tut – die Hugenotten sind nicht in Japan angelandet; die Iren nicht in Tahiti –, oder ob wir es mit konkreten Personen auf einem konkreten Territorium zu tun haben: Das Weltbürgerrecht betrifft Personen, die sich faktisch »auf dem Boden eines andern« befinden. Der Irrealis in Eberls Darstellung verlagert die Frage aber ein wenig, denn er legt nahe, dass hier eine Vorabentscheidung möglich wäre: Hypothetische Fälle können in aller Ruhe von außen betrachtet werden und es ist richtig, dass die Tahitianer mit und nach Kant keine prinzipielle besondere Verpflichtung gegenüber den Iren hätten. Aber nach dem, was in dieser Studie herausgearbeitet wurde, haben die Tahitianer vielleicht solange keine Pflicht, die hungernde irische Landbevölkerung aufzunehmen, solange dies eine hypothetische Frage bleibt, aber in dem Moment, in dem die hungernde irische Landbevölkerung tatsächlich in Tahiti anlandet, darf sie nicht abgewiesen werden. Man kann es für eine Fehlstelle der Weltbürgerrechtskonzeption Kants halten, dass gerade dieses faktische Dasein eine Voraussetzung Migration und Weltbürgerrecht
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für die Pflicht zur Nichtabweisung darstellt. Wie hinreichend klar geworden sein sollte, ist dies aber nicht Eberls Angriffspunkt.
12.3 Das moralische Selbst als normatives Kriterium für ein Recht auf Asyl Den Untergang einer Person allein auf ihren (physischen) Tod zu reduzieren, hieße, wie gezeigt wurde, die Vielschichtigkeit von Kants Personenbegriff zu ignorieren. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Kant in der betreffenden Passage in der Friedensschrift den Untergang einer Person meint, was hier als plausible Interpretation erwiesen wurde, dann müssen wir Kants Personenbegriff heranziehen, um zu bestimmen, was ein solcher Untergang umfassen würde. Wie weiterhin gezeigt worden ist, kann dann mit dem Begriff des Untergangs nicht allein die Verletzung oder Vernichtung der physischen Person gemeint sein. Analog zum Beispiel des Königs scheint es plausibler, dass hier auf die Vernichtung all dessen, was eine Person zur Person macht, verwiesen wird. Wie verdeutlicht wurde, beinhaltet dies insbesondere die Vernichtung der Fähigkeit zum moralischen Handeln – sei diese nun dauerhaft oder vorrübergehend. Vermutlich hat Kleingeld sogar etwas Ähnliches vor Augen, wenn sie von »mental destruction« und »incapacitating physical harm« spricht (1998, 77). Diese Beschreibungen lassen durchaus an Folter und dergleichen denken. Der Vorteil des hier von mir umrissenen Ansatzes, der den Begriff des Untergangs mit Kants Personenbegriff verknüpft, besteht darin, dass er eine Begründung dafür liefert, warum gerade diese Punkte ebenfalls unter den Begriff »Untergang« fallen. Kleingeld kann sie im Rahmen ihrer Interpretation nur benennen. Hinsichtlich der in diesem Kapitel verfolgten Fragestellung lässt sich also festhalten: Im Weltbürgerrecht ist durchaus eine Nonrefoulement-Regel angelegt. Eine Person darf nicht abgewiesen werden, wenn ihr Gefahr für Leib und Leben droht. Gleichzeitig konnte aber auch gezeigt werden, dass die dem Weltbürgerrecht korrespondierende vollkommene Rechtspflicht zur Nichtabweisung nicht nur bei Lebensgefahr und Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit greift, sondern auch bei drohender Auflösung der moralischen und psychologischen Persönlichkeit – gegebenenfalls ohne, dass dabei Leib und Leben bedroht wären. Es bliebe zu diskutieren und genauer 224
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auszubuchstabieren, welche einzelnen Fälle unter dieses Kriterium fallen würden. Ein Begriff, der bislang noch nicht gefallen ist, ist jener des Asyls. Im weiteren Verständnis meint dieser zunächst einen Zufluchtsort, weiterhin den Schutz vor Gefahr und die Aufnahme Verfolgter. Im engeren völkerrechtlichen Verständnis verweist der Begriff auf das im Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention formulierte Recht auf Asyl. Dort heißt es, dass Menschen, die berechtigte Furcht haben, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu werden, als Flüchtlinge anzuerkennen seien. Das deutsche Recht auf Asyl nach Artikel 16a des Grundgesetzes ist enger gefasst; es betrifft allein politisch Verfolgte. 303 Krieg ist nach diesen Definitionen kein relevanter Fluchtgrund. Innerhalb der Europäischen Union wird diese Lücke mit der Artikel 15 der Anerkennungsrichtlinie geschlossen, nach der Menschen, denen ernsthafter Schaden bei Rückführung in ihr Heimatland drohen würde, ein sogenannter subsidiärer Schutz gewährt werden muss. Nach der Anerkennungsrichtlinie droht ernsthafter Schaden bei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter und willkürlicher Gewalt im Rahmen innerstaatlicher oder internationaler, bewaffneter Konflikte. Hunger oder Naturkatastrophen sind nicht Gegenstand der Anerkennungsrichtlinie. Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erläutert, ist der Flüchtlingsbegriff kein dezidiert philosophischer Begriff – genauso wenig ist es der Begriff des Asyls. Wir haben es mit historisch und geographisch unterschiedlichen, zum Teil sich überlappenden Asylrechtsregimen zu tun. Was aber deutlich geworden sein sollte, ist, dass Kants Weltbürgerrecht weit über viele geläufige Asylrechtsdefinitionen hinausgeht. An Kants Ansatz ist also nicht zu kritisieren, dass nach diesem der Schutz von Flüchtlingen nur eine »unvollkommene moralische Pflicht« darstelle, deren Ausmaß unklar sei (Benhabib 2004, 36). Man könnte jedoch durchaus gegen ihn ins Feld führen, dass er mit dem Weltbürgerrecht nur jene Personen in den Blick nehmen kann, die sich bereits »auf dem Boden eines andern« (ZeF, VIII 358) be303 Zum internationalen Flüchtlingsschutz und dem Flüchtlingsbegriff aus völkerrechtlicher Perspektive s. u. a. Hobe/Kimminich (72000, 365–368). Dort auch weiterführende Literaturhinweise zu diesem Thema.
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finden, die es also geschafft haben, sich bis ans ›rettende Land‹ durchzuschlagen. Nun ist aber mit Hinblick auf Flucht- wie auch hinsichtlich aller anderen Wanderungsbewegungen immer wieder darauf hingewiesen worden, dass diese Ressourcen erfordern: Was ist also mit jenen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihr Land zu verlassen, weil sie nicht über die dafür notwendigen Mittel verfügen? Welche Verpflichtungen haben wir ihnen gegenüber? Hier scheint uns das Weltbürgerrecht tatsächlich nicht weiterzuhelfen, und auch Kants Zurückhaltung, was die Einmischung in die Belange anderer Staaten anbelangt, scheint manchem üblichen Argument einen Riegel vorzuschieben: Fordert Kant doch im fünften Präliminarartikel von Zum ewigen Frieden, kein Staat solle »sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen« (VIII 346). Jedoch ist wohl auch nicht jede Einmischung als »gewalttätig« zu betrachten. Zu untersuchen, welche Möglichkeiten hier eine kantische Perspektive bereithält, wäre sowohl mit Hinblick auf die Frage nach Flucht und Asyl als auch mit Hinblick auf die Frage nach den Möglichkeiten, aber auch Grenzen – sowohl pragmatischen wie auch (rechts-)moralischen – der Einwirkung auf Gesellschaften jenseits des eigenen Staates, durchaus lohnenswert.
12.4 »What happens when the numbers are not small?« Die Fragen, die wir bislang diskutiert haben, scheinen sich vor allem auf einzelne Menschen zu beziehen. Es ist dabei argumentiert worden, dass, wenn einer Person der »Untergang« drohen würde, sie nicht abgewiesen werden darf. ›Untergang‹ wiederum sollte mit Rückgriff auf Kants Personenbegriff als Verlust der Fähigkeit zum moralischen Handeln verstanden werden. Diese Verpflichtung, dass eine vom Untergang in diesem Sinne bedrohte Person nicht abzuweisen ist, ist eine vollkommene Pflicht, die keine Ausnahme erlaubt. Was ist aber, wenn es sich nicht um einzelne Personen handelt, sondern um Massenfluchtbewegungen? Gelten hier die gleichen moralischen Maßstäbe? Auch Walzer, der, wie im ersten Teil gezeigt wurde (vgl. Kap. 2.1.2), davon ausgeht, dass sehr viele verschiedene schutzbedürftige Gruppen ein Recht auf Asyl haben, stellt sich die Frage: »What happens when the numbers are not small?« (Walzer 1983, 51) und erläutert weiter: »I assume that there are in fact limits on our collective liability, but I don’t know how to specify them« 226
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(ebd.). Gibt es also derartige Grenzen der Verpflichtung zur Nichtabweisung, wenn die Zahlen der Schutzbedürftigen gewisse zahlenmäßige Grenzen überschreiten – und woran ließen sich diese Grenzen festmachen? Miller ist sich sicher, dass es diese Grenzen gibt, dass Staaten also legitimierterweise darauf verweisen können, dass sie schon ›genug‹ Flüchtlinge aufgenommen hätten und keine weiteren aufnehmen müssten. Er schreibt: »At the limit, therefore, we may face tragic cases where the human rights of refugees clash with a legitimate claim by the receiving state that its obligation to admit refugees has already been exhausted« (Miller 2007, 227). Während Walzer, vielleicht auch aufgrund der besonderen ›Tragik‹ dieser Fälle, keine Entscheidung trifft, wie diese Aufnahmegrenzen zu bestimmen sind, formuliert Miller ein relationales Argument: Im Verhältnis zu den Aufnahmekapazitäten aller anderen Staaten kann ein »fairer Beitrag« bestimmt werden, den jeder zur Bewältigung der Herausforderung von Massenfluchtbewegungen leisten muss (ebd., 226). Da bislang aber noch kein verbindliches Verteilungsregime besteht, dürfen die Mitglieder eines Staates letztlich entscheiden, ob sie meinen, diesen fairen Beitrag in der Bewältigung einer ›Flüchtlingskrise‹ bereits geleistet zu haben (ebd., 227). Höffe wiederum liefert ein ressourcenbasiertes Argument: [D]ie Ressourcen selbst eines großzügigen Gastlandes können nämlich gesprengt werden. Man stelle sich vor, die etwa 12 Millionen Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges oder die etwa 15 Millionen Flüchtlinge, die es Ende der 90er Jahre gibt, hätten alle in einen so wohlhabenden, aber kleinen Staat wie Liechtenstein einwandern wollen. Offensichtlich hätte das Land nicht nur seine Eigenart und seinen Wohlstand, sondern selbst die Möglichkeit zu überleben verloren (1999, 356, vgl. auch 360). 304
Carens wiederum führt, wie im ersten Teil dieser Studie bereits diskutiert (s. Kap. 2.2.2), eine public order restriction ein: Wenn Zuwanderung, ob nun Flucht- oder andere Wanderungsbewegungen, zu einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führen würden, dann wären in Carens’ Vertragsszenario alle schlechter gestellt als
304 Allerdings möchte Höffe mit dem Kapazitätsargument nicht zeigen, dass Staaten ein Recht hätten, Personen abzuweisen, vielmehr zeigt es für ihn, dass kein universelles Recht auf Einwanderung besteht. Für eine kritische Diskussion von Kapazitätsargumenten Kukatash (2005), auch Brezger (2016, 67 f.).
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ohne die Einschränkung von Zuwanderung. Eine Einschränkung der Zuwanderung auf ein Maß, dass das Bestehen der öffentlichen Ordnung nicht gefährdet, ist für ihn daher gerechtfertigt (Carens 1987, 259). Es ist ihm dabei wichtig zu betonen, dass diese Einschränkung nicht von fremdenfeindlichen Tendenzen abhängig gemacht werden darf (Carens 1987, 259). Singer wiederum macht die Obergrenze sogar von solchen subjektiven Einstellungen abhängig: [T]here might come a point at which tolerance in a multicultural society was breaking down because of resentment among the resident community, whose members believed that their children were unable to get jobs because of competition from hardworking new arrivals; and this loss of tolerance might reach a point at which it was a serious danger to the peace and security of all previously accepted refugees and other immigrants from different cultures (Singer 1993, 261 f.).
Wieder einmal scheinen also die egalitaristisch orientierten Theorien bezüglich konkreter politischer Handlungen ein Weniger an Zuwanderung zuzulassen. Aber dies nur in Klammern. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte um Migration sind einige Autorinnen und Autoren der Ansicht, dass in einer Welt mit Millionen von Flüchtlingen die Frage nach dem individuellen Recht auf Asyl an den praktisch drängenderen Problemen vorbeigeht. Einige sehen von den gegenwärtigen Zuwanderungsbewegungen nach Europa den Rechtsstaat (Frick 2016), den sozialen Frieden (Wendt 2016) und die öffentliche Sicherheit (Imhoff 2016) nicht nur bedroht, sondern bereits in Mitleidenschaft gezogen. Es wird daher gefragt: Darf bei massiven Zuwanderungsbewegungen die Vollkommenheit der Verpflichtung zur Nichtabweisung unterlaufen werden? Sind dann doch Ausnahmen zum »Vorteil der Neigung« erlaubt – zumal es sich bei dieser Neigung vielleicht nicht nur um die Erhaltung eines bestimmten Wohlstandsniveaus handelt, sondern um die der Rechtsordnung überhaupt. Handelt es sich bei der Pflicht zur Nichtabweisung letztlich also doch um eine unvollkommene moralische Pflicht, wie Benhabib schreibt? Es sind hier zwei Fälle klar voneinander zu trennen, die vor allem in der jüngsten Debatte oft durcheinander gebracht werden: Entstehen diese ›Bedrohungsszenarien‹ durch identifizierbare Einzelpersonen, die daran arbeiten, die Beseitigung des Rechtszustandes herbeizuführen, oder geht es um die schiere Zahl an Menschen, die 228
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in einem einzelnen Staat Schutz suchen? Den ersten Fall möchte ich hier zunächst ausklammern. Ich werde ihn im nächsten Kapitel wieder aufgreifen. Für den jetzigen Abschnitt soll es allein um Menschen gehen, deren Schutzbedürftigkeit im Sinne des ansonsten oben näher bestimmten drohenden Untergangs erwiesen ist und die – aus welchen Gründen auch immer – gleichzeitig mit vielen anderen am selben Ort um Nichtabweisung bitten. Auch wenn ich die Einschätzungen von Frick, Wendt und Imhoff entschieden zurückweisen möchte – nicht allein, aber auch wegen der zum Teil xenophoben Untertöne ihrer Aufsätze –, gemäß derer wir uns in der momentanen historischen Situation an diesem Ort bereits am Rande einer Notsituation befinden, ist doch eine Zuwanderungssituation denkbar, die den Rechtszustand in seinem Fortbestand grundlegend gefährdet. Man könnte argumentieren, dass man sich in einem solchen Fall daher auf Kants Konzeption des Notrechts berufen könnte. 305 Im »Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre« (RL, VI 233– 236) beschäftigt sich Kant mit dem sogenannten ius latum, dem Recht im weiteren Sinne, welches von dem Recht im engeren Sinne, dem ius strictum, zu unterscheiden ist. Das ius strictum ist nach Kant mit der Befugnis zu zwingen verbunden, während hinsichtlich des ius latum »die Befugnis zu zwingen durch kein Gesetz bestimmt werden kann« (VI 234). Kant unterscheidet dann zwei Arten des ius latum: die Billigkeit und das Notrecht. Als Notrecht würde gemeinhin die Befugnis, »im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens, einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen« (VI 235), bezeichnet. Als Beispiel wird die Situation zweier Schiffbrüchiger angeführt, die in gleicher Lebensgefahr schwebend sich an ein Brett klammern. Wenn nun der eine den anderen von diesem Brett herunterstoßen würde, um sich selbst zu retten (ebd.), dann sei dies ein Anwendungsfall eines so verstandenen Notrechts. In einer lebensbedrohlichen Situation kann man befugt sein, etwas eigentlich Rechtswidriges zu unternehmen, um das eigene Leben zu schützen. Dies könnte man nun übertragen und sagen, dass sich auch Staaten in einer solchen Bedrohungssituation befinden können und in dieser dann befugt wären, den anderen ›vom Brett zu stoßen‹, d. h. auch einen Menschen abzuweisen, für den dies den ›Untergang‹ bedeuten würde. 305
Ich danke Rainer Keil für das ausführliche Gespräch zu diesem Punkt.
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Hinsichtlich einer solchen Interpretation des Absatzes zum Notrecht gibt es nun einige textliche und systematische Schwierigkeiten, denen man begegnen müsste: Zunächst scheint Kant die Idee abzulehnen, dass es ein Notrecht in diesem Sinne geben kann, nämlich verstanden als eine Befugnis, etwas eigentlich Verbotenes zu tun. Er schreibt daher auch, »Dieses vermeinte Recht soll eine Befugnis sein« (ebd., Hervorhebung K. R.). Kant gibt hier zunächst einmal lediglich das weitverbreitete Verständnis des Notrechtsbegriffs wieder; es handelt sich nicht um seine eigene Position. Und so fährt er dann auch fort und erläutert, dass diese Vorstellung des Notrechts nur hinsichtlich der Sentenz, des richterlichen Urteils, eine Rolle spielen kann, nicht aber mit Hinblick auf ein objektives Gesetz: Es kann nach Kant kein Gesetz geben, dass die gewalttätige Selbsterhaltung bestraft, aber nicht etwa, weil man befugt ist, in einer solchen Situation sich so zu verhalten, sondern weil dieses Verhalten »unstrafbar (inpunibile)« sei. Es handle sich aber nur um eine subjektive Straflosigkeit, nicht um eine objektive Unsträflichkeit. So eine Handlung sei sehr wohl sträflich, aber eben nicht strafbar. Man kann die Strafrechtstheorie, auf der die Einschätzung, dass eine solche Handlung nicht strafbar sei, nun überzeugend finden oder nicht; festzuhalten bleibt: Es gibt nach Kant weder ein Notrecht im Sinne eines strikten Rechts noch im weiten Rechtsverständnis als Befugnis. Dies wäre die erste Schwierigkeit, die im Rahmen dieser Interpretation zu lösen wäre. Die zweite betrifft jenen Umstand, dass es sich beim Notrecht um die Ebene der Strafrechtslehre handelt, d. h. das Notrecht spielt auf der Ebene von Einzelpersonen eine Rolle. Für eine Anwendung der Notrechtsidee auf den Umgang mit sehr großen Fluchtbewegungen müsste eine Übertragung von der Individualebene auf die Ebene des Staates geleistet werden. Hierbei sind mehrere Schwierigkeiten zu beachten: Es müsste gezeigt werden, dass Staaten in einem analogen Sinne in ›Lebensgefahr‹ geraten können wie Menschen. Außerdem müsste damit umgegangen werden, dass nach Kant Staaten nicht bestraft werden können (RL, VI 347, § 57). Dies heißt aber auch, dass sich für sie die Frage des Notrechts, auf das in einem Strafrechtsprozess verwiesen werden kann, erst gar nicht stellt. Es steht also infrage, inwiefern ein ›Notrecht für Staaten‹ im Rahmen der kantischen Überlegungen zur Rechtslehre gedacht werden kann. An einem solchen Vorschlag wäre insbesondere der Hinweis überzeugend, dass wir in den beschriebenen Extremsituationen – Le230
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bensgefahr und Zusammenbruch des Rechtszustandes –, wenn für diese keine individuell verantwortlichen Verursacher auszumachen sind, den Bereich des strikten Rechts verlassen. Ich möchte diesem wichtigen Hinweis gleichwohl eine etwas andere Richtung geben: Wenn wir in solchen Situationen den Bereich des strikten Rechts verlassen, heißt dies auch, dass wir uns nicht mehr auf ein Recht, so und so zu handeln, berufen können. Man ist nicht berechtigt, den anderen vom Brett zu stoßen – auch wenn ein Gericht entscheiden sollte, von der Verhängung einer Strafe abzusehen, weil dieser Akt in der beschriebenen Situation die Kriterien der gewalttätigen Selbstrettung erfüllt –, denn es kann nach Kant »keine Not geben, welche was unrecht ist, gesetzmäßig macht« (VI 236). Ebenso kann kein Staat berechtigt sein, gegen die Forderungen des Weltbürgerrechts zu handeln. Es gibt keine Not, die einen Staat mit dem strikten Recht ausstatten würde, gegen das Recht zu handeln. Es gibt aber auch keine Not, nicht einmal den vollständigen Zusammenbruch des Rechtszustandes, der einen Staat mit der Befugnis ausstatten würde, gegen das Weltbürgerrecht zu handeln und Menschen, für die das den Untergang bedeuten würde, abzuweisen. Gleichwohl, sollte der von Höffe thematisierte Fall eintreten und alle Flüchtlinge der Welt würden in einem sehr kleinen Staat Rettung suchen, eventuell sogar so viele Menschen, dass schlicht kein physischer Raum mehr für ihren Aufenthalt vorhanden wäre, dann kann es natürlich geschehen, dass Menschen, die auch schutzbedürftig sind, keinen Schutz mehr von – in diesem Beispiel – Lichtenstein erhielten. In solch einer Situation könnte von Lichtenstein natürlich nicht die Aufnahme gefordert werden, denn ultra posse nemo obligatur. Dennoch: Lichtenstein hätte auch in dieser Situation kein Recht, sie abzuweisen. Das ist eine der großen Stärken der negativen Formulierung des Weltbürgerrechts: Es gibt keine Pflicht zur Aufnahme. Es gibt aber eine Pflicht zur Nichtabweisung und bei dieser Pflicht handelt es sich um eine vollkommene Rechtspflicht. Die Feinheit dieser Unterscheidung wird in ihrer ganzen Tragweite bei der Anwendung auf diese Extremfälle deutlich. Es ist in solchen Fällen natürlich viel administratives und diplomatisches Geschick erforderlich, auch politische Weitsicht ist gefragt – zumeist entstehen große Fluchtbewegungen nicht über Nacht; selbst bei sogenannten Naturkatastrophen sind die Risiken häufig schon vorher bekannt. Die Kooperation mit anderen Staaten ist Migration und Weltbürgerrecht
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sicherlich erforderlich, die Weiterreise von Personen muss organisiert und die Ursachen der Fluchtbewegung müssen angegangen werden. All dies ändert aber nichts an der grundlegenden Rechtssituation: Es gibt kein Recht, jemanden abzuweisen, einfach weil dieser one too many ist.
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13. Illegitime und legitime Abweisungsgründe
Aufgrund der in Kapitel 7 der vorliegenden Studie herausgearbeiteten antikolonialistischen Stoßrichtung des Weltbürgerrechts überrascht es nicht, dass das Recht von Gemeinwesen auf die Möglichkeit der Abweisung Ankommender einen Kernpunkt desselbigen darstellt: Das Weltbürgerrecht betrifft nicht allein die tagespolitisch aktuellere Frage nach Aufnahme von Flüchtlingen, die im letzten Kapitel im Zentrum stand, sondern auch die für Kants Zeit wohl relevantere Frage nach dem Expansionismus der Kolonialmächte – und dessen begründete Zurückweisung. Eine Frage, die dies aufwirft, lautet: Ist es möglich, anhand von Kants Überlegungen in Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre einen Ansatz zu entwickeln, der es vermag, legitime von illegitimen Ausschlussgründen zu scheiden? Oder muss man, ausgehend von Kant, Staaten und nichtstaatlichen Völkern zugestehen, Fragen der Zuwanderung jenseits von Flucht gänzlich nach ihrem Ermessen entscheiden zu dürfen? Ich werde Kleingeld folgend argumentieren, dass es möglich ist, mit Kant zwischen illegitimen und legitimen Abweisungsgründen zu unterscheiden. Anschließend werde ich mit Rückgriff auf Überlegungen von Flikschuh erläutern, dass dies nicht als eine Einschränkung der Souveränität von Staaten zu verstehen ist, sondern Staaten vielmehr – zumindest in Kants Konzeption – erst zu ihrer vollen Souveränität gelangen, wenn sie auch die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten erfüllen. Um diese zwei Teilthesen zu untermauern, werde ich im Folgenden zunächst vier in der Literatur zu Kants Weltbürgerrecht vertretene Ansätze zur Möglichkeit der Unterscheidung von legitimen und illegitimen Gründen der Abweisung Ankommender diskutieren (Kap. 13.1) und ausgehend hiervon für einen Ansatz votieren, der Elemente aller diskutierten Ansätze aufweist (13.2). Anschließend werde ich mich der Frage zuwenden, warum bei Kant die volle SouMigration und Weltbürgerrecht
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veränität eines Staates nicht durch die Unabhängigkeit von Freiheitseinschränkungen erlangt, sondern erst durch diese möglich wird (Kap. 13.3).
13.1 Vier Möglichkeiten In der Literatur zu Kants Weltbürgerrechte kann man vier Ansätze vorfinden, wie man mit Kant für eine begründete Unterscheidung berechtigter und unberechtigter Abweisungsgründe argumentieren kann. Urs Marti konzentriert sich in seiner Lesart auf das Verbot der Aneignung fremden Eigentums (2012). Niesen rückt den Inhalt des Kommunikationsaktes ins Zentrum seiner Überlegungen (2007). Robert Schnepf betont in seiner Interpretation den kantischen Feindesbegriff (Schnepf 1999) und Kleingeld stellt Nichtdiskriminierung in den Mittelpunkt ihres Arguments (1998). Ich werde diese Ansätze im Folgenden ausführlicher diskutieren, um letztlich eine Synthese vorzuschlagen, die Einzelaspekte aller vier Ansätze aufnimmt (Kap. 13.2).
13.1.1 Das Verbot der Aneignung fremden Eigentums Marti geht davon aus, dass ein Recht auf Ausschluss für Kant dann legitim ist, »wenn der Gast das Recht der Einheimischen auf Eigentum verletzt« (2012, 89). Er rekurriert auf Kants Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern. Dort mache Kant deutlich, dass der Status des Staatsbürgers an die wirtschaftliche Selbstständigkeit geknüpft ist, »mithin eine Situation, worin ein Mensch seine Existenz nicht der Willkür eines Anderen verdankt« (ebd., 95 f.). Hieraus folgt für Marti – womit er freilich über den Kant-Text hinausgeht: Wenn wirtschaftliche Unabhängigkeit eine unverzichtbare Voraussetzung der Selbstbestimmung ist, sollten allen Bürgern die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die es braucht, um die dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, ohne in die Abhängigkeit anderer Menschen zu geraten (ebd., 96).
Die Frage sei, inwiefern durch Einwanderung das Recht auf Eigentum – für Marti insbesondere das kollektive Eigentum in Form »der Leistungsfähigkeit des Systems sozialer Sicherheit« (ebd.) – infrage gestellt wird. Martis Schlussfolgerung lautet: 234
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Exklusion im Sinne des Rechts, anderen den Gebrauch eigener Güter zu verwehren, ist legitim, wenn der exklusive Gebrauch solcher Güter unverzichtbare Bedingung für Subsistenz, Sicherheit und Unabhängigkeit ist, und wenn für die Ausgeschlossenen andere Möglichkeiten bestehen, entsprechende Güter zu nutzen (ebd., 104).
Anschließend bindet er diese Schlussfolgerung wieder an das Weltbürgerrecht zurück, wenn er schreibt: »Mir scheint, eben dies hat Kant gemeint, als er sich für das Eigentum und die Freiheit der Bewohner der von europäischen Eroberern heimgesuchten Länder eingesetzt hat« (ebd.). Im Umkehrschluss hieße dies: Solange die Abweisung Ankommender nicht durch den Verlust der Bedingungen für Subsistenz, Sicherheit und Unabhängigkeit begründet werden kann, sei diese auch nicht legitim. Martis Interpretation konzentriert sich eventuell zu stark auf den Eigentumsschutz: Kant hat im Weltbürgerrecht nicht nur Staaten, in denen das Privateigentum an Grund und Boden als Institution besteht, im Blick, sondern durchaus auch Völkerschaften, in welchen »gar kein Privateigentum des Bodens statt findet« (RL, VI 324), wie wohl auch bei den Hirten- und Jagdvölkern, »deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt« (VI 353). Es handelt sich hier nicht, wie Marti annimmt, einfach um Eigentum »in einem weiten Sinn« (ebd., 91). Vielmehr ist, wie ich in Kapitel 7 herausgearbeitet habe, das Vorhandensein der Institution des Eigentums gerade keine notwendige Bedingung, um die Abweisung etwaiger Ankömmlinge zu rechtfertigen. Eine Interpretation, die die Möglichkeit der Abweisung an den Eigentumsschutz knüpft, läuft gegebenenfalls Gefahr, die antikolonialistische Stoßrichtung des kantischen Weltbürgerrechts samt der mit ihr einhergehenden Achtung vor anderen Lebensweisen – ohne Privateigentum – zu übersehen. Weiterhin scheint Marti mit seinem Fokus auf die Eigentumsfrage die Bedeutung, die Kant dem Begriff des Feindes und der Feindseligkeit in seiner Erläuterung des Weltbürgerrechts sowohl in Zum ewigen Frieden als auch der Rechtslehre zumisst, nicht hinreichend Rechnung zu tragen (Kap. 6.2). Dieser Punkt wird in der Diskussion von Schnepfs Ansatz wieder aufzugreifen sein. Festzuhalten ist aber Martis zutreffende Beobachtung, dass Souveränität und Privateigentum beide gleichermaßen häufig als Exklusionsrechte konzipiert werden und dabei Letzteres oft »zur entscheidenden Legitimationsgrundlage des ersten« (ebd., 94) diene. Migration und Weltbürgerrecht
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Aus diesem Souveränitätsverständnis wiederum werde vielfach abgeleitet: »[S]ouverän sei, wer bestimmen kann, wer dazu gehört und wer nicht, wer mitbestimmen oder einwandern darf« (ebd.). Im Weiteren wird diskutiert werden, ob nicht diese Verknüpfung von Privateigentum, Souveränität und Exklusion gerade mit Kant viel grundsätzlicher hinterfragt werden kann, als Marti dies annimmt. Wenden wir uns aber zunächst dem von Niesen vertretenen Ansatz zu.
13.1.2 Der Inhalt des Kommunikationsaktes Niesens These lautet, dass der Ausschluss anhand des Inhalts des Kommunikationsaktes erfolgen kann (Niesen 2007). 306 Den Ausgangspunkt seiner Überlegung bildet das China-Japan-Beispiel im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden (Kap. 6.1.8). Niesen weist darauf hin, dass Kants positive Einschätzung des Verhaltens von China und Japan im Widerspruch zur im Weltbürgerrecht formulierten Forderung zu stehen scheint, Fremden gegenüber nicht kategorisch ablehnend aufzutreten. Er ist der Ansicht, dass man diesen Widerspruch durch eine Unterscheidung von »›commercial‹ and ›non-commercial‹ speech« auflösen könne (ebd., 107 Fn. 17): Chinas und Japans Isolationspolitik sei für Kant deshalb gerechtfertigt, weil sie sich gegen wirtschaftliche Kommunikationsanfragen richtet und diese anderen Spielregeln unterworfen seien als beispielsweise jene von Flüchtlingen. Eine Abweisung von Flüchtlingen ist nicht berechtigt, ökonomisch orientierte Kontaktaufnahmen können aber jederzeit abgelehnt werden. Einige der möglichen Einwände, die man gegen Niesens Interpretation anführen könnte, wurden bereits in dieser Studie erörtert (Kap. 6.1.8). Ich möchte mich daher im Kontext der in diesem Unterkapitel verfolgten Fragestellung darauf konzentrieren, dass Niesen trotz der bereits erörterten Schwierigkeiten zu Recht darauf aufmerksam macht, dass die Kontaktaufnahme von Flüchtlingen einen anderen moralischen Stellenwert hat als eine, die von wirtschaftlichen Interessen geleitet ist. Allerdings scheint für diese Schlussfolgerung das China-JapanBeispiel aufgrund der bereits benannten historischen, textlichen und 306
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Vgl. zu diesem Ansatz auch Niesen (2005).
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systematischen Schwierigkeiten von Niesens Interpretation nicht der geeignete Beleg für diesen Befund zu sein. Eine genauere Untersuchung des Untergangsbegriffs in der Formulierung des Weltbürgerrechts im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden, wie sie Kleingeld vorgeschlagen hat und wie ich sie im vorangegangenen Kapitel erweitert habe, scheint für die Bestimmung der Spezifika der Situation von Flüchtlingen – auch im Vergleich zu wirtschaftlichen Kommunikationsakten – zielführender zu sein. Weiterhin können nach Niesens Interpretation zwar Flucht von anderen Formen der Zuwanderung unterschieden werden, ob aber auch bei Zuwanderung jenseits von Flucht berechtigte und unberechtigte Abweisungsgründe unterschieden werden können, bleibt offen.
13.1.3 Das Verbot von Verbrechen gegen den Staat Bei Schnepf, der sich in seiner Untersuchung auf Staatenlose konzentriert, ist der Gedanke angelegt, dass das feindliche Verhalten des Einzelnen ein mögliches Ausschlusskriterium darstellen könnte. Eine Person dürfe nur dann abgewiesen werden, wenn sie »ein Verbrechen gegen den Staat intendiert« (Schnepf 1999, 215) – unter der verschärften Bedingung, dass diese Person staatenlos ist. Dieses Ausschlusskriterium führt er mit Verweis auf das von Kant aus der Tradition übernommene ius exilii ein, welches der Landesherr im Fall von Verbrechen gegen die Majestät (crimen laesae maiestatis) oder als Begnadigungsmaßnahme innehat. 307 Schnepfs Interpretation unterschlägt jedoch, dass das ius exilii ein Recht ist, welches der Landesherr gegenüber seinen Untertanen hat – nicht jedoch gegenüber Fremden. Dies stellt einen argumentativen Sprung dar, der nur schwer zu überbrücken ist. Trotz dieser Unstimmigkeiten weist Schnepf mit seinen Überlegungen aber auf einen wichtigen Punkt hin: Jemand kann abgewiesen werden, wenn er ein Verbrechen gegen den Staat plant. Hierfür müsste jedoch ein anderer systematischer Ansatzpunkt bei Kant gewählt werden als das ius exilii, da sich dieses, wie gesagt, nur auf die bereits ansässige Bevölkerung bezieht und nicht auf Neuankommende. In Kapitel 13.2 werde ich den Gedanken Schnepfs aufgreifen, ihm 307 Vgl. hierzu RL, Allgemeine Anmerkung A (VI 318 f.), Allgemeine Anmerkung E I. (VI 334) sowie Allgemeine Anmerkung E II. (VI 337) und § 50 (VI 338).
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aber eine andere textliche Grundlage geben und ihn systematisch fundieren.
13.1.4 Keine arbiträren Merkmale Kleingeld ist schließlich – wie auch Niesen und Schnepf – der Ansicht, »that Kant is not necessarily committed to the position that any ground for rejection will do« (1998, 77), und versucht, einen Ansatz zu entwickeln, wie man ausgehend von Kants Überlegungen legitime von illegitimen Ausschlussgründen trennen könnte: »It would seem that discriminatory rules that keep groups of foreigners out by law just because they have a different skin colour disregards these foreigners’ right to present themselves and try to establish contact« (ebd.). Ihrer Ansicht nach könne man legitime von illegitimen Gründen auf der Grundlage unterscheiden, »whether [they] are related to the actions and proposals of the foreigner rather than being based on an arbitrary, irrelevant characteristic« (ebd.). 308 Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man Kleingelds Unterscheidung verstehen kann: Eine legt den Schwerpunkt auf den zweiten Teilsatz – »based on an arbitrary and irrelevant characteristic« –, die andere auf den ersten »whether its criteria are related to the actions and proposals of the foreigner«. Nach der ersten Möglichkeit ist eine Einwanderungspolitik, die aufgrund von zufälligen Charakteristika von Personen entscheidet, wer aufgenommen wird und wer nicht, problematisch, da jeder Voroder Nachteil, der jemandem wegen zufälliger Charakteristika zukommt, von einem Gerechtigkeitsstandpunkt aus ungerechtfertigt ist. Nach der zweiten Möglichkeit würde man die Betonung auf »actions and proposals« legen, denn, wenn das Weltbürgerrecht im Sinne von Kants Rechtsbegriff Recht sein soll, dann muss es sich »auf das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere« beziehen (RL, VI 230): Das Weltbürgerrecht betrifft das äußere Verhältnis von natürlichen oder »moralischen« Personen, Staaten und ebenso das äußere Verhältnis von Personen und Personen, nicht308 Dieser Vorschlag mag selbstverständlich klingen, aber auch in der philosophischen Debatte wird diese Unterscheidung implizit infrage gestellt, etwa wenn Wendt nahelegt, dass ein Zusammenhang zwischen Herkunft und Bereitschaft zu Verbrechen, insbesondere zu Vergewaltigung und sexueller Nötigung, besteht (2016, 52–54).
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staatlichen Personengruppen und einzelnen Menschen zueinander. Das heißt auch, dass nicht das »Innere Mein und Dein«, also die angeborenen Eigenschaften einer Person, für die Aufnahme oder die Nichtaufnahme entscheidend sein sollten, sondern deren Handlungen und Ansinnen. Während der erste Ansatz eher dem Tenor einer von Rawls geprägten politischen Philosophie entspricht und über Kants Überlegungen hinauszugehen scheint, ist der zweite wesentlich näher an Kants eigenen Überlegungen. Aus Kleingelds Aufsatz geht nicht hervor, wie sie ihren Ansatz verstanden wissen möchte; ob eher entsprechend der ersten oder der zweiten Möglichkeit. Vermutlich sind sie komplementär zu verstehen. Der erste Teilsatz formuliert, welche Kriterien der Staat nicht anlegen darf, und benennt damit die illegitimen Ausschlussgründe. Der zweite Teilsatz formuliert dann, worauf sich legitime Abweisungsgründe beziehen dürften. Jedoch nennt Kleingeld kein Kriterium, was Handlungen und Ansinnen zu problematischen Handlungen und Ansinnen macht, die zu einer Abweisung berechtigen. Es bleibt also weiterhin offen, ob ein Staat oder ein anderes Gemeinwesen gänzlich nach eigenen Ermessen abweisen kann, solange sich die Gründe auf die Handlungen und Ansinnen der betreffenden Personen beziehen.
13.2 Feindseligkeit als legitimes Abweisungskriterium Was Kleingelds Ansatz fehlt, ist ein Anhaltspunkt dafür, welche Art von Handlungen und Vorschlägen als problematisch zu gelten haben und einen Ausschluss rechtfertigen würden. Hier können wir auf Niesens und Schnepfs Überlegungen zurückgreifen. Mithilfe von Kleingelds Ansätzen kann dem bei Schnepf angedeuteten Kriterium der Feindseligkeit ein systematisches Fundament gegeben werden, das ohne Verweis auf das problematische ius exilii auskommt: Die Ausschlussgründe dürften sich lediglich auf die beabsichtigten äußeren Handlungen der betreffenden Personen beziehen und nicht auf ihre angeborenen Eigenschaften oder ihre ebenfalls inneren Überzeugungen und Haltungen wie religiöse Ansichten oder auch körperliche Merkmale wie die Hautfarbe. Eine Handlung bzw. Handlungsabsicht, die in jedem Fall einen legitimen Ausschlussgrund bilden würde, ist demzufolge, wenn die betreffende Person den Untergang des Staates vorantreiben möchte. Migration und Weltbürgerrecht
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Das Verbot feindseliger Handlungen ist aber bereits in den Ausführungen zum Weltbürgerrecht enthalten. Man muss nicht, wie Schnepf es tut, (zusätzlich) auf das ius exilii verweisen, um zu diesem Verbot und der Möglichkeit der Abweisung zu gelangen. Wie ich bereits in Kapitel 6.2 darlegen konnte, verweist der Begriff des Feindes im Kontext des Weltbürgerrechts auf den Gegensatz zum Rechtszustand: Der Feind ist derjenige, der dem Rechtszustand entgegensteht. Es scheint hierfür meines Erachtens zwei klare Anwendungsfälle zu geben, die auch für die heutige Zeit relevant sind und das Gemeinte verdeutlichen können: internationaler Terrorismus und von außen herbeigeführte Umstürze. Auf die Möglichkeit, dass das Weltbürgerrecht Kants auch auf internationalen Terrorismus angewandt werden kann, hat bereits Kleingeld hingewiesen. 309 Auch die gewaltvolle Einmischung in die Regierungsweise eines Staates durch Kräfte von außen scheint – auch wenn der Verweis auf äußere Einmischung oft missbräuchlich verwendet wird, um Usurpationen zu delegitimisieren – dem Prinzip nach einen zweiten Anwendungsfall darzustellen, wobei die Grenzen hier fließend sein können und ein Urteil im Einzelfall schwer zu treffen sein mag. 310
309 »Kant’s notion of ›cosmopolitan right‹ as a category of public right has turned out to provide a way to capture theoretically the fact that peace requires the legal regulation not only of the interactions between states, but also of the interactions between states and foreign individuals or groups – from refugees to international terrorists« (Kleingeld 2006, xiv). Und weiter: »the recent international terrorist attacks by groups who are not acting as representatives of their own states but who direct their attacks against other states and their citizens painfully underscore the truth of Kant’s claim that world peace, that is, the security of the external freedom of all persons, requires more than peace among states« (ebd., xiv f.). Kleingeld hatte beim Verfassen dieses Textes vermutlich die Anschläge vom 11. September 2001 in New York sowie die Madrider Zuganschläge 2004 und die Terroranschläge in London 2005 vor Augen. Die jüngsten Entwicklungen hinsichtlich des internationalen Terrorismus, vor allem auch in Form des sogenannten Islamischen Staates, führen die Verbindung von internationalem Terrorismus und internationaler Freizügigkeit auf eine andere Ebene: Wir haben es hier nicht nur mit einer momentan viel diskutierten möglichen Einwanderung von Terroristen nach Europa zu tun, sondern auch mit einer Migrationsbewegung von Kämpfern aus Europa nach Syrien und in den Irak, um dort den IS zu unterstützen. 310 Vgl. hierzu auch den fünften Präliminarartikel in Zum ewigen Frieden: »Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staates gewalttätig einmischen« (VIII 346). Im Unterschied zu Kants Punkt in den Präliminarartikeln ist hier nicht nur die Einmischung durch fremde Staaten gemeint, sondern auch die Ein-
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Das Verhältnis von Exklusionsrecht und Souveränität
Mit Niesen lässt sich darüber hinaus ergänzen, dass auch Wirtschaftsinteressen, die eine koloniale Unterwerfung bezwecken oder ihr gleichkämen, einen legitimen Ausschlussgrund liefern. Der Verweis auf die antikolonialistische Stoßrichtung des Weltbürgerrechts wäre hier aber bereits ausreichend (Kap. 7).
13.3 Das Verhältnis von Exklusionsrecht und Souveränität Warum sollten wir nun diese Bestimmung legitimer und illegitimer Gründe, die ja eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten eines Staates darstellen, als Teilaspekt der Souveränität von Staaten verstehen, wie ich es in den einleitenden Absätzen zu diesem Kapitel bereits angesprochen habe? Marti hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der gegenwärtigen Debatte das Verständnis vorherrscht, »souverän sei, wer bestimmen kann, wer dazu gehört und wer nicht, wer mitbestimmen oder einwandern darf« (Marti 2012, 94). Diese Position wurde bereits mit Miller illustriert, der die Ansicht vertritt, dass politische Selbstbestimmung vor allem dadurch definiert ist, dass eine politische Gemeinschaft selbst über ihre zukünftige Form (shape) bestimmen darf. Er argumentiert ferner, dass diese Selbstbestimmung eng mit Fragen der Mitgliedschaft verbunden sei (Miller 2007, 223). Interessanterweise ist er dennoch der Ansicht, dass Einwanderungsregularien, die ethnisch oder kulturell diskriminieren, nicht legitim seien und lehnt daher auch, anders als Walzer, die White Australia Policy ab (ebd., 228). Allerdings erlaubt Miller hier ein argumentatives Schlupfloch, denn er schreibt, dass unter besonderen Umständen die Herkunftskultur doch relevant sein dürfe, nämlich »when immigration is liable to have a significant impact, for better or worse on the national identity of the receiving community« (ebd., 229). Wie verhält sich also das Recht auf Abweisung zur Souveränität eines Staates? Bei Kant scheint sich das Verhältnis von weitgehend uneingeschränkter Festlegung möglicher Ausschlussgründe und Souveränität anders zu gestalten als bei Miller. Flikschuh hat das Verhältnis von Souveränität und Handlungseinschränkung präzise freigelegt. Sie bezieht sich in ihrem Aufsatz »Kant’s Sovereignty Dilemma: A mischung von Personen, die in Kleingelds Worten nicht als Repräsentanten ihres jeweiligen Staates auftreten. Migration und Weltbürgerrecht
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Contemporary Analysis« (2010) zwar nicht explizit auf Einwanderungsregularien, ihre Ergebnisse lassen sich aber auf diesen Fall anwenden. Den Ausgangspunkt für Flikschuhs Überlegungen stellt die Diagnose dar, dass in der gegenwärtigen Debatte die Ansicht vorherrsche, »that we can have either state sovereignty or cosmopolitanism, but not both« (2010, 469). 311 Bei Kant verhalte sich dies aber anders: For Kant, by contrast, what he calls cosmopolitan Right is feasibly conceivable only through the morality of sovereign states. Kant’s position has an ›if … then‹ not an ›either … or‹ propositional structure: not ›either cosmopolitan justice, or state sovereignty‹, but ›if cosmopolitan Right, then the morality of sovereign states‹ (ebd., 469 f.)
Warum stellt das Weltbürgerrecht für Kant nicht eine Einschränkung staatlicher Souveränität, sondern sogar eine Bedingung derselben dar? Hierfür sind nach Flikschuh zwei Punkte entscheidend. Erstens sei für Kant Souveränität »inherently juridical: to invoke the principle of state sovereignty is to invoke the idea of states’ morally grounded juridical authority« (ebd., 473). Auf die Souveränität eines Staates zu verweisen, heißt bei Kant, auf einen rechtsmoralischen Begriff zu verweisen. Wir befinden uns damit bereits in einer rechtsmoralischen Diskussion. Rechtsmoral und Souveränität bilden bei Kant keine begrifflichen Gegensätze. Zweitens ist Kants Rechtskonzeption inhärent global. Dies aber nicht in dem gegenwärtig dominanten Verständnis, dass innerstaatliche Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien auf die globale Ebene übertragen werden sollten, wie es etwa in von Kant inspirierte Theorien der globalen Gerechtigkeit 312 geschieht: »Cosmopolitan Right is not domestic Right writ large« (ebd., 476). Vielmehr vertrete Kant die These, »that it lies in the very concept of Right that this should be so« (ebd., 474). Kants Rechtskonzeption erfordert neben Staats- und Völkerrecht eben auch eine dritte globale Ebene, das Weltbürgerrecht, da »wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen muß« (RL, § 43, VI 311).
Eine wichtige Ausnahme bildet hier Höffe (1999). Vgl. hierzu die bereits erwähnten Ansätze von Beitz (1979) und Pogge (1989); auch Moellendorf (2002). 311 312
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Das Verhältnis von Exklusionsrecht und Souveränität
Aus der Kugelgestalt der Erde ergibt sich, so Flikschuh, dass sich die auf ihr befindlichen räumlich ausgedehnten Personen in einer permanenten Situation der möglichen physischen Wechselwirkung miteinander befinden. Hieraus resultiert wiederum die Notwendigkeit der Verrechtlichung ihrer Beziehungen – und das global. »The claim is not«, so Flikschuh weiter, »that the same concept of Right must be re-applied to three discrete levels of rights relations consecutively; the claim is that the one concept entails all three forms of public Right simultaneously« (2010, 487). Die Sicherung selbst der innerstaatlichen Rechtsverhältnisse verlangt daher die Institutionen des Völkerund Weltbürgerrechts (ebd., 488). Nur durch diese findet das Gebäude von Kants Rechtskonzeption seinen Abschluss und damit auch erst seine dauerhafte Tragfähigkeit. Wie ist nun diese globale Dimension der kantischen Rechtskonzeption mit der (rechts-)moralischen Dimension der Souveränität verknüpft? Flikschuhs Antwort lautet: On Kant’s systematic view […], a state’s morally justified claim, on grounds of domestic Right, to coercive immunity is treated as indicative of its acknowledgement of its international obligations of Right. States cannot both appeal to their moral status on grounds of their domestic function and fail to acknowledge the international obligations they incur in virtue of their claimed moral status (ebd.).
Wenn Staaten sich nach Kant also auf den Begriff der Souveränität berufen, dann berufen sie sich auf einen rechtsmoralisch fundierten Begriff. Wenn ein Staat ›Souveränität‹ für sich beansprucht, dann kann er dies nur im Rahmen der Rechtskonzeption, da diese konstitutiv ist für das juridische Konzept der Souveränität. Dieser Begriff hat aber nicht nur Implikationen hinsichtlich der Pflichten eines Staates nach innen, sondern auch hinsichtlich jener nach außen. Erst im und durch das Wahrnehmen ihrer Verpflichtungen nach innen wie nach außen, so Kants Position, erweisen sich Staaten als souverän. Ihre Souveränität besteht also nicht in der Unabhängigkeit von jedweden Handlungseinschränkungen, sondern gerade in der Anerkennung ihrer Verpflichtungen – sei es nun mit Hinblick auf ihre Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen, wie im letzten Kapitel dargestellt wurde, oder hinsichtlich der Beachtung der Unterscheidung von legitimen und illegitimen Ausschlussgründen bei den Einwanderungsregularien. 313 313
Die Souveränität von Staaten stellt damit in gewisser Hinsicht das Analogon zur
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Die kantische Konzeption kann nach der hier vorgelegten Interpretation also erstens ein stimmiges und plausibles Kriterium zur Unterscheidung von berechtigten und unberechtigten Abweisungsgründen liefern. Darüber hinaus verknüpft sie, zweitens, den Gedanken der Souveränität mit der Verantwortung, die Staaten haben, und damit insbesondere auch mit ihren Pflichten mit Hinblick auf Ausschlusskriterien. Damit steht auch Kants Souveränitätskonzeption ›quer‹ zur gegenwärtigen Debatte, in der, wie Marti treffend bemerkt hat, ein Souveränitätsverständnis dominiert, nach dem »souverän sei, wer bestimmen kann, wer dazu gehört und wer nicht, wer mitbestimmen oder einwandern darf (Marti 2012, 94).
Autonomie von Personen dar: Moralgesetz und Freiheit verweisen wechselseitig aufeinander. Freiheit als Selbstgesetzgebung, d. h. Autonomie, setzt den Begriff des Gesetzes bereits voraus. Das Moralgesetz ist nicht als Freiheitseinschränkung zu betrachten, sondern erst im Handeln aus Achtung vor dem Moralgesetz erweist man sich als frei. Hinsichtlich der weiterführenden Frage, warum Personen einer äußeren zwangsbefugten Gesetzgebung unterworfen werden dürfen, sogar verpflichtet sind, sich dieser zu unterwerfen, während dies bei Staaten nicht der Fall ist, s. Flikschuh (2010, 480).
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14. »Der natürliche Mensch ist gleichsam vogelfrei«: Kants Weltbürgerrecht und Staatenlosigkeit
Eine weitere Frage, die in der Literatur in Bezug auf Kants Weltbürgerrecht diskutiert wird, lautet: Inwiefern kann man ausgehend von Kants Überlegungen eine angemessene Antwort auf das Problem der Staatenlosigkeit finden (Schnepf 1999; Benhabib 2004; Niesen 2007, 98)? 314 Zur Beantwortung dieser Frage gilt es zunächst, den Begriff der Staatenlosigkeit zu klären (Kap. 14.1). Danach wird mit Rückgriff auf Hannah Arendts Untersuchungen zu diesem Thema in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft dargestellt, welche rechtsphilosophische Frage durch Staatenlosigkeit aufgeworfen wird (Kap. 14.2). Anschließend werde ich mich wieder Kant zuwenden und untersuchen, ob sich mit Kant eine Antwort auf diese rechtsphilosophische Frage formulieren lässt. Benhabib ist dabei der Ansicht, Kants Weltbürgerrecht müsse um ein Arendt’sches ›Recht auf Rechte‹ ergänzt werden. Dies betrifft Benhabibs eingangs zitiertes viertes Merkmal einer Theorie »gerechter Mitgliedschaft« (Kap. 14.3). Bei einer Behandlung des Themas der Staatenlosigkeit sind aus kantischer Perspektive insbesondere zwei Schwierigkeiten zu beachten: das Anachronismus- und das Institutionalisierungsproblem. Für diese zwei Probleme werde ich Lösungsmöglichkeiten entwickeln (Kap. 14.3.1 u. 14.3.2). Eine ›Restschwierigkeit‹ bleibt dabei jedoch bestehen (Kap. 14.4), die auf das folgende Kapitel verschoben werden muss (Kap. 15).
314 Für Kersting betrifft das Weltbürgerrecht immer auch schon Personen, die keinem Staat angehören (1996, 177). S. hierzu auch Hackel (2000, 93). Einige Überlegungen zum Themengebiet Weltbürgerrecht und Staatenlosigkeit habe ich bereits in Reinhardt (2018a) vorgestellt.
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»Der natürliche Mensch ist gleichsam vogelfrei«
14.1 Was ist Staatenlosigkeit? Nach dem »Übereinkommen über die Rechtstellung von Staatenlosen« von 1954 ist eine Person dann de jure staatenlos, wenn kein Staat diese Person nach seinem geltenden Recht als Staatsangehörigen betrachtet. Dieser Zustand wird von der De-facto-Staatenlosigkeit unterschieden, die eine Situation bezeichnet, in welcher eine Person zwar nicht in Bezug auf geltendes Recht staatenlos ist, aber keine tatsächliche Staatsangehörigkeit innehat, d. h. nicht den tatsächlichen Schutz eines Staates genießt. Sowohl De-jure- als auch De-factoStaatenlosigkeit sind nicht zwangsläufig mit Verfolgung verbunden. Somit werden auch nicht alle Personen, die staatenlos sind, als Flüchtlinge anerkannt. Manchmal geht Staatenlosigkeit nicht einmal mit Migrationsbewegungen einher. Dies kommt etwa im Zuge von Staatennachfolge vor, wenn ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz einen Teil der auf dem Territorium des neugebildeten Staates befindlichen Bevölkerung nicht als Staatsbürger anerkennt. 315 Dass Staatenlosigkeit nicht immer mit Verfolgung und Flucht verbunden ist, ändert jedoch nichts daran, dass es sich um einen äußerst prekären rechtlichen Zustand handelt. Außerdem sind viele Staatenlose zugleich Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingskonvention (1951). 316 Die Ursachen von Staatenlosigkeit sind vielfältig. Neben dem Entzug der Staatsangehörigkeit, der Ausbürgerung, kann eine Person etwa im Zuge von nichteingetragenen Geburten, Ehegesetzen, widersprüchlichen Gesetzen, administrativen Gepflogenheiten, Diskriminierung, Gebietsabtretungen und Staatennachfolge staatenlos werden. Neben den juristischen und administrativen Fragen, mit denen Staatenlosigkeit verbunden ist, verweist sie aber auch auf genuin philosophische Probleme.
Zu den Ursachen von Staatenlosigkeit s. auch Hobe/Kimminich (72000, 90–97). Dort auch weitere völkerrechtliche Literatur zum Themengebiet Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit. 316 S. ebd. (72000, 93). 315
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Auf welche philosophische Frage verweist Staatenlosigkeit?
14.2 Auf welche philosophische Frage verweist Staatenlosigkeit? Die rechtsphilosophische Frage, die sich aus dem Problem der Staatenlosigkeit ergibt, hat Schnepf wie folgt formuliert: ob bzw. inwieweit der Einzelne ein Recht auf Aufnahme in die Gemeinschaft des Staates hat und der Staat eine entsprechende Pflicht, ihn aufzunehmen – oder ob bzw. inwieweit der Staat völlig selbstständig über Aufnahme oder Abweisung eines Staatenlosen entscheiden kann, ohne daß dem Staatenlosen irgendein Anspruch zukommt (1999, 203).
Staatenlosigkeit stellt damit einen besonders dringlichen Fall der Frage dar, inwiefern bzw. unter welchen Umständen eine Person das Recht hat, von einem anderen Staat aufgenommen zu werden, und unter welchen Umständen ein Staat eine Person abweisen darf? Der Fall der Staatenlosigkeit ist daher besonders dringlich, da es keinen Heimatstaat gibt, an den die Schutzverpflichtung zurückverwiesen werden könnte. Hannah Arendt ist eine der Ersten, die das Problem der Staatenlosigkeit aus einer philosophischen Perspektive reflektiert hat. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschreibt sie das Problem wie folgt: Nun stellte sich plötzlich heraus, daß in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dies Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen (1955, 605).
In dieser Situation zeigte sich also, dass sich die Schutzfunktion der Menschenrechte nur über die Staatsbürgerrechte einlösen ließ: Mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft ist in Arendts Augen faktisch auch der Verlust jedes Menschenrechtsschutzes verbunden. Es könnte sogar der Eindruck entstehen, dass Staatenlose überhaupt keiner Rechtsgemeinschaft angehören; dass sie jenseits jedes Rechtszustandes leben. In Arendts Worten: »Sie waren damit in das zurückgefallen, was die politische Theorie den ›Naturzustand‹ nennt« (ebd., 620). Arendt schlägt daher vor, dass die Staatsbürger- und die Menschenrechte um ein »Recht auf Rechte« ergänzt werden müssten: um das Recht, Mitglied einer Rechtsgemeinschaft zu sein, denn nur qua Zu-
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gehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft könnten auch die Menschenrechte geschützt werden. 317
14.3 Zwei Schwierigkeiten Benhabib greift Arendts Gedanken des Rechts auf Rechte in ihrer Interpretation und Diskussion Kants in The Rights of Others auf und vertritt die These, dass Kants Weltbürgerrecht ebenfalls einer Ergänzung um ein solches ›Recht auf Rechte‹ bedarf. 318 Auf dieser Überlegung basiert auch Benhabibs in der Einleitung zu diesem Teil zitiertes viertes Merkmal eines Konzepts der gerechten Mitgliedschaft: »the vindication of the right of every human being ›to have rights‹, that is, to be a legal person, entitled to certain inalienable rights, regardless of the status of their political membership« (2004, 3). 319 Es stellt sich nun die Frage: Ist es möglich, ausgehend von Kants Überlegungen zum Weltbürgerrecht in Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre mit dem Problem der Staatenlosigkeit angemessen umzugehen? Oder ist für diese Zwecke eine Unterfütterung des Weltbürgerrechts mit einem Arendt’schen ›Recht auf Rechte‹, wie es Benhabib in The Rights of Others (2004) vorschlägt, notwendig? Eine in der Literatur des Öfteren vorgebrachte Einschätzung hinsichtlich der Frage, ob Kant eine angemessene Antwort auf die rechtsmoralische Herausforderung der Staatenlosigkeit geben könnte, fällt negativ aus. Hierfür werden vor allem zwei Gründe ange317 Vgl. zu Arendts Überlegungen auch ihren maßgeblichen Aufsatz »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht« (1949). Zu Arendts Konzeption des ›Rechts auf Rechte‹ s. auch Gosepath (2007), Menke (2008), Klemme (2013, 160–165). Für eine Rekonstruktion von »Hannah Arendts Geschichte der Staatenlosen und Flüchtlinge« im Verhältnis zu Kants drei Sphären des öffentlichen Rechts s. Schulze Wessel (2013). Für Benhabibs frühere Überlegungen zu Arendts ›Recht auf Rechte‹ s. Benhabib (2001). 318 Klemme ist der Ansicht, dass ein ›Recht auf Rechte‹ an zwei Stellen bei Kant bereits seinen systematischen Ort hat: im Recht der Menschheit in der eigenen Person und im angeborenen Freiheitsrecht (2013, 171). So verstanden, wäre die Flankierung des Weltbürgerrechts durch ein ›Recht auf Rechte‹ schon von Kant selbst geleistet. 319 Höffe versteht »das Recht, Rechte zu haben«, auf eine interessante Weise anders als Benhabib. Für ihn ist es »das Recht, nicht nur Welt-Bürgerrechte, sondern auch nationale Bürgerrechte zu haben« (1999, 355). Bei ihm werden also nicht die Staatsbürgerrechte um Weltbürgerrechte, sondern die Weltbürgerrechte um Staatsbürgerrechte ergänzt: Zunächst sind Menschen gewissermaßen ›bloße‹ Weltbürger, durch den Staat erhalten sie dann auch zwangsbewehrte Staatsbürgerrechte.
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führt. Niesen ist etwa der Ansicht, dass es schlichtweg anachronistisch wäre, von Kant eine solche Antwort zu erwarten (Niesen 2007, 98): Wenn es das Phänomen zu Kants Zeiten der Sache oder dem Ausmaß nach noch nicht gab, könne man sich auch keine Antworten auf die Fragen erwarten, die durch das Phänomen aufgeworfen werden. Da dies beim Phänomen der Staatenlosigkeit der Fall sei, wäre es ebenso anachronistisch anzunehmen, man könne Kants Weltbürgerrecht auf die sich hieraus ergebenden Anforderungen »zurechtschneiden« (ebd.). Benhabib wiederum formuliert einen grundsätzlicheren Einwand, der von den historischen Gegebenheiten absieht. Sie ist der Überzeugung, dass das Weltbürgerrecht an dem Problem scheitert, dass ihm die Institutionen fehlen, um gegen eine Verletzung desselben vorzugehen: »In this sense the obligations to show hospitality cannot be enforced; it remains a voluntarily incurred obligation of the political sovereign« (2004, 29). Wenn die Menschenrechte einer Person, wie Arendt gezeigt habe, ihr nur qua ihrer Staatsbürgerschaft faktisch zukommen, dann könne auch das Weltbürgerrecht einer Person nur qua ihrer Staatsbürgerschaft zukommen. Eine Person ohne Staatsbürgerschaft habe daher auch kein Weltbürgerrecht. Ich möchte im Anschluss die Schlagkraft dieser Einwände anzweifeln.
14.3.1 Anachronismusproblem Zunächst muss man freilich festhalten, dass sich Kant tatsächlich nicht mit dem Thema der Staatenlosigkeit im heutigen Sinn beschäftigt. Dies hat historische Gründe. Eine Vorannahme, die Staatenlosigkeit überhaupt erst denkbar machte, ist die, dass die Staatsbürgerschaft von der Staatsangehörigkeit flankiert wird: Das Konzept der Staatsbürgerschaft war seit der griechischen Polis bekannt; die Vorstellung der Staatsangehörigkeit begann sich allerdings erst nach der Französischen Revolution langsam auszubreiten. Der Schutz des Staates erstreckt sich nach dieser Vorstellung über die Grenzen des Staatsterritoriums hinweg, während sich das Konzept der Staatsbürgerschaft nur auf das Gebiet der Polis beschränkte. Die Staatsangehörigkeit stellt eine über die Staatsgrenzen hinausgehende Verbindung zwischen dem Bürger und seinem politischen Gemeinwesen her. Auch ist es für die Frage der Staatsangehörigkeit aus völkerrechtlicher Perspektive irrelevant, ob einer Person in jenem Staat, dessen Migration und Weltbürgerrecht
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Staatsangehörige sie ist, staatsbürgerschaftliche Rechte zukommen (Stiller 2011, 27) oder nicht. Eine Person kann demnach Staatsangehörige sein, ohne staatsbürgerschaftliche Rechte zu haben. Dies zeigt, dass es sich um zwei verschiedene Konzepte handelt. 320 Es ist daher tatsächlich fraglich, inwiefern für die Zeit vor und kurz nach der Französischen Revolution sinnvoll von Staatenlosigkeit gesprochen werden kann, da das ihr entsprechende Gegenstück der Staatsangehörigkeit noch nicht vorhanden war. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 kannte das Konzept der Staatsangehörigkeit im oben umrissenen modernen Sinn jedenfalls nicht. 321 Und auch wenn es Fälle gegeben hat, die vermutlich unter diese Kategorie gefasst werden müssten, unterscheidet sich das Ausmaß, welches Staatenlosigkeit im 20. Jahrhundert annahm, stark von den Bedingungen im ausgehenden 18. Jahrhundert. 322 Niesen hat daher Recht, wenn er schreibt: [I]t would be anachronistic to take Kant to anticipate the great crisis of stateless persons in the twentieth century« (2007, 98). Es wäre in der Tat anachronistisch, davon auszugehen, dass Kant das Ausmaß des Problems der Staatenlosigkeit im 20. Jahrhunderts hätte vorhersehen können. Jedoch heißt dies nicht, dass wir von einer Rechtslehre, zumal ihren »metaphysischen Anfangsgründen«, nicht erwarten dürften, dass sie fern von historischen Kontingenzen Antworten auf drängende Fragen die Systematik des Rechts betreffend liefern kann. Sollte sie sich doch als in dieser Weise zeitgebunden erweisen, dann könnte dies gegebenenfalls ein Problem für ihre gesamte argumentative Struktur darstellen, würde aber nicht beweisen, dass es anachronistisch ist, die betreffende Frage überhaupt an sie heranzutragen. Weiterhin könnte es sein, dass, auch wenn der juristische Tatbestand der Staatenlosigkeit nicht gegeben war, es ›funktionale Äquivalente‹ gegeben hat – also Phänomene, die in einem hinreichenden Maße dem zu untersuchenden Phänomen gleichen und die Kant vor ähnliche Schwierigkeiten gestellt hätten, wie das Phänomen der Staatenlosigkeit. Schließlich muss man festhalten, dass das zahlenmäßige 320 Vgl. zum Unterschied von Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit auch Gosewinkel (2001, 12). 321 Vgl. hierzu etwa Gosewinkel (2001, 68 f.). 322 Vgl. hierzu auch die Einschätzung von Arendt: »Vor dem Ersten Weltkrieg war Staatenlosigkeit nicht mehr als ein Kuriosum, ein nur den Juristen interessierendes, unerhebliches Nebenprodukt der großen Wanderungen der europäischen Völker nach der Neuen Welt« (1955, 580).
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Ausmaß irrelevant ist: Für Kant müsste ein einziger Fall – sogar eigentlich nur die prinzipielle Möglichkeit eines solchen – ausreichen, um in diesem Kontext beachtet werden zu müssen. Im Folgenden möchte ich auf diese Punkte näher eingehen. Es gibt in Kants Werk einige Passagen, die darauf hindeuten, dass sich Kant durchaus bewusst war, welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, wenn eine Person keine Staatsbürgerschaft hat. Lassen wir also für einen Moment die Frage beiseite, ob es historisch betrachtet sinnvoll ist, den heutigen Begriff der Staatenlosigkeit in Kants Zeit hineinzutragen, und schauen uns diese Passagen an. In der Anthropologie spricht Kant beispielsweise von der »Notwendigkeit ein Glied irgendeiner bürgerlichen Gesellschaft zu sein« (VII 330). In den Reflexionen heißt es weiterhin: »Jeder wird als möglicher Staatsbürger geboren« (R, XV 544, 7853) – jedoch nicht als wirklicher. Dort finden wir auch die Aussage: »Der Natürliche Mensch ist gleichsam vogelfrei« (R, XIX 483, 7666). Darin, dass Kain wegen Mordes an seinem Bruder »schutzverlustig erklärt, d. i. vogelfrei [wurde]«, sieht Kant ebenfalls ein »Sinnbild der Nothwendigkeit des bürgerlichen Zustandes« (R, XIX 483, 7668). Der Mensch, der für vogelfrei erklärt wird, befindet sich nach Kant gleichsam im Naturzustand, und der Mensch im Naturzustand ist gleichsam vogelfrei: Er ist zwar nicht an die Verpflichtungen gebunden, die ihm die Mitgliedschaft in einem Rechtszustand auferlegen würde, genießt aber auch nicht die Sicherheit, die dieser Zustand bietet. Auch in der Rechtslehre gibt es eine Passage, die in diesem Zusammenhang interessant ist: Der Landesherr hat nach Kant das Recht der Landesverweisung inne, »welches, weil der Landesherr ihm [dem Untertan] nun allen Schutz entzieht, so viel bedeutet als ihn innerhalb seinen Grenzen vogelfrei zu machen« (RL, § 50, VI 338). 323 Die Vogelfreiheit beschreibt für Kant also einen Zustand der Schutzlosigkeit, der sowohl im Inneren einer Gemeinschaft bestehen kann als auch außerhalb einer solchen – auch im übertragenen Sinne: Kain wurde wegen Mordes an seinem Bruder durch seine Rechtsgenossen für »schutzverlustig«, d. h. für vogelfrei, erklärt. Er ist zuAuch Niesen sieht die Passage zum ius exilii in der Rechtslehre als Beleg dafür, dass Kant davon ausgeht, dass es Staatenlose gibt (2007, 98). Schnepf dagegen ist der Ansicht, dass sich in Kants Rechtslehre »kein Hinweis auf das Problem der Staatenlosigkeit« finde (1999, 214).
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nächst Mitglied einer Rechtsgemeinschaft, da er jedoch durch den Brudermord gegen ihre fundamentalen Prinzipien verstoßen hat, wird er aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Für ihn und im Umgang mit ihm gelten nicht mehr jene Verpflichtungen und Regeln, die für die Mitglieder der Gemeinschaft untereinander gelten. Aber auch der »Natürliche Mensch«, der Mensch im Naturzustand, »ist gleichsam vogelfrei«. Auch er genießt nicht den Schutz, den es bedeutet, Mitglied einer Rechtsgemeinschaft zu sein. Man kann Kants Rede von der Vogelfreiheit daher durchaus als äquivalent zum modernen Konzept der Staatenlosigkeit auffassen. Es zeigt sich also, dass man auch mit Hinblick auf Kants Rechtslehre die Frage nach dem rechtsmoralisch angemessenen Umgang mit dem Problem der Staatenlosigkeit nicht einfach als anachronistisch abtun kann.
14.3.2 Institutionalisierungsproblem Benhabib sieht die größere Schwierigkeit des Weltbürgerrechts im Umgang mit dem Phänomen der Staatenlosigkeit nicht in der Frage, ob sich dieses überhaupt auf das ›moderne‹ Problem der Staatenlosigkeit anwenden ließe, sondern vielmehr in jener, wie sich der im Weltbürgerrecht angelegte Schutz von Schutzbedürftigen einfordern lässt, wenn diese nicht Mitglied eines Staates sind – sei es nun, weil sie de jure oder weil sie de facto staatenlos sind. Für Benhabib steht das Weltbürgerrecht vor den gleichen Institutionalisierungsproblemen, die Arendt auch für die Menschenrechte konstatiert: Ohne ein ›Recht auf Rechte‹ sind Menschen nicht einmal Teil jener Rechtsgemeinschaft, die ihnen die Wahrung der Menschenrechte garantieren würde. Die Umsetzung der Menschenrechte liegt in den Händen der Staaten. Das Dilemma der Menschenrechte sei daher: Wer keine Staatsbürgerschaft hat, genießt nicht den Schutz jener Institution, gegen den ihn die Menschenrechte schützen sollen und die allein die Wahrung der Menschenrechte gewährleisten kann. Weltbürgerrecht und das ›Recht auf Rechte‹ Für Benhabib ist – anders als für Niesen – die Verbindung zwischen Kants Weltbürgerrecht und den Passagen Arendts zu den Menschenrechten in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auch deshalb naheliegend, weil sie eine menschenrechtliche Interpretation des Weltbürgerrechts verfolgt (Kap. 9.4). Für sie liegt die Begründungs252
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grundlage des Weltbürgerrechts im einen angeborenen Recht, welches sie als Menschenrecht versteht: [T]he cosmopolitan right is a right precisely because it is grounded upon the common humanity of each and every person and his or her freedom of will which also includes the freedom to travel beyond the confines of one’s cultural, religious, and ethnocentric walls (Benhabib 2004, 40).
Wenn die Verknüpfung von Weltbürgerrecht und Menschenrecht so eng gesehen wird, wie Benhabib es tut, ist es nicht verwunderlich, dass die Schwachstellen, die das Phänomen der Staatenlosigkeit für die Menschenrechtskonzeption herausstellt, auch für das Weltbürgerrecht zu gelten scheinen. 324 Für Benhabib stellt sich für das Weltbürgerrecht daher wie für die Menschenrechte die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Institutionalisierung: »[T]he obligations to show hospitality cannot be enforced; it remains a voluntarily incurred obligation of the political sovereign« (2004, 29). Um diese Schwierigkeit zu beheben, führt Benhabib nun Arendts ›Recht auf Rechte‹ ein. Sie versteht dieses Recht dabei folgendermaßen: »What is invoked here is a moral claim to membership and a certain form of treatment compatible with the claim to membership« (ebd., 56). Meines Erachtens steht Benhabibs Vorschlag nun vor mindestens zwei Problemen: Erstens kann das ›Recht auf Rechte‹ das Institutionalisierungsproblem nicht lösen und leistet damit für Benhabibs Argument nicht das, was es leisten müsste. Es fügt lediglich eine neue Ebene hinzu. Eine Person scheint nun – im besten Fall – über ein ›Recht auf Rechte‹, über Menschenrechte und über Staatsbürgerrechte zu verfügen. Das ›Recht auf Rechte‹ steht aber selbst wieder vor dem Institutionalisierungsproblem. Auch dieses Recht »cannot be enforced«, außer durch jene Instanzen, die den Schutz auch der Staatsbürgerrechte wie des Weltbürgerrechts sicherstellen – oder eben nicht. 325 Zweitens scheint ein ›Recht auf Rechte‹, wie es von Benhabib verstanden wird, die Situation für die betroffenen Individuen, die 324 Eine prägnante kantische »Antwort auf Hannah Arendts Menschenrechtskritik« findet sich bei Klemme (2013). 325 Benhabib sieht natürlich auch durchaus einige Probleme bei Arendts Ansatz und versteht diesen nicht als eine vollständige Lösung jener Problematik, die sie bei Kant diagnostiziert. Gleichwohl stellt das ›Recht auf Rechte‹ für sie einen Schritt in die richtige Richtung dar.
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auf keine Rechte mehr Anspruch erheben können als auf ihr ›Recht auf Rechte‹, sogar noch zu verschärfen. Nach dieser Konstruktion stellt sich die Situation nämlich entweder so dar, dass die Menschenrechte Geltung haben. In diesem Fall wäre das Recht auf Staatsbürgerschaft eines davon und ein ›Recht auf Rechte‹ redundant. Oder – und dies scheint eher Benhabibs Vorstellung zu entsprechen – das ›Recht auf Rechte‹ ist von den Menschenrechten grundlegend verschieden und ergänzt diese. Dann stellt sich aber die Frage, welchen Status dieses Recht im Verhältnis zu den Menschenrechten hat. Wenn das ›Recht auf Rechte‹ kein angeborenes Menschenrecht ist, dann muss es sich um ein erworbenes Recht handeln. Denn Rechte können nur angeboren oder erworben sein. Als ein solches erworbenes Recht wäre es aber nicht unabänderlich mit der Person verbunden: Es kann erworben und wieder aufgegeben werden oder verloren gehen. 326 Das ›Recht auf Rechte‹ wäre dann, wenn es nicht als angeborenes Menschenrecht begriffen wird, sondern als etwas davon Verschiedenes, nämlich als erworbenes Recht, fragiler als das angeborene Menschenrecht selbst, welches Benhabib ja gerade durch die Einführung des Rechts auf Rechte absichern möchte. 327 Diese Konzeption würde für die betroffenen Personen in einem gewissen Sinne sogar weniger leisten als die von Arendt kritisierte Menschenrechtskonzeption: Man könnte nämlich argumentieren, dass das ›Recht auf Rechte‹ als »moral claim to membership« (Benhabib 2004, 56) die gesamte Beweislast auf die Schultern des Individuums legt, welches sich unter Umständen in gerade jener äußerst vulnerablen Situation befindet, vor der es das ›Recht auf Rechte‹ schützen soll. Ein Anspruchsrecht (claim right) steht immer vor dem Problem, dass es auch eine Person braucht, die den Anspruch auf das betreffende Recht erhebt. Es erfordert ein Individuum, dass in der Lage ist, diesen »moral claim to membership« zu erheben – und jemanden, der ihm stattgibt. Anders als Benhabibs Interpretation stellenweise suggeriert, scheint Arendt sich durchaus bewusst zu sein, dass dieses Recht sehr fragil ist und auch verloren gehen kann: »Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben« (Arendt 1955, 614). 327 Boehm betont, dass »Arendt wusste […], dass dieses Recht nur Ausdruck des Problems war, nicht seine Lösung«, in: DIE ZEIT, Nr. 38 vom 16. 09. 15. 326
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Anders scheint sich die Situation darzustellen, wenn man sich primär den Pflichten, und erst dann den Rechten zuwendet. Nachfolgend möchte ich ausgehend von diesem Gedanken einen Ansatz skizzieren, wie man mit Hinblick auf Kant das Institutionalisierungsproblem entschärfen kann. Entschärfung des Institutionalisierungproblems Wie können wir das Weltbürgerrecht begreifen, ohne in die oben beschriebenen Schwierigkeiten zu geraten? Es werden hierzu bereits mehrere Möglichkeiten in der Literatur diskutiert. Zum einen könnte man argumentieren, dass das Institutionalisierungsproblem – gegen Kant – nur durch die Einführung einer globalen Weltrepublik gelöst werden kann. Diese Position vertritt etwa Höffe (1999a). Zum anderen kann man für eine graduelle Annäherung an die Institutionalisierung plädieren, wie es etwa Kleingeld vorschlägt: Sie vertritt die These, dass man zwar zunächst den Eindruck haben könnte, das Weltbürgerrecht ließe sich nicht institutionalisieren, »without pre-supposing the kind of worldrepublicanism that Kant rejects« (1998, 73). Jedoch könne man – auch wenn Kant selbst sich nicht ausführlicher zu Fragen der Institutionalisierung äußert – davon ausgehen, dass eine schrittweise Annäherung an den von ihm entworfenen Rechtszustand über internationale Verträge und Vereinbarungen möglich ist. Diese Möglichkeit würde auch durch die faktische Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert nahegelegt. Ich möchte hier allerdings einen anderen Weg vorschlagen. Mein Vorschlag basiert auf folgendem Grundgedanken: Eine Kernüberzeugung von Kant ist, dass Personen, weil sie in der Lage sind, Pflichten zu übernehmen, überhaupt erst Rechtsverhältnisse eingehen, die dann wiederum Ansprüche gegenüber Dritten begründen können. Sowohl in der Moralphilosophie als auch in der Rechtsphilosophie ist der Begriff der Pflicht für Kant der zentrale Begriff; der des Rechtes ist ihm nachgeordnet. Den ›legitimatorischen Ausgangspunkt‹ bildet die Person als Träger von Pflichten, nicht von Rechten. 328 In der politischen Philosophie spielen nun neben den natürlichen Personen auch nichtnatürliche Personen eine Rolle: selbstständige Akteure, die rechtsfähig sind, die man auch als juridische Akteure bezeichnen könnte, etwa ein Staat, ein Ministerium, eine Gemeinde. 328
Hier folge ich Höffe (2012, Kap. 7 u. 14) sowie O’Neill (1996, Kap. 5).
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Auch bezüglich dieser nichtnatürlichen Personen scheint im Rahmen der politischen Philosophie Kants zu gelten, was für die natürlichen Personen in der Moralphilosophie gilt: Die primäre Frage lautet: Welche Pflichten haben diese Akteure gegenüber anderen und sich selbst? Wann handeln sie rechtmäßig? Auf das Weltbürgerrecht angewandt, bedeutet dies: Ein Staat handelt erst dann rechtmäßig, wenn er sich an die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten hält, d. h. dass er Personen nicht ihrem Untergang aussetzt und selbst nicht kolonialexpansiv agiert. Hierfür ist es zunächst unerheblich, dass er zur Einhaltung dieser Pflichten nicht rechtmäßigerweise gezwungen werden kann, dass es also keine Institution über dem Staat gibt, die wiederum selbst zwangsbefugt ist. Das Weltbürgerrecht stellt also, möchte ich vorschlagen, einen Teil der Antwort auf die Frage dar: Wie muss sich ein Staat verhalten, wenn er sich rechtmäßig verhalten möchte? Erst nachgeordnet kommt die Frage auf, welche Rechte dieser Staat hat und auf welche Rechte ein Individuum gegenüber diesem Staat Anspruch erheben kann. Ein Staat hat die Pflicht, rechtmäßig zu handeln – und das heißt für Kant nicht nur in Übereinstimmung mit irgendeinem positiv gesatzten Recht, sondern in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Rechts überhaupt. Warum aber sollte sich ein Staat überhaupt rechtmäßig verhalten ›wollen sollen‹ ? Bei einem Staat handelt es sich um einen juridischen Akteur. Das Recht hat daher für ihn konstitutiven Charakter: Als juridischer Akteur hat er eine rechtsförmige Gestalt; im Recht gründet seine Existenz. 329 Der Rechtsbegriff ist überdies mit der Aufforderung verbunden, dem Recht zu folgen, also ihm gemäß zu handeln. 330 Mit einer grundsätzlichen Infragestellung seiner Gebundenheit an das Recht würde ein Staat daher rechtsmoralisch betrachtet 329 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu Kants Souveränitätskonzeption in Kapitel 13.3. 330 Ich folge hier im wesentlichen Klemme (2013, 166): Der Rechtsbegriff bestimmt, was Recht ist. Es ist für Kant »der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (RL, VI 230). Das allgemeine Rechtsprinzip legt fest, welche Handlungen dem Rechtsbegriff genügen. Das allgemeine Rechtsgesetz schließlich verbindet Rechtsbegriff und Rechtsprinzip mit dem Begriff der Verbindlichkeit, ausgedrückt durch den Imperativ: »[H]andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne« (VI 231).
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sich auch der Grundlage seiner eigenen Existenz entziehen. 331 Er kann freilich faktisch gegen diese Annahme handeln und seine Rechtspflichten (grundsätzlich) nicht einhalten wollen, aber es würde sich um einen Selbstwiderspruch handeln. Eine Einzelperson kann ebenso auch faktisch gegen den Grundsatz, gegebene Versprechen seien zu halten, verstoßen, aber auch sie würde sich dann im Selbstwiderspruch befinden (GMS VI 422). 332 Ein Staat handelt also erst dann rechtmäßig, wenn er sich auch an die mit dem Weltbürgerrecht einhergehenden Pflichten hält. 333 Er kann jedoch zur Einhaltung seiner Pflichten nicht rechtmäßigerweise gezwungen werden, da es nach Kant über ihm keine strafende Gewalt geben darf. 334 Dies heißt jedoch nicht, dass ein Staat nicht gezwungen werden kann, seinen Pflichten gerecht zu werden. Es ist nur nicht 331 Flikschuh scheint mit Hinblick auf die Souveränität von Staaten einen parallelen Gedanken zu verfolgen: »not ›either cosmopolitan justice, or state sovereignty‹, but ›if cosmopolitan Right, then the morality of sovereign states‹« (2010, 470). 332 Flikschuh hat die Analogien und Disanalogien von Personen und Staaten als moralischen Akteuren präzise zusammengefasst: »The reason why we cannot do with states as we can do with individuals is that, in contrast to individuals, the juridical compulsion of states would compromise their moral personality. Recall Kant’s attribution of moral personality on the grounds of possession of will. In this respect, states and individuals are alike: both are types of beings with types of wills. Both, therefore, are types of moral agents. But they are not tokens of the same type. The crucial difference between them is that individuals’ wills are juridicially non-sovereign, whereas states’ wills are juridicially sovereign« (Flikschuh 2010, 480). Anders als Flikschuh ist beispielsweise Kersting der Ansicht, dass Kants Souveränitätskonzeption nicht notwendig aus seiner Rechtstheorie folgt: »Es ließe sich zeigen, daß der subkutane Hobbesianismus der Kantischen Souveränitätskonzeption entbehrlich ist und salva veritate durch ein nachgiebiges, funktional legitimierte Teilsouveränitätsverzichte erlaubendes Souveränitätskonzept ersetzt werden kann: Die Solidität des vernunftrechtlichen Fundaments der Rechtsphilosophie Kants würde dabei ebensowenig Schaden leiden wie ihre prinzipientheoretische Architektonik und ihre argumentative Kohärenz« (1996, 185). Auch Koller sieht Kants Souveränitätskonzeption kritisch, insbesondere die Annahme, dass Staaten einen spezifischen moralischen Status hätten (1996, 215–224). 333 Eine selten in diesem Zusammenhang diskutierte, aber nicht minder wichtige Frage lautet, ob eine Person freiwillig ihre Staatsangehörigkeit ablegen darf, beispielsweise als Zeichen des politischen Protests (Höffe 1999, 355 f.). Da es hier aber vor allem um die Pflichten eines Staates gegenüber Staatenlosen gehen soll, möchte ich die Frage, ob es einer Person rechtsmoralisch betrachtet frei steht, ihre Staatsangehörigkeit aufzugeben, einklammern. Zu vermuten ist aber, dass aus kantischer Perspektive einige Bedenken anzumelden wären. 334 Dies gilt auch für die moralischen Pflichten von natürlichen Personen – solange die Verletzung der Pflichten nicht rechtsrelevant ist.
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möglich dies legitimerweise zu tun – faktisch bleibt es freilich gleichwohl möglich.
14.4 Ein Weg aus der Staatenlosigkeit? Kants Weltbürgerrecht scheint uns zunächst zwei Möglichkeiten an die Hand zu geben, um eine Antwort auf das Problem der Staatenlosigkeit zu formulieren: Entweder man argumentiert, dass der Zustand der Staatenlosigkeit dem Untergang der Person gleichkäme und damit das Nichtrückführungsprinzip, welches im Weltbürgerrecht angelegt ist, greifen müsste, oder man stärkt die unabhängige Entscheidungskompetenz des Staates in diesen Fragen und verweist darauf, dass für jeden langfristigen Aufenthalt ein »besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde« (ZeF, VIII 358) – auch im Fall der Staatenlosen. Wie erfolgversprechend sind diese beiden Optionen? Die Fähigkeit zum moralischen Handeln ist nicht per se durch das Fehlen einer Staatsangehörigkeit infrage gestellt. Das heißt, das im vorletzten Kapitel herausgearbeitete Verständnis von ›Untergang‹ (Kap. 12.2) würde hier nicht ohne Weiteres greifen. Sollten aber zur Staatenlosigkeit auch Verfolgung und Gefahr für Leib und Leben als Bedingungen der Möglichkeit von Moralfähigkeit hinzukommen, dann würde das im Weltbürgerrecht angelegte Nichtrückführungsprinzip freilich Anwendung finden. Da aber, wie bereits weiter oben erläutert (Kap. 14.1), nicht alle staatenlosen Personen von Verfolgungen oder lebensbedrohlichen Situationen betroffen sind, würde das Non-refoulement-Prinzip eben nicht in allen Fällen greifen. Andernfalls gilt für sie nur das generelle Besuchsrecht. Beide Ansatzpunkte – Non-refoulement-Prinzip und Besuchsrecht – helfen aber nicht, die prekäre Zugehörigkeitssituation von Staatenlosen zu überwinden. Sollte die erste Option also die einzige Antwort sein, die Kant auf das Problem der Staatenlosigkeit geben könnte, dann wäre dies in der Tat unbefriedigend. Die zweite Option, die sich auf das Gastrecht bezieht, erscheint daher vielversprechender: Genau wie für jede andere Person besteht auch für eine staatenlose Person die Möglichkeit, über einen »wohltätigen Vertrag« zum »Hausgenossen« zu werden. Diese Option ist insbesondere für das von Benhabib vorgestellte fünfte Merkmal einer Theorie der »gerechten Mitgliedschaft« entscheidend: das Recht, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, die Staatsbürgerschaft zu 258
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erlangen. Ich möchte diese Möglichkeit daher ausführlicher im nächsten Kapitel diskutieren. Schnepf schlägt noch eine weitere, dritte Option vor, die an ein grundlegenderes Prinzip anknüpft, um eine Lösung »mit Kants Mitteln« (1999, 214–218) zu entwickeln. Ausgehend von der schon zitierten Überlegung Kants »Jeder wird als möglicher Staatsbürger geboren« (R, XIX 544, 7853), argumentiert Schnepf folgendermaßen: Wenn jeder um des Rechtes willen verpflichtet ist, in den staatlichen Zustand einzutreten, und diese Pflicht so stark ist, daß jeder gezwungen werden kann, ihr Folge zu leisten, und wenn man schließlich rechtlich nur zu etwas gezwungen werden kann, das zu tun man berechtigt ist, dann muß der Rechtspflicht, in den staatlichen Zustand einzutreten, ein vorgängiges grundlegendes Recht dazu entsprechen, diese Pflicht wahrzunehmen, d. h. in den staatlichen Zustand einzutreten (Schnepf 1999, 216).
Jeder Mensch muss, darin ist Schnepf zuzustimmen, nach Kant prinzipiell Mitglied des Rechtszustandes werden können. Dies darf nicht prinzipiell verweigert werden, d. h. auch, dass dieser Zustand der grundsätzlichen Nichtzugehörigkeit nicht willentlich ad infinitum perpetuiert werden darf. Unter diesem Gesichtspunkt ist beispielsweise die ›Vererbung‹ der Staatenlosigkeit von staatenlosen Eltern an ihre Kinder, sollten diese in einem ius-sanguinis-Land geboren werden, zu problematisieren. Gleichzeitig muss man festhalten, dass Kant keine Antwort darauf gibt, welcher Staat Staatenlose aufzunehmen und einzubürgern hat. Es darf sich aber mit Kant auch kein Staat prinzipiell hiergegen versperren. Wir haben, lässt sich nun zusammenfassend sagen, gesehen, dass das Phänomen der Staatenlosigkeit wichtige systematische Probleme zutage fördert. Es ist nicht anachronistisch, diese Fragen an Kant heranzutragen. In seinen Texten finden sich durchaus Diskussionen ›funktionaler Äquivalente‹, etwa wenn er sich den Themen Vogelfreiheit und Verbannung zuwendet. Benhabibs Vorgehen dieses Problem auch an Kant heranzutragen überzeugt also, jedoch scheint das Arendt’sche ›Recht auf Rechte‹ keine Lösung für das von ihr konstatierte Institutionalisierungsproblem darzustellen. Ich habe daher einen Perspektivenwechsel auf das Weltbürgerrecht vorgeschlagen: Mit einem Fokus auf die Pflichten des Staates verliert dieses Problem seine Dringlichkeit, da die fehlende Sanktionsmöglichkeit irrelevant wird und die Vermeidung eines Selbstwiderspruchs in den Mittelpunkt rückt. Darüber hinaus sind bei Kant Wege aus der StaatenlosigMigration und Weltbürgerrecht
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keit angelegt. Diese werden im nächsten Kapitel, das den Übergang vom Besuchs- zum Gastrecht diskutiert und schließlich auch auf die Frage eingeht, ob vom Gastrecht ein Übergang zur Staatsbürgerschaft möglich ist, eine Rolle spielen.
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15. »An Unbridgeable Gap«? Der Übergang vom Besuchs- zum Gastrecht
Das fünfte Kriterium, welches Benhabib diskutiert, lautet, dass jeder Mensch das Recht haben muss – wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind –, die Staatsbürgerschaft jenes Landes zu erlangen, in das er eingewandert ist. Die Möglichkeit zur Erlangung der Staatsbürgerschaft ist dabei nicht nur für kosmopolitisch-egalitäre Konzeptionen wie jene von Benhabib von Bedeutung. Wie im ersten Teil dieser Studie erläutert, spielt diese Möglichkeit auch bei Walzer eine wichtige Rolle: Wie in Kapitel 2.1.2 gezeigt, ist er der Ansicht, dass Personen, die dauerhaft in einem Land leben, der Weg zur Staatsbürgerschaft offenstehen muss und lehnt auf dieser Grundlage Gastarbeitersysteme ab, die Personen dauerhaft die Erlangung der Staatsbürgerschaft verweigern (Walzer 1983, 56–61). Walzer postuliert, dass die Herrschaftsgewalt eines Staates nur dann gerechtfertigt ist, wenn Personen, die ihr unterworfen sind, an deren Gestaltung mitwirken können: »Men and women are either subject to the state’s authority, or they are not; and if they are subject, they must be given a say, and ultimately an equal say, in what that authority does« (ebd., 61). Dies sei bei einem dauerhaften Ausschluss von Zuwanderern von der Staatsbürgerschaft nicht gegeben. Wäre es nun auch möglich, mit Kant ein Argument für den Übergang zur Staatsbürgerschaft zu gestalten? Zunächst scheint dieser argumentative Schritt vor einigen Schwierigkeiten zu stehen: Kant schreibt in Zum ewigen Frieden eindeutig, dass das Weltbürgerrecht »kein Gastrecht« ist, sondern dass jeder Mensch nur »ein Besuchsrecht« hat. Ein Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt scheint also nicht zu bestehen – geschweige denn die Möglichkeit auf die Übertragung der Staatsbürgerschaft und der mit ihr verbundenen staatsbürgerlichen Rechte. Benhabib geht daher davon aus, dass für Kant konzeptionell eine »unbridgeable gap«, eine nicht zu überbrückende Lücke, zwischen dem temporären Besuchsrecht und einem Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt bestehe (2004, 38). Migration und Weltbürgerrecht
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Ich werde im Folgenden Benhabibs Interpretation der Kant-Passage zum ›wohltätigen Vertrag‹ näher untersuchen. Dabei wird sich herausstellen, dass ihre Interpretation dieses Vertragstyps zwei Missverständnissen unterliegt, die im ersten Teil dieses Kapitels erörtert werden: Zum einen setzt sie den ›wohltätigen Vertrag‹ mit einem Akt der Wohltätigkeit gleich. Dies übersieht aber, dass es sich hierbei um eine klar umrissene Vertragsart handelt, die nichts mit der Tugendpflicht der Wohltätigkeit zu tun hat. Was genau unter diesem Vertragstypus zu verstehen ist und welche Implikationen dies für das Verständnis der entsprechenden Passage im Weltbürgerrecht hat, wird Gegenstand von Kapitel 15.1.1 sein. Zum anderen geht Benhabib in ihrer Interpretation davon aus, dass mit diesem Vertrag das Recht auf politische Mitgliedschaft übertragen werde. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein, vielmehr scheint auch der genannte ›wohltätige Vertrag‹ nur ein Aufenthaltsrecht zum Inhalt zu haben (Kap. 15.1.2). Es liegt also tatsächlich eine konzeptuelle Lücke vor, allerdings an anderer Stelle als von Benhabib angenommen: Die Übertragung eines Aufenthaltsrechts per Vertrag ist möglich und sie stellt auch keinen ›bloßen Akt der Wohltätigkeit‹ dar. Ist der Vertrag einmal geschlossen, wird seine Erfüllung geschuldet. Jedoch steht infrage, wie es mit Kant möglich sein soll, von diesem Recht des Aufenthalts zur Erlangung der Staatsbürgerschaft zu gelangen. Und dies wäre letztlich auch der Schritt, der nötig wäre, um die prekäre Rechtssituation der Staatenlosen zu lösen, die im letzten Kapitel eingehender diskutiert wurde. Ich werde daher im Anschluss an die Diskussion von Benhabibs Interpretation einen möglichen Lösungsvorschlag skizzieren (Kap. 15.2).
15.1 Das Recht auf Mitgliedschaft und der ›wohltätige Vertrag‹ Ein ›Recht auf politische Mitgliedschaft‹, wie es zu den fünf eingangs zitierten Merkmalen einer Theorie »gerechter Mitgliedschaft« nach Benhabib gehören müsste, diskutiert Kant nicht explizit. 335 Jedoch 335 Vgl. hierzu auch Benhabib: »What about the right to political membership, then? Under what conditions, if any, can the guest become a member of the republican sovereign? Kant envisages a world condition in which all members of the human race become participants in a civil order and enter into a condition of lawful association
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Das Recht auf Mitgliedschaft und der ›wohltätige Vertrag‹
spricht Kant davon, dass jemand ein über ein bloßes Besuchsrecht hinausgehendes Gastrecht erlangen kann, wozu allerdings »ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde« (ZeF, VIII 358). Durch diesen Vertrag würde der Ankommende »auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen« (ebd.). In Benhabibs Verständnis ist dieser Vertrag gleichbedeutend mit der Übertragung eines Rechts auf Mitgliedschaft. Sie ist aber zugleich skeptisch hinsichtlich der Reichweite dieses Aktes, da es sich in ihren Augen um einen Akt der Wohltätigkeit handelt, der darüber hinaus ein Vorrecht des Souveräns bleibt: »For Kant granting the right to membership remains a prerogative of the republican sovereign and involves an act of ›beneficence‹« (2004, 65). Es gibt einige Einwände, die man gegen Benhabibs Interpretation anbringen kann. Ich möchte mich im weiteren Verlauf auf zwei konzentrieren. Der erste versucht, Kant stärker zu lesen, als Benhabib ihn hier interpretiert: Bei dem angesprochenen Vertrag handelt es sich nicht bloß um einen Akt der Wohltätigkeit. Der zweite wird jedoch Kants Forderung schwächer interpretieren, als Benhabib dies tut: Denn der angesprochene Vertrag hat nicht den Erwerb eines Rechts auf Mitgliedschaft zum Inhalt.
15.1.1 Einseitiger Erwerb, nicht Wohltätigkeit Beim in der Passage aus Zum ewigen Frieden angesprochenen »wohltätigen Vertrag« handelt es sich nicht um einen Akt der Wohltätigkeit, wie Benhabib anzunehmen scheint. Dieser Vertrag verweist nicht, wie man zunächst meinen könnte, auf die Pflicht zur Wohltätigkeit, die Kant ausführlicher in der Tugendlehre diskutiert. Mit dem ›wohltätigen Vertrag‹ ist vielmehr der pactum gratuitum gemeint, eine Vertragsart, die Kant in der Rechtslehre thematisiert. Kant kennt drei Vertragsarten, mit denen er sich im ersten Teil der Rechtslehre, dem Privatrecht befasst: 336 den ›wohltätigen Ver-
with one another. Yet this civil condition of lawful coexistence is not equivalent to membership in a republican polity. Kant’s cosmopolitan citizens still need their individual republics to be citizens at all« (2004, 38 f.). 336 Für eine Diskussion von § 31 (nach der Ludwig-Edition § 21a), in welchem die drei Vertragsarten eingeführt werden, und eine eingehendere Diskussion, der mit ihm verbundenen vertragsrechtlichen Schwierigkeiten vgl. etwa Byrd (1997). Zu Kants Migration und Weltbürgerrecht
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trag‹, den belästigten Vertrag, der zwei Unterarten, den Veräußerungs- und den Verdingungsvertrag, hat, und den Zusicherungsvertrag (RL, VI 285). Beim ›wohltätigen Vertrag‹ handelt es sich um einen Vertrag, der einen einseitigen Erwerb zum Inhalt hat. Es werden dabei von Kant drei Arten des ›wohltätigen Vertrags‹ unterschieden: der Vertrag zur Aufbewahrung, der Leihvertrag und der Schenkungsvertrag (depositum, commodatum, donatio). Kant weist darauf hin, dass faktische, empirische Verträge Elemente der einzelnen Vertragsarten vermischen können und im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe einer Rechtslehre nur die jeweilige Reinform aufgeführt werde. 337 Die ankommende Person wird also nicht durch einen Akt der Wohltätigkeit zum Hausgenossen, sondern durch einen solchen ›wohltätigen Vertrag‹. Nun könnte man gegen die hier vorgeschlagene Lesart einwenden wollen, dass sich derartige Verträge nur auf die Übereignung von Sachen beziehen könnten. Dieser Einwand trifft jedoch nicht zu. Für Kant regelt ein Vertrag immer das Verhältnis zweier Personen zueinander. Er regelt ihre Pflichten und Rechte gegeneinander, oder, in den Worten von Ripstein: Verträge sind »the legal means through which persons are entitled to make arrangements for themselves, and so to change their respective rights and duties« (2009, 107). Es ist dabei sekundär, ob eine äußere Sache, eine Arbeitsleistung oder etwas anderes Gegenstand des Vertrags ist. Es handelt sich bei einem ›wohltätigen Vertrag‹ um einen einseitigen Erwerb eines Anspruchs auf etwas und genau dies scheint beim Vertrag über die Hausgenossenschaft der Fall zu ein: Eine Person erhält durch diesen Vertrag den Status eines Hausgenossen, muss hierfür aber im Gegenzug keine Leistung erbringen, weshalb es sich eben um einen ›wohltätigen Vertrag‹ handelt. Aber um welche der drei Unterarten des ›wohltätigen Vertrags‹ soll es sich bei dem Vertrag zur Erwerbung der Hausgenossenschaft Theorie des Vertragsrechts s. auch Lübbe-Wolff (1982), Kersting (1984, 172–183) und Ludwig (1988, 134–137). 337 »Nach diesen Grundsätzen der logischen (rationalen) Einteilung gibt es nun eigentlich drei einfache und reine Vertragsarten; der vermischten aber und empirischen, welche zu den Prinzipien des Mein und Dein nach bloßen Vernunftgesetzen noch statuarische und konventionelle hinzutun, gibt es unzählige, sie liegen aber außerhalb dem Kreise der metaphysischen Rechtslehre, die hier allein verzeichnet werden soll« (VI 285).
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Das Recht auf Mitgliedschaft und der ›wohltätige Vertrag‹
handeln? Es erscheint eigenartig, diesen als Vertrag zur Aufbewahrung oder als Leihvertrag zu verstehen. Am ehesten möchte man ihn wohl als Schenkungsvertrag sehen. Da Kant gleichwohl darauf hinweist, dass reale Verträge verschiedene Elemente der Reinformen vermischen können und darüber hinaus auch materiale Bestimmungen enthalten, ist hier nicht entscheidend, ob ein solcher Vertrag einwandfrei einer der drei Reinformen zuordnenbar ist. Eigenartiger – und konzeptuell problematischer – ist, dass der Erwerb des Status eines »Hausgenossen«, also das Recht zum dauerhaften Aufenthalt, mit dem Verweis auf die Möglichkeit eines Vertragsschlusses in den Bereich des Privatrechts verschoben zu werden scheint. Ist Ein- und Auswanderung aber nicht eher eine Frage des öffentlichen Rechts und sollte daher auch nach dessen Prinzipien behandelt werden? Hierauf wird noch zurückzukommen sein.
15.1.2 Aufenthalt, nicht Mitgliedschaft Wenden wir uns zunächst dem zweiten Einwand gegen Benhabibs Interpretation zu. Benhabib scheint den im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden angesprochenen Vertrag als gleichbedeutend mit der Übertragung des Rechts auf Mitgliedschaft zu verstehen, wenn sie davon spricht, dass der Akt der Übertragung des Rechts auf Mitgliedschaft einen Akt der Wohltätigkeit beinhalte (2004, 65). Diese Lesart lässt sich nicht halten. Denn Kant ist weit davon entfernt, hier überhaupt ein ›Recht auf Mitgliedschaft‹ zu diskutieren. In Zum ewigen Frieden wird dieser ›wohltätige Vertrag‹ nämlich auf folgende Weise weiter spezifiziert: Er macht die ankommende Person lediglich »auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen« (VIII 358). Die betreffende Person erwirbt durch diesen Vertrag das Recht zum Aufenthalt, aber nicht auf Mitgliedschaft – nicht einmal zum dauerhaften Aufenthalt. Sie bleibt ein Gast. Es handelt sich gerade nicht um einen Vertrag, der die dauerhafte Mitgliedschaft in der betreffenden Gemeinschaft regelt. In der Rechtslehre spricht Kant, wenn er das Weltbürgerrecht diskutiert, darüber hinaus über ein »Recht der Ansiedlung«, für dessen Erwerb ebenfalls »ein besonderer Vertrag« erforderlich ist (VI 353). Hier geht es tatsächlich um die Möglichkeit des dauerhaften Aufenthaltes an einem Ort, und nicht nur um ein Gastrecht. Jedoch handelt es sich auch bei diesem Vertrag nicht um einen Vertrag zum Migration und Weltbürgerrecht
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Erwerb eines Rechts auf Mitgliedschaft, sondern zunächst nur zum Erwerb des Wohnrechts. 338 Damit, dass selbst ein dauerhafter Aufenthalt noch kein ›Recht auf Mitgliedschaft‹ impliziert, steht Kant durchaus auch im Einklang mit der liberalen Tradition: Einen ähnlichen Gedanken findet man beispielsweise auch bei Locke, der in seiner Abhandlung Über die Regierung schreibt: »Wenn sich ein Mensch den Gesetzen eines Landes unterwirft, friedlich in ihm lebt und seine Privilegien und seinen Schutz genießt, so macht ihn das noch nicht zu einem Mitglied dieser Gesellschaft« (Locke, Über die Regierung, VIII 122). Wie wir gesehen haben, lässt sich mit Kant also der Übergang vom Besuchsrecht zum Gastrecht und sogar zum Recht des dauerhaften Aufenthaltes gestalten. In beiden Fällen ist ein Vertragsschluss der Weg. Ist der Vertrag einmal geschlossen, stellt dessen Erfüllung, also das tatsächliche Gewähren des Aufenthalts bzw. der Ansiedlung, eine Rechtspflicht dar – keinen Akt der Wohltätigkeit. Es bleibt aber offen, inwiefern sich auch ein Übergang zur Staatsbürgerschaft gestalten ließe. Ich möchte hierfür im Folgenden einen möglichen Ansatz skizzieren. Er nimmt seinen Ausgangspunkt erneut bei der Figur des Vertrags.
338 Vanhaute weist bei der Erörterung von Kants Begriff der Ansiedlung auf folgende Kant-Passage hin (2014, 134): »Von dem Besitz (possessio) ist noch der Sitz (sedes) und von der Besitznehmung des Bodens, in der Absicht, ihn dereinst zu erwerben, ist noch die Niederlassung, Ansiedelung (incolatus) unterschieden, welche ein fortdauernder Privatbesitz eines Platzes ist, der von der Gegenwart des Subjekts auf demselben abhängt« (VI 251). Aus dieser Passage würde deutlich werden, dass für Kant der Besitz, der durch Ansiedlung besteht, von der Anwesenheit des Siedelnden abhängt. Es handele sich hier nicht einmal um Eigentum. Die von ihr zitierte Passage ist allerdings Teil eines Texteinschubs im § 6 der Rechtslehre, der aus verschiedenen Gründen als dort fälschlicherweise platziert angesehen werden muss, wie Buchda 1929 nachgewiesen hat. Unabhängig von ihm kam auch Tenbruck 1949 zu dem gleichen Ergebnis (s. Ludwig 1986, XXVIII). In der Ludwig-Edition der Rechtslehre entfällt dieser Absatz daher auch (vgl. hierzu Ludwig 1986, XXXII). Daher ist es problematisch für ein besseres Verständnis des Ansiedlungsbegriffs auf diese Textpassage zu verweisen. Für den hier verfolgten Zusammenhang aber ist es unerheblich, ob mit der Ansiedlung auch eine von der Gegenwart des Subjekts unabhängige Erwerbung von Grund und Boden erfolgt oder nicht. Es ist nur entscheidend, dass es sich bei dem durch den angesprochenen Vertrag erworbenen Recht nicht um ein Recht auf Mitgliedschaft, sondern um ein Recht auf Ansiedlung handelt. Zu den Absätzen vier bis acht des § 6 vgl. auch die Diskussion Küsters (1988, 11 f.).
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Staatsbürger durch Vertrag?
15.2 Staatsbürger durch Vertrag? Wenn per Vertrag der Übergang vom Besuchsrecht zum Gastrecht und zum Recht der »Ansiedelung« gestaltet werden kann, dann erscheint es zumindest nicht unplausibel, davon auszugehen, dass der Vertrag – Kant folgend, damit aber zugleich über ihn hinausgehend – auch das geeignete Mittel zum Übergang zur Staatsbürgerschaft darstellen würde. Dies würde durchaus im Einklang mit der liberalen Tradition stehen. Auch Locke, der ebenso wie Kant der Ansicht war, dass ein dauerhafter Aufenthalt noch keine Mitgliedschaft impliziere, sieht im Vertragsschluss das geeignete Mittel um jemanden zum Mitglied eines Staates zu machen. 339 Zunächst erschien es eigenartig, dass Kant in jenen Passagen aus Zum ewigen Frieden und der Rechtslehre auf die Figur des Vertrags verwiesen hat, scheint dies doch Fragen der Aufnahme und Nichtaufnahme zu einem privatrechtlichen Problem zu machen. Ist Ein- und Auswanderung nicht aber eine Frage des öffentlichen Rechts (Kap. 15.1.1)? Die Figur des Vertrags ist freilich gerade in der liberalen Tradition, und auch bei Kant selbst, nicht nur dem Privatrecht vorbehalten. Am deutlichsten wird dies bei der Figur des »Gesellschaftsvertrags«. Wenn man sich dies vor Augen hält, erscheint es schon weniger eigenartig, den Vertrag als das geeignete Mittel für die Erlangung der Mitgliedschaft in einer Gesellschaft zu erachten. Es gibt einige Fragen, die sich hieran anschließen: Welche Kriterien muss ein Vertrag erfüllen, damit er überhaupt als Vertrag gelten kann bzw. welche Umstände des Vertragsschlusses würden einen Vertrag nichtig machen? Kann die Vertragsfreiheit aufgrund bestimmter Prinzipien (z. B. Nichtdiskriminierung) eingeschränkt werden? Und welche Implikationen hätte dies für Fragen des Staatsbürgerschaftserwerbs?
339 »Wir sehen also, daß Fremde, indem sie ihr Leben lang unter einer anderen Regierung leben und die Privilegien und den Schutz dieser Regierung genießen, dadurch noch lange nicht zu Untertanen oder Gliedern jenes Staatswesens werden, wenn sie auch verpflichtet sind […], sich seiner Verwaltung ebensoweit zu unterwerfen wie jeder andere Bewohner. Nichts kann einen Menschen dazu machen als sein tatsächlicher Eintritt durch positive Verpflichtung und ausdrückliches Versprechen und Vertrag« (Locke, Über die Regierung, VIII 122).
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15.2.1 Freiwilligkeit als zentrales Merkmal von Verträgen Verträge sind klassischerweise freiwillige Einigungen, die unter der Bedingung gültig sind, dass die im Vertrag geregelte Leistung geleistet oder die betreffende Sache übergeben wird. Durch welche Schritte Verträge zustande kommen, ist Inhalt zahlreicher Debatten. Auch Kant hat hierzu einen Ansatz geliefert, der hier aber nicht detaillierter diskutiert werden kann. 340 Wichtig für die folgende Untersuchung ist der Umstand der Freiwilligkeit: Personen dürfen sich aussuchen, ob, über welche Gegenstände und mit wem sie Verträge schließen möchten. Sollte auch nur in einem dieser Punkte die Freiwilligkeit der vertragsschließenden Person nicht gegeben sein, ist der Vertrag nichtig. Dies ist etwa der Fall, wenn eine Person gezwungen wird, eine sich in ihrem Eigentum befindliche Sache zu verkaufen. Es ist aber auch der Fall, wenn die Unwissenheit von Personen ausgenutzt wird: So ist der Vertrag zur Abtretung von scheinbar unbewohnten Ländereien, die aber von »Hirten- oder Jagdvölkern« genutzt werden, »deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt«, nichtig, wenn dieser »mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien« geschlossen würde (RL, VI 353).
15.2.2 Legitime Einschränkungen der Vertragsfreiheit Nun könnte man meinen, dass – wenn man im Vertrag die Figur sieht, der entsprechend auch der Erwerb der Staatsbürgerschaft erfolgt – dann keine Einschränkung hinsichtlich dessen möglich wären, mit welcher Person derartige Verträge zu schließen seien oder nicht, da dies eine unzulässige Einschränkung der Vertragsfreiheit darstellen würde: Ein politisches Gemeinwesen wäre dann vollkommen frei zu entscheiden, wen es zu einem Mitglied machen möchte und wen nicht – die Zustimmung der betreffenden Person einmal vorausgesetzt. Ein solcher Ansatz wäre dann nicht so weit von den zu Beginn dieser Studie erwähnten Ansätzen (Kap. 2.3.2) entfernt, die die freedom of association betonen und davon ausgehen, dass jeder Staat sich
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Zum Zustandekommen eines Vertrags nach Kant s. u. a. Kersting (1984, 172–183).
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seine Mitglieder auswählen dürfe, wie jede Einzelperson auch ihren Ehepartner frei wählen darf. Eine so verstandene freedom of association würde auch bedeuten, dass jeder legitime Staat das Recht hat, alle potentiellen Einwanderer abzuweisen – auch Flüchtlinge (Wellman 2008). Die Ansätze unterscheiden sich aber doch grundlegend. Worin besteht dieser Unterschied? Abgesehen von den offensichtlich unterschiedlichen Freiheitsrechten, die angeführt werden, um die jeweilige Einbürgerungspolitik zu begründen – einmal die Vertragsfreiheit, das andere Mal die Vereinigungsfreiheit – erlaubt die Vertragsfreiheit entgegen der oben angeführten möglichen Einschätzung gewisse Einschränkungen hinsichtlich der Freiheit in der Wahl des Vertragspartners, die ich nun näher beleuchten möchte. 341 Es erscheint zunächst widersprüchlich, erst zu erklären, dass ein Vertrag nichtig ist, wenn die Freiheit der Vertragspartnerwahl eingeschränkt ist, um wenige Absätze später zu erklären, dass die Vertragsfreiheit hinsichtlich der Wahl des Vertragspartners eingeschränkt werden dürfe. Aber genau dies ist der Fall: Ich darf einen Vertragspartner ablehnen, weil er mir nicht die Sache übereignen oder die Leistung erbringen kann, die ich erwerben möchte. Ich darf einen Vertragspartner ablehnen, weil ich es für unwahrscheinlich halte, dass sie oder er den vertraglichen Verpflichtungen nachkommen wird. Ich darf einen Vertragspartner aber nicht aufgrund seiner Hautfarbe, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung oder dergleichen ablehnen. Dies ist eine Denkfigur, die uns bereits aus den Überlegungen hinsichtlich der legitimen und illegitimen Ausschlussgründe bekannt ist (Kap. 13.2). Und es zeigt sich, dass jene Überlegungen, die mit Hinblick auf die first admission greifen, dies auch bezüglich der Einbürgerung tun: Auch jene Regelungen zur Einbürgerung sind nur Recht im rechtsmoralischen Sinne, wenn sie sich »auf das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere« (RL, VI 230) beziehen. In diesem Fall handelt es sich um eine natür-
341 Es wäre wohl möglich, den Ansatz von Wellman so zu modifizieren, dass die Vereinigungsfreiheit auch gewissen Einschränkungen unterliegen würde. Wie bereits in Kapitel 2.3.2 diskutiert, ist das Konzept der Vereinigungsfreiheit selbst enormen Anpassungen unterworfen bzw. in verschiedenen Rechtskulturen sehr unterschiedlich ausgestaltet. Wellman tut dies aber nicht. Es würde auch nicht der argumentativen Stoßrichtung seines Aufsatzes entsprechen.
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liche Person auf der einen Seite, die in einen betreffenden Staat einwandern möchte, und diesen Staat als nichtnatürliche Person auf der anderen Seite. Für die Entscheidung über die Einbürgerung dürften dann nur Kriterien angewandt werden, die sich auf die äußeren Handlungen von Personen beziehen. Auswahlkriterien, die das »Innere Mein und Dein« einer Person zum Inhalt haben, sind dagegen nicht zulässig. 342 Wenn Kant also in Zum ewigen Frieden von einem ›wohltätigen Vertrag‹ und in der Rechtslehre von einem ›besonderem Vertrag‹ spricht, handelt es sich bei diesen beiden Verträgen, anders als Benhabib mutmaßt, nicht um Verträge zur Übertragung eines Rechts auf Mitgliedschaft. Gleichwohl ließe sich die Figur des Vertrags aufgreifend ein Ansatz entwickeln, wie der Übergang zur Staatsbürgerschaft gestaltet werden könnte. Ein solcher Ansatz geht gleichwohl mit Kant auch über Kant hinaus, der den Wechsel der Staatsbürgerschaft und deren Neuerwerbung nicht explizit erörtert. Es lässt sich also eine Brücke über die vermeintlich unüberbrückbare konzeptionelle Lücke bauen, auch wenn dies hier nur in Umrissen geschehen konnte. Diese Brücke würde nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit anheimfallen: Die Prinzipien zur Unterscheidung von legitimen und illegitimen Ausschlussgründen, die in Kapitel 13 entwickelt wurden, finden auch hier Anwendung. Damit sind Benhabibs fünf Kriterien einer Theorie »gerechter Mitgliedschaft« erörtert: Für alle fünf lassen sich mit Kant interessante und im Inhalt sowie der Begründung von gegenwärtig gängigen Positionen abweichende Lösungsmöglichkeiten entwickeln. In den folgenden zwei Kapitel möchte ich nun über Benhabibs Diskussionsrahmen hinausgehen und dafür argumentieren, dass zu einer Theorie »gerechter Mitgliedschaft« auch das in der gegenwärtigen Debatte vernachlässigte Recht auf Auswanderung gehört, welches Kant explizit in der Rechtslehre einführt und für welches sich mit Kant im Rahmen der hier vorgestellten Interpretation des Weltbürgerrechts und der Rechtslehre eine überzeugende Begründung liefern lässt (Kap. 16). Anschließend möchte ich darauf verweisen, dass, entgegen der gegenwärtigen Debatte in Bezug auf Fragen nach dem angemessen Umgang mit Migranten und Flüchtlingen der Dichotomie von
342 Keil betont, dass nach Kant das Einbürgerungsrecht »nicht gesetzlich Anlass zu Gesinnungsprüfungen geben darf« (2009, 127).
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Staatsbürger durch Vertrag?
institutionellen Verpflichtungen der Gerechtigkeit und individuellen Verpflichtungen der Wohltätigkeit, die in der gegenwärtigen Debatte üblich ist, Kants Position beides zu vereinigen vermag, da er nicht nur Rechtspflichten kennt, sondern auch Tugendpflichten (Kap. 17).
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16. Das Recht auf Auswanderung
In der gegenwärtigen Debatte um Migration in der politischen Philosophie steht das Recht auf Einwanderung eindeutig im Mittelpunkt. Auch für Benhabib spielt das Recht auf Auswanderung keine Rolle. Historisch besehen stand es aber zunächst im Vordergrund. Erst in der jüngeren Vergangenheit sind Fragen nach dem Recht auf Einwanderung und Pflichten von Gemeinwesen, Personen aufzunehmen, in den Fokus des Interesses gerückt. 343 Historisch erhielt das Recht auf Auswanderung insbesondere mit den Konfessionskriegen und dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 eine besondere Bedeutung. Im Augsburger Religionsfrieden wurde allen Landesherren das ius reformandi zugesprochen: »Das hieß, daß die Bevölkerung sich dem Bekenntnis des jeweiligen Landesherren anschließen mußte; wer nicht dazu bereit war, dem blieb immerhin das ius emigrandi, also das Recht, in ein Land seines Bekenntnis auszuwandern« (Schulze 22004, 61). Den impliziten Begründungshintergrund für das Recht auf Auswanderung bildete hier die Religionsfreiheit oder Bekenntnisfreiheit bzw. der Mangel daran. Dass ein Recht auf Auswanderung in der heutigen Debatte kaum eine Rolle spielt, hat verschiedene Gründe. Zum einen hat das Recht auf Auswanderung bereits Eingang in zahlreiche Rechtsdokumente gefunden. So wird etwa im Artikel 13 Abschnitt 2 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« ein Recht auf Auswanderung for-
Vgl. zu dieser Einschätzung auch Bauböck: »In der Geschichte der politischen Philosophie stand die Frage nach dem Recht auf Auswanderung und seinem Zusammenhang mit politischen Loyalitätspflichten im Vordergrund, in der Gegenwart ist es die Kontroverse über Einwanderungsrechte und korrespondierende staatliche Pflichten, Fremde aufzunehmen, einzubürgern und sie als kulturelle Minderheiten anzuerkennen« (2008, 819). Eine gewisse Ausnahme bildet hier die brain-drain-Debatte, in der das Recht auf Auswanderung aber vor allem infrage gestellt wird. S. beispielsweise Brock in Brock/Blake (2015, 11–110) und Stilz (2016). 343
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Das Recht auf Auswanderung
muliert. 344 Zum anderen gehört es auch in der liberalen politischen Philosophie zum Kernbestand, der von einem Staat seinen Bürgern zu garantierenden Rechte (Bauböck 2008, 819). Ein Recht auf Auswanderung findet sich beispielsweise bei Rousseau, aber auch bei Locke oder Rawls. Auch Kant formuliert in der Rechtslehre ein Recht auf Auswanderung. In gewisser Hinsicht ist also die Proklamation eines Rechts auf Auswanderung allzu selbstverständlich geworden. Jedoch muss man schnell feststellen, dass, während hinsichtlich des Bestehens eines solchen Rechts in der liberalen politischen Philosophie der Vergangenheit wie auch gegenwärtigen Positionen weitgehend Übereinstimmung herrscht, dessen Begründung doch recht unterschiedlich ausfällt – auch unterschiedlich überzeugend. Der Umstand, dass das Recht auf Auswanderung in der gegenwärtigen Debatte also stiefmütterlich behandelt wird und weiterhin die Tatsache, dass Kant in der Kürze seiner Passage einen interessanten Ansatz zu einer möglichen Begründung des Rechts auf Auswanderung liefert, der von der gegenwärtig dominanten Vorstellung, das Recht auf Auswanderung ließe sich einfach und ausschließlich aus dem Recht auf Freiheit ableiten, abweicht, motivieren die folgende Untersuchung des Rechts auf Auswanderung bei Kant. Es wird sich herausstellen, dass Kant sich auch in diesem Punkt in einem Verhältnis der ›produktiven Disharmonie‹ zu heutigen Ansätzen befindet. Ein eingehender Vergleich zwischen Kants Position und jenen seiner philosophischen Vorgänger und Nachfolger soll dabei nicht Gegenstand dieses Kapitels sein. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Darstellung von Kants Recht auf Auswanderung und dessen Begründung konzentrieren. Dabei werde ich einige wesentliche Punkte verdeutlichen: Erstens stellt für Kant das Recht auf Auswanderung keinen ›blinden Fleck‹ dar, wie für manch andere Position in der Migrationsdebatte. Zweitens wird das Recht auf Auswanderung bei Kant wie auch das Weltbürgerrecht nicht, wie man zunächst meinen könnte, mit Rückgriff auf das eine angeborene Recht begründet.
344 Die Magna Charta (1215) kennt dagegen nur ein Ausreiserecht (Art. 42), aber kein Recht auf Auswanderung. In der »Virginia Declaration of Rights« (1776) und die »Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen« (1789) finden weder Ausreisenoch Auswanderungsrechte Erwähnung. Vgl. hierzu auch Dietrich (2017a, 11). Für einen Überblick über das Thema Emigration in den Naturrechtslehren vgl. Whelan (1981, 647–650).
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Das Recht auf Auswanderung
Vielmehr liegt seine Begründung in den Pflichten des Souveräns. Es stellt in dieser Hinsicht einen interessanten Parallelfall zum Weltbürgerrecht dar. Drittens vermag Kants Konzeption des Rechts auf Auswanderung eine Spannung zu lösen, die in der gegenwärtigen Diskussion häufig an Positionen kritisiert wird, die zwar ein Recht auf Auswanderung formulieren, aber kein Recht auf Einwanderung. Dies wird gemeinhin als Asymmetrie-Problem bezeichnet. Im Folgenden werde ich zunächst Kants Position kurz anhand der einschlägigen Passage darstellen (Kap. 16.1), um anschließend seine Begründung dieses Rechts zu rekonstruieren (Kap. 16.2). Im letzten Teil dieses Kapitels gilt es zu erörtern, warum Kant dem genannten Asymmetrie-Vorwurf entgehen kann (Kap. 16.3).
16.1 Der Untertan hat das Recht der Auswanderung Die entscheidende Passage zum Recht auf Auswanderung in der Rechtslehre befindet sich im ersten Abschnitt des öffentlichen Rechts, dem Staatsrecht, in § 50 unter der Überschrift »Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande«. 345 Dort definiert Kant zunächst die Begriffe ›Vaterland‹ und ›Ausland‹, um sich anschließend mit dem Recht auf Auswanderung zu befassen. Hinsichtlich dieses Rechts schreibt Kant: »Der Untertan (auch als Bürger betrachtet) hat das Recht der Auswanderung; denn der Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« (RL, VI 338). Der erste Teilsatz benennt die Inhaber dieses Rechts. Der zweite Teilsatz liefert seine Begründung. Kants Beschreibung der Inhaber dieses Rechts ist etwas eigentümlich: Sie sind Untertanen, werden aber auch als Bürger betrachtet. Wenden wir uns zunächst Kants Bürgerbegriff zu. Staatsbürger sind nach Kant »[d]ie zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staates« (VI 314). 346 Sie zeichnen sich durch drei Merkmale aus: die gesetzliche Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und die bürgerliche Selbstständigkeit. Die gesetzliche Freiheit bedeutet, »keinem anderen Gesetze zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben Nach der Ludwig-Edition: »Allgemeine Anmerkung F«. Nach der Akademie-Ausgabe findet sich diese Passage in § 46. In der Ludwig-Edition hat dieser Paragraph die Nummer 47. 345 346
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Der Untertan hat das Recht der Auswanderung
hat« (ebd.). Die bürgerliche Gleichheit besteht darin, »keinen Obern im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat« (ebd.). Die bürgerliche Selbstständigkeit bezeichnet schließlich den Umstand, »seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können« (ebd.). 347 Der Staatsbürger wird dabei vom »bloßen Staatsgenossen« unterschieden, dem die bürgerliche Selbstständigkeit fehlt und der daher auch nicht an der Gesetzgebung mitwirken darf. In diesem Zusammenhang steht auch Kants Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern. 348 Für Kant setzt nämlich die »Fähigkeit der Stimmgebung« bereits »die Selbstständigkeit dessen im Volke voraus, der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben sein will« (ebd.). Diese Unterscheidung wirft freilich einige Fragen auf und hat umfangreiche Debatten provoziert. 349 Nicht zuletzt auch, weil Kant pauschal alle Gesellen, Dienstboten und »alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenen Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (außer der des Staates), genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten« (ebd.), der Kategorie der »passiven Staatsbürger« zuzuordnen scheint. Damit scheint er »die Fähigkeit zur Stimmgebung« allzu eng an Fragen des Eigentums zu knüpfen, darüber hinaus den nicht finanziell Unabhängigen auch den Willen zur Vollmitgliedschaft abzusprechen. Schließlich bestimmt Kant den aktiven Staatsbürger ja nicht als einen, der in der Lage ist, ein »aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil« zu sein, sondern als einen, der dies »sein will«. Auch Kants pointierte Formulierung des passiven Staatsbürgers »Existenz
347 Zur Diskussion dieser drei Merkmale s. Brandt (1989); im Kontext der drei Prinzipien des status civilis s. Kersting (1984, 233–257); in ihrer jeweiligen politischen Dimension s. Unruh (1993, 125–128; 138 f. u. 141–157). 348 Zu Kants Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürger s. auch Luf (1978, 150–164). Gegen Kants Unterscheidung s. u. a. Kersting (1984, 250 f.). Zum Merkmal der Selbstständigkeit s. auch Pinkard (1999, 165–170). 349 Vgl. etwa Unruh: »Wird von der Problematik des Widerstandsrechtes abgesehen, so läßt sich kaum ein Element der Kantischen Staatsphilosophie auffinden, das eine größere Unsicherheit unter ihren Interpreten hervorgerufen hätte« (1993, 141).
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ist gleichsam nur Inhärenz« macht es für viele Autorinnen und Autoren nicht leicht, sich mit dieser Passage auszusöhnen. 350 Auch ich werde nicht versuchen, eine Aussöhnung zu leisten. Ich möchte aber auf einige Punkte aufmerksam machen, die, wenn sie die aufgeworfenen Schwierigkeiten auch nicht zu entschärfen vermögen, vielleicht zumindest gut begründen können, warum sie für den hier verfolgten Zusammenhang zunächst ausgeklammert werden dürfen – um sie gegebenenfalls an anderer Stelle umso ausführlicher zu diskutieren. Kant weist darauf hin, dass die positiven Gesetze es nie verhindern dürften, »sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können« (VI 315). Das heißt, es muss jedem (und jeder, wie man hier leider wirklich betonen muss) offenstehen, aktiver Staatsbürger zu werden. Weiterhin heißt dies auch, dass Kant – bei aller Problematik dieser Passage – hier zumindest kein ›Natürlichkeitsargument‹ formuliert: Die Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern bezieht sich nicht auf »das innere Mein« von Personen. Dieser Status wird also nicht durch angeborene Merkmale begründet. 351 Schließlich muss man sich vor Augen halten, dass eine Unterscheidung von ›aktiven‹ und ›passiven‹ Staatsbürgern auch in gegenwärtigen Demokratien gängige Praxis ist: Zur Stimmabgabe bei politischen Wahlen ist man zumeist erst ab einem bestimmten Lebensalter berechtigt. Ebenso kann man die Berechtigung in vielen demokratischen Staaten unter bestimmten Umständen auch wieder verlieren. Eine Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbür-
350 Paradigmatisch: Beiner (2011, 212–220), zuvor schon Kersting (1984, 248–257). Für eine wohlwollende Interpretation dieser Unterscheidung und der Bedeutung der Selbstständigkeit für die äußere Freiheit von Menschen s. Pinkard (1999, 165–168). 351 Ob die Kategorie ›Frauenzimmer‹ ein ›Sich-empor-Arbeiten‹ erlaubt – und worin dies bestehen soll oder ob Kant hier unter der Hand doch ein ›Natürlichkeitsargument‹ einführt –, ist wiederum mit Blick auf den Text fraglich. Letztlich muss man vielleicht Okin zustimmen: »[T]he only characteristic that permanently disqualifies any person from citizenship in the state […] is that of being born female« (1979, 6). Allerdings könnte man auch hier anführen, dass Kants Einordnung nicht aufgrund des Frauseins erfolgt, sondern qua des mit dem Frausein faktisch einhergehenden Status der (ökonomischen) Unselbstständigkeit, aus dem man sich faktisch herausarbeiten kann. Jedoch: »[O]ne must nonetheless assume, given everything else he says, that he still means to exclude minors and ›all women‹ from such a possibility« (Pinkard 1999, 167).
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gern ist daher prinzipiell nicht so eigentümlich, wie sie zunächst anmuten mag. Für das Recht auf Auswanderung ist die Unterscheidung sogar irrelevant. Denn für Kant hat der »Untertan« das Recht zur Auswanderung. Man mag der Ansicht sein, dass dies vielleicht zunächst nur ein problematisches Konzept durch ein noch problematischeres zu ersetzen scheint, ist doch der Untertan meist dem ›freien Bürger‹ einer Republik entgegengesetzt. Aber in einer bestimmten Hinsicht sind auch alle Staatsbürger, ob nun passiv oder aktiv, Untertanen: Sie alle sind den Gesetzen unterworfen. Das Recht zur Auswanderung kommt einer Person also qua ihres Status als Untertan der Gesetze zu und ist gerade nicht von der Frage abhängig, ob jemand aktiver oder passiver Staatsbürger ist.
16.2 »[D]er Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« Als Begründung für das Recht auf Auswanderung führt Kant an: »denn der Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« (RL, VI 338). Warum und in welchem Sinne könnte der Staat seine Untertanen aber nicht als sein Eigentum zurückhalten? Kant begreift das Verhältnis des »Beherrschers« zu seinem Volk nicht als eine Frage des Eigentums 352 und damit des Sachenrechts, 353 sondern des »persönlichen Rechts«. Dies scheint aus heutiger Perspektive vielleicht allzu selbstverständlich: Die Bürger von Staaten sind nicht Eigentum ihrer Staaten. Kants Position ist aber dennoch in mindestens zweifacher Hinsicht interessant: Erstens stellt diese Auffassung aus historischer Perspektive zwar keine Neuerung dar, ist aber eine für die damalige Zeit 352 S. »Allgemeine Anmerkung B«: »Das Volk, als die Menge der Untertanen, gehört ihm [dem Beherrscher] auch zu (es ist sein Volk), aber nicht ihm, als Eigentümer (nach dem dinglichen), sondern als Oberbefehlshaber (nach dem persönlichen Recht)« (RL, VI 323). 353 Der Begriff ›Sachenrecht‹ bezeichnet für Kant dabei einerseits – und das ist wohl die geläufigere Bestimmung – die Summe »aller Gesetze, die das dingliche Mein und Dein betreffen«; andererseits »das Recht in einer Sache«, das heißt »das Recht des Privatgebrauchs einer Sache« (RL, § 11, VI 260). Kant kommt es dabei eher auf das letztere Verständnis an, nämlich die Möglichkeit, »jeden anderen Besitzer vom Privatgebrauch der Sache« auszuschließen (ebd., 261).
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zumindest nicht selbstverständliche Haltung. 354 Zweitens wird ihre Tragweite erst deutlich, wenn man nicht nur Kants Absage an die Position, die ansässige Bevölkerung als Eigentum zu betrachten, ernst nimmt, sondern auch Kants Hinweis, dass es sich bei diesem Verhältnis um eines handelt, welches nach dem »persönlichen Recht« zu behandeln sei. Kant schreibt nämlich hinsichtlich des persönlichen Rechts im § 18 der Rechtslehre: Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit der von jedermann gemäß, mithin unrecht sein) (VI 271; Hervorhebung K. R.).
Ein persönliches Recht kann »niemals ursprünglich« erworben werden. Das heißt, es besteht niemals, wie Kant es formuliert, »vor allem rechtlichen Akt der Willkür« (VI 262): Niemand befindet sich je schon in diesem Rechtsverhältnis. Man muss in dieses Rechtsverhältnis eintreten – durch einen rechtlichen Akt der Willkür. Dies gilt auch, so Kant, für die Zugehörigkeit des Volkes zu einem bestimmten »Beherrscher«; denn dieses Rechtsverhältnis wird von Kant als eine Frage des ›persönlichen Rechts‹ und nicht des Sachenrechts verstanden. Auch dieses Rechtsverhältnis besteht also nicht ursprünglich, es muss geschaffen werden. Die Erwerbung eines persönlichen Rechts, schreibt Kant weiter, kann auch »niemals eigenmächtig« erfolgen. Das heißt für das Verhältnis eines Oberhaupts zu seinem Volk, dass dieses Rechtsverhältnis nicht durch einen einseitigen Akt der Willkür zustande kommen kann. Es bedarf vielmehr der wechselseitigen Zustimmung. Alles andere wäre ein Verstoß gegen das »Allgemeine Prinzip des Rechts«, welches Kant in der Einleitung zur Rechtslehre formuliert hat – und welches wir in der Bestimmung des persönlichen Rechts, wie wir sie hier vorfinden, gespiegelt sehen. Das »Allgemeine Prinzip des Rechts« lautet, wie bereits mehrfach zitiert: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Ge354 Vgl. hierzu auch Kants Kritik der gängigen Praxis der Erwerbung von Staaten durch »Erbung, Tausch, Kauf und Schenkung« im zweiten Präliminarartikel von Zum ewigen Frieden: »Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen« (VIII 344) und darf eben nicht wie eine Sache vererbt, getauscht, verkauft und verschenkt werden.
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setze zusammen bestehen kann« (VI 230). Oder, in der Formulierung des zitierten § 18 zum persönlichen Recht: Das »Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann«. Warum Menschen nicht als Eigentum und damit Sachen zu behandeln sind, ließe sich mit Rückgriff auf Kants Moralphilosophie – etwa auf die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs – wohl leicht begründen. Man könnte das Recht auf Auswanderung auch mit Rückgriff auf das eine angeborene Recht auf Freiheit begründen wollen. Nach einer solchen Interpretation wäre das Recht auf Auswanderung eine Befugnis, die bereits im Recht auf Freiheit angelegt ist. Man müsste dann zeigen, dass das Recht auf Freiheit bereits ein Recht auf Freizügigkeit beinhaltet, welches auch ein Recht auf Auswanderung umfasst. Die hier vorgestellte Interpretation hat aber den Vorteil, dass sie ohne die Schwierigkeit auskommt, zulässige und nichtzulässige Grade von Freiheitseinschränkung unterscheiden zu müssen, die, wie verschiedentlich schon zur Sprache kam, hinsichtlich des Rechts auf Freizügigkeit durchaus bestehen. Außerdem scheint mir – und das ist der hier wichtigere Punkt – Kants Konstruktion in der Rechtslehre eine andere zu sein. Dies möchte ich im Folgenden näher erläutern. Kants Rechtsverständnis ist, wie schon mehrfach in dieser Studie betont, im Wesentlichen relational. Der Begriff des Rechts betrifft nach Kant das »praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere« (VI 260). Das Oberhaupt eines Staates kann – wie jede Person – nur mit anderen Personen in Rechtsverhältnisse treten. 355 Wenn das Verhältnis eines Oberhaupts zu seinen Untertanen überhaupt ein Rechtsverhältnis sein soll, dann muss es ein Verhältnis zwischen Personen sein. Er kann sie daher nicht als Sachen betrachten. Sonst würde er gar nicht in einem Rechtsverhältnis zu ihnen stehen können. Auch sein Recht auf sie als seinen Untertanen basiert auf ihrem Personsein, weil es sonst gar kein Recht (im bereits erwähnten relationalen Sinn) wäre.
355 Auch seine Rechte in Sachen würde der »Beherrscher«, in Kants Verständnis, nur gegenüber anderen Personen erwerben. Sie sind keine Verbindlichkeiten, die er gegenüber den Sachen erwirbt, sondern gegenüber anderen Personen. Diesen Gedanken führt er in § 11 der Rechtslehre wie folgt aus: »Es ist aber klar, daß ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als Person, und allen anderen äußeren Dingen, als Sachen, es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt«.
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Wie ist nun also dieses »könnte« in »denn der Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« zu verstehen? Die Aussage »denn der Staat könnte ihn nicht als sein Eigentum zurückhalten« erweist sich als normativ: Der Staat könnte sehr wohl faktisch seine Untertanen oder Bürger an der Auswanderung hindern. Ein solches Verhalten wäre aber Unrecht – und dies eben nicht nur in dem Sinne, dass es gegen das Recht wäre: Würde der Staat seine Untertanen als Eigentum betrachten, dann würde er sich in überhaupt keinem Rechtsverhältnis zu ihnen befinden. 356 Dem Recht auf Auswanderung korrespondiert eine Pflicht des Staates, dieses Recht zu gewähren. Eine Nichterfüllung der Unterlassungspflicht, sie nicht an der Auswanderung zu hindern, wäre ein Verstoß gegen die Grundlage des Verhältnisses von Staat und Untertanen. In Kants Begründung des Rechts auf Auswanderung ist also nicht das angeborene Freiheitsrecht entscheidend, sondern der Rechtscharakter des Verhältnisses eines Staates zu seinen Untertanen. Die Rechtsförmigkeit dieses Verhältnisses ist nur denkbar, wenn Letztere nicht als Sachen, sondern Personen behandelt werden.
16.3 Recht auf Auswanderung ohne Recht auf Einwanderung? Kant ist also der Ansicht, dass Staaten ihren Bürgern das Recht auf Auswanderung gewähren müssen, während er gleichzeitig davon ausgeht, dass für Einzelpersonen kein Recht auf Einwanderung besteht. In der gegenwärtigen politischen Philosophie wird dies häufig als moralische Asymmetrie von Aus- und Einwanderung bezeichnet. 357 Nach Tan ist aber ein solches »right to emigrate from a country without a corresponding right to immigrate a country a facile right«
356 Nun könnte man jedoch weitergehend fragen, warum sollte jemanden an der Auswanderung zu hindern überhaupt dem gleichkommen, was hier als »ihn […] als sein Eigentum zurückhalten« bezeichnet wird? Könnte man dieses Verhalten nicht auch anders – vielleicht positiver – interpretieren? Wäre es nicht denkbar, dass eine Regierung ihre Bürger daran hindert auszuwandern, um sie zu schützen und damit gerade ihren Pflichten gegenüber ihren Bürgern nachkommt? Auch wenn Kant diese Frage nicht eigens diskutiert, lässt sich eine zumindest mögliche Antwort leicht rekonstruieren: Ausgehend von Kants genereller Haltung zu paternalistischen Überlegungen von Regierenden müsste man wohl davon ausgehen, dass eine solche Position schwer mit Kant vereinbar wäre. 357 S. etwa Walzer (1983, 39).
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Recht auf Auswanderung ohne Recht auf Einwanderung?
(Tan 1998, 293). Tan hat dieses Problem mit Hinblick auf Rawls Schrift The Law of Peoples benannt, aber warum sollte man es nicht genauso an Kant herantragen? 358 Was nützt schon ein Recht, welches es mir erlaubt, mein Land zu verlassen, wenn es keinen Ort gibt, an dem ich ankommen kann, wenn ich kein Recht auf Zu- und Einwanderung irgendwo anders habe? In der Literatur sind vielfältige Antworten gegen diesen Einwand vorgebracht worden: Rawls selbst versucht sich an einer zugebenermaßen recht kurzen Antwort, in dem er das Recht auf Auswanderung mit anderen für ihn ähnlichen Rechtskonstellationen vergleicht. 359 Miller verweist darauf, dass aus dem Recht auf Auswanderung kein Recht auf universale Freizügigkeit folgt und damit auch keine generelle Verpflichtung von Staaten, Einwanderung zu erlauben. 360 Christopher Wellman macht die bereits diskutierte freedom of association stark, um zu zeigen, dass es nicht inkonsistent sei, gleichzeitig freie Auswanderung sowie innerstaatliche Bewegungsfreiheit zu fordern und Einwanderung zu begrenzen (2008, 136). Man könnte nun der Versuchung erliegen, Versatzstücke dieser oder ähnlicher Ansätze heranzuziehen, um Kants Position zu stärken. Diesen Weg möchte ich hier aber nicht weiterverfolgen. Denn man kann die Opposition auch auflösen, indem man sich der Frage zuwendet, welches argumentative Ziel Kant in der Rechtslehre verfolgt – und was diese beispielsweise von Rawls’ The Law of Peoples unterscheidet. Mein Vorschlag basiert wieder auf dem Grundgedanken, dass für Kant die Pflichten primär sind. Mit unserer Fähigkeit, Pflichten zu übernehmen, bringen wir uns als moralische Wesen in diese Welt. Den legitimatorischen Ausgangspunkt bildet damit die Person als Träger von Pflichten, nicht von Rechten. Die Grundfrage der praktischen Philosophie Kants lautet: Was soll ich tun? Im Rahmen der Rechtsphilosophie lautet sie: Was soll ich tun mit Blick auf meine äußeren Handlungen?
358 Zur Diskussion des Rechts auf Auswanderung bei Rawls vgl. auch Cabrera (2001, 170–173). 359 »It may be objected that the right of emigration lacks a point without the right to be accepted somewhere as an immigrant. But many rights are without point in this sense: to give a few examples, the right to marry, to invite people into one’s house, or even to make a promise. It takes two to make good on these rights« (Rawls 1999, 74). 360 Vgl. die Ausführungen zu diesem Punkt in Kapitel 2.3.2 der vorliegenden Studie.
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In der politischen Philosophie spielen nun neben den natürlichen Personen auch nichtnatürliche Personen, wie eben Staaten, eine Rolle. Es handelt sich bei ihnen um selbstständige Akteure, die rechtsfähig sind. Auch mit Hinblick auf diese nichtnatürlichen Personen scheint im Rahmen der politischen Philosophie Kants zu gelten, was für die natürlichen Personen in der Moralphilosophie gilt. Die primäre Frage lautet: Welche Pflichten haben diese juridischen Akteure gegenüber anderen und sich selbst? Wann handeln sie rechtmäßig? Und das heißt nicht nur in Übereinstimmung mit irgendeinem positiv gesatzten Recht, sondern in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Rechts überhaupt. Die dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten stellen, wie wir bereits in Kapitel 13.3 und 14.3.2 gesehen haben, einen Teil der Antwort auf diese Frage dar: Wie muss sich ein Staat verhalten, um legitim zu agieren? Auf dem Spiel steht also die Rechtmäßigkeit des Staates überhaupt. Wie lässt sich dieser Grundgedanke nun auf das hier zu verhandelnde Problem anwenden? Wenn die Rechtslehre die Perspektive einnimmt, Antworten auf die Frage zu liefern, wie sich etwa mit Hinblick auf das Staatsrecht ein Staat verhalten muss, damit er ein legitimer, d. i. rechtmäßiger, Staat ist, dann kann dieser Staat zunächst nur ein allgemeines Recht auf Auswanderung garantieren, nicht jedoch ein Recht auf Einwanderung in einen anderen Staat. Jedoch muss der Einzelstaat auch die Einhaltung des Weltbürgerrechts garantieren, d. h. er darf keinen Fremden nur aufgrund seiner Ankunft auf dem Staatsterritorium feindselig behandeln und er darf diesen nicht abweisen, sollte dies seinen Untergang bedeuten – allerdings nicht unter der Aufgabe der wohlbegründeten Grenzen des Weltbürgerrechts, deren Relevanz durch die Unrechtmäßigkeit des Kolonialismus herausgestellt wird. Es ist also nicht das Nichtvorhandensein eines Rechts auf Einwanderung, welches im Widerspruch zum Weltbürgerrecht steht. Es wäre vielmehr so, dass gerade die Annahme eines solchen Rechts in Widerspruch zum Weltbürgerrecht stehen würde. Es hat sich also gezeigt, dass das Recht auf Auswanderung – anders als für viele gegenwärtige Theorien – bei Kant keine Fehlstelle darstellt. Außerdem liefert es einen interessanten Parallelfall zur Begründung des Weltbürgerrechts: Auch hinsichtlich des Rechts auf Auswanderung könnte man zunächst vermuten, dass seine Begründung im einen angeborenen Recht auf Freiheit zu suchen ist. Es zeigt 282
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Recht auf Auswanderung ohne Recht auf Einwanderung?
sich aber, dass eine Konstruktion, die die Pflichten eines Staates gegenüber seinen Untertanen betont, mindestens genauso tragfähig ist. Eine solche Konstruktion umgeht auch das vermeintliche Asymmetrie-Problem, wie es in der gegenwärtigen Debatte um Migration diskutiert wird.
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17. Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
Bislang haben wir uns in dieser Arbeit auf jene Schriften Kants konzentriert, die eher der politischen Philosophie bzw. Rechtsphilosophie als der Moralphilosophie im engeren Sinne zuzurechnen sind. Wir haben uns entsprechend vorrangig mit Fragen beschäftigt, die zum Inhalt haben, welche Rechte Personen besitzen, und welche Rechtspflichten diesen Rechten gegenüberstehen. Bekanntermaßen kennt Kant aber nicht nur Rechtspflichten, sondern auch Tugendpflichten. Ein Bild dessen, was Kant zu den Fragen der gegenwärtigen Debatte um Migration sagen könnte, wäre daher nicht vollständig ohne eine Behandlung der Tugendpflichten. Diese und ihre Implikationen für die gegenwärtige Debatte werden im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen. Zunächst wird erläutert werden, was Kant unter Tugendpflichten versteht (Kap. 17.1). Dabei werde ich den Schwerpunkt auf jene Aspekte legen, die für die Migrationsdebatte von Relevanz sind. Anschließend wird herausgestellt, welche Anwendungen Kants Tugendpflichten innerhalb der Migrationsdebatte finden können und wie sie das bisher herausgearbeitete Bild komplettieren. Dabei werde ich den Fokus auf folgende Themenkomplexe richten: Welche individuellen Verpflichtungen kennt Kant gegenüber Personen in Not – wie beispielsweise Flüchtlingen? Hierbei werden das Gebot aus der Grundlegung, gegenüber fremder Not nicht gleichgültig zu sein, und die Verpflichtung zur Wohltätigkeit aus der Tugendlehre im Zentrum stehen (Kap. 17.2). Ein besonderes Augenmerk mit Hinblick auf die Flüchtlingsproblematik wird dabei auf der Bemerkung Kants zur ›Wohltätigkeit des reichen Mannes‹ in der Tugendlehre liegen (Kap. 17.3). Weiterhin ist zu untersuchen, welche anderen individuellen Pflichten gegebenenfalls für die gegenwärtige Debatte relevant sind. Dabei werden auch die Umgangstugenden eine Rolle spielen, die zu einer allgemeinen kosmopolitischen Haltung auffordern und zur Gastfreiheit verpflichten (Kap. 17.4).
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Zum Begriff der Tugendpflicht
17.1 Zum Begriff der Tugendpflicht Die Tugendpflichten sind schon an verschiedenen Punkten dieser Studie zur Sprache gekommen, wurden bislang aber immer nur in ihrem Verhältnis zu den Rechtspflichten und zu deren genauerer Bestimmung diskutiert (s. Kap. 8.1 u. Kap. 8.2). Im Folgenden soll daher eine genauere Bestimmung der Tugendpflichten selbst vorgenommen und ihre Relevanz für die gegenwärtige Debatte um Migration offengelegt werden. 361 Die Tugendlehre betrifft im Gegensatz zur Rechtslehre jenen Teil der Pflichten, die keiner äußeren Gesetzgebung fähig sind (TL, VI 379; auch schon RL, VI 239). 362 Sie bezieht sich auf die innere Gesetzgebung der »Menschen als vernünftige Naturwesen«, d. h. als Wesen, die qua ihrer Ausstattung mit Vernunft zur Einsicht in das Moralgesetz in der Lage sind. Gleichwohl kann den Menschen als Naturwesen »die Lust wohl anwandeln« (TL, VI 379), d. h. er kann sich in einem Widerstreit von Vernunft und Neigung befinden. Der Begriff der Pflicht beschreibt nun jenen Selbstzwang, den sich der Mensch als freies und damit zugleich auch moralfähiges Wesen durch die Vorstellung des Moralgesetzes auferlegt (vgl. u. a. TL, VI 380). Nach Kant korrespondiert aller »Pflicht […] ein Recht, als Befugnis […] betrachtet, aber nicht aller Pflicht korrespondieren Rechte eines anderen […], jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders Rechtspflichten« (VI 383). Wenn ich eine Pflicht habe, etwas zu tun, muss davon auszugehen sein, dass ich auch befugt bin, dies zu tun. Wenn jemand anderes darüber hinaus das Recht hat, mich zu jener Handlung zu zwingen, die auszuführen ich verpflichtet bin, dann handelt es sich bei der betreffenden Pflicht um eine Rechtspflicht. »Die Tugendpflicht ist« daher für Kant »von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht« (VI 383). 363 Tugendpflichten sind jene ethischen Verbindlichkeiten, die die Verfolgung eines Zwecks betreffen: »Nur ein Zweck, der zugleich 361 Zur Systematik der Pflichten in Kants Metaphysik der Sitten vgl. Ludwig (1990, XXII), Gregor (1990) und Rosen (1993), auch Alves (2010). 362 Zum Begriff der Tugendlehre bei Kant s. auch Mieth (2015a). Zu Kants Tugendlehre s. Sherman (1997), Esser (2003), Betzler (2008a), Baxley (2010), Jost/Wuerth (2011), Sensen/Timmermann/Trampota (2013) und Höffe (2019). 363 Zum Begriff der Tugendpflicht s. auch Mieth (2015b).
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Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden« (ebd.). Jedoch geht es dabei nicht um Zwecke, »die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht«, sondern um Gegenstände der freien Willkür, die »er sich zum Zweck machen soll« (VI 385). 364 Tugendpflichten betreffen moralische Zwecke: Denn, da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwieder sein können, so kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß« (VI 380 f.).
Von diesen Zwecken, die zugleich Pflicht sind, gibt es für Kant zwei, die freilich verschiedene Pflichten unter sich haben: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit (VI 385). Diese Zwecke zu verfolgen ist zugleich Pflicht. Da der Umsetzung unserer Pflichten zahlreiche Hindernisse entgegenstehen, erfordert nach Kant der erfolgreiche Vollzug Tugend. Sie ist für ihn das Vermögen und der Vorsatz, der es den Menschen ermöglicht, jenen dem Moralgesetz widerstrebenden Kräften zu widerstehen. Kant bezeichnet sie daher auch als fortitudo moralis, also als moralische Stärke bzw. wörtlich als moralische Tapferkeit: »Nun ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun, die Tapferkeit (fortitudo) und, in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns, Tugend (virtus, fortitudo moralis)« (VI 380). 365 Hier zeigt sich schon eine gewisse Schwierigkeit der Einordnung der Tugendlehre in Kants Moralphilosophie: Beschreibt die Tugendlehre ein System der »inneren Gesetzgebung«? Nach dieser Lesart wären Moralität und Tugend koextensiv. 366 Oder behandelt die Tugendlehre eher, wie der Vergleich mit der Tapferkeit anklingen lässt, jene Maßnahmen, die das Vermögen und den Vorsatz befördern, je364 Vgl. hierzu Kants Definition eines Zwecks: »Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird« (TL, VI 384). 365 Kant beschreibt auch im weiteren Verlauf des Textes der Tugendlehre die Tugend als »die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht« und fährt fort: »Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen« (VI 394). Vgl. auch: »Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschens in Befolgung seiner Pflicht« (VI 405). 366 Nach den Regeln der Tugendlehre handeln – sich also die richtigen Zwecke zur Pflicht machen – hieße dann, moralisch zu handeln.
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nen Kräften Widerstand zu leisten, die in uns dem Moralgesetz entgegenwirken? 367 Für beide Lesarten lassen sich eine Reihe von Belegen anführen. 368 Diesen textlichen und systematischen Schwierigkeiten zum Trotz bleibt festzuhalten, dass die Tugendpflichten die Rechtspflichten um Individualpflichten ergänzen, die über das strikt Geschuldete hinausgehen. Unsere Verpflichtungen gegenüber anderen lassen sich nach Kant nicht allein auf das reduzieren, worauf andere ein Recht haben. Dies fügt der gegenwärtigen Debatte, die sich bislang auf die Rechte von Menschen, die einwandern wollen, und die Rechte von politischen Gemeinschaften, diese Menschen gegebenenfalls auszuschließen, beschränkte, einen wichtigen Aspekt hinzu. Denn nach Kant können wir auch Verpflichtungen haben, denen keine Rechte anderer korrespondieren.
367 Nach dieser Lesart kann ein hohes Maß an Tugendhaftigkeit moralisches Handeln befördern, gegebenenfalls in einem gewissen Sinne sogar erleichtern. Moralität und Tugend bleiben aber grundverschieden. 368 Für die erste Lesart spricht etwa, dass Kant schreibt, dass die Tugendlehre jener Teil der allgemeinen Pflichtenlehre sei, »der nicht die äußere Freiheit, sondern die innere unter Gesetze bringt« (VI 380). Später führt er aus, »daß die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann« (VI 383). Dies könnte man durchaus so verstehen, dass Moralität (für Menschen) mit Tugendhaftigkeit gleichzusetzen ist. Was hier aber gemeint ist, scheint etwas anderes zu sein: Wie Kant bereits in der Kritik der praktischen Vernunft ausgeführt hat, kann ein Mensch nie mit Sicherheit die eigene Moralität einschätzen. Er ist nicht in der Lage zu sagen, ob er nur pflichtgemäß oder aus Pflicht gehandelt hat. So weit reicht nach Kant die menschliche Introspektion nicht. Diese Einschätzung vermag nur der »Herzenskünder« zu treffen. Daher kann der Mensch sich nur tugendhaft verhalten mit dem »aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenen Bewußtsein des Vermögens […] über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden« (ebd.). Die Aussage, »daß die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann« (VI 383), würde dann bedeuten, dass der Mensch nicht in der Lage ist, mehr als Tugend zu erreichen, da ihm die Einsicht in seine eigene motivationale Situation unmöglich ist. Er muss Tugend anstreben, um womöglich doch moralisch zu sein. Ob er aber letztlich moralisch gehandelt hat, weiß er nicht zu sagen. Für die zweite Lesart spricht etwa, dass Kant die Tugendlehre von der Sittenlehre abgrenzt. Heilige Wesen, d. h. Wesen, die keine Neigungen haben, bedürfen keiner Tugendlehre, da sie immer dem Moralgesetz folgen (VI 383). Hiernach wären Moralität und Tugendhaftigkeit unterschieden. Ein Mensch braucht die Tugendlehre, um sich gegen die Neigungen zu wappnen. Ein heiliges Wesen bedarf dieser nicht. Die Sittenlehre würde nach dieser Lesart das System der inneren Gesetzgebung darstellen; die Tugendlehre jene Maßnahmen, die den Vorsatz und das Vermögen zum moralischen Handeln bestärken.
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Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
Für Kant müssen also, anders gesagt, nicht alle Fragen nach der (moralisch) richtigen Behandlung von Menschen auf Fragen der Gerechtigkeit reduziert werden. Gleichzeitig sind nicht alle moralischen Verpflichtungen allein personale Verpflichtungen. Dies ist wichtig aus mindestens vier Punkten: Erstlich gibt es Bereiche, die aus (rechts-)moralischen Gründen nicht durch zwangsbefugte Regularien zu regeln sind, beispielsweise weil sie damit in Bereiche der Gewissensfreiheit vordringen würden, die nicht Gegenstand des Rechts sind – und auch nicht sein sollten. Hier setzt Kants Rechtsbegriff seiner eigenen Anwendung Grenzen: »Der Begriff des Rechts […] betrifft […] nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere« (RL, VI 230). Weiterhin würde eine Beschränkung auf Rechtspflichten in Kants Begriffen nur Legalität, jedoch keine Moralität erlauben: Einerseits hieße dies, dass lediglich bestimmte äußere Handlungen (moralisch) gefordert wären, ein »pflichtgemäßes« Handeln, nicht jedoch ein Handeln »aus Pflicht«, ein Handeln aufgrund bestimmter Maximen. Die Reduktion unserer moralischen Verpflichtungen auf Rechtspflichten würde andererseits aber auch bedeuten, dass jegliche moralische Verpflichtung zwangsbefugt wäre. Ein totalitärer Moralismus wäre die Konsequenz. Die Ergänzung der Rechtspflichten um Tugendpflichten ist außerdem auch deshalb sinnvoll, weil selbst eine gerecht eingerichtete Gesellschaft in Einzelfällen versagen kann und Menschen dann auf die Hilfe anderer angewiesen sind – auch jenseits des strikt Geschuldeten. Tugendpflichten können daher auch ein gesellschaftliches wie systematisches safety net darstellen: Sie können die Hilfeleistung da sicherstellen, wo staatliche Systeme sie (zeitweilig) nicht gewährleisten. Schließlich können Menschen immer auch unabhängig von der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der sie umgebenden Umstände, sogar unabhängig von den Handlungen anderer Personen, Opfer von Notsituationen werden. Es ist also nicht einmal das Versagen der eigentlich gerechten Strukturen notwendig, um der Hilfe anderer bedürftig zu werden. Auch hier vermögen die Tugendpflichten, vor allem die Pflicht zur Wohltätigkeit, eine systematische Lücke zu schließen. 369 369 Zu den letzten beiden Punkten vgl. auch O’Neill: »[H]uman action is vulnerable even when just institutions and policies have been established. It remains vulnerable
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Hilfspflicht und Pflicht zur Wohltätigkeit
Ein Ansatz wie derjenige Kants, der nicht nur Rechtspflichten, sondern auch Tugendpflichten kennt, der also weder Gerechtigkeit auf Wohltätigkeit noch Wohltätigkeit auf Gerechtigkeit reduziert, vermag diesen Herausforderungen zu begegnen. 370 Welche Verpflichtungen jenseits der »geschuldeten Moral« 371 kennt Kant also, und welche sind für den hier verfolgten Zusammenhang relevant?
17.2 Hilfspflicht und Pflicht zur Wohltätigkeit Kant unterscheidet in der Tugendlehre die Tugendpflichten gegen andere in »Pflichten gegen andere, bloß als Menschen« und »Pflichten gegen andere nach Verschiedenheit ihres Zustandes«. Die »Pflichten gegen andere, bloß als Menschen« unterteilt er wiederum in die Liebespflichten, 372 derer er drei – Wohltätigkeit, Dankbarkeit und Teilnehmung 373 – diskutiert, und die Tugendpflichten aus Achtung. Während zu Beginn der gegenwärtigen Diskussion um Migration Fragen der Gerechtigkeit eine größere Rolle spielten und die Frage nach Zuwanderung und Abweisung als eine Frage der Gerechtigkeit behandelt wurde (Kap. 2), sind interessanterweise in den jün-
both because the practice of just institutions may fall short of their principles and because even those who live in circumstances of justice are often unable to act without other’s help« (1986, 141). Zur Frage, warum ein liberaler Ansatz sich nicht allein auf Fragen der Gerechtigkeit konzentrieren, sondern auch Raum für »unvollkommene Pflichten« lassen sollte, insbesondere für Wohltätigkeit, vgl. auch O’Neill (1989, 219–233). 370 Es ist freilich nicht so, dass Kants Rechtspflichten allein Fragen der gegebenenfalls sogar auf die distributive Gerechtigkeit reduzierten Gerechtigkeitsverpflichtungen betreffen. Kants Rechtspflichten umfassen weit mehr. Auch betreffen die Tugendpflichten nicht allein Hilfspflichten oder Verpflichtungen zur Wohltätigkeit. Auch hier ist Kants Problembewusstsein weiter. Die Reduktion von Gerechtigkeitsfragen auf Fragen der distributiven Gerechtigkeit und die Reduktion der Frage nach über Gerechtigkeit hinausgehenden Verpflichtungen auf Fragen nach vorhandenen Hilfspflichten ist eher ein Merkmal der Debatten in der gegenwärtigen politischen Philosophie. 371 Zum Begriff der geschuldeten Moral vgl. auch Höffe (52015, Kap. II.2). 372 Zu einer umfassenden Interpretation der Liebespflichten bei Kant und eine Diskussion, der mit ihnen einhergehenden systematischen Schwierigkeiten, s. Baron (2002), Horn (2008b) Schönecker (2013) und Reinhardt (2019a). 373 Horn weist zu Recht darauf hin, dass in der Grundlegung sowie der Kritik der praktischen Vernunft Teilnehmung und Dankbarkeit als Liebespflichten nicht auftauchen, sondern Kant sich auf die Wohltätigkeit beschränkt (2008b, 149). Migration und Weltbürgerrecht
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Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
geren Beiträgen die Hilfspflichten deutlicher in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt. Die Verpflichtungen, die Staaten gegenüber einwanderungswilligen Personen haben, werden nicht mehr primär als eine Frage der Gerechtigkeit diskutiert, sondern zunehmend als eine Frage der Wohltätigkeit. 374 Auch aus diesem Grund bietet es sich an, einen genaueren Blick auf Kants Konzeption der Hilfspflicht und der Pflicht zur Wohltätigkeit zu werfen. Das Gebot, gegen fremde Not nicht gleichgültig zu sein, erörtert Kant bereits innerhalb des zweiten Abschnitts der Grundlegung, als eines der vier Beispiele zu den vollkommenen und unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Die Pflicht zur Hilfe bildet dabei das vierte Beispiel und stellt eine unvollkommene Pflicht gegen andere dar. 375 Kant erläutert hier, dass ich es nicht wollen kann, dass ein jeder gegen fremde Not gleichgültig sei: »Denn ein Wille, der dies beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf« (GMS, IV 423). Die eigennützige Maxime »Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Not habe ich nicht Lust etwas beizutragen!« (ebd.) lässt sich nicht widerspruchsfrei universalisieren. Zwar ist eine Welt, in der alle dieser Maxime folgen, denkmöglich, d. h. die Verallgemeinerung der Maxime lässt sich zwar widerspruchsfrei denken, widerspruchsfrei wollen lässt sie sich aber nicht. Mein Bedürfnis nach Hilfe in Notsituationen lässt sich nicht mit meinem Bedürfnis, anderen in Not nicht zu helfen, vereinbaren: Wäre meine Maxime die Maxime aller, würde ich mich selbst der Möglichkeit von Hilfe in Notsituationen berauben. 376 In der Tugendlehre erklärt Kant dann, dass es die Pflicht eines 374 Vgl. Hoesch (2016), Imhoff (2016), Twele (2016). Brezger sieht die normative Grundlage der Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen in unvollkommenen Hilfspflichten, die erst im Rahmen »eines koordinierten Handelns« der Staatengemeinschaft in vollkommene Pflichten »verwandelt« werden (2016). Eine Ausnahme bildet beispielsweise Cassee (2016). Zur »Überführung von Hilfspflichten in Rechte« s. Ott (2016). 375 Für eine Übersicht über die fünf geläufigen Interpretationsansätze s. Horn/Mieth/ Scarano (2007, 231–239). 376 Für eine ausführliche Interpretation des Arguments für die Hilfspflicht in der Grundlegung s. Herman (1993, 45–72).
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Hilfspflicht und Pflicht zur Wohltätigkeit
jeden Menschen ist, wohltätig zu sein, und dies hieße, »anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein« (TL, VI 453). 377 Interessanterweise rekurriert er hier in der Begründung dieser Pflicht zusätzlich auf das Prinzip der Öffentlichkeit. 378 Er schreibt: Denn jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, […] so würde ihm, wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen oder wenigstens zu versagen befugt sein (ebd.).
In beiden Fällen hebt Kant hervor, dass die Hilfe im Verhältnis zu den Möglichkeiten der betreffenden Person stehen muss: Man muss helfen, wenn man dazu in der Lage ist (»denen er auch wohl helfen könnte« GMS, IV 423), und entsprechend der eigenen Fähigkeiten und zur Verfügung stehenden Mittel (»nach seinem Vermögen«, TL, VI 453). Hieran schließt sich die Frage an: »Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben?«, die Kant dann auch sogleich als erste der kasuistischen Fragen, die er der Erläuterung der Pflicht zur Wohltätigkeit folgen lässt, nennt. Und er führt danach – halb antwortend, halb fragend – aus: »Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohltätigkeit bedürftig würde« (VI 454). Die Grenze meiner Wohltätigkeit liegt für Kant dort, wo ich durch meine Hilfsversuche selbst hilfsbedürftig werde: Ich muss nicht ins Meer springen, um den Ertrinkenden zu retten, wenn ich selbst nicht 377 Zum Begriff der Wohltätigkeit bei Kant s. auch die Diskussion bei Herman (1993, 45–72), Waldron (1986), Hill (2002, 99–124). 378 Es wird zunehmend wahrgenommen, dass die Tugendlehre im Vergleich zur Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit durch die Kant-Forschung erfahren hat (vgl. zu dieser Einschätzung auch Betzler 2008b, 8). Dies beginnt sich in den letzten Jahren zu ändern, vgl. hierzu etwa die Sammelbände, herausgegeben von Timmons (2002), Betzler (2008), Jost/ Wuerth (2011), Timmermann/Sensen/Trampota (2013) und Höffe (2019) sowie die Monographie von Esser (2004); weiterhin freilich die frühere Arbeite von Sherman (1997). Gleichwohl wird noch zu selten aufmerksam untersucht, wie Kant seine Positionen von der Grundlegung hin zur Metaphysik der Sitten ausgebaut, zum Teil aber auch modifiziert hat (Betzler 2008b, 8). Das Gebot, gegenüber fremder Not nicht gleichgültig zu sein, und die Pflicht zur Wohltätigkeit stellen hier keine Ausnahme dar. Skeptisch hinsichtlich der Einschätzung, dass Kant seine moralphilosophische Position von der Grundlegung hin zur Tugendlehre modifiziert hat, ist dagegen Horn (2008b).
Migration und Weltbürgerrecht
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Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
schwimmen kann. Gleichwohl habe ich die Pflicht, in einem solchen Fall Hilfe herbeizuholen. 379 Einzuschätzen, welche Mittel die angemessenen sind, auch ab wann ich durch meine Hilfe meine eigenen Kräfte und Fähigkeiten übersteigen würde, darüber hinaus zunächst zu wissen, wer überhaupt meiner Hilfe bedarf, ist durchaus schwierig. Die Antworten auf diese Fragen hängen von der jeweiligen konkreten empirischen Situation ab und verlangen in ihrer Beantwortung empirisches Wissen und Augenmaß. Dieses aber auszubilden, bzw. sich anzueignen, ist nach Kant ebenfalls Pflicht. Auch wenn sich an Kants Untersuchung der Hilfspflichten viele kasuistische und auch systematische Fragen anschließen ließen, bleibt festzuhalten, dass gegen fremde Not gleichgültig zu sein nie moralisch sein kann. Damit kommen wir auch wieder auf das Thema Flucht und Migration zurück, denn dies heißt auch: Menschen, die auf offener See treiben, sind zu retten. Für diese Verpflichtung ist es unerheblich, wie sie dort hingeraten sind, ob freiwillig oder unfreiwillig, wer die Verantwortung für ihre Situation trägt, auf welche Fluchtgründe sie verweisen könnten oder dergleichen. Auch Menschen, die vor Hunger, Krieg, Vertreibung fliehen, ist zu helfen – zunächst durch akuten Schutz und Versorgung. Hierfür ist es ebenfalls unerheblich, ob sie ein ›Recht auf Einwanderung‹ haben oder nicht: Ich habe die Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen. Für diese Verpflichtung ist es irrelevant, auf welche Rechte sich die Menschen, die der Hilfe bedürfen, berufen könnten. Die Verpflichtung, Menschen in Not wie etwa Flüchtlingen ›zu helfen‹, besteht dabei also gewissermaßen zweifach: Nach dem Weltbürgerrecht besteht eine (negative) Pflicht zur Nichtabweisung, nach der Tugendpflicht der Wohltätigkeit ist aber auch jeder Einzelne (positiv) zu Hilfsbereitschaft verpflichtet. 380 379 Als ›wie weit‹ und ›wie verbindlich‹ die unvollkommenen Pflichten zu betrachten sind, ist Gegenstand umfangreicher Debatten, die hier nicht entschieden werden können und für den gegebenen Zusammenhang auch nicht entschieden werden müssen: S. hierfür etwa Hill (1971 u. 2002, 201–243), Baron (1995) und Cummiskey (1996); aber auch Vogt (2008). Zur Frage, auf welche Weise eine Pflicht »unvollkommen« sein kann, s. O’Neill (1989, 224 f.). 380 Verschiedentlich ist auch herausgearbeitet worden, dass wenn Kants Rechtsphilosophie auf Fragen der distributiven Gerechtigkeit angewandt werden würde, Kant stärkere Verpflichtungen zu staatlicher Hilfe zur Deckung der Grundbedürfnisse, anerkennen müsste, als er das selbst getan hat: s. hierzu Rosen (1993, 173–208), Guyer (2000, 235–261), Holtman (2006). Zur Frage, ob Sozialstaatlichkeit mit Kant zu ver-
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Die Wohltätigkeit des »reichen Mannes«
Ob auch Staaten als nichtnatürliche oder in Kants Worten »moralische Personen« analog zu natürlichen Personen eine Verpflichtung zur Wohltätigkeit haben, ist verschiedentlich diskutiert worden. 381 Diese Frage ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass sich die Pflichten gegenüber Menschen in Not wie etwa Flüchtlingen nicht allein in den Rechtspflichten erschöpfen, sondern dass die Rechtspflichten von Tugendpflichten flankiert werden, etwa in Form der Verpflichtung zur Wohltätigkeit. Diese kann sehr unterschiedlich ausgestaltet werden. Sie kann darin bestehen, jene zu retten, die in Seenot geraten sind. Sie kann in ehrenamtlicher medizinischer Versorgung bestehen. Sie kann im Sprachunterricht für jene bestehen, die nun in einem anderen Land Fuß fassen müssen. 382
17.3 Die Wohltätigkeit des »reichen Mannes« Doch jede und jeder Helfende ist nach Kant kritischen Nachfragen ausgesetzt: Kant unterstreicht, dass »das Vermögen wohlzutun«, da es »von Glücksgütern abhängt«, d. h. nicht allein von meinem Vorsatz und meiner Bereitschaft zur Hilfe, sondern auch von meiner tateinbaren ist, vgl. auch Gerhardt (1989, 44 f.) und von der Pfordten (2011, 414 f.). Auch Wood unterstützt die Position, dass Kant auch massiver Umverteilung von Wohlstand nicht kritisch gegenüberstehen würde (2008, 193–205). Vgl. zu diesen Fragen auch O’Neill (1986). 381 Vgl. hierzu etwa Rosen: »The state cannot force any individual to accept a duty of benevolence, because this duty requires the voluntary adoption of an end from the motive of duty. Nevertheless, such a prohibition does not imply that the state may not have its own duty of benevolence, for in Kant’s view the state is a moral person, and is thus as capable of having its own moral duties as any other moral agent« (1993, 191). Es gibt freilich auch Punkte, die gegen diese Lesart sprechen könnten. Um nur ein paar Stichworte zu nennen: Kants Ablehnung von paternalistischer Politik, der Umstand, dass sich aus Glückseligkeit keine Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen und damit auch keine Rechtsprinzipien, die Wohlfahrt Einzelner, die vor einem Universalisierungsproblem steht, die unterschiedliche Konzeption des Willens von Personen und des Willens von Staaten. Mit diesen und anderen Schwierigkeiten müsste eine Interpretation, die Staaten als moralischen Personen Tugendpflichten zuschreiben möchte, umgehen. 382 Es ist interessant, dass Ott vom Recht und nicht von der Pflicht zu helfen spricht: »[J]ede Bürgerin hat das Recht, zusätzliche moralische Leistungen zu erbringen, etwa für Flüchtlinge zu spenden, Sprachunterricht zu erteilen oder Personen in der eigenen Wohnung aufzunehmen« (2016, 14). Migration und Weltbürgerrecht
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sächlichen Ausstattung mit den Mitteln zur Hilfe – beispielsweise mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten – und diese sei »größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die Anderer Wohltätigkeit notwendig macht, einführt« (TL, VI 454). 383 Kant stellt also klar, dass die Wohlstandsunterschiede, die die Hilfe ermöglichen, diese oft gleichzeitig überhaupt erst notwendig machen. Die Wohlstandsunterschiede selbst sei dabei meistens Ausdruck einer politischen Ungerechtigkeit, die einzelne Menschen bevorteilt. Es folgt die rhetorische Frage: »Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?« (ebd.). Man kann diese Frage, auf zwei Weisen verstehen. Einerseits könnte man die Betonung auf den Nebensatz »mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet« legen: Diese Wohltätigkeit kostet den Reichen (fast) nichts und sei daher auch nicht als Verdienst zu betrachten. Es handele sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um ein »verdienstliches« Mehr. Andererseits kann man die Betonung auch auf den Hauptsatz legen: »Verdient unter solchen Umständen der Beistand […] wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit […]?« Dies hieße, dass es sich hier eigentlich überhaupt nicht um Wohltätigkeit handelt: Unter den beschriebenen Umständen sind die Glücksgüter ungerecht verteilt. Durch den vermeintlich wohltätigen Akt wird den Armen nur das zuteil, worauf sie von jeher schon einen Anspruch haben. Oder in anderen Worten: Unter den beschriebenen Umständen, die einige systematisch bevorteilen, haben wir es eigentlich nicht mit Verpflichtungen der Wohltätigkeit zu tun, sondern mit einer Frage distributiver Gerechtigkeit. Letztlich ist vermutlich beides zutreffend: Die Umverteilung von Gütern, die ungerechterweise erworben wurden, kann nicht als Wohltätigkeit bezeichnet werden, auch wenn diese Verteilung nun freiwillig und zum Vorteil der Armen vorgenommen wird. Sie stellt daher auch kein »verdienstliches Mehr« dar. Mit Hinblick auf Flucht383 S. hierzu auch den Artikel von Müller »Zu Gast beim reichen Mann. Wer die Wurzeln der Willkommenskultur sucht, sollte Kant lesen – und Enttäuschungen verkraften« in der Süddeutschen Zeitung vom 07. 09. 15, S. 39.
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Teilnehmung, Dankbarkeit und weltbürgerliche Gesinnung
bewegungen hieße dies, die Hilfe gegenüber Menschen, die durch ein System, welches einige systematisch ungerecht bevorteilt, während es andere systematisch ungerechterweise benachteiligt, ist nicht als bloße Wohltätigkeit – und damit als Tugendpflicht – zu betrachten, sondern als eine Verpflichtung der Gerechtigkeit. Aber selbst da, wo wir allein zu Wohltätigkeit verpflichtet sind, ermahnt uns Kant, den Menschen, der unserer Hilfe bedarf, nicht durch diese zu erniedrigen, »da diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meinem Großmut enthält«, und daher »ist es Pflicht, dem Empfänger durch sein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten« (VI 448 f.).
17.4 Teilnehmung, Dankbarkeit und weltbürgerliche Gesinnung Eine weitere für diesen Zusammenhang relevante Pflicht, die Kant in der Tugendlehre diskutiert, ist jene der Teilnehmung, der Anteilnahme. Nach Kant ist Mitleid mit anderen zu haben keine Pflicht, denn es kann »unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren« dadurch, dass das Leid anderer auch bei mir Schmerz auslöst (TL, § 34, VI 457). Gleichwohl »ist es doch tätige Teilnehmung an ihrem Schicksale, und zu dem Ende also indirekte Pflicht« (§ 35, VI 457), das Gefühl des Mitleids in uns zu kultivieren. Daher sei es auch Pflicht, nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, zu umgehen, sondern sie aufzusuchen, nicht die Krankenstuben oder die Gefängnisse der Schuldner und dergl. fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen (ebd.).
Man darf die Augen vor dem Leid anderer nicht verschließen, wenn man auch nicht dazu verpflichtet ist, ›mit ihnen zu leiden‹. Jener, der Hilfe empfängt, ist nach Kant wiederum zur Dankbarkeit aufgefordert und das nicht nur aus Klugheit: Dankbarkeit ist nicht allein geboten, weil man durch sie den anderen zu weiteren Wohltaten bewegen kann, sondern »Dankbarkeit ist Pflicht«, d. h. »unmittelbare Nötigung durchs moralische Gesetz« (VI 455). »Was aber die Intension, d. i. den Grad der Verbindlichkeit zu dieser Tugend Migration und Weltbürgerrecht
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Nicht nur Rechts-, sondern auch Tugendpflichten
betrifft«, führt Kant aus, »so ist er nach dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohltat gezogen hat, und der Uneigennützigkeit, mit der ihm diese erteilt worden, zu schätzen« (VI 456). 384 Interessanterweise besteht die Verbindlichkeit zur Dankbarkeit also nicht in Relation zu den Kosten, die sie für den Wohltäter bedeutet haben, wie man nach der kasuistischen Frage hinsichtlich der Wohltätigkeit des Reichen durchaus vermuten könnte, sondern allein nach dem Nutzen, den der Empfänger daraus zieht, und der Uneigennützigkeit, mit der die wohltätige Handlung erfolgt ist. Als Wohltäter darf man für wohltätige Handlungen jedoch keine Dankbarkeit erwarten. Denn es gehört zur Definition der Wohltätigkeit, »anderen Menschen in Nöten« zu helfen, »ohne dafür etwas zu hoffen« (VI 453). Die Hilfe gegenüber Menschen in Not darf nach Kant nicht an Verpflichtungen geknüpft sein. Wichtig mit Hinblick auf das Weltbürgerrecht sind auch die im ersten Zusatz zur Elementarlehre der Tugendlehre diskutierten Umgangstugenden. Hier greift Kant die allgemeinsprachliche Bedeutung von Tugendhaftigkeit auf und bezieht sich auf gewisse wünschenswerte Formen des Umgangs, die nach Kant zu befolgen jedoch Pflicht sind, auch wenn sie »nur Außenwerke, oder Beiwerke« sind (VI 473). Er schreibt hier: »Es ist Pflicht, so wohl gegen sich selbst, als auch gegen andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten unter einander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas), sich nicht zu isolieren (separatistam agere)« (VI 473). Und er fährt fort, man solle sich »zwar […] einen unbeweglichen Mittelpunkt seiner Grundsätze […] machen, aber diesen um sich gezogenen Kreis doch auch als einen, der den Teil von einem allbefassenden, der weltbürgerlichen Gesinnung, ausmacht, anzusehen« (ebd.). 385 Die »Gastfreiheit« ist dabei, wie bereits in Kapitel 6.1 dieser Studie angesprochen, eine der Umgangstugenden, die, auch wenn es sich bei ihnen nur um »Manieren« handelt, »doch zur Tugendgesinnung hinwirken; indem sie die Tugend wenigstens beliebt machen« (VI 474). Eine generelle Ablehnung ›Fremder‹ und eine Haltung, die auf Abschottung aus ist, würde den Umgangspflichten widersprechen und kann, da diese dazu dienen, die allgemeine »Tugendgesinnung« zu befördern, nicht moralisch richtig sein.
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Zum Begriff der Dankbarkeit bei Kant s. auch Brinkmann (2015). Zum Begriff der ›weltbürgerlichen Gesinnung‹ s. Hoesch (2015c).
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Teilnehmung, Dankbarkeit und weltbürgerliche Gesinnung
Es hat sich also gezeigt, dass Kant neben den in seiner Diskussion des Weltbürgerrechts erörterten Pflichten und anderen Rechtspflichten, die für Fragen von Zu- und Einwanderung wie auch von Ab- und Auswanderung relevant sind, auch Tugendpflichten kennt, die für die in dieser Studie behandelten Fragen nicht außer Acht zu lassen sind. Sie ergänzen die Rechtspflichten sinnvollerweise dort, wo Staaten versagen und nicht in der Lage oder willens sind, ihre Aufgaben zu erfüllen; dort, wo eine juridische Regelung auch aus rechtmoralischer Perspektive nicht richtig wäre; und auch dort, wo Menschen in Not geraten, ohne dass dies auf eine Rechtsverletzung durch andere zurückzuführen ist. Eine Ergänzung der Rechtsperspektive um eine Tugendperspektive ist also durchaus sinnvoll. Gleichzeitig beugt eine solcher Ansatz auch zwei Reduktionismen vor: Es wird weder jede Verpflichtung, die wir gegenüber Menschen haben, auf eine Frage des Rechts und der Gerechtigkeit, noch auf eine Frage der bloßen Wohltätigkeit reduziert. Des Weiteren wird weder der Staat noch der Einzelne vollständig aus der Verantwortung entlassen. Verpflichtungen bestehen sowohl auf der politischen wie auch der personalen Ebene. Außerdem vermeidet man die Verlagerung der ›Beweislast‹ auf die Schultern des gegebenenfalls notleidenden Menschen, der – wie es manche in diesem Teil diskutierten gegenwärtigen Ansätze nahelegen – sich sonst erst als Rechtssubjekt in diese Welt bringen müsste und auf seine Rechte Anspruch erheben muss, bevor er Hilfe erhielte. Denn der Mensch wird als Träger von Pflichten gesehen, von denen er einige zu erfüllen hat, auch ohne, dass irgendjemand ein Recht darauf hat – die Tugendpflichten. Die Antwort auf die Frage, welche Arten von Verpflichtungen gegenüber wem bestehen, wird dadurch deutlich komplexer – aber vielleicht ist sie der Komplexität unserer moralischen Welt damit auch deutlich angemessener.
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18. Mehr als gerechte Mitgliedschaft Zwischenfazit, Zusammenfassung, Ausblick
Ausgehend von Benhabibs fünf Merkmalen eines Konzepts »gerechter Mitgliedschaft« habe ich mich im letzten Teil dieser Studie auf verschiedene Themenkomplexe konzentriert, die innerhalb der Migrationsdebatte wie auch der Kant-Forschung untersucht werden. Ich habe gezeigt, dass Kants Weltbürgerrecht, obwohl es das Non-refoulement-Prinzip des modernen Völkerrechts vorwegnimmt, deutlich über dieses hinausgeht und nicht nur, wie Benhabib argumentiert, ausschließlich bei Gefahr für Leib und Leben greift. Vielmehr ist der Ausdruck ›Untergang‹, den Kant im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden verwendet, weit zu verstehen. Mit Rückgriff auf Kants Personenbegriff habe ich diesen Ausdruck systematisch unterfüttert und die Bedrohung des ›moralischen Selbst‹ als Kriterium für Asyl stark gemacht. Außerdem wurde herausgearbeitet, dass Kapazitätsargumente zwar gegen eine Pflicht zur Aufnahme sprechen, aber kein Recht auf Abweisung begründen können. Ausgehend von Kants Überlegungen zum Weltbürgerrecht lässt sich weiterhin, so wurde deutlich, ein Ansatz zur sinnvollen Unterscheidung von legitimen und illegitimen Ausschlussgründen entwickeln. Kleingeld hat hierfür den umfassendsten Vorschlag formuliert. Es hat sich jedoch gezeigt, dass auch dieser der Ergänzung bedarf, da sie zwar begründen kann, welche Abweisungsgründe illegitim sind – diskriminierende, die sich nicht auf die »actions and proposals« der betreffenden Person beziehen –, jedoch nicht, welche dieser Handlungen und Ansinnen als so problematisch zu gelten haben, dass sie die Grundlage für einen legitimen Ausschlussgrund bilden könnten. Mithilfe von Schnepfs und Niesens Überlegungen habe ich die notwendigen Ergänzungen umrissen. Die bei Kant eingeschränkte Möglichkeit der Abweisung von Staaten unterläuft gleichwohl, so habe ich mit Verweis auf Flikschuhs Überlegungen zu Kants Souveränitätsbegriff argumentiert, nicht die Souveränität der Staaten. Die Befolgung der rechtsmoralischen Ein298
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Mehr als gerechte Mitgliedschaft. Zwischenfazit, Zusammenfassung, Ausblick
schränkungen des Abweisungsrechts für Kant ist sogar wesentlich für die Rechtmäßigkeit eines Staates, denn dessen Souveränität wird durch die Unterwerfung unter die Anforderungen des Rechts erst ermöglicht. Zu diesem Recht gehört eben auch das Weltbürgerrecht, mit der im Begriff des Untergangs formulierten Einschränkung der möglichen Abweisung von Ankommenden. Anschließend stand die Problematik der Staatenlosigkeit im Mittelpunkt, welche Benhabibs drittes Merkmal, die Ausstattung jeder Person mit einem ›Recht auf Rechte‹ berührt. Hier habe ich dargelegt, dass Staatenlosigkeit wichtige systematische Fragen aufwirft, die nicht zu Unrecht auch verschiedentlich bereits an Kant herangetragen wurden. Der Anachronismusvorwurf ist dabei aus verschiedenen Gründen zurückzuweisen, insbesondere aber auch, weil Kant in seinen Texten, etwa in Form der ›Vogelfreiheit‹, durchaus auf funktionale Äquivalente verweist und die Problematik, keinem Rechtszustand anzugehören, in den Blick nimmt. Es wurde dann Benhabibs Lösungsvorschlag des Institutionalisierungsproblems des Weltbürgerrechts durch die Einführung eines ›Rechts auf Rechte‹ diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass dieses ›Recht auf Rechte‹ das von Benhabib konstatierte Problem nicht zu lösen vermag. Ich habe daher einen Perspektivenwechsel vorgeschlagen, der die Pflichten des Staates in den Mittelpunkt stellt und die Bedeutung der Rechtsmäßigkeit als konstitutives Element eines Staates betont. Offen blieb die Frage, ob mit Kant wirklich ein Weg aus der Staatenlosigkeit denkbar ist. Die Antwort scheint vor allem davon abzuhängen, ob mit Kant ein Übergang vom Besuchs- zum Gastrecht und schließlich zur Staatsbürgerschaft möglich ist. Benhabib hat den Übergang vom Besuchsrecht zum »Recht auf Mitgliedschaft« bei Kant als einen Akt der Wohltätigkeit interpretiert, den zu ermöglichen ein Privileg des Souveräns bleibt. Ich habe dagegen argumentiert, dass es sich bei dem von Kant angesprochenen ›wohltätigen Vertrag‹ keineswegs um einen Akt der Wohltätigkeit handelt und dass er auch nicht die Übertragung eines Rechts auf Mitgliedschaft zum Inhalt hat. Mit Rückgriff auf die Vertragsfigur könnte, so habe ich im Folgenden umrissen, der Übergang zur Staatsbürgerschaft gestaltet werden. Dieser Übergang würde dem Beliebigkeitsvorwurf, der in Benhabibs Formulierung anklingt, nicht anheimfallen: Die bereits entwickelten Prinzipien zur Unterscheidung von illegitimen und legitimen Abweisungsgründen würden auch in diesem Fall greifen. Ein solcher Ansatz würde freilich nur seinen AusMigration und Weltbürgerrecht
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Mehr als gerechte Mitgliedschaft. Zwischenfazit, Zusammenfassung, Ausblick
gangspunkt bei Kant nehmen, um alsbald weit über Kant hinauszugehen. Für Kant selbst stellt die Neuerwerbung einer Staatsbürgerschaft keine näher zu diskutierende Frage dar. Nachdem die Fragen, die im Kontext von Benhabibs fünf Forderungen an eine »Theorie gerechter Mitgliedschaft« entstanden sind, diskutiert wurden, bin ich auch auf zwei Themenkomplexe eingegangen, die in der Migrationsdebatte der gegenwärtigen politischen Philosophie zwar eine untergeordnete Rolle spielen mögen, aber nicht minder wichtig sind: das Recht auf Auswanderung und die Frage, ob Rechtspflichten nicht auch von Tugendpflichten flankiert werden sollten. Es hat sich dabei gezeigt, dass Kant – anders als viele jüngere Theorien der politischen Philosophie – auch das Recht auf Auswanderung erörtert. Dessen Begründung erfolgt allerdings nicht, wie man zunächst annehmen könnte, mit Rückgriff auf das eine angeborene Freiheitsrecht, sondern auf den Rechtscharakter des Verhältnisses eines Staates zu seinen Bürgern bzw. Untertanen. In dieser Begründungsweise ist das Recht auf Auswanderung bei Kant nicht nur für den Themenkomplex Migration relevant, sondern stellt auch einen interessanten Parallelfall zur Begründung des Weltbürgerrechts dar. Eine solche Konzeption kann darüber hinaus dem Asymmetrie-Vorwurf entgehen, der häufig in der gegenwärtigen Debatte an Theorien herangetragen wird, die zwar ein Recht auf Auswanderung, nicht aber auf Einwanderung postulieren. Im letzten Kapitel hat sich schließlich gezeigt, dass bei Kant die Rechtspflichten auf sinnvolle Weise um Tugendpflichten ergänzt werden. An den Tugendpflichten der Wohltätigkeit, der Teilnehmung, der Dankbarkeit und der Umgangstugend der weltbürgerlichen Gesinnung habe ich skizziert, welche Implikationen diese auch für den Themenkomplex der Migration haben. Was bedeutet dies nun für unsere Einschätzung von Kants Position mit Hinblick auf die gegenwärtige Debatte? Kein Recht auf Einwanderung. Kein Recht auf universale Freizügigkeit. Kein Recht, andere Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen. Stellt Kant damit nicht einfach einen weiteren Vertreter dessen dar, was gelegentlich als »Standardansicht« (Cassee 2016, 21) bezeichnet wird? Nämlich jene Position, »dass Staaten nicht nur aus Sicht des geltenden Rechts, sondern auch aus moralischer Perspektive dazu berechtigt sind, Einwanderungswilligen die Einreise oder die längerfristige Niederlassung im Staatsgebiet zu untersagen« (ebd.)? 300
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Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass eine solche Einschätzung zu kurz greifen würde: Die Grundthese dieser Arbeit lautet, dass Kant in einer produktiven Disharmonie zu den argumentativen Hauptströmungen der Debatte um Migration in der gegenwärtigen politischen Philosophie steht und gerade keiner ›Standardansicht‹ zuzuordnen ist. Wie im letzten Teil deutlich geworden ist, würde sich eine Welt, in der das Weltbürgerrecht, wie es in dieser Studie interpretiert wurde, ernst genommen würde, radikal von der unseren unterscheiden. Den Ausdruck radikal darf man dabei durchaus wörtlich als ›von der Wurzel her‹ verstehen, denn die hier vorgelegte Interpretation des Weltbürgerrechts führt nicht nur zu grundlegend anderen Schlüssen, welche Zu- und Einwanderungspolitiken moralisch gerechtfertigt sind, welche Pflichten Staaten und Individuen bezüglich Wanderungsbewegungen haben, sondern liefert auch Begründungsmuster, die sich deutlich von jenen unterscheiden, die wir in der gegenwärtigen Debatten zum Themenkomplex Migration vorfinden. In der heutigen philosophischen Debatte um Migration, die ihren Ursprung in der Diskussion um globale Gerechtigkeit hat, stehen sich egalitär-kosmopolitische und kommunitaristische Ansätze diametral gegenüber. Der liberale Nationalismus versucht als dritte, seinem Selbstverständnis nach vermittelnde Position in dieser Debatte Aspekte beider zuvor genannter Ansätze zu vereinbaren. Während kommunitaristische und liberal-nationalistische Konzepte eher für ein hohes Maß an Selbstbestimmung politischer Gemeinschaften mit Blick auf Einwanderung argumentieren und für weitgehend geschlossene Grenzen, tendieren egalitär-kosmopolitische Ansätze dazu, ausgehend von der moralischen Gleichheit aller Menschen auch auf eine politische Gleichbehandlung hinsichtlich von Migration und Staatsbürgerschaft zu drängen und vergleichsweise offene Grenzen einzufordern. Kant vertritt einen moralischen Universalismus, lässt sich also nicht ohne weiteres für kommunitaristisch-partikularistische Ansätze vereinnahmen. Dennoch folgt für ihn aus der moralischen Gleichheit aller Menschen keine Forderung nach politischer Gleichbehandlung auch mit Hinblick auf Migrationsbewegungen, wie sie von Vertretern und Vertreterinnen egalitaristisch-kosmopolitischer Positionen formuliert wird. Spiegelbildlich wird er daher von diesen beiden Positionen kritisiert. Die sich hieraus ergebende Spannung habe ich ›produktive Disharmonie‹ genannt: Die Disharmonie tritt dabei Migration und Weltbürgerrecht
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in der Gegenüberstellung der gegenwärtigen Debatte mit Kants Position im ersten und zweiten Teil deutlich zutage. Die Produktivität, also die Möglichkeit, ausgehend von Kants Position zu neuen Einsichten und auch Begründungsmustern hinsichtlich der gegenwärtigen Fragen und Probleme zu gelangen, war die Aufgabe des dritten und letzten Teils der Studie. In der Studie wird dabei schrittweise begründet, dass die kantische Theorie des Weltbürgerrechts in ihrer Einheit von begründungstheoretischem Universalismus und partikularistischen Elementen auf der Anwendungsebene eine relevante und diskussionswürdige Synthese darstellt. In Teil I habe ich dabei die aktuelle Debatte entgegen der gängigen Einteilung in Befürworter ›geschlossener‹ oder ›offener‹ Grenzen anhand ihrer jeweiligen rechtfertigungstheoretischen Hintergründe kartographiert. Es ist nämlich alsbald deutlich geworden, dass die vorgetragenen Positionen immer für eine relative Öffnung oder Schließung der Grenzen argumentieren, dass also der absolute Gegensatz von offenen und geschlossenen Grenzen für die Argumentationslinien nicht bestimmend ist. An alle exemplarisch anhand der einschlägigen Autoren – Michael Walzer, Joseph H. Carens und David Miller – vorgestellten Theoriestränge lassen sich zahlreiche Nachfragen herantragen und Kritikpunkte formulieren. In Teil II habe ich dann neben den zentralen Passagen, in denen Kant im Rahmen seiner Diskussion des Weltbürgerrechts auf Wanderungsbewegungen zu sprechen kommt, also den dritten Definitivartikel in Zum ewigen Frieden und § 62 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten, auch bislang weniger beachtete Textstellen zum Thema Migration herangezogen, wie die §§ 15, 50 und 58 der Rechtslehre sowie die einschlägigen Passagen aus den Vorarbeiten, Reflexionen und dem Briefwechsel, habe sie eingehend interpretiert und für die Fragestellung der Studie analysiert. An den Anfang der Interpretation habe ich die Klärung der verwandten Begriffe Weltbürger und weltbürgerlich gestellt. Anschließend folgten Klärungen zum Kontext, den Adressaten, dem Inhalt, der Form des Weltbürgerrechts und der Rechtfertigungsgrundlage. Auf dieser Basis erhält die These von der ›produktiven Disharmonie‹ zum Schluss des zweiten Hauptteils eine erste Kontur. Inhaltlich ist Kants Weltbürgerrecht durch zwei Begriffe bestimmt, die gebotene Hospitalität und die verbotene Hostilität. Hospitalität bezeichnet das Recht, nicht feindselig behandelt zu werden, solange man sich selbst friedlich verhält. Die von Kant geforderte all302
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gemeine Hospitalität ist dabei im Sinne von universalitas und nicht generalitas zu verstehen. Gegen ausufernde Ansprüche vertritt Kant ein eingeschränktes Weltbürgerrecht. Dabei wurde insbesondere deutlich, dass sich Kants Behandlung des Themas Migration im Rahmen des Weltbürgerrechts in vielen Aspekten auf den neuzeitlichen Kolonialismus bezieht. Hierbei nimmt Kant eine deutlich kritischere Haltung gegenüber den europäischen Kolonisatoren ein als seine naturrechtlichen Vorgänger. Aber auch innerhalb der Kolonialismuskritiker kommt ihm eine Sonderrolle zu, da er den Kolonialismus – mit zwei Ausnahmebedingungen – an sich als Rechtsverstoß und nicht aufgrund seiner Begleiterscheinungen und Folgen einordnet. Damit tritt zugleich die zweifache argumentative Stoßrichtung des Weltbürgerrechts bei Kant zutage, die in der gegenwärtigen Diskussion oft nicht gesehen wird: Kant kennt nicht nur die Pflicht des Ansässigen zur allgemeinen Hospitalität und zur Nichtabweisung im Fall des drohenden Untergangs des Ankömmlings, sondern auch die Pflicht der Ankommenden zur Unterlassung von Feindseligkeiten. Kants Zustimmung zur im dritten Definitivartikel von Zum ewigen Frieden angeführten isolationistischen Politik Chinas und Japans ist mit diesem eingeschränkten Weltbürgerrecht kompatibel. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Hospitalitätspflicht nicht im Widerspruch zum Recht auf Privateigentum steht. Der Verbindlichkeitsart nach, so konnte gegen widersprechende Interpretationen gezeigt werden, handelt es sich bei den dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Pflichten um Rechtspflichten, dabei qua (negativen) Unterlassungspflichten um vollkommene Pflichten. Schließlich habe ich im zweiten Hauptteil fünf Interpretationen zur Begründungsgrundlage des Weltbürgerrechts untersucht, wobei die ersten drei – das Recht auf Mitgliedschaft in einer globalen politischen Gemeinschaft, die Zielsetzungen der Weltöffentlichkeit und Aufklärung und des Friedens – den stärksten Widerspruch gefunden haben. Deutlich plausibler, wenn auch nicht voll überzeugend, erschien die Rechtfertigung des Weltbürgerrechts aus dem von Kant so genannten einen angeborenen Recht auf Freiheit. Noch überzeugender zeigte sich aber der Rekurs auf das Allgemeine Prinzip des Rechts unter den empirischen Anwendungsbedingungen der menschlichen Existenz. Im dritten Teil wurde dann ausgehend von der im zweiten Teil vorgestellten Interpretation des Weltbürgerrechts eine ›rechtsmoraMigration und Weltbürgerrecht
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lische Migrationstheorie‹ entwickelt, die auf zentrale Fragen der gegenwärtigen Debatte eingeht und über diese hinausgreift. Deren Grundzüge habe ich bereits zu Beginn dieses Schlusskapitels kurz zusammengefasst. Sie beziehen sich auf die Themengebiete Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement), die Unterscheidung von illegitimen und legitimen Abweisungsgründungen, Staatenlosigkeit und Erwerb der Staatsbürgerschaft sowie das Recht auf Auswanderung und die Flankierung der dem Weltbürgerrecht korrespondierenden Rechtspflichten um die Tugendpflichten der Hilfe und Wohltätigkeit, der Teilnehmung, Dankbarkeit und der weltbürgerlichen Gesinnung. Die Studie kehrte dabei immer wieder zu den eingangs benannten Herausforderungen zurück, vor welche die politische Philosophie durch Zu- und Ein- sowie Ab- und Auswanderung gestellt wird. Sie betreffen das methodische Vorgehen bei der Entwicklung von Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien; die inhaltliche Ausgestaltung spezifischer Gerechtigkeitsgrundsätze; die Legitimität von Zuund Einwanderungspolitiken, sowohl im Sinne der Möglichkeit der Rechtfertigung dieser Politiken überhaupt wie auch der Legitimität spezifischer Zu- und Einwanderungspolitiken; die Frage nach der Stabilität politischer Ordnungen und ob diese durch Wanderungsbewegungen gefährdet oder befördert wird und die Frage nach dem Verhältnis individueller Freiheit und staatlicher Souveränität und damit die Frage, inwiefern die zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden darf oder nicht. Alle fünf Punkte sind uns im Verlauf dieser Studie immer wieder begegnet. Auf einige zum Teil über die bereits diskutierten Aspekte hinausweisende Punkte möchte ich hier noch kurz eingehen. Bezüglich der Frage nach dem methodischen Vorgehen bei der Entwicklung von Gerechtigkeitsprinzipien stehen beispielsweise vertragstheoretische Ansätze vor der Frage, wer als Teilnehmer des Urzustandsszenarios zu betrachten ist – und dass die Mitgliedschaft in der relevanten Gruppe nicht selbst durch das Urzustandsszenario begründet werden kann. Carens hat dafür argumentiert, ein globales Urzustandsszenario anzunehmen. Diese Annahme wird aber nicht selbst durch den zu schließenden Vertrag begründet. Diskurstheoretische Ansätze, wie jener von Benhabib, stehen wiederum ebenfalls vor dem Problem, dass die Begründung, wer ›diskursberechtigt‹ ist, nicht durch den Diskurs geleistet werden kann. Utilitaristische Ansätze sind mit einem ähnlichen Problem konfrontiert: Carens und Singer sind beispiels304
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weise der Ansicht, dass eine utilitaristische Rechnung alle von der zu untersuchenden Entscheidung Betroffenen einbeziehen müsste. Die Einbeziehung ins oder den Ausschluss vom Nutzenkalkül kann allerdings nicht durch das Nutzenkalkül selbst begründet werden. Alle diese und auch andere Ansätze müssen hier auf andere Gründe und Begründungsstrategien verweisen. Verschiedene Antworten, wer bei der Begründung von Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien ›zählt‹ und in die Überlegungen miteinbezogen werden soll, habe ich im ersten Teil dieser Studie ausführlicher dargestellt. Weitere Ansätze kamen an anderen Stellen immer wieder zur Sprache. Auch die inhaltliche Ausgestaltung jener Prinzipien, die mit Hinblick auf Wanderungsbewegungen eine Rolle spielen, wird in den von dieser Studie angesprochenen Ansätzen recht unterschiedlich angegangen: Während bei Carens etwa das ›Recht zu migrieren‹ in einem globalen Urzustandsszenario zu den zu garantierenden Grundrechten zu zählen ist, sind für Miller die Territorialrechte von Staaten entscheidend. Kant wiederum formuliert in seiner Diskussion des Weltbürgerrechts zwei negative Pflichten: die Pflicht zur Unterlassung von Feindseligkeiten und die Pflicht zur Unterlassung der Abweisung, sollte diese den Untergang einer Person zur Folge haben. Die Legitimität von Zu- und Einwanderungspolitiken wird von Carens, der der Ansicht ist, dass Grenzen zunächst offen sein sollten, solange keine gewichtigen Gründe dagegen sprechen, grundsätzlich infrage gestellt, während Walzer und Miller das Bestehen von Zuund Einwanderungsregularien für die Selbstbestimmung und die Souveränität von politischen Gemeinwesen als wesentlich erachten. Kant wiederum vertritt die These, dass sich Souveränität und die durch das Weltbürgerrecht formulierten Einschränkungen in der freien Wahl, welchen Personen und Personengruppen ein Staat die Einreise erlauben möchte, wechselseitig bedingen. Gleichzeitig ist das Bestehen von Zu- und Einwanderungsregularien überhaupt als legitim anzusehen. Fraglich bleibt, ob konkrete Politiken die Anforderungen etwa des Weltbürgerrechts verletzen würden. Kant stellt nun, so eine der Grundthesen dieser Studie, einen beachtenswerten Kontrapunkt zu den in der gegenwärtigen Debatte vertretenen Positionen dar. Kant verkörpert einen moralischen Universalismus, lässt sich also nicht ohne Weiteres für kommunitaristisch-partikularistische Ansätze vereinnahmen. Dennoch folgt für ihn aus der moralischen Gleichheit aller Menschen keine Forderung nach politischer Gleichbehandlung auch mit Hinblick auf Migration, Migration und Weltbürgerrecht
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wie sie Vertreterinnen und Vertreter egalitär-kosmopolitischer Positionen fordern. Dies wird paradigmatisch in Kants Diskussion des Weltbürgerrechts deutlich, welches im Fokus des zweiten Teils dieser Studie stand. Gleichzeitig, so wurde im dritten Teil der Studie deutlich, ist Kants Problembewusstsein an einigen Stellen durchaus weitreichender als ihm manche Autorinnen und Autoren der gegenwärtigen Debatte unterstellen. Nimmt man wichtige Elemente der Friedensschrift und der Rechtslehre ernst, ist es, so habe ich ausgeführt, durchaus möglich, kantische Antworten auf einige substantielle Fragen der gegenwärtigen Debatte zu formulieren, sei es zu Fragen des Flüchtlingsschutzes und Asyls, der Unterscheidung von legitimen und illegitimen Abweisungsgründen oder zur Überwindung von Staatenlosigkeit – und eben, wie in der Behandlung des Rechts auf Auswanderung, zu Themen, die der gegenwärtigen Debatte vielleicht allzu selbstverständlich erscheinen, aber durchaus im Kontext einer ›rechtsmoralischen Migrationstheorie‹ einer Behandlung bedürften. Eine Beschäftigung mit Kant vermag also auch blinde Flecken in heutigen Fragestellungen zu identifizieren und so den Boden für systematische Ergänzungen zu bereiten. Dabei vermeidet es Kants Position, Fragen zum moralisch richtigen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten entweder auf Fragen der Gerechtigkeit oder auf Fragen der Wohltätigkeit zu reduzieren. Dadurch, dass Kant sowohl Rechts- als auch Tugendpflichten in den Blick nimmt, ist es möglich, ausgehend von seiner Position umfassender auf bestimmte Themenkomplexe einzugehen als bei Ansätzen, denen diese Pflichttypen fremd sind. Ein Nebeneffekt dieser Unterteilung ist, dass weder Staaten noch Individuen aus der Verantwortung entlassen werden, sich bestimmter Herausforderungen anzunehmen. Der Fokus auf Unterlassungspflichten innerhalb der rechtsphilosophischen Perspektive auf Wanderungsbewegungen im Rahmen des Weltbürgerrechts stellt an vielen Stellen eine Stärke der kantischen Position dar, führt aber auch zu einer gewissen Schwierigkeit, die in dieser Studie bereits benannt wurde: Wenn Staaten nur eine Pflicht zur Nichtabweisung, nicht aber zur Rettung von Personen haben, die vom Untergang bedroht sind, dann bleiben viele Menschen, die faktisch und ganz direkt vom Untergang bedroht sind, außer Acht: Sie müssen erst an den Grenzen eines Staates ankommen, bevor sie von den Pflichten, die dem Weltbürgerrecht korres306
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pondieren, profitieren können. Bleiben sie, beispielsweise weil ihnen die ökonomischen oder auch die psychosozialen Ressourcen fehlen, in ihrem Heimatland, geraten sie nicht ins Blickfeld des Weltbürgerrechts. Müsste man aber nicht auch zu ihrer Rettung Maßnahmen ergreifen? Im Rahmen der Tugendpflichten scheint dies denkbar, eine Rechtspflicht zu diesen Maßnahmen zu begründen ist da bei weitem schwieriger. Hier ginge es darum, diese Fragen auch in den Kontext von Kants Antiinterventionismus, der gleichwohl von einigen Autorinnen und Autoren bestritten wird, zu setzen. Freilich decken die in dieser Studie diskutierten Fragen nicht alle Themen ab, die mit Migrationsbewegungen verbunden sind, aber es hat sich gezeigt, dass Wanderungsbewegungen Fragen aufwerfen, die auch für die politische Philosophie von grundlegendem Interesse sind und auf Themen verweisen, die zu den Kernfragen der politischen Philosophie gehören. Gleichzeitig konnte im Wechselspiel zwischen gegenwärtigen Fragen und Antworten mit einer historischen Position zu diesen Themengebieten gezeigt werden, wie fruchtbar es sein kann, Autoren, die Jahrhunderte voneinander entfernt sich mit einem sich durchaus verändernden Phänomen beschäftigt haben, miteinander ins Gespräch zu bringen – und dies in beide Richtungen: Diese Form der Auseinandersetzung hilft die Interpretation des gewählten Klassikers zu präzisieren, wie sie auch das Problembewusstsein für die Fragen der gegenwärtigen Debatte schärft. Im besten Fall vermag sie, uns zu neuen und zum Teil überraschender Antworten zu führen.
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Personenregister
Abizadeh, Arash 53, 164 Ackerman, Bruce A. 47 Acosta, José de 151 Ajei, Martin 166 Albrecht, Andrea 88 Alves, Julius 160, 285 Anderson, Benedict 62 Angeli, Oliviero 9, 20, 26, 28 f., 68 Appiah, Kwame Anthony 69, 88, 199 Arendt, Hannah 86, 112, 245, 247– 250, 252–254 Aristoteles 86, 167 Atterton, Peter 160 Augustinus 19, 86 Axinn, Sydney 83 Bader, Veit 37 f., 44 Bacon, Francis 19, 120 Baker, Gideon 117 Baron, Marcia 157 f., 289, 292 Barry, Brian 35, 41 Brantl, Dirk 9 Bauböck, Rainer 23, 37, 273 Baxley, Anne M. 285 Beiner, Ronald 276 Beitz, Charles 35, 209, 242 Benhabib, Seyla 20, 28, 31 f., 35, 38 f., 44, 46, 49, 55, 82, 84, 109, 119, 155–157, 161, 168, 170 f., 181, 191, 193, 209 f., 212, 214–217, 225, 228, 245, 248 f., 252–254, 258 f., 261– 263, 265, 270, 272, 298–300, 304 Bentham, Jeremy 59, 151 Bernasconi, Robert 136, 140 Betzler, Monika 285, 291
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Bhaba, Jacqueline 39 Blake, Michael 20, 38, 272 Boehm, Omri 254 Borchers, Dagmar 9 Brandt, Reinhard 101, 110, 135, 150, 152, 177, 181, 275 Brezger, Jan 53, 227, 290 Brinkmann, Walter 296 Brock, Gillian 38, 90, 272 Buchanan, Allen 209 Byrd, B. Sharon 83, 96, 103 f., 173, 263 Cabrera, Luis 281 Campanella, Tommaso 19 Caney, Simon 43 Carens, Joseph H. 24, 29 f., 36–39, 43 f., 49 f., 53–63, 72, 74, 76 f., 108, 203, 227 f., 302, 304 f. Cassee, Andreas 27 f., 37 f., 43, 53, 290, 300 Cavallar, Georg 20, 29, 83 f., 88 f., 100, 114 f., 117, 122, 147, 152, 172, 176 f., 201 Celikates, Robin 28 Cheneval, Francis 24, 27, 87 Chwaszcza, Christine 28, 37 Cicero, Marcus Tullius 90, 95, 109 Cohen, Joshua 51 Cole, Philipp 37 f., 65 f. Coulmas, Peter 20, 87 Cummiskey, David 292 D’Angelo, Ellen F. 213 Deggau, Hans-Georg 83 De Lora, Pablo 38
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Personenregister Demokrit 94 Derrida, Jacques 112 Dicke, Klaus 83, 179, 187 Diderot, Denis 151 Dietrich, Frank 20, 28 f., 56, 63, 212, 216, 273 Dietze, Anita u. Walter 100 Dörflinger, Bernd 10 Dowty, Alan 37 Drèze, Jean 222 Dummett, Michael 20 Eberl, Oliver 82, 100, 105, 110, 113, 122, 150, 162, 168, 172 f., 175 f., 182 f., 212, 214, 216, 221–224 Esser, Andrea 285, 291 Eze, Emmanuel Chuckwudi 140 Ferracioli, Luara 38 Fine, Sarah 66, 166 Fisch, Jörg 114 Flikschuh, Katrin 9, 83 f., 104, 127, 129, 135, 140, 150, 166, 172, 185– 188, 190, 192, 210, 233, 241–244, 257, 298 Forschner, Maximilian 157 Forst, Rainer 41, 42, 51, 67 Forster, Georg 143 Freiin von Villiez, Carola 111 Friedrich, Annika 9 Gans, Chaim 62 Geiger, Rolf 9 Gerhardt, Volker 82–84, 97, 100 f., 174, 293 Gibney, Mark 37 Gilabert, Pablo 164 Girtanner, Christoph 146 Goodin, Robert E. 37, 39, 50 Goppel, Anna 28 f. Gosepath, Stefan 248 Gosewinkel, Dieter 250 Goyard-Fabre, Simone 83 Gray, Sally Hatch 143 Gregor, Mary 158 f., 161, 285 Grimm, Jacob u. Wilhelm 22, 122 f., 219
Grotius, Hugo 35, 107, 115–117, 195 Grundmann, Thomas 26, 28 Guyer, Paul 292 Habermas, Jürgen 91, 177, 179, 181 Hackel, Volker Marcus 83, 96 f., 103, 135, 174, 192, 245 Hampton, Jean 63 Han, Petrus 24 f. Hedrick, Todd 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 86, 100 Heger, Moritz 9 Held, David 91, 173, 175 f. Herder, Johann Gottfried 143 Herman, Barbara 157, 290 f. Hidalgo, Oliver 100 f. Hildt, Moritz 9 Hill, Thomas E. Jr. 157, 205, 291 f. Hirschl, Ryan 39 Hobbes, Thomas 19, 87, 117, 220 Hobe, Stephan 213, 225, 246 Hoerder, Dirk 25, 214 Hoesch, Matthias 88 f., 152, 290, 296 Höffe, Otfried 9, 35, 40, 43, 62 f., 67, 75, 82–84, 88–91, 93, 98, 100–102, 105, 112, 157 f., 160, 165, 167 f., 181, 186–190, 210, 220, 226 f., 231, 242, 248, 255, 257, 285, 289, 291 Holtman, Sarah 292 Honneth, Axel 42 Hoppe, Hans Herman 38, 55 Horn, Christoph 41, 83 f., 90, 141, 172, 178–181, 289–291 Huber, Jakob 9, 115, 172, 182 Hume, David 120 Hüning, Dieter 83, 168 Hruschka, Joachim 26, 83, 96, 103 f., 173 Hurka, Thomas 41, 62 Ilting, Karl-Heinz 86 Imhoff, Simeon 228 f., 290 Jansen, Jan C. 137 f. Jeske, Diane 164
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Personenregister Joerden, Jan C. 26 Jost, Lawrence 285, 291 Kapur, Devesh 38 Kater, Thomas 83 Kaufmann, Matthias 113, 125 Keil, Rainer 29, 84, 96, 212, 229, 270 Kersting, Wolfgang 83 f., 101, 131, 181, 245, 257, 264, 268, 275 f. Kimminich, Otto 213, 225, 246 Kleingeld, Pauline 83 f., 88–91, 96, 102–105, 108 f., 111, 121–124, 127 f., 132, 136, 139–146, 153, 171, 179–185, 196, 210, 212, 214, 216, 224, 232, 234, 237–240, 255, 298 Klemme, Heiner 181, 187 f., 248, 253, 256 Kneller, Jane 83 Kodalle, Klaus-Michael 83 Koller, Peter 27 f., 36, 62, 257 Krebs, Angelika 30, 39, 202 Kristeva, Julia 20 Küsters, Gerd-Walter 84, 86, 266 Kukathas, Chandran 37–39, 227 Kymlicka, Will 28, 38 Ladwig, Bernd 24, 27, 37 Las Casas, Bartolomé 151 Leibniz, Gottfried Wilhelm 87 Liebsch, Burkhard 109, 112 Lindenbauer, Michael 213 Locke, John 19, 52, 266 f., 273 Loewe, Daniel 29, 84, 212 Lübbe-Wolff, Gertrude 264 Ludwig XIV. 214 Ludwig, Bernd 83, 85 f., 105, 147, 149, 161, 188, 191, 263 f., 266, 274, 285 Luf, Gerhard 275 Luft, Stefan 26 Lutz-Bachmann, Matthias 87, 110 MacIntyre, Alasdair 40 f., 43, 164 Marcellus, Marcus Claudius 94 Marti, Urs 35, 127, 187, 234–236, 241, 244
330
McHale, John 38 Meisels, Tamar 68 Menke, Christoph 248 Merkel, Reinhard 83 Merle, Jean-Christophe 100 Messina, James 111 Metha, Uday Singh 199 Metzger, Johann Daniel 143 Mieth, Corinna 285, 290 Mill, John Stuart 59, 74 Miller, David 28 f., 37 f., 41, 52, 60, 62–77, 164, 198–203, 227, 241, 281, 302, 305 Miscevic, Nenad 74 Moellendorf, Darrel 164, 242 Moller Okin, Susan 276 Mona, Martino 43–46, 50 Montaigne, Michel de 19, 151 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 120 Morus, Thomas 19, 52 Mosayebi, Reza 84, 158 f., 161 Mulholland, Leslie Arthur 181 Müller, Jörg Paul 182, 212, 294 Murphy, Jeffrie 83 Muthu, Sankar 82, 84, 116, 135 f., 141, 145 f., 181, 199, 201, 205 Nagel, Thomas 35 Neuhäuser, Christian 28 Nida-Rümelin, Julian 26, 28, 40, 60 Niesen, Peter 82, 87, 89, 97, 100, 105, 108, 110, 113, 121–124, 135, 150, 162, 165, 168, 172 f., 175 f., 182 f., 212, 216, 234, 236–239, 245, 249–252, 298 North, Michael 214 Nozick, Robert 54, 108 Nussbaum, Martha 35, 43, 87, 90 f., 95, 109, 152 Oberman, Kieran 53 Oltmer, Jochen 22 f., 24 f. O’Neill, Onora 35, 157, 159, 185 f., 255, 288 f., 292 f. Osterhammel, Jürgen 137 f., 214
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Karoline Reinhardt
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Personenregister
Rawls, John 27, 35, 37, 40, 54–56, 63, 66, 209, 222, 239, 273, 281 Raz, Joseph 43 Raynal, Guillaume Thomas François 151 Riley, Patrick 83 Rimoux, Frédéric 87, 100 f. Ripstein, Arthur 84, 113, 133, 153, 181, 196, 264 Risse, Mathias 24, 35, 37 Ritter, Christian 86 Rochel, Johan 24, 27 Roff, Heather M. 205 Romero, Paola 9 Rorty, Richard 41, 199 Rosen, Allen 83 f., 159, 285, 292 f. Rousseau, Jean-Jacques 19, 273 Rozelaar, Marc 94
Schnepf, Robert 234 f., 237–240, 245, 247, 251, 259, 298 Schönecker, Dieter 289 Schopenhauer, Arthur 85 Schramme, Thomas 20 f. Schulze, Hagen 272 Schulze Wessel, Julia 248 Sedmak, Christian 26 Seglow, Jonathan 37 Sen, Amartya 43, 222 Seneca, Lucius Annaeus 19, 94 Sensen, Oliver 9, 285, 291 Shachar, Ayelet 39 Shacknove, Andrew E. 213 Shell, Susan Meld 83, 103 Sherman, Nancy 285, 291 Sidgwick, Henry 52, 56, 59 Simmons, A. John 164 Singer, Peter 24, 39, 47 f., 56, 58, 203, 228, 304 Smid, Stefan 84 Smith, Adam 88, 151 Sokrates 90 Spinoza, Baruch de 86, 93, 120 Stark, Werner 17 Steiner, Hillel 68 Stephan, Achim 26, 28 Stiller, Martin 250 Stilz, Anna 68, 116, 127, 272 Stolzenberg, Jürgen 83 Stuart, Amelie 9 Suarez, Francisco 151
Saage, Richard 132 Said, Edward 199 Saint-Pierre, Abbé de 100 Sandel, Michael 40 f., 43, 198 Saner, Hans 100 Santozki, Ulrike 90 Sassen, Saskia 214 Scarano, Nico 290 Scheffler, Samuel 28, 58, 90, 164 Sepúlveda, Juan Ginés 151 Schick, Friedrike 9 Schinköthe, Ailika 9 Schlothfeld, Stephan 24, 27 Schneidereit, Nele 9
Tamir, Yael 62 Tan, Kok-Chor 66, 280 f. Taylor, Charles 40, 43 Tieftrunk, Johann Heinrich 158 Thomas von Aquin 19, 147 Thompson, Kevin 103 Timmermann, Jens 285, 291 Timmons, Mark 291 Trampota, Andreas 124 f., 285, 291 Twele, Marcel 290 Tugendhat, Ernst 213 Tully, James 140 Tuschling, Burkhard 83
Ott, Konrad 20, 26, 28, 290, 293 Ottmann, Henning 28, 37 Özmen, Elif 21, 26, 28, 214 Pagden, Anthony 137, 140, 173 Parfit, Derek 166 Patzig, Günther 100 Pevnick, Ryan 37, 108 Pinheiro Walla, Alice 115, 172 Pinkard, Terry 275 f. Platon 19 Pogge, Thomas 24, 27, 35, 91, 209, 242
Migration und Weltbürgerrecht
A
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Personenregister Unruh, Peter
86, 275
Vanhaute, Liesbet 266 Vázquez de Menchaca, Fernando 151 Vattel, Emer de 117 Vitoria, Francisco de 115, 117 Vogt, Katja Maria 292 von der Pfordten, Dietmar 293 Waldron, Jeremy 51, 75, 110, 291 Walzer, Michael 28–30, 36–38, 40– 53, 55, 62, 71 f., 76, 164, 198 f., 203, 226 f., 241, 261, 280, 302, 305 Warda, Arthur 90 Wellman, Christopher Heath 37 f., 59 f., 66, 72, 269, 281 Whelan, Frederick 38, 273
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White, Stuart 66 Willaschek, Marcus 159, 161 Williams, Howard 104, 110, 119, 123, 130 f., 135, 187 Wittmann, Roland 83 Wolff, Christian 117, 152 Wood, Allen 100, 131, 136, 159, 161, 293 Wuerth, Julian 285, 291 Ypi, Lea
37, 68, 101, 135, 140, 179 f.
Zanetti, Véronique 28 Zenker, Georg 181 Zenon von Kition 91 Zurbuchen, Simone 28 Zwierzynski, Wolfgang 9
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Karoline Reinhardt
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Sachregister
Apperzeption, Einheit der 220 Aufklärung, Selbstaufklärung 176 f., 303 Auswanderung 24, 26, 32, 37 f., 44 f., 57, 81, 84, 120, 174, 210, 214, 265, 267, 280 f., 297, 304, s. a. Recht auf Auswanderung Asyl 19, 31, 47 f., 209, 213 f., 216, 225 f., 298, 306, s. a. Recht auf Asyl Besteuerung 128 f., 132, 134, 182, 196 Bewegungsfreiheit 21, 30, 55 f., 58, 63–66, 198, 281, 304 brain drain 37 f., 60, 272 China 102, 107 f., 117, 120–124, 196, 201, 236, 303 commercium 103 f., 171, 177, s. a. Handel crimen laesae maiestatis 237 Dankbarkeit 163, 211, 289, 295 f., 300, 304 Disharmonie, produktive 22, 30 f., 77, 85, 194, 206, 273, 301 f. Egalitarismus 30, 39, 200, 202 f., 228, s. a. Kosmopolitismus, egalitaristischer Eigentum 113, 127, 149, 151, 200, 234 f., 266, 268, 274, 277–280 –, Privat~ 60, 64, 70, 103, 130–134, 138, 235 f. –, Grund~ 103, 106, 108, 124, 127 f., 130 f., 133 f., 235, 266
–, Ober~ 131–134, 196 Einbürgerung 44, 49, 53, 81 f., 269 f. Einwanderung 20–23, 30, 36–40, 44 f., 52–57, 61–64, 67 f., 71 f., 75– 77, 84, 105, 138, 174, 200, 203, 206, 209, 234, 240, 280–282, 297, 300 f., s. a. Recht auf Einwanderung –, ~sbeschränkung 38 f., 52, 55, 57, 76, 120, 166, 192, 281 –, ~sregularien 53, 75, 238, 241– 243, 305 –, ~sregulierung 70, 75, 200 Erdbürger 102 f., 113, 121 Feind, Feindseligkeit 31, 56, 100 f., 107–110, 115, 117, 119, 124–127, 129 f., 133 f., 148, 154, 161–163, 168, 174, 177, 191, 195 f., 215 f., 218, 222, 234 f., 237, 239 f., 282, 302 f., 306, s. a. Hostilität Flucht 20–29, 31 f., 39, 46–48, 52 f., 71 f., 162 f., 170, 182, 206, 209 f., 212–214, 220, 225–228, 230–233, 236 f., 243, 246, 248, 269 f., 284, 290, 292–294, 300, 306 Frieden 98, 125, 178 f., 192, 228 –, ~sfunktionalität 121, 172, 178, 180 Freizügigkeit 36, 40, 57, 59 f., 64, 81, 240, 279 –, universale ~ 20, 30, 53, 58–60, 65, 72, 74, 82, 198, 281, 300 freedom of association 66 f., 268 f., 281, s. a. Vereinigungsfreiheit
Migration und Weltbürgerrecht
A
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Sachregister Gastarbeiter 49, 261 Gastfreiheit 118 f., 284, 296 Gastfreundschaft 95, 109, 111 f., 118, s. a. Hospitalität Gemeinschaft 36, 40–53, 58 f., 62, 71, 76, 81, 88, 90 f., 94, 164, 172, 175 f., 198–202, 204 f., 241, 247 f., 251 f., 287, 301, 303 Gerechtigkeit 20, 27 f., 30, 32, 35– 37, 42–44, 49, 61, 164 f., 167–169, 202 f., 209, 211, 238, 242, 270, 288– 290, 292, 294 f., 297, 301, 304–306, s. a. Ungerechtigkeit Grenze, Staatsgrenze 23, 25, 28, 37 f., 53, 72, 108, 117, 175, 202, 249, 305 f. –, geschlossene ~ 19, 30, 37–40, 50, 53, 76, 122 f., 301 f. –, offene ~ 19, 30, 37–40, 53 f., 56– 61, 63 f., 66 f., 74, 76, 82, 108, 170, 192, 301 f., 305 –, poröse ~ 31 f., 82, 84, 209 Handel, ~sbeziehungen 102 f., 104 f., 111, 114 f., 120–123, 135, 145, 162, 178–180, 183, 187, s. a. commercium ~sgeist 121, 178–180, 204 f. Hilfe, Hilfspflicht 32, 156–158, 162 f., 166, 197, 211, 221, 288–297, 304 –, wechselseitige ~ (mutual aid) 44, 49, 53 Hospitalität, Hospitalitätsrecht 31, 95, 98, 107–113, 117–120, 124, 135, 154 f., 170, 181, 183, 195 f., 213, 302 f., s. a. Gastfreundschaft Hostilität 100, 107, 124 f., 302, s. a. Feind, Feindseligkeit Individualismus 45 f., 75 f. –, legitimatorischer ~ 58, 60 f., 72, 75 Isolationismus 108, 120, 122 f., 236, 303 ius exilii 237, 239 f., 251, s. a. Verbannung
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Japan 102, 107 f., 116 f., 120–124, 195, 201, 221–223, 236, 303 Kolonie 19, 52, 106, 130, 137–140, 142, 147 f., 151–154, 164 f. Kolonialismus 19, 84, 95, 100, 103, 110, 135–137, 140 f., 145 f., 150– 154, 156, 165 f., 196, 282, 303 –, ~kritik 84, 135–137, 140–142, 145 f., 151–154, 163, 196 f., 205, 303 Kommunitarismus 29, 36, 40–53, 72, 76, 81, 194, 198–201, 204, 206, 301, 305 Kosmopolitismus 31, 38, 40, 82, 87– 91, 97, 115, 141, 146, 173, 175, 187, 209, 242, 257, 263, s. a. Weltbürger, weltbürgerliche Gesinnung, weltbürgerlicher Zustand –, egalitaristischer ~ 29, 36–39, 53 f., 56, 58 f., 76, 194, 198–200, 206, 301 Krieg 23, 115, 118, 124–126, 137 f., 145, 147, 153, 174, 178–180, 189 f., 206, 218, 225, 292 Kugelgestalt 170 f., 187, 190–192, 243 Landesverweisung s. Verbannung Liberalismus 27, 40–42, 58, 62 f., 66, 72, 74–77, 81, 198 f., 201, 205, 266 f., 273, 289 Mein und Dein 264 –, äußeres ~ 181, 185 –, inneres ~ 181, 185, 239, 270, 276 Menschenhandel s. Sklavenhandel Menschenrecht(e) 49, 59 f., 63, 65– 67, 71, 73 f., 98, 181–183, 185, 212– 214, 227, 247–249, 252–254, 272 Mitgliedschaft 27, 36, 42–45, 50, 62, 71, 88–90, 94, 170, 176, 198, 200– 202, 209, 241, 248, 251, 253 f., 262 f., 265, 267, 275, 304, s. a. Recht auf Mitgliedschaft –, gerechte ~ 31, 209, 245, 248, 258, 270, 298, 300
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Sachregister Nationalismus, liberaler 29, 37, 62, 71, 74, 76 f., 81, 194, 199 f., 206, 301 Nomaden, Nomadismus 23, 27, 73, 102 f., 116, 127, 130 Non-refoulement 155, 212 f., 216, 258, 298, 304 pactum gratuitum s. Vertrag, wohltätiger Partikularismus 41 f., 62, 77, 201, 301 f., 306 Persönlichkeit –, moralische ~ 215, 219 f., 224 –, psychologische ~ 219 f., 224 Prinzip des Rechts, Allgemeines 97, 152 f., 167, 184–189, 192, 256, 278, 293, 303 Pflicht(en) 19, 24, 26, 29, 31 f., 38, 63, 105, 154–163, 194–197, 201, 204, 217, 226, 243 f., 251 f., 255– 257, 259, 264, 271, 281–297, 299 –, besondere ~, special duties 41, 69, 156, 163–169, 197, 201, 223 –, Hilfs~ s. Hilfe, Hilfspflicht –, Leistungs~ 156, 162 f., 168, 182, 197 –, negative ~ 129, 133, 156, 161, 168, 182, 197, 292, 303, 305 –, positive ~ 129, 156, 162 f., 168, 182, 197, 267, 292 –, Rechts~ 32, 118, 156 f., 159–161, 215 f., 224, 231, 257, 259, 266, 271, 284 f., 287–289, 293, 297, 300, 303 f., 307 –, Tugend~ 32, 157, 159 f., 162, 211, 215, 262, 271, 284–289, 292 f., 295, 297, 300, 303–307 –, Unterlassungs~ 124, 156, 160– 162, 168, 182, 197, 215, 280, 303, 306 –, unvollkommene ~ 155–162, 168, 196, 214 f., 221, 225, 228, 289 f. –, vollkommene ~ 155–162, 168, 196 f., 215 f., 222, 224, 226, 231, 290, 303
–, ~ zur Aufnahme 31 f., 46, 48, 53, 61, 66, 71, 209 f., 214, 221, 231, 247, 272, 298 –, ~ zur Gastfreundschaft s. Gastfreundschaft –, ~ zur Nichtabweisung 155, 157, 162 f., 168, 214 f., 222, 224, 227 f., 231, 292, 303, 306, s. a. Nonrefoulement –, ~ zur Unterlassung von Feindseligkeiten 31, 107, 110, 119, 124, 126, 133, 155, 163, 168, 222, 303, 305, s. a. Feind, Feindseligkeit –, ~ zur Wohltätigkeit s. Wohltätigkeit public order restriction 39, 55, 57, 61, 227 Raum, öffentlicher 64 f., 132 f., 196 Recht –, ~ auf Asyl 47 f., 52 f., 170, 213, 216, 224–226, 228 –, ~ auf Auswanderung 32, 44 f., 50, 55, 66, 210 f., 270, 272–274, 277, 279–282, 300, 304, 306 –, ~ auf Einwanderung 66 f., 198, 227, 272, 274, 280–283, 292, 300 –, ~ auf Mitgliedschaft 49, 172–176, 192, 262 f., 265 f., 270, 299, 303 –, Besuchs~ 110, 258, 261, 263, 266 f., 299 –, »eine angeborne« ~ 172, 181–186, 192, 197, 210 f., 248, 253 f., 273, 279 f., 282, 300, 303 –, Gast~ 110, 200, 213, 258, 260 f., 263, 265–267, 299 –, Hospitalitäts~ 119, 178, 180, 197 –, Not~ 229 f. –, ~sbegriff 179, 184, 187–189, 192, 197, 201, 204 f., 238, 256, 288 –, ~spflicht s. Pflicht, Rechts~ –, ~sprinzip, s. Prinzip des Rechts, Allgemeines –, ~szustand 83, 96–98, 125–127, 144, 147–150, 195 f., 201, 228 f., 231, 240, 247, 251, 255, 259, 299
Migration und Weltbürgerrecht
A
https://doi.org/10.5771/9783495820728 .
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Sachregister –, Territorial~ 68, 72, 75 f., 199 f., 305 Schiffbruch, Schiffbrüchige 183, 218, 229 Sklavenhandel, Sklaverei 23, 118, 142 f., 145, 152, 167 Souveränität 21, 53, 59, 64, 68, 76, 108, 139, 233, 235 f., 241–244, 256 f., 298 f., 304 f. Staatenlosigkeit 32, 210, 237, 245– 253, 257–259, 262, 299, 304, 306 Staatsangehörigkeit 39, 213, 246, 249 f., 257 f. Staatsbürgerschaft 20, 27, 31 f., 35 f., 49, 52, 54, 81 f., 84, 170, 202 f., 209 f., 246 f., 249–252, 254, 258, 260–262, 266–268, 270, 299–301, 304 Steuern s. Besteuerung Teilnehmung 163, 211, 289 f., 295, 300, 304 Tugendpflicht s. Pflicht Umgangstugenden 118 f., 284, 296 Ungerechtigkeit 66, 145, 148, 150, 165–167, 169, 222, 288, 294, s. a. Gerechtigkeit Universalismus 41, 58, 62, 77, 82, 136, 170, 198–201, 203–206, 210, 301 f., 305 Untergang 110, 129, 133, 155, 161 f., 168, 191 f., 196, 212 f., 215–222,
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224, 226, 229, 231, 237, 239, 256, 258, 282, 298 f., 303, 305 f. Verbannung 84, 94, 251, 259 Vereinigungsfreiheit 66 f., 269, s. a. freedom of association Vertrag –, Gesellschafts~ 19, 267 –, ~sfreiheit 267–269 –, ~stheorie 19, 27, 35, 39, 54 f., 74, 304 –, wohltätiger ~ 167, 258, 262–264, 270 Vertreibung 20, 23, 26, 292 Vogelfreiheit 245, 251 f., 259, 299 Weltbürger 31, 85, 87 f., 90, 92–95, 99, s. a. Kosmopolitismus –, ~lich 31, 83, 85, 87–89, 91, 93, 96–98 –, ~liche Gesinnung 88, 104, 163, 211, 284, 295 f., 300, 304 –, ~liche Verfassung 88 f., 97, 102, 117, 147, 176, 178 –, ~licher Zustand 96, 99, 173, 175 Weltöffentlichkeit 172, 176 f., 192, 303 Wirtbarkeit 109, 118 Wohltätigkeit 146, 163, 211, 262– 265, 271, 284, 288–297, 299 f., 304, 306 Zwangsbefugnis 75, 167, 189, 244, 256, 288
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Karoline Reinhardt
https://doi.org/10.5771/9783495820728 .