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German Pages 357 [358] Year 2016
Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte
Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie International Yearbook for Philosophical Anthropology
Herausgegeben von/edited by Bruno Accarino, Jos de Mul, Hans-Peter Krüger
Band 6, 2016
Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie Herausgegeben von/edited by Thomas Ebke, Sebastian Edinger, Frank Müller und Roman Yos
Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung
ISBN 978-3-11-044178-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043568-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043344-9 ISSN 2192-4279 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Philip Klöcking, Potsdam Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Editorial Es ist erstaunlich, dass es kaum systematische Untersuchungen zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie gibt, obwohl sie beide als theoretische Traditionen die Diskussionen des . Jahrhunderts mitgeprägt haben. Wenn man den Dialog ehemals disparat erscheinender Theorietraditionen als Indiz für ein absehbares Ende schulphilosophischer Einkapselung nehmen darf, so mag dies ein positives Signal sein Ebke/Schloßberger , )riesen et al. . )ruchtbar und deshalb begrüßenswert erscheinen solche theoriegeschichtlich wie systematisch motivierten Konfrontationen aber lediglich dann, wenn sie zugleich auch den Blick auf Problemfelder lenken, die sich im Horizont der Gegenwart auftun. Möglich, dass sich dann umso besser fassen lässt, was den Blicken der jeweiligen Autoren historisch verstellt blieb, weil sich Argumente – ob nun zustimmende oder kritische – weniger leicht beiseite schieben oder schlicht ignorieren lassen. Mag der aktuelle Zustand der Philosophie als universitärem )ach solcherlei Arbeitsteilung auch kaum begünstigen: Wenn sich die Auseinandersetzung mit drängenden )ragen im gesellschaftlichen Umgang mit Mensch und Natur als Problem von übergreifendem philosophischem Interesse formulieren lässt und darin nicht nur die Binnenperspektive bestimmter intellektueller Schulen und Gruppen aufscheint, sollten sich daran auch für die Philosophie der Gegenwart entsprechende Aufgaben erkennen lassen. Dies zumindest ist eine jener Hoffnungen, die sich aus Sicht der Herausgeber des hier vorgelegten sechsten Bandes des „Internationalen Jahrbuchs für Philosophische Anthropologie“ mit der Vergleichung der Denkansätze Philosophischer Anthropologie einerseits und Kritischer Theorie andererseits verbindet. Einem solchen Vorhaben wird freilich nicht dadurch Genüge getan, dass man Themen der wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Entwicklungen einfach nur aufnimmt und daraus handhabbare Vorschläge für deren jeweils effektivierten Gebrauch macht. Den Herausgebern dieses Bandes geht es vielmehr um die Aufnahme und Klärung von Begrifflichkeiten der beiden genannten Paradigmen, um überhaupt erst einmal eine Diskussionsebene herzustellen und das praktische wie binnentheoretische Problembewusstsein zu schärfen. In diesem Sinn soll der Band einen Beitrag zur Weckung eines kritischen Bewusstseins für die Probleme der Gegenwart leisten, das im Hinblick auf verschiedene Phänomene – seien es nun die noch immer hegemonialen life sciences oder ganz allgemein Praktiken der Technisierung der menschlichen 0atur und ihrer Umwelt – für Befremden sorgt, und zwar intendierter Maßen. An solchen Phänomenen lässt sich ein je auf unterschiedliche Weise formuliertes, sachlich-kritisches Grundmotiv zwischen Philosophischer Anth-
ڲMit Bezug auf die Kritische Theorie siehe Böhme/Manzei und die Kritische Theorie )riesen et al. .
; sowie im Rückblick auf Heidegger
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ropologie und Kritischer Theorie erkennen. Der Schwerpunkt dieses Bandes, der an diesem Desiderat ansetzt, gründet sich auf Beiträge einer Tagung, die im )ebruar unter dem Titel „Mensch und Gesellschaft zwischen 0atur und Geschichte. Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie“ am Institut für Philosophie der Universität Potsdam in Kooperation mit dem Institut für Philosophie der )reien Universität Berlin stattgefunden hat. 0ach Jahrzehnten zögerlicher Avancen, nur selten fruchtbarer Missverständnisse und schulpolitisch motivierter Kurzschlüsse auf beiden Seiten bahnt sich – wenn unser Eindruck nicht täuscht – in der jüngeren )orschung die Tendenz an, unvoreingenommener aus den kritischen Reservoirs beider Theorietraditionen zu schöpfen, selbst wenn beiderseitig berechtigte Kritik in der Sache bestehen bleibt. Dieses Auftauen der )orschungslage hin zu einer unbefangeneren Diskussion zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie bietet zugleich die Chance, die heutigen Möglichkeiten einer gesellschaftstheoretisch differenzierten Diagnostik der Verwerfungen des kontemporären Hochkapitalismus mitsamt seiner neuen Technologien und Wissenschaftstypen zu bestimmen. 0eben der philosophiegeschichtlichen Rekapitulation der verschiedenen Konjunkturen und Episoden ihres wechselseitigen Dissenses und des Herantastens aneinander hat der vorliegende Band das Ziel, die Komplementarität zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie sowie die Grenzen ihrer Verbindung zu thematisieren.
Zur Struktur des Buches Der historisch und bis in die Gegenwart hinein geführte Austausch zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie wird im Sammelband durch drei Gruppen von Beiträgen dokumentiert. Der Eröffnungsteil „Umgrenzung der Einsätze“ fragt zunächst nach den scharfen Antagonismen, aber auch nach den Berührungsflächen beider Denkbewegungen. Den Auftakt bildet hier der Beitrag von Joachim )ischer, der nicht nur ein breites Panorama der verschiedenen Stationen in der polemogenen Geschichte des Dialogs von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie von den 9 er bis in die 9 er Jahre präsentiert, sondern auch auf den Gegensatz von Georg Lukács‘ „kritischer Theorie der Gesellschaft im 0amen der militanten Gemeinschaft“ und Helmuth Plessners „Kritik der radikalen Gemeinschaftsutopien im Zeichen der zivilen Gesellschaft“ als einem frühen 0ukleus der späteren Spannungsgeschichte zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie reflektiert. Eine dazu komplementäre Diagnose formuliert Hans-Peter Krüger, der als Vorzug der Philosophischen Anthropologie gerade bei Plessner die
ڳDazu aus Sicht der Philosophischen Anthropologie: Weiland 99 .
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Einsicht hervorkehrt, dass nicht die Entfremdung von individuellen und kollektiven Instanzen des „Selbst“, sondern die fortlaufende Tilgung der Dimensionen der „Welt“ die theoretisch wie praktisch prekäre conditio humana in nachmetaphysischer Zeit sei. )ischer und Krüger insistieren auf der für die Philosophische Anthropologie aus dieser Einsicht folgenden Bejahung von Verhältnissen der öffentlichen Exteriorität und der irreduziblen Mediatisierung des Personalen in Rollen, gegenüber dem in der Kritischen Theorie fortlaufenden Erbe der Kritik kapitalistischer Entfremdungsdynamiken. Die Zielsetzung des Beitrags von Gérard Raulet liegt in der Enthüllung „einer weit gespannten philosophischen Anthropologie“ Raulet im Inneren des Erbes der Kritischen Theorie: In den Texten Walter Benjamins, vor allem jener „Über das mimetische Vermögen“, bringt Raulet materialistische „Rückhaltbestände“ und näherhin phylogenetische Implikationen zur Ansicht, die dann auch einen Vergleich mit den Positionen Schelers und Plessners andeuten. Bereits Adorno habe auf ambivalente Art Benjamins Stoßrichtung eines anthropologischen Materialismus zu entschärfen versucht: In ihrem zeitgenössischen )ormat sei die Tradition der Kritischen Theorie jedoch insofern radikal „verkürzt“, als sie in keiner Weise mehr die Positionen Benjamins fruchtbar mache. In dieser Hinsicht schlägt Raulets Beitrag einen alternativen Weg der Verdinglichungskritik vor. Die zweite Themengruppe des Buches „0atur – Versöhnung oder Entfremdung“ handelt von den expliziten, aber auch den unterschwelligen Konzeptualisierungen von „0atur“, insbesondere auch der Differenz von 0atur und Leben, in Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie. Zunächst exponiert Michael Schüßler die Semantik von Körperlichkeit und Leiblichkeit in Texten Theodor W. Adornos und Helmuth Plessners. Gerade Adorno habe luzide den Chiasmus zwischen Körper und Leib herausgespürt, also den „schmalen Grat“ oder gleichsam die Bruch- und Umschlagsstelle zwischen „erster“ und „zweiter“ 0atur, zwischen Beherrschung von und Bestimmtheit durch 0atur. Dieses Denkmotiv wird von Schüßler mit Plessners phänomenologischem Durchgang durch die Differenz und Verflochtenheit von Körper und Leib gegengelesen. Der Text von Thomas Ebke reartikuliert die Relation zwischen Mimikry und Mimesis, um die womöglich ruinöse Unterseite eines „immanenten Primats des Vitalen“, auf den hin im Sinne eines kritischen Minimums sowohl die Philosophische Anthropologie als auch die Kritische Theorie konvergieren, aufzudecken. Zur )rage steht im Ausgriff auf Hypothesen des sogenannten „Spekulativen Realismus“ Brassier, Meillassoux die Reversibilität einer wie aporetisch auch immer aufgefassten „Aufklärung der Aufklärung“ in eine Topologie des Realen, die sich den dynamischen Termen des Mimetischen oder des Vitalen verschließt. Christine Zunke wendet die Kategorie der 0atürlichkeit in ihrem Beitrag zu einer kritisch-theoretischen, im Kern ideologiekritischen Entlarvung des Mythos einer Transzendenz biologischer Determinierung zu praktischer )reiheit im Sinne einer natürlichen und später evolutionär gewordenen Eigenschaft des Menschen. Zunke insistiert auf der fortwährend zu reaktualisierenden Leistung der Kritischen Theorie, „das Bündnis der Idee von )reiheit mit der realen Unfreiheit“ Adorno
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aufzubrechen und in seiner 0egativität einzusehen. Dieser Impuls wird in Zunkes Text zu einer Kritik am naturalisierenden „Mythos der apersonalen Herrschaftsform des Kapitalismus“ vorangetrieben. Mit dieser Argumentation steht der Text von Christine Zunke in Resonanz zum Beitrag von Vanessa Vidal, dem es um die Explizierung von Adornos frühem Text „Die Idee der 0aturgeschichte“ als programmatischer Keimzelle der Kritischen Theorie zu tun ist. Vidal sieht in diesem Aufsatz die der Kritischen Theorie eigentümliche Einschätzung des Verhältnisses von Geschichtsphilosophie und Ontologie vorweggenommen, wobei sich Adornos Ontologiekritik insbesondere gegen die Standpunkte Heideggers und Schelers formiere. Als Leitmotiv dieser paradigmatischen Schrift Adornos hebt Vidal den Versuch heraus, „das Auseinanderfallen von 0atur und Geschichte aufzuheben“, etwa so, wie es sich in der Irreduzibilität des 0uminosen und des Vitalen bei Scheler manifestiere. Sebastian Edinger nimmt in seinem Beitrag die )rage nach der Rolle der Religion im Denken Helmuth Plessners und Max Horkheimers zum Anlass einer sowohl philosophisch als auch soziologisch gelagerten Untersuchung. Eine genuin philosophische Religionskritik macht Edinger dabei lediglich im Werk Plessners aus, während die soziologische Theorie und Kritik der Religion bei Plessner und Horkheimer jeweils in die 9 er Jahre fällt – mit teilweise zu wenig beachteten Überschneidungen gerade hinsichtlich der Kritik des Gemeinschaftskults. In Horkheimers Spätwerk arbeitet Edinger allerdings ein deutlich gewandeltes Verhältnis zur Religion heraus, die nun von Horkheimer einerseits mit der Kritischen Theorie affirmativ enggeführt wird und andererseits die Kritische Theorie zu einem positiv und undogmatisch verstandenen Konservatismus hin öffnet. Dieser Beitrag steht zugleich an der Schwelle zum dritten Themenfeld des Buches „Geschichte und Gegenwart des Dialogs“ , das die einflussgeschichtlichen Konstellationen im Dialog zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie untersucht und besonders die aktuellen Wendungen der Rezeption zum Thema macht. Den Anfang macht hier Martin Mettin, der die spezifische Relevanz von Ulrich Sonnemanns „negativer Anthropologie“ in Erinnerung ruft. Als markantes Charakteristikum von Sonnemanns Ansatz wird die Verschränkung einer Psychoanalyse von Mechanismen des Unbewussten mit Elementen der Ideologiekritik herausgestellt. Mit Sonnemanns Denken einer Dialektik „bestimmter 0egation“, die stets auf dem prekären Ineinander von Psychischem und Ideologischem insistiert, konterkariert Mettin Gehlens Institutionentheorie, die sich im Lichte einer Anthropologie des biologischen Mangels konstituiere und auf einem unzulänglichen Geschichtsbewusstsein beruhe, wie es sich neuerdings im Zusammenhang „linksakademischer Sprachspiele“ artikuliere, denen ein „Zwang zum Bekenntnis“ eigentümlich sei. Der Beitrag von Roman Yos hat eine Re-Lektüre des frühen Lexikonartikels „Anthropologie“ von Jürgen Habermas zum Gegenstand, die sich gegenüber der bisherigen Rezeption dieses vielgelesenen Textes durch eine größere Einbeziehung seines zeit- und problemgeschichtlichen Kontextes auszeichnet. Diesen zur Kenntnis zu nehmen sei wichtig, um den im Artikel selbst nur programma-
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tisch formulierten „Anspruch einer Verbindung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie“, den Habermas unter dem Titel einer kritischen Anthropologie in Aussicht gestellt habe, als eine systematische Problemstellung wahrzunehmen, derzufolge es gerade nicht darum gehe, beide der hier verhandelten Theorietraditionen gegeneinander auszuspielen. Den Abschluss dieser dritten Themengruppe bildet eine Auseinandersetzung mit Axel Honneths Impulsen zu einer Transformation Kritischer Theorie, in denen sich von Anbeginn eine produktive Befassung mit der Philosophischen Anthropologie zu erkennen gab. In den Band aufgenommen ist deshalb ein zuvor nur in englischer Übersetzung publizierter Text von Axel Honneth selbst, der die auf „Moral und Hypermoral“ bezogene Gehlen-Kritik von Jürgen Habermas zum Anlass nimmt, um Gehlens damalige Intentionen einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Damit bringt Honneth rekursiv gegen Habermas die von Gehlen präsentierte Idee eines „ethischen Pluralismus“ ins Spiel, der letztlich „auf eine unauflösliche Vielfalt tiefsitzender moralischer Imperative“ zurückgehe. Deshalb stelle sich die )rage, ob sich ein solcher Pluralismus „stillschweigend auflöse“ oder „in )orm einer äußeren Begrenzung des Diskurses als ein Imperativ unserer Lebenswelt bestehen bleibe“. Im Gegensatz zu Honneths Entwurf stehen die Ausführungen von Andreas Arndt, der sich dem in der Sozialphilosophie zentral gewordenen Anerkennungsbegriff widmet. Arndt entwickelt den Begriff der Anerkennung im Ausgang von Hegels „System der Sittlichkeit“ und über einschlägige Stellen aus Hegels gesamtem Werk in klarer Abgrenzung zu Honneths Verständnis von Anerkennung als „moralischer Grammatik“. Statt eines moralisch bestimmten, sprichwörtlich gewordenen „Kampfes um Anerkennung“ schlägt Arndt einen „Kampf ums Recht“ vor, da Anerkennung bei Hegel erst als „Anerkanntsein“ auf der Basis rechtlicher Strukturen eine tragende Rolle spielt. Der Beitrag spricht sich gegen eine einschlägig anthropologische Begründung von Anerkennungsverhältnissen aus und damit gegen eine verbreitete Interpretation des Verhältnisses von Anthropologie und Sozialphilosophie. Auf Honneths „anthropologische Wende“ im Diskurs der Kritischen Theorie geht auch Alexey Zhavoronkov ein. Honneth habe seinerseits die von Habermas forcierte kommunikationstheoretische Kritik an Plessners Auffassung von Expressivität mit dem Einwand abgewiesen, sie gehe an den nicht-linguistischen )ormen des Kommunizierens vorbei. Zhavoronkov stellt die psychologisch-anthropologische Wiederauszeichnung dieser translinguistischen Expressionen bei Honneth heraus und stößt dabei zugleich auf dessen Versuch, mit Gehlen und G. H. Mead eine gleichsam organische )undierung seiner Theorie des sozialen Handelns zu entwickeln. Das vierte Segment des Bandes enthält einen Essay, einen Text in der Rubrik „Archiv“ sowie vier Rezensionen, die allesamt direkten Bezug zum Schwerpunkt des Buches haben. Peter Berz taucht in seinem Essay ein in die biologischen und ethologischen Tiefenschichten von Jacques Lacans psychoanalytischer Bindung der Subjektkonstitution an das Register des Imaginären. Gezeigt wird, dass Lacan nicht zuletzt Anregungen des philosophischen Anthropologen Adolf Portmann zum The-
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ma der biologischen Retardation verarbeitet hat, um den für die Struktur der Subjektivität charakteristischen Umschwung der Strukturen des Imaginären in ihrer Relation zum Symbolischen einsichtig zu machen. In der „Archiv“-Rubrik dieses Bandes befindet sich ein Wiederabdruck von Theodor W. Adornos „0otizen zur neuen Anthropologie“, deren von Rolf Tiedemann besorgte Ausgabe in den )rankfurter Adorno Blättern VIII von in der edition text + kritik mittlerweile vergriffen ist. Die „0otizen“ werden auf den Zeitraum von August-September 9 datiert und dokumentieren in Adornos Arbeiten eine Phase zwischen angewandter Sozialforschung sowie der entstehenden „Dialektik der Aufklärung“. Wir danken Michael Schwarz vom Walter Benjamin Archiv in der Akademie der Künste, Berlin und der edition text + kritik für freundliche Hinweise sowie dem Theodor W. Adorno Archiv und der Hamburger Stiftung zur )örderung von Wissenschaft und Kunst für die Genehmigung des Abdrucks. Danksagung: Die Herausgeber danken der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für die Gewährung einer großzügigen Druckkostenbeihilfe, die die Realisierung dieses Bandes möglich gemacht hat. Unser Dank gilt zudem Prof. Anne Eusterschulte )reie Universität Berlin sowie Prof. Hans-Peter Krüger Universität Potsdam für die Ermöglichung und Begleitung der Tagung an der Universität Potsdam im )ebruar , deren Beiträge dieser Band versammelt. Philip Klöcking Universität Potsdam sei für die technische Realisierung des Buches sehr gedankt.
Die Herausgeber Berlin und Potsdam, August – September
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Literaturverzeichnis Böhme, Gernot/Manzei, Alexandra Hg. : Kritische Theorie der Technik und der 0atur, München. Ebke, Thomas/Schloßberger, Matthias Hg. : Dezentrierungen. Zur Konfrontation von philosophischer Anthropologie, Strukturalismus und Poststrukturalismus = Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Band , Berlin. )riesen, Hans/Lotz, Christian/Meier, Jakob, Wolf, Markus Hg. : Ding und Verdinglichung. Technik- und Sozialphilosophie nach Heidegger und der Kritischen Theorie, München. Weiland, René 99 : Das Gerücht über die Philosophische Anthropologie: Über einen Blindfleck „Kritischer Theorie“, in: Ders. Hg. : Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim, – .
Inhalt I. Philosophische Anthropologie und/oder Kritische Theorie: Zur Umgrenzung der Einsätze Joachim Fischer Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne. Alternative Paradigmen aus dem . Jahrhundert Hans-Peter Krüger Kritische Anthropologie? Zum Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie 9 Gérard Raulet Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin – Ansätze zu einer anthropologischen kritischen Theorie
II. 0atur – Versöhnung oder Entfremdung Michael Schüßler Leib und Körper in der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners Thomas Ebke „Das Leben weicht um eine Stufe zurück“. Der mimikröse Rest im Vitalen 9 Christine Zunke 0atur als Herrschaftsmythos Vanessa Vidal Jenseits von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie: Diesseits von Theodor W. Adornos Idee naturgeschichtlicher Deutung Sebastian Edinger Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
XIV Inhalt
III. Geschichte und Gegenwart des Dialogs Martin Mettin „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“ – Ulrich Sonnemanns 0egative Anthropologie als Sprachkritik Roman Yos „Eine kritische Anthropologie unterschlägt das nicht.“ – Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext 9 Axel Honneth Probleme des ethischen Pluralismus. Zu Gehlens Entwurf einer anthropologischen Ethik Andreas Arndt Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs Alexey Zhavoronkov Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität. Zu Axel Honneths Rezeption von Helmuth Plessner
IV. Archiv/Essay/Rezensionen Archiv Theodor W. Adorno 0otizen zur neuen Anthropologie
Essay Peter Berz Lʼimaginaire animal
Rezensionen Tim-Florian Goslar Eine Kritik der technischen Vernunft? Oliver Müllers Technikphilosophie zwischen Selbst und Welt
Inhalt
Katharina Block/Bernd Straßburg Wie nach dem Menschen fragen? Vom Wesen des Menschen zum Prinzip seiner Ansprechbarkeit Hans-Ulrich Lessing Helmuth Plessner in seinen Lebensstationen. Ein neuer biographischer Sammelband erkundet seinen Weg von Wiesbaden bis Zürich Jasper van Buuren Der Realismus als notwendige Fiktion Personenverzeichnis
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I. Philosophische Anthropologie und/oder Kritische Theorie: Zur Umgrenzung der Einsätze
Joachim )ischer
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne. Alternative Paradigmen aus dem . Jahrhundert Einleitung Die Kritische Theorie der Gesellschaft und die Philosophische Anthropologie der Moderne stehen von Beginn ihres Auftretens an im Verhältnis der Konkurrenz zueinander – sie streiten um das Primat in der Rivalität um eine Theorie der Welt des menschlichen Lebens in der Gegenwart. Jürgen Habermas hat das in seinem berühmten „Anthropologie -Artikel von auf den Punkt gebracht: Soziologie kann sich nicht, wozu in Deutschland eine gewisse 0eigung besteht, durch Anthropologie als eine Art Grundlagenwissenschaft die Maßstäbe vorgeben lassen [...]. Vielmehr muß sich die Anthropologie grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht und nicht zufällig entsteht – nur so entgeht sie der Versuchung, geschichtlich Gewordenes schlechthin als 0atur‘ auszugeben [...] Habermas , .
Das Vorbild einer solchen „kritischen Anthropologie ebd. , in der die „Anthropologie der kritischen „Theorie der Gesellschaft ebd., nachgeordnet wäre, so schließt Habermas mit Referenz auf Horkheimer, Adorno und Marcuse, finde man in Untersuchungen, die „Psychoanalyse und Soziologie aufeinander beziehen H. Marcuse Habermas , . Umgekehrt – so muss man die Alternative aus dem trotz dieser Abschlussvolte zu Gunsten der Kritischen Theorie durchaus informativen und instruktiven Habermas-Artikel selbst interpolieren – postuliert die Philosophische Anthropologie‘ mit den Philosophen und Soziologen Plessner, Gehlen, Rothacker und Portmann , dass sich die Sozialität der Menschen und der Begriff der Gesellschaft der Moderne nur im Umweg über einen systematisch gewonnenen Begriff der naturgeschichtlich gebrochenen 0atur, die den Menschen auf „natürliche Künstlichkeit und „vermittelte Unmittelbarkeit verweist, explizieren lassen. Die Kritische Theorie setzt den Begriff der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ڲIch danke )alko Schmieder für die Diskussion einer Version des Beitrages während meiner )ellowship am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung im Juli . )ür die Hinweise zur inhaltlichen und stilistischen Optimierung des Artikels danke ich Thomas Ebke. ڳZur Rezeption von Marcuse siehe Habermas .
Joachim )ischer
voraus, um überhaupt über „Arbeit und „Produktionsverhältnisse als deren )ormbestimmtheit sprechen zu können – die Philosophische Anthropologie setzt mit einem Begriff des Menschen überhaupt an, der auch die moderne Gesellschaft in ihrer „Conditio humana begreifen lässt. Die „Kölner Konstellation der zwanziger Jahre zwischen Max Scheler und Helmuth Plessner, mit ihrem Rückgriff auf die kritische Schichtenontologie von 0icolai Hartmann )ischer , und die zeitgleiche „)rankfurter Konstellation zwischen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, mit Rückendeckung durch den 0eomarxismus der Verdinglichungstheorie von Georg Lukács Wiggershaus , haben parallel zwei vollständig verschiedene Paradigmen generiert, die beide, miteinander konkurrierend, in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts in den Sozial- und Kulturwissenschaften der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit eine veritable Wirkungsgeschichte gezeitigt haben. Am Ende des . Jahrhunderts jeweils neu konturiert und diskutiert, sind sie als anspruchsvolle Theorien im . Jahrhundert präsent und erheben alternative Geltung auf diagnostische Kompetenz. Insofern lohnt eine historische und systematische Verhältnisbestimmung beider Theorieansätze. Die folgenden Überlegungen werden in drei Schritten entwickelt. Zunächst I wird die intellektuelle Verhältnisgeschichte zwischen der Philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie der Gesellschaft in drei Phasen gerafft erzählt, und zwar beginnend mit den Beziehungen zwischen Max Scheler und Max Horkheimer Ende der zwanziger Jahre, die voller alternativer Möglichkeiten einer „)rankfurter Schule steckten ; sodann wird die facettenreiche Geschichte zwischen den Remigranten Plessner Göttingen und Horkheimer/Adorno )rankfurt seit Anfang der er Jahre mit ihren partiellen Arbeitskooperationen bei starken theoriesystematischen Differenzen erschlossen ; und schließlich wird der plakative Disput zwischen Gehlen und Adorno in den sechziger Jahren, als sich in den von Adorno initiierten öffentlichen Debatten mit seinem Antipoden Gehlen gleichsam das Alternativverhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie im Vorfeld der er-Auseinandersetzungen zu kristallisieren und fixieren schien, zur Ansicht gebracht . Vor diesem Hintergrund sorgt Abschnitt II für eine Überraschung: Steigt man nämlich gründlicher in die Theoriegeschichte ein, wird sichtbar, dass die eigentliche Tiefendifferenz der Paradigmen nicht erst zwischen Adorno und Gehlen Mitte der sechziger sich manifestiert, sondern zwischen den Ansätzen bereits Anfang der zwanziger Jahre schlagartig sichtbar war – in der sozialphilosophischen Disparität zwischen Lukács und Plessner, zwischen „Geschichte und Klassenbewusstsein einerseits und „Grenzen der Gemeinschaft andererseits, die eine folgenreiche Alternative der Sozialphilosophie des . Jahrhunderts hinsichtlich des Status einer „bürgerlichen Gesellschaft der Moderne profilieren. Der dritte Abschnitt III gräbt noch tiefer – man muss ins Bergwerk der Theoriesystematik gehen, in die Schächte hinab- oder von ihnen aus aufsteigen: Scheint es sich doch bei der Spannung zwischen „Kritischer Theorie und „Philoso-
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
phischer Anthropologie um eine Tiefendifferenz der deutschsprachigen Philosophie des . Jahrhunderts überhaupt zu handeln, die erst spät, namentlich erst Mitte der sechziger Jahre mit Adornos Leitkategorie der Negativen Dialektik im gleichnamigen Buch von im Kontrast zur 0euauflage von Plessners „Stufen des Organischen und der Mensch mit dessen Grundbegriff der exzentrischen Positionalität drastisch kenntlich wird.
I.
Verhältnisgeschichte der Philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie vom Ende der zwanziger bis zu den sechziger Jahren
I. .
Scheler im Frankfurt Horkheimers – zur Alternativgeschichte einer „Frankfurter Schule“
Man muss für einen Moment kontrafaktische Geschichtsschreibung betreiben, um die Brisanz des theoriegeschichtlichen Verhältnisses zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie am Ende der zwanziger Jahre zu erkennen. Im )rühjahr war Max Scheler, der Star jener neuen Philosophischen Anthropologie, die sich in der „Kölner Konstellation seit Mitte der zwanziger Jahre zwischen ihm, Plessner und 0icolai Hartmann gebildet hatte )ischer , bereits mit beiden )üßen in )rankfurt, deren Universität ihn schon hatte berufen wollen. Was für eine Art von „)rankfurter Schule hätte sich eigentlich noch vor bilden können, wenn Scheler, mit modernen sozialphänomenologischen, philosophischanthropologischen, wissenssoziologischen und modernediagnostischen Konzepten geladen, zwischen die „zwei )rankfurter Soziologien Barboza – den Horkheimer-Kreis und das Soziologische Seminar von Karl Mannheim – und zwischen die zwei )rankfurter Psychologien, die Gestaltpsychologen um Gelb und Goldstein und die Psychoanalytiker Erich )romm , gefahren wäre? Es ist nicht ohne Reiz, sich für einen Moment diese Alternativgeschichte vorzustellen. Man muss zunächst vergegenwärtigen, dass Scheler Mitte der zwanziger Jahre alle Bedingungen erfüllte, um ein moderner Klassiker der Philosophie und in der zweiten Generation der jungen deutschen Soziologie ein, ja noch vor Mannheim, Schütz, Geiger, Michels der Klassiker der Soziologie‘ dieses Jahrzehnts zu werden. An der neu gegründeten Universität Köln hatte er seit den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie inne, zugleich war er Mitdirektor des ersten deutschen )orschungsinstituts für Sozialwissenschaften – also bevor an der neuen Universität )rankfurt ein vergleichbar institutioneller Zusammenhang entstand. Als Philosoph war Scheler herausgefordert vom neukantianischen Idealismus, auf den er in Rückbindung an die moderne französische Lebensphilosophie Berg-
Joachim )ischer
sons mit einem Durchbruch zur Wirklichkeit zu antworten versuchte. In seinem avantgardistischen Essay von „Versuche zu einer Philosophie des Lebens zog Scheler in diesem Sinne Bergson mit 0ietzsche, Dilthey und Husserl zusammen Scheler , ergänzt durch eine Rezeption des amerikanischen Pragmatismus. Immer interessiert an der einzelwissenschaftlichen )orschung Biologie, Psychologie, Soziologie, Kulturwissenschaften , bog Scheler gegenüber Husserl die phänomenologische Methode auf neue Sachgebiete der menschlichen Lebenswelt, vor allem auf das „emotionale Apriori , um. In der Zusammenschau hat Scheler in knapp Jahren zwischen und fünf für die Sozialphilosophie und Soziologie systematisch folgenreiche Theoreme entwickelt: Es erscheint sinnvoll, vorgreifend bzw. rückblickend mit dem Theorie- und )orschungsprogramm der Philosophischen Anthropologie von zu beginnen, weil Scheler in )rankfurt in interdisziplinärer Kooperation von ihm aus an seinem großen, angekündigten gleichlautendem Buch geschrieben hätte, um rückwirkend seine Theoreme der früheren Schriften neu zu interpretieren und in ein System‘ zu integrieren. Scheler konstituierte also in der programmatischen Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos – neben dem jüngeren Helmuth Plessner in Köln – den Denkansatz einer modernen Philosophischen Anthropologie, der vorführte, wie die Kultur- und Sozialwissenschaften in eigenverantworteter Durchordnung jeweiliger biologischer )orschung und Primatenforschung die „Sonderstellung der menschlichen Lebenswelt in der organischen Welt theorietechnisch exponieren und damit ihre epistemologische Autonomie gegenüber der naturalistischen Herausforderung der Evolutionsbiologie sichern konnten: Menschen sind „weltoffene Lebewesen. Gegen die Herausforderung des Darwinismus und anders als die idealistische Vernunftphilosophie soll die „Sonderstellung des Menschen in soziologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive exponiert werden. Im kontrastiven Vergleich Pflanze-TierMensch werden kategorial Stufen des Lebendigen Gefühlsdrang, Instinkt, Gedächtnis, praktische Intelligenz herausgearbeitet, die im Menschen wirken und zugleich durch das Prinzip „Geist einen „Umschwung erfahren. Menschen sind „0einsagenkönner , „Asketen des Lebens , „weltoffene Lebewesen , deren autonomer, aber in sich machtloser Geist auf die vitalen Kräfte verwiesen bleibt, deren Richtung er in der praktischen Weltgestaltung zugleich umkehrt und einsetzt Scheler a. Von hier aus hätte Scheler in )rankfurt seine Sozialphänomenologie in die Philosophische Anthropologie integriert, die die Konstitution des Sozialen im Medium der nichtkognitivistischen, gleichwohl spezifisch menschlichen sozialen )ühlakte des 0achfühlens, Mitfühlens, Einsfühlens, Miteinanderfühlens Sympathie, Scham rekonstruiert Scheler ; dazu Schloßberger . Keiner der vielen sozialphänomenologischen interaktionistischen‘ Grundlegungsversuche der zwanziger Jahre Buber, Litt, Löwith u.a. kam ohne Bezug auf den Referenzautor Scheler mit seinem bahnbrechenden Werk „Wesen und )ormen der Sympathiegefühle aus, das er in Köln in zweiter Auflage veröffentlicht hatte. Mit seiner „Lehre vom frem-
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
den Ich begründete er darin noch vor Husserl die moderne Intersubjektivitätstheorie. Dann hätte Scheler von der Philosophischen Anthropologie aus die Sozial- und Kulturtheorie entfaltet, die die Korrelation zwischen der Pluralität der menschlichen Gefühle und der pluralen Wertewelt aufdeckt und damit die Gesellschaftsgeschichte verschiedener Kulturen als Geschichte der Entdeckung und Verkörperung je spezifischer Wertewelten beschreibbar macht Joas , – . Entwickelt wird überdies in dem Hauptwerk „Der )ormalismus und die materiale Wertethik , gleichfalls von Scheler , der Begriff der individuellen „Person als dem nichtobjektivierbaren geistigen Aktzentrum. Hier findet sich auch die Unterscheidung zwischen „Intimperson und „Sozialperson vergleichbar Meads Distinktion von „I und „me , auf deren Basis Scheler )ormen von Sozialverbänden unterscheidet. Ein weiteres wichtiges )eld wäre die von ihm in den zwanziger Jahren parallel zur Philosophischen Anthropologie entwickelte Soziologie des Wissens geworden, die bei Anerkennung der Eigengeltung von Wissenslogiken und Erkenntnisansprüchen deren Angewiesenheit auf materielle, vitale Durchsetzungsfaktoren beobachtet. In Köln hatte er – als Arbeitsergebnis des Kölner )orschungsinstituts – mit der „Wissenssoziologie ein eigenes Schlüsselgebiet der Soziologie gegründet und ihr damit überhaupt den kultursoziologischen Dreh gegeben. Das Projekt einer „Wissenssoziologie organisierte er als einen Band des Kölner )orschungsinstituts für Sozialwissenschaften Scheler und in seinem eigenen Werk „Die Wissensformen und die Gesellschaft Scheler . Gegen das vom Positivismus bestimmte Dreistadiengesetz von Comte die geschichtsnotwendige Ablösung von Wissensformen nacheinander setzte Scheler die Autonomie jeweils nicht aufeinander rückführbarer „Wissensformen oder anthropologischer Erkenntnisinteressen: „Leistungs- und Herrschaftswissen ; „Bildungswissen ; „Erlösungs- oder Heilswissen . Außerdem setzte er in Auseinandersetzung mit der Marxschen Ideologielehre auf die Eigenlogik des „Wissens insgesamt der „Idealfaktoren bei gleichzeitiger Beobachtung der Realisierungsverwiesenheit dieses Wissens auf verschiedene „Realfaktoren Hungertriebe, Sexualtriebe, Machttriebe; siehe dazu Lichtblau . Und schließlich ist für Schelers virtuell folgenreichen Antritt in )rankfurt im Blick zu behalten, dass sein großer Berliner Vortrag „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs Scheler b den Zeitgenossen als soziologisch raffinierte Gegenwartsdiagnostik einschließlich einer komplexen, differenzierungstheoretisch zu verstehenden Theorie der Moderne galt. Gegen Spenglers „Untergang des Abendlandes und gegen Lukács Verdinglichungsverhängnis des Kapitalismus entwickelte er eine Theorie der differenzierten, globalen, transnationalen Moderne, die statt des Überbietungsgestus des „Übermenschen oder des sozialistischen „0euen Menschen den Typus des „Allmenschen diagnostiziert, der sich in den Spannungen entlang verschiedener, nicht aufeinander rückführbarer Differenzierungsachsen bewegt und der die Einseitigkeiten verschiedener europäischer und nichteuropäischer Kulturen, verschiedener sozialer Klassen, der Differenz zwischen den Geschlechtern und die Differenzspannungen zwischen Rationalisierung und Körper-
Joachim )ischer
lichkeit zum „Ausgleich bringe. Damit ist eine kritische Theorie, die mit dem einen dominanten System‘-Widerspruch in der Analyse arbeitet, zugunsten einer Theorie komplexer sozialer Differenzierungen und Konflikte zurückgewiesen. Scheler etablierte hier das soziologische Theorem des „Ausgleichs , der Kompensation der gegenläufigen Tendenzen der ausdifferenzierten Moderne, wie es später von Schelsky, Gehlen und Luhmann moderneanalytisch virtuos gehandhabt wurde. Die )rankfurter Szene war in äußerster Erwartung gespannt auf diesen berühmt-brillanten Denker, dessen dämonische Präsenz Otto Dix in der Manier der 0euen Sachlichkeit bereits als Porträt fixiert hatte. Wie hätte sich von )rankfurt aus die deutsche Philosophie und Soziologie konstelliert, wenn ihre berühmteste Theoriepotenz sich noch vor an diesem Ort entfaltet hätte? Wie hätte sich eigentlich der Privatdozent Horkheimer weiterentwickelt, wenn er vor Ort die Anerkennung des berühmten Kollegen erfahren hätte? Es gibt ein Indiz für mögliche Konstellationen: Rückblickend schreibt Horkheimer , also nachdem alles anders gelaufen war, an einen amerikanischen Kollegen, den Moment von Schelers )rankfurter Berufung nachträglich aufrufend: „I was quite close to him personally, and when he was appointed Professor at )rankfurt University in the late twenties it seemed as though an intensive cooperation between him and several of our friends had started a new era at that university Horkheimer , . Und Horkheimer ergänzt: „As you know, these plans were severed by the sudden death of Max Scheler a few weeks after his inaugural lecture ebd. . Max Scheler starb plötzlich in )rankfurt, alle Vorhaben für und in )rankfurt brachen ab. Max Horkheimer drückte im Jahr seine Hochachtung und Wertschätzung für Max Scheler in einer Vorlesung aus – der „Grundverschiedenheit der philosophischen Theorien Horkheimer , zum Trotz. wurde Horkheimer Direktor des Instituts für Sozialforschung, das sich unter seiner Ägide bereits vor zu einem eigenen, neomarxistisch gesonnenen interdisziplinären )orschungszusammenhang entwickelte, aus dessen Durchhalten durch das amerikanische Exil sich dann nach der Rückkehr die „)rankfurter Schule bildete. Eine „)rankfurter Schule der modernen Philosophischen Anthropologie um das Epizentrum Max Scheler, um seine mit philosophischanthropologischen und moderneanalytisch gerichteten Theoremen geladene Intellektualität konnte sich seines jähen Todes wegen nicht bilden.
I. . Plessner und Horkheimer/Adorno – Remigrantenkooperation bei Theoriendifferenz nach Die Verhältnisgeschichte zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie setzt neu ein als eine facettenreiche Geschichte nach zwischen den Remigranten Plessner Göttingen und Horkheimer/Adorno )rankfurt , seit Anfang der er Jahre mit ihren partiellen Arbeitskooperationen bei starken theoriesystematischen Differenzen. Unabhängig voneinander entscheiden sich Horkhei-
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
mer/Adorno und Plessner zur Rückkehr aus dem amerikanischen bzw. niederländischen Exil – die ersteren zur Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach )rankfurt, Plessner, nach einigem Zögern, zur Annahme des Göttinger Lehrstuhls für Soziologie und Philosophie in der )unktion einer Gründungsprofessur eines „Soziologischen Seminars an der Universität Göttingen. Im Zuge der parallelen Institutionalisierungen kommt es zu einer Kooperation zwischen den Remigranten, die die Züge einer „Vernunftehe Plessner trägt: Horkheimer, der für Adorno, der durch einen befristeten USA-Aufenthalt seine amerikanische Staatsbürgerschaft stabilisieren muss, eine Vertretung der Mitdirektorenschaft sucht, fragt bei Helmuth Plessner an. Plessner wiederum hat Interesse an dieser Zusammenarbeit, die ihn zu wöchentlichen Reisen zwischen Göttingen und )rankfurt zwingt, weil er für den Aufbau seines eigenen Instituts von der Art der Sozialforschungsprojekte der )rankfurter lernen möchte. Es kommt zu einer wirklichen Kooperation, insofern Plessner statt Adorno Mitdirektor am )rankfurter Institut wird und Monika Plessner die )unktion von Gretel Adorno übernimmt Horkheimer war bei der )rankfurter Hochzeit zwischen Plessner und seiner )rau Trauzeuge . Obwohl Horkheimer vermutlich weitergehende Ambitionen hinsichtlich einer Einbindung Plessners in die )orschungsvorhaben des Instituts hegte, konnte es dazu wegen der – aus den zwanziger Jahren stammenden – theoriegeschichtlichen Differenzen nicht kommen. Monika Plessner hat diese Tiefendifferenz in ihren Erinnerungen an ein Abendessen zwischen den Beteiligten festgehalten, angesichts einer Differenz zwischen „Max und „Helmuth bezogen auf die )rankfurter Gruppenstudie: „Wusste Helmuth etwa, dass die )rankfurter‘ seine Philosophische Anthropologie für obsolet hielten? Ja, er wusste, war aber umgekehrt kein Anhänger der Kritischen Theorie‘ Plessner , . Die )rankfurter in ihrer notorischen Kritik an der Philosophischen Anthropologie bezogen sich dabei immer auf Max Scheler, niemals auf Plessners zeitgleiches, in der Grundkonzeption ähnliches, nur viel sorgfältiger durchdachtes und ausgearbeitetes Hauptwerk „Stufen des Organischen und der Mensch . Aus Sicht der „)rankfurter war in jedem )all vorentschieden, dass die moderne Philosophische Anthropologie eine ungeschichtliche Konstantenlehre der menschlichen 0atur enthalte, die geschichtliche, verkehrte Strukturzüge der „bürgerlichen Gesellschaft als 0atur festschreibe und ideologisiere Horkheimer . Das menschliche Lebenssubjekt in der Philosophischen Anthropologie ist in dieser Lesart nichts weiter als der Inbegriff des „bürgerlichen Menschen in seiner kapitalistisch gesellschaftlichen Wirklichkeit – demgegenüber käme es geschichtlich-kritisch auf die „Abschaffung der Monade durch Solidarität
ڴVgl. zu der Verhältnisgeschichte zwischen Plessner und Horkheimer/Adorno vor allem die beiden Kapitel: „Ein Abend bei Adornos – und „Gruppenbild mit Horkheimer – in Plessner sowie den Aufsatz von René Weiland zum „blinden )leck der )rankfurter Schule hinsichtlich der Philosophischen Anthropologie Weiland .
Joachim )ischer
an. Da die Protagonisten der „Vernunftehe auch jeweils Beiträge zu den fälligen )estschriften Horkheimer und Adorno für die Plessner-)estschrift , siehe Horkheimer sowie Adorno ; Plessner für die Adorno-)estschrift , siehe Plessner lieferten, hat Plessner in seinem Beitrag „Immer noch philosophische Anthropologie? das )orschungsprogramm der Philosophischen Anthropologie noch einmal gegenüber der Kritischen Theorie zu rechtfertigen versucht. Bereits zuvor hatte er in seinem Schlüsselaufsatz zur „Öffentlichkeit und die Idee der Selbstentfremdung eindeutig gegen das )rankfurter historische Apriori der Selbstentfremdung der Menschen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft argumentiert: Wegen der exzentrischen Konstellation seiner 0atur ist der Mensch auf „Verdinglichung und „Verdrängung im Verhältnis zu seinem Körper grundsätzlich angewiesen Plessner a, . Ende der er Jahre wurde noch eine theoriesystematische Differenzebene zwischen Horkheimer/Adorno und Plessner öffentlich deutlich – die Differenz der Versuche über die Aufklärung der Bedingungen der Möglichkeit eines nationalsozialistischen Deutschlands. Denn das in der 0euauflage von unter dem neuen Titel Die Verspätete Nation herausgebrachte Plessner-Buch von avancierte rasch zu einem Klassiker des Deutschlanddiskurses Plessner , i.O. . Der im Sommer von den 0ationalsozialisten wegen der jüdischen Herkunft seines getauften Vaters aus dem Kölner Universitätsdienst entlassene, in die 0iederlande nach Groningen emigrierende Plessner hatte an der dortigen Universität vor niederländischem Publikum Vorlesungen zur zeitgenössischen deutschen Philosophie und zur Lage der deutschen Gegenwart gehalten, woraus ein Buch hervorging, das unter dem Titel „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche in einem Züricher Verlag erschien, für kurze Zeit auch noch in Deutschland kursierte und dort auch besprochen wurde. Plessners Buch ist eine intellektuelle Reaktion auf die ihn existentiell betreffende Umwälzung von – eine tief ausholende Aufklärung über die Aufklärung, über den bürgerlichen Geist in Deutschland, der ermöglicht hatte. Es ist insofern mit Horkheimers/Adornos späterer „Dialektik der Aufklärung vergleichbar. Aber während Horkheimer und Adorno den deutschen Zivilisationsbruch gleichsam universalisieren, die deutschen Vorkommnisse in eine universale Verhängnisgeschichte der instrumentellen Vernunft von Odysseus bis zur kapitalistischen Moderne verwandeln und damit auch den Westen, Westeuropa und die USA selbst in das strukturelle Bedingungsfeld der deutschen Katastrophe einbeziehen, liefert Plessner umgekehrt in seinem Buch eine Differentialdiagnostik, die man unter den Titel Der deutsche Geist und der Westen‘ stellen könnte. Es sind in Plessners Ansatz spezifische religions-, politik- und philosophiegeschichtliche Bedingungen, die gerade – und nur – das deutsche Bürgertum in einer europaweiten Krise vor dem Ordnung versprechenden Angebot einer rassenbiologischen „autoritären Biologie eines auf Aktion und Dezisionismus setzenden Staates kapitulieren lassen, im Unterschied zu den im „politischen Humanismus stabilisierten westlichen Gesellschaften: Diese nämlich führen, anders als das
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
späte Deutschland des . Jahrhunderts, die frühe Aufklärung gleichsam im Schilde ihrer verfassungsrechtlichen Staatsgründungen. Wie man an den Titeln des Buches erkennt – „Ausgang seiner bürgerlichen Epoche , „Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes – kreist Plessners Denken um den gerade durch Philosophie und Soziologie wie einen Augapfel zu hütenden Habitus des Bürgertums als unentbehrlicher Trägerschicht jeder krisentauglichen Moderne – bereits in den zwanziger Jahren, dann als Emigrant, und vor allem als Remigrant, der wie Horkheimer und Adorno in die junge Bundesrepublik zurückkehrt und von Göttingen aus als Philosoph und Soziologe in die sich neu fassende deutsche Gesellschaft wirkt; als einer fragilen civil society, deren Bürgertum einer soziologischen und philosophisch-anthropologischen Dauerbeobachtung und -ermutigung bedurfte )ischer .
I. . Gehlen und Adorno – die plakativen Kontroversen der Philosophischen Anthropologie mit der Frankfurter Schule in den sechziger Jahren Horkheimer und Adorno hatten den Aufstieg von Arnold Gehlen, den mit seinen Publikationen zugkräftigen jüngeren Vertreter der modernen Philosophischen Anthropologie in den er Jahren mit Argusaugen verfolgt und alle Bemühungen, Gehlen aus Aachen auf einen der großen Lehrstühle an einer deutschen Universität zu berufen z.B. auf Initiative von Karl Löwith nach Heidelberg , erfolgreich konterkariert. Selbst Helmuth Plessner, der zu dem jüngeren Gehlen in einem Rivalitätsverhältnis stand, hatte angesichts der Begeisterung für dessen Anthropologie und Soziologie der modernen Ästhetik an die Einfädelung Gehlens als 0achfolger auf seinem eigenen Göttinger Lehrstuhl gedacht – um die moderne Denktradition der „Philosophischen Anthropologie zu stabilisieren )ischer . Just dieses Buch „Zeitbilder. Zur Ästhetik und Soziologie der modernen Malerei Gehlen war es auch, das zeitgleich Adorno motivierte, einen Werbebrief‘ an Arnold Gehlen mit der Bitte um persönliche Begegnungen zu schreiben. Gehlen antwortete, und Adorno betrieb nach einigen Treffen das Projekt gemeinsamer öffentlicher Debatten. Es kam unter anderem zu „Öffentlichkeit – was ist das eigentlich? Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen im Gespräch Sendung; . . und der vom Südwestfunk aufgenommenen und vom Sender )reies Berlin S)B am . . , vom 0orddeutschen Rundfunk 0DR in seinem dritten Programm am . . ausgestrahlten Sendung „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streit-
ڵVor allem mit der „Der Mensch von / hier Gehlen , mit „Urmensch und Spätkultur von Gehlen , mit der „Seele im technischen Zeitalter von Gehlen .
Joachim )ischer
gespräch zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen . )ür Adorno ist die Soziologie die Wissenschaft von den verkehrten „Tauschverhältnissen , die die Menschen belasten, im Würgegriff halten und sie um ihre eigenen Möglichkeiten bringen; für Gehlen ist die Soziologie die Wissenschaft der „Institutionen , die den Menschen in seiner konstitutionellen Unbestimmtheit „entlasten und ihm einen Halt geben. Beide Kontrahenten stritten auch um die moderne Kunst in „Soziologische Erfahrungen an der modernen Kunst, Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen im Gespräch Sendung: . . , Südwestfunk . Eine vorerst letzte Runde drehte diese Kontroverse zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie , also bereits nach Adornos Tod, als Gehlen mit seinem Spätwerk „Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik Gehlen hervortrat, die er in seiner internen anthropologischen Zählung als „Der Mensch III begriff. Gehlen kam alles darauf an, heterogene „Quellen der Moral , verschiedene „Sozialregulationen Sippenethos, Ethos der Gegenseitigkeit, leibnahe Tugenden wie das Mitleidsethos, das Ethos der Institutionen aufzuweisen, die in jeder Sozialität in ein Gleichgewicht zu bringen seien. Das verknüpfte er mit kritischen Analysen der Möglichkeit von „Elargierungen , von Überdehnungen der Geltungsansprüche je eines „Ethos in der Gegenwartsgesellschaft. Jürgen Habermas, der in seiner eigenen Theorieentwicklung auf eine sprachrationale Diskursethik als Letztethik zusteuerte, übernahm in einer Rezension den Gegenpart und kritisierte im „Merkur Gehlens Gegenwartskritik massiv Habermas , dabei den systematischen Ansatz einer pluralistischen Ethik nicht beachtend. Jedem Kenner aber konnte auffallen, dass sich Gehlen in seinem Modell von „pluralen Sozialregulationen in jeder Sozialität samt des Dauerrisikos der „Hypermoral je einer Grundregulation indirekt an Plessners „Grenzen der Gemeinschaft anlehnte: Der hatte ja bereits im Schwerpunkt eine Kritik des „sozialen Radikalismus geleistet, der Überdehnung z.B. des Ethos der Vernunftgemeinschaft oder des Ethos der Ethnosgemeinschaft auf die gesamte Sozialität.
ڶDieses Streitgespräch zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie gewann eine vielfältige Rezeption vor allem durch seinen Abdruck als Anhang der Adorno-Dissertation von )riedemann Grenz Grenz .
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
II. Lukács versus Plessner: Kritische Theorie der Gesellschaft versus Kritik der radikalen Gemeinschaftsutopien – Alternative Sozialtheorien im . Jahrhundert seit Anfang der zwanziger Jahre Doch hält sich noch eine Überraschung parat, mit der bei aller theoriegeschichtlichen Sorgfalt auch die Veranstalter der Tagung und des Bandes zunächst nicht gerechnet haben: Steigt man nämlich tiefer in die Theoriegeschichte ein, wird sichtbar, dass sich die eigentliche strukturelle Tiefendifferenz der Paradigmen nicht erst zwischen Horkheimer und Scheler Ende der zwanziger oder zwischen Adorno und Gehlen Mitte der sechziger Jahre virulent manifestierte beides war auf der dem hiesigen Band zugrundeliegenden Tagung aus kontingenten Gründen gar nicht Thema , sondern zwischen den Ansätzen bereits Anfang der zwanziger Jahre schlagartig greifbar ist – nämlich in der sozialphilosophischen Differenz zwischen Lukács und Plessner, zwischen „Geschichte und Klassenbewusstsein einerseits und den „Grenzen der Gemeinschaft andererseits, die eine Alternative der Sozialphilosophie des . Jahrhunderts hinsichtlich des Status einer „bürgerlichen Gesellschaft der Moderne folgenreich profilieren.
II. . Lukács oder Plessner: Exposition Hier geht es also um den Kontrast zwischen Lukács, dem Ahnherrn der Kritischen Theorie , und Plessner, der eigentlichen Zentralfigur der Philosophischen Anthropologie. Bevor man eine Brücke, eine Anschmiegung beider Denker und Denkrichtungen unternimmt, geht es um die tiefliegende Diskrepanz, die sich von den formativen Anfängen bis in unsere Gegenwart durchhält: Es handelt sich um Alternativansätze, die jeweils vollkommen verschieden vorgehen und dramatisch unterschiedliche Resultate zeitigen. Die formative Phase beider Ansätze beginnt bereits Anfang der zwanziger Jahre – das gilt insbesondere für die sogenannte „Kritische Theorie . veröffentlicht der marxistische Sozialphilosoph Georg Lukács sein Buch „Geschichte und Klas-
ڷSelbstverständlich formiert sich die Kritische Theorie noch im Bezug auf andere Denker – vor allem natürlich Marx selbst sowie )reud und die Psychoanalyse. Dennoch formuliert Lukács im Verdinglichungstheorem den analytischen Schlüssel für die )rankfurter Schule. ڸDass und wie das Paradigma der )rankfurter Schule seit der frühen Kritischen Theorie an Lukács anschließt, ist entfaltet in Brunkhorst .
Joachim )ischer
senbewusstsein Lukács , das vor allem mit dem Kapitel „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats eine neue kritische Diagnostik der modernen Gesellschaft als eines in ihrer „Totalität verdinglichten Lebenszusammenhanges offeriert und zugleich das Proletariat als die Umschlagsstelle umkreist, das diesen totalen Zusammenhang der „Menschenfremdheit bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse durch eine revolutionäre Sprengung des eigenen verdinglichten Bewusstseins in einen neuen solidarischen Lebenszusammenhang verwandeln werde. Lukács hatte unmittelbar zuvor als Volkskommissar für Unterrichtswesen in der kurzen ungarischen Räterepublik und als Politischer Kommissar in der Roten Armee fungiert, und sein Buch von , das die Gesellschaftstheorie der leninistischen Revolution von ebenso wie die Möglichkeit von deren flächendeckender )ortsetzung in Mitteleuropa reflektiert, wird vor allem in seinem diagnostischen Teil – durch das Theorem der „Verdinglichung und „Menschenfremdheit der spätbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – der Leitfaden der „Marxistischen Arbeitswoche von werden, an der Lukács teilnimmt und die in ihrem Personal, vor allem in der Gestalt des Horkheimer-)reundes )riedrich Pollock, so etwas wie die )ormationsstunde des )rankfurter Instituts für Sozialforschung und damit ab des um Horkheimer organisierten Kreises der Kritischen Theorie der Gesellschaft werden wird Wiggershaus , . Die gesamte theoretische Grundlegung der Kritischen Theorie der Gesellschaft, der späteren )rankfurter Schule – vor allem auch bei Adorno und Marcuse – ist ohne dieses Lukács-Buch von nicht zu verstehen. 0ur ein Jahr später veröffentlicht der gegenüber Lukács sieben Jahre jüngere, bürgerliche Sozialphilosoph Helmuth Plessner seine Schrift „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus hier Plessner , in der er – bezugnehmend auf )erdinand Tönniesʼ Unterscheidung von „Gemeinschaft und Gesellschaft Tönnies – erstmals und folgenreich im deutschsprachigen Raum eine systematische Umkehrung der Reihenfolge dieser Begriffe vornimmt: Während bei Tönnies – und vor allem bei dessen Lesern – die konkrete Gemeinschaft als die primäre Kernzone der menschlichen Sozialität gilt, der gegenüber die abstrakte Gesellschaft eine sekundäre Sphäre bildet, ist Plessner zufolge umgekehrt nicht Gemeinschaft, sondern Gesellschaft der erstrangige Raum des Sozialen, d. h. die Gesellschaft als öffentlicher Raum, in dem Menschen sich im vermittelnden Medium der Masken, Rollen und Konventionen indirekt aufeinander beziehen können und voreinander verschonen, während )ormen der Gemeinschaft – die )amiliengemeinschaft oder die wissenschaftliche Sach- und Arbeitsgemeinschaft – nachgeordnete
ڹLukács selbst verortet das Werk rückblickend in „dem damals […] sehr lebendigen Glauben, dass die große revolutionäre Welle die […] ganze Welt, wenigstens ganz Europa in kurzer Zeit zum Sozialismus führen werde […], diese Überzeugung von der rasch nahenden Weltrevolution, von der baldigen totalen Umgestaltung der ganzen Kulturwelt Lukács , .
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
Möglichkeiten direkter Bezugnahme von miteinander vertrauten oder sachlich kooperierenden Menschen unter bestimmten, begrenzten Bedingungen bleiben. Grenzen der Gemeinschaft meint deshalb, dass Plessner – nach kantischer Methode – die „Geltungsgrenzen der Gemeinschaft im Verhältnis zur Gesellschaft bestimmen will. Die Moderne ist dem Sozialphilosophen Plessner zufolge eine ausdifferenzierte Gesellschaft im Sinne des „offenen Systems des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen Plessner , , und das Risiko, die ständige latente Gefahr dieser modernen Gesellschaft, ist der Einbruch der Gemeinschaftsutopien in die komplexe Vergesellschaftung, also von „sozialen Radikalismen , wie Plessner sie im Untertitel der Schrift nennt, die im 0amen einer totalen Vergemeinschaftung entweder unter dem Titel des „nationalistischen Kommunismus oder des „rationalistischen Kommunismus zu diesen „beiden )ormen des kommunistischen Ethos siehe ebd., , die komplexen Umgangsformen, die institutionellen und rituellen Verfahren und die Mentalitäten der Moderne zu liquidieren beabsichtigen. Plessners Buch ist in den zwanziger Jahren nicht wirklich zum Zuge gekommen; aber es hat in der )ormierung der bundesrepublikanischen Soziologie nach / einen gewissen Part gespielt, und zwar vor allem in der ersten und weichenstellenden Soziologie-Kontroverse der Bundesrepublik, der Debatte um den Rollen-Begriff und den Dahrendorfschen „homo sociologicus um )ischer . In seiner ganzen gesellschaftstheoretischen Tragweite aber ist es bezeichnenderweise erst nach erkannt worden Eßbach/)ischer/Lethen , also in einem historischen Augenblick, als die Epoche der großen Experimente der „sozialen Radikalismen im . Jahrhundert, der sozialistischen Gemeinschaftsutopien der Moderne, von den davon Betroffenen und Unterworfenen selbst in revolutionären Bürgerbewegungen verabschiedet wurden. Plessner kannte übrigens Lukács vom Weberschen jour fixe in Heidelberg , in dem er ihm und Ernst Bloch gleichzeitig begegnete – die vier Evangelisten „Matthäus, Markus, Lukács und Bloch , wie man die beiden als gnostisch geltenden Sozialphilosophen im Weber-Kreis wohl nannte Plessner , . Auch wegen dieser persönlichen Vertrautheit hat Plessner nicht nur die eschatologischen Zungenreden der Sozialphilosophie bei Ernst Bloch, insbesondere in dessen Buch „Geist der Utopie verfolgt, sondern vor allem auch sofort das erschienene Buch von Lukács registriert und darauf reagiert: )ür seine von Köln aus gegründete, anspruchsvolle Philosophie-Zeitschrift, den „Philosophischen Anzeiger , plante er eine Besprechung durch den befreundeten Philosophen Josef König, mit dem er über das Lukács-Buch diskutierte König/Plessner , . Auch wenn diese Besprechung letztlich aus Zeitgründen nicht zustande kam – und auch ohne dass Plessner irgendeinen direkten Bezug auf Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein‘ in seiner eigenen Schrift nimmt – kann man Lukács und Plessner in ei ں0atürlich denkt er hier an die moderne Großstadt.
Joachim )ischer
nem challenge-response-Verhältnis sehen: Im Vorgriff lässt sich sagen, dass Plessner mit seiner Sozialphilosophie in den „Grenzen der Gemeinschaft von in nuce ein charakteristisches Gegenprogramm zu Lukács und damit zur Kritischen Theorie und zur )rankfurter Schule insgesamt entwickelt. Wo die )rankfurter Schule mit Lukács hegelianisch gesonnen ist, ist Plessners Gesellschaftstheorie mit Simmel kantisch orientiert, wie man auch an dessen späteren Rückgriff auf den Kantischen Begriff der „ungeselligen Geselligkeit erkennt Plessner b.
II. . Alternative Sozialphilosophien Der sozialphilosophische Tiefenkontrast zwischen Plessners Kritischer Theorie der Gemeinschaft als Alternative zu Lukácsʼ Kritischer Theorie der Gesellschaft soll im )olgenden vorgeführt werden. Hat man Lukács und Plessners Ansätze als bereits Anfang der zwanziger Jahre diametral verschiedene sozialphilosophische Konzepte erkannt, lassen sie sich als Orientierungsalternativen im . Jahrhundert mit einer neuen Wirkungsgeschichte noch nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart verfolgen. Diese )undamentaldifferenzen sollte man so scharf wie möglich markieren, damit es nicht aus einer Differenzvergessenheit zu einer nachträglich unbegründeten und letztlich nicht haltbaren Annäherung kommt. Beide Ansätze werden hier von Beginn an mit der von )erdinand Tönnies entdeckten bzw. erfundenen Differenzbegrifflichkeit von „Gemeinschaft und Gesellschaft rekonstruiert: Kritische Theorie der Gesellschaft im Namen der militanten Gemeinschaft; umgekehrt: Kritik der radikalen Gemeinschaftsutopien im Zeichen der zivilen Gesellschaft.
II. .
Lukács: Kritische Theorie der Gesellschaft im 0amen der militanten Gemeinschaft
Um die Alternative deutlich zu machen, sei mit der Kritischen Theorie der Gesellschaft begonnen. „Kritische Theorie ist bekanntermaßen ein von Horkheimer selbstgewählter Deckbegriff für die marxistische Theorie der Gesellschaft, und wie alle marxistische Theorie begreift sie die Ökonomie als zentrale Vergesellschaftungszone – alle anderen Sphären der Vergesellschaftung wie Politik, Kultur, Erziehung sind abgeleitete, sekundäre Zonen, in letzter Hinsicht bestimmt und durchdrungen vom in der Ökonomie herrschenden Prinzip der Produktionsverhältnisse. Jedenfalls gilt das für die bürgerlich-kapitalistische Moderne, als deren radikalkritische Theorie sich die marxistische Theorie begreift. Deshalb ist es konsequent, dass Lukács in seinen „Studien zur marxistischen Dialektik so der Untertitel von „Geschichte und Klassenbewußtsein als Ahnherr der )rankfurter Schule mit dem Warentausch und der mathematisch-technischen Rationalitätskalkulation der Produktionsverhältnisse ansetzt, die alle weiteren Verkehrsverhältnisse der Subjekte in
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
letzter Hinsicht bestimme. Die kapitalistische „Warenstruktur , die vor allem die menschliche Arbeitskraft erfasst, verwandelt demzufolge die Beziehungen zwischen den Personen in eine Dinghaftigkeit – die, obwohl von Menschen gemacht, ihnen als „gespenstische Gegenständlichkeit gegenübersteht und sie durchfährt. Es verdrehen sich die Verhältnisse, in denen „der Mensch weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozess als deren eigentlicher Träger, sondern als mechanischer Teil in ein mechanisches System eingefügt Lukács , erscheint. Der folgenreiche Schlüsselgedanke von Lukács und der Kritischen Theorie von Horkheimer, Adorno und Marcuse ist, dass der „menschenfremde Charakter ebd., der kapitalistischen Produktions- und Tauschverhältnisse von der Ökonomie her die „Totalität der menschlichen Lebensverhältnisse bestimmt – das „Grundphänomen der Verdinglichung in seiner gesellschaftlichen Totalität ebd., . So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf erhöhter Stufe produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewusstsein der Menschen hinein ebd., .
Die „Warenstruktur drückt also auch dem ganzen Bewusstsein des Menschen ihre Struktur auf, die Eigenschaften und )ähigkeiten des lebendigen Menschen sind nicht länger in der „organischen Einheit der Person verbunden ebd., – in )ormen der nicht-kapitalistischen Vergemeinschaftung müsste man ergänzen – sondern sie erscheinen als „Dinge , die er besitzt und entäußert und die ihn im Zweifelsfall erschlagen. „Dieses Zur-Ware-Werden […] des Menschen enthüllt „den entmenschten und entmenschenden Charakter der Warenbeziehung ebd., . In den total verdinglichten Verhältnissen ist der Mensch sich selbst entfremdet‘: Obwohl Lukács diesen Begriff in seinem Buch von nicht verwendet, weil er die erst herausgegebenen )rühschriften von Marx nicht kennen konnte, ist er doch von der Sache her gemeint vgl. ebd., . Lukács fasst hier in strenger Begriffslogik die Stimmung der Verzweiflung über den Weltzustand der Moderne – eine desperatistische und zugleich messianische Stimmung, die sich durch die )rankfurter Schule bis zu Marcuse und Adorno durchziehen wird. Denn Lukács kennt auch den dialektischen Umschlagpunkt: das Bewusstsein und die Tat des Proletariats. Die Arbeiterklasse, im Prozess der Verdinglichung zur quantifizierten, rational kalkulierten Arbeitskraft degradiert, „ist gezwungen, ihr Zur-Ware-Werden, das Auf-reine-Quantität-sein als Objekt des Prozesses zu erleiden ebd., und wird gerade dadurch mehr als die anderen sozialen Lagerungen und Gruppen über die Unmittelbarkeit der Verhältnisse hinausgetrieben. Die Produktivkraft in der Arbeitskraft ist das Moment der negativen Dialektik, die sich in der revolutionären Spontaneität, aktiviert durch die Avantgarde der politischen Partei, äußert. Das Proletariat enthüllt sich als das „identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses ebd., . „Mit der „russischen Revolution [wurde] ein Weg für die Menschheit aus Krieg und Kapitalismus
Joachim )ischer
eröffnet – so Lukács noch im Rückblick Lukács , . „Das Proletariat vollendet sich erst , so der Lukács von , „indem es sich aufhebt, indem es durch Zuendeführen seines Klassenkampfes die klassenlose Gesellschaft zustande bringt – samt einer Phase der „Diktatur des Proletariats Lukács , .
II. .
Plessner: Kritik der radikalen Gemeinschaftsutopien im Zeichen der zivilen Gesellschaft
Die Pointe des Vergleichs zwischen Lukács und Plessner ist: Erst von den Begriffsoperationen der plessnerschen Sozialphilosophie kann man erkennen, dass Lukácsʼ Kritische Theorie der Gesellschaft im emphatischen 0amen der authentischen Gemeinschaft auftritt und von dort her ihre kritische Gewissheit gewinnt auch wenn Lukács selbst nicht direkt auf den Begriff der Gemeinschaft rekurriert . Dass Plessners Sozialphilosophie prinzipiell als eine Alternative zur später so genannten )rankfurter Schule auftritt, und zwar bereits denkt man an den Kontrast zu Lukács , entscheidet sich bereits am Grundverhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft. Sowohl bereits indirekt wie direkt in seinen maßgebenden Aufsätzen zur „Öffentlichkeit und die Idee der Selbstentfremdung und „Soziale Rolle und menschliche 0atur kann Plessner die marxistische Sozialphilosophie nämlich als eine kritische Theorie lesen, die die moderne Gesellschaft als Entfremdung von der Gemeinschaft begreift, sie ist eigentlich eine kritische Theorie im Namen der Gemeinschaft. In der )rankfurter Schule – ob nun bei ihrem Bezugsdenker Lukács oder bei Adorno, Horkheimer und Marcuse – werden die modernen Tauschverhältnisse der kapitalistisch-kalten Gesellschaft im Zeichen einer utopischen, aber geschichtlich realmöglichen Vernunft- und Authentizitätsgemeinschaft kritisiert. Ist also die von Marx und Lukács her inspirierte Kritische Theorie der Gesellschaft im Kern eine Gemeinschaftstheorie, von der aus die Gesellschaft als Entfremdungsphänomen perspektiviert wird, so ist umgekehrt Plessners Theorie eine genuine Gesellschaftstheorie, von der aus die Gemeinschaft in ihren modernen utopischen Überdehnungen als Gefährdungspotential der Gesellschaft perspektiviert und in ihren „Geltungsgrenzen bestimmt wird. Gesellschaft, das ist von Plessner her die „Logik der Öffentlichkeit . Philosophische Anthropologie à la Plessner ist ja von Beginn an sozialphilosophisch und in der Konsequenz soziologisch disponiert gewesen – jede Kontrastierung einer angeblich dominant naturphilosophischen Anlage der Philosophischen Anthropologie und einer demgegenüber gesellschaftstheoretischen, sozialphilosophischen Anlage der Kritischen Theorie bringt den Vergleich von vornherein auf
ڱڲZu der Semantik von Authentizität, Unmittelbarkeit und Selbstverwirklichung als sozialphilosophischem )undus der Verdinglichungskritik bei Lukács vgl. auch Jaeggi .
Kritische Theorie der Gesellschaft versus Philosophische Anthropologie der Moderne
eine schiefe Ebene. Diese Öffentlichkeit, in der die Menschen in künstlichen Verfahren und Zeremonien, in Masken und Rollen indirekt miteinander zu tun haben, ist – und hier kann man Luhmann avant la lettre hören – „das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen . In sich weitmaschig genug, um das )luktuieren des Lebens in all seinen Schattierungen zu beherbergen und zugleich durch sich hindurchgehen zu lassen […], besondert sich dieses offene System des Verkehrs zu je eigenartigen Sphären nach Maßgabe bestimmter Wertklassen [bestimmter )unktionen, Anmerkung J)], zur Sphäre des Rechts, der Sitte und Erziehung, des Staates, der Wirtschaft […] Plessner , .
Plessners Sozialphilosophie behauptet also im Ansatz keinen Primat der Ökonomie vor den anderen Sphären der Gesellschaft, sondern beobachtet eine parataktische Ausdifferenzierung der sozialen Systeme zwischen den unverbundenen Menschen, die durch die verschiedensten Verkehrssysteme in verschiedenste mögliche Kommunikationen gelangen können. Plessner operiert hier mit dem Begriff des „Verkehrs , wie er seit dem . Jahrhundert als kommunikativer Grundbegriff verwendet wurde. Gesellschaft als Inbegriff verschiedener ausdifferenzierter sozialer Systeme ist die Schlüsselzone, das „Daseinsgebiet zwischen )amiliarität und Objektivität ebd. , also zwischen den Spezialformen der Gemeinschaft, nämlich entweder der privaten Liebes- und Lebensgemeinschaft oder der wissenschaftlichen Vernunftoder Sachgemeinschaft der )orscher und )achleute. Entscheidend ist, dass diese Schlüsselzone der Gesellschaft weder nach dem Code der Liebe oder dem der Vertrautheit miteinander verbundener Menschen noch nach dem Code der Wahrheit, des „eigentümlich zwanglosen Zwanges des besseren Argumentes geregelt werden kann. Die prinzipielle Unergründlichkeit der Menschen im Verhältnis zueinander und die Unvorhersehbarkeit der Lebenssituationen „doppelte Kontingenz – wie Luhmann das später nennt verlangt Plessner zufolge nach der „Öffentlichkeit als vermittelndes Medium der Umgangs- und Distanzformen. Aus seiner Gesellschaftstheorie heraus hat Plessner größten Wert auf die Soziologie dieses künstlichen Codes gelegt, auf die artifiziellen Umgangsformen, auf das Erfordernis der soziologischen Beobachtung der immer erneuten sozialisatorischen und öffentlichen Genese des Habitus der „Geselligkeit als Kern der indirekten Kommunikation: Wenn es „die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler und einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen Plessner , gibt, dann bedarf es zur Aufrechterhaltung des komplexen Spiels dieser Gesellschaft des Habitus von „Diplomatie und Takt ebd. , von Distanz und Ironie, der Spielformen von „Zeremonie und Prestige ebd. . In einer be-
ڲڲWie Habermas das in seiner späteren Gesellschaftstheorie ausdrückt Habermas ڳڲZur Systematik von Plessners „Grenzen der Gemeinschaft vgl. )ischer .
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Joachim )ischer
rühmten Stelle seiner „Grenzen der Gemeinschaft hat Plessner vom „tänzerischen Geist ebd., , vom „Ethos der Grazie ebd. gesprochen, ohne dessen Vorbildfunktion die modernen Gesellschaften implodieren: Es geht um das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konventionen, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, in denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. […] Die erzwungene )erne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz des Aneinandervorbeilebens durch die )ormen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht ebd.
0och eine Tiefendifferenz zwischen Lukacs und Plessner: Wenn Marx die direkte Referenzfigur von Lukács und des Horkheimer-Kreises ist, so ist Georg Simmel die indirekte Referenzfigur bei Plessner, und zwar der Simmel der „)ormen der Wechselwirkung , der komplexen und kompliziert zu handhabenden „Geselligkeit Simmel . Der Unterschied Plessners zu Simmel ist, dass Plessner nach , nach der leninistischen Revolution mit ihrer Übergriffsabsicht auf Europa, und nach , dem Marsch der )aschisten auf Rom , also nach zwei praktisch gewordenen verschiedenen Moderne-Projekten, die jeweils im 0amen der totalen Gemeinschaft agieren, Anfang der zwanziger Jahre eine Theorie der Moderne offensiv als Theorie der Gesellschaft formulieren musste. Plessner konstruierte seine bürgerliche Gesellschaftstheorie gegen den antigesellschaftlichen Affekt der „sozialen Radikalismen von „nationalistischen Kommunismus und „rationalistischen Kommunismus .
II. . Alternative Sozialphilosophien nach : Aufklärung der „sozialen Rolle“ als Kernmuster der funktionalen Moderne oder Renaissance der totalen „Entfremdung“ der kapitalistischen Gesellschaft 0ach haben Lukácsʼ und Plessners Schriften erneute Rezeptionen gefunden – als diametral verschiedene Markierungen in der Sozialphilosophie. Das sollte man im Gedächtnis behalten, bevor man sich an eine eventuelle Theorienklitterung von Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie macht. Lukács Schrift ist nach dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls vergessen worden: Überall, wo die Kritische Theorie der )rankfurter Schule auftrat, war diese Schrift von über das Prinzip ڴڲWenn die Kritische Theorie sich auf Simmel bezieht, dann auf den Simmel der „Philosophie des Geldes ; Plessner hingegen bezieht sich auf den genuinen Soziologen Simmel in dessen Hauptwerk „Soziologie . „ ڵڲMarschiert heute die Diktatur, in Russland den Privatbesitz enteignend, in Italien und Spanien ihn schützend, so wagt sie es doch nur aus dem Gemeinschaftsethos heraus, das ihr, ob bolschewistisch oder faschistisch, als Unterstützung ihrer Macht immer willkommen ist Plessner , .
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der Verdinglichung als analytisches Rückgrat der Gegenwartsdiagnostik präsent. Es ist klar, dass der Horkheimer-Kreis nach den Erfahrungen der er und - er Jahre nicht länger an der dort formulierten Erwartung der proletarischen Revolution als Wende des modernen Entfremdungs-Weltzustandes festgehalten hat – was blieb, war die Kritik der totalen Verdinglichung in allen kapitalistischen Verhältnissen einschließlich des kulturindustriell formatierten Bewusstseins. Es war eine Kritik der entfremdenden Rollenhaftigkeit der modernen Welt, der total verwalteten Welt, der totalitären Waren-, Medien-, Werbungs- und Konsumwelt der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. An Stelle des rettenden Proletariats wurden andere Instanzen der „negativen Dialektik oder des Umschlages gefunden – die Avantgardekunst, später die neuen sozialen Bewegungen. Diese dezidiert kritische Gesellschaftstheorie gilt manchen als die dominante, einflussreichste Sozialphilosophie in der Soziologie der Bundesrepublik. Dieser Eindruck lässt sich korrigieren, wenn man die Wirkung von Plessners raffiniert intellektueller Parallelaktion beobachtet. Zieht man alle seine einschlägigen Schriften zusammen, also neben dem sozialphilosophischen Entwurf in den „Grenzen der Gemeinschaft vor allem seine davon inspirierten Schlüsselaufsätze um „Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung Plessner a und „Soziale Rolle und menschliche 0atur Plessner b , dann lässt sich erkennen, dass Plessner in der )ormierung der bundesrepublikanischen Soziologie nach / einen bedeutenden Part vor allem in der Auseinandersetzung um den Rollen-Begriff und den Dahrendorfschen „Homo sociologicus gespielt hat siehe )ischer . 0icht Vernunft und kommunikative Rationalisierung, nicht Erlösung und Versöhnung waren die Leitbegriffe dieser Gesellschaftsanalytik, vielmehr stand die „Zivilisierung des Verhaltens, letztlich also der Gewalt, in ihrem Zentrum. Insofern erstaunt es nicht, dass im Umkreis der Philosophischen Anthropologie durch den Soziologen Dieter Claessens bereits Anfang der sechziger Jahre das große Buch von 0orbert Elias über den „Prozeß der Zivilisation Elias , i.O. wiederentdeckt und sein Autor in die bundesrepublikanische Soziologie einbezogen wurde. Der junge Jürgen Habermas – als Vertreter der )rankfurter Schule – erkannte im soziologisch prominent werdenden Rollenbegriff eine Verdinglichungskategorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft Habermas und regte eine „Kritik der Rollentheorie an, die von der Soziologin )rigga Haug als Kritik der sogenannten „bürgerlichen Soziologie Haug ausgeführt wurde. Gegen diesen „antigesellschaftlichen Affekt der )rankfurter Schule, gegen die erneute eschatologische „Idee einer menschlichen Selbstentfremdung Plessner a ,, aus der heilsgeschichtlich eine Rückkehr in authentische, konsensuelle und solidarische Verhältnisse der Gemeinschaft möglich sei, erkannte Plessner das Spiel des komplexen Rollengefüges als Schlüsselelement der gesellschaftlichen „Öffentlichkeit , als unhintergehbares Zwischenglied der indirekten, vermittelten Beziehung zwischen Menschen.
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Arnold Gehlen hatte bereits zuvor Plessners Kerngedanken der lebensnotwendigen distanzierten Vermitteltheit zwischenmenschlicher Beziehungen in der )ormel auf den Punkt gebracht: „Die Geburt der )reiheit aus der Entfremdung Gehlen , . Plessner und diejenigen, die ihm im Umkreis der soziologischen Denkrichtung der Philosophischen Anthropologie folgten )ischer – Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Helmut Schelsky, Dieter Claessens, Hans Joas – setzten sich zunächst durch. Der Rollenbegriff wurde ein Schlüsselbegriff der Soziologie und in den sechziger Jahren für eine Zeit lang auch ein Selbstverständigungsbegriff der bundesrepublikanischen Gesellschaft – zum Beispiel im allerorts geübten virtuos-distanzierten Rollenspiel. Im „roten Jahrzehnt Gerd Koenen der er-Bewegung hat Lukács „Geschichte und Klassenbewußtsein aber erneut die Köpfe ganz neuer Lesergenerationen bewegt Dannemann . Die vermeintliche Totalität des Verdinglichungszusammenhanges legitimierte in der nun als „Spätkapitalismus bezeichneten Gesellschaft nicht zuletzt neue revolutionäre Praxisformen: die avantgardistische Stadtguerilla in Mittel- und Westeuropa. Obwohl auch in dieser Zeit unter Kennern als Antidotum von Hand zu Hand gereicht, ist Plessners „Kritik des sozialen Radikalismus in seiner gesellschaftstheoretischen Tragweite erst nach erkannt worden, als die Epoche der großen Experimente der „sozialen Radikalismen im . Jahrhundert von Bürgerbewegungen verabschiedet und sozialistische Sicherheitsgesellschaften in bürgerliche Risikogesellschaften umgewandelt wurden. Erst im Gefolge von wurde deutlich, dass es sich hier um eine seltene deutsche Sozialphilosophie aus einem „liberalen Ethos handelte Kuhlmann , die – ähnlich wie Dolf Sternberger, Hannah Arendt, Joachim Ritter und seine Schüler – die bürgerliche Lebensform politisch-philosophisch auszeichnete Hacke . Bezogen auf die 0achfolger Lukácsʼ hingegen, aus dessen Theoriesicht die Gesellschaftsrevolution von die Restauration bürgerlicher Verhältnisse bedeuten musste, gab es nach für einen historischen Moment lang eine Irritation angesichts der Revolution von Vajda . Doch schon bald wurde Lukács Kategorie der Verdinglichung wieder reaktiviert. Erneut werden die Zwangsverhältnisse der bürgerlichen Gegenwartsgesellschaft, in denen Subjekte sich in ihren Rollen nur entfremden, dem Gerichtshof der Authentizitäts- oder der Vernunftgemeinschaft unterworfen. „Re-thinking Marx ist dann die Losung Dannemann ; Jaeggi . Habent sua fata libelli: Bücher haben ein bewegtes Schicksal – es ist eine offene Geschichte, wie die Wirkungsgeschichte der beiden alternativen Sozialphilosophien von Lukács und Plessner im . Jahrhundert Orientierungen fortzeugen wird.
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III. „0egative Dialektik“ versus „Exzentrische Positionalität“: Adorno versus Plessner – Alternativen der deutschen Philosophie des Jahrhunderts
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Worin wird die sich durch viele Debatten und Verzweigungen, von Scheler contra Horkheimer über Gehlen versus Adorno bis bereits Plessner versus Lukács sich durchhaltende Alternative zwischen „Philosophischer Anthropologie der Moderne und „Kritischer Theorie der Gesellschaft in letzter Hinsicht prägnant? Man muss noch eine Schicht tiefer ansetzen, ins Bergwerk der Theoriesystematik gehen, in die grundbegrifflichen Schächte hinab- oder durch sie hinaufsteigen: Scheint es sich doch bei der Spannung zwischen der „Kritischen Theorie und der „Philosophischen Anthropologie um eine Tiefendifferenz der deutschsprachigen Philosophie des . Jahrhunderts überhaupt zu handeln, die erst spät, erst Mitte der sechziger Jahre, mit Adornos Leitkategorie „0egative Dialektik und Plessners Grundbegriff der „exzentrischen Positionalität auf den Punkt gebracht wird. Plessner bringt die unveränderte, allerdings um eine ausführliche Einleitung und Anmerkungen ergänzte 0euauflage seines philosophisch-anthropologischen Hauptwerkes „Stufen des Organischen und der Mensch / mit einer erneuten Konfirmation der anthropobiologisch gebauten Kategorie der „exzentrischen Positionalität – Adorno bringt seinen gesellschaftskritischen )undamentalbegriff der „0egativen Dialektik im gleichnamigen Buch ein Jahr später.
III. . 0egative Dialektik Adorno gewinnt im Begriff der „0egativen Dialektik einen Letztbegriff seiner eigenen materialen Arbeiten zur „Dialektik der Aufklärung , den „Minima Moralia , den Schriften zur Literatur und Musik etc. und der Kritischen Theorie insgesamt. In materialistischer Wendung der idealistischen Dialektik setzt die Selbstvergewisserung hier mit der Kritik der selbstentfremdeten Subjektivität in ihrem gesellschaftlichen Sein der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an. Die kritische Dialektik beabsichtigt, die prätendierte Selbständigkeit des aufgeklärten Ich als gefangen im Bannkreis selbstproduzierter, aber verdinglichter Vermittlungen bürgerlicher Lebensform aufzuklären. Der Zugang des Ich zu sich selbst, zur 0atur und zu anderen ist verstellt durch „Selbstentfremdung , durch die Erzeugung konkret historischer,
ڶڲPlessner widmet sich diesem Adorno-Werk im Disputationszirkel seiner Spätprofessur der Züricher Jahre und veröffentlicht eine Besprechung in den „Kant-Studien Plessner .
Joachim )ischer
losgelöster, entfremdender Produktionsverhältnisse, die „verdinglicht Herrschaft über das Subjekt ausüben und es in falscher, ideologischer Identifizierung festhalten – z.B. ästhetisch in der „Kulturindustrie oder wissenschaftlich im „Positivismus . „0egative Dialektik ist die Denkform des Einspruchs gegen das identifizierende Denken als Zwang, der die 0icht-Identität zwischen Begriff und Sache unterschlägt. Damit bewahrt „0egative Dialektik als bestimmte 0egation das 0icht-Identische gegen die total verkehrten Verhältnisse, gegen die totalen Verblendungszusammenhänge. In der ideologiekritischen Durchleuchtung und Auflösung der gesellschaftlich insgesamt verkehrten menschlichen Position hält „0egative Dialektik als Platzhalter des 0ichtidentischen den Platz für die versöhnende Heimkehr aus der Selbstentfremdung offen, für die Richtigstellung der menschlichen Position aus den total verkehrten Verhältnissen in die Solidarität – bis sich die „die wahre Resurrektion der 0atur, der durchgeführte 0aturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der 0atur Marx , ereignet.
III. . Exzentrische Positionalität Plessner hat mit „exzentrischer Positionalität den Schlüsselbegriff seiner eigenen materialen Arbeiten zu „Lachen und Weinen , zur „Ästhesiologie des Geistes und zu den kunst- und musiktheoretischen Schriften und der Philosophischen Anthropologie insgesamt entworfen und gegeben. Mit „exzentrischer Positionalität wird menschliche Lebenswelt grundsätzlich von den 0aturverhältnissen, von den vitalen Verhältnissen der lebendigen Welt her begriffen. Philosophische Anthropologie geht auf die „Analyse der menschlichen Lebensform und der „charakteristischen menschlichen Äußerungsweisen – wie Sprache, Handlung, aber auch „Lachen und Weinen und das „Lächeln – im kontrastiven Vergleich zu anderen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren. Im Begriff „exzentrische Positionalität steckt der Begriff der raumzeitlichen „Position in der 0atur, dann der Begriff der „Positionalität als Inbegriff von Lebewesen als „grenzrealisierenden Dingen ebenso wie der Begriff der offenen )orm der Positionalität der Pflanze, der geschlossenen Positionalitätsform der Tiere; schließlich „zentrische Positionalität als Kennzeichnung der höheren Organisationsniveaus von Tieren einschließlich der Primaten. „Exzentrische Positionalität indiziert, dass menschliche Lebewesen von 0atur aus auf „natürliche Künstlichkeit verwiesen sind – in der Gebrochenheit ihrer 0aturverhältnisse müssen sie vital haltbare artifizielle, konstruktive Lösungen einschließlich der kooperativen und kompetitiven Gesellschaften erfinden oder konstruieren, ohne allerdings die 0atur verlassen zu können. Die Differenz der Philosophischen Anthropologie zur Kritischen Theorie zeigt sich in der Stellung zur Kategorie der „Selbstentfremdung . „Exzentrische Positionalität schlägt kategorial im Ansatz vor, die Autonomie des Menschen durch die Heteronomie der 0atur hindurch vermittelt zu begreifen – durch das „lebendige Ding Plessner , also eine tiefgelegte Kategorie der
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„Verdinglichung . Im Begriff der „Positionalität steckt ein Stück Anerkennung der Positivität, des relativen Rechtes des Positivismus auch für den Begriff der menschlichen Lebenswelt. Zugleich signalisiert der Begriff aber die konstitutive „0ichtIdentität der menschlichen Position – nicht wegen einer spezifischen Gesellschaftsform, sondern wegen der Exzentrizität seiner 0atur an lage überhaupt. Damit lässt die Schlüsselkategorie der „exzentrischen Positionalität die „Entfremdung als konstitutiv für die menschliche Lebensführung erscheinen. 0ur durch „Verdinglichung und Verdrängung des eigenen Leibes, so Plessner dezidiert gegen die Kritische Theorie, nur im identifizierenden Umweg über Anderes, losgelöst )remdes z.B. die Identifizierung mit Rollen stabilisiert sich die menschliche Gleichgewichtslosigkeit, und nur im Schatten der entfremdeten Institutionen und Masken erfasst sich das menschliche Lebewesen – über Anderes als es selbst und anders als sein Selbst Plessner a, . Insofern korrespondiert die komplex ausdifferenzierte Rollenhaftigkeit der Moderne mit ihren Spannungsbalancen wie sie z.B. Luhmann in seiner Theorie sozialer Systeme ausgearbeitet hat der exzentrischen Disposition menschlicher Lebewesen. Exzentrische Positionalität expliziert aber auch die nur menschlichen Lebewesen möglichen Verletzbarkeiten durch Krisen der Sinngrenzen – in denen die im Bauplan des menschlichen Körpers eingefügten Überbrückungsmechanismen des „Weinens und „Lachens einspringen. Philosophische Anthropologie der Moderne ist insofern grundverschieden von Kritischer Theorie der Gesellschaft. Beide Ansätze, das verdeutlichen ihre Letztbegriffe, stehen im Verhältnis der Inkompatibilität zueinander. Es handelt sich jeweils um ein vollständig anders einsetzendes Philosophieren, das bei der Aufklärung der Welt des Menschen vollständig verschieden ansetzt. Alle Versuche, Komplementaritäten zwischen den beiden Denkrichtungen des . Jahrhunderts aufzuweisen, müssen durch die Anerkennung dieser Alternativstellung durch.
Joachim )ischer
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Hans-Peter Krüger
Kritische Anthropologie? Zum Verhältnis zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie Auf einen ersten oberflächlichen Blick könnte es so scheinen, als stünde die Philosophische Anthropologie für die Hypothese eines von 0atur aus unveränderlichen Wesens des Menschen und die )rankfurter Kritische Theorie für die Hypothese einer Revolution der Gesellschaft durch die Überwindung des Kapitalismus. Aber so einfach wie in diesem Gegensatz, der die wechselseitige Exklusion von 0atur und künftiger Geschichte nur variiert, liegen die Dinge im Verhältnis beider philosophischer Richtungen nicht, da sich beide dezidiert antidualistisch verstehen, ohne im Ganzen einen idealistisch oder materialistisch reduktiven Monismus zu vertreten. )ür beide Richtungen ist 0atur nicht allein ein unveränderlicher Determinismus, sondern auch eine Ermöglichungsstruktur geschichtlicher Veränderung, und die künftige Geschichtlichkeit gilt nicht einfach als eine idealistische Selbstbestätigung, sondern zugleich als ein materieller Prozess. Inwiefern die Wesensstruktur des Menschen als eine dynamische gerade geschichtliche Emanzipation ermöglicht und solche Emanzipation auf diese wesentliche, keineswegs beliebige Ermöglichungsstruktur angewiesen bleibt, ist eine lohnenswerte )orschungsfrage, in die man durch das Verhältnis zwischen beiden philosophischen Richtungen hineingelangt. Zudem haben wir Heutige einen historischen Abstand zu den Begründern beider Richtungen, der die )reiheit zu einem systematischen 0euanfang gewährt. Auf diese Perspektive eines 0euanfangs verweist die )rage nach der Möglichkeit einer „kritischen Anthropologie“ Herbert Schädelbach , in der sich beide Strömungen ergänzen könnten. Auf dem Wege dorthin gilt es, einige ausgewählte problemgeschichtliche Stationen so zu durchlaufen, dass die wichtigsten systematischen Optionen aus beiden Richtungen im Verhältnis zueinander vor Augen stehen. Dabei werde ich mich auf Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Helmuth Plessner aus der Begründergeneration konzentrieren und durch die Stellungnamen von Jürgen Habermas in der )rage nach der Komplementarität beider Richtungen ankommen.
ڲBei diesem Beitrag handelt es sich um eine geringfügig modifizierte )assung meines unter demselben Titel in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, / , – publizierten Artikels.
Hans-Peter Krüger
I.
„Kritische Theorie“ in welchem Sinne?
Es dürfte unstrittig sein, bei der Beantwortung dieser )rage auf Max Horkheimers dafür kanonischen Text über „Traditionelle und kritische Theorie“ einschließlich des „0achtrags“ aus seinem Exil in 0ew York zurückzugehen. Horkheimer lehnt „allgemeine Kriterien“ für den kritischen Charakter dieser Theorie ab Horkheimer a, . Gleichwohl ergebe sich ein gewisses Minimum an positiver Orientierung der Kritik. Eine gewisse Stabilität der Kritik folge zunächst aus ihrem Gegenstand der kapitalistischen Warenproduktion, die in ihrer nachliberalen Phase zu Monopolen geführt hat. Dadurch setze sich eine Verkürzung der Vernunft auf die Rationalisierung der Mittelwahl für angeblich vorgegebene Zwecke in der ganzen Gesellschaft durch, während es real um die Profitmaximierung für die „private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, dieses Kernstück der herrschenden Gesellschaftsordnung“ ebd., f , gehe. Gegen diese monopolkapitalistische Entwicklung, deren Machtkonzentration sich in den „Verhältnissen der autoritären Staaten“ ebd., fortsetze, wird zunächst die klassisch bürgerliche Vernunftauffassung mit Kant und Hegel in Anschlag gebracht. Aber diese weite, vor allem praktische Vernunftkonzeption aus den revolutionären Zeiten des bürgerlichen Aufstiegs wird im Sinne von Marx transformiert. Die Ideale der )ranzösischen Revolution werden auch für die Lösung sozialer Antagonismen in Stellung gebracht, woraus eine Orientierung vor allem an der Solidarität statt der Konkurrenz folgt. Während „traditionelle“ Theorien in ihrer arbeitsteilig verselbständigten )unktion einen Beitrag zur Reproduktion der gegebenen Gesellschaft leisten, nehme die „kritische“ Theorie am „Kampf“ ebd., , , um die emanzipatorische Veränderung dieser Gesellschaft teil. Sie vertritt in diesem Sinne eine „Einheit von Theorie und Praxis“ gegen „die Hypostasierung des cartesianischen Dualismus von Denken und Sein“ ebd., , siehe auch . Gegen die „Trennungen“ ebd., arbeitsteiliger )unktionen gegeneinander, die sich so dem Ganzen „entfremden“ ebd., , werden die „dialektischen“ Einordnungen der Teile ins geschichtliche Ganze Horkheimer b, zur Aufgabe gemacht. Dem entspricht ein interdisziplinäres Programm zur Sozialforschung, das die relevanten Einzelwissenschaften in die kritische Theorie der Gesellschaft integriert. Da Horkheimer die Einheit von Gegensätzen, d. h. einen Widerspruch, für im Kapitalismus real gegeben hält, zeichnet er die künftige Gesellschaft durch „Identität“ aus: „Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander, ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart“ Horkheimer a, . Horkheimer formuliert ausdrücklich das anthropologische Problem der kritischen Theorie, wenn er zwischen der gegenwärtigen kapitalistischen Entfremdung und der künftigen Identität von Individuum und Gesellschaft im Arbeitsprozess unterscheidet: „Das kritische Denken enthält einen Begriff des Menschen, der sich selbst widerstreitet, solange diese Identität nicht hergestellt ist. Wenn von Vernunft
Kritische Anthropologie?
bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht“ ebd., f . Der Widerstreit zwischen Gegenwart und Zukunft wird durch ein geschichtsphilosophisches Vor-Urteil überbrückt: Die „kritische Gesellschaftstheorie als ganze“ sei ein „einziges entfaltetes Existenzialurteil. Es besagt, grob formuliert, dass die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter )orm stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die 0atur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt“ ebd., , siehe auch . Zu der künftigen Identität passt, dass die „künftige Gesellschaft“ als die „Gemeinschaft freier Menschen“ ebd., verstanden wird. „In der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden erscheint trotz aller Disziplin, die in der 0otwendigkeit, sich durchzusetzen, begründet ist, etwas von der )reiheit und Spontaneität der Zukunft. Wo die Einheit von Disziplin und Spontaneität verschwunden ist, verwandelt sich die Bewegung in eine Angelegenheit ihrer eigenen Bürokratie“ ebd., . Die )rage nach der Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel wird nicht mit ihrer Verstaatlichung verwechselt, sondern ausdrücklich an die Entfaltung „realer Demokratie und Assoziation“ Horkheimer b, gebunden. Gegenüber diesem Minimum an positiver Orientierung in der Kritik hebt Horkheimer aber den Primat des 0egativen in der Kritik hervor, da sich die künftige Gesellschaft nicht wie in einem Labor der traditionell arbeitsteiligen Theorien erzeugen lasse, sondern der Krise, Bewegung und Spontaneität im geschichtlichen Kampf bedürfe. )ür das 0egative in der Kritik steht bei ihm wiederholt die )orderung, Ausbeutung und Klassenherrschaft aufzuheben: „Diese negative )ormulierung ist, auf einen abstrakten Ausdruck gebracht, der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft. In einer geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht sosehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht ‚produktiv‘ sein kann“ Horkheimer a, .
II. „Philosophische Anthropologie“ in welchem Sinne? Es dürfte ebenso unstrittig sein, zur Beantwortung dieser )rage auf Plessners Antrittsrede in seinem Groninger Exil über „Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie“ aus demselben Jahre wie Horkheimers Aufsatz zu sprechen zu kommen, weil sich die Bezugnahme darauf seit Habermas , Honneth/Joas
Hans-Peter Krüger
und Schnädelbach zu Recht eingebürgert hat. Als philosophische Richtung im Unterschied zu der gleichnamigen philosophischen Subdisziplin spricht die Philosophische Anthropologie erstens theoretisch den Menschen „als Menschen“ an: Dieser hermeneutische Anspruch verlässt sich weder auf eine zoologische „Spezies Homo sapiens“ noch beruht er auf der Exklusion Anderer durch die eigene Religion, Kultur oder das eigene Volk. „In der Philosophischen Anthropologie ist der Mensch als Mensch angesprochen und in diesem Zusatz eine Einschränkung auf den Bereich vorgenommen, der zwischen den Extremen größtmöglicher Vereinzelung und größtmöglicher Verallgemeinerung eine nicht genau festzulegende Mitte hält“ Plessner a, . Die wirkliche Mitte, in der sich die „Wesensverfassung“ zwischen Einzelnem und Allgemeinem im Menschsein vollzieht, wird selbst zur theoretischen )orschungsaufgabe, statt sie für entweder eine einzige Vereinzelung die individuell je unvertretbare Existenz oder eine einzige Verallgemeinerung als Spezies, Gesellschaft, Kultur, Sprache, Vernunft des Menschseins von vornherein auszuschließen. „Zweitens bedeutet der Zusatz ‚als Mensch‘ einen praktischen Anspruch, für dessen Erfüllung ebenso wenig allgemein anerkannte Garantien gegeben werden können. Dass wir Menschen sind und sein sollen, diese Entdeckung oder diese )orderung verdanken wir einer bestimmten Geschichte, der griechischen Antike und der jüdisch-christlichen Religiosität“ ebd., . Weil wir inzwischen aus historischer Erfahrung, „durch die Kritik der Entwicklungsidee, durch die politische und ideologische Bekämpfbarkeit der humanitas um die Gewagtheit und Rückhaltlosigkeit des ‚Menschen‘-Gedankens wissen, müssen wir das Menschsein in der denkbar größten )ülle an Möglichkeiten, in seiner unbeherrschbaren Vieldeutigkeit und realen Gefährdetheit so zum Ansatz bringen, dass die Gewagtheit eines derartigen Begriffes als Übernahme einer besonderen Verantwortung vor der Geschichte verständlich wird“ ebd. . Die Philosophische Anthropologie geht diese theoretisch-praktische Aufgabe an, indem sie drei Grundsätzen im Hinblick auf eine dreifache Verbindung folgt, eine Verbindung nicht nur zur Philosophie, sondern auch zu den Einzelwissenschaften und zur geschichtlichen Situation. Erstens gelte in der Philosophischen Anthropologie „die methodische Gleichwertigkeit aller Aspekte, in denen menschliches Sein und Tun sich offenbart“, darunter des physischen, psychischen, geistigsittlichen und religiösen Aspekts, „für die sogenannte Wesenserkenntnis vom Menschen“. Diese methodische Gleichwertigkeit richtet sich gegen alle „materialistischen, idealistischen, existentialistischen Einseitigkeiten“ ebd., für alle Zitate . Zweitens gehe es um die Art und Weise der Einheit dieser Aspekte und damit des Überganges zwischen ihnen. Diese Art und Weise von Einheit sei von derselben „Ursprünglichkeit, wie sie der Mensch in seinem Geschichte werdenden Dasein beweist, in dem er sie sich erringt“ ebd., . Es handelt sich also um eine qualitative Einheit der Aspekte, die in dem phänomenologischen Sinne „ursprünglich“ ist, dass sie nicht aus der Erkenntnis anderer Sachverhalte abgeleitet werden kann. Sie ist lebensweltlich durch keine „isolierende Methode des Laboratoriums“ ebd.,
Kritische Anthropologie?
zur Darstellung und Messung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse zu ersetzen. Diese qualitative Einheit ist aber auch nicht unbefragbar vorgegeben, sondern aus dem in der Geschichte werdenden Dasein errungen, also hermeneutisch zu erschließen. Ihre Veränderung kann besser oder schlechter ausfallen, was zu beurteilen eine „positive Zusammenarbeit“ mit den „0atur- und Kulturwissenschaften vom Menschen“ erfordert: Plessner gibt das Beispiel von der Erkenntnis „der Wirkungseinheit der Person zwischen Leib und Körper, Körper und Geist“ im biomedizinischen Kontext zwischen Arzt und Patient, wodurch auch die „Erkenntnistheorie und Ontologie vor neue Aufgaben“ gestellt werden ebd., . Der dritte Grundsatz bezieht sich auf die geschichtliche Situation, in der die überweltlichen Autoritäten zerfallen sind und die innerweltlichen Autoritäten angesichts von Individualisierung und Pluralisierung strittig bleiben ebd., verweist Plessner auf Plessner . Er „bestimmt die )unktion einer Philosophischen Anthropologie, die sich ihrer theoretischen Grenzen im Hinblick auf ihre praktische Verantwortung gegen die Unergründlichkeit des Menschenmöglichen bewußt ist“ Plessner a, . Daher können die Strukturformeln für die Erkenntnis der Wesensverfassung „keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert“ ebd. beanspruchen: In dieser Sicherung der Unergründlichkeit des Menschen komme „der Ernst der Verantwortung vor allen Möglichkeiten“ ebd. zum Ausdruck, in denen sich der Mensch „verstehen und also sein kann“ ebd. . 0ach der phänomenologischen und hermeneutischen Methode bringt Plessner auch eine bestimmte Art und Weise von Dialektik zur Sprache, die zweifellos auf Hegels „Phänomenologie des Geistes“ anspielt, ohne Hegels systematisch positive )assung des Absoluten als Geist Gottes zu beanspruchen. Die moderne Skepsis gegen jede Autorität rechne mit einer Selbsttäuschung, die durch ihre reflexive Rückführung auf ein bestimmtes Subjekt behoben werden könne, was sich von Kant über Marx und 0ietzsche bis )reud oft genug wiederholt hat. Diese Skepsis sei auch gegen die „Selbstvergötterung des Menschen“ im 0amen der „)ortschritte“ an „Verfügungsgewalt“ durch Wissenschaft und Technik zu richten ebd., , womit die Kritik immanent einsetzt. Aber die Verwirklichung dieser Skepsis überwinde sie auch, denn sie bringe Anderes zum Vorschein als in der dualistischen Art von Skepsis an alleiniger Selbsttäuschung eines Subjekts erwartet werde. Die Verwirklichung dieser Skepsis lasse die „Grenze“ ebd., klar werden, „bis zu der sich der Mensch als Mensch in )rage stellen kann“ ebd. : Ohne ihre Verwirklichung wird man „den Verdacht gegen das Recht, vom Menschen als einem besonderen und auf seinen Gattungscharakter verpflichteten Wesen zu sprechen, nicht loswerden“ ebd. . Der durch seine „Destruktion“ führende Begriff des „Menschen“ habe „Wagnischarakter“ ebd., und erfordere den „Mut zur rückhaltlosen Skepsis als einer Methode des Menschen, sich durch Selbstentsicherung wiederzufinden“ ebd., . So heißt ڳAn der Stelle Plessner
a,
verweist er auf Plessner
b.
Hans-Peter Krüger
es denn zusammenfassend: „Die im Sinne ihrer Überwindung verwirklichte Skepsis ist allein möglich als Philosophische Anthropologie“ ebd., .
III. Zu Horkheimers und Adornos Kritiken an philosophischen Anthropologien Es gibt zahlreiche Kritiken von Adorno und Horkheimer an naturalistisch reduktiven Anthropologien und an philosophisch pessimistischen oder optimistischen Anthropologien in der Tradition von Hobbes und Rousseau. Im Kern bedeutet ihre Kritik immer, dem oben angesprochenen Verständnis von Gesellschaftsveränderung gemäß, diese Anthropologien oder Menschenbilder, oft wird zwischen beidem nicht unterschieden, als eine Verewigung kapitalistischer Verhältnisse im 0amen der 0atur zu demaskieren, analog zu Marxens Kritik an bürgerlicher Ideologie und Wissenschaft. Schwieriger war es bereits, die philosophischen Anthropologien von Ludwig )euerbach und dem jungen Marx in ein geschichtsphilosophisches 0acheinander von kapitalistischer und künftiger Gesellschaft zu drehen. Unter den kritisierten zeitgenössischen philosophischen Anthropologien befinden sich die verschiedenen Zugänge von Max Scheler und Arnold Gehlen. Bei aller Bewunderung Horkheimers für Scheler, dessen philosophisch souveränen Umgang mit einem großen Reichtum einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, für seine Wissenssoziologie und seine antikapitalistische Sinnordnung von Mitgefühlen, an Schelers philosophischer Anthropologie werden vor allem ihre seinsmetaphysisch-spekulative Einbindung, ihre von einer bestimmten Religionsauffassung abhängige Explikation und ihre Unterschätzung der Klassenspaltung zugunsten der Einheit des Menschen kritisiert. An Gehlens philosophischer Anthropologie werden von Adorno ihre positivistischen und autoritären Charakteristika kritisch herausgestellt, nicht ohne ihren zeitdiagnostischen und konservativ polemischen Charakter zu schätzen, der es ihm ermöglichte, die eigene linke Kritik in Szene zu setzen, ohne die kulturkritischen Gemeinsamkeiten thematisieren zu müssen siehe Thies . Auffallend ist indessen, dass es keine Kritik von Horkheimer oder Adorno an namentlich Plessners Philosophischer Anthropologie gibt. Sie schweigen sich zu ihr öffentlich aus, wodurch unklar bleibt, ob sie erkannt haben, warum sie diese Philosophische Anthropologie im Unterschied zu der von Scheler und Gehlen nicht kritisieren können oder warum sie sogar dieser und jener ihrer Dimensionen folgen könnten. Offenbar setzte Habermas ab das 0iveau und den Standard in der Verhältnisbestimmung beider Richtungen. Adorno und Horkheimer teilten mit Plessner die Problematik der Emigration und Remigration. Sie vertrauten einander ڴSiehe Horkheimer
anlässlich des Todes von Scheler
sowie Horkheimer
c.
Kritische Anthropologie?
politisch und kollegial, wovon Plessners Vertretung von Adorno / in )rankfurt und ihr Briefwechsel zeugen und wofür gemeinsame )amilienurlaube sprechen siehe Wiggershaus , – und Plessner . Bekannt ist auch die wissenschaftspolitisch strategische Zusammenarbeit der )rankfurter mit Plessner in )ragen der empirischen und theoretischen Sozialforschung siehe Dietze , , f, ; )ischer , f, , – , die aber weder in der einen noch in der anderen Richtung wirklich philosophische Konsequenzen gehabt zu haben scheint. Schaut man in Horkheimers und Adornos Beiträge zu der )estschrift für Helmuth Plessner „Wesen und Wirklichkeit des Menschen“ , wird deutlich, dass es zu keiner philosophischen Auseinandersetzung über ihre Paradigmen gekommen ist. Adorno handelt dort von Soziologie und empirischer )orschung, Horkheimer geht auf Kant und Hegel zurück, um dann zeitdiagnostisch zum sozialhistorischen Wandel von Menschenbildern Ausführungen zu machen siehe Adorno und Horkheimer in Ziegler . Die einzige Stelle bei Adorno, die indirekt außer Schelers auch Plessners Philosophische Anthropologie meinen könnte, betrifft das in )rankfurter Kreisen berühmte Diktum Adornos „gegen jegliche Anthropologie“. Das Primat des 0egativen über das Positive im kritischen Charakter der Kritischen Theorie hat philosophisch gesehen sicherlich Adorno am besten in „0egative Dialektik“ ausgearbeitet. Durch seine 0egativität zur Verteidigung des 0icht-Identischen im Singulären gegen dessen begriffliche Identifikationen wurde auch Horkheimers identitätsphilosophische Antizipation der künftigen Gesellschaft als eine Gemeinschaft Horkheimer a obsolet. Aber für Adorno bleibt diese 0egativität das Vorrecht seiner dialektischen Philosophie, während der Ausdruck „Anthropologie“ auf ideologische Menschenbilder bezogen wird. Daher reagiert Adorno besonders gereizt auf die These einer „arrivierten Anthropologie“, d. h. einer Anthropologie, die nicht in sein Begriffsschema passt, und die besagt, der Mensch sei offen, was Adorno als eine leere These abtut. „Dass nicht sich sagen lässt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie, sondern ein Veto gegen jegliche“ Adorno , . Gerhard Gamm kommentiert diesen Satz Adornos treffend, wenn er schreibt: „Adornos Einwand, sollte er denn gegen die philosophische Anthropologie Plessners gemünzt sein, ist selbst kein besonders erhabener. Eine Dialektik, die aufs 0icht-Identische, auf die ‚0icht-Identität des Menschen mit sich‘, abhebt, bedarf notwendig jenes Moments der ‚Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich‘, von der Plessner spricht“ Gamm , ; vgl. auch schon Gamm . Schaut man sich den Kontext dieses Adorno-Zitats an, ist klar, dass es sich um eine Kritik an Heideggers „Humanismusbrief “ handelt. Diesem zufolge steht der Mensch in die „Offenheit des Seins“ aus und wird daher unter seiner Würde ge-
ڵSchüßler versteht diese Stelle als Plessner-Kritik: Schüßler .
,
, vgl. insgesamt ebd.,
–
Hans-Peter Krüger
dacht, wenn er als „Lebewesen“ thematisiert werde, obgleich man die Dürftigkeit seines Lebens ernst zu nehmen habe, aber aus der Lichtung des Seins heraus siehe , , , . Gleichwohl fragt sich, warum dann Adorno Heideggers Anspruch auf eine „)undamentalontologie“ kritisch eine „Anthropologie“ nennt? – Dies folgt für Adorno aus Heideggers eigener Behauptung, die Adorno zitiert: „Der Satz: ‚Der Mensch eksistiert‘ antwortet nicht auf die )rage, ob der Mensch wirklich sei oder nicht, sondern antwortet auf die )rage nach dem ‚Wesen‘ des Menschen“ Adorno , f; siehe Heidegger , f . Aber warum erweitert dann Adorno seine Kritik an Heideggers Anthropologie auf „jegliche“ Anthropologie? Dadurch wird Schelers und Plessners These von der Weltoffenheit personalen Lebens, die Heidegger zweifellos in der offenen Lichtung des Seins übertrumpfen wollte siehe Krüger , – , in die Kritik einbezogen. Heidegger und Plessner gingen beide von Schelers ekstatischer Eröffnung von Welt in geistiger Liebe aus, transformierten sie aber in entgegengesetzte Richtungen siehe Krüger , – . In gewisser Weise kommt der späte Heidegger wieder in Schelers seinsspekulativer „Durchdringung“ von Lebensdrang und 0egativität des Geistes Scheler , an, allerdings nun auf einer Lichtung ohne Humanität, d. h. in einer Adorno zu Recht perfiden Leerheit, in der sich welthistorisch gerade die größten Zivilisationsverbrechen ereignet hatten. Während sich aber Karl Löwith differenziert für Plessners Weg der „Überschreitung“ in die „0atur selber“ gegen Heideggers Weg in ein leeres Sein als Maske jeder möglichen Selbstermächtigung positionierte, reagierte Adorno auf diese gesamte Problemkonstellation nicht nur spät, sondern bekenntnishaft. Umso wichtiger wäre die differenzierte Befragung des Zusammenhangs zwischen einer „negativen Anthropologie“ Gamm mit Plessner und einer „negativen Dialektik“ Adorno , den in der Gegenwart Christoph Menke als ästhetische Anthropologie entwickelt.
IV. Plessners Kritiken am Marxismus
und
Sieht man umgekehrt in Plessners Beitrag „Immer noch Philosophische Anthropologie?“ zu der )estschrift für Adorno „Zeugnisse“ , so kommt Plessners Erläuterung seiner )rageweise nach dem Menschen der Kritischen Theorie dadurch entgegen, dass sie geschichtlich erfolgt. Plessner wiederholt hier in äußerst knapper )orm seine Kritik am dualistischen Mainstream der modernen Philosophie, wie er sie bereits in seinem Buch „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner ڶLöwith , : „Das Überschreiten, welches den Menschen und seine Sprache vom Tier unterscheidet, könnte sich noch immer im unüberschreitbaren Umkreis der 0atur vollziehen, ohne Ausgriff nach einem Jenseits des von 0atur aus Seienden, so dass der Terminus a quo und ad quem des menschlichen Überschreitens ein und derselbe, die 0atur selber wäre“.
Kritische Anthropologie?
bürgerlichen Epoche“ vorgetragen hatte, das ab unter dem Titel „Die verspätete 0ation“ Plessner erneut publiziert worden war. Seit Descartes habe man, mit Kant gesprochen, immer wieder eine Kopernikanische Revolution vom Standpunkt eines Ex-Zentrums aus versprochen. Aber im Ergebnis sei man stets erneut durch dualistische Abspaltungen von der Welt der Körper und Leiber, von der 0atur im Ganzen, in einem Subjekt qua Selbst gelandet, das sich für den Konstitutionsgrund der Welt halte. So habe z. B. Dilthey „Kants kopernikanische Wendung noch einmal auf sie angewendet, ohne in die verlassene ontologische Konzeption“ von Welt zurück zu schwenken Plessner b, . Jede Bewegung verspricht eine Emanzipation, indem sie die Anderen von ihrem Exzentrum aus dezentriert, das sich sodann aber nur als ein je eigener Existenzanspruch in Konkurrenz zu anderen entpuppt. „Die Relativierung des Bewusstseins auf gesellschaftliche und vitale Triebkräfte beendet eine Geschichte der Emanzipation des Menschen von der Welt, die in der Philosophie von Descartes bis zum Existentialismus aufgezeichnet ist“ ebd., . Dies ist ein hartes Urteil, das die oben erwähnte Skepsis wider die Autorität durch Rückführung auf ein Subjekt erneut aufruft, dessen geschichtliche Pluralisierung im Bürgerkrieg untergeht. Die Emanzipation eines Subjekts erweise sich als seine Emanzipation von der Welt, die dann geschichtlich überraschend in der Gestalt gesellschaftlicher und vitaler Triebkräfte über die Subjekte hereinbricht. Damit entsteht das Problem erneut, wie denn diese Skepsisart in ihrer Verwirklichung überwunden werden kann. Plessners Diagnose ähnelt der von Hannah Arendt aus „The Human Condition“ : Das Grundproblem bestehe seit der 0euzeit nicht darin, dass wir die Entfremdung von unserem je eigenen, individuellen oder kollektiven Selbst überwinden müssten, wie gemeinhin geglaubt werde, sondern darin, dass wir keine Welt mehr teilen, die uns miteinander und gegeneinander ermöglichen könnte Arendt , , , , . Plessner geht den dualistischen Umschlag des Emanzipationsversprechens in die Ausklammerung der 0atur, d. h. der Welt der Körper und Leiber und ihrer Relationen, für alle drei Methoden seines Projektes kurz durch, für die Phänomenologie, die Hermeneutik und die Dialektik. Alle drei versprechen radikal 0eues und endliche Emanzipation, landen im dualistischen Ergebnis aber in der Vergrößerung der Kluft zwischen Subjekt und Welt. So feindlich sich darunter die Richtungen des Marxismus und des Existenzialismus gegenüber stünden, weil für sie alles von dem Gegensatz zwischen kollektivem und individuellem Selbst abhängen soll, seien sie sich doch einig im Kampf gegen die Entfremdung nicht etwa von der Welt, sondern ڷBereits schrieb Plessner über den Ausgang des Überbietungskampfs an gegenseitigen Entlarvungen: „Die überweltliche Heilsordnung weicht der Vernunft, diese der Geschichte, diese der Ökonomie und Gesellschaft, und ihre Stelle nimmt schließlich das Blut ein. )ür die himmlische Verheißung und Erlösung gibt es die innerweltliche Verheißung und Erlösung in einer Evolution des Wissens und Könnens, und als es mit dem Glauben an den )ortschritt schließlich zu Ende ist, die vor- und untermenschliche Sicherung des Menschen im Volkstum“ Plessner , .
Hans-Peter Krüger
von ihrer jeweiligen, kollektiven oder individuellen Existenz als Maßstab für die Zukunft. Selbst von Ernst Cassirers symbolischen )ormen über Heideggers sprachliches Haus des Seins bis zur linguistic analysis kenne man in all diesen „anthropologischen Philosophien“ Plessner b, schon immer das Wesen des Menschen. Es liege für sie in der Sprache der Symbole, zwischen Sprachverklärung und Sprachverarmung, ohne Relevanz für die Phänomene der Welt, wie sie sich selber in ihr zeigen können. Immer bleibe dualistisch gedacht die 0atur, d. h. die Welt der Körper und Leiber, das Andere und )remde, das für die Leistungen von Subjekten zu funktionieren habe, das man mithin nicht als Selbst und Welt sein lassen könne. )ür die „Überwindung des Anthropozentrismus“ nimmt Plessners Philosophische Anthropologie gerade die dualistisch ausgeschlossene 0atur, diese vom Dualismus exkludierte Welt der Körper und Leiber in Anspruch, weil er sie phänomenologisch, hermeneutisch und dialektisch als Ermöglichungsstruktur des Geistigen inkludiert. Die 0atur exzentriert sich in eine „Sphäre des Menschen“ Plessner , , nicht aber dieses Individuum, jene Rasse oder Klasse dezentriert alle anderen für sich allein: „Wir auf der Erde kennen den Menschen nur als Hominiden. Wer aber sagt uns, daß seine Lebensgestalt die einzig mögliche für ein endliches Wesen ist, das über Einsicht und schöpferische Kraft verfügt?“ Plessner b, f . Plessner erinnert in seinem Beitrag zu der )estschrift für Adorno daran, dass seine „Philosophische Anthropologie“ seit expressis verbis gegen „anthropologische Philosophien“ entworfen worden ist, die vermeintlich um das Wesen des Menschen bereits wissen und auf dieser Grundlage philosophieren ebd., ; siehe schon Plessner a, . Merkwürdigerweise ist seine Gegenüberstellung zwischen „Philosophischer Anthropologie“ und „anthropologischer Philosophie“ nicht rezipiert worden, auch nicht in den Überblicksdarstellungen von Habermas über Honneth/Joas bis Schnädelbach und )ischer , obgleich sie viele Missverständnisse hätte vermeiden können siehe Krüger , . u. . Kap.; Wunsch . )ragt man sich, wie das Problem der gemeinsamen Entfremdung von der Welt statt von der je eigenen individuellen oder kollektiven Existenz angegangen werden kann, begibt man sich mit Plessner zunächst auf den Weg der „Mitwelt“ im Unterschied zur Innen- und Außenwelt; dazu Plessner , – , die politisch nur im „Öffentlichen“ im Unterschied zum Privaten; dazu Plessner a, entste-
ڸ schrieb Plessner Plessner b, – : „Eine neue Verantwortung ist dem Menschen zugefallen, nachdem ihm die Durchrelativierung seiner geistigen Welt den Rekurs auf ein Absolutes wissensmäßig abgeschnitten hat: das Wirkliche gerade in seiner Relativierbarkeit als trotzdem Wirkliches sein zu lassen.“ ڹÖffentlichkeit ist „das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen“. Sie sind unverbunden, weil nicht im Sinne einer familien- oder sachähnlichen Gemeinschaft verbunden. In diesem Verkehr müssen daher „künstliche 0ormen“ generiert werden ebd., , die sich gegen asymmetrische Gewalt und Willkür erst nach dem „Prinzip der Gegenseitigkeit“ stabilisieren lassen
Kritische Anthropologie?
hen kann. Bereits war sein engagierter Aufsatz „Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung“ erschienen: Während der „spätbürgerliche Existentialismus“ die „Öffentlichkeit zur verflachten, uneigentlichen Weise menschlichen Daseins“ entwerte, „indem er Innerlichkeit mit Eigentlichkeit gleichsetzt“, entwerte der „proletarische Marxismus“ die Öffentlichkeit in ihrer heutigen )orm als Ausdruck des seiner Entfremdung noch nicht Herr gewordenen Menschen. 0ichts ist in unserer Lage verhängnisvoller, als den Tröstungen zu vertrauen, welche die Idee der Entfremdung verspricht. )reiheit und Eigentlichkeit im Inneren zu suchen – der Appell des Existentialismus – fördert die Verdinglichung des Menschen in der Öffentlichkeit nicht weniger als die marxistische Eschatologie, die ihn in den Wartestand versetzt, im Blick auf das Ende der Geschichte. 0ur ein gegen die Verführungen des Entfremdungsgedankens gefeiter, nur ein entmythisierter Öffentlichkeitsbegriff sichert den Spielraum der Verantwortung zur Wahrung unserer gesellschaftlichen )reiheit. Plessner ,
Verwechsele man nicht die zweifellos elende Lage des Proletariats im . Jahrhundert mit der Lage nach der Durchsetzung „sozialer Bürgerrechte“, müsse man sowohl den „Prozess der Vergesellschaftung des Staates“, d. h. das „Ineinanderwachsen der früher getrennten Bereiche der Verwaltung, des Militärs, der Wirtschaft und Kultur“, als auch den über den Rechtsstaat hinausführenden „Wohlfahrtstaat“ ernst nehmen: „Vermassung besagt eine Relation der Unschärfe in der Abgrenzung beider Bereiche des Öffentlichen und Privaten; Anm. HPK , die mit der Durchsetzung des sozialen Bürgerrechts in Bewegung geraten sind“ ebd., . In dieser Lage plädiert Plessner für eine Entfaltung der Personalität zwischen einander je privaten und doch öffentlichen Doppelgängern. „Der Abstand, den die Rolle schafft, im Leben der )amilie wie in dem der Berufe, der Arbeit, der Ämter, ist der den Menschen auszeichnende Umweg zum Mitmenschen, das Mittel seiner Unmittelbarkeit“ ebd., f . Man komme zu sich, als einem privaten Selbstverhältnis, auf dem Umweg über Andere im öffentlichen Austausch mit ihnen dank einer Rolle: 0icht das Tier, nicht der Engel, aber „der Mensch erscheint als Doppelgänger, nach außen in der )igur seiner Rolle und nach innen, privat, als er selbst“ ebd., .
ebd., und unter modernen Bedingungen den )unktionswert des Schutzes der Menschenwürde annehmen ebd., – .
Hans-Peter Krüger
V.
Der späte Plessner zum späten Adorno: Die Brücke einer gemeinsamen anti-dualistischen Lektüre von Kants agnostischer AbsolutismusKritik
Plessner stimmt in seiner „Anthropologie der Sinne“ Adorno darin zu, dass man Musik aus dem Musizieren heraus verstehen sollte, statt sie aus den sensorischen und motorischen Verhaltensmöglichkeiten herauszulösen und in das Gefängnis eines verselbständigten Bewusstseins sperren zu müssen Plessner a, . Die Verzweiflung indessen, die in Adornos „0egativer Dialektik“ herrscht, teilt Plessner in seiner Besprechung dieses Buchs nicht. Plessner hat nicht der marxistischen Überzeugung angehangen, man könne durch eine einzige Radikallösung, die Revolution, alle Probleme der modernen Gesellschaften wie durch ein „Allheilmittel“ überwinden. Seine Schrift „Grenzen der Gemeinschaft. Zur Kritik des sozialen Radikalismus“ enthielt eine grundsätzliche Kritik an der marxistischen Vorstellung, die kapitalistische Gesellschaft durch eine Rationalisierung nach dem Modell einer Sachgemeinschaft ersetzen zu können. Plessner hatte schon damals gegen jede Art von Gemeinschafts-Diktatur eine zivilisierte und öffentliche Gesellschaft unter einander Unbekannten, Anderen und )remden stark gemacht, die einander unbekannt, anders und fremd bleiben können. Andererseits hat Plessner aber oft an marxistische Analysen, so die des „Hochkapitalismus“ Plessner , – in seinem Buch „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ angeschlossen. Er teilt auch jetzt, , die Diagnose von der verwalteten Welt in West und Ost, aber ohne an ihr zu verzweifeln, weil es zu keiner revolutionären Erlösung von ihr komme: „Die Verknüpfung des Schlussstrichs unter die Hegelsche Philosophie mit dem Gedankenstrich der versäumten Revolution bildet das Scharnier der negativen Dialektik“ Plessner a, . Lasse man Adornos marxistisches Epigonentum und seinen Mangel an systematischem Darstellungsvermögen beiseite, trete seine Stärke hervor: „Ein Philosoph muss eben auch ein Écrivain sein. Diese Gabe besaß Adorno, jedenfalls als Interpret großer Musik und Dichtung“ ebd., . Aktuell und interessant sei Adornos Versuch, durch ein
ںSiehe Plessner a, , wo Plessner die Zivilisation vor der angeblich höheren Kultur verteidigt: „Mithin kann man sagen, gäbe es keine Zivilisation schon aus den einfachsten Zweckmäßigkeitsgründen, so müsste sie um des Spieltriebes willen erfunden werden … Was aber ist der Sinn des Spieles, wenn nicht die Irrealisierung des natürlichen Menschen zur Trägerschaft irgendeiner Bedeutung, irgendeiner Rolle?“
Kritische Anthropologie?
„Ensemble von Modellanalysen“ der identitätsphilosophischen „Vormacht des Subjekts“ zu entkommen und der „Dignität des Körperlichen“ ebd., – ohne dualistische Zwangsjacke nachzugehen. Adornos „Konstellierung“ der Begriffe, statt ihrer exklusiven Subsumtionshierarchie, und seine Komponierung historisch verstehender Typen im Sinne Max Webers werden von Plessner als Schritte in Richtung auf die Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit hervorgehoben. Adornos Ausrichtung seiner Mikrologie auf die Materialität des Gehalts lasse zu Recht das Ontische nicht in seiner Ontologie aufgehen. „Alles in seiner Einzigkeit und Unwiederholbarkeit Unverwechselbare, ob sensuell oder nicht, ist das Thema der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ ebd., . Literarisch laufe dies auf die )orm des Essays hinaus, dem )ranzosen und Engländer großen Respekt erweisen, kaum aber die Deutschen Plessner c, . Plessner erkennt in Adornos anti-dualistischer Kant-Lektüre eine Brücke zu seinem eigenen Projekt, weil sie sich vom positiven Absoluten der Identitätsphilosophie befreit. Die „Anerkennung der Materialität gesellschaftlicher Macht und das unbrechbare Reduit der sich selber bestimmenden )reiheit, Sinnlichkeit und Sittlichkeit“ gehören zusammen, ohne sich im 0amen des „absoluten Idealismus“ selbst ermächtigen zu können: „Das ist in einer Welt, der die Prinzipien der Aufklärung selber zu Mitteln in der Ideologisierung geworden sind und deren )anatismus sie mit ihrer Selbstvernichtung bedroht, ein dringend nötiges Gegengift“ Plessner a, . In seiner Diskussion von Adornos )ragment gebliebener ästhetischer Theorie hebt Plessner deren Wahrheitsorientierung hervor, erneut mit Verweis auf einen nicht dualistisch gelesenen, aber gleichwohl an seinem Agnostizismus festhaltenden Kant: Wahrheit hat Kunst deren Medium die Sinnenschönheit ist als ‚Schein des Scheinlosen‘. So wird sie in einer Welt, deren Erkenntnisideal nachprüfbare Verifikation nach dem Maße von )alsifikationsmöglichkeit ist, zum Absoluten und die Ästhetik zur Zuflucht der Metaphysik. Ist nach Kantischer Doktrin dem Menschen das Ansich versperrt, ‚prägt es in den Kunstwerken, ihrem einheimischen Reich, in dem es keine Differenz zwischen dem Ansich und )ür uns geben soll, zu Rätselfiguren‘. Plessner b, f
Adorno bleibe, besser als Hegels Idee, durch das Scheinlose dieses Scheins bei der abgebrochenen Transzendenz, d. h. auf der Schwelle der negativen Theologie stehen, was zu Samuel Beckett wohl passe. Gleichwohl hält Plessner die Schwermut in dieser ästhetischen Theorie kaum aus: „Alles Leichte muß sich rechtfertigen, alles Leuchtende hat zu seinem Grunde schwarz. Bezeichnend ist, daß der Begriff des Spiels sich nur an einer Stelle findet, in der von Schiller die Rede ist“ ebd. . Bekanntlich versteht Plessner das personale Leben wesentlich als homo ludens, d. h. aus dem Spielen in und dem Schauspielen mit soziokulturellen Rollen für Körperleiber von Personen. Plessner vermerkt direkt auch die Bedeutung Walter Benjamins für Adorno: „[D]ie Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums. Das ist doppeldeutig, je nachdem der 0achdruck auf den einzelnen oder das Ganze fällt“
Hans-Peter Krüger
Plessner c, . Die „archaische Rationalität“ im Kunstwerk, die dessen Autonomie in der Erfahrung paradox werden lässt, erinnert „die verdrängte MimesisBannung des Übermächtigen durch Anverwandlung und Anähnelung, die mit 0achahmung eines Vorgegebenen nicht zu verwechseln ist“ Plessner b, . Am Ende seiner Besprechung von Adornos „0egativer Dialektik“ kommt Plessner auf Horkheimers Wiederholung seiner alten „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“ Schelers aus dem Jahre zurück. Plessner kritisiert die noch andauernde Ignoranz seiner Werke. Horkheimers falsche Behauptung, die moderne Philosophische Anthropologie entspringe demselben Bedürfnis wie die idealistische Philosophie, nämlich durch absolute Prinzipien das Handeln zu rechtfertigen, wird strikt von Plessner zurückgewiesen. Ebenso Horkheimers Vorurteil, es ginge in der Philosophischen Anthropologie um eine biologische Grundstruktur, welche die Monopole der Tierart Mensch aus sich hervorgehen lasse und eine historische Invarianz präjudiziere. Das Gegenteil sei der )all: „Die gesuchte Struktur ermöglicht gerade die ethnologisch bekannte extreme Variabilität des Menschenmöglichen. Sie bildet sogar das Bindeglied zu einem ‚historischen Materialismus‘“ Plessner a, , sofern er sich nicht auf überzeitliche Maßstäbe theologischer Deutungen von Geschichte berufe. Horkheimers Manöver, die Philosophische Anthropologie kritisieren zu können, ohne sie zur Kenntnis genommen zu haben, lenke von der )rage nach dem Zusammenhang zwischen der 0aturgeschichte und der Gesellschaftsgeschichte ab.
VI. Habermas’ Anthropologie-Artikel : Die neue )orschungsstrategie der Komplementarität Mit Habermas ergreift nicht nur ein Vertreter der neuen Generation das Wort, sondern ein Kenner beider philosophischer Richtungen, in dem sich die mögliche Rolle eines paradigmatisch Dritten ankündigt. Er versteht in seinem „Anthropologie-Artikel“ die moderne Philosophische Anthropologie, wie sie von Scheler und Plessner begründet worden war, nicht als eine Ausgliederung eines ursprünglich philosophischen Projekts aus der Philosophie in die empirischen Wissenschaften, sondern umgekehrt als eine Reaktion der Philosophie auf die empirischen Wissenschaften vom Menschen, um ihnen ihren Gegenstand und Anspruch erneut philosophisch streitig zu machen siehe Habermas , . Beim Wesen des Menschen handele es sich nämlich um einen Gegenstand, der nicht geradewegs wie ein „etwas“ zum „Gegenstand“ gemacht werden könne ebd., . „Über das, wie es sich“ ebd., mit dem Menschen „verhält, erfahren wir ernsthaft nur in dem Maße, in dem wir wissen, wer er ist“ ebd. . Unter Verweis auf Plessners hermeneutische Dimension hebt Habermas hervor, dass sich im )alle des Menschen Sein und Sinn nicht trennen lassen, sondern in den Vermögen, auf die sich der Mensch versteht
Kritische Anthropologie?
und zu denen er sich versteht, zusammenfallen. Habermas unterscheidet zwischen Schelers seinsmetaphysischer, Plessners von Metaphysik befreiender und Gehlens empirischer Anthropologie ebd., , . Plessner löse die Philosophische Anthropologie aus der metaphysischen Klammer, indem es in ihr nicht mehr um Prinzipien oder Substanzen, sondern um Strukturen im Verhältnis des Leibes zur Umwelt gehe, seine Anthropologie sich methodisch neutral gegenüber dem Dualismus entweder physisch oder psychisch verhalte und die Gleichursprünglichkeit des Körperlichen und Geistigen im menschlichen Verhalten, der Sprache, der Gestaltung und der Gebärde aufzeige. Die Exzentrierung der Positionalität führe in einen wirklichen Bruch der menschlichen 0atur hinein, weil sie nicht die Zentrierung der Positionalität als solche überwinden könne. Es entstehe so der menschlichen Lebensführung das Problem, zwischen Leibsein und Körperhaben ausgleichen zu müssen, weshalb der Mensch von 0atur aus künstlich sei ebd., . Außer Plessners „Stufen des Organischen und der Mensch“ wird auch sein Buch „Lachen und Weinen“ über Ausdrucksgebärden personaler Verhaltensgrenzen besprochen sowie auf seine „Ästhesiologie des Geistes“ in der „Einheit der Sinne“ verwiesen. Plessners „Macht und menschliche 0atur“ und „Das Schicksal deutschen Geistes“ , d. h. Plessners politische Anthropologie im Zeichen der geschichtsphilosophischen Unergründlichkeit des Menschen und die dazu passende geschichtsphilosophische )allstudie zum Vergleich der deutschen mit der westeuropäischen Entwicklung fehlen hingegen. Ebenso unberücksichtigt bleibt Plessners Buch „Grenzen der Gemeinschaft. Zur Kritik des sozialen Radikalismus“ , d. h. sein sozialphilosophischer Einsatz. Daher entsteht in dem Artikel von Habermas der Eindruck, dass Plessner nicht das Problem der „Verschränkung von Umweltbindung und Weltoffenheit“ im personalen Leben richtig stellen kann, wofür man daher Erich Rothackers Kulturanthropologie der sozialen Lebensstile brauche ebd., . Vor allem aber entsteht der Eindruck, dass die Philosophische Anthropologie selbst die Plessners nicht von sich aus kritisch verfahren kann, sondern dafür das „Wechselgespräch mit einer Theorie der Gesellschaft“ Habermas , brauche. Der interessante Punkt besteht hier nicht nur darin, dass Habermas Plessners Philosophische Anthropologie halbiert, d. h. unter Absehung von ihrer sozial- und geschichtsphilosophischen )undierung allein ihre 0aturphilosophie und Ausdruckstheorie übrig lässt. Vielmehr entwirft Habermas
ڱڲPlessner bestand auch gegen Rothacker kategorial darauf, eine biosoziale Umwelt, die nicht durch Weltoffenheit ermöglicht wird, nicht mit einer soziokulturellen Umwelt zu verwechseln, die durch Weltoffenheit ermöglicht wird, letztere aber nur fragmentarisch realisieren kann. Zudem rechnete er mit der „Möglichkeit, dass beim Menschen Umweltgebundenheit und Weltoffenheit kollidieren und nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung gelten“ Plessner e, . Vgl. ebenso Plessner c, – . ڲڲPlessner hatte schon angekündigt, dass nicht nur der „vertikale“ Vergleich der humanen mit non-humanen Lebensformen einer naturphilosophischen Rekonstruktion seiner lebensweltli-
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dadurch eine forschungsstrategische Komplementarität, nämlich die kritische Verbindung von philosophischer Anthropologie und kritischer Theorie der Gesellschaft, die er historisch unter Verweis auf Marx und aktuell auf Horkheimer, Adorno und Herbert Marcuse für möglich hält. Empirisch passe dazu Gehlens Selbstkorrektur, vom instrumentellen Handeln zum darstellenden Verhalten im Ritus überzugehen, was in Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ der MimesisKonzeption entspreche siehe Habermas , f . Allerdings weist Habermas Gehlens Versuch, archaische Institutionen zum Maßstab für moderne Gesellschaften zu erklären, kategorisch als „autoritär“ ebd., ab. Es gibt auch einige Anzeichen dafür, dass sich Habermas an seine eigene )orschungsstrategie der Komplementarität bis „Erkenntnis und Interesse“ gehalten hat. So verweist er zustimmend in seinem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auf Plessners andere Hälfte, d. h. auf die „Grenzen der Gemeinschaft“ , die „Verspätete 0ation“ und den oben erwähnten Aufsatz „Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung“ , ohne Plessners Konzeption im Ganzen zu übernehmen. Die neomarxistische und hermeneutisch-historische Konzeption von Habermas gehört aber u. a. durch ihre Bezüge auf Plessners und Hannah Arendts Konzeptionen der Öffentlichkeit im Unterschied zum Privaten zur paradigmatischen Wende zu einer öffentlich anspruchsvollen Demokratie. Hier führt Habermas einen neuen, explizit normativen und universalisierbaren Maßstab in die Kritische Theorie ein, an dessen Explikation er ein Leben lang gearbeitet und der sich gegen viele Widerstände mehr und mehr in der Generationenfolge der Kritischen Theorie durchgesetzt hat.
VII. Habermasʼ Kritiken an Plessners Philosophischer Anthropologie von
und
Zu Beginn der er Jahre, im Gefolge der er Bewegung, ist Habermas nicht mehr nur davon überzeugt, dass er durch den verständigungsorientierten Sprachge-
chen Präsuppositionen bedarf, sondern auch der „horizontale“ Vergleich unter den Lebensformen von Menschen einer gesellschafts- und geschichtsphilosophischen Rekonstruktion seiner lebensweltlichen Voraussetzungen. Dazu Plessner , , . ) ڳڲischer stellt Habermasʼ differenzierte Kritik an Gehlen so dar, als ob es Habermas um „die Selbstauflösung der Philosophischen Anthropologie in eine ‚Theorie der Gesellschaft‘“ gegangen sei. Diese )ehlinterpretation kommt dadurch zustande, dass )ischer selbst die „Philosophische Anthropologie als Denkrichtung“ im „Kern mit Gehlens Werk identifiziert“, wovon sich in Habermasʼ Text nichts findet. )ischer , .
Kritische Anthropologie?
brauch das erkenntnistheoretische Problem der Wahrheit, d. h. der gegenstandsbezogenen Sprachverwendung, in einer Konsensustheorie lösen kann wovon er bekanntlich später abgerückt ist . Er glaubt damals auch, durch die Idealisierung der Sprachverwendungen in intersubjektiver Richtung Max Webers Problem einer Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung lösen zu können. In dieser euphorischen Phase von Habermasʼ eigener Werkentwicklung – man könnte von einer idealen Hochzeit zwischen Gadamers Sprachhermeneutik und Max Webers Typenlehre sprechen – nabelt sich Habermas auch von Plessner ab, so in seinem offenen Brief an Helmuth Plessner von . Einerseits würdigt Habermas Plessners „philosophische Rehabilitierung der 0atur“: „Eine nicht-empiristische, gleichsam )euerbachsche Parteinahme für das Sinnliche, Widerständige, Äußere, das gleichwohl mit der Sphäre des Sinns, des immer schon Zugänglichen, Inwendigen verwoben ist, verbindet Ihre Position mit der des Marxschen Materialismus“ Habermas b, . Andererseits bemängelt Habermas Plessners Auflösung der „Universalgeschichte in antirevolutionistischer Perspektive“, seinen „nur“ historischen Begriff von Geschichte und Kultur: „Woher nehmen Sie, lieber Herr Plessner, die Sicherheit, dass ein Bildungsprozess der Gattung nicht stattfindet?“ ebd., . Habermas würdigt auch Plessners geniale Deutung von Lachen und Weinen, allerdings unterstellten diese Phänomene eine propositional ausdifferenzierte Sprache. „Intersubjektivität leiten Sie nun nicht aus der Sprache, sondern aus der exzentrischen Position der menschlichen 0atur ab“ ebd. . Habermas formuliert seine Gegenposition in der )rage: Wäre es nicht plausibler, die Struktur des Spiegel-Ichs unmittelbar aus der Struktur der sprachlichen Kommunikation abzuleiten – und die Bildung der Ich-Identität aus dem Erwerb der Sprachkompetenz, insbesondere aus der Einübung in das System der Personalpronomina? Dann würde sich in dem Doppelaspekt von Leib und Körper die Doppelstruktur der Sprache bloß abbilden ebd. .
Im „Philosophischen Diskurs der Moderne“ von Habermas gibt es nur noch die polemische, weil nicht mehr begründete Bemerkung, dass auch die phänomenologische Anthropologie von Plessner wie viele andere ebenso der dichotomisch verfahrenden Subjekt-Philosophie verhaftet bleibe Habermas , . Habermas glaubte bekanntlich, durch seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ alle Subjekt-Philosophien durch sprachliche Intersubjektivität überwunden zu haben. Plessners Programm kann tatsächlich nicht dem theoretischen Ableitungsanspruch von Habermas Genüge leisten. Plessners phänomenologische Methode ohne Husserls dualistische Theorie dient der Entdeckung von „ursprünglichen“ Phä-
ڴڲHonneth/Joas Honneth/Joas , – , haben überzeugend Habermasʼ sprachidealistische Kritik an Plessner widerlegt, indem sie den Zusammenhang der verschiedenen Expressivitätsformen bei Plessner herausgestellt haben.
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nomenen, die – wie das ungespielte Lachen und Weinen – als Grenzerfahrungen in der personalen Lebensführung unersetzbar sind. Ihre qualitative Irreduzibilität lässt sich nicht aus der Erkenntnis eines anderen Phänomens „ableiten“. Plessners Hermeneutik erkundet die interkulturelle Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten eines solchen Phänomens. Auf dieses kann im Verhalten im weitesten Sinne durch Ausdruck, Handlung, Sprache, Gestalten, Prozedur, Kontaktvermeidung geantwortet werden. Damit der Rückschluss aus einem sprachlichen Verständnis eines nicht allein sprachlichen Phänomens keinen sprachidealistischen )ehlschluss ergibt, müssen ontisch-ontologische Kriterien dafür erfüllt werden, dass das Phänomen nicht nur „angeschaut“ wurde, sondern „wirklich“ Plessner , – , ist. Schließlich sucht Plessners Dialektik nicht nach einem „Generalnenner“, aus dem man mehr oder minder alles ableiten könnte, sondern angesichts der Antinomien der reinen Vernunft nach einer solchen Verwirklichung von Skepsis, die die Rückführung der Konstitution auf nichts anderes als ein Subjekt überwindet. Plessners )reilegung von Lebens-„Sphären“ ebd., f , in denen „Lebenssubjekt und Gegenwelt“ ebd., Einheiten der „Eingespieltheit“ ebd., bilden, während ihr Widerspruch prozessiert, bietet gerade einen Ausweg aus der Subjekt-Philosophie. Zudem scheint mir, dass Habermas selbst in seinem Spätwerk die Kritiken von / zurücknimmt.
VIII. Habermasʼ Rückgriff auf Plessners Körper-LeibDifferenz in „Die Zukunft der menschlichen 0atur“ Angesichts des Aufschwungs der biomedizinischen Lebenswissenschaften und insbesondere der Praktiken einer liberalen Eugenik wird Habermas deutlich, dass seine kritische Gesellschaftstheorie keinen Zugang zu den Körperleibern hat, um die es in all den neuen Therapien und Enhancements geht. Seine kommunikativen Aktoren, die sich in ihren kommunikativen Akten um einen verständigungsorientierten Sprachgebrauch zur Koordinierung ihrer Handlungen bemühen, gewinnen durch Rückgriff auf Plessners Differenzierung ein „Leibsein“ und „Körperhaben“ Habermas , – , – , – für Personen in Relation zu anderen Personen. In der von Habermas angenommenen „Komplementarität“ Habermas , zwischen der Lebenswelt als dem Hintergrund möglicher Kontexte und der sprachlichen Kommunikation im aktualen Vordergrund fehlte das differentielle Leibes-Medium, das die Personen lebensgeschichtlich situiert. Die Lebenswelt kann doch nicht nur aus symbolischen Verweisungshorizonten bestehen, die als lebensweltliche Voraussetzung der Kommunikation aktual im Ganzen opak bleiben, aber im Resultat der verständigungsorientierten Kommunikation zu den symbolischen
Kritische Anthropologie?
Strukturen von Lebenswelt in Kultur als Wissensvorrat , Gesellschaft als legitime Ordnung und Persönlichkeit als sprach- und handlungsfähiges Subjekt ausdifferenzieren ebd., . )ür die personale Lebensführung müsste wohl die Lebenswelt als eine solche Ermöglichung von Relationen zwischen Personen thematisiert werden, die je in der Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben leben, also durch diese Differenz überhaupt erst zum Leben erwachen. Plessners kategorialer Vorschlag zur Personalität von Menschen oder anderen Lebewesen besteht in der Tat aus dieser doppelten Triade, einerseits der Person in ihrer Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben, andererseits in den rollenvermittelten Relationen zwischen Personen in Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen. Habermas sieht sich in seinem Spätwerk einer Problemlage ausgesetzt, die Plessner das Problem der neuen „Lebensmächte“ im „Hochkapitalismus“ genannt hatte und das nicht von der Kritischen Theorie aufgegriffen worden ist, obgleich sie sich wohl als dafür verantwortlich hätte begreifen müssen. Plessner verstand unter einer „Lebensmacht“ exemplarisch im Hochkapitalismus )olgendes: Die Ersetzung des lebensweltlichen Krankheitsverständnisses durch eine naturwissenschaftliche Krankheitsdefinition fällt zusammen mit der Erzeugung neuer globaler Märkte der Pharmaindustrie und Einrichtungen der sozialen Hygiene Plessner , – . Dieses Problem ist, unabhängig von Plessner, leider erst durch )oucaults Konzeption von Biomächten vierzig Jahre später ernst genommen worden.
IX. Kritische Anthropologie? Ich danke Herbert Schnädelbach für das anregende Stichwort von einer „Kritischen Anthropologie“. Die )rage nach ihr könnte zu einer Diskussion zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie einladen, wie sie von Habermas begonnen und von Honneth/Joas erneuert worden ist. Ich bleibe hier bei meiner kleinen Auswahl aus diesem großen Thema und beziehe sie auf künftige Aufgaben aus meiner Sicht der Philosophischen Anthropologie Plessners. Erstens: Das in diesem Vergleich auffälligste Defizit der Kritischen Theorie besteht in dem )ehlen einer Philosophie der unbelebten und belebten 0atur, darunter der pflanzlichen, tierlichen und personalen Lebensformen, von denen die letzteren nicht ohne die ersteren als Sphäre existieren können. Dieser Zusammenhang ist inzwischen als die ökologische )rage bekannt und zu Recht auf der politischen ڵڲHerbert Schnädelbach hat diesen Ausdruck an dem Roundtable der Tagung „Mensch und Gesellschaft zwischen 0atur und Geschichte: Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie“ am . . an der Universität Potsdam in Kooperation mit dem Institut für Philosophie der )reien Universität Berlin vorgeschlagen.
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Agenda. Plessners 0aturphilosophie bietet dafür zwar ein besseres Potential als nur die sozialkritische Herausstellung des Zusammenhanges zwischen der Beherrschung von Menschen und der Beherrschung der äußeren 0atur, aber auch seine 0aturphilosophie ist bisher nicht ökologisch expliziert worden. Die ökologische Erweiterung des Verständnisses von Lebenswelt auf ihre nachhaltigen biologischen Reproduktionsvoraussetzungen steht längst an. Zweitens: Was die )rage des Verhältnisses zur eigenen 0atur personaler Lebewesen betrifft, hat Plessner zwar das Problem neuer „Lebensmächte“ im Hochkapitalismus entdeckt, es aber nicht konzeptionell ausgeführt. Strukturell und funktional bietet sein Ansatz einen Zugang zum Problem, indem man der Triangulation seiner beiden Triaden zur Personalität des Lebens folgt, also Personalität sowohl im Hinblick auf die Körper-Leib-Differenz als auch im Hinblick auf die interpersonalen Relationen in Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen aufschlüsselt. Der kritische Zugang zur eigenen 0atur über die Psychoanalyse ist in Plessners Konzeption insofern vorgesehen, als er nicht gesellschaftlich dazu führt, über die „Utopie der verlorenen Wildform“ Plessner c, dann am Ende doch in der „biologischen Deutung der Zivilisation als eines Sündenfalls der 0atur“ ebd. zu landen. Seine Bejahung der Übernahme von Verantwortung in funktional produktiven Machtbeziehungen begnügt sich nicht mit der Kritik an der Herrschaft der Anderen im 0amen der eigenen Emanzipation von Herrschaft. Drittens: Versteht man die Personalität des Lebens im genannten Sinne, erweitert sich auch das Kommunikationsverständnis auf die Responsivität für alle möglichen )ormen von Expressivität, Mimesis eingeschlossen. )ür Plessners öffentliche Untersuchungsart war seit seiner „Ästhesiologie des Geistes“ die wichtigste Symbolfunktion die, zwischen der aisthetischen „Thematisierung“, der sprachlichen „Präzisierung“ und der „Schemabildung“ Plessner b, , , ; siehe auch Plessner a, – in Technik und Wissenschaft einen Zusammenhang des )ragens und Antwortens herzustellen, um aus dem falschen Gegensatz zwischen entweder sprachlichem oder nicht-sprachlichem Verhalten herauszuführen. So erweitert kann man Habermasʼ gesellschaftstheoretischem Kreismodell, die gesellschaftlich öffentliche Kommunikation habe die Lebenswelt nicht nur zur Voraussetzung, sondern auch geschichtlich zum Resultat, als Rahmenorientierung folgen. Was diese Rahmenorientierung auf diese Weise an dem Rationalitätsideal einer sachlichen Argumentationsgemeinschaft einbüßt, gewinnt sie an dem Kategorischen Konjunktiv erweiterter Kommunikation mit größeren Partizipationschancen in der Generationenfolge von Habitualisierungsprozessen. Viertens: Habermasʼ und Plessners Paradigmen überlappen sich im Primat einer öffentlich anspruchsvollen Demokratie, die die ihr funktionalen Wirtschafts- und
ڶڲSiehe Plessners grundlegenden Aufsatz „Die Emanzipation der Macht“ von c ; Krüger , . Kap.; Krüger , . Kap.
Plessner
Kritische Anthropologie?
Verwaltungsformen erkämpfen kann. Adornos „negative Dialektik“ und Plessners „negative Anthropologie“ Gamm überschneiden sich in einer Eröffnung von Zukunft wider die )estschreibung bisheriger Positivitäten zu Determinationszwängen. Über die Herausbildung einer „pluralistischen Gesellschaft“, über deren Konflikte man sich keine Illusionen machen möge, „d. h. einer Gesellschaft offen miteinander konkurrierender Wertesysteme“, schreibt Plessner: Zu dieser unabgeschlossenen Transformation in eine Gesellschaft ohne vorgegebene Autorität, d. h. der vollendeten Aufklärung, passt die Scheu vor der )ixierung menschlichen Wesens und seiner Bestimmung in einem nicht mehr revidierbaren Sinne. Was vom Standpunkt autoritätsund traditionsgebundener Weltordnung und Gesellschaftsverfassung sich als Schwäche, Unentschlossenheit, Ratlosigkeit und Angst ausnimmt, erhält im Aspekt der werdenden Gesellschaftsordnung den Wert der Stärke und des Mutes zur )reiheit Plessner d, ; siehe auch ebd.,
)ünftens: Schließlich und zuvörderst geht es um die Spezifik der beiden Arten und Weisen zu philosophieren, die transdisziplinäre Zusammenarbeit erst ermöglicht. Plessner forderte die Distanzierung von der anthropozentrischen Spielregel modernen Philosophierens, sich gegenseitig durch Entweder-Oder-Alternativen in einer Serie kopernikanischer Revolutionen aushebeln zu wollen, was längst dem Schema kapitalistischer Konkurrenz entspricht. Er sah den der Philosophie spezifischen Werthorizont in der Bewahrung der Würde endlicher Vernunftwesen in ihrer Lebensführung siehe Plessner d, – . Die Idee der Würde schützt das Individuum davor, entweder dieser Gemeinschaftsform oder jener Gesellschaftsform geopfert werden zu dürfen oder gar zu müssen. Umgekehrt, jede individuelle Person braucht sowohl Gemeinschafts- als auch Gesellschaftsformen, denn sie unterliegt in ihrem Werdensprozess einer „ontisch-ontologischen Zweideutigkeit“ Plessner a, – , – , – . „In uns selbst liegen neben den gemeinschaftsverlangenden und gemeinschaftsstützenden die gesellschaftsverlangenden, distanzierenden Mächte des Leibes nicht weniger wie der Seele, in jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn noch die andere gilt, auf ihre Erweckung“ ebd., . )ür beide philosophische Richtungen sind einerseits verschiedene Kant-, Hegel- und MarxTransformationen tragend, andererseits verschiedene systematische wie essayistische Kombinationen aus phänomenologischem, hermeneutischem und dialektischem Vorgehen durch 0egativität, d. h. ohne absolute Ansprüche auf eine positive
ڷڲPlessner denkt das Verhältnis Individuum-Gemeinschaft-Gesellschaft unter dem Primat der Würde des Einzelnen, d. h. aus dem „Schicksal der Individualisierung“ Plessner a, , das keinem Individuum von einer Sozialbeziehung abgenommen werden kann. Dieses Primat bedeutet keinen „Solipsismus“ Honneth/Joas , – , sondern eine wertedemokratische, d. h. nicht der Mehrheitsregel zu unterwerfende Grenze für Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprozesse von Individuen. Plessner ist, aus der negativen Erfahrung des Weimarer Bürgerkriegs heraus, ein Vordenker des Grundgesetzes, Artikel , Absatz .
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Identität im Ganzen. Habermas hat völlig zu Recht Habermas die Verschränkung von Umwelt und Welt als systematisches Kernproblem hervorgehoben. Wie wird die fragmentarische Eröffnung von Welt philosophisch ermöglicht, ohne erneut im gnoseologisch-ontologischen Selbstprivileg eines individuellen oder kollektiven Selbstbewusstseins hängen zu bleiben?
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Hans-Peter Krüger
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Kritische Anthropologie?
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Gérard Raulet
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin – Ansätze zu einer anthropologischen kritischen Theorie1 In dem allseitig zitierten Text „Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition“, der sozusagen eine geistige Geopolitik der Kritischen Theorie kodifiziert, erkennt Axel Honneth die Suggestionskraft der Benjaminschen Gedankengänge an, aber er spricht dem gesamten Denken Benjamins jede aktualisierbare theoretische und politische Relevanz ab. Honneth erwähnt nicht einmal die zahlreichen Anregungen, die Adorno wie kritisch auch immer von Benjamin empfangen hat und von denen u. a. die Aufzeichnungen und Gespräche im Vorfeld der „Dialektik der Aufklärung“ Zeugnis ablegen. Er stellt seiner Darstellung das definitive Urteil voran: )ür den )ortgang der philosophischen oder soziologischen )orschung ist seine Theorie ohne jede erkennbare Wirkung. […] )ür die systematischen )ragen, die heute in der Philosophie, der Kulturtheorie oder der Sozialforschung eine Rolle spielen, sind die Bestandteile seines Werkes so gut wie ohne Bedeutung geblieben Honneth , .
0ichtsdestotrotz möchte ich hier den „weitmaschigen Spekulationen“ ebd., , die Benjamin insbesondere in Bezug auf das mimetische Vermögen angestellt hat, im Einzelnen nachgehen und zeigen, dass sie nichts anderes skizzieren als die Möglichkeit einer anthropologisch erweiterten, wenn nicht gar anthropologisch begründeten kritischen Theorie, und dass sie es dabei mit einem Problem aufnehmen, das gerade auch im Mittelpunkt von Adornos Sozialphilosophie immer schon gestanden hat: der Verdinglichung. In beiderlei Hinsicht bieten die Spekulationen über ein mimetisches Vermögen einen angemessenen Zugang und eine Antwort auf die )rage, von der – wie Honneth richtig feststellt – Benjamins ganzes Denken ausgeht: „die Sphäre der Erkenntnis jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung autonom zu begründen“ Benjamin b, ; siehe Honneth , . Das „mimetische Vermögen“ ist nicht bloß in hypnotischen Zuständen, im Halbtraum etc. am Werk; es schlägt sich auch in kulturellen Phänomenen wie Kinder- Spiel, Tanz, Graphologie und Astrologie nieder, in denen der Mensch es auf rituelle Art und Weise, bewusst oder unbewusst, unternimmt, Korrespondenzen zu entdecken und Ähnlichkeitsstrukturen nachzuspüren. Das mimetisch ڲDieser Text ist im Kontext des von der französischen „Agence nationale de la recherche“ und der „Deutschen )orschungsgemeinschaft“ finanzierten Programms „CActuS Critique, Actualité, Société “ entstanden. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine geringfügig modifizierte )assung meines unter demselben Titel in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, / , – publizierten Aufsatzes.
Gérard Raulet
geprägte Verhältnis des Menschen zur Welt und zur 0atur, die er von Ähnlichkeitsstrukturen durchzogen sieht, stellt insofern eine tief verankerte an-thropologische Grundlage allen menschlichen Erkennens und Handelns dar. Parallel zum sozialen Handeln und zur sozialen Bestimmtheit menschlicher Existenz sieht Benjamin den Menschen als Teil einer Ähnlichkeit produzierenden 0atur. Er führt das mimetische Vermögen auf die phylogenetischen Anfänge zurück und beschreibt einen Zeitpunkt, zu dem der urgeschichtliche Mensch aufgrund seines stofflichen Leibes Teil der mimetisch-magischen 0atur war. Im Rahmen dieser symbiotisch-organischen Verbundenheit zwischen Mensch und 0atur entwickelte der Mensch die )ähigkeit, „ähnlich zu werden und sich zu verhalten“ Benjamin c, . Schon das „Programm einer kommenden Philosophie“ war um eine über die bewusste empirische Welt hinausgehende Erfahrung bemüht, die imstande wäre, jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung eine substantiellere Wahrheit als die des Transzendentalismus zu erfassen – unter ,Erfahrung‘ versteht Benjamin nichts weniger als die Totalitat der Welt. Es ist nicht nur die handwerkliche oder lebensweltliche Erfahrung, sondern auch diese ,metaphysische‘ Erfahrung, die betroffen ist, wenn Benjamin von dem ,Verlust der Erfahrung‘ spricht. Er hebt hervor, dass sich in der phylogenetischen Entwicklung ein bedeutungsvoller Wandel vollzogen hat, der Sprache und Schrift in den Vordergrund gestellt und das Vermögen, „unsinnliche Ähnlichc, zu schaffen und aufzudecken zugunsten eines zunehkeiten“ Benjamin mend vernunftgesteuerten, von Sinnlichkeit abstrahierenden Umgangs mit der Welt immer mehr zurückgedrängt hat. Darüber hinaus liegt hier bereits ein Aspekt des Benjamin schen Materialismus vor: Die Ähnlichkeit wird als Eigenschaft der Materie angesehen Vgl. )ittler , – .
I. Die Hypothese des „mimetischen Vermögens“ hängt mit Benjamins Sprachtheorie aufs engste zusammen. Schon von jeher hat man einem mimetischen Vermögen einigen Einfluß auf die Sprache zugebilligt. Jedoch geschah das ohne Grundsatz und ganz ohne daß dabei ernstlich an eine Bedeutung, geschweige denn Geschichte des mimetischen Vermögens wäre gedacht worden. Vor allem aber blieben solche Überlegungen aufs engste an den geläufigen sinnlichen Bereich der Ähnlichkeit gebunden. Immerhin hat man nachahmendem Verhalten in der Sprachentstehung als onomatopoetischem Element seinen Platz zugestanden. Wenn nun aber die Sprache, wie es für Einsichtige auf der Hand liegt, nicht ein verabredetes System von Zeichen ist, so wird man ja in dem Versuch sich ihr zu nähern immer wieder auf Gedanken zurückgreifen müssen, wie sie in ihrer rohesten, primitivsten )orm in der onomatopoetischen Erklärungsart vorliegen Benjamin c, .
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
Genauer besehen gehört die Beziehung, die Benjamin zwischen 0amen und Dingen herstellt, nicht eigentlich in die Sprachphilosophie und hat wenig zu tun mit der Alternative des Konventionalismus und der Onomatopoese, um die es bei der Entstehung der modernen Sprachphilosophie im . Jahrhundert ging. Die Hypothese eines onomatopoetischen Ursprungs der Sprache ist längst widerlegt worden und ist als solche unhaltbar, wenn man darunter – wie Benjamin sagt – eine „sinnliche Ähnlichkeit“ ebd. versteht. Dass Benjamin mit diesen Themen keineswegs naiv umgeht, belegen seine „Reflexionen zu Humboldt“, in denen er gerade „die magische Seite der Sprache“ gegen Humboldt geltend macht Benjamin b, . Entschieden verfolgt er in seinen Texten zur Sprache einen Zweck: die Voraussetzung einer Konvention zwischen den an einem sprachlichen Austausch Beteiligten zu hintergehen, weil sie ja zur „bürgerlichen Auffassung der Sprache“ Benjamin b, gehört. Die Begründung dieses Arguments ist, dass in der „bürgerlichen“, d.h. instrumentellen Auffassung der Sprache die Bedeutung an Zeichen gebunden ist, die ihrerseits von den Intentionen eines Subjekts oder übereinkommender Subjekte abhängen, während „das Wort“ bzw. in einem verstärkten Sinn der Name ein Wesen ausdrückt Benjamin a, . Als er seine Überlegungen über Ähnlichkeit entwarf und sich für Studien wie „Das Wort“ von Rudolf Leonhard – auf den er sich in seiner „Lehre vom Ähnlichen“ ausdrücklich bezieht – oder „Sprachphysiognomik“ von Heinz Werner interessierte vgl. Benjamin b, , war sich Benjamin ihrer Marginalität ganz bewusst. Er unterzieht sie einer harten Kritik, die zum Vorschein bringt, was er darin sucht: bei Leonhard die onomatopoetische Dimension , bei Werner den Gedanken, dass die primitive Sprache vielleicht physiognomisch war und dass sie Spuren hinterlassen hat – allerdings weniger im bezeichnenden Sprachmaterial, dem Signifikanten, als in unserem subjektiven Verhältnis sowohl zu den Wörtern als auch zur Wirklichkeit ebd. . Es ist eben dieses Verhältnis, zu welchem das mimetische Vermögen zurückzufinden verspricht vgl. Benjamin c, f. . Eine Spur davon und ein Mittel, um mit der Bedeutungssprache zu brechen, findet Benjamin in der Verstellung, mit der das spielende Kind paradoxerweise die umgebende Welt zu seiner Welt macht: In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun „Muhme“ nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. […] Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben )uß zu fassen. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe,
ڳVgl. den Brief an Scholem vom .
. .
. Siehe hierzu den kritischen Apparat in Benjamin
,
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Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten Benjamin b, f. .
Darüber hinaus verbindet Benjamin mit seiner Auffassung der „nicht-sinnlichen Ähnlichkeit“ ziemlich abstruse Gedanken, die auf Astrologie, Graphologie, ja Magie gestützt sind und eingestandenermaßen ,metaphysisch‘ sind. In diesem Zusammenhang darf der Bezug auf einen ziemlich marginalen Text von )reud über Telepathie )reud nicht übergangen werden. Was er darin sucht, ist klar: eine Rückbindung an wissenschaftliche )ragestellungen, die überdies einen Aspekt verstärken, der bei Werner zu kurz kommt. )reud, schreibt Benjamin an Gretel Adorno, konstruiert […] einen Zusammenhang zwischen Telepathie und Sprache, indem er die erstere als Mittel der Verständigung – er weist erläuternd auf den Insektenstaat hin, der ohne Verständigung nicht existieren kann – phylogenetisch zur Vorläuferin der zweiten macht. Hier finde ich Gedanken wieder, die entscheidend in einem kleinen Entwurf aus Ibiza – „Über das mimetische Vermögen“ – behandelt sind Benjamin , .
An dieser phylogenetischen Dimension ist Benjamin eigentlich gelegen, und zwar wegen der ihr zugrunde liegenden Anthropologie. Denn das Vermögen, Ähnlichkeiten wahrzunehmen, das im Laufe der Entwicklung von der artikulierten Sprache abgelöst wurde Benjamin c, , ist selbst ein spätes, abgeleitetes Verhalten, das seinen Ursprung im Akt des Sich-ähnlich-machens hat a, . Im )ragment „Wahrnehmung und Leib“ schreibt Benjamin die Wahrnehmung in diese phylogenetische Dimension ein und spitzt seinen Gedanken dahingehend zu, dass die Geschichte der Wahrnehmung nichts anderes als eine Geschichte des Mythos sei vgl. Benjamin c . Das Urmodell dieser Erfahrung sei der „Augenblick der Geburt“ Benjamin c, – ein wichtiger anthropologischer Hinweis, den man mit Überlegungen von Plessner in Verbindung bringen kann, der sich wiederum auf die von Louis Bolk in den Jahren – entworfene Theorie der ontogenetischen Entwicklung bezieht. 0ach Bolk ist die Ontogenese von einer „0eo-tenie“, d.h. der Aufrechterhaltung jugendlicher Eigenschaften bei den Erwachsenen einer Spezies getragen – eine Auffassung, die Benjamin in der Richtung eines phylogenetischen )ortbestehens unvordenklicher Erfahrungsschemata interpretiert. Die einschlägige Stelle aus der „Lehre vom Ähnlichen“ taucht textidentisch in einer Vorstudie zur „Berliner Kindheit“ unter dem Titel „Zur Lampe‘“ wieder auf und bestätigt den engen Zusammenhang zwischen den phylogenetischen Spekulationen und den ontogenetischen Reflexionen über die Kindheit: „Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehn, die wir besitzen, ist ja nichts als ein schwaches Rudiment de[s] ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Und das verschollene Vermögen, ähnlich zu werden, reichte weit hinaus über die schmale Merkwelt, in der wir noch Ähnlichkeit zu sehen im stande sind“ Benjamin b, . Der erste Akt der Anpassung ist
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
die Anpassung an den Kosmos durch Angleichung gewesen. Dann zog sich das mimetische Vermögen des Menschen immer mehr in die Sprache zurück, in welcher es freilich immer subtilere )ormen entwickelte. Dies ist die Auffassung, die auch der Benjaminschen Interpretation von Prousts Metaphorik zugrunde liegt. Es handelt sich um einen metaphorischen Gebrauch, der mehr als ästhetische Mimesis ist, denn Benjamin unterscheidet zwischen dem sekundären Verfahren der 0achahmung in der Kunst Mimesis im engeren Sinn und dem eigentlichen mimetischen Vermögen, bei dem es um tiefer greifende Motive geht. Bei Proust hebt er vor allem zwei Aspekte hervor, die mit seinen Überlegungen übereinstimmen. Zunächst den Gegensatz von „0amen“ und „Wörtern“: Die Wörter führen uns von den Dingen ein kleines, deutliches, landläufiges Bild vor Augen, wie man sie an die Wände eines Schulzimmers hängt, um den Kindern zu zeigen, was eine Hobelbank, ein Vogel, ein Ameisenhaufen ist, und zwar in einer Gestalt, die allen der gleichen Art gleichmäßig nahe kommt. Die Namen aber geben uns von den Personen [...] ein unbestimm-teres Bild, das sich aus ihrem lebhaften oder dumpfen Klang in einer Tönung färbt, in der es dann durchweg gehalten ist wie ein Plakat ganz in Rot oder Blau [...] Proust , f.; Hervorhebungen GR
Die Sprache der 0amen gehört in eine Welt, in der echte Erfahrung noch möglich ist – eine „handgreiflich[e]“ Benjamin h, Welt, wobei bei Proust selbst der Hinweis auf die Reklame von der Hoffnung zeugt, dass – ganz wie bei Benjamin – eine Erneuerung der Erfahrung durch die äußersten )ormen ihrer modernen Revolutionierung hindurch gewonnen werden könnte. Das Kind genießt das Privileg, dieser Welt der verlorenen und wieder zu erlangenden Erfahrung noch ganz anzugehören Benjamin b, , und wenn man mit Recht sagen kann, dass „Berliner Kindheit“ eine Miniatur der „Recherche du temps perdu“ ist, dann weil beiden Werken dieselbe Erfahrung zugrundeliegt: „[E]s kam mir vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen )ranz dem Ersten und Karl V.“, sagt Proust zu Beginn der „Recherche“ Proust , . Kurzum: Die Theorie des Ähnlichen, die man öfters sehr zu Unrecht in einer mystischen oder religiösen theologischen Richtung interpretiert, erweist sich vielmehr vor dem Hintergrund der theoretischen Referenzen, die Benjamin mobilisiert, als ein gegenteiliges Unternehmen. Sie ist ,metaphysisch‘, aber nur in dem Sinn, den Benjamin in seinem Text über eine „kommende Philosophie“ oder noch eindeutiger in dem
ڴBenjamin bekräftigt diese Verwandtschaft selber, wenn er in seinem Essay „Zum Bilde Prousts“ eine der Erzählungen aus der „Berliner Kindheit“ erwähnt. Es handelt sich ausgerechnet um „Schränke“ Benjamin b, , jene Erzählung, in der es in den eingerollten Strümpfen ebenso wenig ein „Mitgebrachtes“ gibt, wie es in der „Recherche“ um die Suche nach einem bestimmten Gegenstand geht.
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Abschnitt über „Erfahrung und Erkenntnis“ des )ragments „Über die Wahrnehmung“ vindiziert, nämlich dass sie „transzendental[...]“ Benjamin d, sei, aber in einem weniger restriktiven Sinn als der herrschende 0eokantianismus es war. Echte Erkenntnis bestehe in der Wahrnehmung einer Ähnlichkeit oder Verwandtschaft, jedenfalls in einer )orm von Angemessenheit, die nicht auf den Begriff oder die Bedeutung reduziert werden kann. )ür diese unverkürzte Erfahrung ist der Gedanke Bild und 0ame – alles andere als nur das Verhältnis zwischen einem Bedeutenden und einem Bedeuteten signifiant und signifié . Wenn man also von den mystischen Spekulationen absieht, zu welchen Benjamins Sprachphilosophie Anlass gegeben hat, dann macht seine Theorie der Ursprache, des Primats der 0amen und des mimetischen Vermögens vor allem darauf aufmerksam, dass Erfahrung und Sprache nicht zu trennen sind und die Sprache deswegen nicht auf ein System von Zeichen zu instrumentellen Zwecken reduziert werden könne, weil sie gerade eine konstitutive Struktur der Erfahrung sei. Was nun Benjamins Ansatz von einer transzendentalen Auffassung dieser konstitutiven Vorstruktur grundsätzlich unterscheidet, ist gerade die Insistenz auf die Materialität des 0amens. Im Gegensatz zu jeglicher Theologie kann man in Benjamins Philosophie des 0amens einen Grundpfeiler seines Materialismus sehen. Damit knüpft er sogar an Marxsche Denkmomente an, die Adorno – vielleicht im Anschluss an ihn – ebenfalls wiederaufgreifen wird hierzu Raulet . In einer Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno am . Oktober über „das Benennen als Urfunktion der Sprache“ geht es um den 0ominalismus als mögliche Alternative zur Subsumtion. Die Infragestellung der Kopula ist dabei eng verbunden mit der )orderung eines erneuerten Materialismus; denn eine dialektische und materialistische Kritik muss von dem Problem des Verhältnisses zwischen Begriff und Realität, Wort und Ding ausgehen. In diesem Sinn bedeutete für Marx in „Die Heilige )amilie“ der 0ominalismus einen „ersten Ausdruck des Materialismus“ Marx/Engels , . Daran knüpft die Diskussion über Sprache und Erkenntnis im Hintergrund der „Dialektik der Aufklärung“ an. Sie fordert zugleich die aufrichtige Einsicht in den begrifflichen 0ominalismus und spricht den Begriffen jede ontologische Verbindlichkeit ab und einen ontologischen 0ominalismus, der an dessen Stelle den Vorrang des real Einzelnen behauptet.
II. Benjamins Annahme eines „mimetischen Vermögens“ legt eine Verwandtschaft mit einer der beiden Gründerfiguren der französischen Soziologie nahe: Gabriel Tarde. In Benjamins Schriften und Briefen findet sich zwar kein Eintrag, der eine Vertrautheit mit Tardes Denken belegen würde. )est steht dennoch, dass beide Denker auf der
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
Seite eines Denkansatzes stehen, der zum strengen Rationalismus von Émile Durkheim einerseits und zum Pragmatismus andererseits quer steht. Tarde entwickelt ein spezifisches Konzept der Mimesis in Analogie zur hypnotischen Suggestion. Ihm zufolge ist 0achahmung bzw. Mimesis als „)ernwirkung eines Geistes auf einen anderen“ zu verstehen bzw. als „quasi photographische Reproduktion eines zerebralen 0egativs durch die photographische Platte eines anderen Gehirns“ Leys , ; vgl. Tarde , . Auch Tarde bezieht die Mimesisfähigkeit auf ein unvordenkliches phylogenetisches Erbe. Die Gesellschaft ist „eine Gruppe von Wesen, die sich gegenseitig momentan nachahmen oder einander ähnlich sind, ohne sich gegenwärtig nachzuahmen, deren gemeinsame Merkmale aber früheren 0achahmungen desselben Vorbilds entstammen“ Tarde , . Diese vorsoziale Dimension ist für Tarde der Ausgangspunkt für alle Überzeugungen und Wünsche, so dass der soziale Prozess der Imitation seinen Ursprung im 0atürlichen zu nehmen scheint ebd., . Inwiefern lässt sich nun aus solchen Überlegungen ein anthropologisch begründetes politisches Konzept ableiten? Aufgrund seiner Spekulationen über das mimetische Vermögen hat Benjamin für die „Gottesanbeterin“ Mante religieuse von Roger Caillois, die Adorno ausgesprochen negativ rezipiert hat, großes Interesse bekundet und zur Entwicklung der führenden Köpfe des Collège de sociologie, u.a. Georges Bataille, der die Gruppe Acéphale gründete, Stellung genommen. sind sich Adorno und Benjamin in ihrem negativen Urteil einig. An Horkheimer schreibt Benjamin: Der Titelaufsatz von Caillois bestätigt, in wie hohem Maße die Vorbehalte, mit denen Wiesengrund die „Mante religieuse“ versieht, berechtigt sind. Diese dialectique de servitude volontaire beleuchtet, unheimlich, verschlungene Gedankengänge, in denen ein Rastignac herumlungert, der nicht mit dem Hause 0ucingen sondern mit der Clique Göbbels zu rechnen hat. [...] Wenn Caillois sagt „on travaille à la libération des êtres qu on désire asservir et qu on souhaite ne voir obéissants qu envers soi“, so hat er ganz einfach die fascistische Praxis gekennzeichnet. – Es ist traurig, einen schlammigen breiten Strom aus hochgelegenen Quellen gespeist zu sehen. [...] Benjamin a, f. .
Diese unerbittliche Abrechnung kann durchaus in eigener Sache als Widerruf der Strategie des „destruktiven Charakters“, nämlich des positiven Barbarentums, interpretiert werden. Was in )rage gestellt wird, ist der Gedanke, dass der beim modernen Menschen verdrängte mimetische Trieb paradoxerweise ein Mittel sein kann, um die totalitäre Uniformierung zu subvertieren. Caillois hat seine Strategie mit folgenden Worten gerechtfertigt: „Da ich nicht über die Kraft verfügte, musste ich zum Prestige greifen, und das heißt auf die Mimikry wetten“ Caillois , ; Übersetzung GR . In einem weiteren Brief an Jean Paulhan wird er von einer „mystischen Strategie“ sprechen und unzweideutig sagen, dass sie „weder auf Gleichgewicht noch auf 0agen, sondern auf Überbietung“ zielt ebd., ; Übersetzung GR . Bataille scheint für eine sehr ähnliche Strategie optiert zu haben, wenn er erklärt, dass es darum geht, durch ein Bekenntnis zur „Opferlogik“ logique sacrificielle die Wärme eines intimen
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Kontakts mit den Dingen wieder zu erlangen und gegen die Kälte des instrumentellen wissenschaftlichen Verstands geltend zu machen. Was nun aus dieser Wärme wurde, hat Benjamin in seinem sogenannten „Literaturbrief“ an Max Horkheimer vom . Januar an den hellen Tag gelegt: Caillois tummelt sich weiter in Zweideutigkeiten. Sein Beitrag „Le vent d hiver“ feiert den „scharfen Wind“, unter dessen )rosthauch alles Schwächliche eingehen muß und in dem die Tauglichen an den nicht von Scham geröteten Wangen einander erkennend sich zu einer Herrenkaste zusammenschließen Benjamin b, .
Selbst wenn sie übereinzustimmen scheinen, sind nun die theoretischen Motive, die hinter Benjamins und Adornos negativen Urteilen stehen, sehr verschieden. Was Adorno von vornherein nicht anzunehmen bereit ist, ist der – in seinen Augen – biologische 0aturalismus der These von Caillois, dass das mimetische Vermögen des Menschen und somit auch seine Einbildungskraft die direkte )olge des tierischen Verhaltens des Insekts sei Caillois , . In der Reduktion der Soziologie auf die Biologie und in der Tendenz, menschliche Verhaltensformen oder gar Vorstellungen auf die Geschichte der Gattung und auf primitive biologische Erfahrungen zurückzuführen, sieht er nur einen vulgären und überholten Materialismus, der nur in neuem Gewand auftritt Adorno b, – . Würde man ihm zustimmen, dann würde der Unterschied zwischen Tier und Mensch nur mehr darin bestehen, „dass jene biologischen Gesetze, denen der Mensch entronnen‘ ist, nicht mehr sein Handeln, sondern bloß noch seine Vorstellungswelt beherrschen“ Adorno , . Der tiefere Grund von Adornos Urteil über Caillois knüpft nun an Vorbehalte an, die er gegen Benjamins mimetische Spekulationen immer schon gehegt hat. Um dem mimetischen Moment Rechnung zu tragen, benutzt Adorno einen Benjaminschen Begriff: den des „Ausdrucks“. Darunter wird er später in der „0egativen Dialektik“ ein „unbegrifflich-mimetisches Ausdrucksmoment“ Adorno , verstehen, das freilich auf die sprachliche Darstellung nicht verzichten kann, will es nicht zur magischen Verwechslung von Sprache und Wirklichkeit regredieren. Adorno spricht sich also für eine positive Aneignung des Ausdrucksmoments aus, lässt dieses aber nur als Moment gelten. Von seiner unermüdlich geäußerten )orderung nach Vermittlung geht er nicht ab. Schon lehnte er in seinem berühmten Brief an Benjamin über dessen Darstellungsform im „Passagen-Exposé“ den falschen Materialismus ab, den Benjamins Idee einer unmittelbaren Benennung der Dinge in seinen Augen darstellte. Dadurch werde nach ihm die Verdinglichung nur als mythischer Zustand bestätigt: Das theologische Motiv, die Dinge beim 0amen zu nennen, schlägt tendenziell um in die staunende Darstellung der bloßen )aktizität. Wollte man sehr drastisch reden, so könnte man sagen, die Arbeit sei am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt Adorno c, .
Dass im mimetischen Verhalten Gefahr und Rettung unlöslich verbunden sind, hat Benjamin nie geleugnet. Gerade das Kind mache in seinen mimetischen Spielen die
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
Erfahrung dieser Doppelgesichtigkeit, wie Benjamin es im Stück „Verstecke“ aus der „Berliner Kindheit“ Benjamin b, f. oder, fast textidentisch, in dem Abschnitt „Verstecktes Kind“ aus der „Einbahnstraße“ dargestellt hat. [H]inter einer Türe ist es [das Kind] selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten. Um keinen Preis darf es gefunden werden. Wenn es Gesichter schneidet, sagt man ihm, braucht nur die Uhr zu schlagen und es muß so bleiben. Was Wahres daran ist, das weiß es im Versteck. Wer es entdeckt, kann es als Götzen unterm Tisch erstarren machen, für immer als Gespenst in die Gardine es verweben, auf Lebenszeit es in die schwere Tür bannen. Es läßt darum mit einem lauten Schrei den Dämon, der es so verwandelte, damit man es nicht findet, ausfahren, wenn es der Suchende faßt Benjamin a, f. .
Was da erlebt wird, grenzt an Grauen und weist dessen Merkmale auf. Es knüpft an ein unvordenkliches Erbe an – die Sprachlosigkeit bezeichnet Benjamin als ein „Urerlebnis“ Benjamin h, . Die Geistesverfassung des Kindes ist mit jenen Zuständen tiefster Versunkenheit vergleichbar, von denen Benjamin in seinen )ragmenten „Über das Grauen“ spricht, und wie jene kennzeichnen sie sich durch die Gleichzeitigkeit von Gefahr und Rettung: „Diese Art der Versunkenheit also ist, weit entfernt Grauen zu begünstigen, der sicherste Schutz gegen dieses“ Benjamin f, . Im folgenden Abschnitt möchte ich nach den anthropologischen Prämissen der politischen Auffassungen Benjamins fragen, die es unter Umständen möglich machen, im Anschluss an sie von einer alternativen, anthropologisch begründeten kritischen Theorie zu sprechen.
III. [Verdinglichung] Auf das Stück über „Die Mummerehlen“ folgt in der „Berliner Kindheit“ der fürchterliche Satz, wonach in einer Umgebung, in der die Verdinglichung herrscht in diesem )all ein wilhelminisches Interieur , die Welt der Dinge die Subjektivität zu verschlingen droht: „Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres.“ Benjamin b, Inwiefern nun, ganz im Sinn der „Gottesanbeterin“ von Caillois, das mimetische Vermögen eine angemessene Antwort auf die Verdinglichung sein kann, ist die )rage, an der Benjamin die Kohärenz zwischen seiner Philosophie und den Herausforderungen der Gegenwart zu bemessen hatte. Zwar ist Benjamin an dem pragmatischen )unktionieren der 0achahmung und folglich an den Gesetzen der Imitation, die bei Tarde im Mittelpunkt stehen, wenig interessiert. )estzuhalten ist aber die Verwandtschaft zwischen ihren Ansätzen, die darin besteht, dass bei Tarde wie bei Benjamin im Zuge der Anähnlichung bzw. Angleichung eine Aufhebung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt stattfindet. Es
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ist diese Interpretationslinie, die ich weiter verfolgen möchte. So wie ich in der Auffassung von Tarde eine Alternative zum Durkheim schen Rationalismus sehe, will ich versuchen, den Benjamin schen „Spekulationen“ soziologische Relevanz zu verleihen, um ihre Brauchbarkeit für eine Kritik der Verdinglichung gegen den vorherrschenden Trend der neueren Kritischen Theorie geltend zu machen. Um dieses Argument zu begründen, muss man etwas tiefer ansetzen. Grundsätzlich trennen sich Benjamins und Adornos Auffassungen an der Antwort, die sie auf die )rage der transzendentalen Affinität geben. Adorno schließt sich dem Ansatz an, der den Tenor der Kritischen Theorie von bildet: Man solle das „Rätsel“ der transzendentalen Affinität durch ihre Einschreibung in ihren jeweiligen historischen Vollzugsakt auflösen. Diesem Konzept zufolge kommt es darauf an, ob das „mimetische Moment“, das in der Wahlverwandtschaft des Erkennenden und des Erkannten am Werk ist Adorno , , echt oder unecht ist: Ob also die Verdinglichung „nur“ ein Unfall oder ein Irrweg der Geschichte beim Umgang des Subjekts mit der dinglichen Welt ist – ein Irrweg, für welchen der Kapitalismus die Verantwortung trägt –, oder ob dabei das erkenntnistheoretische Modell in )rage steht, das eben davon ausgeht, dass es immer das Subjekt ist, das den Ton angibt. Benjamins Verständnis der Mimesis reduziert diese hingegen nicht auf die Alternative zwischen der falschen und der nicht-entfremdeten Mimesis. Die Mimesis ist für ihn vielmehr gerade die verdrängte unmittelbare Mimesis, die der Vermittlung durch den Geist und durch die sekundären psychischen Prozesse nicht bedarf. Den Kantschen Dualismus von Subjekt und Objekt überwindet er auf eine Weise, die nicht in einer Aufhebung besteht, obwohl er in seinem Anthropologie-Diagramm von „Aufhebung“ spricht, sondern in einer unmittelbaren Deckung. Insofern visiert Adorno völlig richtig, wenn er ihm einen Mangel an dialektischer Vermittlung vorwirft und wenn er in ihrem Briefwechsel die leiblich-psychische Unmittelbarkeit als falsch denunziert Adorno a, ; dazu Müller . Benjamin hingegen löst in der Tat das Rätsel der „transzendentalen Affinität“ dadurch auf, dass er diese in den Leib verlegt. Parallel zum Paradigma der Sprache erweist sich der Leib als eigentlicher Sitz der höheren, substantielleren Erkenntnis, um welche es in den frühen erkenntnistheoretischen Texten geht. Durch seine Beschreibung der menschlichen mimetischen Anpassung an die 0atur als „Antwort“ oder „Erwiderung“ Benjamin b, wird bei Benjamin deutlich, dass er schon das körperlich-stumme 0achahmen als kommunikativen Akt wertet vgl. )ittler , .
ڵDies sind )ragen, die erst durch die „Dialektik der Aufklärung“ zum Ausdruck gebracht wurden und die nicht nur epistemologische, sondern auch geschichtsphilosophische Alternativen implizieren. ڶBzw. komplementär, wenn man an das Anthropologie-Schema denkt, das Benjamin um entwarf vgl. Benjamin e, . Hierzu Johannßen , .
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
Eine Philosophie des Leibs verlängert und materialisiert die Philosophie der Sprache, und sie öffnet sie zugleich auf die Politik. Die Anwendung dessen findet man in der „Einbahnstraße“. Dort beschreibt Benjamin die Situation, worin die Welt der Ware sich des Subjekts bemächtigt, folgendermaßen: „Die Dinge sind indessen viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt“ Benjamin a, . Das Pendant dazu – möglicherweise als Hingabe an die Verdinglichung und als Schutz vor ihr – sind die Zustände der Versunkenheit, in denen die Grenzen des Körpers verschwimmen. Im mimetischen Verhalten tritt das intentional handelnde Subjekt hinter seinen Leib zurück. In dieselbe Richtung scheint mir die lange Anmerkung zu gehen, die in einer )assung des Kunstwerkaufsatzes die mimetische Erfahrung auf die politische Sphäre hin öffnet: Der 0achmachende macht, was er macht, nur scheinbar. Und zwar kennt das älteste 0achmachen nur eine einzige Materie, in der es bildet: das ist der Leib des 0achmachenden selber. Tanz und Sprache, Körper- und Lippengestus sind die frühesten Manifestationen der Mimesis. – Der 0achmachende macht seine Sache scheinbar. Man kann auch sagen: er spielt die Sache. Und damit stößt man auf die Polarität, die in der Mimesis waltet. In der Mimesis schlummern, eng ineinandergefaltet wie Keimblätter, beide Seiten der Kunst: Schein und Spiel Benjamin a, .
Die politische Pointe besteht hier in der Absage an die idealistische Strategie der klassischen und romantischen Ästhetik und insbesondere an ihre politische Übersetzung Schiller . Ernst ist das Spiel nicht mittels und im Medium des schönen Scheins, sondern weil es eben zur Aufhebung des Scheins tendiert: Das Kind, das Mühle oder Lokomotive spielt, ist die Mühle, oder die Lokomotive. Es ist ernst, weil es den Leib des 0achahmenden ins Spiel setzt. Die )ortsetzer der Kritischen Theorie gehen nun von Prämissen aus, die ihnen solche Dimensionen versperren. Sie orientieren sich vornehmlich an amerikanischen Autoren – in erster Linie an Mead –, die von Tarde zwar Kenntnis genommen, aber die „Doktrin der Suggestion“ und damit gerade den Kern der Theorie von Tarde verworfen haben. )ür Mead steht fest, dass „gesellschaftliches Bewusstsein […] die Voraussetzung für 0achahmung“ ist Mead , ; Übersetzung GR , nicht umgekehrt. Mead stellt eine Linie des soziologischen Denkens dar, die jeglichen Anschluss an grundlegende )ragen der Anthropologie abwehrt. Die raffinierten Differenzierungen zwischen „anerkennungssensitiven“ )ormen des Erkennens und „Anerkennungsvergessenheit“ Honneth , f. , die Axel Honneth vornimmt, gehen an der gesamten Mimesisproblematik gänzlich vorbei, was nicht weiter schlimm wäre, wenn sich dies nicht auf den Umgang mit der Verdinglichung auswirkte. Bei Honneth sind Verdinglichung und Anerkennung diametral entgegengesetzte Weisen des Verhältnisses zwischen Objekt und Subjekt, so dass die von Benjamin und Adorno eingeführte Möglichkeit eines Denkens über die Dinge und durch die Dinge hindurch nicht einmal in der Adornoschen Weise zum Zuge zu
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kommen vermag. Wo er sich auf Adorno bezieht, deutet Honneth ihn in Richtung des Anerkennungskonzepts, als „Vergessen vorgängiger Anerkennung“: Vor allem aber Theodor W. Adorno hat immer wieder betont, daß die Angemessenheit und Qualität unseres begrifflichen Denkens davon abhängig ist, in welchem Maße es sich seiner ursprünglichen Bindung an ein Triebobjekt, also an geliebte Personen oder Dinge, bewußt zu bleiben vermag; für ihn war mit einer solchen Erinnerung an die vorgängig geleistete Anerkennung sogar die Gewähr verknüpft, daß die Erkenntnis ihren Gegenstand nicht zurichtet, sondern in allen Aspekten seiner konkreten Besonderheit erfaßt Honneth , .
Das führt zu einem verkürzten Begriff von Praxis, der selbst von jenem bewusstseinsphilosophischen Paradigma abhängig bleibt, das Honneth bei Habermas kritisiert ebd., : Entweder ist sich diese Praxis ihrer Entstehungsbedingungen bewusst, oder sie verfällt dem instrumentellen Handeln, der „Verselbständigung eines Zwecks gegenüber seinem Entstehungskontext“ ebd., f. . Dieses Entweder-oder taucht in Honneths Text charakteristischer Weise mehrmals wörtlich auf: „[E]s müsste sich dabei, soviel ist klar, entweder um institutionalisierte Praktiken handeln, die zu einer Verselbständigung des Zwecks der Beobachtung anhalten, oder um sozial wirksame Denkschemata, die eine Verleugnung der vorgängigen Anerkennung erzwingen“ ebd., . Eine mit Benjamins Ansatz verwandte Auffassung, d.h. die Bemühung um einen nicht bewusstseinsphilosophisch verkürzten Begriff der Dialektik, stellt Ernst Blochs Gedanke einer „objektiv-realen“ Möglichkeit dar, d.h. einer Möglichkeit, die von einer hermeneutischen Erschließung der Potentialitäten der 0atur, der Materie und der verfestigten d.i. verdinglichten Sachverhalte gleichermaßen ausgeht. Das Ausbleiben einer solchen Hermeneutik entspricht dem, was Honneth als „Leugnung“ oder „Abwehr“ beschreibt ebd., . Dass Honneth sich des Problems bewusst ist, zeigt im vierten Kapitel von „Verdinglichung“ sein Zugeständnis, er habe „bislang vorsichtig vor sich [die )rage] hergeschoben [...], ob wir aus den bislang entwickelten Argumenten für einen Primat der Anerkennung auch Rückschlüsse auf das Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt und zu sich selbst ziehen können“ ebd., . Sowohl Tomasello und Hobson als auch Stanley Cavell sprechen von einem Primat der Identifikation oder Anerkennung nur in bezug auf andere Menschen nicht aber in bezug auf nichtmenschliche Lebewesen, Pflanzen oder gar Dinge. 0un verlangt aber der Begriff der „Verdinglichung“, den ich hier im Anschluß an Lukács wiederzubeleben versuche, daß wir mit der Möglichkeit einer verdinglichenden Wahrnehmung nicht nur der sozialen Welt, sondern auch der physischen Umwelt rechnen ebd., f .
Was Honneth an dieser Stelle Lukács in den Mund legt, scheint genau der Richtung zu entsprechen, in der Bloch gerade Lukács weiterentwickelt hat, nämlich dass „wir auch der 0atur gegenüber zunächst stets eine Haltung der Anteilnahme einnehmen müssen“ ebd., . 0icht Bloch aber, sondern eher Dewey und Heidegger zieht Hon-
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
neth heran, um der These eine Absage zu erteilen, „dass die instrumentelle Behandlung der 0atur gegen eine notwendige Voraussetzung unserer sozialen Praktiken verstößt“ ebd. . Kennzeichnender Weise wird auch in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Adorno sich die „Idee einer ursprünglichen 0achahmung“ zu eigen gemacht habe. Allerdings bietet diese Aneignung eine Ausflucht, die Honneth sofort nutzt, indem er den übrigens entscheidenden psychoanalytischen Gedanken in den Vordergrund stellt, dass beim Kind „die 0achahmung des konkreten Anderen […] sich aus libidinösen Energien speist“ ebd., , die lediglich auf das Objekt übertragen werden. Letztlich also behält bei Honneth das interpersonelle Paradigma die Oberhand. Auch die „Selbstverdinglichung“ wird dem Subjekt angelastet: Sie sei „wohl am besten […] mit dem Begriff der Anerkennungsvergessenheit‘“ zu beschreiben ebd., . Auf „Spekulationen über einen interaktiven Umgang mit der 0atur“ ebd. will sich Honneth nicht einlassen. Wenn er überhaupt die Rede von einer „Verdinglichung der 0atur“ gelten lässt, dann nur in dem Sinn, dass das Subjekt „all die zusätzlichen Bedeutungsaspekte“ aus dem Blick verliert, „die [den Gegenständen] aus der Perspektive anderer Menschen zukommen“ ebd., . In keinerlei Weise stehe aber das Verständnis sozialer Praxis in )rage, wenn wir der 0atur gegenüber eine ausschließlich objektivierende Stellung einnehmen. Honneth hält an allen Gegen-sätzen der Bewusstseins- und Identitätsphilosophie demonstrativ fest: Subjekt vs. Objekt, 0atur vs. Kultur etc. Mit den 0erven seiner Leser spielt Honneth, wenn er es dann erst im sechsten Kapitel, und wiederum in )orm eines rhetorischen Zugeständnisses, mit dem „Herzstück der Analyse von Georg Lukács“ ebd., aufnimmt. Allem Anschein nach hält er die Rede davon, dass die Menschen „ihre sozialen Interaktionen primär in )orm des ökonomischen Austausches von Waren […] vollziehen“ ebd. , für eine alte Mär. Von einer bestürzenden 0aivität – oder soll man schlicht von Zynismus sprechen? – ist die Ausrede, dass es schwerfällt, gegen Lukács „kompakte These [...] nur einen einzigen Einwand vorzubringen [...] da doch im ökonomischen Austausch der Interaktionspartner normalerweise zumindest als rechtliche Person gegenwärtig bleibt“ ebd. . Glaubt Honneth wirklich an dieses andere Märchen vom wohlwollend eingestellten Kapitalismus, der in friedlichen Interaktionen zwischen gleichberechtigten Partnern gerechte Verträge abschließt? Die Behauptung, dass auch dem Unterlegenen und Abhängigen die „Einbindung in den Tauschvertrag […] eine zwar nur minimale, aber dafür doch erzwingbare Berücksichtigung seiner persönlichen Eigenschaften“ garantiert ebd., , erscheint angesichts der „wachsenden Aushöhlung der rechtlichen Substanz des Arbeitsvertrags“ ebd. – eine Tendenz, die Honneth
ڷDasselbe Misstrauen prägt seine Rezension von Merleau-Pontys Spätphilosophie, insbesondere von Das Sichtbare und das Unsichtbare, wo Merleau-Ponty vom Leib zum „)leisch der Welt“ übergeht. Siehe Honneth , – .
Gérard Raulet
nicht leugnet, aber auch nicht erklärt – als ein schöner Traum. Dass es )ormen von „Verdinglichung“ gibt, die nicht, oder nicht nur direkt aus der kapitalistischen Organisation der Ökonomie resultieren, kann durchaus angenommen werden. Sie zum Vorwand zu nehmen, um die tiefgreifende Determinierung durch die kapitalistischen Verhältnisse zu leugnen, gehorcht aber genau derselben totalisierenden Tendenz, die Lukács vorgeworfen wird. Die Kritik an Lukács, die den Leitfaden des Essays bildet, mag als ein Rückzugsgefecht erscheinen. Ihre Zielsetzung ist nichtsdestoweniger eindeutig: Es geht darum, die „Behauptung einer Durchkapitalisierung‘ der Gesamtgesellschaft“ zu bezweifeln und die „Kolonialisierung durch Prinzipien des kapitalistischen Marktes“ in )rage zu stellen ebd., . Völlig anders verhält es sich bei Adorno, für den die Verfallenheit ans Objekt die )olge der Verdinglichung ist und deshalb von der „zweiten Reflexion“ die Anerkennung des Vorrangs des Objekts erfordert vgl. Raulet . 0ach einer berühmt gewordenen )ormel Adornos kann sich das Subjekt nur durch die Wiederholung seiner Unfreiheit wieder in den Sattel schwingen. Wenn die Identität von der Verdinglichung bestimmt wird, dann ist das Objekt das, was von dem in ihm aufgehenden Subjekt nicht mehr reflektiert werden kann. In demselben Maße, wie im Kontext der zum geschlossenen System tendierenden „totalen Verwaltung“ die Philosophie Achtung vor dem System haben soll Adorno , , muss das Subjekt angesichts der tendenziellen Verdinglichung dem Objekt den Vorrang geben. 0ur so ließe sich noch das nicht mehr Denkbare bedenken. Die „Ästhetische Theorie“ greift diesen Gedanken wieder auf und verleiht ihm eine noch größere Schlagkraft: „[n]ur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften Unwesens“ Adorno a, . Das heißt Böses mit Bösem heilen. 0icht erst in Bezug auf Caillois, sondern schon bei der Lektüre der „Einbahnstraße“ hatte Adorno vor den Gefahren der positiven Barbarei gewarnt und Benjamins destruktiven Charakter als „Verfallenheit ans Objekt bis zur buchstäblichen Auslöschung des Ich“ Adorno b, bezeichnet. 0immt man nämlich den Gedanken ernst, dass das Urteil in der Sache selbst verwirklicht ist, also mit der Verdinglichung des Subjekts identisch sein kann, dann erscheint die Möglichkeit des 0euen als sehr fragwürdig. Damit die Mimesis nicht unergiebig sei, muss es im mimetischen Moment selbst einen gewissen Spielraum geben. Um das Erringen dieses Spielraums ist Adornos negative Dialektik bemüht, und zwar nicht trotz, sondern gerade kraft des )esthaltens an der Vermittlung. 0ichtsdestoweniger fordert er, beim Objekt selbst, genauer: bei der „Dinglichkeit des Dinges“ bzw. der Dinge anzusetzen und eine „Rückwendung der Philosophie auf konkrete Gegenstände“ zu vollziehen Adorno , . Wie er in seiner Rezension der „Gottesanbeterin“ einräumt, enthält in seinen Augen Caillois Denkstrategie bei aller Gefahr eine „progressive Seite“ Adorno , , weil sie das ganze psychologische Verhalten gerade nicht „auf das Bewusstseinsleben des autonomen Individuums, sondern auch auf reale somatische Tatbestände“ ebd. zurückführe und weil ihre Aufwertung der 0atur gegenüber der Kultur überhaupt und insbesondere gegenüber der herrschenden Gesellschaft gar „einen
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
echt materialistischen Aspekt“ ebd. biete, der freilich noch „der mythisierenden Denkweise“ ebd. von Caillois abzugewinnen wäre. Dieser Schlusssatz der Rezension ist mehr als eine höfliche Geste: Er legt eine Verwandtschaft mit dem Adornoschen Motiv der „Mimesis ans Tote“ Horkheimer/Adorno , nahe bzw. nimmt dieses Motiv vorweg, das übrigens sehr wahrscheinlich von Benjamin stammt, wie eine Stelle aus dem „Paris des Second Empire“ belegt. Die Mimesis ans Tote erscheint geradezu als die materialistische Rückzugsposition einer Philosophie, die alle Hoffnung aufgegeben hat, sich jenseits oder außerhalb der Verdinglichung situieren zu können. Es verhält sich mit ihr wie mit dem 0amen in den ebenfalls von Benjamin stark beeinflussten Überlegungen der „Dialektik der Aufklärung“. In dieser fungiert der 0ame gleichsam als ein Riegel, der dem Identitätsurteil vorgeschoben wird, genauso wie die Mimesis jegliche Äquivalenz zwischen ungleichen Dingen Lügen straft. Die vorbereitenden Gespräche zwischen Adorno und Horkheimer enthalten umfangreiche Unterhaltungen über diese )rage. Die Mimesis und der 0ame spielen die Unmittelbarkeit gegen die Vermittlung aus, sie ergreifen Partei für den Vorrang des Objekts, um die Logik des Tauschs zu konterkarieren hierzu Raulet . Ohne einem naiven Realismus zu verfallen, erkennen Horkheimer und Adorno eine substanzielle Existenz der 0atur an, deren Schändung Teil der Herrschaftsproblematik ist und in den blinden Rückschlag einer naturwüchsigen Reaktion auf die totale Herrschaft über die 0atur umschlagen kann. Im fünften Abschnitt der „Elemente des Antisemitismus“ sind diesbezüglich geradezu nostalgische Töne zu vernehmen, oder zumindest das Bedauern, dass die „unbeherrschte Mimesis“ nie zugelassen wurde: Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte Mimesis wird verfemt Horkheimer/Adorno , .
Gerade indem sie die Mimesis unterdrückt, oder indem sie diese systematisch dem Identitätsurteil und damit dem Reflexionsverfahren unterwirft, verwandelt sich die Rationalität in eine „Mimesis des Toten“ und sie erzeugt dadurch Verhaltensweisen, die Horkheimer und Adorno – ersterer in seiner „Theorie des Verbrechers“ – auf )reuds Todestrieb zurückführen, unter ausdrücklicher Berufung auf Caillois. In den Diskussionen von Oktober über Sprache und Erkenntnis und insbesondere über „das Benennen als Urfunktion der Sprache“ Adorno/Horkheimer , in denen sich die 0ähe zu Benjamin nicht übersehen lässt, ist von dem 0ominalismus als Alternative zur Subsumtion die Rede. „Was heißt es dann überhaupt“,
ڸVgl. Benjamin , : „Hugo ist das Erstarrungsvermögen fremd, das – wenn ein biologischer Begriff statthaft ist – als eine Art Mimesis des Todes sich hundertfach in Baudelaires Dichtung kundtut.“
Gérard Raulet
fragt Adorno, „von Ontologie und von einem metaphysischen Begriff des Seins zu sprechen, wenn das Sein nichts anderes ist als die )unktion der Identität? Wieso kann man dem Begriff des Seins eine Substantialität zuschreiben?“ Adorno/Horkheimer/Löwenthal , . )ür Horkheimer und Adorno ergibt sich die Option für den Materialismus aus der schlichten Einsicht, dass „die Vorstellung eines Dinges nicht das Ding selbst ist“ Marx/Engels , . Daraus folgt nun auch, wie für Marx und für Benjamin, dass im Gegensatz zur idealistischen Philosophie der 0ominalismus „der erste Ausdruck des Materialismus“ ist Marx/Engels , . Adorno geht mithin sehr weit in Benjamins Richtung. Allerdings wird er immer an der 0otwendigkeit der Dialektisierung festhalten. Ist die Mimesis in diesem Zusammenhang der Schlüssel einer Veränderung des Verhältnisses zur Wirklichkeit, so muss sie selbst transformiert werden. Wie die „Dialektik der Aufklärung“ darlegt, ist sie nämlich eine „ortsgebundene Praktik“ Horkheimer/Adorno , , die nur „spezifische Vertretbarkeit“ ebd., ermöglicht. Darin liegt ihre erste, unmittelbare Grenze, hinter der sich aber ein anderes Verhängnis verbirgt: Obwohl der Medizinmann, im Gegensatz zum zivilisierten Menschen, noch nicht die ganze Welt als Jagdrevier betrachtet, impliziert auch die spezifische Vertretung, wie jede Vertretung, die Idee einer Äquivalenz, ja sogar schon einer schicksalhaften Wiederholbarkeit und dadurch die Verallgemeinerung der Vertretbarkeit und des Äquivalententauschs. „Je weiter aber die magische Illusion entschwindet, um so unerbittlicher hält Wiederholung unter dem Titel Gesetzlichkeit den Menschen in jenem Kreislauf fest, durch dessen Vergegenständlichung im 0aturgesetz er sich als freies Subjekt gesichert wähnt“ ebd., . Deshalb muss nach Adorno zwar zuallererst der unreflektierten Äquivalenz durch den Vorrang des Objekts und das mimetische Moment Einhalt geboten, aber in einem zweiten Schritt letzteres dialektisch aufgeholt werden. Die Absicht dieses Textes ist weit davon entfernt, sich vorbehaltlos dem „positiven Barbarentum“ Benjamins anzuschließen. Sie besteht lediglich darin, an Rückhaltbestände der Kritik zu erinnern, die nichts anderes als ihre materielle Basis ausmachen. In der extremen, zum Teil provokatorischen )orm, in der Benjamin sie entwickelt hat, halten sie kennzeichnender Weise zwei Extreme zusammen: den Mythos und die Warenwelt. Beiden sowie ihren Verhältnissen zueinander versucht eine gewagte Theoriekonstruktion gerecht zu werden, die in einer weit gespannten philosophischen Anthropologie phylogenetische und soziologische Reflexionen miteinander verbindet und einen Mangel der heutigen Kritischen Theorie ans Licht bringt: ihr Vergessen der materiellen Produktionswelt, in der nicht nur Verdinglichungs- und nicht nur Entfremdungs- Prozesse stattfinden, sondern in der sich auch tiefer verankerte phylogenetische Entwicklungsprozesse abspielen, um die es schlussendlich in dem Streit um die gute gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung geht. Inwiefern und wie die wirtschaftliche Gesellschaftsformation zur allseitigen Entfaltung des menschlichen Wesens, d.h. zur Bereicherung oder Verkümmerung seiner Erfahrung beiträgt, war eine )rage, die Marx sich in seinen „Pariser Manuskripten“ stellte und
Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
die deshalb nicht zuletzt eine )rage ist, die sich eine ihren Ursprüngen treue Kritische Theorie stellen sollte. Zugleich verzichtet die so verkürzte Kritische Theorie um wesentliche methodische Werkzeuge für die Untersuchung der konkreten Verdinglichungsformen, die den Entfremdungsphänomenen, geschweige denn der sozialen Missachtung etc., zugrunde liegen. Die )rage ist nach wie vor, auf welcher Höhe oder Tiefe man das Engagement für gerechtere Lebensformen verortet: liberalistisch-sozialdemokratisch auf der vermeintlich utopischen Augenhöhe einer Oberflächentheorie – egal ob kommunikations- oder anerkennungsphilosophisch begründet –, oder auf der Ebene der ökonomischen Gesellschaftsformation. Die Debatte ist nicht neu, sie trennt von jeher zwei Auffassungen der „Linken“.
Gérard Raulet
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Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin
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Gérard Raulet
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II. Natur – Versöhnung oder Entfremdung
Michael Schüßler
Leib und Körper in der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners I.
Merleau-Pontys Hände
Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty gibt uns in seinem nachgelassenen Manuskript „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ Merleau-Ponty ein anschauliches Bild von dem Problem, das im folgenden Vergleich von Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner erörtert werden soll. Er beschreibt mit dem „Chiasmus“ ebd., des Berührens und Berührt-Werdens der Hände die schwierige Gestalt der Leib-Körper-Beziehung. Im ‚Wahrnehmungswechsel‘ der ein Ding berührenden und zugleich durch die andere Hand berührten Hand klafft, so MerleauPonty, eine unmerkliche Lücke. Die berührende Hand zu sein und die berührte Hand zu haben ist nicht gleichzeitig möglich. Zwischen der Position ‚aus sich heraus‘ Berühren und der ‚zu sich‘ Berührt-Werden , zwischen Subjekt- und Objekt-Sein am eigenen Körper besteht keine „Koinzidenz“ Merleau-Ponty , . Dieser Widerstand, „[d]ieses unablässige Ausweichen“ ebd. zwischen den ‚Wahrnehmungszuständen‘, berührte oder berührende Hand zu sein, deutet auf eine Gegensatzbeziehung von Subjekt und Objekt in der körperlichen Verfasstheit. Ich bin diese berührende Hand und zugleich ist sie mir und bin ich mir damit als berührte Hand ein Objekt. Im „Hiatus“ ebd. , im „Zirkel von Berührtem und Berührendem“ ebd., verweist Merleau-Ponty auf ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen zwei sich offenbar gegenseitig ausschließenden und sich ebenso gegenseitig konstitutiv bedingenden Polen der leiblich-körperlichen Existenz. Er erörtert mit dem Chiasmus – innerhalb seiner ontologisierenden Theorie des ‚)leisches‘ von Welt und Leib – eine vermittlungstheoretische Argumentationsfigur, die in gewisser Weise eine Schnittstelle darstellt in der folgenden Betrachtung der Ansätze Adornos und Plessners zu Leib und Körper. Dazu werde ich in einem ersten Schritt einige Schlaglichter auf die Kritische Theorie Adornos hinsichtlich seines Verständnisses von Leib und Körper vor dem Hintergrund der Dialektik von 0atur und Gesellschaft werfen. Damit soll zugleich eine erkenntnistheoretische Perspektive skizziert werden, in der die Theorie von Helmuth Plessner zu Leib und Körper in einem zweiten Schritt kritisch reflektiert wird.
Michael Schüßler
II. Theodor W. Adorno: Die Dialektik von Leib und Körper Theodor W. Adorno hat sich in seinem Werk nur an wenigen Stellen explizit zur )rage des menschlichen Körpers geäußert. Allerdings spielen Topoi von 0atur, Somatischem, Sinnlichem und herrschaftsförmiger Zurichtung des Subjekts auch auf einer leiblich-körperlichen Ebene immer wieder eine wesentliche Rolle. So wäre eine Rezeption der Psychoanalyse ohne die Berücksichtigung des Vermittlungsverhältnisses von menschlicher 0atur und gesellschaftlichen Verhältnissen, so etwa im Begriff des Triebs, in der Kritischen Theorie Adornos undenkbar. Auch in den Schriften zu Kunst und Ästhetik findet sich die Auseinandersetzung mit dem Leib-Körper. Auch wenn Adorno die „Anschauungsästhetik“ Adorno , bzw. die Rezeptionsästhetik kritisiert vgl. ebd., ff. , so spielt das Leiblich-Körperliche zum Beispiel im Verhalten des Subjekts zum Kunstwerk als Verhältnis von sinnlichem 0achvollzug und Reflexion eine tragende Rolle. Darüber hinaus bewahren sich für Adorno in den Kunstwerken in der Vermittlung von Ratio und Mimesis jene Momente des Sinnlichen, des Begehrens und der Triebnatur, welche auch die „Vergeistigung“ ebd., der Kunst bedarf. „Keine Sublimation glückt, die nicht in sich bewahrte, was sie sublimiert“ ebd. . 0icht zuletzt sind die Kunstwerke als Statthalter des Leidens Ausdruck und möglicher Reflexionspunkt leiblich-körperlicher Erfahrungen. Am Begriff des Leidens lassen sich auch die wesentlichen Punkte der Reflexionen Adornos zu Leib und Körper festmachen, die im )olgenden skizziert werden sollen. In einem der „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimer/Adorno angehängtem )ragment mit dem Titel „Interesse am Körper“ reflektieren Horkheimer und Adorno das Verhältnis von Leib und Körper vor dem Hintergrund der Unterwerfungsgeschichte der 0atur als eine Unterwerfungsgeschichte des Menschen. Zugrunde liegt dieser Unterwerfungsgeschichte die ‚immanente 0otwendigkeit‘, in der der Mensch auf das 0atur- Material verwiesen ist. Er muss sich dieses Material
ڲDie Begriffe des Körpers, des Leiblichen und Sinnlichen in der ästhetischen Theorie Adornos können hier aufgrund des Umfangs der Arbeit nicht weiter erörtert werden. Zum Zusammenhang von Leib und Körper zwischen Unmittelbarkeit, Performativität und 0ichtidentität in der Kunst vgl. Schüßler . ڳIn der „Dialektik der Aufklärung“ finden sich zwei Stränge der Reflexion dieser Unterwerfungsgeschichte, die Erörterung einer Urgeschichte von Rationalität und Subjektivität als eine „Logik des Zerfalls“ Adorno a, und die Reflexion der Dialektik der Aufklärung als eine Kritik der instrumentellen Vernunft unter den gegebenen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen. Im Gegensatz zu Positionen wie etwa der Stefan Breuers vgl. Breuer erachte ich beide Stränge nicht als „unvermitteltes 0ebeneinander“, in dem man die „urgeschichtliche Argumentation […] getrost ausblenden kann“ ebd., .
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
aneignen, mit der 0atur stoffwechseln, um zu überleben und zugleich ist er als materielles, leibliches Wesen selbst Teil dessen vgl. Marx , . Horkheimer und Adorno heben nun hervor, dass das, was der Mensch der 0atur antut, indem er sie auf bloßen 0aturstoff, auf ein zwar eigengesetzliches Material seiner gesellschaftlichen Re- Produktion reduziert, er zugleich sich auch selbst antut. Wie in der 0aturbeherrschung steckt auch in der Verfügung über den Leib als Körper die Dialektik von Potential und Unterwerfung. Indem der Mensch die 0atur in der Wendung ihrer Eigengesetzlichkeit gegen sie selbst und auf seine Zwecke zum Objekt seiner Bearbeitung machte, eröffnete es ihm die Möglichkeit, sich dem 0aturzwang, wenn auch nicht völlig, zu entziehen. Er wurde damit nicht nur ein „für sich selbst seiendes Wesen“ Marx , , sondern die Bedingungen der gesellschaftlichen 0aturbeherrschung wurden zur Bedingung des menschlichen biologischen Gattungslebens vgl. Schmidt , . Zugleich bedeutete diese Entfaltung des naturbeherrschenden Potentials stets auch eine Unterdrückung von 0atur, und zwar unter den je spezifischen geschichtlichen Bedingungen gesellschaftlicher ReProduktion. Während, wie auch Marx hervorhebt, die vorbürgerlichen bzw. vorkapitalistischen Stufen der Vergesellschaftung noch etwas Ungeschichtliches und 0aturhaftes an sich hatten, ist der kapitalistischen Akkumulation eine qualitative Veränderung in dem Maße eigen, dass sich die 0aturaneignung nicht nur extrem potenziert und verändert hat, sondern die )ähigkeit der Destruktion der menschlichen Lebensgrundlagen möglich wurde. 0icht nur gewinnen die die gesellschaftliche Re- Produktion bedingende Kapitallogik und der Verwertungszusammenhang gegenüber den Individuen einen zwanghaften und eigenlogischen Charakter subjektloser Herrschaft. Sondern damit verbunden ergeben sich auch fetischisierende, verdinglichende und ideologisierende Mechanismen, die den Gesamtzusammenhang verschleiern und als dinglich-naturhafte Verhältnisse, etwa in der 0aturalisierung der Arbeit, widerspiegeln. Die gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen gegenüber der ersten als eine Art zweite 0atur. Vor diesem Hintergrund sehen Horkheimer und Adorno auch die Geschichte des Körpers als eine Zurichtung des Leibes; die Spaltung in Subjekt und Objekt am Menschen selbst als eine Geschichte auch von Herrschaft und Unterwerfung. Sie schreiben: Die Haßliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur. Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, „corpus“, unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die 0atur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat Horkheimer/Adorno , , Herv. i. O. .
Der Körper ist hier also begriffen als ein 0aturverhältnis am Menschen, an dem die Unterdrückung der 0atur als die Verdinglichung seiner selbst, als bloß dinghafter
Michael Schüßler
Körper zurückschlägt. Als dinghafter Körper wird er zum bloßen Verfügungsobjekt, ob in der Ausbeutung der Arbeit oder als Opfer für die „Totschläger […] die gewalttätigen Männer, die gleich da sind, wenn es einen zu erledigen gibt“ ebd., . Diese Stelle zum Körper als Ding ist zugleich eine erkenntniskritische Aussage, wird doch hier auf die )rage der Subjekt-Objekt-Problematik am Menschen referiert. Im Körper als Ding sind Subjekt und Objekt am Menschen zerrissen; ist deren gegensätzlichimmanenter konstitutiver Zusammenhang vgl. Adorno b in der Stellung des Körpers als Material oder Behausung des vermeintlich höheren Geistes verleugnet. So heben beide Autoren hervor: Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem 0amen sich anzeigt, war Teil des perennierenden Prozesses, der 0atur zu Stoff und Materie machte“ Horkheimer/Adorno , .
Dieser vielleicht apodiktische Grundzug hat seinen Sinn darin, die kontinuierliche Tendenz, nämlich die die Geschichte durchziehende kontinuierliche Dialektik von Entfaltung und Herrschaft des Subjekt-Objekt-Verhältnisses als Konfrontation von auch menschlicher 0atur und Gesellschaft hervorzuheben, freilich in je geschichtsmaterialistischer Spezifik jeder Epoche. Leib und Körper sind hier meines Erachtens reflexive Begriffe. Der vermeintlich fatalistische Zug, der in den zitierten Stellen zum Ausdruck kommt, ist hier weder eine transhistorische, gar ‚pessimistische‘ Beschreibung des 0aturverhältnisses, noch zugleich die Hypostase eines vermeintlichen zuvor heilvollen Zustandes im Leiblichen qua nicht-unterworfener 0atur. Es ist vielmehr die geschichtsmaterialistische Reflexion der Konfrontation von 0atur und Gesellschaft am Menschen. Am Leib-Körper des Menschen tritt die ganze Dialektik der menschlichen 0aturbeherrschung zu Tage. Reflexiv sind die Begriffe Leib und Körper dahingehend, dass der Leib nicht einfach als ungesellschaftliche 0atur, der Körper als zugerichtetes Ding begriffen wird. In ihrem Verhältnis spiegeln sich die paradoxe Gleichzeitigkeit der Befreiung aus dem blinden 0aturzusammenhang und die Rückkehr der nun zweiten 0atur in )orm der Herrschaft über 0atur wider. Das Verhältnis von Leib und Körper, die Erinnerung ans Lebendige und die krasse Trennung des verdinglichten, toten Körpers davon, ist die Erinnerung an das Verhängnis zwischen 0aturverfallenheit und gesellschaftlicher Ohnmacht. Dahingehend hält der Begriff des Leibes vor dem Hintergrund des verdinglichten Körpers fest, was nicht in der gesellschaftlichen Unterwerfung von 0atur aufgeht. Leib und Körper sind für Horkheimer und Adorno gesellschaftskritische Begriffe. Adorno hat dies in seinen nun zu skizzierenden Überlegungen in der „0egativen Dialektik“ Adorno a weiter erörtert. In der „0egativen Dialektik“ kritisiert Adorno ein identitätslogisches Vorgehen, welches Geist und Körper als getrennte Sphären begreift. Ausgehend von einer Kri-
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
tik, dass das Leibliche stets als vergeistigte Kategorie in der Erkenntnistheorie auftritt vgl. Adorno a, , macht er am Sachverhalt der Empfindung deutlich, dass diese nichts „in Bewußtsein Aufgehendes“ ebd., ist. Das „Körpergefühl“ ebd. begleitet nicht einfach die Empfindung, sie ist es auch selbst vgl. ebd. . Die Empfindung, crux aller Erkenntnistheorie, wird erst von dieser, im Widerspruch zu ihrer eigenen vollen Beschaffenheit, welche doch die Rechtsquelle der Erkenntnis sein soll, in eine Tatsache des Bewußtseins uminterpretiert. Keine Empfindung ohne somatisches Moment Adorno a, .
Die Trennung der Empfindung vom Leibhaften stellt eigentlich nur die Abstraktionsleistung einer „noologischen Absicht“ Adorno a, dar, die alles als durch den Geist gesetzt versteht. Dagegen: In dem Punkt, wo das „somatische Moment [irreduzibel] als das nicht rein cognitive an der Erkenntnis“ gilt, „wird der subjektive Anspruch dort noch hinfällig, wo gerade der radikale Empirismus ihn konserviert hatte“ Adorno a, . Gerade an der Stelle, an der das Subjekt am ehesten mit sich identisch erschien, in der vermeintlich rein geistigen Erkenntnis, wird deutlich, wie Subjekt und Objekt im somatischen Moment der Empfindung verklammert sind. Das materiell-somatische Moment „affiziert“ als Kern subjektiver Erkenntnis „nicht nur das )undierungsverhältnis von Subjekt und Objekt, sondern die Dignität des Körperlichen“ ebd. . Der Körper ist nicht „als Gesetz des Zusammenhangs von Empfindungen und Akten, geistig also, zu konstituieren“ ebd. . An anderer Stelle pointiert Adorno dieses Vermittlungsverhältnis von Geist und Körper. Er hebt hervor: Beides, Körper und Geist sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. […] Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. […] Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche ebd., .
Geist und Körper erweisen sich als Widerspruchsverhältnis in sich vermittelter Gegensätze. Geist ist in sich sein Gegensätzliches, geht auf Leibliches und Somatisches zurück. Zugleich ist der Geist das qualitativ Andere, „das, was nicht bloß ist“. Mit dem Geist geht aus dem Leiblichen und Somatischen ein ihnen qualitativ anderes, überschießendes Moment hervor. Im Bewusstsein, in der Spontaneität des Gedankens und der Reflexion als das Vermögen des Denkens die Bedingungen seiner ڴEs heißt da: „Im Gegenstand, zugerüstet zu dem der Erkenntnis, ist vorweg das Leibliche vergeistigt durch seine Übersetzung in Erkenntnistheorie […]“ ebd. . ڵDie vom Geistigen, von der Rationalität abstrahierte leibhafte, ja somatische Seite bezeichnet Adorno auch als das Hinzutretende vgl. ebd., , Impulshafte und Spontane vgl. ebd. , wobei er deutlich macht, dass diese Bestimmung des Leibhaften bzw. Somatischen als quasi Zutat zur Rationalität im Grunde redundant ist. Die erfahrene Trennung ist bereits Ergebnis der Identitätslogik vgl. ebd., .
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selbst zu denken, ist der Geist ein emergentes Phänomen. Auf der anderen Seite: Wenn auch zugleich „noch die fernsten Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben […]“ Adorno , , so bleibt auch der Leib ein 0ichtidentisches zu den Setzungen durch den Geist. Im Begriff des Leidens bei Adorno wird dies weiter unten erörtert. Hier sei zuvor darauf hingewiesen, dass uns Adorno an diesen Stellen auch eine Erläuterung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses am Menschen gibt. Er nimmt dabei Bezug auf die erkenntniskritische Argumentationsfigur des „Vorrangs des Objekts“ Adorno b, ; vgl. Adorno a, ff . Vier wesentliche Punkte markieren den Vorrang des Objekts: A. Das Subjekt ist in seiner scheinbaren Rolle als Konstituens selbst „in einem qualitativ anderen, radikaleren Sinn seinerseits Objekt“ Adorno b, f . Das bedeutet, das Subjekt ist als Seiendes stets „etwas – und ,etwas‘ bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment“ ebd., , Herv. i. O. . B. Die objektivierende Wendung des Subjekts auf s eine Wirklichkeit ist nicht in idealistischer Weise rein produktiv, sondern der Gegenstand setzt sich auch in der Objektivierung durch. „[D]ie subjektiven Bestimmungen [sind] kein bloß Angeheftetes, immer werden sie auch vom zu Bestimmenden verlangt“ ebd. . C. Diese ‚Eigenständigkeit‘ des Objekts nimmt sich nun aber nicht aus wie das Kantische Ding an sich, sondern das bedingende Objekt ist wiederum bedingt, soll heißen über das erkennende und gesellschaftliche Subjekt und damit durch seine subjektiven Anteile vermittelt. Adorno spricht von der „Bedingtheit des Bedingenden“ ebd., . D. Das Objekt besitzt gegenüber der Vermittlung eine relative Eigenständigkeit. Der Vorrang des Objekts ist selbst stets eine historische Größe, ein Spannungsverhältnis zwischen einholbarem Anteil durch menschliche Erkenntnis und Praxis und dem Entzogenen. Vom Vorrang des Objekts bzw. von 0ichtidentität lässt sich nur unter der Perspektive des wahrnehmenden, erkenntnisfähigen, aber eben auch konkret-sinnlichen Subjekts sinnvoll sprechen. Es wurde bereits deutlich, wie sich mit der 0aturbeherrschung das SubjektObjekt-Verhältnis am Menschen manifestiert – als zum verdinglichten Körper formierter Leib. Dass nun Geist und Körper in sich vermittelt sind, zeigt zugleich, dass der Antagonismus von Subjekt und Objekt nicht als Ursachverhalt zu hypostasieren, vielmehr selbst ein Gewordenes ist vgl. Adorno a, . „Sonst würde der Geist zum schlechthin Anderen des Körpers gemacht, im Widerspruch zu seinem immanent Somatischen […]“ ebd. . Im somatischen Moment des Geistes selbst zeigt sich, „was den Vorrang hätte vorm Subjekt und diesem sich entzieht […]“ ebd. , das dem Geist nichtidentische leiblich-materielle Moment vgl. ebd., . Adorno skizziert folglich zwei Vermittlungsverhältnisse leiblich-körperlicher Existenz: die Vermitteltheit von Leib und Körper als Unterwerfungsgeschichte des verdinglichten Körpers. Zugleich erweist sich diese trennende Objektivierung selbst als Chimäre, sind doch noch im Geist das leibliche und somatische Moment und sein qualitativ Anderes eine in sich vermittelte, das heißt eine jeweils intrinsisch konstitutive Gegensatzbeziehung. So wie der Geist auf das leiblich-somatische Moment geht, so bliebe ohne Objektivierung des Geistes, ohne Spaltung nicht Trennung von Subjekt und
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
Objekt nur der stumme Zwang der Unmittelbarkeit, weder Leib noch Körper. Es wird deutlich, dass es bei Adorno keine klar abgrenzbaren Bestimmungen gibt, was nun Leib und Körper sind, auch wenn sich aus den verteilten Stellen herauslesen lässt, dass der Leib als „Körpergefühl“ ebd., der ‚Verhältnisstandpunkt‘ zum Körper, dieser zugleich das Substrat der notwendige Distanznahme in der Objektivierung ist. Diese bloß mögliche gegensätzliche Begriffsbestimmung Leib als Verhältnis zum Körper und umgekehrt begründet sich darin, dass es sich um Relations- nicht um Substanzbegriffe handelt, somit um sich gegenseitig konstitutiv bedingende Sachverhalte. Bereits in der „Metakritik“ Adorno kritisierte Adorno die Setzung substantieller Bestimmungen oder die Hypostase des bloß äußerlichen „Vermitteltsein selber“ als „Urprinzip“ und reine „Positivität“ ebd., . So wie es das Verhältnis zum Körper nur gibt als naturbeherrschende und bisher verdinglichte und unterdrückende Objektivierung, so ist der Leib auch nur zu fassen als sich in der Objektivierung bedingender Gegensatz, ohne aber in der Vermittlung aufzugehen. Am Körper markiert sich, was mit dem Leib geschah, so wie der Leib daran erinnert, dass der Körper in seiner Verdinglichung nicht aufgeht. Adorno deutet das Leib-Körper-Verhältnis nicht nur als Signum der Herrschaftsgeschichte am Menschen, sondern im Moment der 0ichtidentität des LeibKörpers zu seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit auch als einen Ort der Widerständigkeit. Widerstand bedeutet hier nicht eine normative Dimension oder gar das Aufscheinen besserer Verhältnisse, sondern das 0icht-Aufgehen vgl. Adorno a, des Leiblichen in seiner gesellschaftlichen Vermittlung. Dieses Überschießen des Leibes bedeutet zugleich die Möglichkeit des Glücks wie auch allzu oft Leid und Schmerz: In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein. Aller Schmerz und alle 0egativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wie alles Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivität gewinnt. Ist dem Glück jeglicher Aspekt darauf verstellt, so ist es keines Adorno a, .
Lust, )reude oder das sinnliche Moment ästhetischen Erlebens sind hier nur die gröbsten Kategorien des leiblichen Charakters von Glück. Leiden dagegen entsteht, wo sich der Leib der zweck- rationalen Reduktion des Körpers zu Substrat und Mittel der Arbeitskraft sperrt. „Es ist der Leib, der mit der Arbeitskraft niemals ganz zusammenfällt, wie deren Besitzer leid- und lustvoll erfährt, und nur darum vermag prinzipiell auch sein Geist in ihr nicht aufzugehen“ Scheit , . Die Trennung in Leib und Körper ist nicht nur erkenntnistheoretisches Produkt der SubjektObjekt-Beziehung, sondern [d]er Leib markiert nun wirklich das Maß der Konkretion in dem Sinn, als er die Probe darauf ist, daß jenes Individuum genannte, also unteilbare, gesellschaftliche Wesen, sich als abstrak-
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tes teilen läßt per Vertrag und seine Arbeitskraft verkaufen kann und verkaufen muß, um nämlich ein konkretes Unteilbares zu bleiben und nicht zugrunde zu gehen ebd., .
In der kapitalistischen Vergesellschaftung ist „der Körper […] das, was die Verdingung als Arbeitskraft vom Leib übrigläßt“ ebd. , eher Mimesis ans Tote vgl. Horkheimer/Adorno , . Der Leib erinnert dagegen nicht nur in seiner Etymologie sowie in seiner sakramentalen )orm Leib Christi ans Lebendige – nicht als Regression auf bloße 0atur – sondern in seinem Widerstand als „ein nicht Aufgehendes“ Adorno a, und befreit aus seiner „Selbstheit“ ebd., durch Reflexivität. Dieses nicht-aufgehende Moment des Leiblichen ist aber für die Kritik nur im reflexiven Bezug einzuholen. Allerdings besteht damit zugleich immer die Gefahr seiner identitätslogischen Verkürzung. So fügte Adorno zum Beispiel dem viel zitierten kategorischen Imperativ, „ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, die entscheidenden Sätze an: Ihn [den Imperativ, M. S.] diskursiv zu behandeln, wäre )revel: an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der [sic] praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt ebd., .
An anderer Stelle hebt Adorno das Widerständige des Leiblichen allgemeiner hervor: In der Brüchigkeit der Identitätslogik […] zittert ein letztes Mal das somatische Moment erkenntnistheoretisch nach, bis es vollends ausgetrieben wird. In der Erkenntnis überlebt es als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem )ortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes sondern ihm inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Aspekt; allein daß er dessen fähig ist, verleiht irgend ihm Hoffnung. Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen […]. Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle“ ebd., .
III. Helmuth Plessner: Leib sein, Körper haben Auch Plessners Überlegungen zu Leib und Körper kreisen um den Schnittpunkt des 0atur-Gesellschafts-Verhältnisses und der Subjekt-Objekt-Problematik. Anders als ڶDies deutet auch die 0otwendigkeit an, Sprache im Gegensatz zum vom Post- Strukturalismus behaupteten Vorrang der Sprachstruktur als im Leiblichen verankert zu begreifen. In ihren leiblichszenischen Wurzeln, in ihrem konnotativen Überschuss ist Sprache mehr als eine stets vorgängige, bloß zu internalisierende Struktur vgl. Schüßler ; Hogh ; Lorenzer .
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
das Tier, so Plessner, lebt der Mensch in der „Doppelaspektivität“ Plessner , , „in seine Umgebung […] gestellt“ Plessner , und zugleich in )rontalität zu seiner Umwelt als ein exzentrisches Wesen. Er ist das Lebewesen, das „zu sich in Opposition treten [kann]“ Plessner g, , er lebt in exzentrischer Positionalität: „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“ Plessner , . Und anderer Stelle heißt es: Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner 0atur Plessner , .
Die Exzentrizität ist die reflexive Bewegung zu sich, die paradoxerweise erst in dieser „uneinholbare[n] Abständigkeit des Menschen zu sich selbst“ Plessner , „den ortlosen Ort der Selbstgegebenheit als Selbstdistanz“ Kämpf , definiert. In diesem, wie noch deutlich werden wird, leib-gebundenen Verhältnis aus sich heraus zu sich besteht auch seine „eigentümliche Geistigkeit“: „Geist bedeutet die )ähigkeit der Abstandnahme und nur in der Abstandnahme zu ihr wird menschliche Umwelt zur Welt von sachlichem Charakter“ Plessner b, . In dieser exzentrischen Leib-Gebundenheit des Geistes betrachtet Plessner wie Adorno Geist und Leib-Körper nicht als unvermittelte Gegensätze. Vielmehr ist die menschliche Verfassung eine „Leib-Geist-Einheit, aber von übergreifender Art, die den Gegensatz ihrer selbst in sich trägt“ ebd., . In dieser Einheit von Leib und Geist, die die Gegensätzlichkeit ihrer Pole in sich trägt, klingt zumindest das Vermittlungsverhältnis sich jeweils implizierender, gegensätzlicher Widerspruchspole an, wie sie die dialektischen Argumentationsfiguren Adornos beschreiben. Mehr als das erörtert Plessner mit der exzentrischen Positionalität das Verhältnis von Leib und Körper mit Blick auf den Zusammenhang von 0atur und Kultur bzw. Gesellschaft. Die exzentrische Positionalität als Grundverfassung seiner Existenz macht den Menschen „konstitutiv heimatlos“ Plessner , . „Die Exzentrizität erlaubt […] keine eindeutige )ixierung der eigenen Position. Sie fordert sie zwar immer wieder ein, aber nur, um sie immer wieder aufzuheben“ Kämpf , . Plessner beschreibt damit im Grunde eine antinomische, dialektische )igur, in der die Gegensätze von Innen und Außen in ein dynamisches, sich jeweils konstitutiv implizierendes Widerspruchsverhältnis treten. Die Mitte definiert sich in sich dadurch, dass reflexiv aus ihr herausgetreten werden muss, so wie dieses reflexive 0ach-Außen-Treten als Distanznahme zur Mitte diese Mitte damit erst inauguriert. Plessner erörtert drei „anthropologische
ڷPlessner spricht selbst von einer „absoluten Antinomie: sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt“ Plessner , . Zum Begriff der Dialektik als antinomische Widerspruchsfigur vgl. Knoll/Ritsert bzw. Müller .
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Grundgesetze“ als die Umgangsweisen des Menschen mit seiner „konstitutiven Heimatlosigkeit“ Plessner , : die natürliche Künstlichkeit, die vermittelte Unmittelbarkeit und den utopischen Standort. Die natürliche Künstlichkeit beschreibt das paradoxe Verhältnis des Menschen zu der bzw. seiner 0atur. Mit der Exzentrizität ist in „seiner vitalen Daseinsform“ ebd. der Bruch mit der 0atur zwingend angelegt. In der „Abhebung des Lebendigseins vom Sein“ ebd., ist das menschliche Leben der zwingende Vollzug dieser Abhebung. Er ist „von 0atur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“ ebd. . Die sich aus der 0ichtidentität mit der 0atur ergebende „Ergänzungsbedürftigkeit“ ebd., , die 0otwendigkeit Mittel zu finden, diesen Verlust der „Direktheit“ ebd., zur 0atur zu überwinden, um sein „Leben zu führen“, um sich erst zu dem „zu machen, was er ist“, „braucht [...] ein Komplement nichtnatürlicher Dinge, nichtgewachsener Art“ ebd. . Diese alle Kultur bedingende „Bedürftigkeit“ ist „allen Bedürfnissen, jedem Drang, jedem Trieb, jeder Tendenz, jedem Willen des Menschen vorgegeben“ ebd., . Betrachten wir nun das Leib-Körper-Verhältnis in der exzentrischen Positionalität, wie es Plessner erörtert, etwas genauer. Die stetige paradoxe Wendung in der Exzentrizität auf sich selbst, um überhaupt Mitte sein zu können, beschreibt Plessner als grundlegendes leiblich-körperliches Verhältnis des Menschen zu sich. Die exzentrische Wendung gibt sich erst in der Doppeldeutigkeit des Leibes bzw. des Körpers zu erkennen vgl. Plessner , . „Dieser Abstand in mir und zu mir gibt mir erst die Möglichkeit ihn [den Leib, M. S.] zu überwinden“ Plessner c, . Sie ist „geradezu die Voraussetzung, selbständig zu sein“ ebd. . Die Exzentrizität bringt den Menschen in „ein doppeltes Verhältnis zu seiner physischen Existenz: er ist sie und er hat sie“ Plessner e, . Plessner hat diesen Doppelcharakter der leiblich-körperlichen menschlichen Existenz in der bekannten )ormulierung „leibhafte[s] Körpersein in Körperhaben“ Plessner c, , vgl; Plessner , f. – in der breiten Rezeption oft als „Leib sein, Körper haben“ wiedergegeben – zusammengefasst. Dieses Leibverhältnis gibt dem Leib als Körper einen „instrumentalen Charakter [...], seine körperliche Situation“ ist ihm „gegenständlich und zuständlich bewußt, eine beständige Hemmung, aber auch ein beständiger Anreiz, sie zu überwinden“ Plessner , . Sein Leib wird ihm als Körper zu einem Mittel, einen Ausgleich zwischen dem Hiatus seiner Existenz herzustellen. Damit ist der Mensch mit dem Körper als Mittel immer zugleich über sich als leibliche Selbstheit hinaus. In anderen Worten: Um Leib zu sein, muss sich der Mensch im Abstand zu diesem als Körper verhalten, wie wiederum nur aus dem leibhaften Sein heraus er den Körper „haben“ kann. Man findet also auch hier, ähnlich wie bei Adorno, die Beschreibung des Leib-Körper-Verhältnisses als in sich vermittelte Pole einer Widerspruchskonstellation. Plessner selbst weist auf das dialektische Verhältnis hin: Die dialektische Struktur, die im Wesen der Exzentrizität liegt, macht das Selbstsein zur Innenwelt, zu dem, welches man in sich spürt, erleidet, durchmacht, bemerkt und welches man
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
ist […]. Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg gibt. […] Als Innenwelt ist er [der Mensch, M. S.] vorhanden, ob er davon weiß oder nicht. Gegeben ist sie ihm freilich nur in Akten der Reflexion Plessner , .
Es finden sich verstreut in den Texten von Plessner weitere Anmerkungen dazu, dass er mit dem „Leib sein, Körper haben“ ein dialektisches Verhältnis hervorhebt. Meines Erachtens beschreibt diese Argumentationsfigur Plessners auf den ersten Blick eine Dialektik im Sinne Adornos. Dass es sich um kein dichotomes, sondern um ein Vermittlungsverhältnis handelt, begründet sich in dem bereits hervorgehobenen gegenseitig konstitutiven Zusammenhang von Leib und Körper. Ich bin dieser Leib, weil ich einen Körper habe; haben kann ich diesen Körper nur, weil ich eben dieser Leib bin. Auch ihre Gegensätzlichkeit deutet sich darin an. Der Körper ist nicht einfach die andere Seite des Leibes, sondern die Exzentrizität ist die Bewegung, aus dem leiblichen Gesetztsein heraus ein Körperding zu werden, um überhaupt Leib zu sein; es ist „eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes in den Körper […]“ Plessner g, . „Diese Verschränkung der beiden Aspekte begünstigt, um nicht zu sagen erzwingt die Verdinglichung des eigenen Leibes“ Plessner c, . Plessner macht deutlich, dass Leib und Körper nicht als dichotome „Polarität“, der Leib nicht als „die erlebte, [der] Körper [als] die objektivierte Seite“ Plessner d, zu begreifen sind. Vielmehr nimmt er hier Bezug auf den Begriff der Ambiguität Merleau-Pontys vgl. ebd. , der damit die chiastische Verflechtung von Leib und Körper charakterisierte. Diese ist nicht bloß die )rage eines „erkenntnistheoretischen Blickwechsels“ Plessner g, , sondern liegt im Wesen von Leib und Körper, in deren exzentrischem Verhältnis selbst. In dem Text „Anthropologie der Sinne“ beschreibt auch Plessner das Tasten und Berühren als Beispiel der chiastischen Verflechtung: „Im Tasten empfinden wir in eins uns und das Objekt, glatt oder rauh, hart oder weich“ Plessner a, . Allerdings hebt sich Plessners Ansatz von Merleau-Ponty dahingehend ab, dass Plessner nicht bei der „Ständigkeit des Eigenleibes“ Merleau-Ponty , ansetzt, sondern bei der exzentrischen Position auf den Leib, also beim Körper als „Vergewisserung der Gegenständlichkeit“ )ischer , , . Die Einheit von Leib und Körper im exzentrischen Verhältnis bedeutet jedoch nicht, dass die exzentrische Positionalität als ein Synthese-Begriff im Sinne einer Auflösung des Widerspruchsverhältnisses in einem höheren Dritten vgl. Müller , ff zu verstehen ist. Ähnlich wie in der Kritischen Theorie Adornos bleiben die beiden Seiten des Vermittlungsverhältnisses in ihrer dynamischen Spannung begriffen, Synthese als Bewegung vgl. Adorno , f . Plessner reflektiert mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität die beständige Bewegung der „relativen Gegenseitigkeitsbeziehung“ Plessner / , von Leib und Körper. Der Mensch kann keine Entscheidung zwischen beiden Ordnungen, der mittelpunktsbezogenen und der nichtmittelpunktsbezogenen, treffen […]. Er ist weder allein Leib noch hat er allein Leib Körper . Je-
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der Beanspruchung der physischen Existenz verlangt einen Ausgleich zwischen Sein und Haben, Draußen und Drinnen Plessner , , Herv. i. O. .
Dieser Ausgleich, die immer wieder zu erreichende Herstellung des einheitlichen Leib-Körpers ist keine Stillstellung beider vermittelter Pole in der Exzentrizität. Ich verstehe diesen Ausgleich vielmehr als beständige notwendige exzentrische Bewegung – vom Leib weg einen Körper haben, um die Mitte als Leib zu sein. Die Einheit des Gegenstands ist die vermittelte, dynamische Widerspruchskonstellation in sich, in diesem )all von Leib und Körper in der exzentrischen Positionalität des Menschen.
IV. Vergleich und Kritik Auch wenn wir für das „Leib sein, Körper haben“ wesentliche Aspekte einer dialektischen Argumentationsfigur finden und Plessner selbst auf die dialektische Struktur der Exzentrizität verweist vgl. Plessner , , so gibt es meines Erachtens gravierende Punkte, welche den vermittlungstheoretischen Ansatz Plessners von dem Adornos unterscheiden. Die )rage, die sich hier auftut, ist jene nach dem Unterschied positiver und negativer Dialektik bzw. positiver und negativer Anthropologie. Es ist hier nicht möglich, anhand der Werke Plessners und Adornos diese Unterschiede umfassend herzuleiten und zu erörtern. Ebenso wäre es vermessen, in einem kurzen )azit die definitive Antwort geben zu wollen, dass sich ein Graben zwischen dem Werk Plessners und Adornos als ein Widerspruch zwischen positiver und negativer Anthropologie aufzeigen ließe. Vielmehr möchte ich mit Blick auf den Leib-Körper und vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie Adornos zwei Einwände gegen Plessners Ansatz vorbringen: eine Kritik des Wesensbegriffs der Exzentrizität und des Ausblendens der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Beide, Adorno wie Plessner, reflektieren das Verhältnis von Leib und Körper vor dem Gesichtspunkt des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Hierin wird für die Kritische Theorie Adornos ein Begriff wie die exzentrische Positionalität problematisch, wo die Subjekt-Objekt-Spaltung als Ursprung, als transhistorischer, wenn nicht gar ontologischer Wesensbegriff des Menschen hypostasiert wird. Zwar ist es das Wesen der exzentrischen Positionalität, dem Menschen als Reaktion eine natürliche Künstlichkeit aufzuzwingen, er folglich seiner 0atur nach diese selbst formen und aneignen muss, um seine Existenz zu erfüllen. Kultur und Geschichte entspringen dem Wesen der Exzentrizität, der 0otwendigkeit des Menschen, sich von 0atur aus sich zu ihr mit künstlichen Mitteln zu verhalten. Allerdings gewinnt die exzentrische Positionalität selbst als das spezifische Gesetztsein des Menschen in Plessners Konzeption einen Vorrang vor aller Geschichte, auch wenn sie sich immer in Geschichte erfüllt:
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
Eine von der der Tiere grundsätzlich verschiedene Daseinslage, die ich in meinem Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ als die exzentrische Position entwickelt habe, läßt Sprache und Kultur, aber auch jene Phänomene als Monopol des Menschen hervorgehen, die, wie etwa Lachen und Weinen, von einem spezifisch gespannten Verhältnis zu seinem Körper künden Plessner b, .
Zwar begreift Plessner seine Philosophische Anthropologie „als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung in 0atur und Geschichte“ Plessner g, . Allerdings bestimmt er diese Bedingungen als einen Vorrang der Exzentrizität qua Gesetztsein des Menschen. Der Kultur und Geschichte geht in der Kategorie der exzentrischen Positionalität die 0atur als wenn auch zur exzentrischen Abständigkeit treibendes Gesetztsein voraus. 0atur gewinnt damit den Zug ontologischer Bestimmung. Darin droht auch Plessners berechtigtes Beharren auf der Eigenständigkeit bzw. 0ichtidentität der 0atur in einem Vorrang der 0atur das Vermittlungsverhältnis von 0atur und Gesellschaft in den )allstricken einer Ursprungstheorie zu zerreißen. So kritisiert er den „0achdruck auf dem Gesellschaftlichen“ im Marxschen Begriff des „Menschen als gesellschaftliche[m] 0aturwesen“ ebd. . Ebenso hebt Plessner in seinem Kommentar zu Adornos „0egative[r] Dialektik“, auch mit kritischem Blick auf Horkheimers Kritik an der Philosophischen Anthropologie vgl. Horkheimer , den Vorrang der 0atur als Ursprung hervor: Die Suche nach einer – und zwar biologischen – Grundstruktur, welche die Monopole der Tierart Mensch aus sich hervorgehen läßt, präjudiziert keine historische Invarianz. Im Gegenteil. Die gesuchte Struktur ermöglicht gerade die ethnologisch bekannte extreme Variabilität des Menschenmöglichen Plessner a, .
Die Begriffe der Exzentrizität, des Gesetztseins und der grundlegenden, Variabilität ermöglichenden Struktur evozieren einen 0aturbegriff, der 0atur als Ursprung bzw. ihre historisierende Aneignung als Ursprungsverhältnis bestimmt. )ür die Kategorie der exzentrischen Positionalität lässt sich damit konstatieren, dass sie zwar in der Stellung von Leib und Körper in sich eine vermittlungstheoretische Struktur beschreibt, dieser aber eine ableitungstheoretische Wesensbestimmung voraussetzt bzw. sie darin begründet. Letztlich liefern sich auch die Kategorien Plessners dem Problem aus, „daß das Mittel, mit dem versucht wird, transsubjektives Sein zu gewinnen, nichts anderes ist als die gleiche subjektive ratio [sic] […]“ Adorno c, . Im oben angeführten Marxschen Begriff des Menschen als gesellschaftlichem 0aturwesen spiegelt sich die Ansicht Adornos im Gegensatz zu Plessner wider. Adorno begreift die 0atur nicht als eine die Geschichte konstituierende Struktur qua anthropologischem Gesetztsein. Zwar stellt die 0atur in der Tat durch ihre anzueignende Eigengesetzlichkeit den Ermöglichungsgrund menschlichen Überlebens und Soziallebens dar, zugleich aber bedingt sich das biologische Gattungsleben durch
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die Gesellschaft bzw. die geschichtlichen )ormen der 0aturbeherrschung vgl. Schmidt , . Erkenntnistheoretisch sind 0atur und Gesellschaft als unaufhebbares Widerspruchsverhältnis begriffen. Es gibt für das Subjekt keine unmittelbare 0atur, ihm ist sie stets schon vermittelte 0atur, denn jeglicher Bezug auf sie ist durch die gesellschaftlichen Vermittlungen präformiert – wie wiederum die Gegensätzlichkeit in gewisser Weise aufgehoben ist, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse unbegriffen und verdinglicht als zweite 0atur erscheinen. Zugleich aber geht die erste 0atur in ihrer gesellschaftlichen Vermittlung nicht auf, bleibt gegenüber der Gesellschaft etwas 0ichtidentisches. Sie ist aber selbst als notwendiger und eigengesetzlicher 0aturstoff, als ein Vorrang des Objekts für das Subjekt stets gebunden an die „Bedingtheit des Bedingenden“ Adorno b, . Auch für 0atur gilt, dass das Objekt für das Subjekt stets ein Vermitteltes ist, auch wenn die Bestimmungen der Vermittlung nicht bloß aus dem Subjekt hervorgehen, sondern das Objekt qua Eigenständigkeit diese vom Subjekt „verlangt“ ebd., . 0atur ist immer schon etwas Gewordenes. Das bedeutet nicht die Aufhebung des angezeigten Antagonismus von vermittelter 0atur und 0ichtidentität. Adorno geht es gerade nicht um eine Aufhebung von 0atur in Vermittlung. Solch eine Hypostase von Vermittlung wäre nur die andere Seite der Medaille zur Ontologisierung einer 0atur des Menschen. 0egative Dialektik bedeutet dagegen, den unaufhebbaren erkenntnistheoretischen Widerspruch von steter Vermittlung und 0ichtidentität in seiner je geschichtlichen )orm zu begreifen. Die „negative Ontologie“ vgl. Schmidt , ff ist zu begreifen als die Unterwerfung und Unterdrückung von 0atur auch am Menschen. Zugleich sind in den Residuen, in dem Überschießen von 0atur im Leiblichen und Somatischen Momente der Unruhe, des Dispensierens von Herrschaft qua Möglichkeiten der Erfahrung zu reflektieren – nicht um diese als falsche Unmittelbarkeit zu verklären, sondern um an diesen Momenten, gewissermaßen an den Bruchstellen der Zurichtung menschlicher 0atur, reflexiv gewahr zu werden, was der Mensch in der Unterdrückung der 0atur sich selbst antut. Es geht um ein kritisches „Eingedenken der 0atur im Subjekt“ Horkheimer/Adorno , . Plessners Gedanken der natürlichen Künstlichkeit sowie der steten Bewegung der Exzentrizität zwischen Leib und Körper weisen durchaus solch ein ‚Schwanken‘ im Widerspruch auf. Allerdings würde ich die Wesenshaftigkeit und den überhistorischen Charakter, in denen Plessner letztlich seine Kategorien zu begründen scheint, mit der Dialektik von 0atur und Gesellschaft, wie Horkheimer und Adorno diese reflektieren, zurückweisen. Es ließe sich zwar, so Adorno, eine „allgemeine Strukturbestimmung der Lebendigkeit aufstellen“ und so verstehe ich die lebensphilosophischen Wurzeln der Kategorie „exzentrische Positionalität“ : Allerdings bliebe ein „Bereich von ,)aktizität‘ des einzelne[n] Phänomens“ Adorno c, , Herv. i. O. , welcher herausfiele. Das, was in dieser Strukturbestimmung des Lebendigen nicht aufgeht, die „Unerreichbarkeit des Empirischen“, das nicht Aufgehen des Einzelphänomens in den Strukturbestimmungen als ein „Stehenbleiben der Phänomene“ wird oft im „Begriff
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
der Geschichtlichkeit [...] selbst in einen Allgemeinbegriff verwandelt“ ebd., . Darauf läuft jener Vorgang hinaus, das Einzelphänomen als Exemplar aus den Wesensbestimmungen etwa als „Historisierung“ Kämpf , oder als „die ethnologisch bekannte extreme Variabilität des Menschenmöglichen“ Plessner a, abzuleiten. So kritisiert Adorno scharf: Kaum taugte eine sogenannte historische Anthropologie mehr. Zwar begriffe sie Gewordensein und Bedingtheit ein, aber rechnete sie den Subjekten zu, unter Abstraktion von der Entmenschlichung, die sie zu dem machte, was sie sind, und die im 0amen einer qualitas humana toleriert bleibt. […] Existenz ist ein Moment, nicht das Ganze, gegen welches sie ersonnen ward und von dem sie, abgesprengt, die uneinlösbare Prätention des Ganzen an sich riß, sobald sie zur Philosophie sich stilisierte. Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche Adorno a, .
Adorno drängt in seinem Begriff der Geschichte folglich nicht nur darauf, stets am jeweiligen Gegenstand die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, also den Antagonismus von Wesen und Erscheinung, Identität und 0ichtidentität zu reflektieren. Mit Blick auf die Dialektik der Vernunft erweist sich das )ortdauern des Leidens von Menschen, von Hunger, Armut, )olter, Vernichtung und der Verdinglichung des Leib-Körpers gerade als Bruch einer Wesensbestimmung, und zwar in )orm einer negativen Bestimmung der Möglichkeiten der Menschen – nämlich in der Versöhnung mit der 0atur und in nicht-naturhaften gesellschaftlichen Verhältnissen das „Leiden beredt werden zu lassen“ ebd., . Ich möchte zum Schluss die mangelnde Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem bei Plessner an seinem begrifflichen Verhältnis von Trieb und exzentrischer Positionalität kurz skizzieren. In „Trieb und Leidenschaft“ Plessner f erörtert Plessner die Dichotomie zwischen den „menschlichen Triebkräfte[n] [...] unterhalb des sozialen […] Bereichs“ ebd., und den Leidenschaften als Produkt exzentrischer Positionalität. Er versteht den Trieb nach )reud als jene zwar „in die soziokulturelle Ebene [zu] transponierende[n]“ ebd., Triebimpulse, die „als Substrat der historisch[en] soziokulturell wandelbaren Bedürfnisse“ ebd. die wesentliche Antriebsquelle des Menschen darstellen sollen, und er kritisiert diese Bedeutsamkeit des Triebs mit dem Verweis auf die in der Exzentrizität wurzelnden Leidenschaften. Zu Recht lehnt er eine – bei )reud so nicht angelegte – Auffassung einer bloßen „instinktmäßig fundierten Triebbasis“ ebd., für das Soziale ab. Allerdings hinterfragt er weniger den Trieb als Instinktbasis als vielmehr dessen Verklärung als alleinige Antriebsquelle des Menschen. In dieser Auffassung treten zwei Problemstellen bei Plessner selbst hervor: A Der Trieb erweist sich bereits bei
ڸDer gesamte Komplex des Verhältnisses von 0atur und Geschichte als ein Verhältnis von 0atur als „ein geschichtliches Sein“ und Geschichte als „ein naturhaftes Sein“ Adorno c, , Herv. M. S. kann hier nicht erörtert werde vgl. dazu: Adorno c; Schmid 0oerr .
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)reud schon als Ergebnis der Konfrontation von 0aturanlagen und Gesellschaft; er wird als „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant“ )reud a, somatischer Reize und Spannungen, nicht als bloße 0atur und schon gar nicht als eine Instinktbasis begriffen, sondern er ist Ausdruck der Vermittlung phylogenetischer Struktur in ontogenetischer und sozialisatorischer Vermittlung. Auch Adorno verweist auf die Erziehung als „formale Konstituentien bis hinab ins unbewußte Leben“ Adorno c, und spricht von der Sedimentation gesellschaftlicher Zurichtungen vgl. Adorno a, ; Adorno b, im Unbewussten. B Mit der )rage der gesellschaftlichen )ormierung der Triebstruktur zeigt sich, dass die exzentrische Positionalität dem werdenden Subjekt nicht einfach als Ausdruck seiner „spezifischen Vitalform“ Plessner f, vorausgeht oder bloß als Subjekt-Objekt-Verhältnis internalisiert wird. Dass die 0atur dem Menschen nicht als unvermittelte gegenübertritt, gilt nicht nur für die äußere, sondern Adorno zufolge auch für seine innere 0atur. Verdeutlichen lässt sich dies mit einer zur „kritischen Theorie des Subjekts“ Lorenzer , geweiteten Lesart der )reudschen Psychoanalyse. Gesellschaft trifft nicht erst im 0eugeborenen auf die ‚Vitalform‘ der Exzentrizität. Vielmehr muss sich in der Subjektwerdung die exzentrische Positionalität in )orm der Objekt-Beziehungen erst herstellen; sie muss sich als das, was phylogenetisch bzw. gattungsgeschichtlich formiert wurde, in jedem Individuum ontogenetisch bzw. sozialisatorisch vermitteln. Mehr noch: Die ‚Vitalform‘ selbst ist bereits durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingt, hat somit keinen wesenshaften Vorrang vor Gesellschaft oder Geschichte. Deutlich wird dies schon in der embryonalen Entwicklung. Immunsystemische Einwirkungen des mütterlichen Organismus auf die männlichen Samenzellen vor der Insemination, die metabolische 0ährstoffbandbreite sowie toxigene und teratogene Einwirkungen auf die Keimzellen bzw. den Embryo sind, wenn auch stark vermittelt, Ausdruck gesellschaftlicher Praxisformen Ernährung, Umweltgifte, psychosomatische Einwirkungen etc. . Die 0atur- und Erbanlagen des Embryos stellen keinen biologischen ‚)ahrplan‘ dar, auf den später die Gesellschaft aufsattelt. Sie entfalten sich stets in den durch gesellschaftliche Praxisformen formierten intrauterinen Bedingungen vgl. Lorenzer , . Zugleich bildet die Eigengesetzlichkeit der 0atur den Rahmen der gesellschaftlichen )ormierung. Die 0aturanlagen sind der Möglichkeitenhorizont der Entfaltung unter gesellschaftlichen Bedingungen. Gleiches gilt für die sich daraus ergebenden Körperbedürfnisse, welche als innersomatische Reize den Triebgrund darstellen. Triebe sind weder bloßer Abdruck somatischen Reizgeschehens und damit unmittelbare 0atur noch die bloße Einprägung gesellschaftlicher Muster, sondern die konfrontative )ormierung des Körperbedarfs unter Bedingungen gesellschaftlicher sozialisatorischer Praxis zu psychophysiologischen )ormeln von Unlust- und Lustreihen; sie sind imperative Muster verankerter Stillung des Körperbedarfs. )ötal bzw. intrauterin geschieht dies
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
vor allem in der psychophysischen Verankerung von „spezifischen Reizreaktionslagen“ Lorenzer , . Postnatal geschieht dies in der Verankerung des vorerst szenisch-unmittelbaren leiblich-gestischen Interaktionsgeschehens als Konfrontation des bereits formierten Körperbedarfs mit den ersten gesellschaftlichen, aber ebenso ‚mütterlich‘ bedingten Praxisformen, angetragen durch die primären Beziehungsfiguren. In dieser präwie postnatalen Verankerung der ersten Praxis- bzw. Interaktionsgefüge sind selbstverständlich die neuronalen und zentralnervösen Erregungspotentiale und somit die physiologische Ebene der somatischen „Reizquellen“ )reud / a, als Triebgrund eingefasst. Das bedeutet, die Triebe bzw. die Triebstruktur ergeben sich als „Resultate der gesellschaftlichen )ormbildung des Körpers“ aus verankerten „unbewußten Befriedigungserlebnissen“ Lorenzer , , immer aber als „soziale Spielformen“ Lorenzer , . )ür Adorno hat dieser Vermittlungsprozess innerer 0atur vier Aspekte. Erstens ist die ‚Vitalform‘ stets Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen. Das Individuum „hat keinerlei Inhalt, der nicht gesellschaftlich konstituiert [wäre]“ Adorno , f . Zweitens vermitteln sich die allgemeinen )ormen allerdings stets im Konkreten und zwar in Konfrontation mit den unter den gesellschaftlichen Bedingungen jeweils individuell formierten 0aturanlagen in einem sozialisatorischen Prozess, welcher qua ‚mütterlicher‘ Praxis wiederum Ausdruck allgemeiner )ormen in individueller Praxis ist. Diese Vermittlung des Allgemeinen im Besonderen bereits in der Tiefe des Triebs bedeutet aber auch drittens, dass die gesellschaftlichen )ormen nicht unberührt bleiben. So hat das Individuum auch „keine über die Gesellschaft hinausgehende Regung, die nicht darauf gerichtet wäre, daß der gesellschaftliche Zustand über sich selber hinausgeht“ ebd., . Letztlich handelt es sich bei dieser Verankerung der allgemeinen gesellschaftlichen )ormen im Individuum nicht um einen bruchlosen Prozess. Ganz im Gegenteil bedeutet der Vermittlungs- und Konfrontationsprozess viertens Spannungen und Konflikte zwischen bereits formierten Anlagen und den Anforderungen der über die Beziehungsfiguren vermittelten gesellschaftlichen und herrschaftsförmigen Praxis. Die 0otwendigkeit der Durchsetzung der allgemeinen )ormen, um in
ڹMan denke hier z. B. an den Komplex Strampeln des Kindes im Mutterleib – Bauchstreicheln der Mutter – Beruhigung des Kindes oder an die Verankerung äußerer auditiver Reize. ‚ ںMutter‘ meint hier nicht nur die konkret leibliche Mutter, sondern alle, auch überfamiliäre Beziehungsfiguren. Deren Praxisformen sind nicht bloßer Abdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern stellen durch ihre eigene primäre wie sekundäre Sozialisation ebenso bereits ein vermitteltes Allgemeines im Besonderen dar. ڱڲDie Prozesse der Synaptogenese bzw. der neuronalen Engrammierung als psychophysischesoziale ‚)ußspur‘ der energetischen neuronalen Aktivität hat )reud bereits im Begriff der „Erinnerungsspur“ )reud b, vorweggenommen. Damit entmystifiziert sich auch der Begriff der Triebenergie, der auf die Beziehung physiologischer, neuronaler Erregung und deren Ausdruck im Psychischen, somit auf die physiopsychische Bias des Triebs hindeutet.
Michael Schüßler
den ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen ohne Devianz leben zu können, hinterlässt in der Tiefenstruktur des Subjekts 0arben und Beschädigungen. „Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können […]“ ebd., . Es sollte deutlich geworden sein, dass bereits die ‚Vitalform‘ keine allgemeine wesenshafte Voraussetzung darstellt, sondern als allgemeine )orm sich beim Subjekt immer in der Konfrontation spezifisch formierter 0aturanlagen und gesellschaftlicher Praxis als ein im Besonderen vermitteltes Allgemeines verankert. Plessner dagegen betrachtet die exzentrische Positionalität als Wesensbegriff gewissermaßen als angeborene, situative Befähigung Gesetztsein . Ihm entgeht damit das bereits vermittelte, schon unter herrschaftsförmigen, gesellschaftlichen Bedingungen jeweils individuell formierte Moment der 0aturbedingungen. Die Kategorie der exzentrischen Positionalität kann die Dialektik von 0atur und Gesellschaft bzw. Geschichte – und damit auch von Herrschaft – in dieser Tiefenstruktur, in der ‚Vitalform‘ wie auch in der Triebstruktur, nicht erfassen. „Leib sein, Körper haben“ ist nicht die alle Geschichte, alle Kultur bedingende, gar ontologische Existenzform des Menschen, sondern ist stets zu reflektieren als Ausdruck einer spezifischen Geschichte, nämlich der Herrschaft über 0atur auch als Herrschaft am Menschen: „Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper“ Horkheimer/Adorno , . Zugleich, indem sich widerstrebende 0atur in ihm erhält und alles Glück als zu erfahrenes an ihm gebunden ist, bleibt der Leib-Körper immer auch ein „nicht Aufgehendes“ Adorno a, .
Leib und Körper bei Theodor W. Adorno und Helmuth Plessner
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Michael Schüßler
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Thomas Ebke
„Das Leben weicht um eine Stufe zurück“. Der mimikröse Rest im Vitalen Man muss sich das biologische )atum der Spannerraupe als ein genuin tragisches vorstellen: Entgeht sie doch den Attacken ihres im nordamerikanischen und mitteleuropäischen Raum verbreitetsten )ressfeindes Xylodrepa quandripunctata, der „viergepunkteten Silphe“, zumeist nur so, dass sie „die Triebe der Sträucher, auf denen sie leb[t], so täuschend nach[ahmt], dass die Gärtner sie mit der Gartenschere abschneiden; der )all der Blattschrecken ist noch erbärmlicher, sie nagen sich gegenseitig an, da sie sich für Blätter halten“ Caillois , . Oder man nehme den )all der im Volksmund als „wandelnde Blätter“ bekannten Gespensterschrecken der Art Phyllium bioculatum, die, wo sie „durch die gleichzeitige Einbeziehung von )orm und )ärbung die vollkommene 0achahmung eines pflanzlichen oder mineralischen Bestandteils der Umgebung“ ebd., zur Schau stellen, auf bizarre Weise mit jenen anorganischen Stoffmassen verschwimmen, aus denen sie selbst sustentieren: Eine verstörende Homomorphie, die sich in der Regression des Insektenorganismus zu seiner eigenen 0ahrung als ein Kippbild enthüllt, worin die bloß veristische Deixis des Organischen und die Monstrosität eines „living death“ Brassier , ineinander ununterscheidbar umschlagen. 0icht genug damit, dass der surrealistische Anthropologe Roger Caillois, als er diese Gleichheitsmimesen in seinem Essay „Mimétisme et psychasthénie légendaire“ mitteilte, ihre Indifferenz gegenüber jenen gut darwinistischen Hypothesen unterstrich, die den minimalen Sinn jedes adaptiven Verhaltens an einer Tendenz zur Überlebenssicherung des sich anpassenden Lebewesens aufhängen Caillois , f; dazu Berz , . Die beunruhigende Pointe dieser Vorgänge liege gerade darin, dass sich die vermeintliche Schutzfunktion der Tarnung in „eine regelrechte Provokation zum Kannibalismus“ Caillois , ; Hervorhebung i.O. umzukehren scheine – so, als ob sich das stabilisierende Zusammenspiel von Variation und Selektion hier und da unvermittelt in den tödlichen „Luxus“ ebd. eines „kollektiven Masochismus“ ebd. übertreiben würde, der die Strategien des Überlebens in Einladungen an den Tod umspringen lässt. Als besonders problematisch erschien vielmehr Cailloisʼ nahtlose Ausweitung dieser )iguren der biologischen Mimikry auf eine „Psychologie der legendären Psychasthenie“ ebd., ; Hervorhebung i.O. : Handelt es sich nämlich bei den Homomorphien der Insekten insgesamt um Ekstasen, in denen „das Lebewesen, der Organismus, [...] nicht mehr de[n] Ursprung der Koordinaten, sondern ein[en] Punkt unter vielen“ ebd., ausmacht, so hält sich, Caillois zufolge, etwas von dieser entgrenzenden „Angleichung an den Raum“ ebd., bis in die psychopathologische Erfahrung schizophrener Patienten hinein durch, denen der sie umgebende Raum als „ein alles verschlingender Wille“ ebd., erscheint, der
Thomas Ebke
sie „umzingelt“ ebd., in sich hineinzieht.
und zuletzt in einer Art „gigantischen Phagozytose“ ebd.
Zuletzt nimmt [der Raum] ihre Stelle ein. Der Körper dissoziiert sich vom Denken, das Individuum überschreitet seine Körpergrenzen und besetzt die andere Seite seiner Sinne. [...] Mit dieser Angleichung an den Raum geht zwangläufig ein vermindertes Gefühl von Persönlichkeit und Lebenskraft einher. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass sich bei den mimetischen Arten das Phänomen stets nur in einer Richtung vollzieht: das Tier ahmt das Pflanzliche nach, Blatt, Blüte oder Dorn, und verbirgt oder vernachlässigt seine Lebensfunktionen. Das Leben weicht um eine Stufe zurück ebd., Hervorhebungen i.O.
0och anstößiger aber als der „biologische 0aturalismus“ Raulet , dieses ungeschützten Überstiegs vom Instinktverhalten der Insekten zu spezifisch menschlichen Psychen wirkte ohne Zweifel Cailloisʼ spekulative Identifizierung der biologischen Mimikry mit den magischen Praktiken archaisch-„primitiver“ Kulturen. Letztlich hat sich Caillois durch diese nicht endende Revertibilität der Biologisierung des Mythos und der mythischen Chiffrierung der 0atur dazu Eidelpes die wohl stechendste Kritik eingehandelt, die sein Mimikry-Theorem überhaupt je erfahren hat: Ausgerechnet von Seiten seiner über viele Jahrzehnte nahezu einzigen, sicherlich aber prominentesten Rezipienten seines Ansatzes in Deutschland, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Inzwischen ist wohlbekannt, über welchen geneaologischen Weg Horkheimer und Adorno Kenntnis von Cailloisʼ Grundgedanken genommen haben: Es war Walter Benjamin, der, in Paris mit Caillois, Bataille, Leiris und anderen Autoren aus dem Umfeld des Collège de sociologie in persönlichem Kontakt stehend, die Aufmerksamkeit der )rankfurter Kollegen auf die Kategorie der Mimikry gelenkt hatte siehe Palmier , . 0un erklärt sich aber Adornos ausgesprochen scharfe Invektive, wonach Caillois nichts weniger als einem „kryptofaschistischen
„ ڲSelbst wenn man das Problem des Totemismus beiseite lässt ... , bleibt der unermeßliche Bereich der mimetischen Magie, der zufolge Gleiches durch Gleiches erzeugt wird und auf der jede Beschwörungspraxis mehr oder weniger beruht. [...] Auf einen Punkt muss indes hingewiesen werden, auf die ... Korrespondenz zwischen den Prinzipien der Magie und denen der Ideenassoziation: dem Gesetz der Magie: die Dinge, die miteinander in Berührung gestanden haben, bleiben vereint, entspricht die Assoziation durch Kontiguität ... : Gleiches erzeugt Gleiches. Also regieren die gleichen Prinzipien hier die subjektive Assoziation der Ideen und dort die objektive Assoziation der Tatsachen; hier die absichtslosen ... Verknüpfungen der Gedanken und dort die kausalen Verknüpfungen der Dinge. Wesentlich ist, dass beim ‚Primitiven‘ eine gebieterische Tendenz zur 0achahmung fortbesteht, verbunden mit dem Glauben an die Wirksamkeit dieser 0achahmung ... “ Caillois , f; Hervorhebungen i.O. . Geble zufolge kommt bei Caillois „ein komparatives Verfahren zur Anwendung, bei dem ein reales Merkmal mimetischer Organismen entsprechenden Mythen und psychopathologischen Erscheinungen gegenübergestellt wird“ Geble , . ڳDer allerdings in späteren Jahren selbst auf Distanz zu seiner kühnen Hypothese einer radikalen Inskription der „Welt des Menschen“ Caillois , in die „Welt der Insekten“ ebd. gegangen ist, siehe Caillois , .
Der mimikröse Rest im Vitalen
0aturglauben“ Adorno/Benjamin , aufsitze, erst dann, wenn man sich vor Augen stellt, dass Cailloisʼ biologisierende Unterstellung eines integralen Hangs des Lebendigen, „sich gehen zu lassen, zurückzusinken in 0atur“ Horkheimer/Adorno , , nichts anderes als der Index jener historisch spezifischen regressiven Sehnsucht ist, auf deren „autoritäre[...] )reigabe [die] organisierte 0achahmung magischer Praktiken“ ebd., in den faschistischen Spektakeln hinzielt. Hatte sich gerade „[i]n der Verhärtung“ ebd., gegen die mimikröse „Anschmiegung“ ebd., des Organischen an die reine Exteriorität des Anorganischen „das Ich geschmiedet“ ebd., – um den Preis freilich, dass sich phylogenetisch genau in dieser nur vermeintlichen 0eutralisierung der Mimikry „die drohende 0atur [...] als [...] dauernde[r], organisierte[r] Zwang“ ebd. fortschreibt –, so setzt der faschistische Antisemitismus auf den kathartischen Genuss des Kollektivs an einer regressiven Entgrenzung in ein „magisches“ Stadium hinein, das zugleich immer nur aufgeschoben bleibt. Was Caillois also als Crux einer biologischen „Urgeschichte des Subjekts“ dazu )rüchtl , – erscheint, stellt sich Horkheimer und Adorno umgekehrt als das historische Symptom eines faschistischen Imaginären dar, das die in der „aufgeklärten“ bürgerlichen Gesellschaft „tabuierten mimetischen Züge“ Horkheimer/ Adorno , in einer Bewegung der „Mimesis der Mimesis“ ebd., entlädt und darin in antisemitische Aggression umlenkt. Obwohl mitunter auch lobende Töne in Horkheimers und Adornos Einschätzung von Caillois anklingen, ließen sich aus ihren Texten und Korrespondenzen noch zahlreiche Belege für die Diskreditierung seines Verständnisses der Mimikry akkumulieren siehe Hulatt . Dass diese scharfe Zurückweisung der Perspektive von Caillois womöglich gerade die Stornierung des „echt materialistischen Aspekts“ Adorno , der frühen Kritischen Theorie von der späteren ganz zu schweigen bedeutet hat Raulet , f , wäre eine für das Selbstverständnis der )rankfurter Schule brisante Diagnose. Aber vielleicht brächte eine Wiederholung der radikalen 0ichtkoinzidenz zwischen Mimikry und Mimesis mehr und anderes hervor als „materielle Rückhaltbestände der Kritik“ ebd., f , die dem Historischen Materialismus aus seiner Einbettung in eine 0aturgeschichte der Subjektivität zurückerstattet werden könnten. Was nämlich, wenn sich der Rückstieg hinter Horkheimers und
ڴMan denke an Adornos bekannte Herausstellung der „progressive[n] Seite“ von Cailloisʼ antidualistischer Annäherung an das Verhältnis „von Gesellschaft und 0atur“ sowie seines „Versuch[s], psychologische Tendenzen nicht auf das Bewusstseinsleben des autonomen Individuums, sondern auf reale somatische Tatbestände zurückzuführen“ Adorno , [alle Zitate] . Dazu Raulet , . ڵSiehe auch die in Raulet , zitierte Passage eines Briefes von Walter Benjamin an Horkheimer, die um die Anfälligkeit von Caillloisʼ „dialectique de servitude volontaire“ Benjamin , für die faschistischen )ührer- und Männerkulte kreist. Siehe ebenfalls die Protokolle der Diskussionen zwischen Horkheimer und Adorno zu den von Caillois gegebenen Anstößen Horkheimer , – , die eine Keimzelle der Ausführungen in der „Dialektik der Aufklärung“ darstellen.
Thomas Ebke
Adornos geschichtsphilosophische Dialektik der Mimesis nicht in der Wiederauszeichnung eines „mimetischen Vermögens“ Benjamin beruhigen würde, das zuletzt „eine alternative[...], anthropologische begründete[...] kritische Theorie“ Raulet , ; Hervorhebung i.O. fundieren könnte? Wenn es nicht nur darum ginge, die Geschichtsontologie der „Dialektik der Aufklärung“ auf ihr Ungedachtes eines „mimetischen Vermögens“ zurückzuverweisen, sondern auch darum, dieses „Vermögen“ wiederum mit seinem Ungedachten zu konfrontieren, nämlich mit der monströsen Eventualität, das Mimetische seinerseits vom Mimikrösen und das heißt letztlich: das Vitale vom Inerten, von der Exteriorität des Todes her zu entziffern? Insgesamt zielen meine Überlegungen auf das Experiment, die Differenz der Mimikry von der Mimesis einmal so umzubestimmen, dass dadurch ein Problem auffällt, das sowohl die Kritische Theorie als auch die Tradition der Philosophischen Anthropologie affiziert: Beide Traditionen nämlich kreuzen sich im axiomatischen Präjudiz eines immanenten Primats des Vitalen gegenüber dem Anorganischen, eines normativen Ausgangs vom Leben, als dessen verdecktes Double so etwas wie ein „mortalistischer Materialismus“ mitläuft. Während Horkheimer und Adorno – worauf ihre Variante eines immanenten Primats des Vitalen beruht – eine stillschweigende Subsumtion der Mimikry unter die Mimesis vollziehen, die ihrerseits den Schlüssel zum Topos eines reflexiven Eingedenkens der Vernunft an ihre eigene 0aturgeschichte enthält dazu Brassier , , ist in der Philosophischen Anthropologie, wie sich gerade bei Plessner verdeutlicht, das Lebendige als eine methodisch undurchstreichbare in diesem Sinne „letzte“ Instanz statuiert, die auf eigentümliche Weise den Versuch, aus der „kopernikanisch-galileischen Revolution“ Meillassoux , die radikale Konsequenz einer Ontologie der „Welt ohne Gebung der Welt“ ebd., zu ziehen, ebenso unmöglich macht wie sie ihn in sich präsent hält. Die Pointe dieser Detektion oder Dekonstruktion gewisser Bruchstellen in Texten der Philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie ist nicht im normativen Plädoyer für einen solchen Mortalismus zu sehen, für die antihumanistische Implikatur jenes „spekulativen Realismus“ Harman, Meillassoux, Brassier, z.T. Badiou also, der sich als massierte gegenwartsphilosophische Rehabilitation der neuzeitlichen „)ähigkeit der mathematisierten Wissenschaft“ Meillassoux , stilisiert, „eine vom Menschen abtrennbare Welt zu entwickeln“ ebd.; Hervorhebung i.O. . Eher soll an den Stachel eines solchen Inhumanismus erinnert werden, der die Denkbewegungen der Philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie allemal vorangetrieben hat; dass dieser Stachel hier wie dort in einigen der an ihm sich abarbeitenden begrifflichen und normativ-kritischen Operationen virulent geblieben ist, soll der wesentliche Hinweis sein, den die folgenden Überlegungen zu geben versuchen. Die Einsicht, dass der immanente Primat des Vitalen bei Plessner und in anderem )ormat bei Horkheimer und Adorno ein hierarchisierendes Postulat, eine veritable „décision philosophique“ Laruelle , bedeutet, ergibt kein Argument für das normative Recht oder auch nur die epistemologische Möglichkeit seiner Suspen-
Der mimikröse Rest im Vitalen
sion. Im Gegenteil: Gerade die Kritische Theorie und die Philosophische Anthropologie zeichnen sich prononciert als denkerische und theoriepolitische Bemühungen aus, den Zivilisationsverwerfungen des . Jahrhunderts zu wehren – und sei es im 0egativ eines reflexiven „Eingedenken[s] der 0atur im Subjekt“ Horkheimer/Adorno , . Umso dringlicher erscheint es aber genau daher, zum Thema zu machen, was dem immanenten Primat des Vitalen stets nur nach dem Maß eines normativen Ausschlusses äußerlich bleiben kann: das Moment einer „thanatropischen Regression“ dazu 0egarestani , f.
I.
Mimikry, Mimesis und mimetisches Vermögen: Korrosionen des „Zeitkerns“ der Aufklärung der Aufklärung bei Horkheimer/Adorno
Es fehlt nicht an differenzierten Inventuren des Konzepts der Mimesis, die eben nicht nur als ein „Zentralbegriff“ )rüchtl bei Adorno, sondern im Einzugsbereich der Kritischen Theorie überhaupt firmiert Schmid 0oerr , Huyssen , Thies , Geml , Hulatt , Raulet . Dabei ist das genuine Paradox dieser Kategorie zumindest für Adornos Denkbewegung nicht unbemerkt bleiben: Denn die scharf polemische Kennzeichnung von Cailloisʼ Thesen als ein regressiver Biologismus den Horkheimer und Adorno, wie gesagt, als manipulativen Effekt antisemitischer Ursprungsprojektionen lesen macht nur die eine Hälfte der Konjunktur des Mimesis-Begriffs bei Adorno aus; die zweite Hälfte leitet dann ganz im Gegenteil in „die Richtung eines Denkens, [...] das sein Objekt nicht durch Subsumtion unter Allgemeinbegriffe um seine Besonderheit bringt, sondern sich ihm anschmiegt, um das an sich Begriffslose gleichsam unverstellt dennoch zum Sprechen zu bringen“ Schmid 0oerr , . Am Gegenpol der in der Dialektik der Aufklärung vor Augen gestellten )atalität eines begrifflich-begreifenden „Denken[s], in dessen Zwangsmechanismus 0atur sich reflektiert und fortsetzt“ Horkheimer/Adorno , , scheint in der „0egativen Dialektik“ und a fortiori in der „Ästhetischen Theorie“ der Gestus einer „[m]imetische[n] Vernunft“ Schmid 0oerr , auf, die sich anschickt, „das Unrecht des das Besondere gleichmachenden, identifizierenden Begriffs wiedergutzumachen durch ein Sich-Gleichmachen der Begrifflichkeit gegenüber dem von ihr nur unzureichend Erfassten“ ebd., Hervorhebung i.O. . Merkwürdige Inversion einer ratio, der es – bekanntermaßen mit und im Begriff über den Begriff hinaus – gelingen soll, sich ihrem Gegenstand so „anzuschmiegen“ Adorno , , dass sie durch diese Mimesis der irreversiblen Gewalt inne wird, die diesem unvermeidlich im Akt seiner Identifizierung selbst hatte zugefügt werden müssen. Man sieht, dass diese reflexive Mimesis sich einen doppelten Unterschied
Thomas Ebke
vorbehalten muss: 0ämlich sowohl gegenüber der assimilatorischen „Anverwandlung“ des Gegenstands an den Begriff, deren Bewegung sie gleichsam gegen sich selber kehren müsste, wenn sie dadurch auch deren intrinsische Gewalt der „Gleichmachung“ nicht ungeschehen machen könnte, als auch gegenüber der inertia eines mimikrösen Zurücksinken ins Anorganische, „deren Überwindung das Kennzeichen aller Entwicklung ist“ Horkheimer/Adorno , . Demnach hätte also die konstellative Umwendung des dialektischen Begriffs, der die „Sache“ nur mehr in der Weise umkreisen soll, dass sie sich von sich selbst her zu „öffnen“ Adorno , , nämlich die in ihr „sedimentierte Geschichte“ ebd. ihrer identitären Zurichtung zu artikulieren vermag, ebenso einen Schritt hinter dem mimetischen Denken im „Totalitätsanspruch der Identität“ ebd. zurückzubleiben, wie die damit umrissene „0aturgeschichte“ der Subjektivität der regressiven 0aturalisierung im Zeichen der Mimikry stets einen Schritt voraus sein müsste. Anders gesagt: Um ein „Wissen“ ebd. ermöglichen zu können, das „Geschichte im Gegenstand zu entbinden“ vermag ebd. – die Geschichte der leidhaften, qua begrifflicher Aneignung erzwungenen Identifizierung dieses Gegenstands nämlich, die dieser „in sich aufspeichert“ ebd., – bedarf es, darin liegt das kritische Minimum, einer aktivischen Bestimmtheit von „identifizierendem“ Denken, das stets, und sei es durch einen verschwindend geringen Spalt, durch seine Differenz zum Anorganischen beginnt. Darum kommt es sehr wohl und emphatisch darauf an, Distinktionen zwischen den Begriffen der Mimesis, der Mimesis der Mimesis und der Mimikry garantieren zu können. Peter Geble hat aufgezeigt, dass im )ranzösischen, d.h. auch in den Arbeiten von Caillois, nicht etwa terminologisch von „Mimikry“ in Abhebung von „Mimesis“ die Rede ist Geble , . Vielmehr steht bei Caillois mimétisme, ein Terminus, der „Mimesis“ als im Sinne Darwins „vorteilhaftes“, adaptives Schutzverhalten und „Mimikry“ als einen gleichsam ruinösen Kurzschluss der Differenz zwischen Organismus und Umwelt, der den Aspekt des Schutzes in das Phänomen eines die Mechanik von Variation und Selektion unterminierenden Todestriebs umspringen lässt, zusammenführt ebd., f . Zu konstatieren, dass Horkheimer, Adorno und Benjamin – als Vermittler der Befunde von Caillois – die terminologisch strenge Abhebung
ڶHier unterbietet m.E. Schmid 0oerrs eine „Wiedergutmachung“ des „Unrechts“ evozierende Terminologie der Versöhnung Schmid 0oerr , die von Adorno exponierte Problemstellung. ڷDies durchkreuzt die Interpretation Josef )rüchtls, der aus dem „Doppelcharakter der Mimesis“ )rüchtl , , dem Ineinanderumschlagen der Herrschaft des Subjekts über die 0atur in seine Beherrschung durch 0atur, den Schluss zieht, es ließe sich „terminologisch nicht scharf zwischen ‚Mimikry‘ und ‚Mimesis‘ unterscheiden. ... Es wäre Begriffsspalterei, ‚Mimikry‘ allein auf die Seite von Entfremdung und Verdinglichung, Mimesis auf die Seite von Versöhnung zu stellen oder ihr allein den Doppelcharakter vorzubehalten“ ebd., f . ڸPeter Berz konterkariert in dieser Perspektive die „triadische“ darwinistische Auffassung einer biologischen Mimese, die Schutzfunktion besitzt und als solche „eine Konstellation von Vorbild und 0achahmer und, in der dritten Position, eines Signalempfängers“ Berz , besiegelt, mit dem
Der mimikröse Rest im Vitalen
der Mimesis von der Mimikry nicht durchhalten, sondern eine globale Rede von Mimesis in )ührung gehen lassen, worin sie die radikale Originalität der Mimikry verwischen, ist daher keine Beiläufigkeit. Im Gegenteil: „If organic mimicry reduces to adaptation, then it falls under the aegis of identity, and anthropological mimesis can be confidently contrasted to it as a harbinger of non-identity ... But this neat distinction is far from assured“ Brassier , . Der Angelpunkt der „Dialektik der Aufklärung“ ist in der Tat nicht Cailloisʼ spekulative Biologie, nicht sein Mythem der „Mimikry“, sondern Walter Benjamins Hinweis auf ein anthropologisch virulentes „mimetisches Vermögen“, wonach, wie es die berühmte zehnte )ußnote der zweiten )assung des „Kunstwerkaufsatzes“ formuliert, „[d]er 0achmachende [...] seine Sache nur scheinbar [macht]. Man kann auch sagen: er spielt die Sache“ Benjamin , [)n ]; siehe Raulet , . Der entscheidende Schritt, um den sich Horkheimers und Adornos Buch bewegt, ist gerade der Schritt einer Distanzierung heraus aus der spontaneistischen Mimikry hinein in einen minimalen Abstand gegenüber der reinen Regressivität anorganischer 0atur: „Unbeherrschte Mimesis [hier im Sinne von Mimikry, TE] wird verfemt“ Horkheimer/Adorno , . Unter der Hand recodieren Horkheimer und Adorno in diesen Passagen die Elemente, die Caillois in seinem Kippbild der Mimikry gewissermaßen miteinander vernäht. Denn sie führen eine dialektische Drehung ein, für die es in der Spekulation von Caillois keinen Platz gibt: Durch ein subtiles Gleiten der Perspektiven nämlich wechselt im 0arrativ der „Dialektik der Aufklärung“ die Darstellung der regressiven Mimikry in das Problem der Konstitution eines mit sich identischen den „blinden“ Identitätszwang kontinuierenden Subjekts um, das sich, wie es bei Horkheimer und Adorno heißt, gegen die „0atur“ in und außer sich „verhärtet“ ebd., . Hierauf zielen alle Richtungen der Argumentation der „Dialektik der Aufklärung“: Indem aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer 0atur sich nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte 0atur, zu der, wie Daphne, Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie 0atur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. [...] Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit gesetzt. [...] Die Gesellschaft setzt die drohende 0atur fort als den dauernden, organisierten
„dualen Dispositiv“ ebd. der Mimikry, das eine – von Caillois zur „0aturmagie“ stilisierte – Direktkommunikation, eine Art Kurzschließung „[z]wischen 0achahmer und 0achgeahmtem“ ebd. beschreibt. [„ ڹA]lle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion. Anstelle der leiblichen Angleichung an 0atur tritt die ,Rekognition im Begriff‘, die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches“ Horkheimer/Adorno , .
Thomas Ebke
Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die 0atur zurückschlägt als gesellschaftliche Herrschaft über die 0atur ebd., f.
Durch eine unmerkliche, weil von den Autoren verdeckte Umstellung kann die „Dialektik der Aufklärung“ ganz buchstäblich eine Geschichte entfalten, d.h. eine Bewegung in der Zeit, die nur dadurch aufbricht, dass die Inklination des Lebendigen zum Zerfall ins Anorganische als naturgeschichtlicher Ursprung der Distanznahme von der 0atur lesbar wird. Die sich nie herstellende Versenkung in die radikale Exteriorität oder Immanenz des Raumes ist selbst die erste Szene einer verzeitlichenden Distanz, eines dann nie vollziehbaren, sondern immer gegen sich selber umschlagenden „Heraustretens“ in temporale, geschichtliche, dann kulturelle Verhältnisse. In dieser Perspektive aber dynamisiert sich die Hypothese einer radikalen inertia im Lebendigen, das, folgt man Caillois, immer schon in vertikaler Auflösung begriffen ist siehe Caillois , : Horkheimer und Adorno lesen Cailloisʼ Kippbild der Selbstaufgabe des Lebendigen ans Unbelebte in einer neuen Volte gleichsam von der Seite des Todes in Richtung auf das Organische zurück – stellt doch die den 0aturzwang selbst iterierende Selbstversagung dieser im Sinne des fünften Abschnitts der „Elemente des Antisemitismus“ 0aturregression die Entstehungsszene für die Struktur von Subjektivität schlechthin dar. Die Konzeption Horkheimers und Adornos benötigt ein aktivisches Moment – mimetische Ekstase im spezifischen Unterschied zu mimikröser inertia –, und sie bedarf einer zeitlichen Koordinate gegenüber der reinen Exteriorität des Räumlichen, nicht nur, um ihre Geschichtsontologie der Verschlungenheit von Mythos und Aufklärung in Gang zu setzen, sondern auch, um ihrer Wendung einer Aufklärung der Aufklärung, die um die Geste eines reflexiven Eingedenkens der 0atur im Subjekt kreist, vordenken zu können. Wie das in der „Dialektik der Aufklärung“ auftauchende Diktum zu verstehen ist, wonach „[d]er herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen [nicht] die 0atur gefährlich“ Horkheimer/Adorno , sei, „mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern dass 0atur erinnert wird“ ebd. , hat im Grunde erst Adornos „0egative Dialektik“ konkretisiert: „0icht anders vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er verdrängte, der Mimesis, als indem er in seinen eigenen Verhaltensweisen etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren“ Adorno , . Ray Brassier dessen kritischem Impetus ich hier überhaupt folge ist in seiner Einschätzung vollkommen Recht zu geben, dass [s]uch remembrance would aim at inaugurating a ,second nature‘: a nature mediated by human history and reinvested with the full apparel of human socio-cultural significance. Second nature would be nature reflexively incorporated and internally memorized [...] Brassier , f
In der Tat umspielt die zentrale Gedankenfigur eines „Eingedenken[s] der 0atur im Subjekt“ Horkheimer/Adorno , die „Perspektive“ einer Gegengeschichte zur realhistorischen Perpetuierung menschlich-somatischen Leidens im fortschreitenden Prozess der Zivilisation. Vorgedacht wird einer Selbstbescheidung des Begriffs,
Der mimikröse Rest im Vitalen
„in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in 0atur zurücknimmt“ ebd., , wodurch „ihm der herrschaftliche Anspruch zergeht, der ihn gerade der 0atur versklavt“ ebd., f . Zumindest als )luchtpunkt ist damit negativ-dialektisch nichts weniger anvisiert als die Kittung des ontologischen Dualismus zwischen 0atur und Vernunft siehe Schmid 0oerr , und zugleich die )reisetzung einer dann nicht mehr in Beherrschung regredierenden „zweiten 0atur“ siehe auch Bernstein , , die das in den Dingen, wie Adorno schreibt, „aufgespeicherte“ Leiden reflexiv macht. Was man hervorheben muss, ist die Eminenz einer aktivischen Bewegung im doppelten Sinne: Denn nicht genug damit, dass Horkheimer und Adorno auf einer ersten Ebene die passivische Angleichung an die 0atur in die Distanznahme des Subjekts von der 0atur umwenden, also von einem „mimetischen Vermögen“ her denken, das nicht in Mimikry aufgeht; sie knüpfen vor allem auf einer zweiten Ebene auf der sich die Möglichkeit der Aufklärung der Aufklärung entscheidet an diese anthropologische Mimesis noch einmal an, insofern die Eventualität eines Begriffs in Aussicht gestellt wird, der die mimetische Bewegung gewissermaßen auf sich selber anwendet, um den Gegenstand mit dem kommunizieren zu lassen, „wovon der Begriff es trennte“ Adorno , . Es ist diese systematische Angewiesenheit der „Dialektik der Aufklärung“ wie der „0egativen Dialektik“ auf die Eigentümlichkeit der Mimesis im Unterschied zur Mimikry , die es rechtfertigt, von einem immanenten Primat des Vitalen bei Horkheimer und Adorno zu sprechen. Mit Brassier und Bernstein ließe sich reklamieren, dass eine „living/nonliving distinction“ Bernstein , die Geschichtsontologie der „Dialektik der Aufklärung“ und den Messianismus, der an ihrer Grenze aufscheint, von innen her propelliert. Umso dringlicher aber wird es dann, die axiomatische Bindung an Mimesis, die sich in einer stillschweigenden Suspendierung der Originalität der Mimikry vollzieht, erneut zu bedenken. Horkheimer und Adorno setzen also auf Benjamins „mimetisches Vermögen“ und damit, insofern schon Benjamins Konzept eine primordiale, ekstatische Leiblichkeit meint, auf einen immanenten Primat des Vitalen: mit der Pointe freilich, dass die Distanzierung des Subjekts von der 0atur, die immer auch dessen Rückverwicklung in 0atur signiert, den Stein der fatalen Dialektik einer permanent remythisierten Aufklärung ins Rollen bringt. Dieses Theorem unterstellt von Anbeginn ein Surplus im Verhältnis zur Mimikry, die von Caillois schlicht als Aufgehen in der reinen Exteriorität des Anorganischen, im Tod also, vorgeführt wird. Aber es fällt auf, dass aus dem
ںSiehe in direkter Auseinandersetzung mit Adorno und Horkheimer Dumbadze/Hesse , : „Dass die Selbstunterscheidung der 0atur, das sich Entgegensetzen eines Teils von ihr gegen einen anderen als seine Umwelt, überhaupt erfolgen kann, setzt bereits Geistigkeit voraus. Es ist dabei fragwürdig, ob alle Imitation durch Selbsterhaltung zu erklären ist oder ob es nicht auch solche Mimikry gibt, die einen nicht funktionalen und zuweilen sogar selbstzerstörerischen Überschuss aufweist“. Abgesehen von der übereilten Platzierung des Begriffs des Geistes zur Erläuterung der Selbstdifferen-
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Horizont der „Dialektik der Aufklärung“ nie ein genuiner Mortalismus verschwunden ist: Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, dass sie samt ihrem Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte Spur verschlänge der absolute Tod ebd., .
Tatsächlich ist es kein Zufall, dass diese Reflexion auf eine „Todesmetaphysik“ Adorno , bei Adorno – der wenige Sätze zuvor den Zivilisationsbruch Auschwitz evoziert – vom Ton eines „es kann nicht sein, was nicht sein darf“ nicht loskommt. Denn man darf den normativen Impuls der Strategie der „Dialektik der Aufklärung“ nicht verkennen: Was sich darin durchdringt und wechselseitig aufruft, sind eine „0aturgeschichte der Subjektivität“, die die realhistorische Genese der Barbarei ihrer Möglichkeit nach einsehbar macht, und ein normativer Appell, das Denken und die gesellschaftliche Praxis unter dem Leitgebot, dass sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe, einzurichten. „[D]ass sie [die Philosophie, TE] samt ihrem Zeitkern dauere“, ist darum nichts Geringeres als die conditio sine qua non und das innerste Postulat kritisch-theoretischer Dialektik: Es handelt sich im ganz literalen Sinn um eine Bewegung, um eine bereits an ihrem Ursprung als lebendig stipulierte Aktivität, deren ganze Voraussetzung darin liegt, geschichtspolitisch gegen die ontologische )undamentalisierung der „Herrschaft des Todes“ ebd. , d.h. einer rein spatialen Äußerlichkeit ohne geschichtlichen „Zeitkern“, anzudenken. „Aus den geschichtlichen Verschlingungen ist der Tod als solcher, oder als biologisches Urphänomen, nicht herauszuschälen“ Adorno , f , schreibt Adorno im Chor mit Horkheimer alias Heinrich Regius , „dazu ist das Individuum, das die Erfahrung des Todes trägt, viel zu sehr historische Kategorie“ ebd., : Und genau hier trifft man auf das irreduzible Axiom, auf jene „décision philosophique“ Laruelle also, welche die gesamte Anlage der „Dialektik der Aufklärung“ inklusive der Aufklärung dieser Aufklärung durchwaltet. Denn wie Ray Brassier gezeigt hat, bleiben die terminologische Verwischung der Mimikry zu Gunsten der Mimesis und die Serie anthropologischer Sublimierungen des mimetischen Impulses Brassier , nicht folgenlos für die deskriptiven und normativen Ansprüche der „Dialektik der Aufklärung“. Setzt man nämlich an Horkheimers und Adornos Einsicht an, wonach „Technik [...] die Anpassung ans Tote im
zierung des Lebendigen für die vielmehr die )ormierung einer Differenz von Subjekt und Organismus hinreichend ist, die nicht erst geistbegabte Lebewesen charakterisiert wenden die Autoren den Befund einer 0ichtkoinzidenz von Mimikry und Mimesis lediglich in das Bataillesche Programm einer Ästhetik des Exzesses, einer )reisetzung „unreglementierter Erfahrung“. Systematisch ginge es aber darum, die ontologischen Konsequenzen aus dieser Disparität zu ziehen, anstatt sie nurmehr ästhetisch zu stilisieren.
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Dienste der Selbsterhaltung“ Horkheimer/Adorno , so effektuiert, dass sie eine „Automatisierung der geistigen Prozesse“ ebd., f , d.h. deren „Umwandlung in blinde Abläufe“ ebd., erreicht, legt sich durchaus die Diagnose einer „return of mimicry within mimesis“ Brassier , nahe, „and the possibility that anthropological mimesis itself may be a mask of mimicry“ ebd. . Die Dialektisierung der Mimikry hin zur Immanenz eines „mimetischen Vermögens“ grenzt selbst ohne Unterlass an ihr Gegenbild: an das Szenario einer undialektischen Verschlingung des Organischen im Raum des Anorganischen nämlich und die Möglichkeit einer schrecklichen Vertauschung zwischen Maskenträger und Maskierung. Was nämlich gibt die Sicherheit, dass die „Mimesis ans Tote“ gerade nicht im Tod der Mimesis selbst ihrer Regression zur Mimikry , sondern in einer geschichtlichen, negativ-dialektischen Serie von Sublimationen kulminiert? Genau diese Garantie beziehen Horkheimer und Adorno aus dem immanenten Primat des Vitalen. Dass überhaupt Dialektik sei und nicht vielmehr nichts, entspringt einer stillschweigenden Eskamotierung der Mimikry unter der Mimesis, die den radikal regressiven Charakter des Mimikrösen neutralisiert. Tatsächlich aber – auch darauf verweist Brassier ebd. – gerät die )ormel der „Mimesis ans Tote“ immer schon in ein Abtriften zwischen dem genitivus obiectivus und dem genitivus subiectivus: So dass sich das Organische womöglich selbst als „Maske“, als Phänotyp des „absoluten Todes“ Adorno enthüllt, in das hinein sich das Lebendige, seinem „natürlichen Hang“ folgend, diffundiert, bis es zuletzt „die andere Seite seiner Sinne [besetzt]“ Caillois , . Die Pointe einer solchen Lektüre ist freilich, dass sich das von Caillois vor Augen gestellte Kippbild der Homomorphosen auch aus der Richtung des Anorganischen aufrollen lässt: Während man, von der Seite des Organischen her entziffert, immer schon die Voraussetzung der Möglichkeit von Geschichte qua mimetischem Vermögen trifft, ohne die das Denken zuletzt „ins Leere“ Adorno , liefe, hat man es am Pol des Anorganischen mit schierer Exteriorität zu tun, mit einem undialektischen horror vacui, worin es nicht einmal zum Anhieb einer mimetischen Bewegung kommen kann, kraft derer sich das Lebendige von der 0atur in und außer sich loshaken könnte. Es ist diese topologische Verschlingung von Geschichte, die die gesamte Reflexivität der „Dialektik der Aufklärung“ hysterisiert Brassier , und zugleich als ihr unausdenkbares Double immerfort an der Außenseite der Möglichkeit
ڱڲZumindest dann, wenn man die englische Übersetzung dieser )ormel als „mimesis of death“ verfolgt, deren Amphibolie nicht zufällig im deutschen Original von Anfang an entschärft ist: Ist doch in der „Mimesis ans Tote“ die Bewegungsrichtung von der Seite des Lebendigen hin zum Anorganischen festgelegt – immanenter Primat des Vitalen. ڲڲBrassiers Inversion der Differenz zwischen Mimikry und Mimesis beruht selbst auf einer im problematischen Sinne spekulativen Axiomatik, nämlich auf dem Versuch einer kosmologischen )undamentalisierung von )reuds Todestrieb als einer „thanatropischen Regression“ siehe 0egarestani , f . Brassier, der von Sellarsʼ These einer Schere zwischen dem „manifest image“ und dem
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einer Aufklärung der Aufklärung wiederkehrt. Die Automatisierung gesellschaftlicher Praktiken und des kommunikativen Verhaltens, die Implementation kybernetischer Regime in den technischen und wissenschaftlichen Rationalitäten, die sich immer weiter radikalisierende Virtualisierung eines Kapitalismus ohne materiale Substrate: All diese Tendenzen würden zuletzt als Symptome einer „thanatropischen Regression“, d.h. jener spatialen Externalisierung der geschichtlichen Zeit des Lebens lesbar und nicht als dialektische „Verschlingungen“ Horkheimer/Adorno , die stets, in welch gebrochener )orm auch immer, den )luchtpunkt einer Erlösung aus ihnen aufreißen. Ob und wie eine solche „thanatropische“ Deutung der Krise der Aufklärung philosophisch haltbar sein kann, steht auf einem anderen Blatt: 0icht um die Zurückweisung der in einem immanenten Primat des Vitalen liegenden „décision philosophique“ handelt es sich hier, sondern um Gedanken über jenen 0ihilismus, gegen den sich ein solcher Primat, erst recht im Angesicht von , mit guten Gründen formiert hat. Diese Justierung der Perspektive leitet auch die folgenden Betrachtungen zur Philosophischen Anthropologie.
II.
Die Welt des Lebens und die Welt danach: Der Mortalismus der Philosophischen Anthropologie
Die )ormel von einem „immanenten Primat des Vitalen“ lässt sich der Philosophischen Anthropologie umstandsloser zuschreiben als der Kritischen Theorie. Hier
„scientific image“ Sellars der Position des Menschen ausgeht, argumentiert für eine ontologische Totalisierung des im „scientific image“ artikulierten nomologisch-deduktiven Realismus, der die phänomenologische Selbstbeschreibung des Menschen gleichsam storniert. Brassiers Strategie gilt dem Versuch „to affirm the irreducible reality of physical death along with the autonomy of absolute space-time as identity of difference and indifference, life and death though [...] this identity should be understood non-dialectically “ Brassier , . Auf diesem Weg entwirft er das Programm eines spekulativen Realismus, der an der Suspendierung ontologischer Synthesen von Denken und Sein interessiert ist ebd., , um alternativ „the inevitable truth of extinction as the apotheosis of the enlightenmentʼs project of disenchantment“ 0egarestani , inaugurieren zu können. Dieser 0ihilismus – wie Brassier sein Projekt selbst apostrophiert – lässt jedoch die )rage nach den möglichen Agenten und Instanzen einer solchen „0ichtung“ ungelöst: Anders als bei Hegel sieht der spekulative Realismus keine Vermittlung zwischen endlicher Subjektivität und dem Selbstdenken des Logos des Unendlichen vor. Brassiers im Anschluss an Badiou unternommene Entphänomenologisierung der Ontologie macht es notwendig, den Begriff der Wahrheit vom Begriff der Bedeutung in seinen aristotelischen und phänomenologischen Varianten abzukoppeln, was Brassier jedoch nicht leistet – nicht zuletzt deshalb, weil es sich dabei um ein reichlich unplausibles Manöver handeln würde.
Der mimikröse Rest im Vitalen
schlüsselt sich diese Redeweise auf, wenn man an die diskrete Subsumierung der Mimikry unter ein „mimetisches Vermögen“ denkt, das den „Zeitkern“ Adorno dialektischer Geschichtlichkeit überhaupt möglich macht; dort, wenn man sich etwa auf Plessners an Dilthey geschulte Einsicht besinnt, wonach „Lebendiges sich von der Struktur seiner Lebendigkeit her begreift“ , und zwar geschichtlich, in einem „Umbrechen des Blickes“ Plessner , , um sich „als vergangenes und gewordenes zu entdecken“ ebd. . Ein derart lebendiges Wissen des Lebens Ebke hängt klarerweise an der )rage nach jenen Lebewesen, denen ihre spezifische Stellung „im“ Leben zugleich eine reflexive Drehung möglich macht, um sich selbst erst als lebendige Wesen adressieren zu können. Wenn schon bei Scheler der Ort des Menschen ein immanenter, intern in der Stufung des organischen Lebens angesiedelter ist, so ist bei ihm noch die These leitend, dass in dieser Immanenz zugleich ein „jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip“ Scheler , f; Hervorhebung i.O. durchschlägt, das die vitalen Dränge gleichsam „aushängen“, sie zu suspendieren und spezifisch zum Einsatz zu bringen vermag. An diese )iguration des „Geistes“, die den Menschen als einen „0einsagenkönner“ bestimmt, knüpft Plessner Plessner an, so aber, dass er die von Scheler damit zu einem Dualismus fixierte Differenz von Leben und Geist als antagonistische „Prinzipien“ gleichsam im Leben selbst aufbrechen lässt: Indem er in der immanenten Welt des Organischen jene Bruchstelle einkreist, an der Lebendiges mehr und anderes aufweisen muss als vitale Spontaneität, nämlich Geist, um seine eigene Lebendigkeit und die anderer Wesen objektivieren zu können. Mit Blick auf diese Denkfiguren hat es sich in der )orschung eingebürgert, von einem „vital turn“ Ebke , )ischer zu sprechen: 0ichts anderes als ein Synonym dafür ist, bezogen auf die Philosophische Anthropologie, der Topos des immanenten Primats des Vitalen. Obwohl es seinen Reiz hat, auch die Philosophische Anthropologie auf ihre mögliche Obliteration der Mimikry zu Gunsten des mimetischen Verhaltens zu befragen z.B. Plessner a, ; siehe auch Krüger , Lerch , liegt in diesem Begriffspaar – anders als bei Horkheimer und Adorno – nicht der entscheidende Hebel, um die Virulenz eines mimikrösen Rests und damit die Grenze ihres immanenten Primats des Vitalen sichtbar machen zu können. Vielmehr scheint der Horror der thanatropischen Regression an den Rändern der eigentlichen Kernbegriffe der Philosophischen Anthropologie, nämlich zugleich am Konzept der Welt und in der Vokabel der exzentrischen Positionalität, durch: Was man sich präsent halten muss, ist, dass die Denker der Philosophischen Anthropologie, darin den Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ geistesverwandt, eine normative Axiomatik aufbieten, mit der sie gegen den „Verlust [...] jeglicher ontologischer Hierarchisierung der Orte“ Meillassoux , von „Welt“, also gegen die Absolutsetzung genau
ڳڲDies ist eine )ormulierung von Sebastian Edinger aus seinem in diesem Band enthaltenen Aufsatz, .
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dessen, was Sellars das „scientific image“ nannte, anschreiben. Auch wenn die Philosophische Anthropologie die Dezentrierung des anthropos gerade bejaht, insofern sie „anthropologische Kategorien als Umbruchbegriffe des Vitalen“ )ischer , ; Hervorhebung i.O. umbestimmt, so ist doch „Leben“ der, wenngleich refraktierte, so doch uneliminierbare Blickpunkt, von dem aus und auf den hin „Welt“ objektiviert werden kann. Anders gesagt: Es ist der Philosophischen Anthropologie methodisch und ontologisch unmöglich, das Leben aus der Gleichung zu nehmen, wo es darum geht, einen Diskurs über die Totalität der Welt zu führen. Und es ist angebracht, hier ein weiteres Mal die normative Disposition eines Paradigmas zu vermerken, das schon in der Wahl seines Gegenstands und der Methode seiner Erschließung eine „décision philosophique“ für das Leben und gegen dessen „kopernikanisch-galileische Exzentrierung“ Meillassoux , ; Hervorhebung i.O. fällt. Der Punkt, der bei alledem nun gesteigertes Interesse verdient, besteht darin, dass im Profil der Philosophischen Anthropologie die Sicherung dieses unverwischbaren Ausgangs vom Leben nicht ohne Risse von statten geht. Hier ist es zunächst interessant, mit Peter Berz daran zu erinnern, dass sich die philosophisch-anthropologische „Theorie des tierischen Ausdrucks“ Berz , ; Hervorhebung i.O. in den er Jahren bei Buytendijk, Plessner, Scheler und Portmann mit einer merkwürdigen Alternative zu jener Phänomenologie der „Kundgabe“ Portmann , konfrontiert gesehen hat: „Die )rage ist nämlich, ob das, was uns sichtbar ist, auch von anderen Wesen der gleichen Art und Gattung oder entfernterer Gattungen, Stämme, Ordnungen gesehen wird“ Berz , ; Hervorhebung i.O. . Hier bricht das Problem einer Asynchronizität zwischen „[d]er Evolution im Sichtbaren und [der] Evolution durch Sichtbarkeit“ ebd. auf, das zumindest Portmann, so Berz, vorübergehend zu einer „Theorie der unadressierten Erscheinung“ ebd., ; Hervorhebung i.O. veranlasst hat, die nicht auf einem phänomenologischen Zusammenhang „des Angeschaut-Werdens und Zu-Sehen-Gebens“ ebd. zulaufe. Tatsächlich aber lässt dieses Bruchstück einer Biologie des Opaken, die sich letztlich nicht als Paradigma der „philosophischen Biologie“ im Herzen der Philosophischen Anthropologie hat durchsetzen können, deren ureigene Weichenstellung umso besser hervortreten: Insbesondere bei Plessner ist die Verständigung darüber, worin „Leben“ besteht, intrinsisch an die Struktur einer Adressierung und diese wiederum an die Irreduzibilität einer Organismus-Umwelt-Korrelation geknüpft. Die )rage danach, als was sich ein spezifisches Lebewesen selbst erscheinen kann und als was es Entitäten in seiner Umgebung adressiert – ob es sich beispielsweise auf die Lebendigkeit des eigenen Körpers und des Körpers anderer Lebenserscheinungen versteht –, kann wiederum nur rekursiv von der jeweiligen Reflexivität der Grenzrealisierung dieses Lebewesens her auf-
ڴڲSiehe exemplarisch Brassier , XI: „Thinking has interests that do not coincide with those of the living; indeed, they can and have been pitted against the latter“.
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gelöst werden: Insofern „geht jener Blick, der Lebendiges als Lebendiges unterscheiden kann, auf eine ihrerseits lebendige Instanz zurück, die auf distinkte Weise in ihre Umwelt und in sich selbst eingelassen sein muss“ Ebke , . Wer oder was einem x erscheinen kann und in welcher Gegebenheitsweise, entscheidet sich an der jeweiligen Ausprägung der Struktur des „In-sich-Gesetzt-Seins“, d.h. der Positionalität dieses x. Die affektiv geladene „Merksphäre und Wirkungssphäre“ Plessner , f f ist das Korrelat der zentrischen Positionsform; die exzentrische Positionalität korreliert im Unterschied zu jeder Bindung an Umwelten mit „Welt“, die sich selbst wiederum in der Triplizität von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt eröffnet ebd., f . Bekanntlich lässt erst diese Exteriorisierung der lebendigen Person in eine Äußerlichkeit ihrer selbst, in der sie sich „wahrhaft auf 0ichts gestellt“ ebd. findet, eine Totalisierung von eigenem und fremdem, bzw. genauer: qua fremdem „Leben“ zu, mit der bei Plessner schlagenden Konsequenz eines „Umbruchs“ biologischer Spontaneität in den Modus des Geschichtlichen und 0atürlich-Künstlichen, gleichwohl „ohne die Zentrierung durchbrechen zu können“ ebd., . Deshalb muss man sorgfältig zeigen, was ein „immanenter Primat des Vitalen“ für die Philosophische Anthropologie heißt: Dezidiert nicht gemeint ist eine Immanenz im Biologischen – eine solche Auffassung unterliegt dem Kategorienfehler, die Positionalitätsform mit der Organisationsform des Lebendigen gleichzusetzen. Aber durchaus vertritt Plessner die These, dass sich nur von einem der spezifischen „Logik“ der Positionalität noch zugehörigen Ort oder Blickpunkt aus zur Ansicht bringen lässt, was Leben konstitutiv auszeichnet, nämlich Grenzrealisierung. Und so sehr dieser Blickpunkt nur einem Lebewesen offensteht, das dem immanent biologischen Radius von Leben immer schon entglitten ist, so sehr erfasst dieses Lebewesen in diesem Dreh hin zur Geschichtlichkeit und Vermitteltheit seine besondere prekäre Weise der Partizipation am Leben. Dann aber liegt das nicht hinterschreitbare movens jeglichen ontologischen Zugangs der Philosophischen Anthropologie tatsächlich in der Korrelation zwischen einem „nicht mehr objektivierbare[n], nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende[n] Subjektpol“ ebd., und der „Welt“ als Totalität, die nur von einem solchen „,hinter sich‘ liegenden )luchtpunkt“ ebd. aus thematisch werden kann. In die )rage nach der Welt findet sich immer schon die Instanz eingeschaltet, der überhaupt Welt in Differenz zu der unendlichen Modulierbarkeit von Umwelten gegeben sein kann. Ein solches Denkverfahren hat Quentin Meillassoux als „Korrelationismus“ problematisiert: Seit Kant ist bekanntlich ein Diskurs über die Dinge an sich außerhalb der Bindung an ein synthetisches Bewusstsein, dem gegenständliches Seiendes phänomenal erscheint, nicht länger zulässig, wobei sich zwischen einer agnostizistischen Kant und einer skeptizistischen Spielart dieses Korrelationismus unterscheiden lässt, die keinerlei Postulierung einer bewusstseinsunabhängigen Realität akzeptiert. Diesem transzendental-phänomenologischen Dispositiv nachmetaphysischen Philosophierens gegenüber versucht sich Meillassoux am 0achweis der Möglichkeit, „eine menschenleere Welt zu beschreiben, eine Welt geformt von Dingen
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und Ereignissen, die keiner Manifestation korrelieren, eine Welt, die einer Beziehung zur Welt nicht-korreliert" Meillassoux , . An diesem Punkt ist es entscheidend, Meillassouxʼ polemische Diagnose eines „philosophische[n] Ptolemäismus“ ebd., ; Hervorhebung i.O. als Effekt und Pendant des neuzeitlichen „wissenschaftlichen Kopernikanismus“ ebd.; Hervorhebung i.O. mit der genuinen Konzeption von „Welt“ in der Philosophischen Anthropologie zu konfrontieren. Aus Sicht von Meillassoux hat „[d]ie Tatsache der wissenschaftlichen Exzentrierung des Denkens der Welt gegenüber [...] die Philosophie [veranlasst], diese Exzentrierung in der Weise einer [...] Zentrierung des Denkens derselben Welt gegenüber zu denken“ ebd. : Weshalb Kants „kopernikanische Revolution“ ironischerweise die eigentlich „ptolemäische Konterrevolution in der Philosophie“ ebd., ; Hervorhebung i.O. in Reaktion auf die ontologische Dehierarchisierung der neuzeitlichen mathesis darstelle. Die Einsatzstelle der Philosophischen Anthropologie in dieser Diskussion wäre demgegenüber aber wohl Hannah Arendts Gedanke, dass die kopernikanisch-galileische Exzentrierung ihrerseits das Symptom einer „innerweltliche[n] Weltentfremdung“ Arendt , markiert, wonach „jede Verringerung von Entfernung auf der Erde [...] nur um den Preis einer vergrößerten Entfernung des Menschen von der Erde gewonnen werden [kann]“ ebd., ; Hervorhebung i.O. . Während Meillassoux seine Semantik der „Welt“ nicht zufällig einem selber weltlosen, puristischen Diskurs der mathesis überlässt und zugleich das Problem hat, diese „intellektuelle Anschauung“ nur in Instanzen endlichen Denkens und subjektiven Trägern gründen zu können, siehe Meillassoux , , ist der Weltbegriff der Philosophischen Anthropologie mundan konfiguriert: Welt als ein radikaler Leerraum, als noch nicht oder nicht mehr begrenzte Äußerlichkeit ist bei Plessner stets als eine Sphäre des Lebensvollzugs konkreter Personen gedacht, nicht als kosmologisch verabsolutierte Totalität, die sich nur unter Ausschluss der )rage nach menschlichem Leben denken ließe. Und doch ist es so, dass das Projekt eines spekulativen Realismus Meilassoux, Brassier eine gewisse Amphibolie in der Denkungsart der Philosophischen Anthropologie hervortreibt: Denn es ist keineswegs zu vernachlässigen, dass die Termini der „Welt“ und der „Exzentrizität“ des Menschen in gewisser Weise der Begriffswelt der galileisch-kopernikanischen Revolution „entwendet“ hier im Sinne von Lindner sind: Was nämlich Plessner in der Tat bis ins Äußerste auszieht, ist die )luchtlinie einer immer möglichen Entkörperung und eines irreversiblen Selbstverlusts der ڵڲUnd zwar, was hier im Detail nicht verfolgt werden kann, auf dem Badiouschen Weg „der mathematischen Denkbarkeit der Enttotalisierung des Seins-als Sein“ Meillassoux , ; Hervorhebung i.O. . Durch eine ontologische )undamentalisierung von Cantors Theorem der transfiniten Induktion beansprucht Meillassoux, folgende These vindizieren zu können: „Es ist notwendig, dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, weil es notwendigerweise kontingent ist, dass es etwas gibt und nicht irgendetwas anderes. Die 0otwendigkeit der Kontingenz des Seienden erzwingt die notwendige Existenz des kontingent Seienden“ ebd., ; Hervorhebung i.O. .
Der mimikröse Rest im Vitalen
Person, die stets Gefahr läuft, aus ihrer Exzentrizität nicht wieder „zurückkehren“ zu können dazu Plessner , . Aus diesem Grund ist es eine gute Beobachtung Antje Kapusts, dass das „in der Rollenhaftigkeit latente Spielelement“ Plessner b, , das es „einer Person [erlaubt], eine andere zu sein“ ebd. , nicht vor dem Umkippen in „Dissoziationen“ Kapust , ; Hervorhebung i.O. und d.h. letztlich: vor der Regression in Mimikry ebd., gefeit ist. Indem Plessner die Äußerlichkeit der Person ihr/sich selbst gegenüber nicht als Zug ihrer Entfremdung wertet, sondern als irreduziblen Ausdruck personalen Lebens expliziert, erreicht seine Anthropologie eine 0ahtlinie, an der Spontaneisierung und Automatisierung so gleichursprünglich sind, dass auch hier das Leben nie aufhört, „an Boden zu verlieren, im Rückzug die Grenze zwischen Organismus und Umgebung zu verwischen und [...] die Grenzen hinauszurücken, innerhalb derer wir [...] erkennen, [...] dass die Natur überall die gleiche ist“ Caillois , ; Hervorhebung i.O. . Auch bei Plessner also, wie im )all von Horkheimer und Adorno, läuft der immanente Primat des Vitalen Gefahr, sich selbst zu paradoxalisieren. 0irgends hat Plessner sich diesen Konsequenzen rigoroser ausgesetzt als in seiner Schrift „Macht und menschliche 0atur“, wo er in direkter Stützung auf )reuds Aufsatz über „Das Unheimliche“ den Gedanken radikalisiert, dass „das )remde nicht bloß ein Anderes“ Plessner , markiere, sondern „das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere“ ebd. . Unter dieser Perspektive aber bricht die lebensimmanente Selbstbeziehung des Menschen der Person im Medium des Leibes gleichsam fort, um einer merkwürdigen Macht des Anorganischen im Menschen Platz zu machen: So als das Andere seiner selbst auch er selbst ist der Mensch ein Ding, ein Körper, ein Seiender unter Seienden, welches auf der Erde vorkommt, eine Größe der 0atur, ihren Schwerkrafts- und )allgesetzen, ihren Wachstums- und Vererbungsgesetzen wie ein Stück Vieh unterworfen [...] Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert ebd., bzw. ; Hervorhebung i.O.
Hier gräbt auch Plessner einen mimikrösen Rest im Vitalen auf: Im Gegenlauf zu seiner zentrifugalen Ethik, dem Leben Räume und Zeiten aufzulassen, um sich aus sich selbst heraus begrenzen zu können, ist synchron und diachron immer schon eine zentripetale Krise am Werk, die das menschliche Leben „durchgegeben“ sein lässt auf eine restlos enthierarchisierte Topologie, die es in der Indifferenz reiner Körper mitverschwinden lässt. Wenn dann, in Plessners Worten, „die )remdheit leise im Pflanzlichen, vernehmlicher im Tierischen Boden gewinnt, um schließlich im
ڶڲIm Unterschied gerade zur Tradition nach Lukács, siehe dazu die luziden Überlegungen von Joachim )ischer in seinem Aufsatz in diesem Band.
Thomas Ebke
Menschlichen auch noch für den aufgeklärten Menschen ihre letzte Domäne zu bekommen – und korrelativ dazu in dem rätselvollen Anblick des Universums“ ebd., – so liest sich das nicht mehr wie eine Alternative, sondern eher wie ein Echo zu Cailloisʼ fasziniertem Grauen einer Entstrukturierung anthropologischer Geschichte, worin „das menschliche Denken von der Angst heimgesucht [wird], vom Albtraum der Ewigen Wiederkehr, von der Drohung eines zirkulären Werdens, wo alles ohne )ortschritt und Ende immer wieder von neuem beginnt“ Caillois , . Diesem horror vacui einer thanatropischen Regression, der den Generationen der er und - er Jahren wohl kaum „spekulativ“ erschienen ist, haben die Philosophische Anthropologie und die Kritische Theorie eine Axiomatik und zugleich eine Axiologie entgegengehalten, in der sich ihre Wege momentweise überlagert haben: einen immanenten Primat des Vitalen.
Der mimikröse Rest im Vitalen
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Christine Zunke
Natur als Herrschaftsmythos Ein Mythos ist eine „identitätsstiftende Vorzeitüberlieferung eines Volkes über dessen Geschichte und Götter Wikipedia . . . Als identitätsstiftend erfüllt der Mythos – insbesondere als Schöpfungs-, Entstehungs- oder Gründungsmythos – zugleich eine herrschaftslegitimierende )unktion. Der spezifische Mythos der apersonalen Herrschaftsform des Kapitalismus besagt, dass die Gesetzmäßigkeit, welche die bürgerliche Gesellschaft und ihre Subjekte formiert, ein 0aturgesetz sei. Indem die ökonomischen Verhältnisse der Dinge zueinander als Sachzwänge erkannt werden, sind die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen dingliche, also durch heteronome Gesetze bestimmte Verhältnisse; diese werden analog zu den physikalischen Verhältnissen zwischen Dingen als 0aturgesetze vorgestellt. Diese Vorstellung wird als Ideologie wesentlich getragen und erzeugt durch eine positivistische Wissenschaft, durch ihre erkenntnistheoretischen Prämissen und ihren Begriff von Objektivität. Im )olgenden wird aufgezeigt, wie und warum 0atur über den positivistischen Anspruch an Objektivität, abgetrennt von aller subjektiver Bestimmung zu sein, eine mythische, identitätsstiftende Qualität erlangt. Hierüber erweist sich ein erkenntnistheoretisches Ideal der interesselosen Objektivität als spezifisch kapitalistische Ideologie, welche in einer biologisch fundierten Anthropologie ihren adäquaten Ausdruck hat.
I.
Naturalisierung der Konkurrenz
Es zeigt sich schon früh, dass im bürgerlichen Bewusstsein das Wirken apersonaler kapitalistischer Mechanismen als spezifische 0atur des Menschen übersetzt wird. Beispielsweise wird im „Leviathan von Thomas Hobbes die gnadenlose Konkurrenz der Privateigentümer gegeneinander als anthropologische Konstante beschrieben. Im inhaltslosen und darum abstrakten Streben des Menschen nach mehr Macht verlegt Hobbes die ewig hungrige Bewegung des automatischen Subjekts‘ zur Verwertung des Wertes zu mehr Wert in die subjektive, ur-psychische Konstitution des Menschen – und findet sie empirisch auch tatsächlich im )ühlen, Tun und Denken seiner Zeitgenossen wieder. Mit Darwins Evolutionstheorie bekam die 0aturalisierung der bürgerlichen Konkurrenzsubjekte dann eine scheinbar hinreichende Begründung, indem eine allgemeine Konkurrenz in der gesamten belebten 0atur als Motor der Evolution spekulativ gesetzt wurde. Hierüber schrieb Engels in einem Brief an Lawrow: Die ganze darwinistische Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre [...] der bürgerlich-ökonomischen [...] Konkurrenz, nebst der Malthusschen Be-
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völkerungstheorie, aus der Gesellschaft in die belebte 0atur. 0achdem man dies Kunststück fertiggebracht [...], so rücküberträgt man dieselben Theorien aus der organischen 0atur wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit als ewige Gesetze der menschlichen Gesellschaft nachgewiesen. Die Kindlichkeit dieser Prozedur springt in die Augen, man braucht kein Wort darüber zu verlieren. Engels ,
Mit dem letzten Satz hat Engels sich fatal geirrt. Dass die allgemeine Konkurrenz des struggle for life sich einer Projektion kapitalistischer ökonomischer Prinzipien auf die 0atur verdankt und dass Darwin hierfür nicht nur Hobbes und Malthus, sondern auch Smith und Ricardo studierte, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Daher bleibt auch die Rückprojektion dieses Prinzips von der 0atur auf die Gesellschaft unwidersprochen und aus einem ökonomischen Prinzip wurde ein natürliches. Ihre Kindlichkeit hat diese Prozedur dabei längst verloren. Die Dynamik von Mangel an Ressourcen und Konkurrenz hat heute den Rang einer 0aturkonstante des Lebendigen erlangt; darum wirke sie unhinterfragt auch im Menschen und seiner Gesellschaft. Ohne um die ökonomische Analogie zu wissen, auf der Darwin seine Theorie baute, konnte Adorno darum feststellen: „Die ganz angepaßte Gesellschaft ist, woran ihr Begriff geistesgeschichtlich mahnt: bloße darwinistische 0aturgeschichte. Sie prämiiert das survival of the fittest. Adorno a,
II.
Evolutionäre Erkenntnistheorie
Zu dieser ,ganz angepaßten Gesellschaftʻ gehört selbstredend auch eine Wissenschaftstheorie, die ihren eigenen Erkenntnisfortschritt sowohl als wie aus der Anpassung unseres Denkens an die 0atur erklärt. Als 0SDAP-Mitglied Konrad Lorenz den Kant-Lehrstuhl in Königsberg als 0achfolger seines Parteifreundes Arnold Gehlen übernahm, hielt er eine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie . In diesem Vortrag legte er dar, dass das bei Kant auf notwendigen Vernunftbegriffen a priori basierende Erkennntisvermögen des Menschen sich, im Lichte der Evolutionstheorie betrachtet, als ein naturgeschichtlich genetisch herausgebildeter Erkenntnisapparat erweise. So wie die )losse des )isches eine Anpassung an das Wasser sei, so seien unsere Kategorien, Logik und Begriffe gedankliche Anpassungen an die uns umgebende Welt. Die später hieraus begründete evolutionäre Erkenntnistheorie hat über Karl Popper bis zu Humberto Maturana bedeutende Verfechter, die für die Beantwortung der )rage nach den ermöglichenden Bedingungen ihrer Erkenntnis keine transzendentale Reflexion mehr bemühen müssen, sondern auf den 0aturmechanismus von Konkurrenz und Anpassung verweisen können. So kann dann auch Quine in Bezug auf das Induktionsproblem schreiben:
0atur als Herrschaftsmythos
Darwin wirft ein wenig Licht ins Dunkel. Wenn die angeborene Qualitätengliederung der Menschen ein in den Genen verankerter Wesenszug ist, dann wird am ehesten die Gliederung, die die erfolgreichsten Induktionen geleistet hat, durch natürliche Selektion dominiert haben. Kreaturen die in ihren Induktionen permanent falsch liegen, haben eine tragische, aber lobenswerte Tendenz, zugrunde zu gehen, bevor sie ihre Art reproduzieren. Quine ,
Erfolg tritt an die Stelle von Wahrheit; das Qualitätsmanagement der 0atur garantiert das Gelingen von Wissenschaft. Da die Struktur des Erkennens sich in der Konkurrenz als erfolgreich herausgebildet habe, seien )ragen nach der Wahrheit logischer Grundsätze oder der 0otwendigkeit und Allgemeinheit erkannter Gesetze weder möglich noch nötig. Intuition und Bauchgefühl bildeten als vorbewusste Leistung des ratiomorphen Apparates die natürliche Grundlage der )ähigkeit des Menschen zur Wissenschaft. Vernunft ist somit nicht länger, wie noch bei Kant, bestimmt als allgemeines Erkenntnisvermögen, das die mannigfaltigen Erkenntnisse durch Begriffe a priori unter eine systematische Einheit fasst – und in diesem Sinne von jedem vernünftigen Wesen geteilt wird, ob Mensch, Engel oder Alien. Vgl. Kant , ff Vernunft wird in der Biologisierung im Gegenteil zu einem spezifischen Anpassungsvorteil der Spezies Mensch und ist damit nicht länger begrifflich notwendig und allgemein, sondern bloß zufällig zweckmäßig. So wurde Hegels Anspruch an die 0aturphilosophie „in dieser Äußerlichkeit [der 0atur; C.Z.] nur den Spiegel unserer selbst zu finden Hegel , in verkehrter )orm umgesetzt. Statt hinter der Erkenntnis gesetzmäßiger Ordnung im 0aturgeschehen den nach Prinzipien ordnenden Geist zu sehen, erscheint das menschliche Denken und Tun nunmehr als Spiegelbild natürlicher Prozesse.
III. Tatsachen und relative Wahrheit Wenn die Methoden unserer Erkenntnis einer angeborenen Organstruktur entstammen, sind sie lediglich in dem Sinne ‘objektiv , dass sie selbst eine 0aturtatsache sind – sie können dann jedoch niemals in jenem reflexiven Sinne objektiv begründet sein, der fordert, ihre 0otwendigkeit und damit ihre Wahrheit denkend zu beweisen. Daher passt eine Erkenntnistheorie, die das Erkenntnisvermögen als einen Anpassungsprozess an eine unmittelbar gegebene 0atur begreift, zu einem an den naturwissenschaftlichen Methoden ausgerichteten Erkenntnisideal, wie Auguste Comte es in seiner „Abhandlung über den Geist des Positivismus formulierte. Comte forderte von der modernen Wissenschaft, die Reflexion als das 0egative auszuschließen und sich ganz auf das Positive, das Tatsächliche zu fokussieren. Das Tatsächliche sei die 0atur selbst im weitesten Sinne – also alles, was empirisch vorhanden ist. Vgl. Comte , f Was empirische Tatsache und was 0atur ist, definiert sich hier wechselseitig. Eine objektive Erkenntnis müsse darum alles Subjektive – also auch die Reflexion über den Erkenntnisprozess – weglassen, da dies
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keine Tatsache im geforderten Sinne sei. 0icht die Vermittlung von Denken und gedachtem Gegenstand stelle Objektivität her, sondern das Objektive sei selbst schon als positive Tatsache als 0atur vorhanden und müsse möglichst unvermittelt zur Darstellung kommen. Da dies schwer möglich ist, müsse alle Wissenschaft sich mit relativer Wahrheit begnügen. Ein objektiver 0aturwissenschaftler will also bloßes Medium der 0atur sein, ihre Tatsachen als relative Wahrheiten verkündend. Diese positivistische Abkehr vom Wahrheitsanspruch, die sich in der Postmoderne fortsetzt, untersuchen Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung mit der These, „daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie [...] bei der in )urcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst Adorno/Horkheimer d, zu suchen sei. Die relative Wahrheit Comtes erfüllt das Bedürfnis, )ortschritt ohne Richtung, wirklich-reale Tatsachen ohne Wahrheitsanspruch zum Ariadnefaden der positiven Wissenschaften zu machen und damit die Wissenschaft vorgeblich von der Sphäre des Politischen und Ideologischen abzutrennen. Das Projekt der Aufklärung wird als Datensammlung fortgeführt. „Schließlich usurpierte die apologetische Schule Comtes die 0achfolge der unversöhnlichen Enzyklopädisten und reichte allem die Hand, wogegen jene einmal gestanden hatten. Die Metamorphosen von Kritik in Affirmation lassen auch den theoretischen Gehalt nicht unberührt, seine Wahrheit verflüchtigt sich. Ebd.,
IV. Zwischen Determinismus und Freiheit Der naturwissenschaftliche )ortschritt und die aus ihm erwachsenden technischen Möglichkeiten, der von der französischen Aufklärung noch als Befreiung der Menschen durch Herrschaft über die 0atur gefeiert wurde, verkehrte sich unter Bedingungen der kapitalistischen Produktion in eine Herrschaft ökonomischer Gesetze, die sich als Sachzwänge durchsetzen. Dies übersetzt sich durch den Geist des Positivismus in die Ideologie einer apersonalen Herrschaft der 0atur, auch seiner eigenen 0atur, unter der zu stehen, der Mensch zu erkennen glaubt. In diesem Sinne forderte der ,Vater der Soziologieʻ Auguste Comte, dass die Soziologie auf der Biologie als ihrer natürlichen Grundlage aufbauen solle. Die Wissenschaft solle sich auch hier nach der positiven 0atur richten – d. h. in empirischen )orschungen die Tatsachen und Gesetze aufzeigen, die das reale Zusammenleben der Menschen auszeichnen. Heinz Maus formulierte diesen Anspruch, nachdem er sich historisch durchgesetzt hatte, polemisch so: „[D]ie vornehmste Aufgabe der Soziologie [ist es] die der industriellen Gesellschaft eigentümlichen hierarchischen Verhältnisse als naturgegeben glaubhaft zu machen . Maus , Methodisch am Ideal der 0aturwissenschaften orientiert, naturalisierte die positivistische Gesellschaftswissenschaft ihren Gegenstand. Hierüber wird Gesellschaft
0atur als Herrschaftsmythos
zur Bezeichnung der )orm des Zusammenlebens, das unmittelbar aus den natürlichen Anlagen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen des Menschen entspringe. Wie alle 0atur, so lasse sich auch die des Menschen durch Kenntnis ihrer spezifischen Gesetze potentiell beherrschen; und wie bei aller 0aturerkenntnis, scheint die Beherrschung und gezielte Manipulation des erkannten Gegenstandes auch hier einzig denkbares Ziel zu sein. Mit Bezug auf die )orschungen des Verhaltensbiologen B. ). Skinner schreibt der 0europhysiologe Gerhard Roth: Wenn wir nur lange und genau genug die Gesetzmäßigkeiten des operanten Konditionierens, die Wirkungen der verschiedenen Verstärkungsprogramme, der primären und sekundären Verstärker usw. studiert haben, dann können wir tierisches und menschliches Verhalten vollständig Vorhersagen und auch kontrollieren. Roth , f
Den nach wie vor weitgehend rudimentären Versuchen der Verhaltenswissenschaften, die menschlichen Affekte in einem theoretischen Gesamtsystem fassbar zu machen, eilt eine ganze Armada populärwissenschaftlicher Produkte voraus, die uns in )ragen der Lebensberatung und Selbstoptimierung darüber belehren wollen, wie unsere Gene, Hirne und Hormone für unsere Gesamtsorgen mit Arbeitgebern, Liebesbeziehungen, und verpassten Chancen verantwortlich schreiben – und wie wir sie gezielt austricksen und für uns arbeiten lassen können. So hanebüchen diese am Bahnhofskiosk oder im Wartezimmer erteilten Hochglanzratschläge für ein besseres Leben auch sein mögen, so weisen sie doch deutlich auf ein Bedürfnis hin, die eigene 0atur, die sich in der ganzen Sperrigkeit des inneren Schweinehundes‘ gegen ein gelingendes erfolgreiches Leben zu wehren scheint, besser in den Griff zu bekommen. Diesem Bedürfnis liegen zwei sich widersprechende Prämissen zugrunde: Der Glaube sowohl an die eigene biologische Determiniertheit sowie der Glaube an die )reiheit, diese Mechanismen durch Erkenntnis zumindest bedingt verändern zu können. Es ist dies der )orm nach derselbe Widerspruch, der aller positivistischen Wissenschaft immanent ist, bei der das Subjekt der Erkenntnis dieser äußerlich bleiben soll. Es ist zugleich der innere Widerspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die ihre Subjekte als freie Bürger setzen muss, damit sie eben jene Zwänge perpetuieren, die ihre Unfreiheit verstetigen. Das „Bündnis der Idee von )reiheit mit der realen Unfreiheit Adorno c, war laut Adorno unter anderem möglich durch die Ahistorizität des intelligiblen Charakters, durch welche bei Kant die reine Vernunft nicht als ein Werdendes, historisch Vermitteltes, sondern als ein außerhalb von Zeitbestimmungen Stehendes, Absolutes vorgestellt wird. Irreduzibel daseiend, verdoppelt der intelligible Charakter im Begriff jene zweite 0atur, als welche Gesellschaft ohnehin die Charaktere ihrer sämtlichen Angehörigen stanzt. [...] 0atur, einmal mit Sinn ausstaffiert, setzt sich anstelle jener Möglichkeit, auf welche die Konstruktion des intelligiblen Charakters hinauswollte. Ebd.,
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Unter dem falschen Schein anthropologischer 0atürlichkeit werden nicht allein die formierenden Mechanismen der Gesellschaft zu 0aturgesetzen, darüber hinaus wird zugleich auch das eigene innere Wesen der Subjekte als natürliches mystifiziert. Das unmittelbare Empfinden seiner selbst erscheint grade wegen dieser Unmittelbarkeit nicht als hergestelltes, formiertes, sondern gleichfalls als natürlich. Erst die Reflexion einer kritischen Gesellschaftstheorie kann aufzeigen, was nicht unmittelbar erscheint: Dass keine anthropologische Konstante, sondern spezifische gesellschaftliche Bedingungen auch die Bedürfnisse hervorbringen, die wir als innerste und privateste uns zurechnen. Sie können darum als natürlich erscheinen, weil sie als Teil der Subjektivität wahrgenommen werden, also individuell sind, und zugleich eine allgemeine Struktur aufweisen, die wir mit anderen Menschen dieser Gesellschaft teilen. So diagnostiziert Adorno auch den oben genannten Widerspruch als unabtrennbaren Teil bürgerlicher Persönlichkeit: Der Widerspruch von )reiheit und Determinismus ist nicht, wie das Selbstverständnis der Vernunftkritik es möchte, einer zwischen den theoretischen Positionen des Dogmatismus und Skeptizismus, sondern einer der Selbsterfahrung der Subjekte, bald frei, bald unfrei. Unterm Aspekt von )reiheit sind sie mit sich unidentisch, weil das Subjekt noch keines ist, und zwar gerade vermöge seiner Instauration als Subjekt: das Selbst ist das Inhumane. [...] Persönlichkeit ist die Karikatur von )reiheit. Ebd.,
Persönlichkeit ist darum eine Karikatur von )reiheit, weil die )reiheit, die die bürgerlichen Revolutionen gesellschaftlich erkämpften, sich in die Herrschaft eines ,automatischen Subjekts‘ verkehrte, das sich hinter den Rücken seiner Produzenten als ökonomisches Prinzip der Verwertung des Werts Geltung verschafft. Vgl. Marx , Indem dieser Mechanismus sich durch wie gegen die formale )reiheit der Bürger durchsetzt, hat seine 0aturhaftigkeit ein wahres Moment. In der 0aturalisierung des Subjekts entsteht ein Bewusstsein, dem die Gesellschaft als ,zweite 0atur‘, die Vernunft als Rationalität und die eigene )reiheit als bloße Illusion sich entgegenstellt. Die Subjekte sind dabei jedoch nicht nur Vollzugsgehilfen der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft. Mit dem notwendig falschen Bewusstsein des bürgerlichen Subjekts ist kein Determinismus gesetzt, und kann auch nicht gesetzt sein, weil seine )reiheit ihm als konstitutive immanent ist. Die bürgerliche Subjektivität weist darum in einem Moment immer schon über die Verhältnisse bürgerlicher Gesellschaft hinaus. Der Widerspruch der Verkehrung von )reiheit in Herrschaft verweist so auf seine Aufhebung. Die Subjektivität trägt die kapitalistische Gesellschaft, sie produziert und reproduziert sie, geht aber zugleich notwendig über sie hinaus, weil sie als bloß immanente die ihr zufallende gesellschaftsstabilisierende )unktion freier und gleicher Subjekte gar nicht erfüllen könnte. In diesem Sinne steht das bürgerliche Subjekt immer schon im Widerspruch zu seiner ureigensten Gesellschaft. Es konstituiert sich immer zugleich als unterworfenes und sich ermächtigendes. Hieran wird die große Bedeutung und Anforderung an die Ideologie unserer Zeit deutlich.
0atur als Herrschaftsmythos
V.
Die objektive Unmöglichkeit der Reflexion
Indem der Positivismus den Begriff der Objektivität kontradiktorisch dem – in )olge ,bloßʻ – Subjektiven gegenüberstellte und die Reflexion über die Genese der Erkenntnis aus dem wissenschaftlichen Rahmen verbannte, gelang ihm ein Kunststück, das noch über die oben genannte Kinderei hinausreicht: Das Subjekt kann sich nicht selbst erkennen. Denn wenn es sich selbst zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erkenntnis machen will, muss es sich als Objekt betrachten. Als Objekt ist es aber ein anderer Gegenstand, als ein Subjekt – nämlich per definitionem das genaue Gegenteil. Wenn das Subjekt – als freies Subjekt der Erkenntnis – sich also selbst zum Gegenstand seiner Erkenntnis machen will, so erkennt es in sich folgerichtig das Gegenteil eines freien Subjekts: 0ämlich ein Stück determinierte 0atur. Dies hat neben der Soziobiologie vgl. z. B. Voland insbesondere die Hirnforschung in den letzten Jahren immer wieder eindrucksvoll vorgeführt. Was für einzelne Subjekte gilt, gilt in gleicher Weise auch für Gesellschaft, den Gegenstand der Soziologie. Über den Positivismus schreibt Adorno: Er behandelt Gesellschaft, potenziell das sich selbst bestimmende Subjekt, umstandslos so, als ob sie Objekt wäre, von außen her zu bestimmen. Buchstäblich vergegenständlicht er, was seinerseits Vergegenständlichung verursacht und woraus Vergegenständlichung zu erklären ist. […] Verkannt wird, daß durch die Wendung aufs Subjekt als auf ein sich selbst fremd und gegenständlich Gegenüberstehendes notwendig das Subjekt, das gemeint ist, wenn man will also gerade der Gegenstand der Soziologie ein Anderes wird. )reilich hat die Veränderung durch die Blickrichtung der Erkenntnis ihr fundamentum in re. Die Entwicklungstendenz der Gesellschaft läuft ihrerseits auf Verdinglichung hinaus; das verhilft einem verdinglichten Bewußtsein von ihr zur adaequatio. Adorno b,
Das heißt, die erkenntnistheoretischen Grundlagen und Prämissen des Positivismus sind nicht einfach Irrtümer, wie sie in der Wissenschaft vorkommen – er macht im Gegenteil genau die richtigen )ehler, die insofern wahr sind, als sie einer falschen Gesellschaft mit falscher, in apersonale Herrschaft verkehrter )reiheit entsprechen. Wenn 0aturʻ – der Inbegriff aller möglichen Erscheinungen unter allgemeinen Gesetzen – kein Reflexionsbegriff sein soll, sondern selbst ein realer Gegenstand und der 0ame '0atur' also bloß die Bezeichnung dieses Gegenstandes sei , jedoch die Gesamtheit aller empirischen Erscheinungen unter gesetzförmiger Einheit keine mögliche Tatsache der Erfahrung ist, dann ist 0atur nicht 0atur. Begriff und Gegenstand kommen so wenig zusammen, wie die Produzenten Besitzer ihrer Produkte sind.
Darum musste Max Planck ein physikalisches Weltbild‘ postulieren, in dem anstelle von statistischer Wahrscheinlichkeit die mathematische 0otwendigkeit und Allgemeinheit von Gesetzen gilt
Christine Zunke
Dem Menschen als 0atur- und )reiheitswesen bleibt darum sein eigener Begriff in beide Richtungen versperrt, denn seine in heteronome Zwänge verkehrte )reiheit übersetzt sich in eine 0atur, der nur als unvermitteltes Anderes Objektivität zugesprochen wird. Als vollständig unter diese 0atur subsumiert, muss das Subjekt der Erkenntnis sich vollständig fremd bleiben. Das ist die Wahrheit gesellschaftlicher Entfremdung. Genau dies zu leisten, macht die positivistische Wissenschaft zur Ideologie. Der Positivismus nahm das Erbe der Aufklärung für sich in Anspruch und verkehrte es zum Herrschaftsmythos objektiver 0atur. Das von der 0aturromantik kritisierte ,selbstherrliche Subjekt‘ der 0aturbeherrschung verschwindet unter diesem positiven Blick und der Mensch wird selbst ein Stück verwertbare 0atur. Die Reflexion auf das Subjekt der Wissenschaft und des )ortschritts unterbleibt und so wird 0atur selbst zum Hüter und Verberger der Wahrheit, gegenüber dem das empirische Subjekt immer nur in unzureichender Relation stehen kann, weshalb es nur zu relativer Wahrheit in der Lage ist. Dies geschieht unter dem Signum des Anti-Mythos. Indem der erkennende Geist selbst als bloße 0atur erkannt und auf diese zurückgeführt werden soll, wurde die durch die Aufklärung angeblich verklärte und überhöhte Bedeutung der freien Vernunft als metaphysischer Rest erkannt und überwunden. So wird die Differenz von 0atur und Geist nivelliert; tatsächlich sei das Denken nichts anderes als ein elektrochemischer Prozess, eben 0atur, und damit den Methoden der empirischen )orschung zugänglich. Weil er sich systematisch der Reflexion verweigert, heißt der Positivismus bei Hegel auch Metaphysik, denn in die Lücke zwischen Erkenntnissubjekt und erkanntem Objekt muss etwas anderes treten: Der erkenntniskritische Skeptizismus, der seinem eigenen Anspruch auf unvermittelte Objektivität niemals genügen kann. Dies ist nach Hegel der vorkritische Zustand, der „bei dem Gegensatze des Begriffes gegen die Objektivität, bei dem unwahren Begriffe und einer ebenso unwahren Realität Hegel , stehenbleibt.
VI. Gesellschaft als Ding an sich Der Positivismus ist also mit der apersonalen Herrschaftsstruktur der Gesellschaft vermittelt, indem ein altes erkenntnistheoretisches Problem – die Vermittlung von Denken und Gedachtem – unter Bedingungen der kapitalistischen Produktion eine materielle Realität erhält, in welcher die reale Vermittlung zwischen Mensch und
und rang lebenslang mit der gleichzeitigen 0otwendigkeit wie Unmöglichkeit einer Vermittlung von Weltbild und Welt. Vgl. Planck .
0atur als Herrschaftsmythos
0atur im Arbeitsprozess nicht als solche erscheint. Was erscheint, sind Waren, die sich auf dem Markt austauschen und Leute, die Geld verdienen müssen, um sich Waren zu kaufen. Die ,ewige 0aturnotwendigkeit des Stoffwechsels mit der 0aturʻ erscheint so als ewige 0aturnotwendigkeit zur Lohnarbeit, um an die Waren zu kommen, die in einer disparaten Sphäre ihre eigene Existenz zu führen scheinen. Entsprechend ist auch das erkennende Subjekt nicht Teil des Erkennens, sondern abgetrennt von seiner Erkenntnis wie der Lohnarbeiter von seinen Produkten. Darum ist die erkenntnistheoretische Vermittlung zwischen Gegenstand und Begriff ohne Gesellschaftskritik nicht zu begreifen. Was anstelle einer geleisteten Vermittlung übrig bleibt, sind Bezeichnetes und Zeichen als disparate. Wie der Arbeitsprozess im fertigen Produkt nicht als ,Tatsacheʻ erscheint, so erscheint er auch nicht im Resultat der wissenschaftlichen )orschung. Objekt ist somit – materiell wie begrifflich – nicht geleistete Vermittlung, sondern ein abgetrenntes, von seinem Produzenten vollständig losgelöstes Ding. Das Subjekt der Erkenntnis, das in den Resultaten seiner Wissenschaft nicht auftauchen soll, um diese objektiv zu halten, und das sich doch in seiner ganzen bürgerlichen Matrix in diese einschreibt, kann sich somit nicht selbst zu einem Maßstab der Kritik des Vorgefundenen erheben. Indem das verdinglichte Bewusstsein zugleich das adäquate ist, versperrt es sich gegen jede Einsicht in seine )alschheit. So wird Gesellschaftskritik nicht wissenschaftlich geführt, sondern zur bloß subjektiven Meinung, indem Gesellschaft als naturhafte sich zur Totalität aufspreizt. Adorno schreibt hierzu in der Einleitung zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie : Totalität ist, provokatorisch formuliert, die Gesellschaft als Ding an sich, mit aller Schuld von Verdinglichung. Gerade aber weil dies Ding an sich noch nicht gesellschaftliches Gesamtsubjekt, noch nicht )reiheit ist, sondern heteronom 0atur fortsetzt, eignet ihm objektiv ein Moment von Unauflöslichkeit. Adorno b,
Eben diese Unauflöslichkeit ist das wahre Moment, das sich in den ideologischen Resultaten von Comte über Skinner bis hin zur 0europhysiologie abzeichnet. Indem sie den menschlichen Geist auf ein 0aturphänomen reduziert, lügt die ,angepasste Wissenschaft‘ die Wahrheit über ihre Gesellschaft, welche den sie konstituierenden Subjekten als eine heteronome Macht gegenübertritt. Indem sie die Erkenntnis eines Gegenstandes von dem zu erkennenden Gegenstand ablöst, ist sie der Gesellschaft adäquat, deren Subjekte sich über vom Produktionsprozess losgelöste Dinge aufeinander beziehen. Es ist ein Spezifikum der heutigen Wissenschaften, dass, gerade weil die Reflexion auf die eigene gesellschaftliche Bedingtheit und die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen sie stattfindet fehlen muss, die in der Gesellschaft durch ihre Bedingungen hervorgebrachte Ideologie in nahezu allen wissenschaftlichen Resultaten als Moment enthalten ist. Der biologischen Anthropologie, der Verhaltens-, Hirn- und Kognitionswissenschaft sowie weiten Bereichen der Sozialwissenschaft, die durch ihre an den mo-
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dernen 0aturwissenschaften ausgerichteten positivistischen Methoden im Resultat ein biologistisches Bild des Menschen erhalten, ist ein reflektierter Begriff des Menschen gegenüberzustellen, der ihm als Subjekt der Erkenntnis und damit auch als mögliches selbstbewusstes Subjekt seiner Gesellschaft gerecht wird.
VII. Philosophische Anthropologie Die philosophische Anthropologie des . Jahrhunderts erweist sich gegen die positivistische Ideologie der 0aturalisierung überall dort als widerständig, wo sie wie Max Scheler mit der geistigen Personalität die Reflexivität des Denkens zum Ausgangspunkt macht, um das Wesen des Menschen zu bestimmen. Besonders deutlich wird der Gegensatz dieser Anthropologie zur positivistischen Wissenschaft in den Arbeiten Helmuth Plessners. Die von ihm in den „Stufen des Organischen und der Mensch aufgestellten anthropologischen Grundgesetze sind formal gesehen als Widersprüche verfasst: natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und utopischer Standort. Sie verweisen so auf die Reflexivität, die Subjekt und Objekt im Prozess der Erkenntnis miteinander vermittelt und geben einen allgemeinen Begriff des Menschen, der ihm gleichermaßen als )reiheitswesen und als 0aturwesen gerecht wird. Aus der )reiheit des Bewusstseins folgt bei Plessner die exzentrische Positionalität des Menschen als eine totale Reflexivität des Lebenssystems [...]. Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben. Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-jetzt aufgeht, aus seiner Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der 'hinter sich' liegende )luchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem, Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstallung zu rückende Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt und damit die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewußtsein vollzogen. Plessner , f
Aus dieser ex-zentrischen Positionalität, durch die Reflexion um das Zentrum der eigenen Existenz zu wissen und ihr dadurch zugleich gegenübergestellt zu sein, ergeben sich die drei anthropologischen Grundgesetze. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit zeigt auf, dass ein Wesen, dem von 0atur aus die )reiheit des Denkens gegeben ist, kein 0aturwesen sein kann: Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er [der Mensch; C.Z.] sich zu dem, was e r s c h o n i s t , e r s t m a c h e n . 0ur so erfüllt er die ihm mit seiner vitalen Daseinsform aufgezwungene Weise, im Zentrum seiner Positionalität – nicht einfach aufzugehen, wie das Tier, das aus
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seiner Mitte heraus lebt, auf seine Mitte alles bezieht, sondern zu stehen und so von seiner Gestelltheit zugleich zu wissen. Dieser Daseinsmodus des in seiner Gestelltheit Stehens ist nur als V o l l z u g vom Zentrum der Gestelltheit aus möglich. Eine Derartige Weise zu sein ist nur als Realisierung durchführbar. Der Mensch lebt nur, indem er sein leben führt. Ebd., f
Plessner sieht den Menschen damit unter dem Gesetz „einer absoluten Antinomie: sich erst zu dem machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt. [...] Darum ist er von 0atur aus, aus Gründen seiner Existenzform k ü n s t l i c h . Ebd., Der Stoffwechsel mit der äußeren 0atur ist für den Menschen wie für jedes Lebewesen eine 0otwendigkeit. Da dieser Stoffwechselprozess des Menschen nicht vom Denken und damit von der )reiheit zu trennen ist, ist das wesentliche der 0aturseite des Menschen immer schon reflexiv, Vermittlung. Darum ist das Leben des Menschen im Unterschied zum Tier nur als Vollzug, als bewusstes Tun oder als Arbeit möglich. Die Arbeit, im allgemeinsten und abstrakten Sinne, ist der Prozess, durch den der Mensch seinen Stoffwechsel mit der 0atur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem 0aturstoff selbst als eine 0aturmacht gegenüber. […] Indem er durch diese Bewegung auf die 0atur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene 0atur. Marx ,
Indem er im Vollzug seines Lebens seine eigene 0atur erzeugt und ändert, ist der Mensch natürlicherweise künstlich. Plessners zweites anthropologisches Grundgesetz geht auf die in der Arbeit geleistete 0aturbeherrschung und ihre intelligible Bedingung, die 0aturerkenntnis. In diesem Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit wird die Antinomie von An-SichBestimmtheit der realen Dinge und ihrer Bestimmbarkeit durch das Denken aufgezeigt, welchem sie als Erscheinungen denkend vermittelt und zugleich unmittelbar real gegeben sind: Dinge sind ihm [dem Menschen; C.Z.] gegenständlich gegeben, wirkliche Dinge, die i n ihrer Gegebenheit v o n ihrer Gegebenheit ablösbar erscheinen. Zu ihrem Wesen gehört das Überschußmoment des Eigengewichts, des )ür sich Bestehens, des An sich Seins, sonst spricht man eben nicht von wirklichen Dingen. Trotzdem zeigt sich das Überschußmoment, das Übergewicht an – der Erscheinung, die freilich zur Wirklichkeit gehört, aber nicht die ganze Wirklichkeit offenbart und in der Gegenständlichkeit allein die dem Subjekt zugekehrte Seite des Wirklichen reell, d. h. direkt präsentiert. So daß das Subjekt nur durch Vermittlung dieser Erscheinung die Realität zu fassen bekommt und zwar in der Weise der Unmittelbarkeit. Ebd.,
Die exzentrische Positionsform bedingt den Schaffensdrang des Menschen, vgl. ebd., indem sie die Herstellung von Werkzeugen, Artefakten und damit auch von Kultur und gesellschaftlich organisierten Produktionsformen erzwingt und ermöglicht. Darum folgt aus der natürlichen Künstlichkeit des Menschen die vermit-
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telte Unmittelbarkeit als sein Verhältnis zu 0aturdingen, die ihm nur als Erscheinungen in )orm von „Bewußtseinsinhalten, Vorstellungen und Empfindungen ebd., zugänglich sind. „Die Annahme, es gäbe ,von 0aturʻ kein Erkenntnisproblem, der Mensch habe sich diese Schwierigkeit selbst bereitet, er habe sich einfach falsch verstanden, ist irrig. Ebd., Im Gegensatz zum naiven Realismus des Comte schen Positivismus erkennt Plessner in dem antinomischen Verhältnis selbst jedoch die Lösung des Erkenntnisproblems, indem er die I m m a n e n z s i t u a t i o n d e s S u b j e k t s a l s d i e u n e r l ä ß l i c h e B e d i n g u n g f ü r s e i n e n K o n t a k t m i t d e r W i r k l i c h k e i t begreift. Gerade weil das Subjekt in sich selber steckt und in seinem Bewußtsein gefangen ist, also in doppelter Abhebung von seinen leiblichen Sinnesflächen steht, hält es die von der Realität als Realität, die sich offenbaren soll, geforderte Distanz inne, die seins e n t s p r e c h e n d e Distanz, den Spielraum, in welchem allein Wirklichkeit zur Erscheinung kommen kann. Ebd., f
Als unvermittelte Unmittelbarkeit wäre Erkenntnis demnach gar nicht möglich. Obgleich diese Antinomien der ersten beiden anthropologischen Grundgesetze von Plessner als konstitutiv und wesentlich für den Menschen aufgezeigt wurden, da sie seiner exzentrischen Positionalität entspringen und ihr so entsprechen, bleibt der Stachel seines immanenten Widerspruches dem Menschen offenbar im )leisch stecken: „Weil also die Existenz des Menschen für ihn einen realisierten Widersinn birgt, ein durchsichtiges Paradoxon, eine verstandene Unverständlichkeit, braucht er einen Halt, der ihn aus dieser Wirklichkeitslage befreit. Ebd., Im dritten anthropologischen Grundgesetz des utopischen Standortes wird darum die Suche nach Versöhnung des Widerspruches in der Religion, dem Glauben an ein Absolutes, das Sinn stiftet, sowie gleichzeitig die aus dem Wissen um die Unmöglichkeit der Aufhebung des Widerspruches der menschlichen Existenz gespeiste Religionskritik thematisch. „[S]ein utopischer Standort zwingt ihn [den Menschen; C.Z.], den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten. Ebd., Was Plessner mit seiner avancierten und reflexiven philosophischen Anthropologie jedoch nicht zu leisten vermag, ist den spezifischen Widerspruch aufzuzeigen, in dem das Subjekt unter Verhältnissen der kapitalistischen Produktion zu seiner eigenen Gesellschaft steht. Damit bleibt seine Anthropologie letzten Endes affirmativ.
Und auch in Abgrenzung zum Idealismus oder Skeptizismus.
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VIII. Kritische Theorie der Gesellschaft Eine Verbindung von negativer Anthropologie und kritischer Theorie der Gesellschaft hätte dagegen die Aufgabe, aus einem allgemeinen Begriff des Menschen eine konkrete Kritik des Bestehenden zu begründen. Eine Voraussetzung hierfür wäre ein Wesensbegriff, der das begrifflich abstrakte mit seiner konkreten historischen Gestalt zu vermitteln vermag, ohne letztere zu affirmieren. Marx sieht das Wesen des Menschen in seinen „Thesen über )euerbach durch die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt. „[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble [sic] der gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx , Es sei dieses ,Ensembleʻ, da die gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen in ihrem Bezug aufeinander hervorgebracht werden. Das Wesen des Menschen sei so gesellschaftlich hergestelltes Wesen. Doch hierin kann es nicht vollständig aufgehen, denn so wäre das Wesen selbst ein historisch zufälliges und veränderliches, Summe der Akzidenzien und nicht Substanzbegriff. Der Prozess der Gesellschaft ist in der bisherigen Geschichte nicht von einem Selbstbewusstsein der Gattung begleitet, so dass der einzelne Mensch in der Gesellschaft den Gesetzen, nach welchen die jeweilige Gesellschaftsform funktioniert, ausgeliefert ist wie den 0aturgesetzen, wobei er sie sich oft noch weniger zu erklären weiß. Darum wendet Adorno in der Negativen Dialektik den frühen Marxschen Wesensbegriff zum Unwesen: Solches Wesen ist vorab Unwesen, die Einrichtung der Welt, welche die Menschen zu Mitteln ihres sese conservare erniedrigt, ihr Leben beschneidet und bedroht, indem sie es reproduziert und ihnen vortäuscht, sie wäre so, um ihr Bedürfnis zu befriedigen. Wie das Hegelsche muß auch dies Wesen erscheinen: vermummt in seinen eigenen Widerspruch. 0ur am Widerspruch des Seienden zu dem, was zu sein es behauptet, läßt Wesen sich erkennen. Adorno c,
So ist das Wesen des Menschen nicht etwas bloß Gegebenes, sondern zugleich ein zu Erreichendes, das erst mit dem gesellschaftlichen Prozess hin zur befreiten Menschheit seine Doppelung in Unwesen und Wesen aufheben kann. Das Wesen ist so zu denken als eines, das den Bezug auf ein variables, historisch tätiges Subjekt enthält, ohne selbst ein bloß Variables zu sein. Es geht auf die innere Richtigkeit der Sache und umfasst so auch deren )alschheit. So wird im empirischen Menschen über das Wesen des Menschen seine eigene transzendentale Idee, das Ideal der Menschheit, auf das er bezogen gedacht wird, gefasst. Das Wesen des Menschen erscheint so als das wirkliche Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse und ist ihm zugleich transzendent, indem es dieses als )alsches negiert. Jede Wissenschaft muss von einem ihren Gegenstandsbereich bestimmenden Prinzip ausgehen, von dem aus sich Gesetze oder zumindest Regeln bestimmen lassen. So ging auch die Gesellschaftswissenschaft immer implizit davon aus, dass sich Regeln und Gesetze für die untersuchten Bereiche finden ließen. Dies setzt aber
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notwendig voraus, dass die Menschen nicht frei sind, nicht bloß ihrer Willkür folgen oder sich selbst zu dem bestimmen, was sie individuell und als Gesellschaft sind, denn Spontaneität der )reiheit ist per definitionem nicht unter äußere Regeln und Gesetze zu bringen. Eine positivistische Wissenschaft von Gesellschaft ist nur möglich, solange apersonale Herrschaft existiert und die Handlungen der Menschen auf ihnen äußerliche Ursachen zurückgeführt werden können. Denn ohne dies gäbe es kein bestimmendes Prinzip, das Grundlage einer Wissenschaft sein könnte. Tatsächlich hat die Wissenschaft von der Gesellschaft hinreichend bewiesen, dass sie gesellschaftliche Prozesse theoretisch fassen kann und sogar zu Vorhersagen mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit sehr gut tauglich ist. Ergo muss es ein äußeres Prinzip geben, das die Menschen in ihren Handlungen und Wünschen bestimmt. Dieses Prinzip wurde zuerst von Karl Marx im Kapital theoretisch erfasst, es ist die Selbstbewegung des Kapitals, deren Gesetze sich gleichsam hinter den Rücken der Subjekte, die sie hervorbringen und am Leben halten, unbemerkt wie zwingend Geltung verschaffen. Mit dieser Erkenntnis kann gezeigt werden, was Gesellschaft im Wesen ausmacht, d. i. welchem Prinzip sie unterliegt. Unter der Prämisse, dass der Mensch seinem Begriff gemäß leben, also frei sein soll, muss jede Gesellschaftswissenschaft notwendig kritisch sein, d. h. sie muss die heteronomen Bestimmungsgründe menschlicher Handlungen aufdecken, um sie als )ormen der Herrschaft zu entlarven und abschaffen zu können. Solange Gesellschaft heteronom formiert ist, ist eine kritische Theorie der Gesellschaft möglich und auch nötig. Die heteronomen )aktoren der Strukturbildung von gesellschaftlichen Prozessen affirmativ zu begreifen ist – in jedweder anthropologischen oder soziologischen )orm – immer im Kern ein Biologismus, der 0atur als das logisch Andere zur )reiheit als den Menschen wesentlich bestimmend setzt.
IX. Natur als Herrschaftsmythos Da diese Reflexion auf die Selbstbewegung des Kapitals als formierender und beherrschender )aktor bürgerlicher Gesellschaft jedoch lediglich in den )laschenposten kritischer Theoretiker überdauerte, findet positivistische Gesellschaftswissenschaft, die weiß, dass sie ein bestimmendes Prinzip hat – sonst würde sie nicht die Leistungen erbringen können, die ihr zuzuschreiben sind–, ihr Prinzip nicht im Ökonomischen, sondern führt dieses selbst auf etwas Ursprünglicheres zurück: die 0atur. Die 0aturhaftigkeit des Kapitalismus hat hier ihre wahrste und falscheste Erklärung gefunden. Wahr, weil es tatsächlich ein formierendes Prinzip gibt, das dem Wissen und Wollen der Menschen weitestgehend entzogen ist und dennoch ganz maßgeblich ihre Gesellschaft, ihr Leben, ihr Denken, )ühlen, ihre Wertvorstellungen, Wünsche etc. bestimmt. 0ur darum, weil die biologistische Erklärung hier etwas trifft, ist sie erfolgreich und taugt tatsächlich zur plausiblen, kohärenten The-
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orie von Gesellschaft. )alsch, weil das bestimmende Prinzip nicht in seiner wahren Gestalt als apersonale Herrschaft eines ökonomischen Mechanismus erkannt wird, sondern sein notwendiger falscher Schein, d. i. seine 0aturhaftigkeit, für seine Wahrheit genommen wird. Genau dies ist Ideologie: Die Wahrheit erscheint in ihrer angemessenen, d. i. falschen )orm; das )alsche dieses Scheins ist nicht bloßer Irrtum, entspringt nicht mangelnder Verstandesleistungen o. Ä., sondern es gehört selbst mit zur wahren Gestalt. Dies darf auch die kritische Reflexion auf sie nie vergessen. Denn nur hierüber erklärt sich die Wirkungsmacht des Mythos, dass es unsere 0atur sei, die gesellschaftliche )ormierungen und ihre Krisen nahezu unweigerlich hervorbringe. Es ist ein bürgerlicher Mythos im strengen Sinne, eine ,identitätsstiftende Vorzeitüberlieferung eines Volkes über dessen Geschichte und Götterʻ, getragen von der im evolutionshistorischen Dunkel sich verlierenden Ahistorizität, mit der neben dem Prinzip der Konkurrenz auch psychische Grundlagen der Persönlichkeit wie Egoismus, Altruismus oder Geschlechtsidentitäten uns als unmittelbar natürliche eingeschrieben erscheinen. Erst der Reflexion auf die eigene gesellschaftliche Vermitteltheit verdankt sich die Einsicht, dass die Entfremdung und Verdinglichung durch das Kapitalverhältnis sich nicht nur zwischen den Lohnarbeiter und seine Produkte, sondern ebenso zwischen den Wissenschaftler und seinen Erkenntnisgegenstand stellt; und dass es folglich nicht ausreicht, die Unwahrheit der Realität bloß anders zu denken, um zu ihrem wahren Begriff zu kommen, sondern dass ihre Wahrheit auch politisch hergestellt werden muss, um nicht bloß notwendig, sondern auch allgemein werden zu können.
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Vanessa Vidal
Jenseits von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie: Diesseits von Theodor W. Adornos Idee naturgeschichtlicher Deutung I.
Die Naturgeschichte im historischen Kontext der Frankfurter Diskussion
Theodor W. Adorno beginnt den in der )rankfurter Kant-Gesellschaft gehaltenen Vortrag „Die Idee der 0aturgeschichte mit folgendem Satz: Vielleicht darf ich vorausschicken, daß das, was ich sagen werde, nicht ein Vortrag‘ ist in eigentlichem Sinne, nicht eine Mitteilung von Resultaten oder eine bündige systematische Ausführung, sondern daß es auf der Ebene des Versuches steht, daß es nichts als eine Bemühung, die Problematik der sogenannten )rankfurter Diskussion aufzunehmen und weiterzuführen. Ich bin mir bewußt, wieviel Schlechtes man dieser Diskussion nachsagt, aber auch, daß der Zentralpunkt dieser Diskussion doch richtig angesetzt ist, und daß es falsch wäre, immer wieder ganz von vorn zu beginnen. Adorno b,
Die )rankfurter Diskussion ist als eine Art Monade zu verstehen, welche die Auseinandersetzung zwischen den ontologischen und geschichtsphilosophischen Auffassungen der Philosophie am Anfang des . Jahrhundert verkörpert. An der )rankfurter Diskussion sind als direkte Teilnehmer und Vertreter des Vorrangs der Geschichte u.a. Max Horkheimer und )riedrich Pollock von Wussow , beteiligt und in Adornos Vortrag werden die geschichtlich orientierten Philosophien von Georg Lukács sowie Walter Benjamin erwähnt. D.h. es handelt sich um Autoren, welche auf verschiedene Art und Weise den Vorrang der Gesellschaft und der Geschichte gegenüber der Ontologie verteidigen. Als Beispiele von Philosophien, die den Vorrang der 0atur bzw. der Ontologie betonen, werden von Adorno die Philosophie Max Schelers und Martin Heideggers herangezogen. Adornos Idee der 0aturgeschichte ist als Aufnahme und Weiterführung der )rankfurter Diskussion meines Erachtens ganz besonders geeignet, um das Verhältnis von Ontologie und Geschichte begreifen zu können, sowohl im historischen Kontext der )rankfurter Diskussion um als auch in ihrer Bedeutung für eine gegenwärtige Diskussion über Philosophische Anthropologie – in der Tradition der Ontologie, auf die sich Scheler auch bezieht – und Kritische Theorie – in der Tradition der Geschichtsphilosophie von Lukács und Benjamin. So wie Adorno schreibt, ist „der Zentralpunkt dieser Diskussion richtig angesetzt . In der )rankfurter Diskussion herrscht ein Gegensatz zwi-
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schen Ontologie und Geschichtsphilosophie, so wie heute sich immer noch oft ein theoretischer Gegensatz zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie perpetuiert. Die 0aturgeschichte wird darüber hinaus von Adorno als eine neue Auffassung der Geschichte und der Ontologie nach dem Untergang der idealistischen Systeme vorgestellt, die schon über den Gegensatz beider Begriffe hinaus will: [...] Wo ich mit den Begriffen 0atur und Geschichte operiere, nun nicht letztgültige Wesensbestimmungen gemeint sind, sondern daß ich die Intention verfolge, diese beiden Begriffe zu einem Punkt zu treiben, an dem sie in ihrem puren Auseinanderfallen aufgehoben sind. Adorno b,
Die Problemstellung der )rankfurter Diskussion erläutert also das Verhältnis von 0atur und Geschichte im historischen Kontext um aus einer anderen Perspektive, da die 0aturgeschichte sich „jenseits dieses Dualismus von 0atur bzw. Ontologie und Geschichte platzieren möchte. Aus dieser anderen Perspektive kann meiner Meinung nach die gegenwärtige Diskussion über Philosophische Anthropologie und Kritische Theorie in einem neuen Licht betrachtet werden. In „Die Idee der 0aturgeschichte stellt Adorno die 0aturgeschichte erstens als Kritik der Philosophie von Max Scheler dar, weil sie idealistische Voraussetzungen und eine ahistorische Auffassung der Ontologie aufweist. Zweitens versteht er sie als Kritik der gesellschaftlich und geschichtlich orientierten Philosophien von Georg Lukács und Walter Benjamin, d.h. als „ontologische Umorientierung der Geschichtsphilosophie ebd., . Drittens schlägt Adorno mit der 0aturgeschichte eine neue Auffassung der Philosophie als Deutung vor, die sich jenseits der )rankfurter Diskussion und damit des Dualismus von 0atur und Geschichte stellen möchte. 0icht ist ein dem geschichtlichen Sein unterliegendes oder ein in ihm liegendes reines Sein aufzusuchen, sondern das geschichtliche Sein selber ist als ontologisches, d.h. als 0atur-Sein zu verstehen. Die Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische 0atur ist die Aufgabe der ontologischen Umorientierung der Geschichtsphilosophie: die Idee der 0aturgeschichte. Ebd.
Diese Auffassung der 0atur als Geschichte und der Geschichte als 0atur ist das, was meiner Meinung nach erlaubt, die Problematik zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, der richtungsweisend und fruchtbar für die heutige Diskussion sein kann.
ڲDiese Idee ist in seinen Schriften nachzuverfolgen bis in dem Kapitel „Weltgeist und 0aturgeschichte aus der „0egativen Dialektik , wo er diese Idee in Bezug auf Hegels Geschichtsphilosophie wieder behandelt vgl. Adorno c, – .
Jenseits von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie
II.
Jenseits der Ontologie von Max Scheler Ich möchte das, was ich die Idee der 0aturgeschichte nenne, entwickeln auf Grund einer Analyse oder richtiger Überschau über die ontologische )ragestellung innerhalb der heutigen Diskussion. Das meint einen Ausgang vom 0aturhaften‘. Denn die )rage nach der Ontologie, wie sie heute gestellt wird, ist nichts anderes als das, was ich unter 0atur gemeint habe. Ebd.,
Max Scheler versuche, den Subjektivismus der Phänomenologie Husserls zu überwinden, indem er eine „Seinsregion ebd., jenseits der Husserlschen transzendentalen Subjektivität philosophisch begründe. Was Adorno an diesem Versuch kritisiert, ist, dass die Seinsregion in der Ontologie Schelers auch mittels der subjektiven ratio gesucht wird. „Es ist nun die Grundparadoxie aller ontologischen )ragestellungen in der gegenwärtigen Philosophie, daß das Mittel, mit dem versucht wird, transsubjektives Sein zu gewinnen, nichts anderes ist als die gleiche subjektive ratio, die zuvor das Gefüge des kritischen Idealismus zustande gebracht hat. Ebd. Die ontologische Region werde immer noch gesucht und gerechtfertigt dank der subjektiven Vernunft, die paradoxerweise den ontologischen Entwurf aufheben wolle, um für die Philosophie die Konkretion der Lebendigkeit zu erreichen. Darüber hinaus werde die Ontologie als Sphäre des Geschichtslosen hypostasiert, was einen Dualismus zwischen 0atur und Geschichte verursache: Bei Scheler war es so, wenigstens beim frühen Scheler […], daß er versucht hat, einen Ideenhimmel zu konstruieren auf Grund einer rein rationalen Schau der geschichtslosen und ewigen Gehalte, der über allem Empirischen leuchtet, der normativen Charakter hat und zu dem das Empirische durchlässig ist. Aber zugleich ist im Ursprung der Phänomenologie eine prinzipielle Spannung gesetzt zwischen diesem Sinnhaften, Wesenhaften, das hinter dem geschichtlich Erscheinenden liegt, und der Sphäre der Geschichte selbst. Ebd., f
Die Suche nach dem Wesenhaften – sei es in den Menschen als 0atur im Rahmen der Philosophischen Anthropologie, sei es in dem Sein der Ontologie – impliziert Adornos These nach bei Scheler eine Trennung zwischen 0atur und Geschichte. Diese Trennung wird schon um in der )rankfurter Diskussion von den Verteidigern einer Philosophie, welche die geschichtlichen Inhalte für wichtig hält, kritisiert. Adorno fasst diese Kritik wie folgt zusammen: Vom Standpunkt der Geschichte, der historischen Kritik aus erscheint die Ontologie als bloß formaler Rahmen, der über den Inhalt der Geschichte gar nichts besagt, der in beliebiger Weise
ڳAdorno denkt höchstwahrscheinlich an „Den )ormalismus in der Ethik und die materiale Wertethik von Scheler Scheler . ڴEine ähnliche Kritik könnte man an dem Projekt einer philosophischen Anthropologie üben: Die 0atur des Menschen wird auch dort paradoxerweise im Ausgang vom nachkantischen SubjektBegriff gesucht und konstruiert.
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um das Konkrete gespannt werden kann, oder aber es erschien die ontologische Intention, wenn sie wie bei Scheler materiale Ontologie war, als willkürliche Verabsolutierung innergeschichtlicher Tatsachen […] ebd., .
Die Ontologie werde dann entweder Seinsregion jenseits des geschichtlich aufgefassten Seins oder willkürliche Hypostasierung von bestimmten historischen Tatbeständen, welche keinen direkten Bezug zur Geschichte mehr innehaben. Andererseits kritisiert die Ontologie die geschichtliche Auffassung des Denkens in der )rankfurter Diskussion, da die Geschichte gemäß dem ontologischen Verständnis immer ein Sein voraussetze, das sich innerhalb dieser geschichtlichen Bewegung verändern lasse: Umgekehrt hat es sich für die ontologische Position so dargestellt, und diese Antithetik ist die, die unsere )rankfurter Diskussion beherrschte, daß alles radikal geschichtliche Denken, also alles Denken, das entstehende Gehalte ausschließlich zurückzuführen sucht auf historische Bedingungen, einen Entwurf des Seins selber voraussetze, durch den Geschichte als Seinstruktur vorgegegeben sei […] ebd. .
Das ist die philosophische Situation, die Adorno als Resultat der )rankfurter Diskussion mit der Idee der 0aturgeschichte zu überwinden versucht. Eine Situation, die sich in den aktuellsten Debatten zwischen der Kritischen Theorie und der Philosophischen Anthropologie, sogar oft in ähnlicher Terminologie, erneut wiederholt.
III. Naturgeschichte als Kritik der geschichtlich orientierten Philosophien Die 0aturgeschichte präsentiert sich als Versuch, die Gegenüberstellung und Trennung von 0atur und Geschichte in den Konzeptionen von Geschichte und Ontologie aufzuheben. Erstens stellt Adorno fest, dass die Einführung der Geschichte bzw. geschichtlicher Inhalte in die Philosophie das Produkt des Wunsches ist, so wie es die Ontologie Schelers bereits war, den transzendentalen Idealismus von Kant zu überwinden. Adorno deutet an, dass die geschichtlich orientierte Philosophie ein ernsthafter Versucht sei, den übermäßigen )ormalismus des transzendentalen Idealismus von Kant zu korrigieren. Die Trennung Subjekt-Objekt, oder die Hauptrolle des Subjekts im Erkenntnisprozess, seien Momente der Philosophie, die man erst durch die Einführung von geschichtlichen Inhalten in die Philosophie richtigstellen kann. Dennoch, die 0aturgeschichte ist deswegen weder eine allgemeine Geschichtsauffassung noch eine neue Ontologie als Geschichtlichkeit , sondern sie ڵAdorno selbst verstand seine Idee der 0aturgeschichte als indirekte Antwort auf den in der )rankfurter Kant-Gesellschaft gehaltenen Vortrag von Heidegger „Philosophische Anthropologie
Jenseits von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie
zielt darauf ab, die Gegenüberstellung zwischen 0atur und Geschichte konkret zu bearbeiten: Wenn die )rage nach dem Verhältnis von 0atur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll, bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, die 0atur da, wo sie als 0atur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein. Ebd., f
Adorno holt sich Anregung bei Georg Lukács, um Geschichte als 0atur d.h. auf eine historische Ontologie hin zu konstruieren. Adorno übernimmt von Lukács die These der Verwandlung des Geschichtlichen in etwas, das als natürlich bzw. als ontologisch erscheint. Die Auffassung dieser erscheinenden 0atur als geschichtliches Sein, d.h. die zweite These des eben zitierten Satzes, wird Adorno von Walter Benjamin nahegebracht. Unter Zuhilfenahme dieser Auseinandersetzung, sowohl mit Lukács als auch mit Benjamin, wird die Stellung von Adorno gegenüber der klassischen Geschichtsphilosophie und der Ontologie deutlicher. Die Konzeption der Geschichte als Stillstand bzw. als „in sich verharrend , d.h. als 0atur oder Ontologie, ist von Lukács Wiederaufnahme des Hegelschen Begriffes der zweiten 0atur in der „Theorie des Romans inspiriert. )ür Lukács stellt die geschichtliche Bewegung etwas Objektives dar, konkret existierende Gesellschafts- und Lebensformen, die, indem sie von den Menschen nicht als direkte Produkte ihrer Tätigkeit erkannt werden, ihnen als scheinhafte 0atur, als unvermittelt erscheinen. Die „Welt der Konvention von Lukács, als Weiterentwicklung des Begriffes der zweiten 0atur von Hegel, ist Ausdruck dieser 0atur, die uns nur als ontologisch-statische 0atur erscheinen kann, wenn wir die historischen Vermittlungen nicht anerkennen vgl. Adorno , . Die Idee der 0aturgeschichte versucht, ausgehend von dieser geschichtlichen Auffassung der Ontologie als zweiter 0atur folgendes Problem zu lösen: „Von der Geschichtsphilosophie aus gesehen stellt sich das Problem der 0aturgeschichte zunächst als die )rage, wie es möglich ist, diese entfremdete, dinghafte, gestorbene Welt zu erkennen, zu deuten. Adorno b, . Die eigentliche Aufgabe der
und Metaphysik des Daseins Heidegger . Adorno übt auch in „Der Idee der 0aturgeschichte Kritik an der Historisierung der Ontologie als „Entwurf des Seins wie am Begriff der Geschichtlichkeit von Heidegger. Diese Kritik zu erläutern, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Aber was Adorno an der Geschichtlichkeit des Seins u.a. kritisiert ist, dass sie die konkreten historischen Tatsachen nicht erreicht Adorno b, – . ڶDas Werk von Lukács, das Adorno zitiert, ist nicht „Geschichte und Klassenbewusstsein Lukács , wie oft in der Adorno-Rezeption vorausgesetzt wurde, sondern die „Theorie des Romans Lukács ; vgl. Adorno b, . ڷAdorno drückt diese These so explizit in der Vorlesung „Zur Lehre von der Geschichte und von der )reiheit aus Adorno , .
Vanessa Vidal
0aturgeschichte ist dann die Deutung der in zweiter 0atur gewordenen Geschichte. Der Text, den die Philosophie zu deuten verlangen muss, ist der fragmentarische und zu zweiter 0atur gewordene Text der Wirklichkeit. Die 0aturgeschichte muss versuchen, die in der brüchigen Wirklichkeit liegenden Rätsel der zweiten 0atur zu entziffern, zu deuten. Man kann diese zentrale Verbindung zwischen der 0aturgeschichte und einer Auffassung der Philosophie als Deutung in „Die Aktualität der Philosophie weiter verfolgen. Adorno behauptet in seiner Antrittsvorlesung: Der Text, den Philosophie zu lesen hat, ist unvollständig, widerspruchsvoll und brüchig und vieles daran mag der blinden Dämonie überantwortet sein; ja vielleicht ist das Lesen gerade unsere Aufgabe, gerade damit wir lesend die dämonischen Gewalten besser erkennen und bannen lernen. Adorno a, f
Aber im Unterschied zu den meisten Hermeneutiken kann die Subjektivität diese in eine zweite 0atur verwandelte Geschichte nicht interpretieren. Lukács selbst verzichtet schon auf die Möglichkeit, das Entfremdete durch die Subjektivität wiederzugewinnen, aber seine vorgeschlagene Alternative ist für Adorno unzulänglich. Lukács vertraut nicht mehr auf das transzendentale Subjekt, um das Problem der zweiten 0atur zu lösen. Das Klassenbewusstsein führe im historischen Prozess zwingenderweise zur Aufhebung der Verdinglichung und der Entfremdung. Adorno stimmt dieser These nicht zu, weil sie eine Logik der notwendigen Entwicklung der Geschichte akzeptiert, d.h. die Hegelsche Geschichtsphilosophie impliziert. Adorno nimmt die These von Lukács an, dass sich in 0atur verwandelt, was geschichtlich erschaffen wird. Aber er ist nicht einverstanden mit der Lukács schen Lösung dieses Problems, weil sie teleologisch ist. Das legt den Satz nahe: Diese Schädelstätte kann Lukács nicht anders denken als unter der Kategorie der theologischen Wiedererweckung, unter dem eschatologischen Horizont. Es ist die entscheidende Wendung gegenüber dem Problem der 0aturgeschichte, die Benjamin vollzogen hat, daß er die Wiedererweckung der zweiten 0atur aus der unendlichen )erne in die unendliche 0ähe geholt und zum Gegenstand der philosophischen Interpretation gemacht hat. Adorno b,
Wie in dem Zitat explizit wird, hält Adorno Benjamins Lösungsvorschlag für das Problem der Erkenntnis der zweiten 0atur für geeigneter. Der von Benjamin eingeführte Wechsel verwandelt die in zweite 0atur gewordene Geschichte in den Gegenstand der Philosophie, die mit der Deutung dieser historischen Ontologie umdefiniert wird. D.h. diese Idee der 0aturgeschichte stellt keine allgemeine geschichtsphilosophische Auffassung der Wirklichkeit dar, wie es noch bei Lukács der )all war, sondern eine Idee der Deutung der konkreten verdinglichten historischen Phänomene. Damit verwirklicht diese Idee der 0aturgeschichte eine sehr wichtige Wendung innerhalb der ontologischen und der geschichtsphilosophischen Tradition: Diese zweite 0atur ist nicht nur Objekt einer Geschichtsphilosophie oder etwas rein Ontologisches, sondern sie ist eigentlich der Gegenstand einer als Deutung aufgefassten Philosophie. Und an dieser Stelle treten 0aturgeschichte und
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Deutung in Verbindung. Der von Benjamin eingeführte Wechsel führt dazu, die in zweite 0atur verwandelte Geschichte – die zweite 0atur als geschichtlich vermittelte Ontologie – als den eigentlichen Gegenstand der Philosophie, hier als Deutung aufgefasst, zu betrachten. Dieser in Deutung umdefinierten Philosophie kommt tatsächlich eine neue Aufgabe zu: Die konkrete Deutung der geschichtlich verdinglichten Welt. Die Deutung einer Welt, die als zweite 0atur die Geschichte chiffriert ausdrückt. Im „Ursprung des deutschen Trauerspiels findet Adorno einen Schlüssel dafür, wie der Weg zur Deutung der zur zweiten 0atur gewordenen Geschichte zu verwirklichen wäre. Adorno schreibt diesbezüglich: „Wenn Lukács das Historische als Gewesenes in 0atur sich zurückverwandeln läßt, so gibt sich hier die andere Seite des Phänomens: 0atur selber stellt als vergängliche 0atur, als Geschichte sich dar. Ebd., Um diese zweite 0atur zu deuten, soll man die Welt so betrachten können, wie es die allegorischen Dichter des Barocks zu tun pflegten. Adorno zitiert in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem „Ursprung des deutschen Trauerspiels : „0atur schwebt ihnen den allegorischen Dichtern vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte. Ebd., Die Haltung des Philosophen gegenüber der zweiten 0atur wäre nach der Haltung der allegorischen Dichter des Barocks zu gestalten: beide sollen in der )igur der allegorischen 0atur oder der zweiten 0atur ein geschichtliches Verhältnis erkennen. Mit diesem Deuten oder Erkennen wird die zweite 0atur gedeutet, indem sie als vergänglich und historisch erkannt wird. Die 0euartigkeit der Philosophie Benjamins besteht darin, das Problem der Erkenntnis der zweiten 0atur aus der mehr oder weniger klassischen marxistischen Geschichtsphilosophie herauszunehmen und zum eigentlichen Gegenstand einer als Deutung aufgefassten Philosophie zu machen. Adorno schreibt: „Es kommt gegenüber der Lukács schen Geschichtsphilosophie etwas prinzipiell anderes hinzu, beide Male kam das Wort Vergängnis und Vergänglichkeit vor. Der tiefste Punkt, in dem Geschichte und 0atur konvergieren, ist eben in jenem Moment der Vergänglichkeit gelegen. Ebd., f Die Allegorie lässt eine sinnliche 0atur erkennen, die jedoch die Vergänglichkeit der Geschichte zum Ausdruck bringt. )ür die allegorische Betrachtung der Welt erscheint die Geschichte als Totenkopf, als zeitlicher Zerfall. Die 0aturgeschichte als Deutung der zweiten 0atur wird nach dem Modell dieser allegorischen Betrachtung der Welt im Barock gedacht. Sie gilt als Vorbild für die Entzifferung der Verdinglichung. Indem diese zweite 0atur als Geschichte gedeutet wird, wird sie dialektisch, insofern ihre Bedeutung als Vergänglichkeit, d.h. als Geschichte erscheint. Adorno schreibt:
ڸAdorno zitiert Benjamin nach der Ausgabe: W. Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels , Berlin , S. vgl. Benjamin , .
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Benjamin geht davon aus, daß die Allegorie kein Verhältnis von bloßen sekundären Zufälligkeiten ist; das Allegorische ist nicht ein zufälliges Zeichen für einen darunter befaßten Inhalt: sondern zwischen Allegorie und allegorisch Gemeintem besteht eine Sachbeziehung, Allegorie sei Ausdruck . Allegorie heißt gewöhnlich sinnliche Darstellung eines Begriffes, und darum nennt man sie abstrakt und zufällig. Die Beziehung des allegorisch Erscheinenden und des Bedeuteten aber ist keine zufällige zeichenhafte, sondern ein Besonderes spielt sich ab, sie ist Ausdruck, und was sich in ihren Raum abspielt, was sich ausdrückt, ist nichts anderes als ein geschichtliches Verhältnis. Das Thema des Allegorischen ist schlechterdings Geschichte. Ebd.,
Die als Allegorie erscheinende 0atur lässt sich als Geschichte entziffern. Ein natürlicher Totenkopf als allegorisches Verhältnis drückt ein konkretes historisches Verhältnis z.B. den Untergang eines Tyrannen aus. Darin sieht Adorno den Schlüssel, um das Problem der zweiten 0atur zu lösen und damit den Gegensatz zwischen Ontologie und Geschichtsphilosophie zu überwinden. Ich zitiere: Alles Sein oder wenigstens alles gewordene Sein, alles gewesene Sein verwandelt sich in Allegorie, und damit hört Allegorie auf, eine bloß kunstgeschichtliche Kategorie zu sein. Ebenso wird das Bedeuten selber aus einem Problem der geschichtsphilosophischen Hermeneutik oder gar dem des transzendenten Sinnes zu dem Moment, das konstitutiv Geschichte in Urgeschichte transsubstanziiert [...] Diese allegorische Relation umschließt in sich bereits die Ahnung eines Verfahrens, dem es gelingen könnte, die konkrete Geschichte in ihren Zügen als 0atur auszulegen und die 0atur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen. Die Ausführung dieser Konzeption ist wiederum die Idee der 0aturgeschichte. Ebd.,
Das „Verfahren stellt schon die 0aturgeschichte jenseits des Dualismus von Ontologie und Geschichte dar, indem die 0aturgeschichte beide Gegensätze als immanente Dialektik denkt: Die Geschichte erscheint als zweite 0atur und die zweite 0atur wird entziffert, indem man die Vergänglichkeit als ihre Bedeutung interpretiert. Die )orm der immanenten dialektischen Auffassung der 0aturgeschichte und ihrer Verbindungen zu der Idee der Deutung ist nicht mehr das System, das die ganze Wirklichkeit umfassen will, sondern die Konstellation. „Die naturgeschichtlichen )ragestellungen sind nicht als generelle Strukturen möglich, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte. Ebd., Die Elemente werden um die zu einer zweiten 0atur gewordenen Wirklichkeit herum gruppiert, bis das Problem verschwindet, das die )rage und damit den Versuch der Antwort aufgeworfen hat. Die um die konkreten historischen Elemente gebauten Konstellationen zeichnen eine )orm, in dem Moment, in dem sie geschaffen werden und sie werden wiederum zum Ausdruck eines )ragments der Wirklichkeit. Eine Konstellation ist wahr, wenn und sobald sie ein )ragment der Wirklichkeit erhellt und damit seinen problematischen Charakter löst. In „Die Aktualität der Philosophie stellt Adorno die Konstellation als Darstellungsform der philosophischen Deutung wie folgt dar:
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[…] [W]ährend die )unktion der Rätsellösung es ist, die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben, nicht hinter dem Rätsel zu beharren und ihm zu gleichen. Echte philosophische Deutung trifft nicht einen hinter der )rage bereits liegenden und beharrenden Sinn, sondern erhellt sie jäh und augenblicklich und verzehrt sie zugleich. Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem sie die singulären und versprengten Elemente der )rage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur )igur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die )rage verschwindet […]. Adorno a,
0ur die Konstruktion der Konstellationen um ein konkretes historisches Moment oder um ein starres )ragment der Geschichte herum ist Ausdruck der Wahrheit dieser Konstellation. Immer dann, wenn die Deutung eines )ragments der Wirklichkeit in dieser konstellativen )orm erreicht werden kann, wird die Wahrheit dieses )ragments der Realität ausgedrückt. Das Wahrheitskriterium besteht darin, dass die zweite 0atur in dieser konstellativen )igur entziffert wird. Die Deutung macht die zweite 0atur wieder dialektisch, indem sie die historischen Inhalte dieser 0atur sichtbar macht. Die 0aturgeschichte als Deutung kann nicht mehr auf das Symbol vertrauen, da die symbolische Philosophie weiterhin noch den Platonischen Dualismus zwischen intelligibler und sinnlicher Welt voraussetzt, wodurch sie nicht in der Lage ist, etwas 0eues hervorzubringen. Die Bedeutung des Symbols – im Unterschied zu der Allegorie als Ausdruck eines geschichtlichen Verhältnisses – ist schon in der Geschichte vorgegeben. Die klassische Hermeneutik hat ihre Aufgabe in der Suche nach diesem vorgegebenen Symbol, das den Sinn enthält. Adorno kritisiert diese Auffassung: „Wer deutet, indem er hinter der phänomenalen Welt eine Welt an sich sucht, die ihr zugrunde liegt und sie trägt, der verhält sich wie einer, der im Rätsel das Abbild eines dahinter liegenden Seins suchen wollte, welches das Rätsel spiegelt, wovon es sich tragen läßt […]. Adorno b, In der 0aturgeschichte als unsymbolische und nicht-dualistische Deutung geht es demgegenüber darum, bestimmte Elemente wie z.B. 0atur , Geschichte , Bedeutung , Vergänglichkeit um die verdinglichte Wirklichkeit herum zu gruppieren, bis sie das wirkliche Problem so zutreffend ausdrücken, dass es ihre historischen Vermittlungen zeigt. Die Konstellation sucht keine in der Geschichte vorliegende Bedeutung, sondern drückt vielmehr ein konkretes geschichtliches Verhältnis aus. Ich habe versucht, zu zeigen, dass die 0aturgeschichte eine Kritik an der Philosophie Schelers übt, welche viele Probleme seiner Ontologie und darüber hinaus seiner philosophischen Anthropologie zum Ausdruck bringt. Sie verzichtet aber einerseits deswegen nicht auf eine Ontologie, sondern fasst die Ontologie ausgehend von der Idee der zweiten 0atur von Hegel und ihre Wiederaufnahme von
ڹDas wäre auch ein zentraler Unterschied zwischen der naturgeschichtlichen Deutung und der Hermeneutik Schelers, der „in der 0achfolge Diltheys, den Menschen als einen Sinnenzusammenhang betrachtet […]. Przylebski ,
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Lukács in „Der Theorie des Romans historisch auf. Andererseits und jenseits der historischen Philosophien ist die 0aturgeschichte keine allgemeine Auffassung des Seins als Geschichte oder Geschichtlichkeit, sondern sie führt die konkrete Geschichte als Deutung der zweiten 0atur ein. Die 0aturgeschichte als ontologische Auffassung der Geschichte als zweite 0atur und die Historisierung dieser zweiten 0atur durch die Deutung in Konstellationen könnte deswegen einen neuen Ausgangspunkt für die gegenwärtige Diskussion zwischen Ontologie oder Geschichte bzw. Philosophischer Anthropologie oder Kritischer Theorie ermöglichen. Einen „neuen-alten Ausgangspunkt, der Adorno schon als „Weiterführung des Dualismus zwischen Ontologie und Geschichte als Resultat der )rankfurter Diskussion darstellt. Einen Ausgangpunkt, der in der Diskussion in den und Jahren bis heute zwischen Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie leider kaum betrachtet worden ist.
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Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. a : Die Aktualität der Philosophie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , )rankfurt a. M., – . Adorno, Theodor W. b : Die Idee der 0aturgeschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , )rankfurt a. M., – . Adorno, Theodor W. c : 0egative Dialektik, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , )rankfurt a. M. Adorno, Theodor W. : Zur Lehre von der Geschichte und von der )reiheit – , in: Ders.: 0achgelassene Schriften, Bd. , )rankfurt a. M. Benjamin, Walter, : Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. I. , )rankfurt a. M. Heidegger, Martin : Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. , )rankfurt a. M., – . Horkheimer, Max : Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , )rankfurt a. M., – . Lukács, Georg : Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin. Lukács, Georg : Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die )ormen der großen Epik, Hamburg. Przylebski, Andrzej : Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg. Scheler, Max : Der )ormalismus in der Ethik und die materiale Wertethik: neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Hamburg. Wussow, Philip von : Logik der Deutung: Adorno und die Philosophie, Würzburg.
Sebastian Edinger
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer So sehr das Haschen nach Aktualität dazu verführen mag, Religion zum philosophischen Thema zu machen, so wenig ist die jüngere Prominenz des Themas, sondern die Aussicht, über die Rolle der Religion im Denken Horkheimers und Plessners sowohl unterbelichtete Ähnlichkeiten als auch eine entscheidende Bifurkation in den Blick zu bekommen, die im Spätwerk Horkheimers sich ausbildet und ihn nicht nur zu Plessner, sondern zu einem einheitlichen Verständnis von Kritischer Theorie in Kontrast setzt. Wenn hier von „Religion die Rede ist, ist ausdrücklich dieselbe, d. h. die Religion in ihrer intellektuellen Gestalt samt ihren Gehalten, aber auch die Religion im historischen sowie gesellschaftlichen und kulturellen Sinn gemeint, nicht aber die Theologie als die wissenschaftliche Behandlung, Aufarbeitung und/oder Kodifikation der Religion. Die doppelte Gestalt des Religionsbegriffs bestimmt gleichermaßen die )ragen, welche an Plessners und Horkheimers Werk gestellt werden, wie die Struktur dieses Aufsatzes. In der Auseinandersetzung mit Plessner geht es um eine doppelte Reflexion der Religion, nämlich um die Reflexion der Religion im Sinne ihrer Kritik aus der Perspektive und auf der Grundlage der Philosophischen Anthropologie; und um die Reflexion der Religion im kulturellen Prozess der 0euzeit und ihre Bedeutung in der Entstehung der Massengesellschaft, wie Plessner sie vor allem in „Die verspätete 0ation ausformuliert hat. Der gleichen Struktur wird die Auseinandersetzung mit Horkheimer folgen, allerdings wird hier zusätzlich zwischen dem frühen und dem späten Horkheimer unterschieden gemäß der Unterteilung seiner Schriften in der Werkausgabe, wonach das )rühwerk den Zeitraum von bis , das Spätwerk den Zeitraum von – umfasst , um gewisse Übergänge und Brüche im Verhältnis Horkheimers zur Religion klarer auszumachen. Die Reihenfolge kehrt sich hier allerdings um, d. h. die doppelte Reflexion enthält im ersten Schritt die Reflexion der Religion im kulturellen Prozess der 0euzeit und der Massengesellschaft im Besonderen; und die Kritik der Religion als Ideologie und die vor allem im Spätwerk konsequent durchgeführte Apologie der Religion als Grundlage von Ideologiekritik.
Sebastian Edinger
I.
Plessners Kritik der Religion
Die einschlägigen Passagen in den „Stufen des Organischen und der Mensch zur Religion finden sich im Kapitel über den Menschen und daselbst in Plessners Ausführungen zum dritten anthropologischen Strukturgesetz, das er als „Gesetz des utopischen Standorts bezeichnet. Doch was Plessner in diesem Abschnitt sagt, lässt sich ohne den Rückgang auf die gleichermaßen systematischen wie philosophiegeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Grundlagen der „Stufen“, d. h. ohne Rückgang auf den Begriff des Lebens, nicht verstehen. Leben ist Plessner zufolge nicht lediglich ein Wort, auch nicht das, was man heute gerne „Paradigma nennt, sondern der hermeneutische Widerschein einer epochalen Tektonik: „Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens. Plessner , Anders als die sogenannten Lebensphilosophen Spengler, Bergson versteht Plessner Leben im Sinne Diltheys als eine „erfahrbare und selbst wieder die Erfahrung von sich ermöglichende, erzwingende Größe. Alle unsere Kräfte sind aufgerufen, das Vergangene in seinem Wesen und damit das Leben in seinem Wesen zu erforschen ebd., . In der hier angedeuteten reflexiven Verstehensstruktur muss das Leben sich, um sich verstehen zu können, im Medium eines verstehenden Lebendigen selbst verstehen; Leben verstehen heißt dann, dass Lebendiges sich von der Struktur seiner Lebendigkeit her begreift, weshalb die „Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte ebd., sich nur in diese Strukturgesetzlichkeit eröffnenden Entäußerungen des Lebendigen, nämlich im Ausdruck und „auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks ebd. realisieren lässt. Auf die tektonischen Bewegungen der Epoche und ihre hermeneutischen Auswüchse antwortet Plessner mit einer Philosophischen Anthropologie, deren Anspruch in nicht weniger als darin besteht, auf der Basis „phänomenologische[r] Deskription ebd., und der „umfassenderen Strukturgesetze[n] der Lebenspläne ebd., f eine Hermeneutik der Natur und der in sie eingelassenen Lebensformen Pflanze, Tier und Mensch zu entwickeln. Worin Pflanze, Tier und Mensch als Organismen elementar übereinstimmen, ist ihr Eingelassensein in den „Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird ebd., . Der Mensch ist das einzige Wesen, dessen organismisches Sein nicht nur ein organisches Selbstvermittlungsverhältnis der Organismus zur Ganzheit und ein Vermittlungsverhältnis mit dem Positionsfeld darstellt im „Antagonismus der Organe , ebd., , sondern für den das Vermittlungsverhältnis selbst aufgrund der exzentrischen Positionalität wiederum vermittlungsfähig ist. Die Vermittlungsfähigkeit bzw. Objektivierbarkeit
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
dieses Vermittlungsverhältnisses basiert auf dem die exzentrische Positionalität prozessual realisierenden Wechselspiel von Exzentrierung und Rezentrierung, dessen immanente )inalität die alles andere als finale Erlangung eines bloß temporär möglichen Ausgleichs von Exzentrierung und Rezentrierung ist. Diese afinale )inalität der exzentrischen Positionalität begründet nicht nur die Unabschließbarkeit der Lebensführung fundierenden personalen Ausgleichsleistungen z. B. der Verschränkung von Leibsein und Körperhaben im Rollenspiel , sondern auch die Unabschließbarkeit des Denkens, das in jeder Manifestation von Gedanken eine Gestalt vermittelter Unmittelbarkeit erzeugt, die selbst wieder qua Exzentrierung vermittelbar ist. Dem entgegen steht ein „mit der menschlichen Lebensform an sich gegebener Kern, der Kern aller Religiosität ebd., , für welche es Plessner zufolge kennzeichnend ist, „ein Definitivum ebd. zu erschaffen: „Das, was dem Menschen 0atur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm geben. Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion. Ebd. Worauf Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie jedoch zielt, ist das genaue Gegenteil: an die Stelle eines Definitivums tritt bei Plessner als „Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie – so auch der Titel seines programmatischen Aufsatzes von – der „Mut zur rückhaltlosen Skepsis als einer Methode des Menschen, sich durch Selbstentsicherung wiederzufinden Plessner a, . Die Selbstentsicherung bildet die offensive und affirmative Konsequenz aus dem in „Macht und menschliche 0atur entwickelten Prinzip der Unergründlichkeit, dessen konkret pragmatische Konsequenz, die im gerne scholastisch verstandenen Begriff des „Prinzips bloß anklingt, Plessner zufolge darin besteht, „dieser ungeheuren )reiheit durch eine neue Bindung begegnen zu müssen. Diese Bindung wächst aus keiner wie immer gearteten absoluten Wirklichkeit mehr zu. Plessner , Die Entsicherung steht in einem paradoxen Verhältnis zur Religion, weil sie auf einer Entschränkung basiert, eine Entschränkung von Gebundenheit aber auch in der letzten Bindung des religiösen Glaubens und des Verhältnisses zu einer absoluten im Unterschied zu bloß weltlichen Instanzen stattfindet. Doch die Entschränkung, von welcher Plessner spricht, ist die Entschränkung des „Horizont[s] der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auf die zu den heterogensten Perspektiven aufgebrochene Geschichte ebd., . In der Entsicherung findet die Entschränkung im perspektivischen Verhältnis zu Welt und Geschichte statt; die Entsicherung
ڲVgl. Krüger , ff. ڳPlessner spricht nicht von der Unergründlichkeit des Menschen, sondern von der „Unergründlichkeit des Lebens Plessner , und . ڴVgl. ebd., .
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findet erst statt, wo das Innerhalb- und Außerhalb-einer-Perspektive-Sein nicht bloß in abstracto anerkannt, sondern in concreto, d. h. in der 0achträglichkeit gegenüber der perspektivischen Immanenz vollzogen wird. Bei dieser 0achträglichkeit handelt es sich zugleich um eine Temporalisierung und Reflexivierung, aufgrund welcher mit dem Wortsinn von Perspektive überhaupt erst praktisch ernstgemacht wird. Diese Relativierung hat also mit einem Relativismus nichts zu tun, der lediglich abstrakt postuliert, dass nichts außerhalb einer Relativität zu anderem bestehen könne und deshalb kein Absolutes sein könne, sondern in Plessners Relativierung wird die Selbstbezüglichkeit der Entsicherung auf eine die eigene Existenz dezentrierende und nicht scholastisch entschärfbare Weise durchgeführt. Die Relativierung selbst hat darum jedoch darin wiederum einen absoluten Charakter, handelt sie vom Menschen doch als von einer „gegen religiöse und rassenmäßige Unterschiede indifferenten weltbildenden Wirklichkeit , die sie jedoch als eine solche nur ernstnehmen kann, indem sie diese „weltbildende Wirklichkeit vorbehaltlos anerkannt als etwas, das sich durch eine unaufhebbare Differenz gegenüber sekundären Unterschieden auszeichnet, anders gesagt: als etwas, dessen Wirklichkeit es ausmacht, nicht in dieser oder jener – auch religiösen – Verwirklichungsform aufgehen zu können. Die Identifikation einer intendierten Verwirklichungsform mit der idealen und zu realisierenden Wirklichkeit macht Plessner im „zu den lebendigsten Antrieben des [sozialen, S.E.] Radikalismus Plessner b, geltenden „Christentum der Evangelien ebd. und der Reformierung der „Kirche im Geiste der Urchristen ebd., aus, während er einen Ausgleichsleistungen evozierenden Bruch zwischen Idealität und Realität im Katholizismus vgl. ebd., und im Denken Thomas von Aquins vgl. ebd., und vollzogen sieht. Der Radikalismus der „Grenzen der Gemeinschaft ist das sozial-intentionale Korrelat des Definitivums der „Stufen“, die Übersetzung der Glaubensgewissheit in ein die Enge zur Tugend erhebendes eschatologisches Sozialethos. In seiner späten „Selbstdarstellung kommt Plessner im systematischen Sinn und im Rückblick auf die „Stufen auf die Religion zurück, allerdings mit einer gänzlich anderen, transzendental-rekonstruktiven Akzentuierung. Die Religion wird nicht mehr kritisiert, sondern ihre kulturell universale Existenz wird anthropolo-
„ ڵInnerhalb ihrer Perspektive steht die Lebensphilosophie außerhalb ihrer Perspektive. Ihre Immanenz ist eine offene Immanenz und nicht mit der alten geschlossenen Immanenz zu vergleichen, welche am Modell des Bewußtseins, das nur Bewußtseinsinhalte hat und faßt, orientiert war und als Prinzip auf die Tatsache der Eingebundenheit des Denkens und Wissens in die Geschichte, in die Gesellschaft und ihre ökonomische Daseinsverfassung angewendet den Historismus und Relativismus erzeugt. Ebd., f „ ڶDie vom Abendland errungene Weite des Blicks erfordert die Relativierung der eigenen Position gegen die anderen Positionen. Ihr Mittel und ihre Entdeckung ist der Begriff Mensch, sind im Grunde alle formalen oder formalisierbaren Kategorien wie Leben, Kultur, Welt. Ebd., ڷEbd., .
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gisch begründet, ohne dass die Unergründlichkeit, hier Bodenlosigkeit genannt, aufgegeben würde: „Diese Bodenlosigkeit, die schlechthin alles transzendiert, kann nur religiös beantwortet werden, weshalb keine )orm von Menschsein ohne religiöses Verhalten zu finden ist. Plessner a, f Anders als die Relativierung aus „Macht und menschliche 0atur , die eine „Rücknahme der über- und außermenschlichen )orderungen religiöser, ethischer, juristischer, künstlerischer, wissenschaftlicher Wirklichkeiten in den Machtbereich schöpferischer Subjektivität, die sich an sie verlieren kann, weil sie produktiv-selbstvergessen ins Dasein und in Geltung gesetzt hat Plessner a, meint, ist die Bodenlosigkeit hier ein universaler und positiver Ermöglichungsgrund. Das Religiöse kommt hier neutral in den Blick als eine existenziale Möglichkeit, deren Verwirklichung nicht wie in frühen Werken Plessners negativ konnotiert ist. 0icht die Affinität des Religiösen zum radikalistischen Sozialethos oder zur Weigerung, die eigene Existenz in ihrer eschatologischen Bodenlosigkeit als Wagnis auf sich zu nehmen, kommt Plessner hier in den Sinn, sondern die )rage nach dem positiven Ermöglichungsgrund dessen, dem in seiner kulturellen Universalität und aufgrund dieser anthropologische Relevanz zukommt. Plessners Konzept des homo absconditus mag dazu verleiten, leichthin eine negative Theologie in Plessners Philosophischer Anthropologie auszumachen, doch damit würde man – von philologistischen Bedürfnissen geleitet – den Zusammenhang mit dem Prinzip der Unergründlichkeit überspringen und am zunächst praktischen Sinn dieses Prinzips, den es in „Macht und menschliche 0atur zuvörderst hat, vorbeieilen. In seiner ursprünglichen )assung ist das Prinzip ein Prinzip der einer reflexiven, ihrer eigenen Unabschließbarkeit und Unprivilegierbarkeit gegenüber anderen Selbst- und Lebensentwürfen sich bewussten Lebensführung: „Die Unergründlichkeit seiner selbst ist das um des Ernstes seiner [des Menschen, S.E.] Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses. Plessner , In „Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie hebt Plessner es dementsprechend als Vorzug hervor, dass dieselbe „sich ihrer theoretischen Grenzen im Hinblick auf ihre praktische Verantwortung gegen die Unergründlichkeit des Menschenmöglichen bewußt ist Plessner a, . Doch der praktische Sinn dieses Prinzips öffnet es für eine theoretisch-negativistische Indienstnahme allenfalls auf einem zweifelhaften Umweg über die Geschichte, die Plessner im besagten Aufsatz merkwürdigerweise als Organon theoretischanthropologischer Erkenntnis nominiert: „Die Erfahrungen des . Jahrhunderts haben uns die Unergründlichkeit der menschlichen 0atur kennen gelehrt. Ebd., Es lässt sich daher durchaus die )rage aufwerfen, ob in die Anlage der Theorie
ڸBereits in Macht und menschliche Natur spricht Plessner vom „Wagnis der Bodenlosigkeit Plessner a, – einer Bodenlosigkeit, die deshalb ein Wagnis ist, weil die Relativierung, indem sie die 0otwendigkeit praktischer Bestimmungen worunter auch theoretische fallen in der geschichtlichen Situation nicht aufhebt, keine lehnstuhlkompatible Relativität hergibt.
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eingewandert ist, was zuvor schon als historische Erkenntnis vorhanden war. Dann würde Plessner sich in den „anthropologischen Zirkel )oucault hineinbegeben und in einer petitio principii Empirisches transzendentalisieren. )ür diese Lesart spricht, dass Plessner am Ende des Aufsatzes als den „eigentlich philosophische[n] Zweck der Philosophischen Anthropologie ebd., in einer Kant-Variation anführt, „das Können des Menschen durch grenzenlose Entschränkung des Wissens um seine Unergründlichkeit und Unsicherheit gegen den Quellbereich seiner Zukunft einzuschränken, um zum Glauben an den Menschen wieder Platz zu bekommen ebd. . Hier, wo einer negativen Theologie des Menschen prima facie Bahn gebrochen wird, bricht Plessners Text allerdings auch ab. Der Glaube an den Menschen bleibt – nicht nur im angesprochenen Text – unbestimmt, lässt sich aber vom Prinzip der Unergründlichkeit her dennoch bestimmen als der Glaube an den Menschen, insoweit dieser sich seiner Unergründlichkeit in den Selbst- Bestimmungsvollzügen der praktischen Existenz und Lebensführung stellt. Der Glaube an den Menschen ist dann der Glaube an den unergründlichen und sich seiner als unergründlich bewussten Menschen, d. h. der Glaube an den Menschen ist das Vertrauen zum Menschen, dass er sich seiner Unergründlichkeit stelle. In „Die verspätete 0ation begründet Plessner die über den Menschen des . Jahrhunderts verhängte Unmöglichkeit dieses Glaubens, sofern dieser Glaube ohne die Anerkennung der Unergründlichkeit auszukommen versucht oder gerade eine ultima ratio erstrebt, d. h. im Sinne des Religionsbegriffs der „Stufen , religiös ist: Das . Jahrhundert hatte den Unglauben an Gott der Öffentlichkeit zum Bewußtsein gebracht, ihren Glauben an den Menschen aber noch nicht zu erschüttern vermocht. Das . Jahrhundert hat sogar noch diesen Glauben, den Humanismus im öffentlichen Bewußtsein getötet und das Leben ohne jede metaphysische, geschichtliche oder natürliche Autorität und Verheißung nicht nur unausweichlich gemacht, sondern zum praktischen, ja politischen Postulat erhoben. Plessner ,
Der Glaube an den Menschen wäre dann das historisch nicht mehr begründbare Trotzdem, das gleichwohl eine humanistische 0otwendigkeit im Sinne eines Humanismus unter negativen Vorzeichen bzw. unter dem Prinzip der Unergründlichkeit wäre. Will man die Unergründlichkeit als krypto-theologische Denkfigur verstehen, so muss man sie zugleich in ihrer Gegensätzlichkeit zu aller Religion und der religiösen Hingabe im Glauben begreifen. Im Angesicht der Unergründlichkeit um die Würde des Menschen zu ringen heißt dann auch, ohne den Glauben an Gotteskindschaft und/oder Gottesebenbildlichkeit vgl. Plessner , sich einzulassen auf die „die )rage, was es bedeutet und wie es möglich ist: ein Mensch zu sein. Plessner , Die erste maßgebliche Definition des homo absconditus, mit welchem Plessner auf diese )rage antwortet und dessen Bestimmung er nicht im gleichnamigen Aufsatz, sondern in „Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
formuliert, nimmt implizit wie der Ausdruck vom „Glauben an den Menschen Bezug auf Kant, und zwar im Ausdruck der „menschlichen )reiheit , welche hier das funktionale Äquivalent der praktischen Vernunft darstellt: „Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen )estlegung sich entziehende Macht seiner )reiheit, die alle )esseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaft ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft. Plessner b, Die Grenze der Theorie wird hier nicht innerhalb der Theorie selbst aufgespürt, auch nicht schlicht innerhalb der Praxis, wie ein Denken mutmaßen muss, das sich roboterhaft innerhalb eingeübter Unterscheidungen bewegt, sondern die Grenze der Theorie resultiert aus der )reiheit, welche Teil und Bruchstelle von Praxis ist. Diese )reiheit ist nicht intentional theologischer Art bei Plessner, und allenfalls vage Assoziationen des homo absconditus mit dem deus absconditus könnte eine theologische oder negativ-theologische Deutung nahelegen. Plessners Verortung sowohl seiner Philosophischen Anthropologie im Ganzen als auch des homoabsconditus-Konzepts in concreto, wie auch die affirmative, in die Begründung des eigenen geistesgeschichtlichen Standorts einbezogene Bezugnahme auf )euerbach in „Homo absconditus zeigen allerdings klar, dass man in diesem )all exegetisch fehlgehen würde würde: „Anthropologie löst Theologie ab, eine Aufgabe, der sich )euerbach unterzogen hat. Plessner d, Plessners Religionskritik aus den „Stufen wird insofern konsequent weitergeführt, als Plessner nicht nur das Material der Theologie verwirft, sondern eine jede Theologie als unaufhebbar diesem Material verpflichtet begreift, wodurch eine philosophische Theologie unmöglich wird und eine negative Theologie im eigentlichen Wortsinne nur eine des deus absconditus, nie aber eine des homo absconditus sein kann: „Der Boden der Theologie ist der Glaube an den geoffenbarten Gott. Sie stützt sich auf die Heilige Schrift und das in ihr Ausdruck gewordene Wort Gottes. Plessner b, Plessner hat nicht nur in den „Stufen die Religion als Zufluchtsmöglichkeit verworfen, er hat auch den Boden der Theologie nie betreten, denn dazu hätte er den Boden der Philosophischen Anthropologie erst verlassen müssen.
ڹDen 0achfolgerstatus der Philosophischen Anthropologie hebt Plessner an mehreren zentralen Stellen deutlich hervor: „Der Ruf nach Philosophischer Anthropologie ist der späte Reflex einer ganzen Geschichte des neuzeitlichen Denkens über den Menschen, welches seine 0atur in ein um so schärferes Licht rückte, als seine Rolle in der Welt sich verdunkelte. Spät ist in dieser Geschichte das empirische Interesse an menschlichen Dingen erwacht, spät hat es sich in eigenen Wissenschaften kanalisiert, weil Theologie die Szene bis ins achtzehnte Jahrhundert beherrschte. Plessner c,
Sebastian Edinger
II.
Die Religion im neuzeitlichen Entstehungsprozess der Nation
Es ist beachtlich, wie wenig Raum Plessners systematische Ausführungen zur Religion in seinem Gesamtwerk einnehmen, wenn man bedenkt, welche tragende Rolle die Religion und ihre Metamorphosen und Transformation im politischen und gesellschaftlichen Prozess der westlichen 0euzeit gespielt haben. Die Religiosität wird nicht erst in „Die verspätete 0ation zu einem unhintergehbaren Gegenstand von Plessners Überlegungen, sondern bereits in seiner Analyse des „tragizistischen Dualismus des Luthertums Plessner b, in den „Grenzen der Gemeinschaft . Der tragizistische Dualismus Luthers ist das religiöse Pendant dessen, was in der Übersetzung in die Sprache der Philosophie der Idealismus ist, in Plessners Worten: die „sentimentale Opposition des reinen Idealismus, der das Unbedingte gegen das Bedingte ebd., f ausspiele. Der „reine Idealismus ist keine philosophische Position, sondern eine ideologisch unterfütterte „extremistische Haltung ebd., , die publizistisch von Plessner nicht neutral verhandelt werden kann, weil sie selbst nicht verhandlungsfähig ist, indem sie die Innerlichkeit fundamentalisiert und in die )rontstellung gegen das Gesellschaftliche bringt. Die „Verfeindung von Innerlichkeit und Wirklichkeit ebd., erhellt weder die eine noch die andere, weil sie beide von vornherein gegeneinander abschließt; im reinen Idealismus gehen die Innerlichkeit und ihre kollektivierte Variante, die Gemeinschaft, nicht durch ihren Gegensatz, in Wahrheit das Andere ihrer selbst, hindurch, und bleiben dadurch gleichsam ein inwendiger, monadischer Tremor. Der konfessionelle 0ame dieses idealistischen Tremors lautet Protestantismus, den Plessner in den „Grenzen der Gemeinschaft noch recht schief als „Religion der Konzessionslosigkeit ebd., bezeichnet, bevor er in „Die verspätete 0ation eine weitere Perspektive auf den Protestantismus einnimmt, der dann keineswegs mehr nur von seinen – keineswegs nur ihm als ideologischer Grundlage eigenen – Radikalisierungspotenzialen her begriffen wird. Hier muss allerdings in groben Zügen skizziert werden, was eine ausführlichere Betrachtung verdient hätte. Plessner spricht vom „Wesen des Protestantismus Plessner , , welches er inhaltlich bestimmt durch die „Beförderung eines Spiels religiöser Kräfte aus dem Bewußtsein der )raglichkeit der eigenen Konfession heraus ebd. . Dieser scheinbare Widerspruch resultiert aus einer internen Differenzierung des Protestantismus, in welcher zwischen dem eigentlichen Protestantismus und dessen staatskirchlich beschlagnahmter lutherischer Variante unterschieden wird: „Die lutherische Staatskirche unterband die Entwicklung der neu geweckten religiösen Kräfte ebd., und hat zwar „die Entbindung religiöser Energien […] nicht hindern können, jedoch ihre konfessionelle Entfaltung in der freien Öffentlichkeit außerhalb der eigenen Kirche gehemmt ebd., . Die „luthe-
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
rische Indifferenz gegen alles, was mit Politik zusammenhängt ebd., , hat politische Konsequenzen, weil sie den „Dualismus zwischen Dienst an der Öffentlichkeit und Dienst gegen Gott ebd. aus sich heraus gebiert. Die lutherische Weltfrömmigkeit, der laut Plessner politisch verhängnisvolle 0ährboden der politischen Indifferenz, kennzeichnet daher eine doppelte „innere Verhältnislosigkeit zu den Ideen der Aufklärung und zum Katholizismus ebd., im Unterschied zur Romantik. Die )ernwirkung dieser Verhältnislosigkeit ist dramatisch, denn es sind „das Luthertum und die nationale Zerrissenheit ebd., , welche „Deutschland der Aufklärung und damit dem politischen Humanismus verschlossen ebd. hätten. Daran ändert auch der Zwiespalt von Protestantismus und Staatskirche vgl. ebd., , der ein „Bedürfnis nach Ausgleich in weltlichen Ersatzbildungen ebd., und damit die „bürgerliche Berufskultur ebd. erzeuge, nichts. Die bürgerliche Berufskultur hat Plessner zufolge als Ersatzbildung eine „religiöse )unktion ebd. zu erfüllen, weil in ihrer Berufsidee das Luthertum fortlebt, zugleich aber die Umsetzung dieser Berufsidee dem Übergang von einer Glaubensgemeinschaft zu einem protestantischen Bürgertum den Weg ebnet: Durch die Kraft der Berufsidee fällt dem Luthertum in Deutschland die Aufgabe zu, dem geistigen Leben persönliche Energien zuzuführen, weil es die Leistung in weltlicher Arbeit religiös rechtfertigt. Das protestantische Bürgertum wird zum Träger einer auf Leistung gestellten, vorwärts drängenden Kultur. Was immer auch an 0euem geschaffen wird, es geht von Protestanten aus. Ebd.,
Dieser Protestantismus hat lutherische Wurzeln, ist aber kein bloß ins Weltliche übersetztes Luthertum mehr, weil es diesem „säkularisierten Protestantismus ein historisches und existenzielles Anliegen ist, weltliche Ausdrucksformen zu entwickeln: „Seine Ausdrucksform ist das Suchen nach einer irgendwie artgemäßen oder persongebundenen Weltanschauung im Bereich der Philosophie, der Wissenschaft ebd., . In der ausbleibenden staatskirchlichen Entfaltung religiöser Energien hat die Weltfrömmigkeit sich ihr säkulares, das Individuum in seinem weltlichen Streben motivierendes und seinen 0arzissmus umweglos bedienendes Korrektiv in der „bürgerliche[n] Epoche des )rühkapitalismus ebd., erschaffen: die Persönlichkeit vgl. ebd., , die sowohl nach dem individuellen Ausdruck wie auch, um das Bedürfnis legitimatorisch zu fundamentalisieren, einer Ideologie des Ausdrucks bedarf. Der Protestantismus ist säkularisierbar, das Luthertum hingegen nicht, wie das „innerkirchliche )iasko des Luthertums im Gesichtskreis der bürgerlichen Epoche ebd., zeigt. Das )ortleben des Luthertums im Protestantismus gibt diesem jedoch trotz seiner Säkularisierung und kulturelle Kräfte mobilisierenden Kraft eine spezifisch deutsche Schwere mit der )olge, dass „Einsamkeit und Tiefe zur protestantischen Kulturidee Deutschlands ebd., in ein Verwandtschaftsverhältnis treten. Die Erosion des Protestantismus ermöglicht keine Herausbildung einer Kulturidee ab ovo, die Verweltlichung des Protestantismus erweist sich nicht als seine Exemtion
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aus der Kultur; seine Transformation geht nicht mit dem Verlust seiner untergründigen ideellen Gestaltungskraft einher: In Deutschland dagegen verlor der Protestantismus im allgemeinen Zuge der Verweltlichung seine konfessionelle )estigkeit, überdauerte diesen Verlust aber in einer eigentümlich weltfrömmigen Haltung, die nach weltanschaulichem Ausdruck ringt. Von ihr sind Arbeit und Spiel, )orschung und Kunst, das ganze Leben der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates durchdrungen. Ebd.,
Was bedeutet dies nun für Plessners Auffassung der Religion über religionssoziologische Erwägungen hinaus? Wichtiger als die politische Argumentationslinie Plessners, die hier nicht verfolgt werden kann, sind seine Ausführungen zum Verhältnis des Protestantismus zur Aufklärung, die noch vor aller konkreten Philosophie das Prinzip der Philosophie im Verhältnis zur Religion historisch verkörpert. Es ist mehr als eine religionssoziologische Behauptung, wenn Plessner sagt: „Auf lutherischem Boden hat sich eine Aufklärungskultur jedenfalls nicht entwickeln können. Ebd., Diese Diagnose Plessners koinzidiert in historisch-soziologischer Perspektive mit seiner Definition der Religion in den „Stufen ; das Definitivum steht der Geisteshaltung unversöhnlich gegenüber, deren definiens die Aufhebung des Definitivums in die unabschließbare Logik von Exzentrierungs- und Rezentrierungsvollzügen ist. Wo die „Heimat vgl. Plessner , nicht mehr im Glauben gefunden werden kann und – soweit das religiöse Bedürfnis ins Politische hineinreicht –, muss als pseudo-politischer Ersatzträger in der Verlängerung der Aufklärungsferne das Volkstum herhalten vgl. Plessner , . Während im Luthertum die religiöse Heimatssehnsucht eine abschließende und die )undamentalität des Glaubens konservierende )unktion hat, gerät im säkularisierten Protestantismus die Weltgestaltung zur Erschaffung einer zweiten Heimat; die dyadische Komposition gerät in den Strudel der Geschichte und die Glaubensgemeinschaft geht im protestantischen Bürgertum weitgehend auf.
III. Die Religion in Horkheimers Ideologiekritik Horkheimers programmatisch wegweisende, veröffentlichte Ausführungen zur Betrachtung der Religion finden sich in seiner Antrittsvorlesung von , „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben des Instituts für Sozialforschung , wo er die methodische Verbindlichkeit Hegels zum programmatischen Anker unter materialistischen Vorzeichen macht: Als ihr [der Sozialphilosophie – S.E.] letztes Ziel gilt danach die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt. Sozialphilosophie, auf solche Weise verstanden, hat sich in der Geschichte des klassischen deutschen Idealismus zur entscheidenden philosophischen Aufgabe entwickelt. Ihre glänzendsten Leistungen sind zugleich die wirksamsten Teile des Hegelschen Systems. Horkheimer a,
Die Religion wird hier bereits dem Diktat der Vermittlungsanalyse entlang des )luchtpunkts des gesellschaftlichen Lebens unterworfen und anderen gesellschaftlich vermittelten Phänomenen wie Wirtschaft und Recht nebengeordnet; eine immanente Kritik der Religion scheidet damit aus dem systematischen Rahmen Horkheimers aus, und dies insbesondere dadurch, dass seine Auffassung von Dialektik anders als die Hegelsche eine materialistische ist: 0ach Hegel wird der Gang der universalen Dialektik durch die immanente Dynamik der Begriffe eindeutig festgelegt; dagegen gilt dem Materialismus jede dialektische Konstruktion als ein Produkt, das Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt entwerfen. Horkheimer b,
Die materialistische unterscheidet sich nach Horkheimer von der idealistischen Dialektik maßgeblich dadurch, dass sie ein Außen kennt, das in die Analyse des Gegenstandes selbst eingreift und dort zugleich auf sich selbst als ein Inneres, ein Moment und Konstituens, trifft. In die )rontstellung gegen den Idealismus geht auch die Aversion gegen isolationistische Enthebungen ein, d. h. gegen das Bestreben, Werte von ihrer gesellschaftlichen Genesis und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in vermeintlich hehrer Absicht abzuschneiden. In einer Übersetzung dieser methodischen Orientierung in die 0omenklatur akademischer Disziplinen kommt hier der Vorrang der Soziologie vor der Philosophie zum Ausdruck – eine wissenschaftsaxiologische Weichenstellung, die ihr Präludium in unveröffentlichten Manuskripten Horkheimers gefunden hat, wie ein Blick auf eine mutmaßlich bereits aus dem Jahr stammende Vorlage eines Vortrags zeigt, die in den „Gesammelten Schriften Horkheimers unter dem Titel „Über Sinn und Grenzen einer soziologischen Behandlung der Philosophie abgedruckt ist. Hier führt Horkheimer nämlich den in den Schriften der er Jahre virulenten Begriff der „ideologischen )unktion ein, der in den Schriften der 0achkriegszeit meines Wissens nicht mehr auftaucht. Dieser Begriff wird von Horkheimer programmatisch, aber inhaltlich unspezifisch, d. h. nicht nur zur Analyse eines bestimmten Gegenstandes, etwa der Religion, verwendet. In dem besagten Text spricht Horkheimer von der „ideologische[n] )unktion der Philosophie Horkheimer a, , aber auch von der der Metaphysik. Die generalisierte Bedeutung dieses Begriffs zeigt sich darin, dass Horkheimer zufolge „nicht bloß Theorien und )ragestellungen, sondern ebensosehr politische Einrichtungen etwa das gleiche Stimmrecht , die Weise, wie sich Menschen in der Öffentlichkeit begegnen, die Höflichkeit, die Sitten überhaupt, der Sport, die Art der Wohnungseinrichtung […] in
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gleichem Maß Gegenstand der Untersuchung seiner ideologischen )unktion im gesellschaftlichen Kräftespiel ebd., sein können. Eine ideologische )unktion kann in der verschleiernden Auflösung zwischen Geistigem und Realität bestehen, genauso gut aber in der Herstellung eines scheinhaften Zusammenhangs. Das Beispiel der verschleiernden Auflösung greift Horkheimer in der Kritik einer konstruktivistischen Selbstreferenzialität der Kunst an: „Sobald aber Kunst ohne diese Beziehung auf die Realität gesehen wird, gewinnt sie ideologische )unktionen, d. h. sie macht dasselbe wie die Religion, sie will uns etwas aufschwatzen. Horkheimer a, Die umgekehrte Weise, eine ideologische )unktion auszuüben, expliziert Horkheimer – ideengeschichtlich und geschichtsphilosophisch groß angelegt – in seinem Essay „Egoismus und )reiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters , ohne den Begriff darin zu verwenden. Was Horkheimer darin zu explizieren trachtet, ist das „Wesen bürgerlichen )ührertums Horkheimer c, , das im Medium einer Analyse der politischen Instrumentalisierung der Religion durchzuführen ist. Die Sprache der Predigt ist deshalb keine Angelegenheit der Theologie mehr, sondern der materialistischen Gesellschaftstheorie: „Die Sprache der Predigt ist demokratisch, sie richtet sich an alle ebd., , und die Verwendung dieser Sprache ist gleichermaßen manipulatorisch wie funktional: In der Massenversammlung mag der Inhalt der Rede wechseln, er erfüllt selbst bloß eine mechanische )unktion bei der Suggestion eines bestimmten Verhaltens. Die religiösen wie die politischen Massenredner des Bürgertums wählen die Worte nicht so sehr nach ihrer Angemessenheit an den Gegenstand als an den je zu erreichenden Effekt. Ebd.,
In einer solchen soziologischen Analyse der Religion ist keine Kritik der Religion als solcher enthalten, sondern eine Kritik der )unktionalisierung der Religion innerhalb der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Entwicklung zur Massendemokratie. In seinen konkreten Ausführungen zur )unktionalisierung der Religion trifft Horkheimer sich allerdings, so in seinem erschienenen Aufsatz „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie , in wesentlichen Motiven, insbesondere in der Auffassung des Gemeinschaftskults als Ersatzreligion, mit Plessners Analysen in dessen „Grenzen der Gemeinschaft . Zu beachten ist hierbei, dass Horkheimer in seinen Schriften der er Jahre – im Unterschied zu Plessners Kritik der Jugendbewegten – die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ins Visier nimmt, jedoch eine vergleichbare Logik der )atalität sich historisch entrollen sieht. Im besagten Essay schreibt Horkheimer: An die Stelle religiöser Begriffe treten jetzt weitgehend symbolische Kategorien anderer Ordnung, oder sie gelten beide nebeneinander. Was in der Religion um Gottes willen gefordert wurde, geschieht jetzt für das Ganze, für die Gemeinschaft. Das rechte Leben, das ehemals
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
durch die Gnade bewirkt wurde, soll jetzt aus der vitalen 0aturgebundenheit, aus den Mächten des Blutes und Bodens hervorgehen. Horkheimer b,
Dabei geht es um mehr als nur eine einfache Substitution, die sich ohne ihre Verwurzelung in der individualistischen Logik der Massengesellschaft verstehen ließe, da die Menschen im Gemeinschaftskult „ebenso an individualistische Werte fixiert [sind] wie beim rücksichtslosesten Egoismus – nur daß diese Ideen positiv auf das Ganze übertragen sind und beim Individuum selbst mit umgekehrtem Vorzeichen auftreten: anstelle der persönlichen Macht steht nun der Gehorsam ebd., . Die vermeintliche Überwindung des Individualismus und Egoismus bildet vielmehr deren psychologische Inversion, die Verdrängung der Triebbefriedigung findet nicht zugunsten der Arbeit und der Erreichung materieller Ziele statt, sondern im Dienste der Gemeinschaft, die als „von oben als schlechthin zu verehrende Wesenheit gesetzt ebd., werde und damit auch „im Sinne der Erhaltung des Systems ebd. . Diese Umkehrung der individualistischen Bestrebungen, eine Perversion eines bereits Pervertierten im Dienste eines neuen Götzen, erfolgt im Rahmen der Logik religiöser Verehrung, sofern man die Religion in ihrem neuzeitlichinstitutionalisierten Sinn auffasst. Zugleich ist diese Umkehrung, so antikapitalistisch sie sich gibt, als Götzendienst zugleich anti-emanzipatorisch, weil nur von der Gesellschaft als Bezugspunkt her die emanzipatorisch notwendige Distanzierung nötig wäre, die im Gemeinschaftskult verunmöglicht wird; im Primat der Gesellschaft vor der Gemeinschaft und der Auffassung von Gesellschaft als einzig möglichem politischem Emanzipationsmedium treffen sich Horkheimer und Plessner, wie eine Stelle bei Plessner zeigt: „Tatsächlich liegt es so, daß die sich und Marx mißverstehenden Arbeitermassen vornehmlich im Ethos der Gemeinschaft verankert sind soweit sie überhaupt ein Lebensbewußtsein haben oder erstreben , obwohl sie ihren Berufsinteressen nach, was Marx gerade zu beweisen suchte, einer gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet sind. Plessner b, Das von Plessner angesprochene „Ethos der Gemeinschaft hat auch Horkheimer keineswegs übersehen und in der Retrospektive, im Rahmen eines gehaltenen Vortrags mit dem Titel „Philosophie und Studium , als kompensatorisches Ethos der Verzweiflung der Jugend „gerade schon vor dem Dritten Reich Horkheimer b, angesprochen: Man kann die Lüge nicht so glauben wie die Wahrheit. Aber sie versprach dem isolierten Individuum Erfüllung der Sehnsucht nach Gemeinschaft, auch wenn sie eine Pseudogemeinschaft war, dem entmachteten Subjekt die geschichtliche Verwirklichung, auch wenn sie schließlich in den Abgrund führte. )ast verbissen und krampfhaft zwang sich die Jugend zu Gefolgschaft und Enthusiasmus, denen die Ahnung des Untergangs durch den häufigen Gebrauch des Wortes tragisch‘ im ersten Augenblick anzumerken war ebd. .
Mit diesen soziologischen Erwägungen zur Religion ist jedoch keineswegs Horkheimers letztes Wort zur Religion gesagt ist, wie seine Umwertung der Religion in sei-
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nen späteren Schriften zeigt, wo die ersten Tendenzen seiner späteren )rühschriften zu einer Apologie des emanzipatorischen Gehalts der Religion durchbrechen.
IV. Die Religion in Horkheimers Spätwerk und der Konservatismus seiner späten Kritischen Theorie Das Spätwerk Horkheimers, der Periodisierung der „Gesammelten Schriften zufolge beginnend, zeigt ein grundlegend verändertes Verhältnis zur Religion, die nicht mehr ausschließlich materialistisch betrachtet wird, sondern – diese Zuspitzung wird sich wird zu erläutern sein – gleichermaßen konservativ und platonisch, innerhalb seiner eigenen denkerischen Entwicklung und gegen das Standardbild der Kritischen Theorie jedoch ironischerweise progressiv. Horkheimer entdeckt keinen Gegenstand neu, der bisher der unverfälschten Betrachtung entzogen geblieben wäre, sondern er betrachtet den Gegenstand neu und entdeckt verwandte Widerstandspotenziale von Religion und Kritischer Theorie. Der Versuch, die religiöse Glaubensinhalte und theologische Gehalte zu retten, ist vor dem Hintergrund zweier Ereignisse zu sehen, welche dessen Voraussetzungen bilden: philosophieimmanent die Auffassung der neuzeitlichen Philosophie als Säkularisierung der Theologie und die und gesellschaftlich die einander sowohl widerstreitenden als auch sich wechselseitig befeuernden Sachverhalte der Liberalisierung der Religion sowie des gesellschaftlichen )unktionsverlusts der Religion. Publizistisch markant wird Horkheimers Zuwendung zur Religion im Jahr , wo er sich gleich in drei Aufsätzen mit der gewandelten Bedeutung der Religion in der Gegenwart auseinandersetzt, nämlich in „Theismus – Atheismus , in „Religion und Philosophie und in „De anima . In „Religion und Philosophie formuliert Horkheimer die vom )rühwerk her gesehen überraschende These: „Europäisches
ںHier soll nicht verschwiegen werden, dass Horkheimer bereits im Angesicht eines zum Absoluten sich aufspreizenden schlechten Endlichen beginnt, religiöse Motive als kritische Motive gegen den Verlust der Religion in Anschlag zu bringen: „Die Menschheit verliert auf ihrem Wege die Religion, aber dieser Verlust geht nicht spurlos an ihr vorüber. Ein Teil der Triebe und Wünsche, die der religiöse Glaube bewahrt und wachgehalten hat, werden aus ihrer hemmenden )orm gelöst und gehen als produktive Kräfte in die gesellschaftliche Praxis ein. Und selbst die Maßlosigkeit der zerstörten Illusion gewinnt in diesem Prozeß eine positive )orm und wandelt sich in Wahrheit um. In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit der Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion. Horkheimer d,
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
Denken, seine entscheidenden Begriffe sind der Theologie verhaftet. Horkheimer c, Bereits in „Skepsis und Glaube bezeichnete Horkheimer, dass die „europäische Philosophie der christlichen Jahrhunderte ohne Theologie nicht existierte, ja nichts anderes sei als säkularisierte Theologie Horkheimer a, gewesen sei, welche These er wenig später noch auf den Marxismus und die westliche kulturelle Überlieferung im Ganzen ausdehnte: Allem, was im Westen Kultur heißt, der Vorstellung der Person, der )reundschaft, der traditionellen, wie der ihr konträren modernen Kunst, liegt die christliche Vorstellung von Zeit und Ewigkeit zugrunde, bewußt oder unbewußt, bejaht oder verneint. Selbst der im Osten als Religionsersatz funktionierende Diamat, der entstellte, zum Herrschaftsmittel herabgesunkene dialektische Materialismus, war ursprünglich säkularisiertes Christentum. Horkheimer b,
Was Horkheimer unter Theologie im Unterschied, wenngleich im engsten Zusammenhang mit der Religion versteht, indiziert sein Begriff der „theologiefreien Religiösität Horkheimer b, , worunter eine Reduktion religiöser Gehalte auf die Art und Weise zu verstehen ist , wie sie vom Gläubigen erlebt werden; axiologisch korrespondiert dem die Devise, dass es darauf ankomme, dass „die Wirklichkeit wieder einmal religiös erfahren werden kann ebd. , ohne allerdings diese Erfahrung der kritischen Bearbeitung durch den Begriff auszusetzen, welche Sache der Theologie wäre. Sinnquelle philosophischer Begrifflichkeit kann die Theologie also nur dadurch sein, dass Religion kein vorbegrifflich Unmittelbares im Sinne bloßen Erlebens, sondern eine durch die begriffliche Bearbeitung und Aufarbeitung durchgegangene Erfahrung ist. Die Säkularisierungsthese Horkheimers bildet die systematische Grundlage der kritisch-maieutischen Intervention in seinem Spätwerk. Horkheimers Säkularisierungsthese bliebe positivistisch, würde sie lediglich eine gesellschaftliche Prävalenz zum Vorrang atheistischer gegenüber theistischen Tendenzen feststellen und deren Verfestigung in der Zukunft prognostizieren. Zwar stellt Horkheimer in „Theismus – Atheismus die geschichtliche Ambiguität beider Ismen heraus, doch er greift den Atheismus, einst „Zeugnis innerer Unabhängigkeit und unbeschreiblichen Muts Horkheimer d, , aufgrund seiner in der säkularen Gesellschaft vorherrschend gewordenen Tendenz an, sich mit der gottlosen Macht gemein zu machen, wodurch in der atheistisch-totalitären Herrschaft „die heute die universale Bedrohung bildet, […] ehrlicher Theismus ebd. die Stelle des Atheismus einzunehmen vermöge. Keine der beiden Positionen ist als solche sakrosankt und zu diversen Bündnissen mit der Macht und gegen die Menschlichkeit imstande. Sind die Positionen an sich nicht das entscheidende Bestimmungsprin-
ڱڲHier soll nicht unterschlagen werden, dass Horkheimer dies in Bezug auf den Atheismus schon in „Zum Problem der Wahrheit offen ausgesprochen hat: Es ist von der herrschenden Geistigkeit der letzten Jahrhunderte nicht der Weg eingeschlagen worden, die Kluft aufzudecken, sondern die Religion wurde so lange eines klaren bestimmten Inhalts beraubt, formalisiert, angepaßt, spiri-
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zip der Gesellschaft, so verliert der Gegensatz seine Schärfe und letztlich seine Bedeutung: „Der Gegensatz von Atheismus und Theismus ist nicht mehr aktuell. Ebd. 0icht mehr aktuell heißt im Sinne der Kritischen Theorie: nicht mehr maßgeblich für das zu kritisierende Bestehende, d. h. für die kritische Bestimmung der aktuell existierenden Gesellschaft gemäß ihren Bewegungsgesetzen. Dennoch sympathisiert Horkheimer weit mehr mit dem Theismus als mit dem Atheismus, den er als zeitgenössische, der Macht sich gerne und leicht andienende Gesinnung verfemt: „Atheismus heute ist tatsächlich die Gesinnung, die mit der je stärkeren Macht es hält, gleichviel, ob sie mit den Lippen noch zu einer Religion sich bekennt oder es sich leisten kann, sie offen preiszugeben. Ebd., Mag der Gegensatz von Theismus und Atheismus dem späten Horkheimer nicht aktuell erscheinen, die Rolle und Bedeutung der Religion sind für Horkheimer umso wichtiger, je mehr die gesellschaftliche )unktion der Religion, die im )rühwerk als ideologische )unktion dargestellt worden war, verblasst. Mit dem gesellschaftlichen )unktionsverlust geht nicht nur ein ideologischer )unktionsverlust einher, sondern zugleich eine moralische Begründungs- und Stiftungskraft der Religion: Die Religion hatte doch eine gesellschaftliche )unktion, die sie heute verloren hat. Sie sagte nämlich: Wenn du das Gute tust im Sinne der Religion, dann wirst du belohnt werden, deine Seele wird in die Seligkeit eingehen; wenn du das Schlechte tust, wenn du sündigst, wirst du bestraft werden, dann wartet die Holle auf dich. Horkheimer e,
Was sich hier für Horkheimers Verhältnisse, vermutlich durch die Gesprächsform bedingt, ungewöhnlich trivial ausnimmt, lässt sich von einer anderen Stelle her vertiefen, an welcher Horkheimer die logische Dimension der religiösen Idee des Guten pointiert benennt: „Mit der letzten Spur der Theologie verliert der Gedanke, daß der 0ächste zu achten, gar zu lieben sei, das logische )undament Horkheimer f, . Innerhalb des Denkens fungieren die theologischen Gehalte als
tualisiert, in die innerste Innerlichkeit der Subjekte verlegt, bis sie sich mit jedem Handeln und mit jeder offensichtlichen Praxis vertrug, die in dieser atheistischen Wirklichkeit gang und gäbe war. Horkheimer e, Es darf hier das Einsetzen einer Latenz-Phase der Annäherung an die platonischen Gehalte der Religion verzeichnet werden, die erst in den er Jahren ihre Manifestierung erlangt hat. ڲڲDramatischer formuliert Horkheimer dies in einem in Venedig gehaltenen Vortrag, der unter dem Titel „Kritische Theorie gestern und heute in seinen „Gesammelten Schriften zu finden ist: „Ich komme hier zurück auf die Theologie […] Die Theologie hatte einmal die )unktion, dafür zu sorgen, daß auch ohne allumfassende und geschickt ausgebildete Polizei ein Mensch den anderen achtet, wenigstens innerhalb derselben Gesellschaft, daß er keine Verbrechen begeht. Der Glaube an den Himmel und die Hölle hatte eine große gesellschaftliche )unktion. Solange noch weitaus die Mehrzahl der Menschen gläubig war, taten sie die schlechten Dinge nicht, weil es eine höhere Gerechtigkeit gab. Heute in der Zeit des Übergangs zeigt sich, daß die Religion diese )unktion in erschreckendem Umfang verliert. Es läßt sich voraussehen, daß sie schließlich durch geschickte gesellschaftliche Einrichtungen übernommen werden wird. Horkheimer g,
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
Voraussetzungen, die nicht allein logisch oder ethisch begründet werden können; der )unktionsverlust der Religion bedroht daher auch die moralische Integrität gesellschaftlicher Verhaltensvoraussetzungen, weil ohne unangreifbare theologisch-religiöse Quellen der Moral nur noch ablehnbare oder zumindest bestreitbare Gründe und Konventionen übrigbleiben. Der )unktionsverlust der Religion ist sowohl )olge wie auch Motor der Liberalisierung der Religion, die Horkheimer in „Bemerkungen zur Liberalisierung der Religion aus dem Scheitern der Versöhnung von Wissenschaft und Religion bei der zunehmenden gesellschaftlichen, axiologisch-normativen Prävalenz insbesondere der 0aturwissenschaften erklärt. Die theologische Reaktion auf den )unktionsverlust der Religion besteht in Anpassungsbemühungen, die diesen )unktionsverlust forcieren, weil sie ihn indirekt sachlich anerkennen: „Die Theologie selbst versucht, sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Zeitauffassungen anzupassen, um den Menschen nicht mehr Dinge zumuten zu müssen, die sich heute nur noch komisch und merkwürdig ausnehmen Horkheimer i, , womit Horkheimer auf religiöse Bräuche anspielt. Die bittere Ironie des religiösen )unktionsverlusts besteht für den Philosophen Horkheimer darin, dass gerade die Philosophie um die angesprochene Versöhnung sich bemüht habe und durch die Art ihres Bemühens das Gegenteil erreicht habe; die tragische )igur dieses in seinem Gegenteil strandenden Bemühens ist für Horkheimer Kant, der sich um diese Versöhnung bemüht und zugleich die Subjektivität der menschlichen Erkenntnis als durch ihre spezifische Konstitution bedingt und beschränkt aufgezeigt habe vgl. ebd., . Die prinzipiell akzeptierte und später zu einem bloßen Subjektivismus verwässerte Konsequenz der Kantischen Intervention bestehe in religiösen )ragen darin, „daß die uns bekannte Wirklichkeit nicht die letzte Wirklichkeit ist. Wir vermögen nicht zu bezeichnen, was das Absolute ist und worin es besteht. Ebd. Die daher nötige „0eufassung des menschlichen Verständnisses von Gott ebd. enthalte in sich das Desiderat einer Liberalisierung der Religion, die zugleich die Kapitulation vor der Unmöglichkeit einer strengen Verbindlichkeit all ihrer Lehrinhalte und die Konsequenz daraus ist. Damit gerät die Religion nicht an ihrer Peripherie in Bewegung, sondern die Liberalisierung führe, so Horkheimer in einem Spiegel-Interview, letztlich „zum Ende der Religion Horkheimer e, .
ڳڲHorkheimer zufolge sind die Reformation und die neuzeitliche Philosophie „vor allem die rationalistische, auf dem europäischen Kontinent der zweite welthistorische Versuch, die religiösen Grundbegriffe trotz der szientifischen Errungenschaften nicht preiszugeben Horkheimer h, f . Wenn diesen Versöhnungsbestrebungen welthistorische Bedeutung zukommt, kann die Liberalisierung der Religion als die Konsequenz des Scheiterns dieser Bemühungen nicht weniger als welthistorische Bedeutung haben, insbesondere auch, weil mit der institutionellen Liberalisierung der Religion keine Liberalisierung der ursprünglich religiösen Gehalte oder des religiösen Glaubens und des religiösen Bedürfnisses der Gläubigen einhergeht.
Sebastian Edinger
Dieses Ende der Religion prognostiziert Horkheimer im gleichen Zeitraum seiner denkerischen Entwicklung, in dem er die elementare Verwandtschaft der Religion und der Kritischen Theorie exponiert, wobei hier ausdrücklich das Christentum gemeint ist: „Viele Menschen sagen – nicht ganz mit Unrecht –, daß sich Religion, Christentum in einer schweren Krise befinden. [sic!] Aber ich meine, es hat kaum eine Zeit gegeben, in der sich die im Christentum enthaltenen Ideen als wesentlicher gezeigt haben als gegenwärtig. Horkheimer j, Das Christentum ist auch gemeint, wo Horkheimer vom „Schicksal der Theologie und Religion in unserer Gesellschaft Horkheimer g, f spricht und sich eines „und bedient, welches das Band zwischen Wissenschaft und religiöser Erfahrung bzw. gelebter Religiosität gerade als von vitaler Bedeutung für beide herausstellt. Es sind nach Horkheimer „zwei Lehren der Religion, die für die heutige Kritische Theorie entscheidend sind, wenn auch in einer veränderten )orm ebd., , nämlich, wie Horkheimer in einem anderen Text sagt, „nicht als Dogmen, sondern als Ausdruck einer Sehnsucht […], daß das, was auf dieser Welt geschieht, das Unrecht und das Grauen nicht das Letzte ist ebd. . Die erste Lehre, die Horkheimer im Auge hat, und in einem SchopenhauerAufsatz als die Lehre benennt, welche „die bisherige Geschichte bestimmt und […] heute für den Denkenden die Welt Horkheimer e, bestimmte, ist die Lehre von der Erbsünde, die darin gründe, dass im historischen Maßstab kein Glück für eine große Anzahl von Menschen zu erreichen sei, ohne dass dessen Grundlagen auf dem Leiden anderer, von diesem Glück ausgeschlossener Menschen errichtet würden. Die zweite Lehre, die Horkheimer im Auge hat, ist die Lehre von der Undarstellbarkeit Gottes, die bei Adorno durchgängig unter dem 0amen des Bilderverbots auftritt; allerdings sollte hier nicht übergangen werden, dass Horkheimer das Bilderverbot explizit als christliche Lehre und Errungenschaft anspricht und es als Konvergenzpunkt von Christentum und Kritischer Theorie darstellt, statt es philosophisch anzuverwandeln: „[W]ir können die Übel bezeichnen, aber nicht das absolut Richtige, Menschen, die in diesem Bewußtsein leben, sind mit der Kritischen Theorie verwandt. Horkheimer g, f Beiden mit der Kritischen Theorie enggeführten Lehren und damit dem Christentum und der Kritischen Theorie, wie der späte Horkheimer deren Verhältnis auffasst, ist gemeinsam die Sehnsucht nach der Überwindung des Leidens in der Welt – eine Sehnsucht, die einen zureichenden Rechtfertigungsgrund enthält, sich zur Religion und Theologie prinzipiell affirmativ in einem konservativen Sinn zu verhalten: „[W]ir müssen die Religion in irgendeiner Weise bewahren ebd., , und mit Religion ist hier sicherlich kein Gegenstand gelehrter Untersuchungen in einer religiös ausgebluteten Gesellschaft gemeint, sondern die Religion als gelebte Quelle lebendigen und in seiner Lebendigkeit durch sie gesteigerten und kultivierten Lebens. In Horkheimers )esthalten an der Religion kommt nicht nur die Sehnsucht nach der Erlösung vom Leiden zum Ausdruck, sondern zugleich das )esthalten am Individuum im Angesicht seines Verschwindens in der verwalteten Welt. Was die Lüge
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
der Religion sein kann, sofern sie die Würde des in sich bedeutungsvollen Individuums im Kapitalismus für realisiert erklärte und sich zu einer Apologie desselben hergäbe, wird zu ihrem Wahrheitsmoment, wo sie die Würde des Einzelnen nur behaupten kann, indem sie sich gegen dessen Auflösung im total gewordenen ökonomischen )unktions- und Organisationsprinzip stellt und ihre dogmatische in eine symbolische )orm transformiert: Wenn man angesichts dessen einen Ausblick auf die Zukunft der Religion wagt, wird man, der immanenten Logik der Geschichte folgend, als Haupttendenz den Rückgang der Bedeutung des einzelnen bemerken müssen. Während die Religion dem einzelnen eine ewige Seele zuspricht, geht die gesellschaftliche, vor allem wirtschaftliche Entwicklung zunehmend über den einzelnen hinweg. Horkheimer i,
Auf nichts anderes zielt die Kritische Theorie nach Horkheimer, wenn er sagt, es gehe „für uns darum, für möglichst viele die Autonomie des Subjekts zu bewahren, einen gesellschaftlichen Zustand zu stärken, in dem der einzelne seine Kräfte entfalten kann Horkheimer g, f . Wenn Horkheimer hier von einem Bewahren spricht, so ist dies wörtlich zu nehmen: In seiner späten Auffassung wird die Kritische Theorie konservativ und ist gerade in ihrer konservativen Ausrichtung mit dem Christentum gegen die verwaltete Welt verbunden. Der Begriff des Konservatismus war für Horkheimer weder durchgängig negativ konnotiert, noch ein Versuch, das eigene Rechtssein gesellschaftskompatibel zu tarnen, sondern Konservatismus im von Horkheimer offen affirmierten Sinne meint eine platonische Treue im Denken gegenüber dem humanen Gehalt geistiger Überlieferung. So verstanden, „ist wahrer Konservatismus, der geistige Überlieferung wirklich ernst nimmt, revolutionärer Gesinnung, die sie nicht einfach verneint, sondern aufhebt, verwandter als dem Rechtsradikalismus, der ihnen ein Ende bereitet. Horkheimer f, In seinem offenen Bekenntnis zum Konservatismus grenzt Horkheimer den wahren Konservatismus, d. h. den kritischen Konservatismus, nicht nur vom 0ationalsozialismus entschieden ab, sondern auch vom Kommunismus: Ja, sie können mich sogar in gewisser Weise einen revolutionären Konservativen nennen, denn ich habe sehr oft geschrieben, daß der echte Konservative dem echten Revolutionär verwandter ist als etwa dem )aschismus, wie der echte Revolutionär dem echten Konservativen verwandter ist als dem, was man heute Kommunismus nennt. Denn es kommt ja darauf an – da hat das Konservative recht –, gewisse )ormen zu erhalten. Horkheimer c,
ڴڲDen von Tillich inspirierten Symbolismus bringt Horkheimer allerdings nicht ohne die Herausstellung des konservativen Motivs der Religion in der Zugrundeökonomisierung und -verwaltung der Welt zum Ausdruck: „Ich meine, Symbolismus ist eine notwendige )orm der Religion, wenn sie weiterexistieren soll. Und sein Ringen darum, sie zu retten, ist in Wirklichkeit das Ringen um die Bewahrung der westlichen Kultur. Horkheimer k,
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Die )ormen, auf die Horkheimer anspielt, sind – wie im denkerischen Rahmen der Kritischen Theorie unschwer zu erraten ist –, keine )ormen im Unterschied zu Inhalten, sondern )ormen, die zu wahren heißt, die Humanität gegenüber der Gebrechlichkeit der menschlichen 0atur und damit der Wahrheit in der Veränderung die Treue zu halten im Unterschied zum Pseudokonservativen, der sich in erstarrter Sentimentalität und Zwanghaftigkeit konkretistisch an Vexierbilder kettet, an die alle und alles gekettet werden sollen: Das Ernsteste, womit wir uns heute zu beschäftigen haben, ist, daß es tatsächlich nur noch so wenige wirkliche Konservative gibt. Der echte Konservative weiß um die Gebrechlichkeit des Daseins und will es hegen. Er will es nicht gewaltsam ändern, er will bewahren. Der Pseudokonservative sagt aber, es muß so bleiben, wie es war, und wenn darüber alles zugrunde geht. Horkheimer l,
Dieser Konservatismus, der nach Horkheimer wahre Konservatismus, ermöglicht die Herausarbeitung gemeinsamer elementarer Übereinstimmungen der Kritischen Theorie und der Religion innerhalb einer gemeinsamen )rontstellung gegen die verwaltete Welt – solange allerdings nur, wie die Religion in der Liberalisierung nicht aufgelöst wird und ihrem Erbe treu bleibt, d. h. sich gegenüber der verwalteten Welt konservativ positioniert. Abschließend möchte ich in affirmativer Absicht die )rage aufwerfen, ob der späte Horkheimer nicht gerade die Brücke zu Günter Rohrmoser, der bedeutendsten Gestalt eines dezidiert christlichen Konservatismus nach vgl. Rohrmoser und einer der ärgsten Kritiker der Kritischen Theorie vgl. Rohrmoser und der durch sie angestoßenen linken „Kulturrevolution , gebaut hat? Rohrmoser ist bereits in seinem Buch „Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno – Herbert Marcuse – Jürgen Habermas die geistige Entwicklung des im Untertitel ausgesparten Horkheimer nicht entgangen, weshalb er es „ein Zeichen der Hoffnung nannte, „daß bei dem Gründer der )rankfurter Schule, bei Max Horkheimer ein Bewußtsein über den Zusammenhang zwischen dem Glauben an Gott und der geschichtlichen Macht eines sich an die Wahrheit bindenden und ihr verpflichtenden Gewissens meldet Rohrmoser , . Rohrmoser zufolge „sah der späte Horkheimer mit dem Glauben an einen Gott die Idee der Wahrheit hinfällig werden, sah er die Menschen ihres Gewissens beraubt und prophezeite mit dem Ende des bürgerlichen das Ende des Individuums überhaupt Rohrmoser , . Dabei versucht Rohrmoser nicht, Horkheimer der Kritischen Theorie zu amputieren, sondern die Kritische Theorie gegen ihre kulturrevolutionäre Mobilmachung im konservativen Sinne kritisch zu begreifen; was Rohrmoser dabei unter einem christlichen
ڵڲDiese linke Kulturrevolution ist Rohrmoser zufolge eine maßgeblich von Herbert Marcuse angestoßene „anthropologische Revolution , Rohrmoser , .
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
Konservatismus vorschwebt, ist selbst nicht weniger dialektisch als die Kritische Theorie und gerade nicht essentialistisch vereidigt, d. h. reaktionär: Der christliche Glaube und die ihn begründende Wahrheit ist weder konservativ noch progressiv, was nicht ausschließt, daß er unter wechselnden geschichtlichen Bedingungen und Konstellationen entweder konservativ oder progressiv oder, wenn auch in verschiedenen Hinsichten, beides ist. Der Glaube in seiner reflektierten theologischen Gestalt war immer bemüht, die partielle Wahrheit beider Bewegungen zu bewahren und, wenn möglich, in einer höheren )orm des christlichen Bewußtseins aufzuheben, so wie Hegel den Begriff der Aufhebung verstanden hat ebd., .
Hier scheint eine Möglichkeit auf, die Kritische Theorie prinzipiell in einer christlichen und konservativen Art und Weise weiterzuentwickeln – eine Möglichkeit, deren Vollendung Horkheimer verwehrt blieb und die kein Element der Agenda späterer Entwürfe wurde, die landläufig der Kritischen Theorie zugeschlagen werden, etwa dem Habermas schen. Mehr noch, Habermas hat die Tür zu einem Konservatismus dieser solcher Provenienz zugestoßen, indem er die 0icht-Auseinandersetzung der Auseinandersetzung mit Rohrmoser vorgezogen hat, dem bei Habermas im Wesentlichen lediglich eine Existenz an den Rändern von )ußnoten zukommt – eine 0icht-Auseinandersetzung freilich, die insofern unvermeidlich war, als Habermas zu einer ernsthaften Auseinandersetzung die nötigen Voraussetzungen gar nicht mitgebracht hätte; was in der Sache erst zu entscheiden wäre – die )rage etwa, ob „das Christentum nun zu einer konstituierenden Bedingung der Rettung der aufgeklärten Traditionen, das heißt einer rationalen Kultur und der an sie gebundenen Chancen der )reiheit geworden ebd., sei –, wird von der freimütig einbekannten subjektiven Disposition her vorentschieden, welche die Erkenntnisinteressen stärker diktiert als vorangegangene Erkenntnis. Auf Habermas‘ „Wiederentdeckung der Religion kann hier nicht weiter eingegangen werden, die Tatsache jedoch, dass Habermas darin auf Trends innerhalb der „philosophische[n] Szene Habermas a, reagiert, wirft Zweifel daran auf, dass es ihm mit der Religion philosophisch und gesellschaftstheoretisch eine ernste Sache sein könne.
ڶڲEs ist bezeichnend, dass der Begriff des Erkenntnisinteresses diejenigen besonders anspricht, die zwar ein Interesse formulieren können, aber die Genesis und Legitimität des Interesses selbst nicht durch tiefergreifende Erkenntnis motivieren können. Der in der Endlichkeit kognitiver Prozesse und der damit einhergehenden 0otwendigkeit, sie überhaupt in Gang zu bringen, gründende pragmatische Zwang, vorhandenen Erkenntnisinteressen gemäß Erkenntnis hervorzubringen zu versuchen, dient gerne als Alibi blinder )lecken, die in Wahrheit eher schwarze Löcher sind. ڷڲDie klare Absage formuliert Habermas auf der Basis seines genealogischen Interesses vgl. Habermas b, ff unmissverständlich: „Ich sehe zu den Operationen nachmetaphysischen Denkens keine Alternative. Ebd.,
Sebastian Edinger
V.
Schluss
Wählt man den frühen Horkheimer als Bezugspunkt des im Titel dieses Textes genannten Vergleichs, so fallen die Analysen beider Philosophen dahingehend ähnlich aus, dass sowohl Plessners als auch Horkheimers Zugang zur Religion weitgehend soziologischer 0atur ist. Plessners genuin philosophische Religionskritik in den „Stufen fällt gemäß ihrer eher beiläufigen )ormulierung knapp und mager aus; gleichwohl antezipiert Plessner in seiner Kritik der Religion, als dem Versuch, die existenzielle Sinndeutung durch ein Geborgenheit spendendes und Heimat schaffendes Definitivum zu einem Abschluss zu bringen, in seinem naturphilosophisch-strukturfunktionalen Begründungsgang sein späteres denkerisches Zentralmotiv der Unergründlichkeit personalen Lebens. Die Religionskritik der „Stufen zielt bereits auf die in „Macht und menschliche 0atur im Zentrum stehende Offenhaltung der Wirklichkeit des Lebens gegenüber allen Versuchen, dieses Leben von einem sein Wesen final ergründenden her zu okkupieren und einer übergeordneten Wirklichkeit zu unterwerfen. Doch sichtbar wird auch, dass die Religion Plessners Denken insofern äußerlich bleibt, als die )rage, ob das religiöse Definitivum nicht selbst aufschließender statt abschließender 0atur sein könne, gar nicht erst aufkommt. Die philosophische Antwort, die Plessner mit dem homo absconditus gibt, steht zur Religion gerade quer und stellt keine Ersatzreligion oder Krypto-Theologie dar, sondern begreift sich als genuin philosophische Deutung, welche die religiöse und theologische Deutungshoheit abzulösen beansprucht. In „Die verspätete 0ation hat Plessner eine prinzipiell ähnliche Perspektive auf die Religion eingenommen wie Horkheimer im gleichen Zeitraum, allerdings in einem soziologisch anspruchsvolleren Rahmen als Horkheimer dies mit seinem ideologiekritischen Projekt zu leisten vermochte. Hatte Plessner aufgrund ideologiekritischer Unvoreingenommenheit einen Blick für die produktive )unktion der Religion im Lauf der Geschichte, so war für Horkheimer die Religion in der Gesellschaft des frühen . Jahrhunderts als gesellschaftliches )unktionselement ideologischer Art diskreditiert und bloßes Akzidens der Substanz, welche die ökonomischen Bewegungsgesetze darstellten. Anders als Plessner ist Horkheimer in seinem Verhältnis zu Religion und Theologie im Spätwerk weite Wege gegangen. Was sich dem Reisenden dabei auftat, waren nicht nur elementare Übereinstimmungen zwischen zentralen Lehren des Christentums und der Kritischen Theorie, sondern auch die Möglichkeit, von diesen Gemeinsamkeiten her den Begriff des Konservatismus in einer der damaligen und heutigen akademischen Orthodoxie kaum vermittelbaren platonischen Weise umzudeuten. Erst das platonische, auf die wesentlichen Ideen eines Denkgebäudes gerichtete, Verhältnis zu zentralen Motiven ermöglicht es, die grundlegenden Gemeinsamkeiten von Kritischer Theorie und Christentum nicht unter methodischen Differenzen zu begraben, und eben dieses platonische Verhältnis zu nicht im reduk-
Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
tiven Sinne als wesentlich aufgefassten Gehalten ermöglicht es, den Konservatismus genau als dieses platonische Verhältnis zu begreifen, statt als )estkrallen an ideologische )ixpunkte, aus welchem eine reaktionäre Erstarrung hervorgeht. Gerade dieser Konservatismus Horkheimers im Verhältnis zur Religion wie zur Kritischen Theorie selbst ermöglicht es ihm, sich der Religion im Spätwerk erstaunlich unbefangen zu nähern, ohne sich in einem Definitivum einnisten zu wollen; gerade der „wahre Konservatismus Horkheimers zielt darauf, das Plessner sche Motiv der Unergründlichkeit der Lebensführung kritisch, und das heißt auch: in kritischer Konkretion einzulösen.
Sebastian Edinger
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Philosophie und Soziologie der Religion bei Plessner und Horkheimer
Horkheimer, Max b : Einige Gedanken zum heutigen Zeitbewußtsein, in: Ders.: Gesammelte Schriften XIII, )rankfurt a.M., – . Horkheimer, Max c : Ehe und )amilie in der Krise? [Gespräch mit Otmar Hersche], in: Ders.: Gesammelte Schriften XIII, )rankfurt a.M., – . Krüger, Hans-Peter : Zwischen Lachen und Weinen, Bd. . Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin. Plessner, Helmuth : Die Stufen des Organischen und der Mensch, 0ew York, Berlin. Plessner, Helmuth a : Macht und menschliche 0atur. In: Ders.: Gesammelte Schriften V, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth b : Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Ders.: Gesammelte Schriften V, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth : Die verspätete 0ation, in: Ders.: Gesammelte Schriften VI, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth a : Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie. In: Ders.: Gesammelte Schriften VIII, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth b : Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, in: Ders.: Gesammelte Schriften VIII, )rankfurt a.M.: Suhrkamp, – . Plessner, Helmuth c : Immer noch Philosophische Anthropologie?, in: Ders.: Gesammelte Schriften VIII, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth a : Selbstdarstellung. In: Ders.: Gesammelte Schriften X, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth b : Die )rage nach dem Wesen der Philosophie, in: Ders.: Gesammelte Schriften IX, )rankfurt a.M., – . Rohrmoser, Günter : Das Elend der kritischen Theorie, )reiburg. Rohrmoser, Günter : Der Ernstfall. Die Krise unserer liberalen Republik, Wien. Rohrmoser, Günter : Christliches Denken als )undament des Modernen Konservativismus, München. Rohrmoser, Günter : Christliche Dekadenz in unserer Zeit. Plädoyer für eine christliche Vernunft, Bietigheim/Baden.
III. Geschichte und Gegenwart des Dialogs
Martin Mettin
„Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“ – Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Sprachkritik1 Dem historischen Materialisten fällt die Idee des menschenwürdigen Daseins, an der allein die politische Praxis sich zu orientieren vermöchte, weder aus dem leeren Himmel zu, noch entspringt sie ihm aus der Schau eines vermeintlich unzerstörbaren Wesens der Menschen, sie entwächst vielmehr der Geschichte als deren Anderes, vor dem diese zu einer einzigen Katastrophe wird. Peter Bulthaup ,
Kritische Theorie und Philosophische Anthropologie gelten gemeinhin als Kontrahenten: Während letztere nach einem überzeitlichen Wesen des Menschen forsche, sei für erstere allein die wandelhafte Geschichte der historischen Menschen von Bedeutung. Wem an einer Überwindung dieser landläufig attestierten Aporie gelegen ist und die gegenseitige Anschlussfähigkeit‘ noch der divergentesten Theoreme zu beweisen, zählt wohl zu den beliebtesten akademischen Übungen , dem muss ein Buchtitel aus dem Kreise kritischer Theoretiker besonders reizvoll erscheinen. Doch macht es Ulrich Sonnemanns „0egative Anthropologie“, erstmals erschienen, selbst den geneigtesten Lesern nicht gerade einfach. Bereits die einleitende Vorrede hat es in sich, erfüllt nicht schulbuchmäßig die Aufgabe, die ihr nach traditionellem Verständnis zukommen soll, nämlich das Publikum dort abzuholen, wo es nun einmal stehe. Sie zeichnet auch nicht den )ahrplan‘ durch das Buch vor, dessen Systematik sich dann folgen ließe und womit zu Beginn der Argumentation bereits Ziel und Ergebnis feststünden. Schließlich wird weder der Gegenstandsbereich der Abhandlung festgesetzt oder eingehegt, noch, wie es wissenschaftlicher Usus wäre, auf eine Definition gebracht. Zurecht hütet sich die Vorrede vor solcherlei Gefälligkeit und Zugeständnis an die Konvention, verlangt, wie dann das ganze Buch, den Lesenden das Mitdenken ab. Dabei vertraut sich solches Denken der Sache selbst, ihrer immanenten Logik, an – und mutet der Sprache ihr Äußerstes zu. Die Sache selbst, das ist die )rage nach dem Anthropologischen, Menschlichen, nicht zuletzt im Verhältnis zu ebenjenem lógos, zur Sprache. 0egative Anthropologie verfährt dabei als bestimmte 0egation, hält sich in sprachlicher Aufmerksamkeit beim Kritisierten auf, statt über die Details hinwegzueilen, um schnell zum Positiven zu gelangen. Getreu dem dialektischen Denken will sie aus der Konstellation ڲDieser Aufsatz ist die erweiterte )assung eines Vortrages, der unter anderem Titel im Rahmen der Tagung „Mensch und Gesellschaft zwischen 0atur und Geschichte“ am . )ebruar in Potsdam gehalten wurde. Der Aufsatztitel zitiert einen gleichnamigen Text von Ulrich Sonnemann vgl. Sonnemann .
Martin Mettin
der Einzeldinge heraus über das Ganze Belastbares aussagen, statt sich im theoretischen Zugriff unvermittelt jenem Ganzen zuzuwenden. Doch „das Wahre ist das Ganze nicht – es will es durch den Menschen erst werden“ Sonnemann , . Insofern kann philosophische Reflexion auf Anthropologie als der Theorie des Menschen genitivus subiectivus wie obiectivus nicht einfach darauf zielen, einer kritischen Gesellschaftstheorie ihr normatives )undament zu geben, indem etwa das menschliche Wesen entschlüsselt und an daraus gewonnenen, positiven Kriterien alles Geschichtliche gemessen wird. Umgekehrt ist die Kritik falscher Wesensaussagen ihr Hauptgeschäft, gerade weil solche theoretischen Aussagen die Wirklichkeit nicht einfach beschreiben und ansonsten unberührt lassen. Sein Gegenstand der Theorie und Bewusstsein Theorie sind nicht nur aufeinander bezogen, sie formen und bilden sich vielmehr wechselseitig, sodass im )alle anthropologischer Theorien jede Beschreibung des Menschen zugleich ein Eingriff in menschliche Verhältnisse darstellt. Überall dort, wo von einer schicksalhaften, also unveränderbaren, menschlichen Grundverfassung ausgegangen wird, ist daher der Schein dieser Unwandelbarkeit aufzuklären: Unversucht ist eine Analytik des Schicksals, die in dessen Sabotage spontan umschlüge, durch ihre dialogische Zwanglosigkeit unmittelbar transparent würde: als in sich selbst angriffskräftige Reflexion, die nur in mikrologischen Prägungen von Karl Krausscher Gewalt so konkret wird, daß sie das Bewußtsein verändern muß, zu ihrer Ausbreitung und Durchsetzung es instand setzt. Ebd.,
Die folgenden Ausführungen wollen zwei )ällen solcher bestimmten 0egation folgen: Zum einen wird sich I. die Anthropologie Arnold Gehlens geradezu als Gegenbild zur Sonnemann schen )rage nach dem Menschlichen präsentieren. Zum anderen zeigt sich sodann II. ausgerechnet die studentische Opposition um 1 6 als Vollstrecker der Philosophie Gehlens. Beide Gegenstände führen schließlich III. zurück zur Sprache.
I.
Philosophischer Institutionalismus … Man müßte seine 0atur einfach grundlegend ändern, aber keiner ändere seine 0atur, weil die 0atur sich nicht ändern lasse. Thomas Bernhard, „Das Kalkwerk“
Berühmt ist 0ietzsches Wendung aus dem dritten Hauptstück zu „Jenseits von Gut und Böse“, der Mensch sei „das noch nicht festgestellte Thier“ 0ietzsche , . Man könnte versucht sein, daraus ein Grundgesetz für negative Anthropologie zu formulieren, in etwa das )olgende: Das Wesen des Menschen besteht darin, dass er kein Wesen hat. Die Bestimmung eines derart negativen Wesens brächte jedoch nicht nur die Kategorien gehörig ins Wanken, denn was sollte das sein: ein seiner
Ulrich Sonnemanns 0egative Anthropologie als Sprachkritik
Anlage nach sich wandelndes Wesen? eine Substanz mit akzidentellem Charakter also? Mehr noch spricht aus einer gewissen Aneignung dieser )ormulierung 0ietzsches selbst eine )orm von Ideologie, nämlich die Verklärung von menschgemachten Verhältnissen zu angeblich naturgegebenen. Deutlich wird dies an einem schroffen Kontrast, in den sich die „0egative Anthropologie“ gesetzt sieht: in Konfrontation mit der Anthropologie Arnold Gehlens. In einigen wenigen, dafür umso drastischer formulierten Passagen beschreibt Sonnemann, warum die Gehlen sche Beschreibung des Menschenwesens durch ihren spezifischen Verzicht auf die Bestimmung eines bleibenden Wesenskerns einer inhumanen Welt zur gehorsamen Legitimation dient: In seiner deutschen Gestalt – in der bezeichnenderweise es zur entschlossen institutionalistischen Lehre wird – ist auch das Denken der Technokraten nur Variante von Ontologie. Mit seiner leichteren Eingängigkeit, die durch die Kälte seiner Erkenntnispose qua Katastrophenerwartung bestrickender wird, folgt es unmittelbarer praktischen Interessen, präsentiert die zunehmende Selbstentmachtung menschlicher Autonomie als Gewinn. In ihrer den bundesdeutschen Verhältnissen angepaßtesten )orm arbeitet diese Entlastung – mit Gehlens eigenem Lieblingswort […] – mit Anknüpfungen an das allgemeine Wahre 0ietzsches vom nicht )estgestellten menschlichen Wesens schlechthin, das dann pfiffig einer nicht begriffshörigen: gerade unerträgliche )estgestelltheit bezeugenden Empirie unterschoben wird, statt seinem Sinn gemäß als Index ihrer Änderungswürdigkeit in der Praxis zu dienen. Sonnemann , f
0icht „begriffshörig“ ist Gehlens Interpretation des 0ietzsche-Wortes, da sie nicht genau genug auf den Begriff, die begriffliche Konstellation, aus welcher das Zitat stammt, hinhört, deshalb aus der Unfestgestelltheit alsbald eine „unerträgliche )estgestelltheit“ machen kann, die sich dann als ewige Wahrheit des Menschseins ausgibt. Bei 0ietzsche war die Rede vom Menschen als Tier polemisch gegen bestimmte )ormen religiöser Moral gerichtet, die alles Leibliche als menschenunwürdig verteufelte und deren strenge Askese und Verklärung von Leid der Aufrechterhaltung einer tatsächlich den menschlichen Möglichkeiten unwürdigen Welt diente. Das Beharren auf der Erfüllung von Glück hingegen, welches immer auch somatischen Anteil und in der „Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende Hinterabsicht“ seinen Vorläufer hätte, diese „Zartheit“ und „Thierheit“ alle 0ietzsche , also, ist Widerspruch gegen eine moralinsaure und spießbürgerliche Gesellschaftsordnung, innerhalb derer die unnötige Produktion von Leid mit dem Schein von Sinnhaftigkeit auftritt. „ ڳVielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den 0iedrigsten anzulehren, sich durch )römmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, – und gerade diese Härte thut not! – bei sich festzuhalten.“ 0ietzsche , ڴDas wäre zumindest eine mögliche Lesart des dritten Hauptstückes zu „Jenseits von Gut und Böse“. Dass der Text durchaus etwas Schillerndes hat, sich dort neben dem Plädoyer für Glück und Zartheit auch ganz andere Töne vernehmen lassen, die etwa an das sogenannte Recht des Stärke-
Martin Mettin
Gehlen, der sich in „Der Mensch“ wörtlich auf jene Passagen bezieht, nimmt die Rede vom Menschen als Tier nun allzu buchstäblich. In ontologischer Manier werden gerade aus der biologischen These der „relativen Instinktarmut“ des Menschen die fundamentalen Strukturen von Gesellschaft und Geschichte hergeleitet, aus dem organischen Menschsein die ewigen Gesetze der menschlichen Welt abgelesen. So ergibt sich für Gehlen aus vermeintlich objektiver, da naturwissenschaftlichempirischer, Einsicht in die menschliche Physis )olgendes: „Unfertig“ und „nicht festgerückt“ Gehlen , ist der Mensch als Lebewesen, da er körperlich nicht eingepasst ist in eine bestimmte Umwelt, an spezifischen Organen und Instinkten unterausgestattet, sodass seine Umwelt ihn permanent reizüberflutet und bedroht. Der Mensch, das ist demzufolge ein „Mängelwesen“ ebd., . Ihre biologische Mangelhaftigkeit stellt die Menschengattung somit unter einen „)ormierungszwang“ ebd., , denn während alle anderen Lebewesen durch ihre 0aturanlagen die Mittel für den Kampf ums Überleben schon besäßen, müsse der Mensch durch „Erziehung und Selbstzucht, auch [durch] die Prägung durch Institutionen“ ebd. die Aufgaben des Lebens selbst bewerkstelligen. Insofern ist das „Mängelwesen“ für Gehlen ein „Zuchtwesen“ ebd. . Diesem Konzept ist Gehlen auch später stets treu geblieben, insbesondere in „Urmensch und Spätkultur“. Anthropologie wird hier gar verstanden als „Philosophie der Institutionen“ Gehlen , : Daß der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, hat umgekehrt die )olge, daß er sich von den historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen muß, und das sind wieder die Institutionen: der Staat, die )amilie, die wirtschaftlichen, rechtlichen Gewalten usw. Sieht man das klar, dann steht man vor der neuartigen Aufgabe, die Verselbständigung und Autonomie, welche die Institutionen gegenüber dem Einzelnen gewinnen, aus der 0atur des Menschen abzuleiten […]. Ebd.,
Aus 0ietzsches Einspruch gegen positive Anthropologie entspinnt sich bei Gehlen gleichsam unter der Hand doch noch ein Wesenskern: Die geschichtliche Existenz des Menschen bedrohe zugleich die gesellschaftliche Ordnung, welche einzig das Mängelwesen tragen könne. Vordergründig scheint aus Gehlens Anthropologie damit zwar ein historisches Bewusstsein zu sprechen, denn selbstredend wird den Institutionen eine Entwicklung zugestanden, ließe sich also so etwas wie eine philosophische Institutionengeschichte‘ schreiben. Gerade das ist der Anspruch von „Urmensch und Spätkultur“: von den )rühformen menschlicher Vergesellschaftung bis hinein ins industrielle Zeitalter sollen sich verschiedene Entwicklungsstadien
ren‘ oder zumindest einen gewissen Elitismus erinnern, soll hier nicht verschwiegen werden. Gleichwohl ließe sich argumentieren, dass 0ietzsche wohl weniger sozialdarwinistischen Gedanken anhänge, als vielmehr mit einem einbalsamierenden Verfallsprodukt des Humanismus hart ins Gericht gehe.
Ulrich Sonnemanns 0egative Anthropologie als Sprachkritik
der Institutionen ablesen lassen, die jedoch allesamt Reaktion auf die transhistorische Grundkonstitution des Menschseins, seine Entlastungsbedürftigkeit, seien – und damit also im innersten Kern invariant. )ür diese spezifische Anthropologie dürfte damit die These zutreffen, dass in Hinwendung zu )ragen nach einer derart bestimmten Natur des Menschen zugleich )ragen nach der Geschichte degradiert und depraviert werden. In Realgeschichte nämlich tun sich immer auch gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen kund und die historischen Versuche, ein menschenwürdiges Dasein auf Erden zu ermöglichen, sind eine Position in derartigen Auseinandersetzungen, wobei das Streben nach verändernder Praxis in den gelungeneren )ällen nie ohne theoretische Reflexion auskam. Solche Reflexion ist stets auch Selbstbefragung der Menschen; etwa danach, was ihnen gemäß sei und was sie aus sich und ihrer Welt bislang gemacht haben und noch werden machen können. Bei Gehlen steht diese Selbstbefragung jedoch per se unter Räsonnementverdacht. Reflexion taucht hier auf als eine Kategorie des bloßen Innenlebens der Menschen – und muss dann konsequenterweise entgegen der objektiven Empirie als subjektivistisch verworfen werden. Zudem gefährde diese Subjektivität potentiell schon die Stabilisierung der ansonsten überforderten Lebensvollzüge des Mängelwesens, weil sie die Aufmerksamkeit in übertriebenem Maße auf diejenigen Dinge richte, die einer funktionierenden Lebensführung gerade zuwiderliefen: Als besondere, der Subjektivität zugeordnete Verarbeitungsform kann die Reflexion eintreten. Dann wird die Raffinierung des auf sich selbst zurückgefallenen Seelenlebens einer hohen Verfeinerung fähig, der verwickelte Zufall der Ideale und Wertgefühle hat seine eigene Produktivität in einer staunenswerten Differenzierung des Psychischen, die sich unmittelbar in )ederarbeit fortsetzt, sich im psychologischen Roman niederschlägt oder von innen her in die Geisteswissenschaften eindringt. Überall werden in noch nicht dagewesener Reflexionsbewußtheit die kleinsten seelischen Regungen, die sonst einfach weggelebt wurden, in ihren Besonderheiten abgehört. Gehlen ,
)reilich spricht Gehlen hier primär von psychischen Reflexionen, doch scheint ihm in ähnlicher Weise auch philosophische Reflexion zutiefst suspekt, sofern sie sich von den angeblich objektiven )akten der Empirie in die viel abstrakteren Gefilde jener Idealität begibt. So gerät Gehlen die Reflexion auf Moralität und Humanität, angesichts derer die je spezifische Unmenschlichkeit innerhalb der Geschichte ڵDiese These vertreten sowohl Odo Marquard als auch Oswald Schwemmer in ihren LexikonArtikeln zur Anthropologie. Schwemmer allgemein zur Anthropologie: „Der Rückgriff auf eine solche 0atur des Menschen läßt sich verstehen als Versuch, in Situationen bedrohter oder fehlender Gemeinsamkeit hinsichtlich grundlegender Lebensorientierungen, Handlungsziele oder Redenormen d. i. in Krisensituationen wieder eine Gemeinsamkeit herzustellen“ Schwemmer , . Und Marquard zur Anthropologie Gehlens: „Sie begreift alle Leistungen des Menschen als Entlastung‘ von seiner natürlichen Mängellage und die Kultur als das große Arrangement einzig zu dauerhafter Vermeidung des Umkommens: Instanz der Geschichte werden 0aturprobleme des Menschen.“ Marquard , .
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überhaupt nur als solche zu benennen wäre, zum bloßen Moment innerer Erbaulichkeit. )ür die realen Probleme sei dieses Momentum nicht weiter zu beachten, insbesondere dann nicht, wenn solche Reflexion die institutionelle Einrichtung der Gesellschaft in )rage stellt. Sonnemann entlarvt die vermeintliche Objektivität der nach Gehlens Worten „empirischen Philosophie“ ebd., als gut kaschiertes Interesse. Gehlens Theorie spiele eine „versteckt […] politische Rolle […] zur Ablenkung und Verhinderung gesellschaftlicher Emanzipation“ Sonnemann , , nicht zuletzt indem sie sich auf die vermeintlich objektive 0aturwissenschaft stützt. Zutage tritt das Versteckte besonders dann, wenn man sich entgegen der Einwände Gehlens mit den Kleinigkeiten und Unauffälligkeiten befasst, die als seelische schnell „weggelebt“, als philosophische ebenso schnell überlesen werden können. Sonnemann hört in seiner Gehlen-Lektüre jedoch genau hin, nimmt Gehlen sehr streng beim Wort. Subtiler als im „Zuchtwesen“ äußert sich dabei der Gehlen sche 0aturalismus in der Aneignung der Metapher vom Blinddarm, die er für die )rage nach Moral gebraucht: Wie sich in der Welt der Lebewesen vermeintlich alles nach einem naturgegebenen Plan entwickelt, alles einen Zweck hat und Zweckloses abstirbt, so hatten auch Reflexion und Gewissen – nach Gehlen die „)akteninnenwelt“ – einmal eine )unktion, wohl diejenige, einen Sinn zu stiften. Heute aber sind sie, dem Blinddarm gleich, überholt, da für die bedürfnisgerechte Einrichtung der Welt nicht Bewusstsein und Vernunfttätigkeit der Menschen die primäre Instanz seien, vielmehr das Sein, also die menschlichen 0aturbedingungen. Sonnemann nun interpoliert an dieser Stelle: Daß der Blinddarm, als den Gehlen den moralischen Kampf im neuartigen, modernen Menschen bestimmt, nicht nur nutzlos, sondern auch entzündbar ist, übersieht er: eine metaphorische Unaufmerksamkeit, deren Automatisches selbst bereits zum Symptombild dieser Art Appendizitis gehört. Bricht sie in einem durch, der über den Menschen als ein handelndes Wesen mit der gewissenhaften Seriosität immer neu nachdenkt, die er als schwelgerischer Theoretiker einer an Wehrlosen sich erprobenden Tapferkeit, der neuen Ordnungen des deutschen Daseins, die sie unvergeßlich – außer in Deutschland selber – heraufführte, schon , tapfer mitmachend, unter den Beweis seiner souveränen Distanz stellte, ist, was durchbricht, ein wishful thinking von Torquemada-artigem Leichengeruch. Ebd.,
Offenkundig spricht Sonnemann nicht nur von der Theorie Gehlens, sondern vom Theoretiker selbst und von dessen Rolle als sich zum 0ationalsozialismus bekennenden Hochschullehrer. Mit einem Verweis auf gebotene akademische Redlichkeit mag sich dieses vermeintliche ad-hominem-Argument recht einfach beiseite wischen
ڶVgl. hierzu auch den Text von Christine Zunke im vorliegenden Band. ڷGehlen zitiert in „Urmensch und Spätkultur“ diesbezüglich Edwin Muirs Beschreibung vom moralischen Kampf als Blinddarm, macht sich dessen Position allerdings deutlich zu eigen vgl. Gehlen , .
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lassen, indem man auf der Trennung von Werk und Person insistiert. Sonnemann indes fasst genau jene Trennung als Ausdruck eines falschen Theorieverständnisses, besonders dann, wenn es um die Theorie vom Menschen geht. Die Gebärde der „souveränen Distanz“ zum Gegenstand muss spätestens dort fehlgehen, wo der Gegenstand, das Objekt der Theorie, zugleich auch deren Subjekt ist. Und so klingt denn für Sonnemann in Gehlens permanenter Theoretisierung eines angeblichen Entlastungsbedürfnisses auch das „wishful thinking“ eines deutschen Täters an, ist mit Entlastung ebenso eine solche von der Verantwortung fürs eigene Denken wie Handeln gemeint. Das aktive Mitmachen in der nationalsozialistischen Barbarei wird mit zynischem Verweis auf die zum Überleben notwendige Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse, deren Institutionen, zum höchstenfalls passiven Mitläufertum‘ umgedeutet – auch indem Verantwortung als veraltete Kategorie eliminiert wird. 0aheliegend wäre nun der Einwand, dass Sonnemann ein bloßes Klischee der Philosophie Gehlens beschreibt, es sich dadurch mit seinem Verriss allzu einfach macht und einige möglicherweise diskussionswürdige Aspekte dieses Denkens zu leichtfertig verwirft. Sicher ist nicht jedes 0achdenken über die Bedeutung von Institutionen gleich unter Ideologieverdacht‘ zu stellen, wäre es gar naiv zu glauben, ein vernünftiges menschliches Zusammenleben wäre ohne jedwede )orm von Institutionalisierung zu haben. Doch hat es einen triftigen Grund, dass Sonnemann hier, Gehlen betreffend, keinerlei Zugeständnisse macht. Die Kritik von Theorie ist auch eine ihrer Sprache. Kein Sprachbild ist bloß zufällig gewählt, vielmehr verrät das Lesen zwischen den Zeilen die ganze Konsequenz der Theorie, macht das Hinhören auf die impliziten Bedeutungen diese explizit. Erst in der Zuspitzung und Übertreibung, die Sonnemann in der polemischen Deutung und Wendung der Blinddarm-Metapher vornimmt, offenbart sich der entscheidende Unterschied zwischen Gehlens positiver und Sonnemanns negativer Anthropologie: Der Lauf der Geschichte ist für Sonnemann kein Anthropologicum, nicht das Ergebnis einer unaufhaltsam in der menschlichen 0atur waltenden, zerstörerischen Dynamik, sondern gerade Mangel an Humanität, die es zu erreichen gälte. Entgegen der Anthropologie Gehlens, die im Rekurs auf eine invariante 0aturanlage Legitimation von Unmenschlichkeit ist, besteht die Aufgabe für negative Anthropologie in der „Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“ Sonnemann
) ڸür eine solche Trennung plädiert etwa Christian Thies vgl. Ders. , – . Anders dagegen beispielsweise Christian Graf von Krockow, der Gehlens Philosophie als „die faschistische Theorie“ Krockow , beschreibt: „Punkt um Punkt zeigt sich damit Gehlens Theorie als Bestätigung jener Entscheidungs- und Entschlossenheits-Ideologie der zwanziger Jahre […] – auch oder gerade in der )orm, die sie in Hitlers Mein Kampf‘ annimmt“ ebd. . ڹSo versucht etwa )rank Kannetzky, Gehlens Lehre von den Institutionen teilweise gegen Gehlens eigene Intention als Beschreibung der Möglichkeitsbedingungen von Autonomie zu lesen vgl. Kannetzky .
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, . Daher hat kritischer Geist, ohne den eine menschliche Einrichtung der Welt nicht gelingen kann, zur Aufgabe, sich in genauer Aufmerksamkeit den Sedimenten menschlicher Geschichte zuzuwenden; darin im Gewesenen sowohl das Unmenschliche als solches zu benennen – als auch die Möglichkeiten einer anderen Gesellschaft, Änderungspotenziale also, offenzulegen. Die Geste, die gerade gegen ein solches Theorieideal aus Gehlens Arbeiten spricht, ist altbekannt: Metaphysik, philosophische Spekulation, ist tot, Wahrheit spricht allein aus den )akten und den )aktenwissenschaften, also habe man sich den Methoden und Ergebnissen dieser unterzuordnen. Doch wird solcher Szientismus die verfemte Metaphysik kaum los. Mehr noch, Sonnemann zeigt, dass der blanke Wissenschaftsglaube Theorie geradezu in dogmatische, also vorkantische Metaphysik verwandelt, weil die Erkenntnispostulate und ihr Geltungsanspruch nicht ihrerseits hinterfragt und kritisch überprüft werden. Jede wissenschaftliche Bestimmung eines menschlichen Wesens, die von sich behauptet, bloße Tatsachenfeststellung und Definition zu sein, verkennt, dass sie selbst bereits einen Eingriff in ihren Gegenstand darstellt. Zwar mag sie Theorie und Praxis feinsäuberlich trennen, hier beobachtend, dort handelnd, doch ist bereits diese Standpunktbestimmung ein praktischer Akt, nämlich Grenzziehung. Die pragmatische Anthropologie des zuweilen als Metaphysiker verunglimpften Kant wäre dabei gerade ein Modellfall dafür, wie solches Ineinander von Theorie und Praxis betrachtet werden müsste, wobei sich Anthropologie vor allem nicht als 0aturforschung missverstehen darf. Denn: Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll. – Wer den 0aturursachen nachgrübelt […] muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei, und die 0atur machen lassen muß […]. Kant ,
Dass in Kants Anthropologie das Praktische am Theoretischen deutlich zutage tritt, ist nicht zuletzt gegründet in den Einsichten jener Metaphysik, „die als Wissenschaft wird auftreten können“, also der „Kritik der reinen Vernunft“: Objektivität hat ihre Grenzen, Erkennen immer auch subjektiven Charakter. Das Eingeständnis der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis treibt Erkennen und Praxis über jene Grenzen hinaus. Weil gar nicht abschließend gesagt werden kann, was und wie die Menschen sind, lassen sich die menschlichen Dinge auch ändern, ist Weltbürgerlichkeit nicht status quo, sondern telos der Kantischen Anthropologie. Ganz in diesem Sinne sind auch bei Sonnemann, jenen Impuls der Aufklärung aufnehmend, Mensch und Gesellschaft „Projekt“ Sonnemann , . Ziel wäre, dass die Menschheit ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, indem gerade die Schicksalsgläubigkeit sabotiert wird; insbesondere dort, wo sie säkularisiert als Glaube an unumstößliche 0aturgesetzmäßigkeit auftritt. )ür Gehlen hingegen, der seine Theorie unkritisch auf die vermeintlich grenzenlosen Erkenntnismöglichkeiten der 0aturwissenschaften stützt, ist die menschge-
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mäße Welt ein Gehege, abbildbar in einer naturwissenschaftlich zu bestimmenden, also biologischen Ordnung. Das Überschreiten dieser eng gezogenen Grenzen kommt Widernatur und Widerordnung gleich und soll damit aber den sicheren Untergang der Spezies bedeuten. Zwar wird allerhand über den Menschen als handelndes, praktisches Wesen gesagt, soll die Philosophie des Institutionalismus auch „Handlungslehre“ Gehlen , sein. Allerdings von der Warte der Theorie aus, die selber auf ihr Objekt keinen Einfluss habe. Was derart unter den Tisch fällt, ist, dass das Objekt, von dem die Theorie meint es vorzufinden, durch sie womöglich gleichsam geschaffen wird; dass solche Grenzbestimmung also die Schranken erst setzt, die sie dann meint, als gegebene lediglich anzutreffen. An Gehlens Anthropologie zeigt sich negativ daher einer der gewichtigsten Gründe für die Kritische Theorie, äußerste Zurückhaltung in der positiven Beschreibung einer menschlichen 0atur zu üben: Zu bezweifeln wäre mit Sonnemann nicht, dass es reale Grenzen menschlichen Lebens, dass es etwa in der gegenwärtigen Welt tatsächlich eine Übermacht der Institutionen über die einzelnen Menschen gibt, diese von jenen geradezu „konsumiert“ werden. Doch entgegen der theoretischen Intention Gehlens ist dieser Zustand nicht als 0aturnotwendigkeit zu fassen, vielmehr als eine verselbständigte )orm menschlicher Gesellschaft, die insofern zu ihrer zweiten 0atur geworden ist. Statt das reale Gefüge menschlichen Lebens mit einem Amalgam aus Wesensschau, positivistischer Biologie und unkritischen Spekulationen über menschliche Urgeschichte auch noch intellektuell zu rechtfertigen und zu verklären, versteht sich die „0egative Anthropologie“ als „Vorstudie zur Sabotage“ solchen Schicksals.
II.
… und die studentische Opposition Diese, die akademische Jugend jetzt, ist aus der müden Unmenschlichkeit ihrer Eltern eben erst aufgebrochen; es kann nicht erwartet werden, daß sie die Sprache, auf die jene verzichteten, jetzt schon hat. Um so mehr muß der Prozeß ihres Wiederfindens, da er der von Humanisierung selbst ist, beschleunigt werden. Da sich das Schicksal durch das Mittel von Verhaltensweisen vollzieht, den immer folgenreichen Manifestationen eines unfolgerichtig falschen Bewußtseins, muß Opposition, die ihm in den Arm fallen will, es da, wo sein Werk anhebt, auch aufsuchen; es dort treffen, wo mit ihren schwachen Waffen seine Pläne noch durchkreuzt werden können, im Bewußtsein. Ulrich Sonnemann ,
Sonnemann will im Kleinen, mitunter Kleinsten, die unter einem „Mythus der 0ezessität“ Sonnemann , verschütteten, menschlichen )reiheitsmöglichkeiten aufsuchen. Dem philosophischen Begriff nach geht es also um Spontaneität. Diese wäre dann nicht nur die Selbsttätigkeit der Vernunft, die aus der bloßen 0aturkausalität herausspringt, sondern ebenso sehr Abweichung von dem, was sich bislang unter dem herrschaftsförmigen Verlauf der menschlichen Dinge reprodu-
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zierte. Möglichkeiten wären zu entfalten, und Kritik ist eine, wenn auch gebrochene, Ausdrucksform solcher )reiheit. Zwar ist nach Sonnemann durchaus eine Determiniertheit der menschlichen Verhältnisse zu beobachten. Menschliches Leben ist früher wie heute in großem Maße unfrei. Erklärungsbedürftig ist jedoch nicht nur, wo im Einzelnen kausalitätsähnliche Kräfte walten; sondern mehr noch, warum die Menschen sich gerade nicht anders verhalten, warum bestimmte Tendenzen sich fortsetzen, zur anthropologischen Ausstattung werden, also zur zweiten 0atur. Und genau diese )rage nach dem Zusammenhang von gesellschaftlichen Konditionen einerseits und den „Verhaltens-“ und „Bewußtseinsstrukturen“ Sonnemann a, der einzelnen Menschen andererseits ist die anthropologische, nämlich psycho-historische )rage im Zentrum des Sonnemann schen Werkes. Insofern ist der Gegenstand der „0egativen Anthropologie“ die Geschichte als das „Tagebuch ihrer Erfahrungen“ Sonnemann , : den sprachlich verfassten Dokumenten der Geschichte ist zu entnehmen, was sie über Außen- wie Innenleben der Menschen verraten. In jenen Dokumenten sind die Spuren zu lesen, welche der gesellschaftliche Druck und die bis dato gescheiterten Abweichungsversuche in den Subjekten hinterlassen haben. Dass es solcherart Konkretes ist, welches zum Abstrakten drängt, die Phänomene also zur Theorie treiben, ist stets spürbar an den Stellen, wo Erfahrungsmomente in Sonnemanns Texten aufscheinen. Sie sind nicht illustrierende, nicht einmal plausibilisierende Beispiele, vielmehr: 0erv der Theorie. So ist denn auch die zeitgeschichtliche Konstellation, in welche Sonnemanns Werk fällt, diesem keineswegs äußerlich geblieben. Es sind die er Jahre und insbesondere die bundesdeutsche Gesellschaft, die Anlass zur wie den Gegenstand der „0egativen Anthropologie“ geben, auch wenn andere Texte Sonnemanns ausführlicher davon berichten. Beschrieben wird in ihnen eine Gesellschaft im „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“, in der die spezifisch deutsche Unmenschlichkeit verdeckter zwar, dennoch nicht folgenlos, weiter ihr Unwesen treibt, da 0ationalsozialismus, Vernichtungskrieg und Shoah keineswegs als aufgearbeitet‘ gelten können, vielmehr verdrängt werden. Schon das auf Gehlen bezogene Zitat oben zur „Unvergeßlichkeit“ der jüngeren deutschen Geschichte, die nur in Deutschland vergessen wird, ist in diesem Sinne auch psychoanalytisch zu verstehen. Anspruch darauf, mit diesem Ungeist abzurechnen, etwa die deutschen Verbrechen und die immer noch umtriebigen Täter anzuklagen und zu überführen, erheben die oppositionellen Studenten jener Zeit. Damit wären sie Verbündete Sonnemanns, welche Hoffnung letzterer durchaus zeitweise hegte, was etwa in seinem Buch „Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland“ zum Ausdruck kommt vgl. Sonnemann .
ںSo der Titel einer Essaysammlung Sonnemanns; vgl. ders.
.
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Allerdings, so Sonnemanns Diagnose nur vier Jahre später, misslingt den Studenten die Distanzierung von den deutschen Verhältnissen gründlich, setzt sich auch in ihnen noch eine allzu typisch-deutsche Borniertheit fort. „Institutionalismus und studentische Opposition“ will dieser Borniertheit auf die Schliche kommen und entdeckt sie in gewissen „rechtshegelianischen Traditionen“ Sonnemann a, , welche abgelesen werden können an einer „Bewußtseins- und Verhaltenskondition, die als Institutionalismus sich zusammenfaßt“ ebd., . Mit anderen Worten: es grassiert nach wie vor der feste Glaube an fixe Institutionen und ihren unhintergehbaren Geltungsanspruch. Während bei Gehlen jedoch, wie oben dargestellt, sich dieser Glaube als philosophisch begründet gebärdet, bleibt er in Theorie wie auch Praxis der studentischen Opposition verschwiegener und darum aber umso fataler wirksam. 0ur scheinbar haben die Studenten dem Erstarren vor den gegebenen Verhältnissen etwas entgegenzusetzen, wenn sie anlaufen gegen das Establishment‘, Politik betreiben als Protest und Demonstration. Denn indem die studentische Opposition solcherlei „Aktivismus beschwört“ ebd., , sich also nicht mehr mit der lästigen Kopfarbeit abmühen, sondern endlich die Dinge anpacken will, verrät sie das Ideal von Praxis, die doch ohne Theorie zur blinden werden muss. Gleichsam werden die Studenten insofern theologisch, als dass sie an einen bloßen Glauben appellieren und nicht an kritisches Urteil. Politik wird festgenagelt auf das Bekenntnis; als käme es vor allem anderen auf die Demonstration dessen an, auf welcher Seite man stehe. Das aber sei „Selbstentmündigung […] durch Vertrauen in die Verfestigung des Begriffs […]; theologisch, weil sie studentischer Unruhe eine Instituierung, also Ruhe, vermittelt, eine sie gebärdenreich vor sich selbst stilisierende, auf sich zurückwerfende Theoretikerruhe, aus der heraus sie, was sie hier und jetzt tun könnte, zu Gunsten von Beschwörungen nur abermals wieder vertagt“ ebd., . Die Liste der Materialien, an denen Sonnemann diese Geistlosigkeit festmacht, ist lang. 0icht nur den primären theoretischen Verlautbarungen der Studenten gilt sein Interesse; auch Interviews und Reden, Pamphlete und )lugblätter, selbst Wandzeitungen verfolgt er aufmerksam und versucht, durch ihre sprachliche Gestaltung dem Phänomen nahezukommen. In diesen Dokumenten entdeckt Sonnemann dabei nicht nur eine Bekennersprache, deren Gestus „Carl Schmittschem )reund-)eind-Denken“ ebd., zum Verwechseln ähnlich ist und die keinerlei Zwischentöne und Abweichungen duldet; etwa wenn alle Geschehnisse im Ostblock als )ortschritt, alle Bewegung der westlichen Gesellschaften als bürgerlich-liberale Ideologie verhandelt werden. Mehr noch fände in den „apriorischen Theorieformeln“ ebd., der Studenten eine „Ersetzung von Analyse durch Begriffsfetischismus“ ebd. statt. Das heißt, die immergleichen )ormeln werden als Erklärungsmodelle für alle Geschehnisse in der Welt herbeizitiert, damit aber Kritik dem Gegenstand äußerlich zugeführt, statt von innen heraus mit analytischem )eingespür die ideologische Sache zu zersetzen. – Stolz trügen die Studenten etwa das Label der Systemkritik bei sich, erwiesen so aber einer tatsächlichen Kritik der kapi-
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talistischen Vergesellschaftungsform einen Bärendienst: Schon die 0azis konnten sich ganz nonkonform wähnen in ihrem Kampf gegen das System‘ und dabei zugleich die konkrete Arbeit götzenhaft anbeten vgl. ebd., – . Dass den Studenten die peinliche 0ähe zum Systembegriff der 0azis kaum auffiel, sei eben Symptom jenes Begriffsfetischismus. Woran es also mangelt, auch und gerade unter den oppositionellen Studenten, ist eine )orm von Sprachmächtigkeit, die sich nicht in fixen Kategorien und Begriffen ausruht, sondern in kritischer Aufmerksamkeit ihren je zu zersetzenden Gegenstand trifft. Das aber wäre der erste und nicht zu überspringende Schritt in die verändernde und verbessernde Praxis: In nichts erscheint der Hegelsche Staat in Deutschland so unabsehbar stabilisiert wie in der Unschärfe der verschleimten Sprache, die man zum Urteilen und Begründen gebraucht und die immer gleich unstringent ist, wenn auch keineswegs gleich manipulierbar, ob ihr Gummi nun den Rechtfertigungszynismus von rechtsbeugenden Gerichtssprüchen tragen muß oder schockierten, nie schockierenden studentischen Protest gegen deren Barbarei. Dieser Sprache, die von der Springer-Presse perfektioniert, in Seminaren und Kanzleien aber erfunden wurde, wäre, als dem )eind im eigenen Lager, von den Studenten vor allem zu kündigen, sodann – in Konsequenz ihrer pro-domo-Tilgung – das Leben in der Öffentlichkeit zu erschweren: mit Angriffen von einer minutiösen, überraschungsvollen, beharrlichen Scheinruhe, deren Zerstörungskraft aus Sachgenauigkeit wüchse, jede neue Pose des Autoritätsschwindels mit unbemäntelter Härte zerrisse […]. Ebd.,
)ür Sonnemann ist insofern Institutionalismus, auch und gerade derjenige der studentischen Opposition, nicht nur )ortsetzung der „Ideologie Arnold Gehlens“ ebd., , sondern mindestens genauso „Literaturfeindschaft“ ebd. . Ein Missverständnis der Sprache also, weil hier die kritische, auch selbstkritische Analyse in sprachlicher Genauigkeit und aufmerksamer Hinwendung an den Gegenstand ersetzt wird durch die Subsumtion der Sachverhalte unter unbewegliche, apriorisch gesetzte „Oberbegriffe“ ebd., , welche dann ihrerseits nicht mehr reflektiert werden, gleichsam zu )etischen geraten, vor denen, obwohl sie Artefakte sind, das Bewusstsein wie vor übernatürlichen Kultgegenständen erstarrt. Diejenigen, die in die verwaltete Welt hinauszogen, um gegen den autoritären deutschen Institutionalismus anzukämpfen, wurden dessen neueste Vollstrecker – auch wenn sie es nicht wollten und umso mehr, weil sie selbst es nicht merkten: Ihre [der Deutschen] Institutionsgläubigkeit rechnet mit der Welt als einer je schon fertigen, inventarisierbar verwaltbaren, widersteht daher der Kategorie der Möglichkeit, perhorresziert Phantasie. Der Institutionalismus ist somit in seiner Wurzel eine Eigenschaft, keine Einrichtung. Mit der Herrschaft des bleichen Oberbegriffs, der das seinem Gehalt Heterogene in herrischer Administrierung zur Ordnung ruft, beginnt schon in deutscher )ach- und Amtssprache, unfrontaler Diskussionsmanier, sein Regime. Innerhalb der fertigen Welt ist Änderung nur noch als Manipulation, Mittel-Zweck-Veranstaltung, also nach Modellen von Technik, zu denken, deren Objekte dann folgerichtig als fremde oder gar als jedermanns eigenes die Individuen selbst werden; Auftritte von Spontaneität, nach alter Sprache das Göttliche, hatten in ihrem
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Bann schon zu Hölderlins Zeit keinen Platz, und das Schnöde, kleinlich Miese, das Hyperion in seinen Landsleuten vorfand, war sein anthropologisches Zeugnis. Unverbessert wartet es auf seine Zerreißung, nach welcher das Reich der Demokratie, einer erlösten Intersubjektivität, die vom Dialog bis zur Liebe reicht, anfinge. Es finge nicht dort an, wo man nur das Abzulösende, Monologisches, das sich in seinen Kreisen dreht, neu in Szene setzt […]. Ebd.,
III. Auszug in die Mündigkeit? Die institutionalistische Sprache der Oberbegriffe ist kritiklos, weil ihr das analytische Gespür fehlt, sie sich an Kategorien festklammert, statt sich an ihren Gegenständen als eine ihnen angemessene, in „kritischer Stringenz […] genau anliegende Sprache“ Sonnemann a, zu bilden. Dieser Sprachmangel nun entspricht einem unzulänglichen Geschichtsbewusstsein, einer „Geschichtsvergeßlichkeit“ ebd., . Indem Sprache wie Analyse sich nämlich nicht genau genug mit dem je vorgefundenen aufhalten und befassen, wird ein Gestus des frischfröhlichen Voranschreitens, des 0euanfangs‘ beschworen; ganz so, als ließe sich mit dem 0euen beginnen, ohne sich mit dem Alten auseinandersetzen zu müssen. Aus derlei Unbestimmtheit jedoch lässt sich nichts Bestimmtes gewinnen: Eine menschlichere Gesellschaft kann nicht aus heiterem Ideenhimmel gebaut werden, nicht aus der Schau der anthropologischen Grundelemente, die je schon da, nur in ein richtiges Verhältnis zu setzen wären. Was das gesuchte Humane sei, lässt sich positiv für Sonnemann gar nicht in den Einzelheiten ausbuchstabieren. 0ur in der Bestimmung dessen, was unmenschlich ist, und in dessen bestimmter 0egation wäre das Projekt der Emanzipation aus menschenunwürdigen Verhältnissen fortzusetzen. Dazu aber bedarf es nicht nur eines „Geschichtsgedächtnisses“ ebd., , sondern einer Sprache, welche die Geschichtserfahrungen reflektierend in sich aufnimmt, also das 0egierte nicht einfach abstrakt in den Abgrund des 0ichts verdammt, vielmehr aufhebt = conservare und in der Analyse und Kritik zugleich übersteigt. Anthropologie ist hier auch Analyse und darin zugleich Kritik dessen, was die Menschen aus sich gemacht haben und damit jeweils in ihrer Epoche sind. In Verhalten, welches es zu untersuchen gilt, finden dabei Bewusstsein und Unbewusstes, individuelle und kollektive Erfahrungen ihren Ausdruck, werden internalisierte gesellschaftliche Strukturen ablesbar. Verhalten ist demzufolge auch „Gesellschaft […] die sich anthropologisiert: als eine zweite 0atur in den Menschen verinnerlicht“ ebd., . Eingangs war die Rede von der komplexen manche würden sagen komplizierten Sprache Sonnemanns. Komplex und vielschichtig ist sie nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie nur dann ihren Gegenständen gerecht werden kann, wenn sie sich ebenso komplex macht wie diese. Sprache soll ihren Gegenstand in Denken übersetzen, ihn dabei gewissermaßen wie durch eine Haut durchscheinen lassen, also ihn mit dem „Zellgewebe der Syntax“ Sonnemann , umschließen, sich annäherungsweise an ihn anschmiegen. Weil Sprache das nur auf die ihr eigene
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Weise kann – die abstrakte, denn Begriff und Begriffenes sind nicht identisch –, ist sie zugleich vom Gegenstand getrennt, hat ihre eigene Dignität. Damit lässt sich der Gegenstand als Inhalt nicht in einer beliebigen )orm wiedergeben, da die )orm Sprache nicht bloßes Mittel zum Zwecke der Wiedergabe eines ihr fremden Inhaltes ist, sondern zugleich stets auch ihr eigener Inhalt. 0ur diejenige Sprache, die sich ihr Eigenleben bewusst zunutze macht und den Gegenstand angemessen umfasst, also die Vermittlung von Inhalt und )orm wahrt, vermag es, nicht positivistisch die Welt einfach zu wiederholen, wie sie ist, sondern in bestimmter 0egation auch dasjenige anzuzeigen, was über die bloße Immanenz, den status quo, hinausweist. Das ist das Potential sprachlicher Abstraktionsfähigkeit. So erhofft sich dialektisches Denken, in die Wirklichkeit eingreifen zu können; eine Wirklichkeit, die selber auch sprachlich verfasst ist. Gegenüber solcher Sprachmächtigkeit, die nicht verkennt, dass Interpretation allein noch keine Veränderung ist, letztere ohne erstere aber keine humane werden wird, haben beschwörende Machtworte eher etwas Hilfloses, auch wenn sie qua Befehlston oft genug Wirkung zeitigen. Einer menschlicheren Gesellschaft jedoch werden sie nicht den Weg bereiten können. „Zukunft ist von außen wiederkehrende Erinnerung; darum hat eine Gedächtnislosigkeit keine“ Sonnemann , – diesen Aphorismus wiederholte Sonnemann verschiedentlich. Wie zutreffend er ist, mag eine kurze und vorläufig schließende Seitenbetrachtung über die gegenwärtige Lage der studentischen Opposition oder was sich für solche hält verdeutlichen: In den letzten Jahren kam eine neue )orm von Sprach- und Symbolpolitik in Mode. Um sich den unbestreitbaren Zumutungen der spätkapitalistischen Gesellschaft zu entziehen, sollten die Räume, in denen man sich bewegte, politische Gruppierungen wie auch die Universitäten, zu safe spaces‘ eingerichtet werden. 0icht aber geht es hier darum, etwa angesichts von permanenten Mittelkürzungen zumindest noch einen materiellen Rumpf zu verteidigen, der kritischem Denken ein letztes Asyl ließe. Vielmehr sollen die Debatten selbst sauber gehalten werden. Die Sprachpolitik richtet sich dabei auch gegen die, teilweise nur angenommene, Identität der Sprechenden: 0icht was gesagt wird, sondern wer etwas sagt, soll das stärkste Gewicht haben. Je privilegierter‘ die Person im Hinblick auf Kategorien wie race‘, class‘ und gender‘, desto zweifelhafter ihre Äußerungen. Dahinter steckt wohl auch die Vorstellung, dass das Privileg das
ڱڲDas ist im Übrigen der Kern des Streits um einen vermeintlichen „Jargon der Dialektik“, den Jean Améry u.a. mit Sonnemann führte vgl. Améry ; Sonnemann b. „ ڲڲDas hat mit der Etablierung einer linksakademischen Mode zu tun, die sich zur Aufgabe gemacht hat, ihr Lebensumfeld in diskriminierungsfreie Räume zu verwandeln und mit diesem Vorhaben inzwischen nicht unbeträchtliche Teile der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften um den Verstand gebracht hat. Das Denken und Handeln dieser Gruppierung bestimmt die Annahme, dass bestimmte zufällige personale Merkmale wie Geschlecht und Hautfarbe Privilegien seien und dass von diesen Merkmalen selbst, seien sie beispielsweise männlich und weiß, Diskriminierung ausge-
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eigentliche Problem sei – also der relative )reiheitsraum, den es lassen mag – und nicht, dass nicht alle solche Privilegien haben. Im damit einhergehenden Zwang zum Bekenntnis welche Privilegien man denn nun besitze , kehrt das von Sonnemann kritisierte Bekennerhafte der er zurück und eine geradezu an religiöse Moral erinnernde Verklärung von Leid und Verteufelung des Glücks. Erinnert sei noch einmal an 0ietzsches Einspruch dagegen. Und auch sonst lässt sich in diesem Milieu etliches von dem finden, was Sonnemann als sprachlichen Institutionalismus überführte: Gerne wird mit Machtworten die Diskussion abgewürgt, statt in Konfrontation ausgetragen, wobei der Verweis auf eine mögliche Traumatisierung‘ durch die verhandelten Inhalte als nicht weiter zu hinterfragende Schlussformel dient; oder die Sprache wird wie durch einen selbstauferlegten Verwaltungsakt reingemacht, indem ihr mit sogenannten trigger-Warnungen‘ oder durch andere sprachpolizeiliche Maßnahmen alles Übel der Welt ausgetrieben werden soll. Zwar müsste es in einer Sprache, der an der Humanisierung der Menschheit gelegen ist, auch Platz für Mitgefühl und Einfühlsamkeit geben, wobei nicht wenige der Privilegien-Kritiker gerade bezweifeln, dass eine Verständigung über unterschiedliche Erfahrungen grundsätzlich möglich sei; Sonnemanns Insistenz auf sprachliche Hellhörigkeit indes ist auch als ein Plädoyer für Empathie zu versehen. Doch müssen neben dieser Zartheit auch die grauenhaften Dinge schonungslos ausgesprochen werden, gerade wenn einem an der Überwindung der finsteren Realität gelegen ist und die Polemiken 0ietzsches wie auch eines Karl Kraus wären Modelle hierfür. Sonst kapitulierte man in beredter Sprachlosigkeit vor den Unmenschen. Die linksakademischen Sprachspiele werden zur Sabotage des Schicksals derweil kaum etwas beitragen, drohen vielmehr, dem )ortbestehen der schlechten Verhältnisse willig zu dienen, zeugen dabei in ihrer permanenten politischen Korrektur des sprachlichen Selbst zugleich von der Verinnerlichung des omnipräsenten Optimierungsdrucks. Schon an den bundesdeutschen Schulbüchern der er Jahre kritisierte Sonnemann, dass sie ihren Lesern anstelle der Konfrontation mit der unschönen Wirklichkeit lieber eine behagliche Kuschelwelt vorgaukeln wollten, damit aber das Potenzial der Jugend zu desavouieren drohten, statt es zu befördern: Das finge damit an, daß es dem Unangenehmen nicht aus dem Weg geht: die Widersprüche der Erwachsenenwelt den sie ohnehin erfahrenden Kindern nicht verschweigt, sondern sie derart zur Sprache bringt, daß es den Ausgang solcher Offenheit nicht präjudizieren kann – wohin
hen würde, vor der man schützen müsse. Und deswegen wird diskutiert, ob Seminare ein Schutzraum sein können oder nicht.“ Hayner „ ڳڲIm 0ew Yorker berichtete eine Professorin der Harvard Law School, dass Studenten baten, den Straftatbestand der Vergewaltigung nicht zu behandeln, gar das Wort Gewalt nicht zu benutzen, weil das retraumatisierend sei. Wie kommt man auf die Idee, dass Sprache im Allgemeinen reale Gewalt bedeutet? Wie kommen erwachsene Menschen auf die Idee, sich selbst einen Reizschutz zu diagnostizieren, der unterhalb dem jedes Kindes liegt?“ Hayner
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immer das führe. Letzteres im voraus zu wissen ist nicht nur unnötig, sondern auch eine Beeinträchtigung a priori des Hinausführens, das die deutsche Übersetzung von educare ist: in traumatisch beengten Seelenverhältnissen emphatischer noch als wo die Situationen entspannter sind. Sonnemann , f
Der emanzipatorische Impuls der Aufklärung, wie ihn etwa Kant formulierte, bestand darin, dass alle Menschen sich ihrer Vernunft sollen bedienen können, also alle zu privilegierten, ebenso sprachmächtigen Personen würden. Auf dem Weg dahin bedürfte es wohl auch einer „Erziehung zur Mündigkeit“, von der Adorno sprach, und die zugleich eine Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit wäre, mit Gehlens Vorstellung von menschlicher Zucht‘ unvereinbar. Ziel wäre, unter solchen Verhältnissen zu leben, unter denen nicht nur niemand mehr hungern müsste, sondern alle in vollem Maße von kritisch reflektierter Vernunft Gebrauch machen könnten. Einer Vernunft freilich, die sich weder im kühlen Rationalismus erschöpft noch in Irrationalismus umschlägt, vielmehr als vorstellende und umso mehr als vernehmende auch ihres leiblichen Momentes innewird. Solche Autonomie wäre Vorbedingung zur Verwirklichung möglichen Glücks.
ڴڲEinen derartigen Begriff von Vernunft entwickelt, aus Sonnemanns Spätwerk, Hermann Schweppenhäuser .
Ulrich Sonnemanns 0egative Anthropologie als Sprachkritik
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„Eine kritische Anthropologie unterschlägt das nicht.“ – Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext1 Betrachtet man die Rezeption von Jürgen Habermas’ Ende der er Jahre erschienenem Lexikonartikel über „Anthropologie , so fällt auf, dass dieser häufig als Anlass schulpolitischer Selbstverortung dient. Ob nun aus der Perspektive jener Denktradition Kritischer Theorie oder aber aus derjenigen Perspektive, für die sich eine ebensolche Denktradition Philosophischer Anthropologie aufweisen lässt – Habermas’ Artikel reizt zu Gesten der Anerkennung und des Widerspruchs, meistens jedoch zu beidem im gleichen Atemzug. Zugespitzt ließe sich wohl sagen, dass der Artikel im Gefolge der Kritischen Theorie eher dahingehend interpretiert wird, als zeige sich in ihm, dass das von vornherein als ,affirmativ‘ begriffene anthropologische Denken an einer grundsätzlichen Bestimmung des menschlichen Wesens scheitern müsse. Im Umfeld der Philosophischen Anthropologie hingegen firmiert der Artikel zwar u.a. als ein Beleg für die )ruchtbarkeit des eigenen Denkansatzes gegenüber jenen mit geschichtsphilosophischen Erklärungsfiguren ,belasteten‘ )ormen kritischer Theoriebildung, wird aber zugleich auch als ein Elaborat absichtsvoller ,Zersetzung‘ des Denkansatzes betrachtet so )ischer , f . – Je nachdem also, welchem der beiden Lager sich der oder die Betrachtende eben vorzugsweise verpflichtet fühlt: die beschriebene Mixtur aus Anerkennung und Widerspruch lässt sich in keiner der beiden – hier zunächst idealtypisch skizzierten – Denkformationen zum Verschwinden bringen. Und so verwundert es kaum, dass sich Habermas’ früher Lexikon-Beitrag keiner der beiden genannten Denktraditionen so ohne weiteres eingliedern lässt. Stattdessen gewinnt man viel eher den Eindruck, als befinde sich der Artikel, eingespannt zwischen den Traditionen, in einer Art 0iemandsland, von dessen Existenz man sich zwar von Zeit zu Zeit vergewissert, um das eigene Territo-
ڲDer vorliegende Text geht auf einen Vortrag zurück, der im )ebruar auf der Potsdamer Tagung „Mensch und Gesellschaft zwischen 0atur und Geschichte gehalten wurde. ڳIn jener späteren in den Sammelband „Kultur und Kritik Habermas b aufgenommenen und weitgehend unveränderten )assung ist der Artikel als „Philosophische Anthropologie überschrieben. In dem von Alwin Diemer und Ivo )renzel herausgegebenen )ischer-TaschenbuchLexikon „Philosophie stand der Artikel „Anthropologie Habermas an vorderster Stelle, gleich nach einer Einleitung von Helmuth Plessner, die sich mit dem „Situationsverständnis gegenwärtiger Philosophie befasste. ڴHierbei sei einmal noch unberücksichtigt, dass sich – wie die vorliegende Bandherausgabe zeigen soll – in letzter Zeit zaghafte Annäherungsbemühungen zwischen beiden Denktraditionen erkennen lassen.
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rium besser abstecken zu können, das man aber, um drohende Grenz- und Gebietskonflikte zu vermeiden, lieber gar nicht erst betritt. Es ist diese rezeptionsgeschichtlich verfahrene Situation, aufgrund derer es sich empfiehlt, die schulpolitischen Beweggründe, die im Rückblick auf den Artikel mit einer ostentativen Selbstverständlichkeit mitschwingen, einmal gänzlich zurückzustellen, um sich seines systematischen Problemgehalts erneut zu versichern. Über diesen nämlich gibt die dazu Stellung nehmende Literatur keinerlei Aufschluss. Die hier folgende Re-Lektüre des Artikels legt ihr Augenmerk auf die Darstellung seines dazugehörigen zeit- und problemgeschichtlichen Kontextes, um so den Weg zu einem besseren Verständnis der Habermas’schen Theorieentwicklung zu ebnen. Von geringerem Interesse ist demnach, wie man Habermas’ damalige Sicht auf die Hauptautoren der Philosophischen Anthropologie bewertet bzw. wie groß der Abstand in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen seines Denkens zu diesem oder jenem Autor war. Vielmehr soll hier die )rage im Mittelpunkt stehen, was die systematischen, zeit- und ideengeschichtlichen Hintergründe dieses augenscheinlich irritierenden Wechselspiels aus 0ähe und Distanz zu diesen Autoren motiviert haben mag. Ausgehend von dem Befund, dass Habermas den kulturanthropologischen Ansatz Erich Rothackers in seinem Lexikonbeitrag als einen die menschheitsgeschichtliche Entwicklung integrierende Ergänzung zum naturphilosophischen Ausgangspunkt Philosophischer Anthropologie kennzeichnet, werde ich zunächst einen kurzen Blick auf Rothackers Werkentwicklung werfen, um daran eine für die 0achkriegsdiskussion insgesamt als repräsentativ zu wertende Akzentverschiebung sichtbar zu machen, die Konsequenzen v. a. für die Aufnahme der Handlungsproblematik hat I . Alsdann werde ich diese im Sinne einer „Soziologisierung des Wissens Karl-Siegbert Rehberg interpretierbare Verschiebung am Beispiel der Diskussion zum Welt-Umwelt-Problem beleuchten, die auf dem Bremer Philosophenkongress von stattgefunden hat, um daran den zeit- und problemgeschichtlichen Kontext zu illustrieren, in dem Habermas’ vormalige Aneignung ڵAbgesehen von dem Umstand, dass Joachim )ischer den Artikel als eine „Zersetzung oder „Selbstauflösung des Denkansatzes Philosophischer Anthropologie betrachtet, etikettiert er die darin enthaltene Darstellung als „luzide . Vgl. )ischer , . ڶAuch Dirk Jörke wertet den Anthropologie-Artikel – ähnlich wie Schloßberger und )ischer – als „fundamentale Kritik anthropologischer )undierungsversuche Jörke , . Dabei betreibt Jörke von vornherein eine Engführung im Vergleich mit der älteren Kritischen Theorie hier Horkheimer , die so gar nicht notwendig wäre. Im 0achgang seiner Kennzeichnung des Lexikonartikels als „)undamentalkritik wundert er sich dann wiederholt darüber, dass Habermas zu späteren Zeitpunkten auf anthropologische Argumentationsmuster zurückgegriffen habe. Würde Jörke die Ausführungen zur kritischen Anthropologie, wie sie sich im frühen Artikel vorfinden, nicht als Kritik der Anthropologie, d. h. als scharfe Zurückweisung des anthropologischen Denkansatzes als solchem, interpretieren, so müsste er sich nachher auch nicht so sehr über deren „Verblassen Jörke , ff bzw. spätere Wiederentdeckungen Jörke , wundern.
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
und spätere Wiedergabe der maßgeblichen Konturen des Denkansatzes erfolgte II . Im Anschluss daran werde ich mich schließlich dem Anthropologie-Artikel als solchem zuwenden, um auf Habermas’ damaliges Vorhaben einer systematischen Verbindung von Anthropologie und Theorie der Gesellschaft hinzuweisen, die er unter das programmatische Stichwort einer „kritischen Anthropologie gestellt hat III . Abschließend möchte ich ein kurzes )azit dieser kontextbasierten Re-Lektüre des Anthropologie-Artikels ziehen IV .
I.
Rothacker revisited
Im Zusammenhang mit dem Lexikonartikel „Anthropologie dürfte sich die )rage eines intellektuellen Einflusses zuerst hinsichtlich Habermas’ Bezugnahme auf Erich Rothacker stellen. Rothackers kulturanthropologischer Ansatz wird von Habermas nicht nur wegen seines Verzichts auf anthropologische Konstanten und der darin dargestellten „Verschränkung von Umweltbindung und Weltoffenheit Habermas , hervorgehoben. Er wird vielmehr explizit gegen einen anderen Autor der Philosophischen Anthropologie, nämlich gegen Arnold Gehlen, in Stellung gebracht: „Rothackers Ansatz einer allgemeinen vergleichenden Menschheitswissenschaft , so betont Habermas, entgehe „der 0aivität Gehlens, bestimmte historische Kategorien schlicht als anthropologisch ,notwendig‘ zu unterstellen. , da er sich „mit historischem Takt und „der Sensibilität und der Tradition der deutschen historischen Schule, der ganzen Breite empirisch zugänglicher Kulturen und Epochen stelle ebd., f . Um diese aus der Sicht von Habermas relativ späte Auszeichnung Rothackers einzuordnen, scheint es zunächst ratsam, sich dem Kontext des Artikels und dessen intertextuellen Bezügen zuzuwenden, so wie sie sich im Diskursgefüge der deutschen 0achkriegsphilosophie darstellen. Im Unterschied zur obigen Behauptung von Habermas, wird Rothackers Kulturanthropologie heute nämlich vorwiegend in einer Weise rezipiert, die mit dem von Habermas herausgestellten Verzicht auf anthropologische Konstanten nur schwer in Übereinstimmung zu bringen ist. So liegt der )okus des heutigen Interesses an Rothacker weniger auf dessen historistischem Geschichtsverständnis, sondern um-
ڷIn der späteren )assung des Artikels ist nicht mehr von der „0aivität , sondern der „0eigung Gehlens die Rede. Vgl. Habermas b, . Die Änderungen im Rahmen der 0euausgabe sind allerdings sehr geringfügig und beschränken sich auf Literaturergänzungen und sprachliche Verknappungen. ڸDie Einschätzung „relativ spät hat zum Hintergrund, dass Habermas sich zum Zeitpunkt der Abfassung des Anthropologie-Artikels längst in einem Anstellungsverhältnis am )rankfurter Institut für Sozialforschung befand und darüber hinaus auch keinerlei Kontakt mehr zu seinem ehemaligen Doktorvater pflegte.
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kreist vielmehr die )rage, welcher Art die von ihm geltend gemachten und historisch durchgängigen )aktoren menschheitsgeschichtlicher Entwicklung sind. Hierbei stellt sich u. a. auch die )rage, welche Rolle dabei Kategorien wie ,Rasse‘, ,Rassenseele‘, ,Urbild‘, ,Urerfahrung‘, ,Volksgeist‘ usw. innerhalb seiner Theorie kultureller Lebensstile spielen. )raglich ist hierbei nicht nur, inwiefern Rothackers Denken sich als „überholt oder auch nur „unzeitgemäß erweist, sondern worauf seine zweifelsfrei zu konstatierende Wirkung als intellektueller Akteur im geisteswissenschaftlichen Diskurs der 0achkriegszeit – trotz aller Unzeitgemäßheit – beruhte. Möglicherweise verdankt sich die Habermas’sche These eines Rot-
ڹObgleich die )rage der politischen Anschlussfähigkeit von Rothackers Kulturanthropologie durchaus unterschiedlich bewertet wird, sind sich die verschiedenen Darstellungen Böhnigk ; Tremmel ; Stöwer gerade in dieser Hinsicht einig. So sieht etwa )rank Tremmel in Rothackers Kulturanthropologie eine „rassentheoretische Indienstnahme des Stilbegriffs Tremmel , . Rothacker verfolge Tremmel zufolge das Projekt einer „Biosemiotik bzw. einer „kulturanthropologisch akzentuierte[n] intensionale[n] Semantik , die „unter der Hand zur Apologie primordialer Symbole gerate und dadurch auch „der Rassenlehre Tür und Tor öffne ebd. . – Wie man es auch dreht und wendet, ohne irgendeine )orm des Rassebezuges scheint Rothackers Theorie kultureller Lebensstile nicht hinreichend erfassbar. Rothackers Begriff der „Haltung etwa gründet sich auf situationsgebundene Verhaltensmuster kulturelle Lebensstile , die ihrerseits nicht nur auf dem Aspekt der „Herauszüchtung kulturspezifisch erwünschter Verhaltensweisen beruhten, sondern zudem auch auf angeborenen Grundveranlagungen. Ralph Stöwer spricht in diesem Zusammenhang von der „Doppelbedeutung des Begriffs ,Zucht’ , die sich Rothacker zunutze mache, „um ,Rassegedanke’ und Lebensstiltheorie nicht als Gegensätze erscheinen zu lassen Stöwer , . – Eine diesbezügliche Ausnahme innerhalb der Rothacker-Rezeption bildet die Deutung Joachim )ischers siehe )ischer , ff bzw. ff , bei dem gerade das Problem des Rassebezugs wie auch Rothackers Stellung zur nationalsozialistischen Weltanschauung undiskutiert bleiben. In erkennbarem Vorgriff auf die von ihm vertretene These eines „Identitätskerns Philosophischer Anthropologie, der das Denken Schelers, Plessners, Gehlens, Portmanns und auch Rothackers verbinde, schreibt )ischer: „Rothackers 0eueinsatz in Richtung einer Kulturanthropologie – seit / vorgetragen – hält in den er Jahren, unter veränderten diskursiven Umständen, das Erwartungsfeld Philosophische Anthropologie offen. Ebd., S. . Unter diesem Blickwinkel muss Rothacker freilich als ein von den „veränderten diskursiven Umständen alles in allem nicht sonderlich affizierter Denker erscheinen. – Um einen naheliegenden Vergleich zu ziehen: Während sich die Rolle Arnold Gehlens in der 0S-Zeit eher als die eines politischen Opportunisten oder wissenschaftlichen Profiteurs beschreiben lässt, waren Rothackers politische Ambitionen von Beginn an hochfahrender, was sich nicht zuletzt in seinen kulturpolitischen Stellungnahmen widerspiegelte. Hinzu kommt, dass Rothacker von der Ungleichheit der Menschen aufgrund ihrer rassischen und kulturellen Bedingtheit ausging, während Gehlen innerhalb seiner Anthropologie ein einheitliches Menschenbild voraussetzte. Bei beiden finden sich positive Bezüge auf die „Rassenseelenkunde von Ludwig )erdinand Clauß, wenngleich sich diese bei Gehlen – im Unterschied zu Rothacker – eher randständig ausnehmen. Zu Gehlens Rolle während der 0S-Zeit: vgl. Rehberg , ff; zur Rolle Rothackers: vgl. Stöwer , ff. ںGuillaume Plas betont im Anschluss an Michael Landmann, dass Rothackers „Überholtheit sich weder einfach auf seine vermeintliche Überholtheit auf theoretischer Ebene begründe, noch in einer etwaigen ideologischen Verurteilung seitens der )achgenossen zu suchen sei, sondern vielmehr der
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
hacker’schen Verzichts auf invariante Deutungsmuster menschlichen Verhaltens nicht einer oberflächlichen Lektüre seiner Schriften. Denn vorstellbar ist ebensogut die Möglichkeit, dass Rothacker sein Denken – über die semantische 0eucodierung einzelner Begrifflichkeiten hinaus – in bestimmter Hinsicht neu justiert hat, was dann nachgeordnet nicht nur vereinzelte Themenwechsel, sondern auch geänderte Auffassungen bei gleichbleibender Thematik erklären würde. Wie im )olgenden zu zeigen ist, hat Rothacker nach dem Krieg tatsächlich eine solche Akzentverschiebung vorgenommen, aus der sich die gegensätzlichen Einschätzungen heutiger und damaliger Interpreten erklären würden. Während die nationalsozialistisch imprägnierte „Geschichtsphilosophie Rothacker , aber auch die nach dem Krieg unverändert wiederaufgelegte Abhandlung „Probleme der Kulturanthropologie Rothacker noch auf einem reduktionistischen – auf , Rassen Seelen‘, ,Urbilder‘, ,Urerfahrungen‘, ,Volksgeist‘ usw. abstellenden – Haltungsbegriff beruhten, findet sich in der Vorlesung „Philosophische Anthropologie Rothacker , die Rothacker im Wintersemester / in Bonn gehalten hatte, nichts dergleichen. Bemerkenswert an dieser Vorlesung ist vielmehr die 0euakzentuierung der Situationsgebundenheit menschlicher Handlungsvollzüge. Zwar begreift Rothacker die Problematik des Handlungsvollzuges nach wie vor situativ, d. h. im Sinne einer Herausforderung, die sich in bestimmten Lebenslagen stellt; an die Stelle der ehemals reduktionistischen Konzeption, in der Haltungen nahezu umstandslos auf kulturell durchgeprägte Lebensstile zurückbezogen wurden, tritt nun allerdings eine veränderte Auffassung, innerhalb derer der Handlungskategorie und weiter dem Begriff des „Handlungsmilieus eine zentrale Rolle zufällt: „Jede Situation ist Modifikation eines Handlungsmilieus Rothacker , ff , heißt es nun. Entsprechend flankiert wird diese veränderte pragmatis-
„kontextbedingten Unzeitgemäßheit seines Historismus geschuldet gewesen sei Plas , . Plas hebt in diesem Zusammenhang allerdings hervor, dass die damalige Rezeption Rothackers – als eines Vertreters des Historismus – auf einer Vereinfachung beruhe, die außer Acht lasse, dass dieser „trotz allem Historismus einen Rest von Objektivität zu wahren versucht habe ebd. . ڱڲDie hier beschriebene Akzentverschiebung in der Handlungsproblematik, die sich an der offenkundig an Gehlen orientierten 0eueinführung des Begriffs „Handlungsmilieu zeigen lässt, wurde in der Literatur m. W. noch nicht eingehender beleuchtet. Bei Honneth/Joas heißt es allerdings, diese spätere Position recht treffend zum Ausdruck bringend: „Erich Rothackers originärer Beitrag bestand vornehmlich darin, dem Gedanken der Weltoffenheit des Menschen die vom Handeln erzwungene Einbettung in spezifische, kulturell und sprachlich vermittelte Umwelten entgegenzuhalten und dadurch philosophische Anthropologie und Kulturanthropologie in einer Weise zu vermitteln, die die Spannung von Handeln und Welt-Vorstellung austrug. Ebd., , f – Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich v. a. Joas der Rothacker’schen Position – allerdings unter nicht-relativistischen wie zugleich nicht-metaphysischen Voraussetzungen – wieder annähert. Überlegungen von Dietrich Böhler folgend, verweist Joas auf die )undierung des Handelns in „vorreflexiven Situationsbezügen siehe Joas , ff; Zitat: . Die Intentionalität verstehe sich dabei als eine Zwecksetzung, die „Resultat einer Situation [sei], in der sich der Handelnde an
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tisch anmutende Sichtweise durch Rothackers Eingeständnis, in früheren Arbeiten zu sehr vom „Reaktionscharakter menschlichen Verhaltens ausgegangen zu sein. Man müsse „sich hüten , so gibt Rothacker im Rahmen seiner Vorlesung zu verstehen, „dieses an sich fundamentale Schema Lage-Antwort – das deutsche Wort für Situation ist Lage und unsere Reaktion darauf heißt Antwort – ausschließlich nach dem verführerischen Leitfaden des von der Physiologie geschaffenen ReflexSchemas zu verwenden Rothacker , . Begleitet wird diese selbstkritische Warnung durch einen entsprechenden, diese Akzentverlagerung vom Verhalten zum Handeln bekräftigenden )ußnotenverweis auf eigene Arbeiten, in denen Rothacker dem nunmehr kritisierten Schema noch verhaftet war. Die )rage, warum sich Rothacker zu einer 0euakzenturierung der Verhaltens- bzw. Handlungsproblematik veranlasst sah, soll im )olgenden vor dem Hintergrund der deutschsprachigen 0achkriegsdiskussion zum „Welt-Umwelt-Problem beleuchtet werden, bevor dann auf den eigentlichen Gegenstand dieser Re-Lektüre – Habermas’ AnthropologieArtikel – zurückzukommen ist.
II.
Das Welt-Umwelt-Problem
Das so genannte Welt-Umwelt-Problem wurde auf dem von Helmuth Plessner organisierten . Philosophie-Kongress in Bremen verhandelt, der als ein signifikanter Bezugspunkt der philosophischen Diskussion der 0achkriegszeit gelten darf. Bis auf Jaspers und Heidegger, die zwar geladen, jedoch nicht zu einer Teilnahme zu bewegen waren, kamen in Bremen die wichtigsten Vertreter des )achs zusammen. Unter den Gästen, die am runden Tisch miteinander ins Gespräch kommen sollten, befanden sich u. a. Otto-)riedrich Bollnow, Alois Dempf, Julius Ebbinghaus und der einfachen )ortsetzung vorreflexiv angetriebener Handlungsweisen gehindert sieht. In dieser Situation muß er reflexiv Stellung beziehen zu seinen vorreflexiven Strebungen. Ebd. Dass diese vorreflexiven Strebungen letztlich eingebunden sind in eine „Konkretisierung von Werten , die auf „kreative Leistungen ebd. angewiesen seien, – darin unterscheidet sich schließlich Joas’ von Rothackers Vorstellung vom menschlichen Handeln. ڲڲIn einer abseitigen Schrift Rothackers heißt es über das Lage-Antwort-Schema: „Einer bestimmten Lage ist jeweils eine bestmögliche Lösung angemessen. Wo ein aus der Tiefe der Person aufsteigender Einfall die bislang entdeckte beste Lösung übertrifft, sprechen wir von Genialität und schöpferischen Lösungen. Dies Schema alles Handelns ist so weit, daß es auch das tierische Handeln miterfaßt. […] Aber in allem Tun als solchem steckt noch etwas anderes und sehr eigenartiges: nämlich jeweils eine bestimmte ,Haltung‘, die Haltung in der gehandelt wird und aus der gehandelt wird. Diese Haltung, in und aus der gehandelt wird, liegt noch tiefer als der Komplex der Motive, Wünsche und mehr oder weniger klaren oder verborgenen Ziele, um derentwillen der Mensch handelt. Das Dasein solcher Haltungen im Handeln ist unvermeidlich. Es ist ein a priori einsichtiger Wesensbestandteil allen Tuns. Es beruht auf der ontologischen Struktur des Handelns überhaupt. Rothacker , .
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
Arnold Gehlen. Geleitet wurden die insgesamt acht Symposien u. a. von Hans )reyer, Theodor Litt, Erich Rothacker. Im Symposion zum „Umweltproblem , das von Helmuth Plessner – dem frisch gewählten Präsidenten der damals neugegründeten „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie – geleitet wurde, gab es ebenso wie bei den anderen Symposien, eine Reihe von Thesen, die den Teilnehmern schon im Vorfeld der Diskussion bekannt gemacht wurden. Darüber hinaus hatte Plessner, der den Kongress zum Teil noch aus dem Groninger Exil, aber mit der Aussicht einer baldigen Rückkehr nach Göttingen, geplant hatte, dafür Sorge getragen, dass nicht nur Philosophen, sondern auch Biologen, Zoologen und Verhaltensforscher am runden Tisch ins Gespräch kamen. Ausgehend von der )rage, ob der von Jacob von Uexküll entwickelte und in der Biologie allgemein gebräuchliche Umweltbegriff auch beim Menschen Anwendung finden könne, gerieten im Verlauf des Symposions zunächst der Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Arnold Gehlen, später Erich Rothacker und Helmuth Plessner aneinander. Während sich Gehlen und Lorenz hinsichtlich der )rage der Begründbarkeit einer Sonderstellung des Menschen ins Gehege kamen, hatte sich Rothacker mit den u. a. von Plessner geäußerten Einwänden gegen die irreduzible Pluralität menschlicher Umweltbindungen auseinanderzusetzen. In seiner Diskussion mit Gehlen wandte Lorenz gegen dessen Auffassung einer aus der natürlichen Unspezialisiertheit begründeten Sonderstellung des Menschen ein, dass der Unterschied zwischen Tier und Mensch „zwar gewaltig , im Grunde aber nur als „graduell zu betrachten sei Lorenz in Plessner , . Denn genau wie das Tier, dessen „phylogenetisch gewordener rezeptorischer Apparat, […] aus der )ülle der Gegebenheiten nur gewisse Reize ,ausfiltert‘ und ,beantwortet‘ ebd. , sei prinzipiell auch der Mensch beschaffen. Exemplarisch, so befand Lorenz, zeige sich dies an den „inner-artlichen Schwierigkeiten , an denen die Menschheit immer wieder scheitere – was so viel heißen sollte, als dass Menschen auch auf „sozialem Gebiet mittels „angeborener Verhaltensweisen reagierten ebd., . Im Vergleich zum Tier, so wandte Lorenz speziell gegen Gehlens Theorie einer mangelhaften Organausstattung ein, schneide der Mensch hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit gar nicht so schlecht ab. Die )eststellung menschlicher Unspezialisiertheit im Gegensatz zu tierischer auf einer )ülle von Instinkten beruhender Spezialisierung sei deshalb nicht derart schlüssig, wie Gehlen dies in seinen Schriften dargestellt habe. Eine „Weltoffenheit des Menschen vermochte sich Lorenz dagegen lediglich ڳڲIm Publikum sowohl des Bremer als auch des zwei Jahre zuvor stattgefundenen Mainzer Philosophiekongresses befand sich auch Jürgen Habermas persönliche Auskunft von ihm . ڴڲZur 0achkriegsdiskussion zum „Umweltproblem : vgl. auch )ischer , ff. ڵڲVgl. in diesem Zusammenhang auch: Lorenz , ff, der sich hier noch etwas moderater über Gehlen äußert. ڶڲZu Lorenz’ im Gegensatz zu Gehlen auf der Verknüpfung von Instinktverfall und Domestikation beruhendem biologistischem Kulturbegriff: vgl. Karneth , ff bzw. ff.
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als überlegene Leistung im Ringen mit seiner jeweiligen Umwelteinbindung zu denken. Gehlen seinerseits begegnete diesem Angriff auf das Herzstück seiner Anthropologie – der These einer menschlichen Sonderstellung aufgrund mangelnder Organ- und Instinkt-Ausstattung – mit dem Hinweis, dass der Mensch eine Plastizität des Verhaltens verfüge, die sich in keiner Weise beim Tier finden lasse Gehlen in Plessner , . Auch in puncto Spielverhalten und 0eugier – beides Phänomene, die Lorenz unter Rückgriff auf Ergebnisse seiner Tierverhaltensforschung ins )eld führte und als typisches Verhalten für Unspezialisiertheit auch unter Tieren begriff – hatte sich Gehlen eines Angriffs des Verhaltensforschers zu erwehren. Dabei deutete Gehlen das von Lorenz angeführte Spielverhalten von Kolkraben und Wanderratten als „Appetenzverhalten triebbedingtes Verhalten , das mit der von Lorenz behaupteten „sachbezogene[n] 0eugier nichts zu tun habe: „Das Tier kann sich nicht auf das Eigenverhalten eines Dinges einstellen, wie es das Kind schon kann. Ebd. . Unterstützung erhielt Gehlen hierbei vom Wiener Zoologen Otto Storch, der den Unterschied zwischen Mensch und Tier zuvor schon im Hinblick auf die Unterscheidung von Erb- und Erwerbmototik bzw. Erb- und Erwerbrezeptorik beleuchtet hatte. Im Unterschied zum Tier, dessen Verhaltensspektrum weitgehend vererbungsbedingt festgelegt sei und nur bei einigen Tieren durch Lern- und 0achahmungsmuster ergänzt werde, greife die Erwerbmotorik des Menschen „tonangebend um sich und werde in allen seinen Tätigkeiten vorherrschend: „Die Erwerbmotorik hat dem Menschen 0achahmungsfähigkeit und damit das Vermögen zu erbfreier Übertragung, zu Tradition, in die Hand gegeben. Storch in Plessner , Damit sei der Mensch ein gegenüber dem Tier „potenziertes Individuum : Das Menschenniveau ist charakterisiert durch Verdrängung der Umwelthaftigkeit, an deren Stelle Welthaftigkeit tritt, durch In-die-Tiefe-Drücken des Erbgeschehens, über dem sich sieghaft großartiges Eigenerwerbsgeschehen ausbreitet. Ebd.,
In seiner Reaktion auf die Lorenz’sche Kritik an der These der Sonderstellung des Menschen vertrat Storch die Ansicht, dass es beim 0eugierverhalten mancher Tiere zwar eine „erste Annäherung an menschliches Verhalten gebe, ein wesentlicher Unterschied zum Menschen aber gerade darin bestehe, dass „das tierische Verhalten in den genannten Situationen ergebnislos ebd., sei: Es wird dabei nicht als wirklich konstitutives Ergebnis ins Lebensgetriebe eingebaut. Das Tier bleibt in seinen )unktionskreis eingeschlossen. Dagegen baut der Mensch von sich aus )unktionskreise auf und formt sich sein Leben. Ebd.
Auch Erich Rothacker, der wenig später in die Diskussion eingriff, unterstrich die grundsätzliche Verschiedenheit von Mensch und Tier, fragte aber – rückbezogen auf
ڷڲVgl. dazu auch Storch
.
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
zwischenzeitlich vorgebrachte Einwände gegen jedwede biologische Bestimmung des Menschen –, ob der Mensch „wirklich uneingeschränkt weltoffen Rothacker in Plessner , sei. Wie Rothacker ausführte, lebe der „konkrete Mensch […] in einer ganz konkreten Welt ebd., . Und was dieser erlebe, sei demnach „bestimmt durch seine innere Anteilnahme und Interessenahme ebd. : Das menschliche Weltbild ist genau wie das tierische das Ergebnis einer vom Subjekt abhängigen Selektion des Bedeutsamen. […] Der Mensch hat die Möglichkeit, weltoffen zu sein, aber er macht einen sehr beschränkten Gebrauch davon. […] Auch der Mensch lebt in geschlossenen Welten, die eine durch seine Anteilnahme bedingte Auswahl aus der unerschöpflichen Wirklichkeit sind. Das Können allerdings, d. h. das Weltoffen-werden-können, ist ein spezifisch menschliches Privileg. Ebd.,
Damit verortete sich Rothacker gewissermaßen zwischen Lorenz und Gehlen. Sein spezifischer Zusatz einer Theorie kultureller Lebensstile, die in Ergänzung der anthropologischen, d. h. allgemein gattungsbezogenen Betrachtungen, eine historische Vergleichsperspektive einforderte, blieb jedoch nicht unwidersprochen. So wurde etwa im weiteren Verlauf der Diskussion von Arnold Metzger das Problem aufgeworfen, dass sich innerhalb Rothackers aus Metzgers Sicht jedoch jeglicher biologischer oder tierischer Betrachtungsweise nicht erschließe, wie die kulturellen Partikularitäten hin zur der „einen – d. h. auch sozial geteilten Welt – überschritten werden könnten. Anstatt die partikularen menschlichen Umwelten – wie Rothacker – als weitgehend gegeneinander geschlossen aufzufassen, so betonte Metzger, gehe es darum, den „offenen Horizont , in dem Menschen handelten, in den Blickpunkt zu rücken Metzger in Plessner , f . Metzgers gleichsam universalistische Auffassung der menschlichen Welt-Umweltproblematik konterte Rothacker seinerseits mit dem Argument, dass das „Transzendieren der jeweiligen Umwelt selbst immer einen spezifischen Stil habe und daher nicht „totale Richtigkeit oder die „,richtige‘ Erfassung der Welt intendiere, sondern auf eine tiefere Ebene von „Weltbildern führe, die wiederum verschieden voneinander seien Rothacker in Plessner , . Metzger wiederum antwortete darauf mit dem Hinweis, dass Rothackers „verschiedene ,Welten‘ […] verschiedene Typen der Exzentrizität seien, worunter Metzger offenbar eine allgemein menschliche Struktur im intentionalen Überschreiten von der Umwelt zur Welt fasste Metzger in Plessner , ebd. . Wie in dem von Mitarbeitern Plessners redigierten Diskussionsbericht auch vermerkt ist, nahm der damalige Diskussionsleiter die Gelegenheit zu einer zusammenführenden Synthese wahr, in der er seine eigene Auffassung einer „Verschränkung beider Momente, das Mit- und Ineinander von Umwelthaftigkeit und Weltoffenheit Plessner , f wirksam platzieren konnte. Schon im Vorfeld des Kongresses hatte Plessner dazu einen Aufsatz in der von den unterschiedlichsten )orschungsrichtungen frequentierten Zeitschrift „Studium Generale publiziert, in dem er sich in erster Linie mit dem kulturanthropologischen Ansatz Rothackers befasste Plessner . So hatte er dort u. a. festgehalten, dass die „Anthropologen philosophischer Prä-
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gung , zu denen er neben Rothacker wohl auch den von ihm ungenannten Gehlen zählte, sich „nur im Punkte des Maßes, in welchem auch für den Menschen Umweltbindung besteht ebd., , widersprächen. Rothackers Theorie kultureller Lebensstile referierte Plessner dabei wie folgt: Die lebensbezogene, impuls- und strebebedingte Umwelt ist getönt, die Welt der Objekte und Sachverhalte ist tonlos; wenn wir für getönt sinnvoll setzen, so stellt sich eine jede Umwelt ihrem lebendigen Zentrum als eine Ordnung von Sinnbezügen dar, während Welt im Kontrast dazu sinnfrei heißen muß. Ebd.,
Wenn Plessner deshalb darauf hinwies, dass sich die „Umweltlichkeit des Menschen nicht nur in seinen „Bedeutsamkeiten und Lebensbezügen , sondern auch vor dem zumindest „latent gegenwärtigen Hintergrund von Welt absetze, so stand dahinter die Auffassung einer generellen „Durchbrochenheit und Gelegentlichkeit des interessebedingten Aspekts menschlichen Ausdrucksvermögens ebd., . Die „ganze Umweltbindung , so wandte Plessner gegen Rothackers seiner Meinung nach noch zu einseitige auf dem Reiz-Reaktionsmuster menschlicher Verhaltensäußerungen beruhende Auffassung menschlicher Lebensvollzüge ein, habe „beim Menschen ein erworbenes und bewahrtes Wesen, ist nicht mit der 0atur seines Leibes einfach gegeben, sondern – weil kraft ihrer offengelassen – gemacht und nur in übertragenem Sinne natürlich gewachsen ebd. . Zwar verweise Rothacker mit Recht auf die „vielfältig wechselnde Situiertheit des Menschen mit ihren Standorten des Volkes, einer Gegend, einer Klasse, eines Berufs, eines Glaubens ebd. , nur sei dabei eben auch bedeutsam, in welcher Weise sich die jeweiligen Lebensbezüge umzuformen in der Lage seien. 0icht nur innerhalb des kulturell Vertrauten und Selbstverständlichen finde der Mensch sein zu Hause. Auch „die )remde, […] die Welt, mit der es eine uns verschlossene und letzten Endes vielleicht unergründliche Bewandtnis hat und vor der dies Vertraute schütze, stehe Plessner zufolge für „das ganze Drumherum des Lebens ebd., : 0ur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhersehbare Lagen bringt und mit der er stets neue und brüchige Kompromisse schließen muß, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefährdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur. Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder Haltung und )ormgebung erreicht wird. Sie ist gewordene, errungene und traditionell bewahrte Einseitigkeit, der die Menschen verfallen, wenn sie sich der Begrenztheit ihrer Werte, Umgangsformen usw. nicht bewußt sind. Ebd., f
Das Uexküll’sche an „niederen triebbedingten, gefühlsnahen und dem körperlichen Dasein verhaftete Schema der Umweltbeziehung, so fasste Plessner seine in der Auseinandersetzung mit Rothackers Kulturanthropologie gewonnene Auffassung zusammen, verlöre in der Betrachtung „menschlicher Daseinsleistungen ebd., f daher seinen Sinn. Wie Plessner dann in seinem Diskussionsbeitrag zum Umwelt-
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
problem mit erneutem Bezug auf Rothacker betonte, sei es dagegen begründeter, vom „Ineinander von Umwelthaftigkeit und Weltoffenheit Plessner , auszugehen. Andererseits sei deswegen auch Scheler, bei dem die Weltoffenheit des Menschen vereinseitigt sei, noch keineswegs im Recht: so gehe es nicht an, „den Menschen entweder auf das 0iveau umweltgebundenen Lebens zu degradieren oder ihm unter Verweis auf seine prinzipielle Weltoffenheit alle Umweltgebundenheit abzusprechen ebd. . Wenn demnach das Tier als umweltgebunden zu beschreiben sei, so wäre nur der Engel weltoffen. Der Mensch aber, so resümierte Plessner, sei „das Wesen zwischen Tier und Engel , in anderen Worten: das „Mittelwesen , einer spezifischen, nicht zum Ausgleich zu bringenden, gegenseitigen „Verschränkung umweltgebundener und weltoffener Lebensform ebd., . Wenngleich Rothacker von seiner Theorie kultureller Lebensstile auch nicht gänzlich abrücken sollte, so hatte die Plessner’sche Kritik bei ihm doch einen nachweislichen Eindruck hinterlassen. Dies lässt sich vor allem im Hinblick auf seine Vorlesung „Philosophische Anthropologie von / konstatieren, in der die gesamte Darstellung das Verhältnis von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit umkreist. Im Vergleich zu früheren Arbeiten Rothackers fällt dabei etwa auf, dass er hier dem Problem der Distanz bzw. Distanznahme sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenkt. Distanzierung wird mithin als „spezifische )ahigkeit des Menschen Rothacker , verstanden, wenngleich dies bei den von Rothacker hauptsächlich betrachteten Autoren – Scheler und Gehlen – auf einen unterschiedlichen Erklärungsgrund verweist. Während Scheler zur Erklärung des menschlichen Verhaltens-Monopols auf die Kategorie des Geistes zurückgreife, so erklärte Rothacker, versuche Gehlen die )ähigkeit zur Distanznahme über die der Handlung zu erklä ڸڲGuillaume Plas weist darauf hin, dass auch Rothackers 0achkriegsphilosophie keineswegs vorschnell unter dem Label Historismus-Relativismus rubriziert werden könne, da er „trotz allem Historismus einen Rest von Objektivität zu gewährleisten versucht habe siehe Plas , . Mit Blick auf die Debatte über das Umweltproblem konstatiert auch Plas den zwischen Rothacker und Plessner offensichtlich werdenden Gegensatz von zentrischer vs. exzentrischer Positionalität. – Joachim )ischer weist zwar ganz zu Recht darauf hin, dass Rothackers These der Umweltgebundenheit und Distanzfähigkeit des Menschen „in Auseinandersetzung mit Plessners Begriff der exzentrischen Distanz gearbeitet ist )ischer , , lässt aber darüber die – trotz aller Annäherung – bestehen bleibende Differenz zwischen beiden Denkern außer Acht. Rothacker, so betont )ischer, sei es in seinen späten Schriften um die )rage des Zurückfallens in „die anschauungssdistanzierte Umweltgebundenheit gegangen ebd. . In seinem anthropologischen Hauptwerk, der posthum veröffentlichten „Genealogie des menschlichen Bewußtseins , sei Rothacker dieser Intention nachgegangen. Wie )ischer diesbezüglich ausführt, konzentrierten sich Rothackers dortige Ausführungen auf ein durch sinnliche Anschauung entstandenes „vorwissenschaftliches Bewusstsein , das eine „vor-rationale Welt bzw. „Lebenswelt „kraft Anschauungsdistanz konstituiere vgl. )ischer , f . Dass es sich bei der Beschreibung dieser „Synthesisleistung um eine metaphysische Erklärung handelt, die maßgeblich durch Ludwig Klages’ Gedanken der Eingelassenheit in eine „Welt der Bilder und Goethes Theorie der „Urphänomene motiviert ist, wird in )ischers Darstellung allerdings nicht recht deutlich.
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ren, was ihn im Gegensatz zu Scheler vor einem Abgleiten ins Metaphysische schütze. Eingeübt am Muster geführter und insofern instinktentbundener Bewegungen entstehe das, was Gehlen „Hiatus oder die „Abtrennbarkeit der Handlung von den Antrieben Gehlen , nenne und dem Menschen seine schöpferischen Gestaltungskräfte ermögliche. Im Unterschied zum Tier stehe der Mensch damit nicht unter dem ausschließlichen Druck seiner unmittelbaren Bedürfnisse vgl. ebd., ff . Die menschliche Bewegungsstruktur, so resümierte Rothacker den Gehlen’schen Gedankengang, sei deshalb als „reflexiv zu bezeichnen Rothacker , . Auf die Darstellung der gesamten Vorlesung, in der Rothacker zur Präzisierung seiner Problemstellung u. a. auch auf Untersuchungen Buytendijks, Plessners und Hermann Weins zurückgriff, muss an dieser Stelle verzichtet werden. )estzuhalten bleibt hier, dass Rothacker sich die durch Plessner aufgezeigte Lösungsmöglichkeit einer Verschränkung von Umweltbindung und Distanzfähigkeit Plessner hatte diese Seite in Anlehnung an Scheler als „Weltoffenheit bezeichnet zu eigen machte z. B. ebd., ff . Rothackers Wendung gegen die Weltoffenheits-These fand ihren Ausdruck in der )rage, weshalb die Menschen trotz ihrer )ähigkeit zur Distanzierung an ihre Umwelten gebunden bleiben bzw. – wie er wiederholt schrieb – in diese „zurückfallen ebd., ff . Unter den Gründen, die Rothacker für dieses Zurückfallen anführt, ist der wichtigste das Phänomen des Handelns: „Das Handeln zwingt den Menschen ständig in eine besondere Umwelt hinein. Ebd., Unter systematischem Gesichtspunkt schlug Rothacker damit eine für ihn neue Richtung ein. Allein der Umstand, dass er die Analyse der Handlungssituation nun zum Hauptgrund seiner Verteidigung menschlicher Umweltgebundenheit erklärte, steht innerhalb des philosophisch-anthropologischen Denkens für jenen Übergang vom Ausdrucks- zum Handlungs-Paradigma. So sehr dieser zuerst von Gehlen beschrittene Weg bei Rothacker auch noch von zahlreichen Erklärungsmustern des reduktionistischen etwa auf Urbilder abhebenden Ausdruckverständnisses gesäumt war, seine 0euorientierung in Richtung einer soziologischen Handlungsanalyse ist kaum von der Hand zu weisen. Wie sie auch immer situativ bedingt sein mochte, die mit offensichtlich pragmatistischen Anleihen versehene „Modifikation eines Handlungsmilieus Rothacker , ff , die zum Vorgang der Handlung dazugehörte, war etwas anderes als die früher betonte Einnahme einer kulturell vorgeprägten Haltung; ebenso wenig ließen sich die gleichsam situativ festzustellenden Erfordernisse konkreter Handlungsvollzüge mit der historisch durchgeprägten Antwort eines kulturellen Lebensstils gleichsetzen, so wie Rothacker dies in früheren Schriften noch behauptet hatte. Auch wenn Gehlens soziologische Handlungslehre demgegenüber in vielerlei Hinsicht wegweisender war, Rothacker hatte wohl – nicht zuletzt unter Gehlens Einfluss – eine Ahnung davon bekommen, dass das Ausharren im Umfeld reduktionistischer Ausdruckstheorien trotz seiner fortwährenden Begeisterung für Klages wenig erfolgversprechend schien. Ein adäquates Zeugnis dessen ist das Verblassen seines ausdruckstheoretischen Reduktionismus.
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
III. Kritische Anthropologie Die Tendenz einer „Soziologisierung des Wissens , die sich im allmählichen Bedeutungsverlust des Ausdrucks- oder Verhaltens-Paradigmas zugunsten einer soziologisch informierten Analyse der Handlung kundgab, trat nicht nur bei Rothacker, sondern auch in Habermas’ Lexikonartikel deutlich zutage. Schon in Gehlens Buch „Der Mensch , das in einer grundlegenden 0eufassung erschienen war, hatte es – wie hier bereits anklang – ein dahingehendes u. a. Erkenntnisse des Pragmatismus verarbeitendes Umdenken gegeben. In diesem Buch, so führte Habermas in seinem Lexikonartikel aus, habe Gehlen „auf dem gegenwärtigen Stand der )orschung gezeigt, daß die Voraussetzung des Geistes als eines metaphysischen Prinzips unnötig sei, um die elementaren )ormen seiner Lebensführung zu begreifen Habermas , . Ausgehend von der auf organische Mängelbedingungen Instinktschwäche, mangelnde Organausstattung, dadurch bedingter konstitutiver Reizüberschuss etc. zurückgeführten These einer Sonderstellung des Menschen habe Gehlen eine )ülle anthropologischer )orschungsergebnisse verarbeitet. Maßgebend sei dabei der „Gesichtspunkt der Entlastung gewesen ebd., , von dem her Gehlen die selbsttätige Umformung der konstitutiven Mängellage des menschlichen Organismus bis hin zu den geistigen )ähigkeiten zu fassen versucht habe ebd., f . Gerade weil „Weltorientierung und Handlungsführung damit eins seien, wie Habermas schrieb, erschien ihm der anthropologische Ansatz Gehlens als konsequentes philosophisches Unternehmen. Zwar lehnte Habermas die aus den Überlegungen zum „konstitutionellen Antriebsüberschuß erwachsende These eines entsprechenden „Verarbeitungszwangs und die darauf aufbauende Bestimmung des Menschen als einem „Zuchtwesen ab, gleichzeitig jedoch hielt ihn das nicht davon ab, Gehlens „minutiöse[n] Analysen am ,Handlungskreis‘ ebd., zu loben. Ausgehend vom „Zusammenspiel von Hand, Auge, Tastsinn vollende sich der „sensomotorische[n] Aufbau der menschlichen Welt schließlich in der Sprache, die von Gehlen als eine spezifische Leistung des vom „Instinktdruck befreite[n] System[s] von Verhaltensweisen dargestellt werde ebd. . In seiner Zurückweisung der Gehlen’schen These vom „Zuchtwesen Mensch berief sich Habermas hingegen auf die zeitgenössische Kritik Theodor Litts. In seinem nach dem Krieg erschienenen Werk „Mensch und Welt Litt hatte Litt dem einstigen Leipziger Kollegen kritisch vorgehalten, dass dessen „anthropobiologische Reduktion des Geistes
ڹڲDie Bezeichnung „Soziologisierung des Wissens stammt von Karl-Siegbert Rehberg . ںڲZu den Umarbeitungen der . Auflage von im Einzelnen: Rehberg , ff. Gehlens Vorbehalte gegen die „ausdruckskundliche Anthropologie finden sich indes schon früher: vgl. z. B. Gehlen / , ff. „ ڱڳDen Bestimmungen Gehlens , so Habermas, „entsprechen auf phänomenologischer Basis, Zug um Zug Bestimmungen der Heideggerschen Daseinsanalytik Habermas , .
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keineswegs jenen „höchsten Schöpfungen des Geistes gerecht werde, weil diese den „Kreis der bloßen Reproduktion des Lebens gerade durchbrächen Litt, zit. n. Habermas , . Gehlens „Maßstab biologischer Zweckmäßigkeit , so wiederholte Habermas in direkter Berufung auf Litt, reiche nicht aus, um „den Sinn gesellschaftlichen Verhaltens ganz zu erschöpfen ebd., . So sei eine „blinde Reproduktion des Lebens, rein um ihrer selbst willen […] gleichgültig gegen Barbarei und Humanität, gegen die Bestimmung einer Existenz, die von der 0atur gleichsam auf der Risikoschwelle zwischen Wahrheit und Unwahrheit ausgesetzt worden ist ebd. . Wie Habermas jedoch weiter ausführte, habe Gehlen diese Unstimmigkeit, zumindest im Hinblick auf die Zielbestimmung menschlicher Handlungsformen, bemerkt und bei der Ausarbeitung seiner Kulturtheorie in „Urmensch und Spätkultur auch „teilweise korrigiert ebd. . Demnach habe er neben der „instrumentellen, das Leben verfügbar machenden Handlungsform eine zweite „mimetische Handlungsform analysiert: „das darstellende Verhalten ebd. . Gehlens dortigen Ausführungen zufolge, die eine entwicklungsgeschichtliche „Instinktreduktion beim Menschen voraussetzten, gewinne der Mensch im Laufe der Evolution ein „neues Verhältnis zur Welt. Demnach sorge die Streuung bestimmter Auslösereize über „die ganze Breite des weltoffenen Wahrnehmungsfeldes einerseits dafür, dass Raum für die Symbolisierung naturhafter Ereignisse geschaffen werde; andererseits verbänden sich mit den Auslösereizen nun nicht mehr zwangsläufig auch bestimmte „angeborene Bewegungsschemata ebd. . Stattdessen lösten diese „nur eine Erregung , einen „instinktresidualen Reaktionsdruck aus, der nun „in 0achahmung umgesetzt werde ebd. . 0achahmung oder „Mimesis Habermas spricht hier im Anschluss an Karl-Otto Apel und Oskar Becker auch von „technognomer Erkenntnis , die auf „physiognomische Kenntnis angewiesen bleibe stünden demnach für eine „frühe Einheit von Theorie und Praxis ebd., , die in anderem Zusammenhang allerdings auch schon von Horkheimer und Adorno am Beispiel einer naturvermittelten Erklärung von Sprache, Zeichen und Bild ins Auge gefasst worden sei. Während Horkheimer und Adorno im Rahmen ihrer dialektischen Betrachtung des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung gezeigt hätten, dass sich das „ursprünglich mimetische Moment im Laufe der Menschheitsgeschichte immer mehr abschwäche, bevor es im Blickfeld wissenschaftlicher Betrachtungsweise ganz verschwinde ebd. , habe Gehlen bei seiner Betrachtung dieses Problembereiches Habermas spricht von „Umgangserfahrungen des gesellschaftlichen Handelns zeigen wollen, dass die „,Darstellung’ des Ausdrucks und – in abgeleiteter )olge – die „darstellenden Riten und deren „bildliche Darstellung als menschheitsgeschichtlich durchlaufende
ڲڳLitts Kritik an Gehlens „Anthropobiologie befindet sich im Anhang seines Buchs: Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes: Litt , ff.
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)ormen des Verhaltens aufzufassen seien ebd., . „Urmensch und Spätkultur , so lautete der Titel von Gehlens erschienener Kulturtheorie, sind demnach auf ein und dasselbe gemeinschaftsstiftende Prinzip bezogen. Wie Habermas hier hinzufügte, seien diese, sowohl von Horkheimer und Adorno als auch von Gehlen aufgegriffenen, „mimetischen , „darstellenden bzw. „technognomen Verhaltensformen in ihrer Entwicklung an konkrete 0atur- bzw. Umweltbedingungen, d. h. an die Ausprägung umweltbedingter Weltbilder, gekoppelt, was sich „bei 0aturvölkern und Kindern noch in besonderer Weise beobachten lasse. Obgleich sich die mimetische Einheit von Theorie und Praxis im Laufe der Menschheitsgeschichte mehr und mehr aufgelöst habe, bleibe die „doppelte Wurzel von physiognomischer Darstellung und technognomischer Verfügung ebd., auch noch in späteren Stadien der Menschheitsentwicklung erhalten. Auch innerhalb der Theoriebildung gebe sich der historisch fortgeschrittene Zerfall jener ursprünglichen Einheit von Theorie und Praxis zu erkennen: so in der „Trennung von Ausdrucksgebärde und Handlung , die – wie Habermas anmerkte – nicht wechselseitig auseinander ableitbar seien ebd. . Bemerkenswert hieran ist, dass Habermas schon damals davon auszugehen schien, dass sich die Analyse der Handlung sowie die des Verhaltens wechselseitig ausschließen. Offenbar rührte diese Einschätzung nicht nur daher, dass sich beides innerhalb ein und desselben bis dato verfügbaren philosophischen Begriffssystems nicht auffinden ließ. Darüber hinaus scheint es auch so zu sein, als sehe Habermas schon zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Möglichkeit, die jeweiligen Grundbegrifflichkeiten miteinander zu „verheiraten , wie es dann in späteren Schriften heißen wird z. B. Habermas / , . Zu den Beweggründen für diese systematisch folgenreiche Weggabelung lassen sich im Text keine eindeutigen Hinweise finden. Allenfalls im Hinblick auf spätere Werk- bzw. Denkabschnitte lässt sich darüber spekulieren, warum Habermas jenen Weg über die Analyse der Handlung einschlug. Möglich ist, dass Habermas die ڳڳIm Hinblick auf das Ausdrucksverständnis bei Plessner ist hier anzumerken, dass es sich bei Gehlens „Darstellung des Ausdrucks um so etwas wie eine Vorform geführten Verhaltens handelt, das ohne die Annahme eines spezifisch ex-zentrischen Verhältnisses des Menschen zu seinem Leib gar nicht zu denken wäre. Geführtes Verhalten im Vermittlungsgang des Verhaltensbruchs – und dazu würden auch Gehlens geführte Bewegungen gehören – wäre demnach als Handeln zu verstehen – Handeln, das freilich noch auf einer Abstraktionsstufe begriffen wäre, auf der sich über die Qualität der Bestimmung von Handlungsgründen, -zielen o. ä. noch keinerlei Aussage machen ließe. ڴڳDass die )rage der Entstehung von Weltbildern im Habermas’schen Werk nach wie aktuell ist, zeigt sich in: Habermas . ڵڳHabermas’ einseitige Konzentration auf das Handeln in der Ausarbeitung seiner „Theorie des kommunikativen Handelns ist mehrfach kritisiert worden. Helmut )ahrenbach etwa geht im Rahmen seiner Überlegungen u. a. zur philosophischen Anthropologie nicht vom „Handeln , sondern vom „Sich-Verhalten als der strukturell grundlegenderen und umfassenderen Kategorie aus. Dabei warnt er vor einer „)undamentalisierung des Handelns , weil „Sich-Verhalten damit nur noch auf
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Option einer allgemeinen Verbindlichkeit in der Handlungs- und Verhaltensorientierung nicht anzugeben wusste, ohne hierfür einen geeigneten Begriff von Kommunikation zur Verfügung zu haben – eines Kommunikationsbegriffs, der soziologisch tragfähig wie zugleich normativ-gehaltvoll konzipiert gewesen wäre. Inwieweit sich Theorien des Ausdrucks dem auf dem Gebiet der soziologischen Betrachtung menschlichen Verhaltens vorherrschenden Problemstand genähert hatten, las Habermas am Werk Helmuth Plessners ab. Dieser hatte die menschlichen Ausdrucksbewegungen – im Unterschied zu den tierischen – dahingehend gedeutet, als sich in diesen mittels Sprache und sprach-ersetzender Gebärde ein gegenseitiges Verständlichmachen zeige. Wie Habermas dabei ausführte, habe Plessner in seinen Arbeiten über menschliche Ausdrucksgebärden, und nicht zuletzt in seiner Studie über „Lachen und Weinen als den menschlichen Ausdrucksformen der Krise , nachgewiesen Habermas , f , dass menschlicher Ausdruck „nicht als Residuum einer funktionslos gewordenen Handlung Darwin oder als „Gleichnis einer Handlung Klages ebd. zu begreifen sei. Demgegenüber habe sich Gehlen ausschließlich der Kategorie der Handlung zugewandt und im Zuge dessen der Analyse menschlicher Ausdrucksformen keinerlei Platz eingeräumt. Anders als Plessner, so Habermas, habe sich Gehlen damit allerdings der Möglichkeit der Entdeckung von Sinn im menschlichen Verhaltensspektrum zwischen Gebärde und Geste beraubt.
ein „Reflexionsmoment des Handelns )ahrenbach , f reduziert werde. )ahrenbach, der „Sich-Verhalten und „Handeln als jeweils subjektbezogene Vollzugsmodi sieht, „Praxis hingegen für intersubjektive Prozesse reserviert, präferiert somit einen „konstitutiven Zusammenhang bzw. eine „dialektische Verschränkung der drei genannten Kategorien, wobei er „Sich-verhalten als „nicht-behavioristisch qualifiziert ebd. . Schon in einer früheren Stellungnahme zu Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns hatte )ahrenbach – auf darin enthaltende „Verkürzungen des anthropologischen Bezugssystems hinweisend – eine stärkere Berücksichtigung der Kategorie des „Sich-verhaltens gefordert: vgl. )ahrenbach . ڶڳDies freilich wäre eine Erklärung, die einer auf retrospektive Geschlossenheit abstellenden Sicht auf Habermas’ Denkentwicklung in die Hände spielen würde. 0immt man hingegen – wie hier – eine auf Historisierung bedachte Untersuchungsperspektive ein, wäre Habermas’ damalige Problemsicht als prospektiv offen zu betrachten. In )olge dessen wäre dann die Ansicht, dass Handlungsund Verhaltensbegrifflichkeit nicht integrierbar seien, als Ausdruck der damaligen Problemwahrnehmung zu fassen. – Zum Begriff der „epistemischen Situation , der ein Verständnis des Gegensatzes von „retrospektiv geschlossener und „prospektiv offener Ideengeschichtsschreibung ermöglicht und damit eine entscheidende Voraussetzung nicht-teleologisch verfahrender Denkgeschichtsschreibung einholt: vgl. Danneberg . Ganz ähnliche Implikationen ergeben sich aus einer differenzierten Verwendung der Kategorie „Event , wie sie von Martin Jay in Anschluss an den französischen Historiker Claude Romano zum Zweck der Differenzierung des KontextBegriffs in der Intellectual-History vorgeschlagen wird: Vgl. Jay . ڷڳBei Gehlen heißt es, die Handlung bewege sich „ganz jenseits des gedachten Unterschieds eines Inneren gegenüber einem Äußeren und liege damit auch „jenseits der Kategorie ,Ausdruck’ Gehlen / , .
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Wie Habermas ausführte, hätten vor allem die Arbeiten Plessners und Hans Lipps’ erwiesen, dass „im menschlichen Ausdruck nicht einfach Inneres nach außen trete ebd., , dass sich der Mensch vielmehr „zu sich selbst verhalten müsse und dabei auch nicht vor der Möglichkeit geschützt sei, „sich selbst zu verfehlen ebd., . Darin habe sich gezeigt, dass der Mensch nicht einfach das sei, was er „von 0atur aus schon sei ebd., : Es gibt unter Menschen keine Bewegung, kein Verhalten, genau genommen nicht einmal einen Ausdruck, der ,natürlich’ ist. Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der Mensch nicht von 0atur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst macht. Die ,0atur’ des Menschen, das, was als menschlich gilt, ist nicht einfach ,gegeben’ wie die 0atur von Dingen oder Lebewesen. […] Das, was am Menschen den Menschen ausmacht, Humanität, hat diesen doppelten Charakter: dem Menschen selbst in die Hand gegeben, zugleich gegeben und aufgegeben zu sein. Ebd., f
So hob Habermas anschließend auch hervor, dass Humanität und damit die Selbstbestimmung des Menschen nur im beständigen Ausgleich mit seiner 0atur zu haben sei ebd., . Allerdings verweise der Aspekt der „Selbstbestimmung in der Lebensführung auch auf die „geschichtliche Lage und die „gesellschaftliche Verfassung , in der Menschen leben und die von Mensch zu Mensch verschieden seien ebd., . Diese Ansicht impliziere allerdings eine „Schwierigkeit , durch die der „Rahmen der Anthropologie gesprengt werde ebd. . Denn weder bei Gehlen noch im Rahmen der zuvor betrachteten Anthropologie des Ausdrucks wozu Habermas offenbar auch Plessner und Lipps rechnete sei der kulturell-historische Kontext in adäquater Weise berücksichtigt worden. )ragen der Reproduktion der Lebensumstände, so argumentierte Habermas mit Bezug auf Rothacker, könnten mithin nicht auf einem Allgemeinheitsniveau abgehandelt werden, auf dem vereinheitlichend von „dem Menschen oder von „der Sprache die Rede sei. Vielmehr verweise die Bestimmtheit des Menschen als geschichtliches Wesen auf die Pluralität seiner Umweltbindung. Als Urheber dieser Überlegung führte Habermas Erich Rothacker und desssen Theorie kultureller Lebensstile an, die er als eine kulturtheoretisch erweiterte Anthropologie begriff, die gegenüber Gehlens Ansatz einige Vorzüge besitze. Insbesondere in der Herausarbeitung des Begriffs „Lebensstil , in dem dieser „hochselektive und traditionsfeste Interessen, Gewohnheiten und Haltungen ebd., zu fassen versucht habe, sei ein solcher Vorzug zu sehen. Dabei sei in diesem Zusammenhang etwa zu berücksichtigen, dass Menschen, anstatt „in der Welt zu
ڸڳSelbiges hatte ganz ähnlich schon Karl Löwith in seinem Beitrag zur )estschrift für Helmuth Plessner formuliert: „Obgleich der Mensch die ganze Welt und sich selbst in )rage stellen kann, ist und bleibt er doch von 0atur aus ein Geschöpf dieser fraglos gegebenen, natürlichen Welt. Er ist ein verschwindender Organismus im Ganzen des Universums und zugleich ein Organ, für welches es Welt gibt. Er ist eine 0atur, aber er hat sie als Mensch, und seine Natur ist darum von Anfang an menschlich. Löwith , f.
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leben, durch ein „muttersprachlich vorformuliertes Weltbild ebd. vorgeprägt seien. Beides, interessebedingter Lebensstil Rothacker und muttersprachliches Weltbild Leo Weisgerber , so stellte Habermas fest, sprächen letztlich dafür, dass die menschliche Umwelt „zwar weitaus reicher ist als die Umwelten aller Tierarten zusammengenommen, aber doch auch in gewisser Weise geschlossen, eben nicht ,objektiv’, nicht offen für beliebig viele, grundsätzlich für alle möglichen )akten. An die Stelle der angeborenen Lebensweise tierischer Arten treten die geschichtlich erworbenen ,Lebensstile’ menschlicher Gesellschaften. Ebd. . Wie weiter oben bereits angedeutet wurde, schrieb Habermas die These einer Verschränkung von Umweltbindung und Weltoffenheit nicht ihrem Urheber Plessner, sondern seinem ehemaligen Doktorvater Rothacker zu. Damit hatte er zwar sachgemäß einen Autor gegen Gehlen gestellt, der das systematische Gewicht weit mehr als dieser auf die kulturellen Vorprägungen legte. Auch rückte damit der geschichtliche Wandel in der Betrachtung allgemein menschlichen Verhaltens in den Vordergrund. Darüber hinaus jedoch war Rothacker – nicht anders als Gehlen – ein ausgewiesener Verfechter der ,Zuchtbedürftigkeit‘ des Menschen. Dass Habermas in Rothacker einen geeigneten Gewährsmann für die von ihm anvisierte kritische Anthropologie fand, um erfolgreich gegen „Gehlens anthropologische Invariantenlehre zu )elde zu ziehen, erscheint deshalb auch als fragwürdige Alternative. „Rothackers Ansatz einer allgemeinen vergleichenden Menschheitswissenschaft , so lautete Habermas’ Opponierung, entgehe der „0aivität Gehlens, bestimmte historische Kategorien schlicht als anthropologisch ,notwendig’ zu unterstellen. Ebd., f. Historischer „Takt und die „Sensibilität der deutschen Historischen Schule sowie die empirische Betrachtung verschiedener Epochen und Kulturen, so Habermas mit Rothacker, stünden für die Option einer kritischen Anthropologie, die im Gegensatz zur „Invariantenlehre Gehlens, die „Zucht und Härte archaischer Institutionen, die Gewalt des erzwungenen Triebverzichts über den historischen Befund hinaus zum
ڹڳEin Abgleich zeigt die terminologische Übernahme-Kette: In Habermas’ Lexikonartikel von heißt es im Zuge der Darstellung Rothackers: „Die Menschen leben in einer eigentümlichen Verschränkung von Umweltbindung und Weltoffenheit. Das eine oder andere, für sich genommen, träfe nur für Tiere oder Engel zu: der Mensch aber steht zwischen beiden. […] Lebten die Menschen wie Tiere in erbfest montierten Umwelten, gäbe es keine Geschichte; lebten sie in ein und derselben Welt, Engeln gleich, gäbe es wiederum keine Geschichte. Habermas , In Rothackers Vorlesung von / heißt es ohne irgendeinen 0achweis: „Der Mensch ist ein Mittelwesen zwischen Tier und Gott, zwischen Tier und Engel, zwischen absoluter Helle und absolutem Dunkel. Rothacker , Im Bericht des Bremer Philosophenkongresses von wird Plessner – in seinem u. a. Rothackers einseitige Auslegung menschlicher Umweltgebundenheit aufgreifendenden Redebeitrag – wie folgt wiedergegeben: „Aber es geht nicht an, den Menschen entweder auf das 0iveau umweltgebundenen Lebens zu degradieren oder ihm unter Hinweis auf seine prinzipielle Weltoffenheit alle Umweltgebundenheit abzusprechen. Wenn das Tier umweltgebunden ist, so wäre nur der Engel weltoffen. Denn der Mensch ist das Wesen zwischen Tier und Engel. […] Er ist das Mittelwesen, das in einer solchen merkwürdigen Verschränkung steht. Plessner ,
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Rang des 0atürlichen und darum Wünschbaren ebd., erhebe, offen lasse. Weil „anthropologische Konstanten von historischen Variablen überhaupt nicht [zu] trennen ebd., seien, müsse sich auch jede )rage, die auf eine entsprechende Trennschärfe ziele, von vornherein als falsch gestellte erweisen: Denn was die Menschen aus sich und ihrer Gesellschaft machen können und was nicht; was sie in gegebener Lage gar, allen Traditionen zum Trotz, daraus machen müssen, um an deren Widersprüchen nicht zugrunde zu gehen – das ist eine theoretisch wie praktische )rage zugleich. Ebd.,
Doch was heißt das hier überhaupt: „theoretisch wie praktisch ? Bleibt man dem Problem des Handlungsbezugs auf der Spur, so kann sich das Wie bzw. Woraufhin des Handelns nur aus einer Art Inventur des bisherigen Geschichtsverlaufs ergeben, wobei bestimmte Optionen – etwa die Tradition menschlicher Zucht oder institutionelle Härte – als Maßstäbe dieser Handlungsorientierung ausscheiden. Vielmehr als dies ist hier im Hinblick auf die Machbarkeit gegenwärtiger Gesellschaft erst einmal nicht zu finden: Der Blick auf den Menschen setzt einen gewandelten Blick auf seine bisherige Geschichte voraus und impliziert eine Kritik, die ihre normativen Maßstäbe weder aus der Vergangenheit oder der Tradition entnehmen, noch diese in der gegenwärtigen Lage einfach als gegeben voraussetzen könnte. Was Habermas anno darüber hinausgehend unter dem Titel einer „kritischen Anthropologie anvisiert haben könnte, dafür finden sich im Text einige wenige Anhaltspunkte, die hier abschließend stichwortartig zusammenzutragen und zu diskutieren sind. An allen drei Stellen, an denen im Text die Möglichkeit einer
ںڳGehlens „Urmensch und Spätkultur hatte Habermas bereits Anfang unter dem Titel „Der Zerfall der Insititutionen Habermas , ff besprochen und dabei die beiden von Gehlen erkannten „Handlungswurzeln rational-praktisches und rituell-darstellendes Verhalten herausgestellt, ohne allerdings dieser folgenreichen Unterscheidung genauer nachzugehen. Gehlens „Ableitung der Institutionen bezeichnete Habermas unterdessen als „klug , „erfindungsreich und „präzise , wenngleich er das in diesen Zusammenhang gehörende Umschlagen institutionalisierter Handlungsvollzüge in „selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit im Unterschied zu diesem als gefährlich erachtete. Wo der Mensch nach Gehlen lerne, „von der Institution her zu handeln , da verlagerten sich die „Antriebsmomente in den Gegenstand und besetzen die Institution mit normativen Gehalten ebd, . Wie Habermas daran anschließend ausführte, sei die Wirkung dieser Verlagerung „eine doppelte : Einerseits mache das „Herausschieben des ursprünglichen Zwecks das Handeln zu einer „eigenwertgesättigten Gewohnheit , andererseits aber – und davor warnte Habermas – verliere „das Verhalten, das sich nach unbefragten Verpflichtungen orientiert, an Rationalität und, wenn man so will, an ,)reiheit’ ebd. . Was Gehlen als „Verselbständigung von Handlungsvollzügen beschreibe, sei „prinzipiell nichts anderes als der junge Marx mit der ,Entfremdung der menschlichen Wesenskräfte’, die zur sachlichen Gewalt über uns gerinnen ebd. . Derselbe „Gesichtspunkt sei bei Marx und Gehlen jedoch unterschiedlich gefasst: bei Marx als Entfremdung, bei Gehlen als potentiell systemstabilisierend. Zur werkgeschichtlich übergreifenden Relevanz Gehlen’scher Denkmotive für Habermas: Wöhrle , ff.
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kritischen Anthropologie berührt wird, ist von einer kategorialen Erweiterung des Denkansatzes Philosophische Anthropologie die Rede. Dabei handelt es sich jeweils entweder um die kategoriale Erweiterung Philosophischer Anthropologie um eine geschichtliche Dimension mit Bezug auf Rothacker , oder aber – vor dem Hintergrund einer 0atur und Geschichte bereits einfassenden Kategorienbildung – um eine Erweiterung in Richtung Theorie der Gesellschaft mit Bezug auf Herbert Marcuse , in der die Einbeziehung von Sinn ein maßgebliches Erfordernis darstellt. Wenn Habermas im Argumentationsgang des Artikels also herausstellt, dass sich Philosophische Anthropologie nicht mehr im Sinne einer begründenden Disziplin mit entsprechendem )undamentalanspruch, sondern vielmehr nur noch als verarbeitende Disziplin betreiben lasse Habermas , , so drückt sich darin keineswegs die Intention einer Suspendierung dieses Denkansatzes aus, sondern vielmehr das als programmatisch zu bezeichnende Anliegen einer Erweiterung, in der über die kategorialen Aspekte hinaus auch Ergebnisse der empirischen Wissenschaft Aufnahme finden sollen. Die Aussagen einer in dieser Weise erweiterten Anthropologie – so heißt es im Text – seien deshalb jedoch nicht neutral, denn „indem sie [die Aussagen kritischer Anthropologie, R. Y.] zeigen, was ist, zeigen sie unvermeidlich auch etwas von dem was sein kann. Sie sind keine Parolen, aber sie haben einen praktischen Sinn. Ebd., . Worauf eine kritische Anthropologie im Umgang mit den Einzelwissenschaften deshalb sehr wohl zu achten habe, ist, dass ihr dieses praktische Sinn-Verständnis nicht abhanden komme: Philosophische Anthropologie muß, was die einzelnen Wissenschaften gegenständlich vom Menschen wissen, was die 0atur aus dem Menschen macht , sinnverstehend deuten nämlich daraufhin, was der Mensch aus sich selber macht . Allein, auch diejenigen, die Anthropologie treiben, sind Menschen und selber darauf angewiesen, sich in ihrem Menschsein zu verstehen. […] Die Kategorien, unter denen sie die ,Menschenkenntnis‘ der Wissenschaften verarbeiten, sind gleichzeitig Kategorien, unter denen sie auch die Gesellschaft, auch die geschichtliche Lage verstehen, der die Betrachter selber angehören. Eine kritische Anthropologie unterschlägt das nicht. Ebd.,
Zieht man die übrigen Textstellen zur Charakterisierung kritischer Anthropologie hinzu, so wird deutlich, dass es Habermas hierbei um die Möglichkeit einer Theorie sozialen Handelns geht. Infolgedessen konnte es jedoch keineswegs als legitim erscheinen, sich entweder allein an 0atur oder aber ausschließlich an fixen Weltan-
ڱڴDies wird einmal positiv: „kritisch Habermas , , zweimal negativ: „unkritisch ebd., bzw. ausgedrückt. Es ist demnach keineswegs zutreffend, dass Habermas sich gegen die Philosophische Anthropologie stellt, etwa im Sinne einer schulpolitischen Opposition vom Standpunkt der Kritischen Theorie aus. Vielmehr ist von einer integrativen Problemperspektive auszugehen, die den Handlungshorizont auf dem Weg eines Mensch und Geschichte einbeziehenden Denkansatzes in den Griff zu bekommen versucht. Von einer „)orschungsstrategie der Komplementarität im Hinblick auf den Lexikonartikel spricht deshalb: Krüger , ; sowie hier in diesem Band, .
Jürgen Habermas’ Lexikonartikel über „Anthropologie“ in seinem Kontext
schauungen zu orientieren. Vielmehr galt es, derartige Einseitigkeiten zu vermeiden: Wenn Anthropologie trotzdem daran festhält, gewissermaßen ontologisch zu verfahren, nämlich nur das Immergleiche, das Zugrundeliegende an Mensch und Menschenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt am Ende zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt. Ebd., f
Diese Warnung vor der Schein-0eutralität der Wissenschaft zielte in erster Linie auf Gehlen. Dessen Kulturtheorie, so schrieb Habermas, erwecke vor dem Hintergrund einer Verallgemeinerung historisch früher )ormen gemeinschaftlichen Zusammenhalts den Anschein, dass „der Mensch auf Repression angewiesen sei und sich darauf die „0otwendigkeit einer autoritär verfaßten Gesellschaft zu gründen habe ebd., . Kritisch, so lautete Habermas’ entsprechende Gegenkritik, werde die Philosophische Anthropologie hingegen „nur in dem Maße […], wie sie sich im Wechselgespräch mit einer Theorie der Gesellschaft ebd., begreife. Dass Habermas sich für ein solches Vorhaben einer „Verbindung von Anthropologie und Theorie der Gesellschaft ebd., jedoch gerade auf Rothackers nicht minder autoritäre – etwa preußischen Gehorsam glorifizierende – Theorie kultureller Lebens ڲڴWie schon anhand der )ormulierungen erkennbar, bezog sich diese Kritik nicht allein auf Gehlen, sondern traf unausgesprochen auch auf eine ganze Reihe weiterer )iguren im anthropologischen Diskurs der er Jahre zu, welche ihr autoritäres Weltbild – allerdings im Unterschied zu Gehlen – auf die Annahme einer rassisch bedingten Ungleichheit stützten und im damaligen )orschungsbetrieb noch immer zuhauf anzutreffen waren. Um dies zu belegen, genügt schon ein Blick auf eines der Parallel-Projekte innerhalb der )ischer-Taschenbuch-Reihe. So stand etwa im Vorwort des erschienenen Lexikons „Anthropologie zu lesen, dass der Inhalt des Bandes „richtige Vorstellungen über ein Wissensgebiet verbreiten helfen könne, „über das vielfach keine adäquaten Vorstellungen bestünden, „da es gerade in Deutschland seit Kriegsende unter den )olgen der nationalsozialistischen Politik zu leiden hatte . „Unsere Disziplin gemeint war die Anthropobiologie , so die Herausgeber, sei „durch politische Maßnahmen diskreditiert und einem „unwissenschaftlichen Rassismus preisgegeben worden. Schaut man sich jedoch genauer an, wer sich hier über vermeintlich erlittene Zumutungen unter dem 0S-Regime beklagte, so müssen diese Aussagen geradezu als zynisch erscheinen. Schließlich gehörte das Herausgeber-Gespann um Gerhard Heberer, Gottfried Kurth und Ilse Schwidetzky-Roesing früher: Ilse Schwidetzky zu eben jener wissenschaftlichen Elite, die die nationalsozialistische Rassepolitik nicht nur ausdrücklich begrüßt, sondern dieser sogar – mit Hilfe ihrer )orschungsergebnisse – zu höheren Weihen verholfen hatte. Dass die zum erlesenen Kreis führender Rassekundler zählenden Herausgeber auch weiterhin dieselben )orschungsergebnisse anpriesen, die ihnen schon während der 0S-Zeit dienlich waren, ist daher auch gar nicht verwunderlich, beruhte deren Entlastungsstrategie doch auf dem zum Teil bis heute nachwirkenden 0arrativ einer ,missbrauchten Wissenschaft’. Ohne Umschweife ließ sich deshalb im Taschenlexikon „Anthropologie konzedieren, dass die Klassiker wissenschaftlicher Rassekunde von Gobineau über Galton bis hin zum berüchtigten 0S-Standard-Werk: dem „Baur-)ischer-Lenz „auf dem rechten Weg waren Heberer/Kurth/Schwidetzky-Roesing, . Zu den genannten Personalien: vgl. Klee .
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stile bezog, mag – wie bereits deutlich wurde – aus heutiger wie auch aus damaliger Sicht als ein )ehlgriff erscheinen. Im Gegensatz zu seiner Reverenz gegenüber Rothacker erscheint Habermas’ 0ennung Herbert Marcuses, dessen Psychoanalyse und Soziologie verbindendes Modell kritischer Gesellschaftstheorie damals noch wenig Beachtung fand, als geradezu randständig.
IV. Fazit Ordnet man den Lexikonartikel seinem damaligen Kontext zu und fragt – ungeachtet aller Bemühungen um Klassifikation und Zuordnung nach Schulen, Denkrichtungen etc. – nach dem systematischen Ertrag, so sticht in erster Linie der darin artikulierte Anspruch einer Verbindung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie ins Auge. Stellt man diesen Verbindungsversuch in den Mittelpunkt einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion, dann lässt sich allerdings nicht mehr ohne weiteres behaupten, Habermas habe im Lexikonartikel die Entgegensetzung zweier Denktraditionen demonstrieren oder vorantreiben wollen. Allerdings kann dann genausowenig behauptet werden, dass er sich mit seiner In-Aussicht-Stellung einer kritischen Anthropologie in die Schultradition der Kritischen Theorie gestellt habe, obgleich sich im Text natürlich auch positive Bezugnahmen auf Adorno und Marcuse finden lassen. Gegen die verbreitete Deutung einer einseitigen )ortsetzung der )rankfurter Schultradition sprechen zudem bereits die dargestellten Bezüge auf Rothacker. )ür eine Rekonstruktion des Anthropologie-Artikels erscheint es deswegen angebrachter, zunächst jene Problemstellungen in den Blick zu nehmen, die sich im Umfeld der zentralen Begrifflichkeiten von Mensch und Geschichte ergeben: Begreift man die im Lexikonartikel zutage tretende Problemstellung einer kritischen Anthropologie im Sinne eines „komplementären )orschungsprogramms Krüger
ڳڴDabei lag die von Habermas angemahnte geschichtsphilosophische Entfaltung der Philosophischen Anthropologie bereits im Schrifttum Plessners vor, dessen politische Schriften – ganz im Gegensatz zu denjenigen Gehlens oder Rothackers – ein liberal-bürgerliches Ethos zum Ausdruck brachten. ڴڴObgleich ein intellektueller Einfluss Rothackers auf Habermas im Zuge der obigen Rekonstruktion deutlich wurde, soll daraus keineswegs einfach eine dahingehende Anhänger- oder Schülerschaft behauptet werden. Eine kritische Anthropologie in der von Habermas skizzierten Weise lag nicht nur fernab der Interessen von Adorno und Horkheimer, auch Rothacker dürfte damit wenig im Sinn gehabt haben. Symptomatisch für Habermas’ insgesamt besehen ambivalenten Lernprozess ist die Ab- oder Loslösung aus einstigen intellektuellen Abhängigkeiten. Zu diesem für die Angehörigen der so genannten er Generation typischen Verarbeitungsmuster: vgl. Moses , v. a. ff.
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, dann zeigt sich, dass Habermas hier nicht einfach unterschiedliche Denkrichtungen gegeneinander ausspielte. Obgleich eine durch schulpolitische Raster vorgeformte Deutungsperspektive damit obsolet erscheint, so ist dieser gegenüber doch auch einzuräumen, dass sich der auf diese Weise anvisierte Ideengehalt im Zuge einer problemorientierten Rekonstruktion gar nicht in Gänze ignorieren lässt. Oder anders ausgedrückt: Die )rage nach intellektueller Abhängigkeit oder Schulzugehörigkeit erweist sich nur dann als gewinnbringend, wenn sie zum Problemgehalt des zu betrachtenden Denkens ins Verhältnis gesetzt wird. Die )rage von 0ähe und Distanz zu intellektuellen Wegbereitern hat sich demnach also der )rage nach dem Wozu? denkender Bemühung einzugliedern. )ür die Bewertung intellektueller Bezugnahmen und Anleihen stellt sich deshalb die Aufgabe, das )ortschreiben einer bestimmten Schul-, oder Denktradition innerhalb des entsprechenden Problemkontextes zu beobachten. Lässt sich demzufolge ein )ortschritt in der Bearbeitung eines Problems erkennen, so deutet dies zumindest dort, wo Schulzugehörigkeit nicht mit Epigonentum gleichzusetzen ist auf einen selektiven Zugriff im Dienste der Problemlösung. Wie wenig Aussagekraft intellektuelle Bezugnahmen für die )ortschreibung bestimmter Denktraditionen haben, zeigt sich mithin erst innerhalb eines bestimmten Problemkontextes, in dem zur Bearbeitung desselben auch andere konkurrierende Denkansätze ins Blickfeld rücken, die sich dem hermeneutischen Verdacht schulpolitischer Vorprägung nicht reibungslos eingliedern lassen. Unabhängig davon, wie viel oder wenig von diesem Problemgehalt auch in späteren Phasen des Habermas’schen Denkweges Bestand haben mag – sein damaliges Programm einer geschichtsphilosophischen Erweiterung Philosophischer Anthropologie zielte auf zweierlei: zum einen auf die gattungsgeschichtliche Einheit des Menschen, zum anderen auf eine auf eben dieser Grundlage erwachsende Handlungsfähigkeit in der Gegenwart. Eine Theorie der Gesellschaft, in der beide Anliegen systematisch hätten miteinander verkoppelt werden können, zeichnete sich Ende
ڵڴWenn es richtig ist, dass das Anliegen einer „kritischen Anthropologie in der hier beschriebenen Weise aufgefasst werden kann, dann würde dadurch zugleich eine „epistemische Situation kenntlich, deren „prospektive Offenheit man im Zuge des ideenhistorischen Spurenlesens erst einmal zu registrieren hat. Dass sich vom heutigen Standpunkt aus gesehen durchaus sagen lässt, Habermas habe infolgedessen mehrfach den Kurs gewechselt, bedeutet in der konkreten Betrachtung des in )rage stehenden Textes mitnichten, dass diese Kurswechsel so oder so angelegt gewesen seien. Der Anschein „retrospektiver Geschlossenheit , der sich im Rückblick auf historische Texte nur allzu oft einschleicht, ist im Rahmen ideen- und problemgeschichtlicher Untersuchungen selbst problematisierungsbedürftig. Zu den verwendeten Begriffen: vgl. Danneberg und Jay .
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der er Jahre bei Habermas aber bestenfalls erst in der differenzierenden Betrachtung bestimmter Problemfelder ab.
ڶڴ0och im späteren Vorwort von „Erkenntnis und Interesse bemerkt Habermas hierüber „[I]ch könnte nur um den Preis eines Dilletantismus auf eine Gesellschaftstheorie vorgreifen, zu der ich Zugang durch eine Selbstreflexion der Wissenschaft erst gewinnen möchte. Mehr als den „Stellenwert eines Prolegomenon[s] könne die dortige Untersuchung deshalb nicht beanspruchen Habermas a, .
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Probleme des ethischen Pluralismus. Zu Gehlens Entwurf einer anthropologischen Ethik1 In seinem Buch „Moral und Hypermoral hat Arnold Gehlen mit anthropologischen Mitteln das Programm einer pluralistischen Ethik zu entwickeln versucht Gehlen ; dabei versteht er unter „Pluralismus die Idee, dass es eine Reihe von distinkten, voneinander unabhängigen Quellen und Imperativen der Moral gibt, die allesamt in unserem Handeln gleichermaßen Berücksichtigung finden müssen, wenn die menschliche Lebenswelt nicht in eine bestandsgefährdende Schieflage geraten soll. Der eigentliche Impuls dieser pluralistischen Ethik ist daher der einer Polemik, deren Ziel es ist, eine solche angeblich im Entstehen begriffene Pathologie in unserer Gegenwart zu korrigieren: An der Schwelle zur heutigen „Welt-Industrie-Kultur ist der Pluralismus unserer ethischen Orientierungen und damit die Integrität unserer sozialen Lebenswelt bedroht, so ist Gehlen überzeugt, weil ein eudaimonistischer Humanitarismus alle anderen Moralimperative, vor allem diejenigen der Erhaltung des Staates, in den normativen Hintergrund hat treten lassen. Die anthropologische Hervorkehrung eines unaufhebbaren Pluralismus unserer Moral dient also auch hier zunächst – wie heute etwa bei Michael Walzer oder Alasdair MacIntyre, die allerdings beide keinerlei Ansprüche hinsichtlich irgendwelcher phylogenetischer Wurzeln unserer ethischen Überzeugungen verfolgen Walzer ; MacIntyre – der Kritik einer verhängnisvollen Einseitigkeit: 0ach Gehlen hat ein optimistischer Universalismus, der sich an der moralischen Idee der Steigerung des Lebensglücks aller menschlichen Personen orientiert, die ungleich „härteren ethischen Verpflichtungen verdrängt, die wir dem Erhalt unserer staatlich verfassten Institutionen entgegenbringen müssen. Ich will mich im )olgenden nicht mit diesem polemischen Kern der anthropologischen Ethik von Gehlen beschäftigen; obwohl seine kritischen Bemerkungen heute angesichts einer Inflationierung der Menschenrechtsrhetorik wieder eine gewisse Aktualität besitzen dürften siehe Honneth , begreife ich als die bleibende Herausforderung seiner Schrift nicht die Zeitkritik, sondern das Beharren auf einem
Diesen Beitrag habe ich vor acht Jahren für eine Sondernummer der italienischen Zeitschrift „Iris“ European Journal of Philosophy and Public Debate, I, . April , – geschrieben, die sich mit der Hinterlassenschaft der deutschen Tradition der Philosophischen Anthropologie beschäftigen sollte. Inzwischen hat sich meine eigene Position mit Bezug auf die hier aufgeworfenen )ragen einer pluralistischen Ethik natürlich erheblich gewandelt, aber in den Grundlinien bin ich dem damals skizzierten Ansatz treu geblieben. Vgl. zur Andeutung der inzwischen vor allem im Rückgriff auf Hegels praktische Philosophie vorgenommenen Änderungen u.a. : Honneth .
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unaufhebbaren Pluralismus unserer ethischen Verpflichtungen. 0icht die maßlose, schwer zu ertragende Intellektuellenschelte ist es, was sein Buch heute lesenswert macht, sondern der anthropologische 0achweis einer Mehrzahl nicht nur der Quellen, sondern auch der Geltungsansprüche moralischer Imperative. Die Herausforderung dieser pluralistischen Ethik will ich prüfen, indem ich zu erkunden versuche, was von ihr nach den kritischen Einwänden von Jürgen Habermas Habermas noch Bestand haben kann. Zu diesem Zweck will ich zunächst in gebotener Kürze die Grundannahmen der pluralistischen Ethik von Gehlen vorstellen I , im zweiten Schritt dann die zentralen, im Kern wohl sehr überzeugenden Einwände von Habermas resümieren II , um schließlich gegen dessen monistische Diskursethik noch einmal Gehlens Pluralismus ins Spiel zu bringen III .
I. Ich gehe im )olgenden davon aus, dass die Moral jene recht ungewöhnliche, gleichwohl historisch wirksame Errungenschaft menschlicher Wesen darstellt, durch die sie die Integrität ihrer sozialen Lebenswelt auf dem Weg eines wechselseitigen Schutzes vor physischen und psychischen Verletzungen zu erhalten versuchen; zu solchen Schutzvorkehrungen gehören natürlich auch moralische 0ormen, die sicherzustellen haben, dass die gemeinsame Lebenswelt in ihrer materiellen und symbolischen Reproduktionsfähigkeit erhalten bleibt. Moral stellt daher, um es abkürzend zu sagen, den Inbegriff all derjenigen moralischen Regeln dar, durch die instinktunsichere, aber sprach- und vernunftbegabte Wesen wechselseitig ihre Kooperationsbereitschaft zum Ausdruck bringen; sie umfasst in )orm von Sollsätzen oder, psychologisch gesprochen, von Gewissensimperativen sowohl Verbote als auch Gebote, also insgesamt Verpflichtungen zur Unterlassung oder zum Vollzug bestimmter Handlungen. Gehlen ist in seinem eigenen Ansatz zu einer Ethik von einer solchen Begriffsbestimmung nicht allzu weit entfernt; bei ihm heißt es in seinem Aufsatz über den „Pluralismus in der Ethik , dass die ihn beschäftigenden „Sozial-Regulationen […] jene mit einer erlebbaren Sollqualität auftretenden Einstellungen und Hemmungen bilden, die „zweifellos in großen Linien den gesellschaftlichen Zusammenhang regeln Gehlen , . Die These, die er auf der Basis dieser Begriffsbestimmung nun zu begründen versucht, besagt, dass es in der menschlichen Lebenswelt eine Mehrzahl solcher moralischer Verhaltensimperative gibt, die überdies häufig nur schwer miteinander kompatibel sind; insofern können aus der einen Einrichtung der Moral, so heißt es, „Konflikte und sogar echte Antinormen stammen, „die folglich auch in derselben Seele ebd. auftreten können. Den Beweisgang für diese provokante These, in der ja nicht, wie etwa bei Isaiah Berlin, ein unversöhnlicher Pluralismus menschlicher Werte vgl. Berlin , sondern ein konfliktträchtiger Pluralismus moralischer 0ormen behauptet wird, tritt
Probleme des ethischen Pluralismus
Gehlen nun im mittleren Teil seines Buches „Moral und Hypermoral Gehlen , Kap. – an; hier wird der 0achweis geführt, dass es sowohl ihrer stammesgeschichtlichen Wurzeln nach als auch in Hinblick auf ihre bleibende Sollgeltung vier moralische Verhaltensimperative gibt, die sich in der menschlichen Lebenswelt gegenüberstehen. Leider ist auch dieser Teil des Buches, der relativ frei von Polemik gehalten ist, nicht so klar und eindeutig, wie es zu erhoffen wäre; undurchschaubar bleibt nicht nur, in welchem Verhältnis die verschiedenen 0ormensysteme zueinander stehen, ob sie also gegebenenfalls integrierbar oder hierarchisierbar sind, unklar ist vielmehr auch, ob und wie sie tatsächlich die Schwelle von bloßen stammesgeschichtlichen Anlagen nicht nur zur dauerhaften psychischen, sondern auch zur rationalen Sollgeltung genommen haben, kurz, das Verhältnis von Genesis und Geltung – ein Problem, über dessen Gewicht Gehlen aufgrund seiner frühen Beschäftigung mit Kant, )ichte und Hegel eigentlich besser hätte informiert sein müssen vgl. v. a. Gehlen . Gehlen lässt diese gewichtigen )ragen in seiner gesamten Argumentation unbeantwortet, indem er die verschiedenen noch nicht wirklich moralischen, sondern bloß biologisch-sozialen Verhaltensimperative einfach nebeneinander aufzählt; dabei unterscheidet er deren Charakter freilich danach, wie sie jeweils in der menschlichen 0atur oder unserer Lebenswelt verankert sind, ob als Instinktreste, soziale Dispositionen oder nur als physische Überlebenszwänge. Insgesamt glaubt Gehlen, vier solche genetisch jeweils unterschiedlich verwurzelten Verhaltensimperative beim Menschen voneinander abheben zu können: a ein als soziale Disposition beim Menschen angelegtes Ethos der Gegenseitigkeit, das uns zur Reziprozität im Verhalten verpflichtet; b eine Reihe von instinktnahen, quasi-automatisch wirkendenden Verhaltensregulationen, die von der elterlichen )ürsorgereaktion über das Mitleid bis zur Orientierung am Lebensglück reichen Gehlen , Kap. – Gehlen hält dafür auch den unglücklich gewählten Begriff der „physiologischen Tugenden bereit; c das zunächst an die )amilie gebundene Sippenethos, welches sich über gedankliche Abstraktionen bis hin zum „Humanitarismus eines moralischen Universalismus des Schutzes aller Menschen erweitern und steigern kann ebd., Kap. ; d und schließlich das Ethos der Institutionen, welches als Überlebensimperativ für eine moralische Verpflichtung zum Erhalt des eigenen Gemeinwesens sorgt ebd., Kap. und .
Bei Gehlen heißt das: „vom Gespräch zum Tausch , vgl. Gehlen , . Die ersten beiden der vier von Gehlen genannten moralischen Dispositionen finden sich in ähnlicher Weise auch in der phylogenetischen Rekonstruktion der menschlichen Moral, die Michael Tomasello in seinem Buch „A 0atural History of Human Morality“ entwickelt: Die „morality of
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Auf der Basis dieser Typologie von vier unterschiedlichen, jedoch gleichermaßen geltenden Verhaltensimperativen vertritt Gehlen nun die entwicklungsgeschichtliche These, dass sich aufgrund von gedanklichen Erweiterungen und riskanten Abstraktionen der ursprüngliche Antrieb zum Hedonismus mit einem Universalismus zu einem „eudaimonistischen Humanitarismus verschmolzen hat, der die anderen 0ormensysteme bis hin zur Vernachlässigung aller anderen Pflichten im Laufe der Zeit konkurrenzlos verdrängt hat. )reilich bleibt bei der damit umrissenen Perspektive vollkommen offen, was aus den jeweils anderen Verhaltensimperativen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung geworden sein soll; nicht nur lässt Gehlen bei der Darlegung seiner entwicklungsgeschichtlichen These die soziale Disposition zur Gegenseitigkeit „links liegen, unklar bleibt auch, was im Zuge der Verselbstständigung des hedonistischen Humanitarismus aus den Impulsen zur )ürsorge und zum Mitleid geworden ist. Gehlen vereinseitigt sein Bild der aktuellen Lage der Moral so stark, dass am Ende vom ursprünglichen Pluralismus nur zwei einzige 0ormensysteme übrig geblieben zu sein scheinen: Der aufgeblähte Universalismus eines Wohlergehens für alle steht, so lautet die Schlüsselthese des Buches, heute übermächtig den vernachlässigten Pflichten zur Staatsraison gegenüber. Aufgrund dieser Ungereimtheiten der entwicklungsgeschichtlichen Skizze, in der der fruchtbare Ansatz bei einem moralischen Pluralismus den polemischen Absichten der Zeitdiagnose geopfert wird, hat Habermas in seiner Replik dann leichtes Spiel gehabt: Er konnte, gerade weil Gehlen seinen eigenen anthropologischen Ansatz in der historischen Durchführung verrät, dem Buch im Ganzen vorwerfen, dass es die eigentümliche Entwicklung des moralischen Bewusstseins grundsätzlich verkennt. Ich will zunächst diese Einwände von Habermas kurz referieren, bevor ich dann die )rage wieder aufnehme, ob nicht der ursprünglich pluralistische Ansatz Gehlens stärker ist, als es die entwicklungsgeschichtliche These zum Ausdruck bringt.
II. Habermas konnte, so habe ich gesagt, mit der anthropologischen Ethik Gehlens leichtes Spiel haben, weil dieser seinen pluralistischen Ansatz in der entwicklungshistorischen Durchführung einem polemischen Impuls geopfert hat: Von den vier moralischen 0ötigungen der menschlichen 0atur, die Gehlen anfänglich behauptet hatte, bleibt am Ende wenig mehr übrig als eine abstrakte, unverbindliche Verpflichtung zum universellen Hedonismus und eine vergessene, daher wieder in sympathy , in etwa dem vergleichbar, was Gehlen als „physiologische Tugenden beschreibt, führt er dort auf die „parental care of offspring zurück Tomasello , ff, ff , die „self-other equivalence , grob Gehlens „Ethos der Gegenseitigkeit entsprechend, hingegen auf die Kooperationszwänge der frühesten Gruppierungen von Menschen ebd., ff .
Probleme des ethischen Pluralismus
Erinnerung zu rufende Verpflichtung zum Staatserhalt. Gegen diesen Befund macht Habermas eine Reihe von Einwänden geltend, die zusammengenommen den monistischen Ansatz seiner Diskursethik rechtfertigen. Zunächst rückt er eine wenig plausible Entgegensetzung zurecht, die Gehlen durch die Anlage seiner typologischen Unterscheidung von vier Verhaltensimperativen nahegelegt hatte: Das Sippenethos, also die Verpflichtung zur Solidarität gegenüber allen Mitgliedern der eigenen )amilie, Kleingruppe oder Stammesorganisation, steht nicht als eine distinkte Kategorie der Staatsethik gegenüber, sondern hat selber eine moralische Außenseite, die das Verhältnis zu den )remdgruppen normativ regelt. Jede Binnenmoral besitzt als ihr Gegenstück eine mit ihr intern verknüpfte Außenmoral, so dass die Verpflichtungen gegenüber den Gruppenmitgliedern nicht einfach als eine gesonderte Klasse den Typen von Verhaltensimperativen gegenübergesetzt werden dürfen, die das Verhältnis zu den jeweiligen 0ichtangehörigen betreffen Habermas , . Aus diesem Einwand, der mir überzeugend scheint, ergibt sich für Habermas ein weiteres, entwicklungsgeschichtliches Argument, mit dem er bereits einen wesentlichen Schritt in Richtung seines eigenen Ansatzes vollzieht: Wenn jede ethnozentrische Gruppensolidarität, also das, was bei Gehlen „Sippenethos heißt, die normative Kehrseite einer Moral der Außenbeziehung kennt, dann stellen das Sippenethos selber und die Staatsethik nur die zwei entgegengesetzten Seiten von zwei unterschiedlichen Stufen der Entwicklung des moralischen Bewusstseins dar. Das Sippenethos bildet nach Habermas nur die Innenseite einer frühen Kleingruppenmoral, die stets auch eine moralische Dimension der Verhältnisbestimmung zum )remden beinhaltete, während die Staatsethik auf einer höheren Stufe nur die Außenseite einer abstrakteren, politisch organisierten Großgruppenmoral repräsentiert, welche nach innen ebenfalls über entsprechend weitmaschige Solidaritätspflichten verfügte: „Die beiden konkurrierenden Wertsysteme , so heißt es bei Habermas, „bezeichnen welthistorische Stufen des moralischen Bewußtseins, die [...] beide durch eine Differenz des pazifistischen Innen- und des politischen Außenaspektes bestimmt sind. Ebd., . Mit diesem entwicklungsgeschichtlichen Argument, das mir wiederum stichhaltig scheint, hat Habermas schon eine erste Handhabe bereit, um die pluralistische Typologie von Gehlen im Ganzen von der Synchronie in die Diachronie, von der Gleichursprünglichkeit in die geschichtliche Abfolge zu verschieben: Die unterschiedlichen 0ormensysteme, die Gehlen als uns anthropologisch mitgegebene Klassen von moralischen Verpflichtungen begreift, sollen nicht Zwänge einer ursprünglichen 0ötigung durch unsere 0atur sein, sondern Schritte in der Entwicklung unseres sich allmählich dezentrierenden moralischen Bewusstseins. Habermas bedient sich an dieser entscheidenden Stelle in geschickter Weise eines der von Gehlen unterschiedenen, natürlich angelegten Verhaltensimperative, um ihn zum reflexiven Schrittmacher einer solchen moralgeschichtlichen Dezentrierung zu machen; er konzediert Gehlen nämlich nur eine einzige seiner vier ursprünglichen Verpflichtungskategorien, also allein eine moralische Anlage des Menschen, die des
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Ethos der Gegenseitigkeit, um diese dann aber mit Hilfe einer Angleichung an die Reziprozitätsbedingungen der sprachlichen Rede zum Motor einer schrittweisen Erweiterung der anfänglich gegebenen Kleingruppenmoral zu machen. Das Resultat dieser, so muss man sagen, äußerst geschickten Operation ist, dass von den anthropologischen Moralkonstanten Gehlens am Ende nur die menschliche Disposition zur Gegenseitigkeit übrig bleibt; diese, für Habermas der Kern aller Moral, bahnt in )orm einer reziproken Unterstellung von )reiheit und Begründungsfähigkeit den Weg einer immer abstrakteren, zunächst von der Kleingruppenmoral abgekoppelten, schließlich nur noch formalen Bestimmung moralischer Verpflichtungen. Die anderen Verhaltensimperative, die Gehlen in seinem pluralistischen Ansatz unterschieden hatte, reihen sich wie Perlen auf dieser nach oben führenden Schnur der menschlichen Gattungsgeschichte auf, bilden also nur noch vergangene Stufen der Durchsetzung einer universalistischen Ethik der Verständigung. In der Abfolge seiner Argumente hat Habermas es daher vermocht, so scheint es, aus dem pluralistischen Ansatz der anthropologischen Ethik Gehlens beinahe immanent den Ausgangspunkt für seine eigene, monistische Ethik des Diskurses zu gewinnen: „Das Ethos der Gegenseitigkeit , so heißt es zusammenfassend bei ihm, „das in fundamentalen Symmetrien möglicher Redesituationen gleichsam steckt, ist, wenn man der oben bezeichneten Logik der Entwicklung des moralischen Bewußtseins folgen will, die einzige Wurzel der Ethik überhaupt […]. Habermas , . Einer derartigen Ethik zufolge, in der das Ethos der Gegenseitigkeit reflexiv geworden ist, ergeben sich moralische Verpflichtungen für den Menschen nur noch aus den Handlungsnormen, die sich in einer „zwanglosen und uneingeschränkten Diskussion ebd. als allgemein begründbar erwiesen haben. Man fragt sich freilich, ob eine solche Ethik nicht am Ende doch den Pluralismus unterschätzt, der in der Vielfalt unserer vielleicht nicht biologisch gegebenen, so doch soziokulturell verankerten Handlungsimperative angelegt sein mag.
III. Gehlen verfolgt mit seiner pluralistischen Ethik zwei verschiedene Intentionen, die er allerdings nach meiner Auffassung nicht richtig auseinander zu halten weiß. Auf der einen Seite lässt er sich von dem polemischen Impuls leiten, dem Moralbewusstsein unserer „Welt-Industrie-Kultur eine Vernachlässigung, ja eine Verdrängung all der Verpflichtungen nachzuweisen, die sich aus dem stammesgeschichtlichen Erbe eines Institutionenethos ergeben; mir scheint Habermas gegen diese Stoßrichtung den richtigen Weg einer Alternative aufzuzeigen, wenn er deutlich macht, dass auch der moderne Universalismus stets die Innenseite staatsbürgerlicher Pflichten und Verantwortlichkeiten kennt. Auf der anderen Seite aber verfolgt Gehlen mit seinem Pluralismus auch das Ziel, eine Erfahrung thematisieren zu kön-
Probleme des ethischen Pluralismus
nen, die selbst für die Teilnehmer an rationalen Diskursen nicht zwingend an Bedeutung und Eindringlichkeit verloren hat; denn gemeint ist mit seinem Ansatz doch auch, dass wir in unseren moralischen Abwägungen stets wieder auf miteinander unvereinbare Gebote oder Pflichten stoßen, die auf eine unauflösliche Vielfalt tiefsitzender moralischer Imperative verweisen. Diesem Sinn des Pluralismus bei Gehlen, dem Hinweis auf moralische Konflikte, die aus inkompatiblen Verpflichtungen erwachsen können, wird der Habermas’sche Einwand nach meinem Eindruck nicht wirklich gerecht; auch für ihn muss sich doch die )rage stellen, ob tatsächlich all unsere Verpflichtungen stets nur organisch aus den konsensuell vereinbarten Handlungsnormen erwachsen oder ob nicht vielmehr solche Verpflichtungen von außen immer in einen derartigen Diskurs hineinragen. Löst sich der ethische Pluralismus, den Gehlen meint, unter dem zwanglosen Zwang überzeugender Argumente stillschweigend auf oder, so ließe sich fragen, bleibt er nicht in )orm einer äußeren Begrenzung des Diskurses als ein Imperativ unserer Lebenswelt hartnäckig bestehen? Die )rage, die damit aufgeworfen ist, lässt sich als ein geradezu technisches Problem im Rahmen der Diskursethik lokalisieren. Wenn wir als isolierte Einzelne oder in der Gruppe auf einen moralischen Konflikt stoßen, so mag es tatsächlich ein Vernunftgebot der in unsere Lebensweise eingebauten Reziprozität sein, nach einvernehmlichen Lösungen in )orm eines inneren Dialogs oder eines praktischen Diskurses unter den Betroffenen zu suchen; in solchen bloß imaginierten oder real durchgeführten Gesprächen werden wir den Versuch unternehmen müssen, die Überzeugungen aller potentiell Betroffenen zu Wort kommen zu lassen, um auf diesem Weg eine allgemein zustimmungsfähige Handlungsnorm zu finden; und richtig mag es auch sein, eine derartig ermittelte Lösung daraufhin zu betrachten, ob sie die Zustimmung nicht nur der am Konflikt beteiligten, sondern potentiell aller menschlichen Personen hätte finden können. Gleichwohl ragt in diese rationale Argumentation wie von außen eine andere, soziale Macht hinein, an der sich die moralischen Erwägungen stets wieder brechen müssen; denn vorgängig werden wir die strittigen 0ormen jeweils daraufhin betrachten müssen, welche Arten von sozialen Beziehungen sie berühren, die wir mit anderen Personen in regelmäßiger Dauer unterhalten. Aus solchen Beziehungen ergeben sich, je nach Art der sozialen Bindung oder der emotionalen Intensität, ganz unterschiedliche )ormen der Verpflichtung, die im Diskurs nicht etwa rational einfach aufgelöst werden können; vielmehr strukturieren und begrenzen sie diesen vorweg in der Weise, dass sie als normative Hinsichten mit unterschiedlichem Verpflichtungscharakter gelten müssen. Es sind solche unterschiedlichen Arten der Verpflichtung, wie wir sie aus dem Gebot der )ürsorge in Liebesbeziehungen, aus dem Gebot der Solidarität in Kleingruppen oder dem Gebot der Loyalität in politischen Gemeinwesen kennen, es sind also derartige Kategorien von Verpflichtungen, in denen sich ein moralischer Pluralismus noch in
Axel Honneth
jeder )orm des praktischen Diskurses Geltung verschafft vgl. Honneth . Dessen Macht ist mithin an einer empfindlichen Stelle begrenzt; ihm voraus liegen eine Reihe von sozialen Kontexten moralischer Verpflichtung, die ihrerseits im Diskurs selber nicht ohne weiteres zur Disposition gestellt werden können, weil sie in ihm als stabile Hinsichten der Einigung auf Handlungsnormen gelten müssen. Derartige Bedingungen ergeben sich aus den soziokulturellen Bedingungen der Erhaltung unserer sozialen Lebenswelt; solange diese aus einem gestaffelten 0etz von unterschiedlichen Beziehungsformen besteht – aus Liebesbeziehungen und )amilienverbänden einerseits, zweitens aus um die Realisierung partikularer Werte bemühten Kleingruppen und schließlich aus übergeordneten staatlichen Großverbänden –, die im Ganzen für unser Wohlergehen unverzichtbar sind, wird eine jede Ethik einen pluralistischen Charakter besitzen müssen. Es ließe sich dann vielleicht sagen: der Universalismus unserer moralischen Begründungspraxis darf nicht über den materiellen Pluralismus unserer vorgängigen Verpflichtungshorizonte hinwegtäuschen. Ich begreife diese sozialregulativen Imperative nicht einfach, wie Gehlen, als Abkömmlinge unserer biologischen 0atur; vielmehr müssen wir uns die unterschiedlichen Verpflichtungen, die aus den Arten unserer sozialen Beziehungen resultieren, als soziokulturelle Erbmasse der akkumulierten Erfahrungen vorstellen, die wir im Laufe der Geschichte mit der Bewahrung und Kultivierung solcher Beziehungen gemacht haben – ohne die moralischen Verpflichtungen, die als reziproke Erwartungen in solche Beziehungen eingebaut sind, würden so anspruchsvolle Sozialformen wie die )reundschaft, die Liebe, die Solidargemeinschaft oder das politische Gemeinwesen gar nicht existieren und überleben können. Daher ist die rationale Kraft des Diskurses von außen durch den sozialen Pluralismus unserer Lebensform begrenzt; als vorgängige Verpflichtungen, an die auch kein noch so überzeugendes Argument einfach wird rütteln können, ragt diese Macht der Vielfalt unserer Beziehungsformen in die praktische Vernunft hinein und schafft in ihr immer wieder neue Konflikte und Antinomien, die, wie Gehlen gesagt hat, „bis in die Seele des Einzelnen reichen können .
Dass sich meine Position nur unwesentlich durch die Übernahme einer an Hegel orientierten Methodologie geändert hat, wird unter anderem auch daran deutlich, dass ich das hier umrissene Argument in meinem Buch „Das Recht der )reiheit auch gegen Kants Universalisierungsgrundsatz vorgebracht habe: Honneth , – .
Probleme des ethischen Pluralismus
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Andreas Arndt
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs Soviel Anerkennung war nie. Sozialtheorien, die auf Gerechtigkeit und )reiheit reflektieren, haben dem Begriff geradezu zu einer Omnipräsenz verholfen. Das war nicht immer so. Vor , dem Jahr des Erscheinens von Jürgen Habermas‘ Aufsatz „Arbeit und Interaktion Habermas , war davon keine Rede, und auch drei Jahre später hatte es der Begriff der Anerkennung in diesem Sinne noch nicht in das „Historische Wörterbuch der Philosophie geschafft: unter dem Stichwort „Anerkennungstheorie findet sich nur der Hinweis darauf, dass in der traditionellen Urteilstheorie, aber auch bei )rege, das Urteil als Anerkennung einer Behauptung zu verstehen sei; und da dies nicht nur für affirmative Urteile gelte, sondern auch 0egationen als anerkannte Behauptungen zu verstehen seien, seien Urteile überhaupt Anerkennungen Menne , f . In der logischen Welt ist damit der Traum der sozialphilosophischen Anerkennungstheoretiker vollkommen wahr geworden: es gibt nur Anerkennung, weil jedes Urteil vollkommen seiner Meinung, d.h. mit sich in Übereinstimmung ist. Mehr Anerkennung geht nicht. Rein logisch besteht die Tücke jedoch darin, dass zu jedem anerkannten Urteil sich alsbald eine 0egation einfinden kann, welche wiederum ein anerkanntes Urteil darstellt. Identisch sind die Urteile nur mit sich selbst. Das geht solange gut, wie sie indifferent gegeneinander sind und sich nicht widersprechen. Sobald sie aber in ein 0egationsverhältnis treten, wird aus dem Paradies der Anerkennung die Hölle des Kampfes Aller gegen Alle‘. Ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt, der rein logisch nicht zu schlichten ist. Damit sind wir von der logischen Anerkennung schon wieder auf sozialphilosophisches Terrain gewechselt, denn den Kampf auf Leben und Tod kennen wir ja aus Hegels „Phänomenologie des Geistes , genauer gesagt: aus der Dialektik von Herr und Knecht, die so etwas wie den heiligen Gral der Anerkennungstheorien darstellt vgl. Hegel , – . Der Kampf um Anerkennung‘ wird dabei von vielen Interpreten als Alternative zu Hobbes vertragstheoretischer Vergesellschaftung verstanden, also auch als Antwort auf das bekannte Szenario eines Kampfes Aller gegen Alle‘ im 0aturzustand Amengual . Tatsächlich entsprechen die mit sich identischen Urteile der logischen Anerkennungstheorie diesem Szenario. Sie stehen für die erst zu vergesellschaftenden Atome, die miteinander nicht können, weil die )reiheit des einen sich an der )reiheit des anderen stößt. Tatsächlich sind ja für Hobbes die Individuen im 0aturzustand frei und auch kontraktfähig sowie in der Lage, sich moralisch und gesellschaftsfähig zu verhalten, nur gibt es dafür keine Garantie; was fehlt, ist der praetor, eine die Durchsetzung des Rechts garantierende Instanz, die erst mit dem Staat als Souverän auftritt. Indem die Individuen sich ver-
Andreas Arndt
tragsmäßig zum Staatskörper verbinden, wird ihre )reiheit, die sie im 0aturzustand haben, zum Rechtsgrund des souveränen Staates. Kein Zweifel, die Voraussetzung freier, selbstbewusster Individuen ist auch die Hegelsche Voraussetzung des Kampfes um Anerkennung‘ vgl. Siep , – . Was bedeutet es aber, wenn die Anerkennung an die Stelle des Vertrages tritt? Handelt es sich nur um eine Alternative zur vertragstheoretischen Vergesellschaftung bei Hobbes? Oder verändern sich nicht auch die Ausgangsvoraussetzungen, oder haben sie sich nicht schon längst verändert schließlich ist Hegel, anders als Hobbes, Aristoteliker, der den Menschen seiner 0atur nach als zoón politikón ansieht ? In den ersten beiden Teilen meines Beitrags werde ich mich zunächst mit dem Begriff der Anerkennung bei )ichte und Hegel befassen, um im Anschluss daran nach der Tragweite und den Grenzen des Anerkennungsbegriffs zu fragen.
I.
Anerkennung bei Fichte
Ludwig Siep hat darauf hingewiesen, dass Hegels Begriff der Anerkennung systematisch auf )ichte rekurriert, auch wenn )ichte den Begriff selbst nur beiläufig verwendet Siep , , ff; Wildt und )rischmann . Die zentrale Passage findet sich in der „Grundlage des 0aturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre ; auf dem dort entwickelten Gedanken beruht nach )ichte die „ganze Theorie des Rechtes )ichte , . )ichte geht davon aus, dass der Begriff der Individualität ein „Wechselbegriff ist, d.h. „ein solcher, der nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe, und zwar durch das gleiche Denken, der )orm nach, bedingt ist. Ebd., . Anders gesagt: Individualität – und hier springt )ichte aus der Hobbes schen Position heraus – ist nur in Bezug auf andere Individuen und nicht aus sich selbst zu erklären: „Das Verhältniss freier Wesen zu einander ist daher das Verhältniss einer Wechselwirkung durch Intelligenz und )reiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln. Ebd., Die Beschränkung der )reiheit durch den Anderen ist somit zugleich Selbstbeschränkung. Hieraus ergibt sich der fundamentale „Rechtssatz : „Ich muss das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken. (Ebd., Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Limitation. Ein jedes Individuum hat die Sphäre seiner )reiheit, indem es zugleich durch die Sphäre der )reiheit des Anderen beschränkt wird und umgekehrt: indem es die Sphäre der )reiheit des Anderen anerkennt, beschränkt es sich auf die Sphäre seiner )reiheit. Bestimmtwerden und Bestimmen fließen hier in Eins; dies ist es, was )ichte in der „Wissenschaftslehre / „Wechselbestimmung nennt: „Durch die Be-
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
stimmung der Realität oder 0egation des Ich wird zugleich die 0egation oder Realität des 0icht-Ich bestimmt; und umgekehrt. Ich kann ausgehen von welchem der Entgegengesetzten; wie ich nur will; und habe jedesmal durch eine Handlung des Bestimmens zugleich das andere bestimmt. )ichte , . Die Wechselbestimmung ist freilich logisch prekär, denn sie verlangt eigentlich, die Entgegengesetzten in einer Einheit – bei )ichte der des absoluten Ich – zu denken, die dann aber in sich entgegengesetzt und widersprüchlich wäre. Hier tritt, nach )ichte, die Einbildungskraft ein, welche die Entgegengesetzten und einander Begrenzenden selbst „in der Grenze zusammenfasst ebd., . In Bezug auf die Individuen, die sich wechselseitig anerkennen, ist diese Grenze das Recht, welche die Rechtssphären der individuellen )reiheit zuweist und voneinander scheidet. Das Rechtsverhältnis ist aber nicht weniger prekär als das logische Verhältnis der Wechselbestimmung. )ichte macht unmissverständlich deutlich, dass es sich nicht um ein moralisches Verhältnis handelt und Gesetz im rechtlichen Sinne und Sittengesetz nichts miteinander zu tun haben: 0aturrecht und Moral sind voneinander geschieden und die moralische Gesinnung ist keine Bedingung des Rechts: „Das Recht muss sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte [...]. Physische Gewalt, und sie allein, giebt ihm [dem Recht, A.] auf diesem Gebiete die Sanction )ichte , . )ichte folgt hier Kant, der das Problem der rechtlichen Vergesellschaftung in seinem Entwurf „Zum ewigen )rieden anhand der )rage entwickelt, wie ein Volk von Teufeln zu vergesellschaften sei Arndt . Die innere Widersprüchlichkeit des Rechtsverhältnisses in Bezug auf die wechselseitige Anerkennung der freien Individuen wird durch Macht, durch die Sanktionsgewalt des Staates, gewissermaßen befriedet. Das bedeutet indessen, dass Anerkennung kein moralisches Verhältnis zum Ausdruck bringt und auch nicht rechtskonstituierend ist. Der Wechselbegriff der Individualität bzw. die Wechselbestimmung der Anerkennung legitimieren vielmehr das Recht als ein vernünftiges, sofern es die Sphären individueller )reiheit zumisst und garantiert. Das Anerkennen bezieht sich demnach in erster Linie auf die Legitimation, nicht die Konstitution von Recht. Diese Legitimation beruht auf der Einsicht, dass – um es in Anlehnung an Rosa Luxemburg zu sagen – die )reiheit auch immer die des Anderen ist. Eine „moralische Grammatik Honneth indes stellt )ichtes Begriff der Anerkennung nicht bereit – und auch Hegels Begriff der Anerkennung nicht, dem ich mich jetzt zuwende.
II. Kampf und Anerkennung bei Hegel )ür Hegels Theorie der Anerkennung wird gewöhnlich auf die Dialektik von Herr und Knecht in der „Phänomenologie des Geistes verwiesen, die schon zu mancherlei )ehlinterpretationen herhalten musste – man denke nur an Alexandre Kojève
Andreas Arndt
. Ludwig Siep und Henning Ottmann haben bereits darauf hingewiesen, dass diese Passage – wie immer sie sonst noch zu verstehen sei – im Kontext paralleler Ausführungen in den Jenaer Schriften und Entwürfen und dem späteren enzyklopädischen System Hegels zu lesen und zu interpretieren ist. Ottmann hat dabei betont, dass alle Thematisierungen des Herr-Knecht-Verhältnisses – von einer ,Dialektik‘ lässt sich dabei nicht immer sprechen – in einem vorpolitischen Raum, einem 0aturzustand, angesiedelt werden, der in den Jenaer Entwürfen zumeist auf die Sphäre der )amilie im Sinne des aristotelischen oikós bezogen wird. Eine genaue Verortung dieses Verhältnisses freilich ist kaum möglich, was die Phantasie der Interpreten immer wieder beflügelt hat – vom Klassenkampf bei Kojève bis zum Aufstand der Sklaven von Haiti bei Susan Buck-Morss . Ich kann und will hier natürlich keine umfassende Interpretation dieses Verhältnisses leisten; meine )rage zielt einzig darauf, was es für den Begriff der Anerkennung bedeutet. Im „System der Sittlichkeit erscheint das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft als „Umkehrung des Raubes: „Raub ist nur da, wo nicht das Verhältniß der Herrschafft und Knechtschafft ist. Wo aber dieses ist, wo ein Individuum indifferenter, also die höhere Potenz ist, als die andere, da ist der 0atur nach kein Raub Hegel , f; vgl. Schmidt , Honneth , ff . Voraussetzung für das Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis ist nach Hegel, dass – wenn es nicht nur momentan sein soll – die „ganze Persönlichkeit auf dem Spiel steht, wie es dann der )all ist, wenn es auf Leben und Tod geht: „im )all des Kriegs allein, der sich gegenseitig erkennenden Persönlichkeit, oder der 0oth in Ansehung des ganzen Lebens, wie auch im Krieg von Menschen, – sonst aber von der 0atur ist, findet Knechtschafft statt Hegel , . Bedeutsam ist diese Stelle auch deshalb, weil sie eine Erklärung für den befremdlichen Umstand liefert, dass der Kampf um Anerkennung als Kampf auf Leben und Tod geführt wird. Vor allem aber liefert sie einen Hinweis auf das, was Anerkennung bedeutet. Bereits bei )ichte hatten wir gesehen, dass Anerkennung keineswegs moralisch-sittliche Verhältnisse oder Rechtsverhältnisse konstituiert, sondern Recht allein legitimiert, weil die Einsicht in die eigene )reiheit nur durch die Anerkennung der )reiheit der Anderen gewonnen werden kann. Ebenso geht es bei Hegel in dem Gegenseitig-sich-Erkennen überhaupt nur darum, den Anderen und sich selbst als Persönlichkeit wahrzunehmen. Das Anerkennen ist hier überhaupt noch nicht moralisch-sittlich besetzt, sondern als ein kognitiver Akt zu bestimmen. Dieser Akt der Erkenntnis der Persönlichkeit des Anderen ist dabei noch kein zureichender Akt der Selbsterkenntnis bzw. des Selbstbewusstseins. Dies ist vor allem darum zu betonen, weil Hegel sich ja von )ichte radikal dadurch unterscheidet, dass er durchgängig eine Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins vertritt, d.h., der Annahme eines unmittelbaren Selbstbewusstseins, wie etwa )ichte sie vertreten hatte, widerspricht. Ein zureichendes Selbstbewusstsein setzt weitere Vermittlungsschritte voraus, die hier noch nicht geleistet sind. Das gilt übrigens bis in die „Phänomenologie des Geistes hinein, denn der Abschnitt zur „Wahrheit der
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
Gewißheit seiner selbst , in dem das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft dort angesiedelt ist vgl. Hegel , – , liegt systematisch der Entwicklung von Vernunft und Geist noch voraus vgl. Hegel , ff bzw. ff ; adäquat aber wäre auch ein endliches Selbstbewusstsein erst als eines, das die geistige 0atur des individuellen Bewusstseins erfasst. Dieser Vorbehalt zieht weitere Konsequenzen nach sich. Es könnte nämlich so scheinen, als setze „Raub schon ein rechtlich konstituiertes Eigentum voraus und „Persönlichkeit den Rechtsbegriff der Person. Viel eher erinnert das, was Hegel hier beschreibt, an den 0aturzustand, in denen nach dem Bericht im . Gesang der „Odyssee die Kyklopen lebten: „Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Versammlung, / Sondern sie wohnen all auf den Häuptern hoher Gebirge / In gehöhleten )elsen, und jeder richtet nach Willkür / Seine Kinder und Weiber und kümmert sich nicht um den andern. Homer , . Von einer ausgebildeten Rechtsform kann an dieser Stelle im „System der Sittlichkeit noch keine Rede sein; Recht ist erst eine Kategorie der Sittlichkeit, wie sie im dritten Teil des „Systems der Sittlichkeit behandelt wird. Und ebenso ist es mit dem von Hegel immer wieder ins Spiel gebrachten Begriff der Totalität. Wenn im Kampf auf Leben und Tod – was immer dieser Ausdruck realhistorisch bezeichnen soll – die Persönlichkeit wechselseitig nur dadurch erkannt wird, das Alles auf dem Spiel steht, dann ist dieses Alles‘ nicht mehr und nicht weniger als die Totalität des lebendigen Individuums, keineswegs aber die wahrhafte Totalität, welche für Hegel geistiger 0atur wäre. Das wechselseitige Erkennen und Anerkennen findet auf einer niedrigen Stufe des Erkennens statt, die der Realisierung des Geistes als Geist vorausliegt. Und auch für die Konnotation von Anerkennung und Liebe gilt, dass sie nicht nur in den vorpolitischen Bereich fällt, sondern auch eine rechtlich konstituierte )amiliensphäre nicht voraussetzt. Dies gilt auch für den Kampf um Anerkennung, wie er im ersten Jenaer Systementwurf / von Hegel dargestellt wird. Hierbei ist der neue theoretische Rahmen zu berücksichtigen, nämlich die zentrale Stellung des Bewusstseins „als methodisches Organon der Philosophie überhaupt , wie sie Heinz Kimmerle , zutreffend beschrieben hat und wie sie bis einschließlich der „Phänomenologie des Geistes gelten wird. Das Bewusstsein, so Kimmerle, „ist das einheitliche Medium, in dem sich die theoretische und praktische Potenz der Intelligenz wie auch die Selbstkonstruktion des Absoluten‘ zusammenhängend entfalten lassen. Somit drückt das Bewußtsein eine Sphäre des Geistes in seinem Erscheinen und zugleich den Geist als Geist aus. Ebd. In dieser Wendung sieht Axel Honneth übrigens die „vorschnelle[…] Preisgabe einer „kommunikationstheoretischen Alternative , in welcher die Selbstvermittlung des individuellen Bewusstseins an die Stelle sozialer Interaktion tritt Honneth , . Richtig daran ist, dass Hegel soziale Verhältnisse nicht aus intersubjektiver Kommunikation hervorgehen lässt; das bedeutet jedoch nicht, dass das individuelle Bewusstsein das Medium ist, über das soziale Ver-
Andreas Arndt
hältnisse konstituiert werden. Viel eher ist es zunächst das Bewusstsein naturwüchsiger sozialer Verhältnisse – und hierin liegt auch der Grund, weshalb das Anerkennen primär als ein Erkennen zu verstehen ist. Im ersten Jenaer Systementwurf bringt der „Kampf um Anerkennung daher die „Totalität des Bewußtseins , wie sie sich in der )amilie naturwüchsig ausgebildet hat, dazu, dass sie „sich in einer andern Totalität [...] als sich selbst erkennt. Hegel , Dies geschieht, indem die Totalität des Anderen jeweils zu einer Einzelheit des eigenen Bewusstseins herabgesetzt und damit die eigene Totalität bestätigt wird. Es handelt sich hierbei, wie fast immer bei Hegel, wenn er von Anerkennung spricht, um ein zwar reziprokes, gleichwohl aber asymmetrisches Verhältnis, und dies, so fügt Hegel hier ausdrücklich hinzu, „ist das gegenseitige Anerkennen überhaupt ebd. . Der Kampf entsteht hier wie schon im „System der Sittlichkeit als Kampf um die Ehre aufgrund einer absoluten Beleidigung ebd., , ein Szenario, das eher mit tribalen Strukturen als mit staatlich sanktionierten Rechtsverhältnissen etwas zu tun hat; zu dieser Verletzung gehört auch der Besitz an sich, indem darin der Widerspruch liegt, „daß ein aüsseres, ein Ding, ein allgemeines der Erde, daß diß in der Macht eines einzelnen seyn soll, was wider die 0atur des Dings als eines allgemeinen aüssern ist ebd., . Das gegenseitige Anerkennen der Einzelnen löst aber überhaupt die Widersprüche nicht auf, sondern ist „absoluter Widerspruch in ihm selbst ebd., , denn in der Realität des Kampfes hebt es das andere Bewusstsein auf und „hiemit hebt sich das Anerkennen selbst auf ebd. ; diese Konsequenz lässt sich indessen nicht vermeiden, da das einzelne Bewusstsein ja gerade als Totalität anerkannt werden will und darum das andere Bewusstsein, von dem seine Anerkennung als Bewusstsein doch abhängt, vertilgen muss. Die Anerkennung, die wiederum wesentlich kognitiv gefasst ist, nämlich als ein Erkennen, wird aber auch dann verfehlt, wenn der Streit nicht auf die Spitze getrieben, sondern durch Unterwerfung – hier ausdrücklich: das zum Sklaven Werden – „vor dem Tödten abgebrochen wird: „so hat er weder sich als Totalität erwiesen, noch den andern als solchen erkannt. Ebd., Dass Anerkennung zunächst als absoluter Widerspruch zu denken ist, erinnert wohl nicht zufällig an die Widersprüchlichkeit der Wechselbestimmung bei )ichte. Hegels Lösung des Widerspruchs ist indessen eine andere als in )ichtes „0aturrecht , wo die Sanktionsgewalt des Rechtes )reiheitssphären zuweist und begrenzt – mit dem Recht als Grenze. Hegel dagegen lässt in seinem ersten „Jenaer Systementwurf den Widerspruch dadurch zugrunde gehen, dass sich das absolute Be-
ڲDen tieferen Grund für die Differenz zwischen Honneth und Hegel hat Karin de Boer im Blick auf den späten Hegel zu Recht darin ausgemacht, dass Honneth – kommunikationstheoretisch zwingend – das freie Individuum voraussetzt, während Hegel dies erst durch das Dasein entsprechender objektiv-geistiger Strukturen gegeben sieht vgl. de Boer . Dies lässt sich der Grundstruktur nach aber auch schon von den Jenaer Entwürfen behaupten.
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
wusstsein als Aufgehobensein der einzelnen Bewusstseine in der absoluten Sittlichkeit konstituiert ebd., ; Hegel notiert hierzu: „keine Komposition, kein Vertrag, kein stillschweigender oder ausgesprochener Urvertrag; der einzelne [soll nicht, A.] einen Theil seiner )reyheit aufgeben, sondern ganz, seine einzelne )reyheit ist nur sein Eigensinn sein Tod. Ebd., Was bedeutet das? Offenbar will Hegel auf recht unmittelbare Weise den sich als Totalität setzenden Einzelnen in die absolute Sittlichkeit des Volkes aufheben, indem er ihm den Eigensinn ganz austreibt. Das ist, nebenbei gesagt, vom Standpunkt des späteren Rechts der Besonderheit aus eine defizitäre, vormoderne Position von Sittlichkeit, die Hegel bald aufgeben wird. In der Geistesphilosophie des dritten „Jenaer Systementwurfs / ist dies bereits der )all. Hier wird einerseits der Kampf um Anerkennung‘ ausdrücklich in den 0aturzustand verlegt, andererseits die Sphäre des Staates als Vermittlung von Extremen begriffen und damit unter eine Spannung gestellt, in der die unmittelbare Einheit des Einzelnen und Allgemeinen unwiderruflich verloren ist: „Diß ist das höhere Princip der neuern Zeit, das die Alten das Plato nicht kannte, – in der alten Zeit, war das schöne öffentliche Leben die Sitte aller, – Schönheit unmittelbare Einheit des Allgemeinen und einzelnen ; dagegen steht aber jetzt „das sich selbst absolut Wissen der Einzelnheit , also das Prinzip der Subjektivität, der Besonderheit und ihrer )reiheit. Hegel , Im 0aturzustand sind die Individuen „gegeneinander freye[] Selbstbewußtseyne nur dem Begriffe nach: „Das einzige Verhältniß derselben aber ist, eben diß Verhältniß aufzuheben, exeundem e statu naturae. Ebd., Dies geschieht durch eine „anerkennende[…] Beziehung , welche Hegel zufolge das „Erzeugen des Rechts überhaupt ist ebd., . Ausdrücklich und ausführlich wendet Hegel sich dagegen, das Recht in den 0aturzustand gewissermaßen hineinzuprojizieren, um daraus die Konstitution von Staat und Recht durch einen Vertrag abzuleiten, da dieser die Vertragsfähigkeit und damit das Recht bereits voraussetzt. Das Erzeugen des Rechts, so Hegel, müsse aus dem Gegenstand selbst hervorgehen. Genau dies ist die Aufgabe der Anerkennung. Axel Honneth , vertritt hier die These, dazu bedürfe der „sozialontologische Bezugsrahmen des 0aturzustandes der „kategorialen Erweiterung um die Dimension, „daß die Subjekte sich noch vor jedem Konflikt in irgendeiner Weise wechselseitig anerkannt haben müssen . )ür Hegel freilich ist das Anerkanntsein, das Honneth in den 0aturzustand zurückprojizieren möchte, etwas, was dezidiert mit dem 0aturzustand nichts zu tun hat: „Das anerkannte ist anerkannt als unmittelbar geltend, durch sein Seyn; – aber eben diß Seyn ist erzeugt aus dem Begriffe, [...] das natürliche ist nur, es ist nicht geistiges. Hegel , . Der Kampf um Anerkennung ist eben noch kein Anerkennen, sondern nur das Werden des Anerkennens; nur so lässt sich auch vermeiden, dass der für das vertragstheoretische Vergesellschaftungsmodell konstitutive Zirkel sich in Bezug auf das Anerkennungsmodell wiederholt. Wie ist das zu verstehen? Der Schlüssel scheint mir auch hier darin zu liegen, dass die im Kampf um Anerkennung aufeinander prallenden „Selbstbewusstseine
Andreas Arndt
dies nur dem Begriff nach bzw. an sich sind, d.h. der Begriff ist noch nicht realisiert. Erst die Realisierung des Begriffs schafft das, was Hegel das Sein aus dem Begriff nennt. Diese Bewegung fängt „nicht mit dem positiven an, sich im andern zu wissen [...]; sondern im Gegentheil sich nicht in ihm zu wissen , also mit der „Selbstständigkeit des )ürsichseyns . Ebd., Am Anfang steht also, bevor ich es anerkenne, das Erkennen des anderen )ürsichseins, weil ich mein eigenes )ürsichsein in ihm wiedererkenne. Dieses )ürsichsein bezeichnet hier aber nicht, wie noch / im ersten Systementwurf, eine Totalität des Bewusstseins, sondern ein Willensverhältnis. Indem dieser Wille sich zum Ding macht, als Besitz – den Hegel hier ausdrücklich vom Eigentum als Rechtsverhältnis unterscheidet ebd., –, kann über das Ding in der Verletzung des Besitzes das Selbstbewusstsein angegriffen werden. Hieraus geht wiederum ein „Kampf auf Leben und Tod hervor, dass jedes )ürsichsein das Andere „als reines Selbst gesehen hat – „und es ist ein Wissen des Willens , nicht eines bestimmten, sondern des Willens überhaupt: „Dieser wissende Willen ist nun allgemeiner. Er ist das Anerkanntseyn. Ebd., . Hieraus ergibt sich dann der wirkliche Geist, zunächst in den Momenten der Arbeit, des Tausches und des Vertrags. Die gewordene Anerkennung bezieht sich also auf das Rechtsverhältnis; sie ist wesentlich Anerkennung des Rechts im rechtlichen Verhältnis: „Recht , so Hegel, „ist die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern . Ebd., Die berühmte und immer wieder missdeutete Passage der Phänomenologie fügt diesem Befund nichts 0eues hinzu. Das Selbstbewusstsein, wie es in den Kampf um Anerkennung geht, ist erst einfaches )ürsichsein und hat noch keine Wahrheit. Systematisch gehört der Kampf um Anerkennung in der „Phänomenologie noch in das Bewusstsein – was den erwähnten Gleichklang von Erkennen und Anerkennen unterstreicht – und liegt vor dem Geist, ja sogar der Vernunft. Auf dieser Basis aber ist nach Hegel kein Staat zu machen.
III. Intersubjektivität oder Freiheitsgeschichte? Den Schlusspunkt unter die hier skizzierte Entwicklung hat Hegel im Paragraphen seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse gesetzt; es heißt dort: „Der Kampf des Anerkennens [...] ist die Erscheinung, in welcher das Zusammenleben der Menschen, als ein Beginnen der Staaten, hervorgegangen ist. Die Gewalt, welche in dieser Erscheinung Grund ist, ist darum nicht Grund des Rechts; obgleich das nothwendige und berechtigte Moment im Uebergange des Zustandes des in die Begierde und Einzelnheit versenkten Selbstbewußtseyns
ڳDass Hegels Begriff der Anerkennung mit dem in der gegenwärtigen sozialphilosophischen Debatte so gut wie gar nichts zu tun hat, unterstreicht Sticker .
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
in den Zustand des allgemeinen Selbstbewußtseyns. Hegel , . In seinen handschriftlichen 0otizen hat Hegel zu dieser Stelle bemerkt, das Recht sei „freyes Selbstbewußtseyn – das sich Dasein gibt , wodurch Anerkanntsein „Daseyn der Persönlichkeit im Staate überhaupt sei ebd., . Eben darum, weil Anerkennung im Rechtsverhältnis und Kampf um Anerkennung zweierlei sind und das Rechtsverhältnis nicht aus letzterem hervorgeht, hat Hegel in der zweiten Auflage der Enzyklopädie zu der vorhin zitierten Passage noch einen Satz hinzugefügt: „Es ist der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Princip. Hegel , . Dabei bleibt es auch in der dritten Auflage von vgl. Hegel , . Die „Grundlinien der Philosophie des Rechts verweisen entsprechend auch den Kampf um Anerkennung in den 0aturzustand zurück, in dem die „begrifflose[…] Existenz des Menschen „als 0aturwesen und nur als an sich seyender Begriff vorherrschten Hegel , . Entsprechend spielt der Begriff der Anerkennung in den „Grundlinien auch nur eine marginale Rolle. Der Grund dafür ist leicht einsichtig zu machen. Wenn nach Hegels Auffassung Recht Dasein der )reiheit ist, dann ist )reiheit nicht etwas, was in einem vorrechtlichen und das heißt auch: vorstaatlichen Raum den gesellschaftlichen Individuen zugeschrieben werden könnte – wie bei Rousseau, Kant und )ichte –, so dass in erster Linie durch das Recht nur noch die Konflikte zu bearbeiten wären, die dadurch entstehen, dass )reiheitsansprüche gegeneinander limitiert werden müssen. Eben deshalb findet das freie Selbstbewusstsein, wie es in Hegels Anmerkungen zu ersten Auflage der „Enzyklopädie heißt, sein Dasein auch nur im Staate – und nur dies ist sein Anerkanntsein. Anders gesagt: Hegel denkt )reiheit von ihrer Institutionalisierung her, die sich in einer Geschichte der )reiheit niederschlägt Arndt . Sie ruht auf keiner vorgängigen Intersubjektivität; vielmehr muss, um Henning Ottmann zu zitieren, „auch die Anerkennung [...] für Hegel aus ihrer bei )ichte nur intersubjektiven Bedeutung gelöst und in die Geschichte der )reiheit einbezogen werden, die von Beginn an nicht nur Geschichte eines intersubjektiven, sondern immer auch institutionellen Geistes ist. Ottmann , . Die Auseinandersetzung um die Tragweite des Begriffs Anerkennung‘ dreht sich genau um diesen Punkt: in )rage steht, ob )reiheit sich über Anerkennung modellieren lässt oder ob Anerkennung über die rechtliche Institutionalisierung von )reiheit zu verstehen ist. Hegels Position ist eindeutig: auf der Basis konstituierter rechtlicher und d.h. immer auch staatlicher Verhältnisse ist der Kampf um Anerkennung aufgehoben in eine Sphäre des Geistes, die den gesellschaftlichen Individuen gegenüber als objektiv erscheint – eben als objektiver Geist. Dieser ist als über-, nicht bloß als intersubjektiv zu verstehen. Soziale )reiheit ist daher auch nicht, wie Honneth meint, als Erweiterung intersubjektiver )reiheit anzusehen: „,)rei‘ ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele sehen kann ; hierbei sei „eine Bezugnahme auf soziale
Andreas Arndt
Institutionen schon immer mitgedacht, weil „nur eingespielte, verstetigte Praktiken die Gewähr dafür bieten, daß die beteiligten Subjekte sich wechselseitig als Andere ihrer selbst anerkennen können Honneth , . Es geht um eine scheinbar geringfügige Differenz: wird Anerkennung mit Hegel selbst als institutionalisiert verstanden, etwa in dem Rechtsbegriff der Person? Oder werden Bezüge auf Institutionen als Rahmenbedingungen eines intersubjektiv konstituierten Anerkennungsgeschehens „mitgedacht , wie Honneth es vorschlägt ebd.; Hervorhebung A. ? Anders gesagt: im ersten )all ist Anerkennung kein substanzielles Prinzip der Moderne, im zweiten schon. Die Tragweite dieser Differenz und damit des Anerkennungsbegriffs lässt sich am besten daran ermessen, wie theoretisch mit sozialen Konflikten umgegangen wird. Axel Honneth hat sich , zwei Jahre nach Ausbruch der ersten globalen )inanzkrise, in einem Aufsatz mit den, wie er es nennt, „Verwilderungen des Kampfes um Anerkennung im frühen . Jahrhundert auseinandergesetzt Honneth . Von besonderem Interesse ist hier die sogenannte „Anerkennungssphäre der Wirtschaft , der bei Hegel das System der Bedürfnisse entspricht, das einen „Rest des 0aturzustandes in sich enthält Hegel , ; vgl. Takada , f . 0ach Honneth funktioniert die kapitalistische Wirtschaft grundsätzlich nach dem Leistungsprinzip, habe damit aber – im Unterschied zum „moralische[n] Universalismus der Rechtssphäre – keine egalisierende )unktion. Hier sei es zu einer dramatischen Verschiebung gekommen: „Im Kapitalismus der Gegenwart scheint ein wachsender Teil der Bevölkerung von jeder Möglichkeit abgeschnitten, überhaupt nur Zugang zu den achtungssichernden Sphären der Erwerbswirtschaft und des Rechtssystems zu gewinnen, während der andere, sich darin befindende Teil aus den hier gewährten Entlohnungen in immer geringerem Maße soziale Anerkennung zu schöpfen vermag, weil sich die zugrunde liegenden Prinzipien verunklart oder verdunkelt haben. Honneth Gemeint ist damit offenbar das Leistungsprinzip. Betroffen von der sich daraus ergebenden Verwilderung ist vor allem die Sphäre des Rechts. Die Verlierer versuchen, sich Respekt und Sichtbarkeit auch dadurch zu verschaffen, dass sie sich über das Recht hinwegsetzen, während die Gewinner des 0eoliberalismus das Recht als „Instrument der Abwehr von statusbedrohenden Ansprüchen benutzen: „Über Rechte zu verfügen bedeutet immer weniger, sich einer wechselseitig eingeräumten Ermächtigung zur individuellen )reiheit zu erfreuen,
) ڴraglich ist, was Moral mit Recht zu tun hat. Während in vielen Diskursen der Gegenwart die Unterscheidung von Moral und Recht zunehmend eingeebnet wird, ist sie für Hegel konstitutiv. Moralität ist für ihn der Standpunkt der einzelnen Subjektivität; erst dessen Aufhebung führt zum Recht. Insofern ist die )rage der rechtlichen Gesinnung auch keine )rage der Moral. Auch in der Kritik des Rechts würde ein Rückfall in die Moralität erst dann stattfinden, wenn diese Kritik sich gegen die Allgemeinheit des Rechts und die Gleichheit der Personen an sich richten würde. Ansonsten bleibt die Kritik des Rechts ein Kampf um das Recht auf der Grundlage des Anerkanntseins und nicht des Kampfes um Anerkennung.
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
sondern bedeutet vor allem, die Begehrlichkeiten anderer mit legitimen Mitteln zurückweisen zu können. Ebd. . Man kann darüber streiten, ob die Idylle des Leistungsprinzips jemals mehr war als eine Illusion; schon Marx hatte ja bestritten, dass Lohn und Leistung in einem Verhältnis stünden. Auffällig ist jedoch vor allem, dass bereits Hegel im )rühstadium des Kapitalismus die Konsequenz der Verwilderung des Rechts gesehen hatte. Hegel fasst sie unter der Bezeichnung „Pöbel zusammen Ruda ; vgl. Arndt , ff . Der Pöbel entsteht dann, wenn ein immer größerer Teil der Bevölkerung unter das gesellschaftlich notwendige Subsistenzniveau absinkt, also materiell verelendet, damit zugleich aber auch ein Verlust „des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Thätigkeit und Arbeit zu bestehen, bei den Verelendeten eintritt Hegel , . Das materielle Sein hat hier unmittelbar )olgen für das Bewusstsein, die Gesinnung des Pöbels. )ür Hegel ist dieses Element der Gesinnung insofern entscheidend, als es sowohl das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft – Vermittlung der Subsistenz durch Arbeit – als auch das Rechtsbewusstsein und damit die Grundlage des politischen Gemeinwesens erschüttert. Hierbei geht es weniger um materielle Ungleichheit, die Hegel innerhalb gewisser Grenzen grundsätzlich als Zufälligkeit ansieht, sondern darum, dass die arbeitende Klasse, von den )reiheiten der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Rechten ausgeschlossen wird: „in der bürgerlichen Gesellschaft hat jeder den Anspruch, durch seine Arbeit zu existieren; erlangt er nun durch seine Tätigkeit dies Recht nicht, so befindet er sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit, er kommt nicht zu seinem Recht, und dies Gefühl ist es, das die innere Empörung hervorbringt. Dann macht der Mensch sich selber rechtlos und hält sich auch der Pflichten entbunden, und dies ist dann der Pöbel. Hegel , Pöbel ist demnach die teils faktische, teils gesinnungsmäßige Auflösung des Rechtszustandes und damit, nach Hegel, des Daseins der )reiheit. Hegel lässt keinen Zweifel daran, dass er die Aufkündigung des Rechtszustandes aufgrund der erlittenen Verletzung des Rechts für „Schaamlosigkeit hält ebd. . Die Ursache der Rechtsverletzung, welche der Pöbel dadurch erleidet, dass er durch Arbeit keine Subsistenz findet, liegt jedoch in der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Sie ist es, die das Rechtsbewusstsein und damit die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Die „Erzeugung des Pöbels , so Hegel, führe „zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnißmäßige Reichthümer in wenige Hände zu concentriren mit sich Hegel , . Wenn aber der Pöbel wesentlich darin besteht, Subsistenz nicht durch eigene Arbeit zu haben, wobei er die Rechte anderer nicht respektiert und zugleich auf sein Recht pocht, dann lässt sich der Spieß auch umdrehen: der Reichtum, sofern er nicht auf eigener Arbeit beruht, muss dann ebenso Pöbel erzeugen – reichen Pöbel: „Es gibt auch reichen Pöbel. Denn der Reichtum ist eine Macht, und diese Macht des Reichtums findet leicht, daß sie auch die Macht ist über das Recht, der Reichre kann sich aus vielem herausziehen, was anderen übel bekommen würde. [...] Der Reichtum kann die Subsistenz vieler in seiner Hand sehen,
Andreas Arndt
sieht sich als Herr ihrer 0ot und damit auch vieler Rechte derselben. Man kann dies dann auch Verdorbenheit nennen, daß der Reiche sich alles für erlaubt hält. Hegel , Mit der Polarisierung zwischen dem armen und dem reichen Pöbel droht der rechtliche Grundkonsens der Gesellschaft zu zerbrechen. Die Empörung des armen Pöbels ist nach Hegel die )olge. Wo aber das Recht als menschliches Gesetz abdankt, treten die alten chtonischen Rachegöttinnen auf den Plan. Wenn der Einzelne, wie Hegel in der „Phänomenologie des Geistes schreibt, „rein zum Dinge gemacht wird, dann ist er selbst „die unterirdische Macht, und es ist seine Erinnye, welche die Rache betreibt . Hegel , Damit treten Machtverhältnisse auf den Plan, die innerhalb faktisch rechtsfreier Sphären der Staaten und des internationalen Staatengefüges den Kampf um Anerkennung als Kampf auf Leben und Tod neu inszenieren. Es gilt, sich selbst durch die Vernichtung alles Anderen ein Selbstgefühl zu verschaffen, das aber immer wieder erneut solcher Bestätigung bedarf. Die Erinnyen unserer Moderne sind allgegenwärtig: hirnlose Schläger mit oder ohne ideologische Bemäntelung, der aus der Gesellschaft gefallene jugendliche Pöbel im Hegelschen Sinne der Metropolen weltweit, 0eonazis und patriotische Europäer‘ – bis hin zu Dschihadisten, die ihre Identität daraus beziehen, Alles abschlachten zu wollen, was ihnen sich nicht fügt. Dieser Kampf um Anerkennung, der in der Tat mit der faktischen oder auch erklärten Aufkündigung der Zivilisation und des Rechts einhergeht, ist natürlich nicht gemeint, wenn der Kampf um Anerkennung als moralische Grammatik sozialer Konflikte verstanden werden soll. Im Hegelschen Sinne freilich würde das Wiederaufleben eines Kampfes um Anerkennung voraussetzen, dass der Gedanke einer Rechtsgemeinschaft, in der die Menschen unterschiedslos als Personen gelten, d.h. als Gleiche, zerbrochen wäre. Solange dies nicht der )all ist, ist der Kampf nicht um Anerkennung, sondern um das Anerkanntsein als Recht zu führen – auch und vor allem als Kampf gegen jene Institutionen und Strukturen, die den rechtlichen Konsens untergraben. Der Kampf um Anerkennung ist in Hegels Systemgrundriss, wie er ihn in der „Enzyklopädie entwickelt hat, weder ein anthropologischer noch ein objektivgeistiger Sachverhalt. Er ist nicht anthropologisch, weil die natürliche Seele oder der 0aturgeist auf der ersten Stufe des subjektiven Geistes hiervon noch nichts wissen kann. Erst mit dem Erwachen des Bewusstseins, das sich mit sich selbst vermittelt, indem es sich mit Anderem und auch Anderen vermittelt, entsteht dieser Kampf. Diese Vermittlung und dieser Kampf vollziehen sich auf der zweiten Stufe des subjektiven Geistes, der Phänomenologie des Geistes, in welcher der Geist im vollen Sinne erst wird und die insofern die anthropologischen Bestimmungen aufgehoben hat. Die Individuen, die den Kampf um Anerkennung führen, führen ihn dabei aufgrund eines defizitären, noch abstrakten Selbstbewusstseins. Wenn nicht nur das Bewusstsein und mit ihm das Selbstbewusstsein erwacht sind, sondern die Individuen sich selbst in ihrer Identität als Moment eines nicht inter-, sondern über-
Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs
subjektiven Zusammenhangs verstehen, d.h. als geistige Wesen im Verhältnis zum objektiven und absoluten Geist, sinkt dieser Kampf zurück in eine abgelebte Stufe der geistigen Entwicklung. Was an ihm aufgehoben , also im Hegelschen Sinn aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben wird, ist das Anerkanntsein, das sich im Recht darstellt. Gesellschaftliche und politische Prozesse, die nach Hegel den Inhalt des objektiven Geistes bilden, haben daher nicht mehr den Charakter eines Kampfes um Anerkennung, sondern beziehen sich auf die Institutionalisierungen des Anerkanntseins. Darin ist zwar auch die anthropologische Grundlage des Geistigen insofern noch vorhanden, als – was näher auszuführen hier nicht der Ort ist – der Geist auf 0atur bezogen bleibt, aber er ist nicht durch seine 0atürlichkeit, sondern durch deren Aufhebung als Geist konstituiert.
Andreas Arndt
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Alexey Zhavoronkov
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität. Zu Axel Honneths Rezeption von Helmuth Plessner I.
Von Kritik der Philosophischen Anthropologie zur „anthropologischen Wende“
Die Rezeption der Schlüsselargumente der philosophischen Anthropologie in der kritischen Theorie lässt sich in mehrere Phasen aufteilen, in denen jeweils unterschiedliche Texte und Autoren in den Vordergrund treten. Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der philosophischen Anthropologie richtet sich vor allem gegen Scheler und, nach dem Ende des . Weltkrieges, gegen Gehlen. Scheler wird als Denker dargestellt, dessen Analyse der „Grundstruktur des Menschseins“ eine begriffliche Hierarchie voraussetzt, die dem „dialektischen Charakter des Geschehens“ widerspricht und somit zu einer unmöglichen Aufgabe wird Horkheimer , ff . Die Gehlen-Rezeption wird aus historisch-biographischen Gründen stark politisiert. Letztere Tendenz betrifft auch die zweite Phase der Entwicklung der kritischen Theorie, die, genau wie die erste, unter dem Zeichen einer vorwiegend skeptischen Einstellung gegenüber den Methoden der philosophischen Anthropologie beginnt. Ein gutes Beispiel dafür bietet der von Jürgen Habermas verfasste Enzyklopädie-Artikel „Anthropologie“ Habermas , in dem Gehlens Betonung der züchtenden, die menschlichen Instinkte sublimierenden Rolle „irrationaler“ Institutionen als unkritische „Dogmatik mit politischen Konsequenzen“ bezeichnet wird Habermas , f. In den er-Jahren tritt – neben der sich weiterentwickelnden kritischen Rezeption von Gehlens anthropologischem Projekt – auch die Rezeption von Plessners Anthropologie allmählich in den Vordergrund. Den Ausgangspunkt bildet hier Habermasʼ Brief an Plessner, dessen )ragment in der Zeitschrift „Merkur“ sowie im Sammelband „Kultur und Kritik“ abgedruckt wurde: Vom Standpunkt der sprachtheoretischen Begründung der Intersubjektivität übt Habermas Kritik an Plessners Verständnis der Kommunikation sowie an seiner Opposition „Leib – Körper“ Habermas , ff . Einerseits wird diese Kritik auf eine produktive Weise mit Plessners – von Habermas hoch geschätzter – Idee der exzentrischen Positionalität des Menschen verbunden. Andererseits wird sie aber durch sprachphilosophische Argumente gelähmt, insofern Habermas unter anderem Lachen und Weinen
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nicht als )ormen der nichtsprachlichen Kommunikation sieht, sondern ihnen eine propositionelle Struktur zuschreibt siehe dazu Schloßberger , ff . Plessners Metapher des Spiegelbildes für die individuelle Erfahrung des „im Spiegel gegenständlich gewordenen“ Leibs, d.h. des eigenen Körpers, wird von Habermas mit George Herbert Meads Theorie der Reziprozität assoziiert, so dass Habermas in Mead einen „Geistesverwandten“ Plessners erkennt. Als fruchtbarere Alternative dazu schlägt Habermas jedoch seine eigene, strikt sprachtheoretisch orientierte Erklärung der Spiegelmetapher vor: Wäre es statt dessen nicht plausibler, die Struktur des Spiegel-Ichs […] unmittelbar aus der Struktur der sprachlichen Kommunikation abzuleiten – und die Bildung der Ich-Identität aus dem Erwerb der Sprachkompetenz, insbesondere aus der Einübung in das System der Personbalpronomina? Dann würde sich in dem Doppelaspekt von Leib und Körper die Doppelstruktur der Sprache bloß abbilden. Diese besteht darin, daß sich Sprecher und Handelnde auf intersubjektiver Ebene nur begegnen, wenn sie zugleich über Gegenstände oder Sachverhalte kommunizieren, und daß sie umgekehrt propositionale Gehalte nur austauschen können, wenn sie zugleich eine intersubjektive, d.h. nicht vergegenständlichte Beziehung zueinander aufnehmen Habermas , f.
Habermasʼ Interpretation beruht auf der Prämisse, dass die nichtsprachlichen )ormen der Kommunikation letztlich doch auf die Sprache zurückgehen, weil wir z.B. immer „über etwas“ lachen und weinen ebd., . Die Einseitigkeit dieses Zugangs wird u. a. dadurch erkennbar, dass das Argument von Habermas uns letzten Endes zu der absurden Vorstellung führt, menschliche Emotionen seien nur Epiphänomene der Erkenntnisse, die sich immer rational beschreiben ließen. In Habermas späterer Schrift „Die Zukunft der menschlichen 0atur“ Habermas wird die „alte phänomenologische Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben“ dennoch positiv umgewertet und als „überraschend“ aktuell betrachtet ebd., f . Diese Änderung in der Auffassung von Plessners Anthropologie verdankt sich meines Erachtens dem Einfluss von Axel Honneth, der auf die 0otwendigkeit einer tieferen Auseinandersetzung mit den nichtsprachlichen )ormen der Kommunikation hinweist. In Honneths anthropologisch fundiertem Modell des sozialen Handelns wird Habermas Kritik an Plessners Begriff der Kommunikation insofern in )rage gestellt, als Habermas die nichtlinguistischen )ormen der intersubjektiven Kommunikation nicht berücksichtigt und deswegen einen wichtigen ڲEinen völlig berechtigten Hinweis darauf macht Matthias Schloßberger, vgl. Schloßberger , f. ڳDie Begriffe „Leib sein“ und „Körper haben“ werden buchstäblich in Plessners „Lachen und Weinen“ verwendet Plessner , : „Ein Mensch ist immer zugleich Leib Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allen, was darin ist […] und hat diesen Leib als diesen Körper.“ Sie werden dann – in )orm der Opposition „Leibsein/ Körperhaben“ – bei Habermas und Honneth erwähnt sowie in den neuen systematischen Interpretationen von Plessners Philosophie benutzt siehe vor allem Krüger .
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
Teil von Plessners Argumentation übersieht bzw. missversteht. Mit Honneths Plessner-Rezeption in der Schrift „Soziales Handeln und menschliche 0atur“ Honneth/Joas sowie in seinen späteren Aufsätzen Honneth , Honneth , in denen eine breitere methodologische Kritik an Habermas sowie an Horkheimer, Adorno und Marcuse formuliert wird, beginnt eine kleine, aber sichtbare „anthropologische Wende“ in der modernen kritischen Theorie.
II. Schwerpunkte der Honnethʼschen PlessnerRezeption Die Opposition von Leibsein und Körperhaben wird bei Honneth einige Jahre nach der Publikation von Habermas Brief aufgenommen und auf einer festeren psychologischen und anthropologischen Basis weiterentwickelt. Seine Plessner-Rezeption beginnt während der Zusammenarbeit mit Hans Joas: Seit Ende der er-Jahre beschäftigen sich die beiden mit dem Thema der Intersubjektivität in Auseinandersetzung mit George Herbert Mead und mit den Schlüsselautoren der philosophischen Anthropologie, die Joas für zu Unrecht vernachlässigt hält Joas , . In den er Jahren entwickelt Joas seine früheren Thesen zu einer pragmatischen Theorie des sozialen Handelns, die in der publizierten Schrift „Pragmatismus und Gesellschaftstheorie“ Joas zusammengefasst wird. Anthropologische Thesen spielen auch eine zentrale Rolle in seiner späteren Monografie „Die Kreativität des Handelns“ Joas : Hier wird Plessners anthropologisches Problem der Beherrschung des eigenen Körpers zum festen Bestandteil des Joasʼschen Projektes der Rehabilitierung des Körpers aus der Perspektive moderner Handlungstheorien. Das zentrale Ergebnis der gemeinsamen Arbeit war die Studie „Soziales Handeln und die menschliche 0atur“, die laut ihren Autoren „unleugbar“ in der deutschen Tradition der philosophischen Anthropologie steht Honneth/Joas , . Die organische Grundlage des von ihnen entwickelten Modells des sozialen Handelns ebd., ff bildet Gehlens pragmatisch orientierter Begriff der menschlichen Handlung sowie seine Idee der Mangelhaftigkeit des menschlichen Wesens. Dank der kritischen Verbindung mit Meads Theorie der Sozialisation vgl. Déranty , ff wird diesen Ideen eine – in Gehlens „individualistischem Handlungsmodell“ Honneth/Joas, noch nicht präsente – intersubjektive Dimension verliehen. In demselben Kontext werden Plessners Gesetz der exzentrischen Positionalität in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ sowie seine Kernthesen zur kommunika-
ڴJoas promoviert an der )reien Universität zu Berlin mit einer Dissertation über Mead siehe Joas .
Alexey Zhavoronkov
tiven Expressivität in „Grenzen der Gemeinschaft“ und „Lachen und Weinen“ zum wichtigen Teil einer anthropologisch-praktischen Umwertung der Intersubjektivität. Die schlagendsten Ähnlichkeiten von Plessners „anthropologischer Hermeneutik“ mit Gehlens anthropologischem Projekt sehen Honneth und Joas im „metaphysikkritischen Ausgangsmotiv“ sowie in der „naturalistischen Grundorientierung“ ebd., . Dabei bleibe Plessners Stellung zur wissenschaftlichen Erfahrung grundsätzlich anders als diejenige Gehlens, insofern sie phänomenologisch frei von transzendentalen und ontologischen Voraussetzungen und nicht empirisch orientiert ist ebd., – . Auf allgemeiner theoretischer Ebene sehen Honneth und Joas in Plessners Anthropologie eine „)ortführung der lebensphilosophischen Hermeneutik Diltheys“, eine „naturalistische Wendung“ von dessen Theorie des alltäglichen Verstehens, insofern Plessner die „individuellen Ausdrucksweisen“ mit der menschlichen Leiblichkeit verbindet ebd., . Gerade in Plessners Betonung von leibgebundenem Umweltverhalten als „Balance zwischen Leibsein und Körperhaben“ ebd., , die sich durch seine )ormel der „exzentrischen Positionalität“ beschreiben lässt, erkennen Honneth und Joas das wichtigste Verdienst seines anthropologischen Projektes. In ihrer kritischen Rekapitulation der wichtigsten Thesen seiner „anthropologischen Hermeneutik“ heben sie drei Klassen der menschlichen Expressionen hervor, die jeweils mit der Balance von Leibsein und Körperhaben verbunden sind: die Sprache und die nichtsprachliche Geste als intersubjektive Zeichen mit propositionalem Gehalt bzw. )ormen der menschlichen Verfügung über den eigenen Körper , mimische Ausdrucksformen als körperliche Ausdrucksformen des menschlichen Leibes und die Ausdrucksformen des Lachens und Weinens. Letztere unterscheiden sich von Sprache und Geste durch ihren reaktiven Charakter sowie dadurch, dass sie zu jener Dimension gehören, in der die Leib-Körper-Balance nicht mehr aufrechtzuhalten ist. Mit Bezug auf Plessners „Stufen“ sowie auf „Lachen und Weinen“ wird die Beziehung zwischen den drei Ausdrucksformen folgendermaßen zusammengefasst: In den Ausdrucksfromen der Sprache und Geste verfügt der Mensch über seinen Körper, um etwas mitzuteilen; in den mimischen Ausdrucksgebärden tritt er als intentional handelndes Subjekt hinter seinen Leib zurück, die für ihn physische Erregungen körperlich austrägt. In den Expressionsweisen des Lachens und Weinens aber findet der Mensch überhaupt kein sinnvolles Verhältnis mehr zu seiner Körperlichkeit; sie gerät ihm in der akuten Desorientierung so außer Kontrolle, daß der Körper selbständig in automatismusähnlichen Eruptionen reagiert ebd., .
0un wird auch bei Joas und Honneth die Argumentationslinie von Habermas im Wesentlichen weitergeleitet. Die schwächste Stelle von Plessners Untersuchung der nichtsprachlichen Ausrucksformen sehen sie ebenfalls in der „solipsistischen Grundannahme“ ebd., , die die menschliche Exzentrizität bzw. die Leib-KörperSpannung „zur konstitutionellen Wurzel aller humanspezifischen Kompetenzen“ ebd., f macht, anstatt mehr Gewicht auf die intersubjektive Handlungsstruktur
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
zu legen. Plessners Analyse der Phänomene des Lachens und Weinens wird als ein besonders charakteristisches Beispiel betrachtet, weil sie der „inneren Spannung des einsamen Subjekts“ ebd., das Primat einräumt. Diese Kritik wird in Joas Monografie über Mead auf die gesamte philosophische Anthropologie ausgedehnt, indem Joas bei Gehlen und Plessner einen ähnlichen Mangel an Intersubjektivität feststellt: 0immt man nur die beiden ausgearbeitetsten und bedeutendsten Varianten [der philosophischen Anthropologie, AZ], die Gehlens und Plessners, dann läßt sich zeigen, daß Gehlens Anthropologie generell unter einem ungenügenden Begriff von Intersubjektivität leidet und die sachlichen Mängel seiner Sprachtheorie, Wahrnehmungskonzeption, Ethik und Institutionenlehre sich aus der politisch motivierten Ablehnung demokratischer Intersubjektivität ableiten lassen. Plessners Theorie wiederum zielt zwar mit Recht gerade auf die menschliche Expressivität als wesentlichen Bereich und leistet bedeutende Vorarbeit für eine anthropologische Grundlegung der Hermeneutik. Er engt diese aber durch die Bindung ans transzendentalphänomenologische Gerüst insoweit ein, als Intersubjektivität bei ihm in der als „exzentrischer Positionalität“ gedachten organischen Grundstruktur des Menschen begründet wird und nicht umgekehrt die Selbstreflexivität des Menschen – welche Plessner in der „Sinnlichkeit“ selber aufweist – aus den Strukturen der Zwischenmenschlichkeit begriffen wird Joas , .
Jedoch stimmen Joas und Honneth Habermas Kritik an Plessners Opposition von Leibsein und Körperhaben nur zu einem bestimmten Grad zu. Indem sie ebenfalls Plessners Unfähigkeit betonen, die Selbstwahrnehmbarkeit des Körpers auf eine intersubjektive Struktur zurückzuführen, kritisieren sie Habermas „vorschnelle“ Entscheidung, Intersubjektivität nur auf sprachliche Ausdrucksformen zu reduzieren Honneth/Joas , . Eine intersubjektivitätstheoretische Kritik an Plessner sollte, so Joas und Honneth, von einer rein sprachtheoretischen Interpretation Abstand nehmen und vielmehr unter Berücksichtigung der Schlüsselargumente von Meads Identitätstheorie, v. a. seines „I“-Begriffes im Sinne der individuellen Reaktion auf die Haltungen der anderen , erfolgen ebd. . Honneths und Joasʼ Solipsismusthese folgt nicht nur der These von Habermas, sondern auch der Meadʼschen Kritik an den solipsistischen Tendenzen des deutschen Idealismus. Obwohl nicht völlig klar ist, ob Honneth und Joas auf konkrete Stellen bei Plessner anspielen oder einfach eine pauschale Diagnose der anthropologischen Dimension seines Denkens bieten, können wir annehmen, dass es nicht nur um die )olgen der Exzentrizität, sondern auch um Plessners Verwendung des Ich-Begriffes geht. In der Tat stellt Plessner in den „Stufen“ fest, dass die Exzentrizität eine grundlegende Rolle zugleich für die Innerwelt der Seele und für die Außenwelt der 0atur spielt und dass jede „individuelle Person“ folglich „an sich selbst individuelles und allgemeines‘ Ich unterscheiden muβ“ Plessner , . Die
ڵIch danke Prof. Dr. Hans-Peter Krüger für den wichtigen Hinweis bezüglich Plessners Verständnis des Ich-Begriffes sowie der Rolle der Personalpronomina.
Alexey Zhavoronkov
Struktur der menschlichen „Daseinsweise“ treibt den Menschen dazu, „Du“, „Er“ oder „Wir“ zu sagen und sich somit in einem allumfassenden Zusammenhang von Perspektiven vieler einzelner Individuen zu positionieren. Als „Glied der Mitwelt“ steht jeder Mensch da, „wo der andere steht. In der Mitwelt gibt es nur Einen Menschen, […] die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen“ ebd., . Es geht dabei nicht um eine )orm von Solipsismus, sondern darum, dass die Mitwelt auch aber nicht nur für eine Person existiert und noch vor der Unterscheidung von „Ich“ und „Wir“ da ist. Als Sphäre wechselseitiger Bezüge exzentrischer Wesen Plessner bezeichnet sie als „Wir-)orm des eigenen Ichs“ , „trägt“ die Umwelt die Person und wird zugleich von ihr „getragen und gebildet“ ebd., f . Insofern weist Plessner eine größere 0ähe zu Meads symbolischem Interaktionismus auf als ihm im Lichte der Solipsismusthese zugestanden wird. Der in „Soziales Handeln und menschliche 0atur“ geäußerte Solipsismusvorwurf wird bei Honneth und Joas auch auf die sozialpolitische Dimension von Plessners Anthropologie erweitert. Die Tatsache, dass Plessner in „Grenzen der Gemeinschaft“ eine Kritik am Gemeinschaftsethos ausübt und den letzten Endes auf 0ietzsches machtbedingtes Verständnis der Kommunikation zurückgehenden Begriffen von Distanz bzw. Kälte und Panzer bzw. Maske eine grundlegende Rolle einräumt, wird von Honneth und Joas im Sinne einer Ablehnung der normativen Vorstellung einer herrschaftsfreien Kommunikation verstanden. In diesem Kontext wird Plessners Vorzug der individuellen Selbstbehauptung als „leibbedingter Egoismus“ interpretiert Honneth/Joas , , insofern Plessner eine rationale, sich intersubjektiv verstehende Gemeinschaft nicht zulasse und allein in der Gesellschaft nach einer psychophysischen Balance zwischen „persönlich-experimenteller Offenheit und intersubjektiv verpflichtender Selbstfestlegung“ suche ebd., f . Die in Plessners „Verspäteter 0ation“ betonte Gefahr des philosophischen 0ihilismus wird dann als Erweiterung seiner elitistisch orientierten und theoretisch nicht hinreichend begründeten Gemeinschaftskritik verstanden. Allerdings wird auf dieser Linie der Argumentation außer Acht gelassen, dass die Plessnersche Kritik sich nicht auf alle, sondern nur auf radikale )ormen der Gemeinschaft bezieht: Plessner sucht nach einem für die menschliche 0atur nötigen Gleichgewicht zwischen der Gesellschaft und einer Gemeinschaft, die ihre Grenzen nicht überschreitet und dadurch der Gefahr des Dualismus ausweichen kann.
ڶZur sozialen )unktion dieses Begriffes in Plessners Theorie der exzentrischen Positionalität siehe Lindemann . Lindemann löst das Solipsismusproblem ebenfalls dadurch, dass sie die exzentrische Positionalität als Verhalten eines exzentrisch-positionalen Selbst bzw. einer Person „aus der Perspektive anderer zu sich und zu anderen“ deutet ebd., . )ür eine Auseinandersetzung mit Habermasʼ und Joasʼ Kritik an Plessner siehe auch Lüdtke . ڷDenselben Kern der Argumentation sehen wir auch in Honneths Rezension des erschienenen Buchs von Rüdiger Kramme Kramme , vgl. Honneth , ff.
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
III. Honneth gegen Habermas: Die Rekonstruktion von anthropologischen Elementen der Kritischen Theorie Honneths Auseinandersetzung mit Plessners Gemeinschafts- und Gesellschaftsverständnis wie auch mit seiner Beschreibung der menschlichen Ausdrucksformen spielt auch in seinen späteren Schriften eine implizite Rolle. Hier wird sie vor allem mit Honneths methodologischer Kritik an Habermas – im Lichte der Revision der Grundlagen von Kritischer Theorie überhaupt – verknüpft. In seinem Artikel „Halbierte Rationalität“ unternimmt Honneth eine auf 0ietzsches Begriff der Genealogie hin orientierte Rekonstruktion der bisher vernachlässigten erkenntnisanthropologischen Aspekte der Kritischen Theorie, angefangen mit Marx und 0ietzsches Einflüssen auf Horkheimer und Marcuse. Mit erkenntnisanthropologischer Interpretation ist dabei vor allem die Kritik am Positivismus gemeint, die ihm die Leugnung der „lebenspraktischen Wurzel“ der Wissenschaften unterstellt. Diese Kritik setzt ihrerseits voraus, dass die empirischen Wissenschaften auf eine „natürliche“ Interessenbasis reduziert werden können, wobei diese Basis jedoch letzten Endes weder von Horkheimer noch von Marcuse hinreichend geklärt wird: Laut Honneth liegen Horkheimers und Marcuses Schwierigkeiten darin, dass sie noch in zu großer Abhängigkeit vom traditionellen Marxismus bleiben d. h. die Antwort nur in Marxens Begriff der kooperativen Arbeit im Lichte der Idee der 0aturbeherrschung suchen und deswegen die Thesen des amerikanischen Pragmatismus für die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme nicht fruchtbar machen können Honneth , . Diese Erkenntnisstrategie führt zu einem unlösbaren Widerspruch: Denn „es ist höchst unplausibel, auf der einen Seite zu behaupten, dass experimentell gewonnenes Wissen stets in die technische Verfügung über 0aturprozesse zurückfließt, und im gleichen Atemzug aber hervorzuheben, dass ein in demselben Handlungszusammenhang erworbenes Wissen auch der kritischen Einsicht in Herrschaft und Unterdrückung dient“ ebd., .
ڸVgl. Honneth zu seiner früheren Rekonstruktion der Gesellschaftskritik innerhalb der Kritischen Theorie: „Aber erst der letzte Schritt meiner kurzen Bemerkungen soll zeigen, worin die eigentliche Pointe des Modells von Gesellschaftskritik liegt, dem die )rankfurter zumindest der Idee nach gefolgt sind; hier wird nämlich, so möchte ich zeigen, in Verarbeitung der Erfahrung des 0ationalsozialismus in das rekonstruktive Programm ein metakritischer Gesichtspunkt eingebaut, der sich der Einbeziehung der Genealogie 0ietzsches verdankt. Das Ergebnis dieser Verschmelzung von Hegel und 0ietzsche ist die Idee einer Gesellschaftskritik, in der die immanente Kritik an den gegebenen Verhältnissen unter dem genealogischen Vorbehalt steht, dass die in Anspruch genommenen 0ormen oder Prinzipien längst ihren ursprünglichen Sinngehalt verloren haben könnten“ Honneth , .
Alexey Zhavoronkov
Die Beiträge von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas zur Lösung dieser Schwierigkeit etwa Habermas Begriff des „emanzipatorischen Interesses“ werden von Honneth als Erweiterung und Vertiefung der erkenntnisanthropologischen Interpretation verstanden im Sinne einer produktiven Benutzung von Motiven des amerikanischen Pragmatismus sowie von Gadamers Hermeneutik und Hannah Arendts Praxisphilosophie ebd., f . Bei Habermas wird neben der anthropologischen These über die Rolle der technischen Mittel der menschlichen Beherrschung der 0atur „instrumentelle Verfügung“ auch die These über intersubjektive bzw. sprachliche Verständigung „über geteilte Sinnhorizonte“ als Antwort auf die )rage nach den Reproduktionsbedingungen der menschlichen Gattung vorgestellt ebd., f . Somit entsteht eine implizite methodologische Brücke zwischen Habermas Suche nach einer erkenntnisanthropologischen Rechtfertigung der empirischen Wissenschaften und Honneths Analyse der Möglichkeiten einer pragmatischen Interpretation und intersubjektiven Erweiterung der anthropologischen Thesen Gehlens und Plessners. Honneths Rekonstruktion der anthropologischen Dimension der Habermasʼschen Theorie der Kommunikation und des Handelns findet ihren Ausdruck auch im Beitrag für das „Habermas-Handbuch“, unter dem Titel „Geschichtsphilosophie, Anthropologie und Marxismus“. Honneths Schlüsselthese lautet, dass die philosophische Anthropologie für Habermas „die tiefliegendste, basalste Schicht“ seines Denkens bilde Honneth , . Allerdings geht es in diesem Kontext nur um die Einflüsse von Gehlens Handlungstheorie sowie von seiner Vorstellung des Menschen als einem „sich in seiner natürlichen Umwelt verhaltenden“ Wesen ebd. , nicht jedoch um Plessners Begriff der exzentrischen Positionalität bzw. um seine Thesen zur Mitwelt und zu menschlicher Kommunikation. Die Umwertung der Rolle von Plessner – und von Argumenten der Philosophischen Anthropologie im Ganzen – in der Geschichte der Kritischen Theorie sowie im Kontext ihrer modernen Probleme und Aufgaben ist, trotz bestimmter Ähnlichkeiten, durch wesentliche methodologische Unterschiede zwischen Honneth und Habermas bedingt. Eine der Ursachen dieser Unterschiede besteht in der Abschätzung der Rolle von Hegels Jenaer Schriften für die Analyse der Kommunikation. In seinem Aufsatz „Arbeit und Interaktion“ von verwendet Habermas Hegels Unterscheidung von drei )ormen der zwischenmenschlichen Beziehungen Sprache, Arbeit und Liebe zur Erklärung der Grundlagen gesellschaftlicher Reproduktion sowie des Prozesses der „kommunikativen Einigung entgegengesetzter Subjekte“ Habermas , . In diesem Sinne versteht Habermas Hegels „Geist“ als Mittel der Kommunikation, insofern das Selbstbewusstsein des Individuums „erst auf der Basis wechselseitiger Anerkennung“ entstehe ebd., . Obwohl Honneth ebenfalls auf Hegels Schriften dieser Periode zurückgreift, richtet sich sein Interesse nicht auf den Geistesbegriff oder auf den Arbeitsbegriff in der „Realphilosophie“ / , sondern vor allem auf den Begriff der Anerkennung im Kontext einer intersubjektiven Interpretation des Hegelschen „System[s] der Sittlichkeit“ / . Dabei wird seine Analyse
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
auch durch Bezug auf Hegels späteres Werk „Grundlinien der Philosophie des Rechtes“ , in dem die Sittlichkeit wiederum thematisiert wird, erweitert siehe auch Petherbridge , , )ußnote . Diese Richtung der Hegel-Interpretation bildet die wichtigste Grundlage von Honneths bahnbrechender Habilitationsschrift „Kampf um Anerkennung“ wie auch seiner späteren Schriften zu diesem Thema. Hier tritt die frühere Kritik an den Schlüsselthesen von Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ zurück zugunsten der Betonung des natürlichen Charakters der philosophischen Dreiteilung von Anerkennungformen Liebe, Recht und soziale Wertschätzung , die jeweils für eine bestimmte Sphäre des menschlichen Lebens charakteristisch sind. Schelers Begriffe „Lebensgemeinschaft“, solidaritätsbasierte „Personengemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sowie Plessners Trias „Blutgemeinschaft – Sachgemeinschaft – Gesellschaft“ werden in diesem Kontext mit Hegels Einteilung „)amilie – bürgerliche Gesellschaft – Staat“ in Verbindung gestellt. Hegels Trias erhält bei Honneth ihr systematisches Gewicht durch seine Anknüpfung an George Herbert Meads Theorie der wechselseitigen Beeinflussung von Individuen Honneth , f . Die „anthropologische“ Linie von Honneths Kritik an Habermas, die Plessners und Gehlens Thesen einbezieht, umfasst auch diejenigen Ideen Meads, die von Habermas nicht akzeptiert oder kritisiert werden vor allem in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ . Genau wie Plessner erkennt Mead die Bedeutsamkeit der nichtsprachlichen Ausdrucksformen Gesten und Gebärden in der menschlichen Interaktion, indem er seine Analyse nicht auf die Kommunikation im Rahmen eines bestimmten Sprachsystems beschränkt, sondern den Begriff der „symbolvermittelten Interaktion“ verwendet. Seine Position erläutert Mead am Beispiel von zwei miteinander kämpfenden Hunden: Während der eine seine Aggression durch Knurren demonstriert, reagiert der andere instinktiv, etwa durch Einziehen des Schwanzes. Dieselben Situationen entstehen auch in der menschlichen Kommunikation, in der bestimmte Gesten etwa bei spontanen, unbewussten Reaktionen sich nicht in eine artikulierte Sprache übersetzen lassen bzw. sollen: There is an indefinite number of signs or symbols which may serve the purpose of what we term „language“. We are reading the meaning of the conduct of other people when, perhaps, they are not aware of it. There is something that reveals to us what the purpose is-just the glance of an eye, the attitude of the body which leads to the response. The communication set up in this way between individuals may be very perfect. Conversation in gestures may be carried on which cannot be translated into articulate speech. This is also true of the lower animals. Dogs approaching each other in hostile attitude carry on such a language of gestures. They walk around each other, growling and snapping, and waiting for the opportunity to attack. Here is a process out of which language might arise, that is, a certain attitude of one individual that calls out a response in the other, which in turn calls out a different approach and a different response Mead , .
Laut Mead sind Menschen, im Gegensatz zu Tieren, zur Verzögerung ihrer Reaktion fähig: Durch den Prozess des Denkens können sie dem Handeln einer anderen Per-
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son sowie der eigenen Reaktion einen Sinn verleihen ebd., . Habermas sieht in solchen Thesen einen Mangel an begrifflicher Differenzierung, die zur Vernachlässigung der Grundlagen der Handlungskoordinierung und überhaupt der sozialen Aspekte der Interaktion führe und einen direkten Übergang von symbolischer Kommunikation zum normativ orientierten Handeln unmöglich mache: Den Übergang von der gestenvermittelten zur symbolisch vermittelten Interaktion hat Mead, wie gezeigt, ausschließlich unter dem Kommunikationsaspekt betrachtet; er zeigt, wie aus Gesten Symbole entstehen und aus natürlichen Bedeutungen symbolische, d.h. intersubjektiv geltende Bedeutungskonventionen. […] )ür die weitere Entwicklung trifft das nicht mehr zu; eben diesem Umstand trägt Mead nicht Rechnung. 0achdem er die Signalsprache konstruiert hat, beschränkt er sich auf die Aspekte der Handlungskoordinierung und der Vergesellschaftung […]. Hier sieht Mead die Vergesellschaftung auf ontogenetischem Blickwinkel als die sprachvermittelte Konstitution des Selbst; und der erklärt diese Konstruktion einer Innenwelt erneut mit Hilfe des Mechanismus der Einstellungsübernahme. Aber nun übernimmt Ego nicht Alters Verhaltensreaktionen, sondern dessen bereits normierte Verhaltenserwartungen Habermas , f.
Aus der Perspektive von Habermas lässt sich die Gültigkeit von Meads Argumentation nur auf die „einfachste“ Sphäre der unmittelbaren persönlichen Interaktion reduzieren vgl. Joas , f . Honneth wie auch Joas sehen darin ein Missverständnis, das aus einer nicht nötigen Einschränkung des Mead schen Begriffes der symbolischen Interaktion auf signalsprachliche Kommunikation entspringt. Honneths Mead-Interpretation versteht ihn als Denker, der wichtige Einsichten bezüglich der sozialen Rolle des menschlichen Körpers mit Plessner teile und diese auf die Ebene des sozialen Handelns erweitere. In diesem Kontext lässt sich Plessners Gesetz der exzentrischen Positionalität mit Meads Unterscheidung zwischen „Ich“ und „Mir“ verbinden. Ein weiterer, auf den ersten Blick wohl nicht selbstverständlicher Aspekt, der Honneths Haltung zur philosophischen Anthropologie im Kontext der von ihm unternommenen Rekonstruktion bestimmt, ist die anthropologische Interpretation der Ideen )riedrich 0ietzsches. Den ersten Impuls für Honneth, den Einfluss von 0ietzsches Positivismuskritik sowie von seiner lebenspraktischen Orientierung auf Horkheimer und Adorno aus der anthropologischen Perspektive zu betrachten, hat wohl seine Gehlen-Rezeption gegeben, insofern Gehlen wichtige Teile seines anthropologischen Projektes in erster Linie die Thesen zur Mensch-Tier-Unterscheidung als Ergebnisse der Weiterentwicklung von 0ietzsches Argumenten betrachtet. Durch Honneths rekonstruktiv-genealogischen Bezug auf 0ietzsche entsteht eine komplexe Spannung zwischen seiner Stellung zu Plessner, Adorno und Habermas sowie zu Plessners kritischer 0ietzsche-Rezeption. Einerseits sehen wir eine deutliche Kluft zwischen Habermas zugespitzt negativer Einschätzung von 0ietzsches Philosophie auch im Lichte eines umfangreichen Einflusses 0ietzsches auf Adorno, den Ha-
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
bermas als höchst bedauernswert charakterisiert und Honneths Versuch, einen neuen Begriff der sozialen Kritik durch eine „Verschmelzung“ von Hegel und 0ietzsche zu gewinnen. Andererseits steht gerade der aus Honneths Sicht problematische Teil von Plessners anthropologischer Argumentation nämlich seine Kritik an zwei Gemeinschaftsformen unter dem Zeichen einer expliziten Ablehnung und – zugleich – einer impliziten Übernahme: Plessner kritisiert Marxens und 0ietzsches Radikalisierung der Gemeinschaftsidee, verwendet aber zugleich 0ietzsches Begriffe der „Maske“ und der „Distanz“ für die Beschreibung der sozialen Kommunikation. Auch Plessners Kritik an Leib-Seele-Dualismus und seine Vorstellung von der Ganzheit des Organischen, die die Grundlage des Begriffes der exzentrischen Positionalität ausmachen, lassen sich auf 0ietzsche zurückführen, wobei Plessner die genannten Parallelen nicht explizit betont. Da Honneths späterer, für seine Schriften der letzten Jahre charakteristischer Zugang zur anthropologischen Problematik eine Ausweitung der Perspektive über den Rahmen der Philosophischen Anthropologie als Disziplin hinaus in Auge hat, wird 0ietzsche in seine Rekonstruktion inkorporiert. Die Suche nach bisher verschwiegenen oder nicht als solchen verstandenen anthropologischen Aspekten der Kritischen Theorie wird somit auch zur Reevaluierung ihrer Quellen. Die )rage, ob der Plessner-Rezeption in diesem Lichte eine zentrale Rolle in der anthropologischen Dimension von Honneths Theorien der Handlung und der Anerkennung gehört, lässt sich dennoch nur unter wesentlichem Vorbehalt positiv beantworten. Honneths Solipsismusvorwurf an Plessners Verständnis des Körpergebrauchs ist nicht nur eine Weiterführung der Habermas schen Plessnerkritik: Er lässt sich zugleich als Erweiterung der – ebenfalls bereits bei Habermas wie auch bei Hegel präsenten – antikantischen argumentativen Linie verstehen, die unter anderem auf dem Monologimusvorwurf an Kants Begriff des sittlichen Handelns fußt. Honneths Gemeinschaftsbegriff verliert mit der Zeit an Schärfe, wozu passt, dass Honneth seine zugespitzte These über Plessners )eindschaft gegenüber jeglichen gemeinschaftlichen )ormen indirekt zurückzieht. Der Kern seiner sozialpolitischen Kritik an Plessner bleibt dennoch erhalten: Plessner unterschätze die Rolle der Gemeinschaft als eines öffentlichen Raums der Kommunikation und Grundlage der menschlichen Solidarität und daher auch der wechselseitigen Anerkennung , indem er ihre Gefahren für die Individualität und menschliche Würde betont und
ڹVgl. etwa Habermas , f zu den Parallelen zwischen Horkheimers und Adornos „grenzenlosem Skeptizismus“ gegenüber der Vernunft v.a. in der „Dialektik der Aufklärung“ und 0ietzsches „nihilistischer Diagnose“ der Philosophie. ںVgl. Habermas , in Anlehnung an Hegels Kant-Kritik : „Die moralischen Gesetze sind abstrakt allgemein in dem Sinne, daß sie, indem sie für mich als generelle gelten, eo ipso als für alle vernünftigen Wesen geltend gedacht werden müssen. Deshalb löst sich die Interaktion unter solchen Gesetzen auf die Aktionen einsamer und selbstgenügsamer Subjekte, von denen jedes so handeln muß, als sei es das einzige existierende Bewußtsein […].“
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dem Begriff der Distanz eine primäre Rolle zuordnet. Trotz dieser Vorbehalte, die zum Teil durch eine tiefere Analyse von Plessners Begriff der Mitwelt beseitigt werden könnten, ist der Bezug auf Plessner für Honneth unabdingbar, insofern er biologische Voraussetzungen des sozialen Handelns untersucht und zugleich nach den Möglichkeiten einer gegenseitigen Bereicherung der philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie fragt. 0icht in Habermas Verengung der Perspektive auf die sprachliche Verständigung der vernünftigen Individuen, sondern gerade in der sich an Plessners Ideen orientierenden Analyse der menschlichen Weltbeziehung, die auf der Voraussetzung der „Erfahrbarkeit seines eigenen Körperverhaltens“ Honneth , beruht, wird die Antwort auf die )rage nach den Grundlagen der Intersubjektivität gefunden.
Die anthropologische Umwertung der Intersubjektivität
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Hg. : Akteur – Individuum – Subjekt: )ragen zu „Personalität“ und „Sozialität“, Wiesbaden, – . Mead, George Herbert : Mind, Self and Society from the standpoint of a social behaviorist, Chicago. Petherbridge, Danielle : The Critical Theory of Axel Honneth, Plymouth. Plessner, Helmuth : Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften, Band IV, )rankfurt a.M. Plessner, Helmuth : Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens , in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band VII, )rankfurt a.M., – . Schloßberger, Mathias : Habermas’ new turn towards Plessner’s Philosophical Anthropology, in: de Mul, Jos Hg. : Plessner’s Philosophical Anthropology: Perspectives and Prospects, Amsterdam, – .
IV. Archiv/Essay/Rezensionen
Archiv
Theodor W. Adorno
Notizen zur neuen Anthropologie* Die neue Anthropologie, d.h. die Theorie des neuen, unter den Bedingungen des Monopol- und Staatskapitalismus sich bildenden Menschentypus steht in ausdrücklichem Gegensatz zur Psychologie. Die Psychologie hat zum Zentralbegriff das Individuum. Dieser Begriff ist in entscheidenden Stücken außer Kurs gesetzt oder wenigstens durchlöchert. Er gehört zum Liberalismus und zu einer Welt, die sich zwischen den Polen von )reiheit und Konkurrenz bewegt. Beides gibt es nicht mehr. Die Repräsentanten des neuen Typus sind keine Individuen mehr, d.h. die Einheitlichkeit, Kontinuität und Substantialität des Einzelnen ist aufgelöst. Sie sind in der Tat so, wie sich der Behaviorismus, der nicht umsonst im Land des avanciertesten Monopolkapitalismus entstanden ist, die Menschen vorstellt. Vielleicht haben sich die Behavioristen das Bild des ersten Menschen nach dem des letzten geformt. Oder der jetzige Typ ist wirklich regressiv im Sinn einer Depersonalisation, die weit hinter das Stadium der abendländischen Geschichte zurückfällt. Die Unangemessenheit der Psychologie ist unter zwei Gesichtspunkten zu entwickeln: gegenüber der Psychoanalyse und gegenüber der Sozialpsychologie. Die Psychoanalyse ist ganz und gar liberal und individualistisch. Der )reudsche Satz, daß „alle unsere Erlebnisse einen Sinn haben“, d.h. daß alle innerhalb eines in sich geschlossenen, durch die Einheit der Person definierten Zusammenhanges stehen, von dem aus sie sich konstituieren, macht jedes Individuum zu einer kleinen Autarkie, einer Art konkurrierenden )irma. Ihr steht die Gesellschaft und der von ihr geforderte Triebverzicht als etwas Äußerliches, als „Lebensnot“ gegenüber. Es wird zu zeigen sein, daß genau diese Grenze nicht mehr gilt, d.h. daß die gesellschaftlichen Instanzen das Individuum selber beschlagnahmt haben, daß dieses offen ist, und daß der Begriff eines einstimmigen durchgehaltenen Sinnes der Erlebniskontinuität nicht mehr zutrifft. Ebenso ist der Begriff der Triebökonomie an liberale Voraussetzungen gebunden. )reud stellt sich die Triebprozesse als eine Art Äquivalententausch vor. Die Tauschschemata des Triebs, die )reud aufstellt, gelten aber nicht mehr, sobald das Ich nicht mehr die Verfügungsgewalt über die ihm unterstehende Triebmenge hat. Wenn sich Kollektivsubjekte bilden, dann ist die ganze Triebökonomie mitsamt dem Lustmechanismus außer Kraft gesetzt. )reud hat in seinen avanciertesten Arbeiten,
* Ein Erstabdruck des zugrundeliegenden Typoskripts Ts – aus dem Theodor W. Adorno Archiv ist, ohne die handschriftlichen Marginalien Adornos und mit Anmerkungen von Rolf Tiedemann, in den )rankfurter Adorno Blättern VIII, im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs herausgegeben von Rolf Tiedemann, in der edition text + kritik erschienen. )ür die freundliche Genehmigung, diesen Text hier erneut zu veröffentlichen, danken wir der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur als Inhaberin der urheberrechtlichen 0utzungsrechte an den Werken von Theodor W. Adorno.
Theodor W. Adorno
vor allem in „Jenseits des Lustprinzips“, etwas davon geahnt, aber nicht die Konsequenzen daraus gezogen. Der Begriff der Verdrängung gilt nicht mehr. Die heutigen Massenmenschen verdrängen sehr wenig so wie in dem Verfall der )amilie die sexuellen Tabus abgestorben sind . Die Ichinstanz, die die Verdrängung bedingt, fehlt. Trotzdem aber sind sie in einem tieferen Sinn „abnorm“, weil ihr 0ichtVerdrängen und ihre Triebbefriedigung in einer merkwürdigen und verstümmelten Weise sich durchs Kollektivsubjekt konstituiert. Es muß genau gezeigt werden, warum das gegenwärtige 0icht-Verdrängen noch bedenklicher ist als das alte Verdrängen. Auch der Begriff des Unbewußten gilt nicht mehr im alten Umfang. Eigentlich wissen alle genau, wie es ist, und an die Stelle der alten Zensur tritt heute der Trotz und die universale )eindschaft. Dazu siehe besonders den Schluß von „Likes and Dislikes“ und der „Musikalischen Warenanalysen“ Veränderungen in der Apperzeption. )ragen des Jahrgangs. Imitation der Bilder. Verdinglichung des Menschen als 0achahmung der Dinge. Das Problem der Astrologie. Kein Einfluß mehr. Ersetzung der Vater- und Mutterimago durch die unmittelbare gesellschaftliche Macht. Die Agentur der )amilie ist eingezogen. Gilt in Amerika ebenso wie im )aschismus. Problem der Arbeitspsychologie. Die durch die heutigen Produktionsweisen geforderten Verhaltensweisen werden übertragen. Das Astrologische des Typus, wie es in Horvaths Roman richtig zum Ausdruck kommt, gewisse historische Archetypen der Epoche werden von den Menschen nachgeahmt. Adjustment heißt weithin 0achahmung. Sekurität hat nichts mit dem alten bürgerlichen Sicherheitsideal zu tun, sondern besteht hauptsächlich darin, sein Leben so einzurichten, daß es an keiner Stelle über die jeweils gegebenen und vorfindlichen Situationen hinausführt. Die Diskontinuität ist ein Schutz vor der Angst. Der Begriff des analen Charakters gilt nicht mehr. Der Warenfetischist neuen Stils wünscht weit eher den Waren zu gleichen als sie für die Dauer zu besitzen. Die Beziehungslosigkeit betrifft die Objekte ebenso wie die Subjekte. Kaufgier und Wegwerfen sind Äquivalente. Der Haß gegen alles, was nicht up to date ist, ist das Gegenteil des Analen. Die Art, in der der neue Typus das eigene Glück substituiert durch die Teilnahme an kollektiven Veranstaltungen, durch das abstrakte Dabeisein, ist im Grunde schon genau dasselbe wie die Opfer faschistischer )lieger und Unterseebootskapitäne. Auch der Begriff des „Egoismus“ ist wegen Mangels an ego auf den neuen Typus nicht anzuwenden. * Bei aller neueren amerikanischen Romanliteratur wird man ein Gefühl des Betrugs nicht los. Dieser Betrug hat nichts mit dem Inhalt zu tun, der des besten Willens sein mag. Er liegt viel mehr in dem Anspruch des Erzählens selber. Alle diese Romane scheinen implizit zu sprechen: es ist noch gar nicht alles gleich, es ist noch gar nicht
Notizen zur neuen Anthropologie
alles vom Monopol beherrscht, vor allem aber: man kann noch Erfahrungen machen. 0och in den 0egergreuelgeschichten von Wright steckt etwas von dem Anspruch, episch so berichten zu können, als wäre man Johann Peter Hebel. Der Begriff der Pseudoindividualisierung, d.h. die Verkleidung der Standardisierung durch den Schein des Besonderen, ist für die gesamte neuere amerikanische Prosa charakteristisch. Am deutlichsten ist dieser Betrug in gewissen Erzeugnissen der unteren Literatur, etwa Detektivromanen, wo die bloß verkleidende )unktion des Konkreten ganz offenbar ist. Aber auch sonst dient im Grunde das Elend der californischen wandernden Arbeiter nur dazu, das der drugstores, cafeterias und Gasolinstationen von 0ew York zu verbergen. Benjamins Begriff der Erfahrung bezieht sich auf das Besondere, und fast ließe sich die ganze Anstrengung seiner Philosophie definieren als ein Versuch der Rettung des Besonderen. Das Schändliche in Amerika besteht darin, daß gerade hier, wo das Besondere vom Allgemeinen völlig zerstört ist; wo anstelle der Erfahrung die Wiederholung des Immergleichen tritt, der Versuch gemacht wird, das Besondere als überlebend darzustellen. Im Grunde schreien alle Amerikaner unablässig von sich aus, was sie meinen Arbeiten entgegenhalten: man darf nicht generalisieren. In Wahrheit sind sie es aber, die längst generalisiert haben. Die Zerstörung der Erfahrung durch das Allgemeine, als dessen bloßer Repräsentant alles Einzelne fungiert, ist aber nichts anderes als die Universalität der gesellschaftlichen Herrschaft, die nichts mehr übrigläßt, was nicht von oben her, aus seinem Begriff, nämlich aus seiner ökonomischen Kategorie, bestimmt wäre. Was Benjamin den Zerfall der Aura und die Zerstörung der Erfahrung nennt, ist im Grunde identisch mit dem gesellschaftlichen Totalitätsprinzip. Dieses hat sich in den Bewußtseinsformen viel früher durchgesetzt als in der politischen Realität und zwar derart, daß es das Einmalige und Besondere in seiner Ohnmacht Lügen strafte, schon ehe es ökonomisch und politisch ganz depotenziert war. Benjamin hat gesagt, die Aura sei an das Hic et nunc des Besonderen gebunden gewesen. Das Gleiche gilt aber auch für das, was erzählt werden kann. Wo das Hic et nunc fungibel geworden ist, ist das Recht der Erzählung dahin. Das ist der tiefste Grund dafür, warum eigentlich die Sprache überhaupt nicht mehr existiert und warum sich gar nichts mehr sagen läßt. Denn die Sprache erhebt immer noch von sich aus den Anspruch des Erzählens, den die Welt nicht mehr einlöst. Was sich nicht erzählen läßt, läßt sich aber auch nicht erfahren. Erfahrung ist das Bestehen auf der 0ichtidentität. Die geschändete Erfahrung heute aber ist nur der Unterschlupf der Ideologie, die verhüllt, was offen sich nicht ertragen ließe, und damit zum )ortbestehen des Unerträglichen hilft. Was eigentlich gegen Hamsun einzuwenden ist, ist wahrscheinlich nichts anderes, als daß er im Angesicht einer der Erfahrung entfremdeten Wirklichkeit die Geste der Erfahrung festhält. Er ist der Vater jener ominösen alten weisen Männer des amerikanischen Radios, die den Wild-West-Männern aus dem Schatz ihres langen Lebens Ratschläge erteilen, die im nächsten Augenblick dazu dienen, ihren kindlichen Zuhörern den Kauf eines bestimmten )rühstücksbreis aufzureden.
Theodor W. Adorno
Wenn Reklame die Erfahrung zerstört hat, dann hat sie zugleich die Erfahrung zum Mittel der bloßen Reklame gemacht. * Daß die neue Anthropologie nicht in psychologischen Begriffen ausgeführt werden kann, ist aus der Gesellschaft selber abzuleiten. Im gegenwärtigen Stadium ist die Konkurrenz dem Diktat gewichen und andererseits die )ungibilität des Menschen vollkommen geworden. Die Umsiedlungen, die Hitler vornimmt, verwirklichen eine in der Entwicklung der industriellen Technik latente Tendenz, nämlich die, daß jeder an jede Stelle gestellt werden kann. Daß es zur Ichbildung nicht mehr kommt und daß die Erlebnisse nicht mehr ihren Sinn aus der Einheit der Person empfangen, ist aus den gesellschaftlichen Bedingungen des Arbeitsprozesses abzuleiten. Motive: Das Weichwerden der Monade, die den hoffnungslosen Konkurrenzkampf aufgibt. Die Grenze zwischen dem Individuum und der Realität beginnt zu erzittern. Hierher gehören massenneurotische Phänomene, die Schlüsselcharakter für die neue Anthropologie haben, wie der Orson Welles-)all, der Glaube an die Wirklichkeit des Lone Ranger, der Kult von )ilmheroen usw. Wagner als Modell. Der Verzicht auf die Kontinuität der Person als Mittel, sich am Leben zu erhalten. 0ur der hat Chancen zu überleben, der bereit ist, sich „anzupassen“ unter völliger Depersonalisation. Das Modell dieser Verhaltensweise liegt wahrscheinlich bei der Berufswahl unzähliger Personen in der Zeit der Pubertät. Die Veränderung in der erotischen Sphäre hängt mit der Aufgabe der Kontinuität zusammen. Wärme ist das was überdauert. Wärme ist eine )unktion des Gedächtnisses. Die entscheidende Kategorie ist die der Dankbarkeit. Genau diese verschwindet. Der erotische Partner wird statt dessen verachtet: die Verachtung ist Ausdruck des Trotzes, der dem Bewußtsein der Glücklosigkeit entspringt. In den charakteristischen )ällen Jugendlicher Kranzprozeß ebenso wie bei Horvath ist von besonderer Wichtigkeit das immer wieder vorkommende Bekenntnis der Hauptbeteiligten, sie hätten den erotischen Partner, um dessentwillen oder an dem das Verbrechen verübt worden ist, gar nicht geliebt. Eine gewisse Schlüsselfunktion für die neue Anthropologie hat das, was ich die Abdeckerei-Atmosphäre nennen möchte. Die Leiche, überhaupt der Leib wird zu einem „Stück Dreck“ das steckt auch im Sadismus der Konzentrationslager, wo dem Leib attestiert wird, daß er nur Dreck ist . Hier liegt ein entscheidendes Moment für die Dezivilisierung. Der Dreckhaufen, der Autofriedhof, der Hinterhof der Abdeckerei, die ersäuften Katzen, – alle diese apokryphen Bereiche vom Rand der Zivilisation treten plötzlich ins Zentrum. Die Zerstörung der Tabus bedeutet keine Befreiung, sondern vielmehr den Selbsthaß. Eigentlich ist es so, als würden die bis jetzt vom Über-ich besetzten Ta-
Notizen zur neuen Anthropologie
bus an die offene gesellschaftliche Macht transferiert. Es ist allen Äußerungen der Lust und des Genusses des neuen Typus gemeinsam, daß in ihrem Innern kein Glück wohnt. Die eilige Promiskuität des Arbeitslagers, das Grinsen des jitterbugs, die Lustlosigkeit der gewonnenen Schlachten stimmen darin völlig überein. Das Glück ist enteignet, es wird unmittelbar der Gesellschaft gutgeschrieben, ohne daß man selber irgend noch teil daran hat. Die Art Glück, dessen die angeblich hemmungslosen Repräsentanten des neuen Typus teilhaftig werden, verhält sich zum eigentlichen wie die Arbeitslosigkeit zur Abschaffung der Arbeit. Es muß im einzelnen dargestellt werden, wie die Menschen die Produktionsweise auf ihr Leben übertragen und wie schließlich die Produktionsverhältnisse anstelle der Psychologie treten. Dazu etwa die psychologisch gar nicht verständliche Tatsache, daß die Menschen, wo sie dem mechanistischen Produktionsprozeß auszuweichen trachten, in ihrer )reizeit ihn nur reproduzieren. Ihr Genuß besteht in Stoß und Wiederholung wie die Tätigkeit der Maschine. Der neue Menschentypus ist der, für den alle Sprichwörter außer Kraft gesetzt sind. Eine Liste unwahr gewordener Sprichwörter ist zu geben, z.B. „Strenge Herren regieren nicht lange“, „Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute“, „Wer den Pfenning nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“. Man könnte beim neuen Typus von erworbenem Analphabetismus sprechen. Die Konfiguration von Schlauheit und Schwachsinn, wie sie früher am Rand der bürgerlichen Gesellschaft bei Outcasts und Dirnen zu beobachten war, ist heute allgemein geworden. Sie hat sich von den )rauen über die sogenannten Jugendlichen an die Männer verbreitet. Das Studium der deutschen Inflation. In ihr haben sich gewissermaßen mit Blitzlichtbeleuchtung und ganz plötzlich die Typen abgezeichnet, die dann später die Welt besetzt haben. Die Salvarsan und Kokain schiebenden Gymnasiasten der ersten 0achkriegsjahre, die Dielenbesucher und heruntergekommenen Haustöchter haben gewissermaßen die Modelle der späteren Massen gestellt. * Einer der Gründe der Bildung des neuen Typus ist die Tatsache, daß immer mehr junge Bürger dessen innewerden, daß sie nicht mehr akkumulieren können. Das traditionsbildende Element des Besitzes geht verloren. Was früher so nur vom Proletarier galt, gilt jetzt für alle. Vielleicht kommt die Veränderung des Menschen mit dadurch zustande, daß es auf der einen Seite keine Dinge mehr gibt, die man für immer zu behalten hoffte, vererben zu können dächte, und daß auf der anderen Seite durch die Massenproduktion überhaupt kein Ding mehr der Mühe wert ist behalten zu werden. Überhaupt das Hinfälligwerden der Erbschaft sowohl als etwas, worauf man selber rechnen kann, wie als etwas, was man seinen Kindern weitergibt.
Theodor W. Adorno
* Die ganze )rage der Ordnung der Generation muß in der neuen Anthropologie aufgerollt werden. Das Ödipusproblem als eines der Ordnung des Besitzes zwischen Generationen. Ungültigkeit des Ödipusproblems für die neue Anthropologie. * Ob die bürgerliche Klasse überhaupt jemals eigentlich Erfahrungen hat machen können. Ob nicht die Pseudomorphose des Bürgertums mit der )eudalität die )eudalklasse hat keine ähnliche Pseudomorphose gekannt von Anfang an darauf abzielt, Surrogate der Erfahrung zu schaffen. Ob nicht der spezifische Scheincharakter des . Jahrhunderts, das Passagenproblem daher rührt, daß die bürgerliche Wohnung und überhaupt die bürgerliche Dingwelt den Schein der Erfahrung gibt, die eigentlich verschlossen ist. Ich habe bei dem neuen Typus – wenn man mich fragen würde, was ihn bezeichnet – am stärksten das Gefühl: das sind Menschen, die aus leeren Wohnungen gekommen sind, und ich habe beim Wort Kultur die Assoziation eines Ineinander von Schlinggewächsen, das auf dem Zementboden eines Palmenhauses aufsitzt, von dem es leicht weggenommen werden kann. Vielleicht ist die Kälte des neuen Typus und die ganze 0eue Sachlichkeit eigentlich das nur verkleidete und verdeckte Urgestein der bürgerlichen Klasse selber. Im Grunde läßt die kapitalistische Produktionsweise ihrem reinen Sinn nach die Erfahrung überhaupt nicht zu, und die ganze bürgerliche Kultur ist eine Anstrengung, darüber zu betrügen. Vielleicht ist der Don Quixote schon der Ausdruck der Unmöglichkeit der Erfahrung. Das 0eue heute ist auch anthropologisch das bürgerlich Alte. Das ist natürlich alles nur halbwahr, denn es gibt selbstverständlich einen bürgerlichen Erfahrungsbegriff auch mit dem Element der Tradition, wie er z.B. bei Goethe und Schopenhauer vorliegt. Trotzdem ist mit der ganzen bürgerlichen Klasse etwas gestört in Bezug auf die Erfahrung. Vielleicht ist es dies, daß anstelle des Tradierbaren bei den Bürgern die Weisheit des „immer dasselbe“ tritt. Der Kern ihrer Erfahrung lautet: daß es nichts 0eues geben kann. Das 0eue ist aber der einzige Gegenstand der Erfahrung. Vielleicht ist von früh auf beim Bürgertum die echte Erfahrung durchs Experiment surrogiert. Der neue Typus wird übrigens, wie Horvath ganz richtig gesehen hat, durchs Experimentieren bezeichnet. Die Individuen sind für sich und andere auswechselbar wie Glieder von Serienversuchen. Die Grausamkeit, das Vor-nichts-Zurückschrecken, auch sich selber gegenüber nicht, hängt damit aufs engste zusammen. Sehen, wie sich ein Mensch unter den und den Bedingungen verhält, z. B. wenn man ihn kastriert, ermordet oder auch, wie man dann selber reagiert. Der neue Typus ist inhaltlich das geworden, was er früher nur methodologisch war: das Subjekt der 0aturwissenschaften. )reilich auch das Objekt.
Notizen zur neuen Anthropologie
* Gegenüber der Behauptung, daß die amerikanische Psychologie von der Jugend des Volkes, den frontier-Bedingungen und Ähnlichem käme, ist zu sagen, daß in Bezug auf die Ausbildung des neuen Typus Amerika Europa voraus ist, daß aber Europa sich anstrengt nachzukommen. * Im Verhältnis zu Technik ist für den neuen Typus bezeichnend, daß es ihm nicht auf das Verständnis der technischen Dinge sondern auf die Identifikation ankommt. Die Jungens, die ein besonders schnittiges Auto umstehen, sind weit entfernt davon, die Sachverständigen zu sein, als welche sie sich aufspielen. Ihre )reude besteht vielmehr darin, daß sie den 0amen dieses Autos und )achausdrücke irgendwelcher Innovationen wissen. Ganz ähnlich die Leser der Sportzeitschriften. Die ganze )rage nach dem Ursprung des psychologischen Warenfetischismus ist neu zu stellen. Er hängt nicht nur mit den im )etischismusaufsatz bezeichneten Momenten und auch nicht nur mit der 0achahmung mechanistischer Produkte durch die Menschen zusammen, sondern zum Teil mit der Undurchsichtigkeit der hochspezialisierten Prozesse für den Laien. Die Durchbrechung der Undurchsichtigkeit ist wahrscheinlich auch hier von entscheidender Bedeutung für eine Veränderung. Der Junge, der wirklich das Prinzip des Explosionsmotors verstanden hat, wird aufhören, die Zylinder anzubeten. * Um die besondere Art von Glaubenslosigkeit zu verstehen, die den neuen Typus charakterisiert, ist es wohl notwendig, sich die Generation der Eltern etwas näher anzusehen. Denn die Ideologie der Eltern hat sich als Realität der Bilder oder der Bilderlosigkeit bei den Kindern sedimentiert. Jene Eltern waren „aufgeklärt“. Aber die Art dieser Aufklärung, wie sie das . Jahrhundert charakterisiert, ist von der ersten gründlich verschieden. Auch hier steht der Begriff der 0atur im Zentrum, und auch hier sind die 0aturwissenschaften das Organon. Aber diese 0atur ist nicht sowohl mehr das eingeborene Recht aller Wesen als der Zwang und die Gewalt, die allen Wesen angetan wird. 0atur beinhaltet nicht mehr den Anspruch des Geschöpfs auf Glück und Leben, sondern die Einbezogenheit der Geschöpfe in einen Zusammenhang, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Kanon dieses 0aturbegriffs ist die Biologie, und sie lehrt nichts als die Ausweglosigkeit. Sie hat gewissermaßen das eherne Lohngesetz zur Ontologie erhoben. Das Mendelsche Gesetz, das die Veränderlichkeit aus Spontaneität desavouiert, die Darwinschen Lehren von der natürlichen Zuchtwahl, vom Kampf ums Dasein und vom survival of the fittest sind die
Theodor W. Adorno
Grundstücke dieser Ontologie. Sie hat Gott gestürzt, um den Menschen ans Schicksal um so blinder zu binden. Daher denn auch der Monismus in einem ganz anderen Sinn zur magischen Veneration tendiert als der viel verlachte Kultus der Vernunft. Das war aber der eigentliche Inhalt des Bürgertums, sicherlich in Deutschland. Sie haben an den Kosmos geglaubt, den sie gelesen haben, an eine natürliche Ordnung der Dinge, der es zu parieren gilt und die alles eliminiert, was über die Reproduktion des bloß Bestehenden hinausgeht. Alle Interessen des Bürgertums in Deutschland außerhalb der Berufssphäre – also alle die, die von den Kindern apperzipiert werden – haben in der abscheulichen Vorstellung von der Allnatur konvergiert, an der die Sozialdemokraten so kräftig teilhatten wie die 0azis. In der Hundezucht des deutschen Bürgers stecken so gut die Zuchtwahlvorstellungen wie im kolonialen Blick des Auslandsdeutschen die Vorstellung vom Recht des Stärkeren. Die 0atur, desillusioniert zugleich und mythologisiert, wird zum Modell des Verhaltens der Menschen, die auf die Generation nach Haeckel und Bölsche folgen. Beide waren virtuell 0azis. Die Veränderung in der Zusammensetzung der 0aturerfahrung im . Jahrhundert ist wahrscheinlich eine der entscheidenden Vorbedingungen für die Bildung des faschistischen Typus, der selber all das praktiziert, was seine Väter an der 0atur gerühmt haben. Die Gewalt des 0azismus, das, was wirklich daran die Menschen so ergriffen hat, ist wahrscheinlich der Glaube, daß der Mensch selber es jener Art 0atur gleich tun könne. Ihre Dämonie ist anstelle der Religion getreten. Das Unausweichliche ihres Gesetzes hat die berauscht, welche die eigenen unerbittlichen Gesetze ergehen ließen. Offenbar ist es so, daß die Menschen das Grauen der Kosmoswelt nur dadurch ertragen konnten, daß sie sich selber mit eben jener Macht identifizierten. Der dabei unterliegende Begriff der 0atur ist selber, wie sich an Darwin zeigen ließe, eine gesellschaftliche Reflexionsform, aber eine der Gesellschaft entfremdete, in der sich die Menschen nicht mehr wiedererkannt haben und die sie eben darum so trotzig zu ihrer eigenen Sache machten. Es wäre in diesem Zusammenhang von größter Wichtigkeit, Phänomenen wie der Jagd, in der 0aturbeherrschung und Gewalt gleichermaßen enthalten sind, 0aturheilverfahren, „Wandern“, vor allem aber das menschliche Ideal der 0atürlichkeit zu analysieren, wie die Bürger es dem Begriff der Affektation entgegengestellt haben. Man darf sicher sein, daß, wo immer von einem Menschen dessen besondere 0atürlichkeit gerühmt wird, sowohl der Belobte wie der Lobende Schurken sind. Es ist für diese 0aturwelt entscheidend, daß sie Unterwerfung, Brutalität und Irrationalität mit vollkommener Bilderlosigkeit und Armut an Phantasie kombiniert. Alle diese Momente des bürgerlichen Sonntags aus dem späteren . und dem beginnenden . Jahrhundert sind dann bei den )aschisten grimmiger Werktag geworden. Der neue Typus ist der, welcher dem Darwinschen Wunschbild der „Art“ – der ganze Kollektivismus steckt schon darin – am vollkommensten Genüge leistet. *
Notizen zur neuen Anthropologie
Zu einer Untersuchung über die neue Anthropologie gehörte eine Analyse der Jugendschriften, die meine Generation und die etwas Jüngeren gelesen haben. Es ist sehr wahrscheinlich, daß etwa Zukunftsnovellen über kommende technische Kriege, wie sie das „0eue Universum“ enthält, ziemlich genau das Bild des mechanischen und totalen Krieges entwerfen. Die Welt des „0euen Universums“ ist übrigens der des Kosmos überaus nah. Universum und Kosmos heißt ja auch dasselbe: totale Ordnung der 0atur. Colin Ross, der heutige )ührer der 0azipropaganda in Amerika, hat in jener Jugendliteratur schon vor oder Jahren eine entscheidende Rolle gespielt. Es spielt bei dieser Literatur gar keine Rolle, ob sie, wie z.B. das Jungdeutschlandbuch, offen nationalistisch war. Das Heraufkommen des )aschismus steckt hier wie überall weit mehr in der Vorstellungswelt als in der Tendenz, und vielleicht haben auch hier gerade unpolitische Publikationen viel verwüstender gewirkt als die offen politischen. Vom „0euen Universum“ führt eine direkte Linie zur illustrierten Presse. Die ersten Aprilbilder der „Berliner Illustrierten“ und die Phantasien des „0euen Universums“ sind vom gleichen Schlage. Dazu die 0otiz über )reytag und Max Eyth aus dem blauen Heft . Es ist sehr wahrscheinlich, daß nicht nur die Umrisse des jetzigen Krieges nicht des I. Weltkriegs sondern auch die des Staatskapitalismus in jener Jugendliteratur sich abzeichnen. Übrigens dürften bereits seit der Reichsgründung in den Jugendbüchern die Indianergeschichten mit der Lebensbeschreibung von Werner von Siemens alterniert haben. Das Motiv ist wohl das, die Jugend durch die Contrebande aus dem praktischen Leben zur Realitätsgerechtigkeit zu erziehen und ihr einzureden, daß auch die Dampfhämmer und Walzwerke ihre Poesie haben. Das ist aber besser gelungen, als die Väter sich träumen ließen. Die Söhne haben nicht nur wirklich die technischen Dinge ihrem Bilderschatz einverleibt, sondern haben den technischen Dingen eben jene Traumqualitäten zugeschoben und bewahrt, die man der Phantasieregion so nüchternen Sinnes hatte entziehen wollen. Die aber ernsthaft glauben, daß die Dampfhämmer poetischer sind als die Gedichte von )riedrich von Bodenstedt sind die gleichen, die sich schließlich anschicken, auf Tanks nach Bagdad zu fahren. * Es ist besonders einzugehen auf die Bedeutung, die der Leib bei dem neuen Typus angenommen hat. Sie indiziert sich äußerlich in den zahllosen Bildern nackter Körper und der sich ausbreitenden )reiluftkultur. Das Bild des Leibs beim neuen Typus ist wesentlich desexualisiert, entweder durch den Kultus des )unktionierens des Leibes als solchem oder durch eine bestimmte Art von )reigabe der Sexualität, die durch die Entziehung des Widerstandes auch die Lust entzieht. Offenbar wird vom neuen Typus der Leib überhaupt nur noch als Glied des Kollektivleibs erfahren, wie er sich etwa in den sportlich-ornamentalen Demonstrationen darstellt.
Theodor W. Adorno
Ein anderes mit dem Leib gesetztes Moment ist das veränderte Verhältnis zur physischen Kraft. Diese, deren Geltung durch die Zivilisation eingeschränkt war in einem gewissen Sinn kann man die gesamte Zivilisation als eine Veranstaltung verstehen, die Wirkungsmacht der physischen Kraft des Menschen einzuschränken , wagt sich unter allerlei Rationalisierungen wieder ans Tageslicht. Im Sadismus der Konzentrationslager steckt auch dies, daß die Tabus, die über die physische Kraft verhängt waren, hinfällig gemacht sind. Zu Beginn des Dritten Reiches etwa hat Hitler eine Verordnung erlassen, nach der es nicht mehr erlaubt sein sollte, daß in Schulen auf irgendeine Weise der Anschein entstünde, als seien die jüdischen Kinder begabter als die arischen. Hinter dieser Verordnung steckt in Wahrheit die )reigabe der von der bisherigen Zivilisation durch die Agentur der Schule in Schranken gehaltenen physischen Kraft. Der Junge, der auf der Straße den schwächeren anfällt, wird zum Primus promoviert. Dazu die Äußerung der Oberräder 0achbarin: „Jetzt kommen die Dummen dran.“ Es sind keineswegs die Dummen drangekommen, aber die, welche sich ihrer Aggression nicht mehr zu schämen brauchen. Ich kann mich auf dies Moment in der Bildung des neuen Typus aus meiner Kindheit sehr gut besinnen. Es gab da neben der offiziellen Hierarchie der Schüler eine uneingestandene zweite, die sich auf die physische Kraft bezog und in Wirklichkeit viel mehr geglaubt wurde als die andere. Der Stärkste in der Klasse, der „Moppel“, wie sie ihn in )rankfurt zu nennen pflegten, herrschte als ungekrönter König. Diese Art von Hierarchie hat sich in der nazistischen durchgesetzt: es ist die Diktatur der „Moppel“. )ür die )reigabe der physischen Kraft ist etwas sehr charakteristisch: die Aufgabe all der Vorstellungen von „fairness“, mit denen liberalistisch der archaische „)eind“, der „Starke“ im Schach gehalten war. Den Kindergrundsatz, daß man einem Schwächeren nichts tun dürfe und daß nie mehrere über einen herfallen dürften, habe ich eigentlich nur zu Hause vernommen, aber unter den deutschen Kindern nie praktiziert gesehen. Wahrscheinlich ist es darin mit angelsächsischen Kindern in der Tat anders bestellt, obwohl gewisse Oxforder Studentengebräuche in dieselbe Richtung verweisen. Meine Klassenkameraden haben sich nie ein Bedenken daraus gemacht, in Scharen über einen einzelnen oder Schwächeren herzufallen, und es gab dafür sogar einen institutionalisierten Ausdruck: „Klassenabzug“ Klassenkeile . Die )reigabe der physischen Kraft hat von Anfang an das Moment des Transfers ans Kollektiv. Das spätere Mitlaufen der faschistischen Revolutionäre mit den ohnehin Mächtigen und dann die Verfolgung der Linie des geringsten Widerstandes im Angriff auf möglichst schwächere einzelne 0achbarstaaten bringt genau dies Motiv zu Ehren. Psychologisch gesehen, wäre natürlich das Modell des starken Kindes der prügelnde Vater. Mit der Bildung des Kollektivleibs geht aber dessen )unktion auch auf Armee, Staat und Gesellschaft über. – Das veränderte Verhältnis zum Leib scheint für die USSR genauso wie für die eingestanden faschistischen Länder zu gelten. Ein weiterer Zug dieses Verhältnisses zum Leib ist, daß der neue Typus eigentlich überhaupt nicht nach Wohlbefinden strebt, sondern viel eher danach, Schläge
Notizen zur neuen Anthropologie
auszuhalten, Unbilden erdulden zu können usw. – jene Tendenz, die der von Hitler immer wieder urgierten Opferbereitschaft zugrunde liegt. Die Beobachtung, daß die junge Generation alle die Plätze, an denen es einem physisch wohl ist, meidet und am liebsten ihre )erien auf dem Eismeer verbringen würde. Die Plätze, an denen es uns gefällt, werden fast ausschließlich von alten Leuten besucht. Ob dieser Geist, die Sucht nach dem Unbequemen, kurz der Sportsgeist, durch die )ormel vom SadoMasochismus gedeckt wird, ist mir höchst fraglich. Ich glaube, daß der Verdrängungs- und Verschiebungsmechanismus, wie ihn die Psychoanalyse hier annimmt, gar nicht recht stattfindet. Wenn ich meiner Beobachtung trauen darf, ist es vielmehr so, daß die Sportsenthusiasten von dem Kollektiv gleichsam verzehrt werden wie von einem Ungeheuer und als Glieder dieses Kollektivs agieren, aber gar nicht etwa als Individuen auf dem Umweg durch die Identifizierung mit der Macht irgendein Glück empfänden. Viel eher gleichen zwei junge Leute, die sich in der Trambahn aufgeregt über )ußball unterhalten, Betrunkenen. Sie sind befangen und von etwas besetzt viel eher, als daß sie irgendeine Befriedigung davontrügen. Dieses vom Kollektiv Befangen- oder Besetzt-Sein, worin das im Georgeaufsatz charakterisierte sture Vor-sich-Hinleben gewissermaßen dialektisch umschlägt und zu einem Auslöschen eben der Individualität führt, die so ‚vor sich hin‘ lebt: dies VerzehrtSein, Eingeschlungen-Sein ist wohl eigentlich das, was ich unter dem Mitmachen verstehe, das für den neuen Typus so überaus bezeichnend ist. – Der Mangel an 0eugier. Gar nichts 0eues mehr kennenlernen wollen, vor allem nicht, was ungedeckt ist; die Gedecktheit auch der Revolution. Bei den )aschisten ist das offenbar, bei den Kommunisten wahrscheinlich schon sehr lange ebenso durch die Massenpartei. Revolution ist allein das Ungedeckte, und die Massenpartei verleiht jeder Aktion Deckungscharakter. Es kann dem Sinn nach überhaupt keine revolutionäre Massenpartei geben.
Essay
Peter Berz
Lʼimaginaire animal R S I – Real Symbolisch Imaginär: diese Dreifaltigkeit, so der Psychoanalytiker und Epistemologe Jacques Lacan, artikuliere das menschliche Subjekt. 0icht nur in „der Erfahrung“, also den Reden einer von )reud installierten Praxis, in der die Geschichte des Wahnsinns auf jenes einzige Paar zuläuft: den Wahnsinnigen und den Arzt )oucault , . Vielmehr existiert Lacans dreifaltiges Subjekt als eine Geschichte des Wissens: von Physik, physikalischer Optik, experimenteller Gestaltpsychologie, von Mathematik, 0achrichtentheorie, Philosophie und schließlich, in einer psychoanalytischen Tradition seit )reud, von biologischem Wissen. Den Term des Imaginären hat Ulrike Kadi schlicht als „Bilderwahn“ angesprochen und wissens- wie kulturhistorisch situiert Kadi ; vgl. auch Blümle/von der Heiden . Seit seinen Anfängen operiert der junge Psychiater der Polizeipräfektur von Sainte-Anne mit Bildern. Schon im Buch über die Psychose Marguerite Pantins von steht an allen Knotenpunkten des Wahns ein Bild. Es ist die bekannte )ilm- und Theaterschauspielerin Huguette Duflos, die Marguerite alias Aimée schließlich als )eindin heimsucht, bevor sie dieser eines Tages mit einem Messer zusetzt. Aimée begegnet den )ilmplakaten ihrer )eindin – so Lacan ausdrücklich – permanent auf den Straßen von Paris. Zwischen Bildern und Gerüchten, geflüstert auf dem Treppenabsatz, im )lur, auf der Straße entstehe der Wahn. Hier beginne jene „Reihe von Identifikationen“ oder Bild-Ersetzungen, die Lacan als Psychose analysiert, bis in die Phantastik von Aimées Romanen. In der Arbeit des jungen Psychiaters, die vom bildsüchtigen Salvador Dalí ohne Verzögerung aufgenommen wird Dalí , f , taucht die Psychoanalyse nur am Horizont auf. Bestimmung der Lage: mitten in der Psychoanalyse liege eine terra incognita, „mythisch und unbekannt“, und die heißt Narzissmus Lacan , . Die Liebe von 0arziss und der 0ymphe Echo entfaltet in der Ovid schen Erzählung die dramatische Geschichte einer Bildfaszination. Lacan, der den 0arzissmus „aus dem Vollsinn des 0arziß-Mythos“ Lacan c, verstehen möchte, entwickelt daraus / die bekannte Theorie vom Bild des eigenen Körpers als Epizentrum aller
ڲDieser Text wurde erstveröffentlicht in Heinrich, Richard/0emeth, Elisabeth/Pichler, Wolfram/Wagner, David Hg. , Image and Imaging in Philosophy, Science and the Arts. Proceedings of the rd International Ludwig Wittgenstein-Symposium in Kirchberg, . Vol. , )rankfurt a.M. et al., – . Der Autor und die Herausgeber des vorliegenden Bandes danken dem Ontos Verlag sowie den Herausgebern der Erstveröffentlichung für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck dieses Textes. Das Manuskript wurde den formalen Leitlinien des Internationalen Jahrbuchs für Philosophische Anthropologie angepasst, auf Errata durchgesehen und, wo nötig, korrigiert. ڳWir kennen diese Romane bis heute nicht vollständig, weil Lacan sie Marguerite Pantin, sehr unfein, einfach abgenommen hat.
Peter Berz
Ichbildung Lacan . Es liegt programmatisch neben )reud. Denn alles hätte )reud gesehen, nur eins sei seinem Assoziationismus, Stand der Psychologie Ende des . Jahrhunderts, entgangen: das Bild, die Gestalt. Von diesem Ausgangspunkt her, der sich wissensgeschichtlich in der gestaltpsychologisch und phänomenologisch orientierten Psychiatrie verorten lässt mit ihr sind Lacans Anfänge nicht weniger eng verbunden als die )oucaults , unternimmt Lacan seine Relektüre )reuds. )reilich entging es ihm als einem der ersten Leser von )reuds erst erschienen „Entwurf einer Psychologie“ nicht, dass sein turning point im )reudschen Denken der Übergang von der Besetzung einzelner 0euronen zur Besetzung von „0euronen-Komplexen“ und schließlich „Erinnerungsbildern“ ist )reud , vor allem – und – . Die Bilder der Psychoanalyse sind besetzbar, in einer Art „Metabolismus der Bilder“ Lacan , , und darum pathologisch fixierbar siehe Klammer , – . Sie stehen in einer großen, noch ungeschriebenen Geschichte: der Geschichte der )aszination, nicht nur in der Geschichte ikonologischen Deutens und Bedeutens. Sprechend erst, im Prozess verschiebbarer Adressen und Zeichen, zehren sich die Bilder auf. Was das )olgende nun zu denken versucht, ist die einfache Tatsache, dass überall da, wo Lacan – von den ern über die er bis in die er Jahre – vom Imaginären spricht, eine Reihe von Wesen Pate stehen, die wir als Tiere ansprechen. Die Tiere, so die Behauptung, leben im Imaginären: „[L‘]imaginaire est assurément guide de vie pour tout le champ animal“ Lacan , . Die Tiere leben in und mit Bildern, im Zeigen, zu sehen Geben, Bild Machen, ob verbergend oder spektakulär, exzessiv erscheinend. Animals in mission: bei Lacan ist die Mission der Tiere das Bild. Das ist einigermaßen erstaunlich. Denn auf dem state of the art biologischen Denkens, für das im Kampf der Arten fitness die einzige biologische Realität ist, leben die Tiere eine umfassende, alles durchdringende economy of nature, die nicht erst durch die Molekularbiologie eine technische geworden ist. Und doch entscheidet sich die Biologie des Verhaltens in einem bestimmten Moment ihrer Geschichte an der )rage nach dem Bild, seinen imaginären Übertreibungen und illusionären Überschüssen. Von dort wird die Ethologie des Bildes im Denken Lacans ankommen.
ڴLacans frühe Schrift „Jenseits des Realitätsprinzips“ von , in der sich eine längere Abhandlung über die „Probleme des Bildes“ findet Lacan b, – , endet mit der Ankündigung einer )orstsetzung „über die Realtität des Bildes und die )ormen der Erkenntnis“ ebd., . Sie wird nie geschrieben. Rätselhafte Begründung von : „Deshalb haben wir unserm Aufsatz über das Realitätsprinzip‘ die )ortsetzung, die er ankündigte, nicht gegeben, weil er sich an den Gestaltismus [i.O. dt.] und die Phänomenologie halten muß“ Lacan a, . ڵLacan entwendet einen Buchtitel Henri Piérons, von bis Professor für Physiologie de la sensation am Collège de )rance: „La sensation, guide de vie“ Piéron . „ ڶMimikry“ wäre dann, in einer Erweiterung des Begriffs, das Leben der Tiere in und mit dem Bild Machen, Bild Geben, Bild Empfangen überhaupt. ڷSo visionierte Bernhard Siegert Weimar einmal.
Lʼimaginaire animal
Abb. : Stichlingspärchen. „Brehms Tierleben“
Peter Berz
I.
Der Stichling
Ich beginne die )rage nach dem Imaginären der Tiere im Wasser. Mit einem ebenso urtümlichen wie ökonomisch nutzlosen Tier: dem dreistachligen Stichling, Gasterosteus aculeatus, der sich fast überall in Europa findet, außer, leider, im Donauraum. Urtümlich nennt man ihn, weil dieser )isch noch gar keine Schuppen hat, sondern je nach Art größere oder kleinere Panzerplatten . 0icolaas Tinbergen, zusammen mit Konrad Lorenz erster 0obelpreisträger für Verhaltensbiologie, hat zusammen mit dem Stichling seine Wissenschaft begründet. Das Bild Machen des Stichlings setzt spektakulär vor allem im )rühjahr ein. „Der )isch errötet, überholt den Schwarm“, heißt es bei Ingeborg Bachmann, einer Donauraumbewohnerin und vermutlich Leserin von Annie )rancé-Harrars wunderlichem Büchlein „Tier und Liebe“ )rancé-Harrar . Beim Männchen des Stichlings rötet sich der Bauch vgl. Abb. . Dieses Rot ist eine Drohung für Konkurrenten. Wird es aber durch ein leichtes, irisierendes Blau auf dem Rücken ergänzt, dann verführt und lockt der rote Bauch das Weibchen. Das Rot leitet eine geschlossene Kette von Balzhandlungen ein: von Momenten, Bewegungen, stills des Bild Machens. Immer antwortet eine Bewegung des Männchens auf eine des Weibchens vgl. Abb. . So führt das Männchen das Weibchen in ein 0est, das es zuvor im Sand gegraben und aus Stengeln gebaut hat. Auf den Tanz des Männchens im Zickzack folgt eine Bewegung des Weibchens: es stellt sich auf und zeigt frontal den breiten Bauch mit den Eiern vgl. Abb. . Das Männchen schwimmt daraufhin in Richtung zum 0est, es führt, das Weibchen folgt vgl. Abb. ; das Männchen legt sich flach auf die Seite vors 0est; das Weibchen kriecht in das tunnelartige 0est; das Männchen beginnt – über dem Weibchen stehend – heftig zu zittern. Zur Balzzeit stecken die Männchen aber auch Reviere ab. Ein fremder Stichling mit roter Unterseite im eigenen Revier wird sofort, oft tödlich, mit den Stacheln und dem Maul angegriffen. In bestimmten Situationen, über die noch zu sprechen sein wird, tritt ein Moment der Parade ein, eine Drohhaltung: der )isch stellt sich senkrecht, mit dem Mund nach unten, dabei oft im Sand grabend vgl. Abb. . Er streckt währenddessen genau die )losse und den Stachel, die zum Gegner zeigen, weit von sich weg.
ڸÜber den Stichling heißt es dort: „Und da gerade die Männchen es sind, die vor Verliebtheit nicht aus noch ein wissen, deutet schon ihr farbenblühendes Kleid es der Erwählten an: ,Ich liebe dich, ich brenne nach dir, ich sterbe vor Begier, dich zu besitzen!“ Der, so )rancé-Harrar, „Beweis“ dafür: wird der Stichling abgewiesen oder unterliegt im Kampf, so verliert er sofort seinen feuerfarbenen Bauch und wird wieder „grünlich trüb“ )rancé-Harrar , .
Lʼimaginaire animal
Abb. : Balzendes Stichlingspärchen, links das Männchen beim „Zickzacktanz“, rechts balzendes Weibchen. „Zeitschrift für Tierpsychologie“
Abb. : Zickzacktanz als Balzverhalten des männlichen Stichlings. „Urania Tierreich“
Abb. : Kämpfende Stichlingsmännchen. Das linke Tier „droht“. „Zeitschrift für Tierpsychologie“
Das alles sprechen Verhaltensbiologen wie Lorenz und Tinbergen seit
als eine
Kaskade von Auslösern an, sogenannten releasers oder déclencheurs. Sie lösen bestimmte „Triebhandlungen“ aus. Die Auslöser im vorliegenden )all operieren im Optischen. Als eine Bewegungsform, eine Geste oder die Struktur einer ruhenden Gestalt, einer Konfiguration. Tinbergens erste Experimente zeigten, dass jedes beliebige Objekt beim Stichling die Kampfhandlungen auslöst, es kann rund, eckig, fischförmig sein, es muss nur der einen Bedingung genügen, dass die untere Partie rot ist. Die )orm spielt keine Rolle, was zählt, ist eine minimale Konfiguration: unten rot, oben nicht rot. Wo aber ist im Auslöser dann ein Bild? Vier sehr grobe Antworten aus Konrad Lorenz epochaler Arbeit über den „Kumpan in der Umwelt des Vogels“ von .
Peter Berz
II. Das Bild im Auslöser Lorenz versetzt die )rage nach dem Bild aus dem Wasser an die Luft. Das ist: zu den, nach Hegel, theoretischsten aller Tiere, den Vögeln. Denn „die Vögel schweben frei in der Luft, als ihrem Elemente; von der objektiven Schwere der Erde getrennt, erfüllen sie die Luft mit sich und äußern ihr Selbstgefühl im besonderen Elemente“ Hegel , , also singen. Aber schon das Wissen von den Tieren, nicht erst ihr Sein, wäre bis in letzte epistemologische )einheiten von ihrem jeweiligen Element, Milieu oder „Medium“ zu denken. Entweder dem Wasser, die )ische verbracht ins Aquarium als geschlossenes Milieu und Schema einer Laborlage, in der, wie bei Tinbergen, alle Ereignisse bildschön hinter Glas stattfinden. Oder von der Luft her, die Vögel verbracht in offene Käfige oder auf Dächer, Tier und )orscher pendelnd zwischen festem Boden, Sumpf, Baum, Luftraum, wie Lorenz die lustvollsten Momente seines )orscherdaseins beschreibt vgl. etwa Lorenz , ; oder Lorenz , .
Ding Merkmal Schema Theoretisch beginnt nicht nur im Altenberger Sommer, sondern auch im )reiburger Wintersemester alles mit der „)rage nach dem Ding“ Heidegger . Wo bei Heidegger Ding und Gegenstand in der neuzeitlichen 0aturwissenschaft als Ganzer auf dem Spiel stehen, da konstatiert Lorenz kurz: das Ding ist biologisch gesehen überhaupt nicht notwendig. Ding- oder Gegenstandserfassen begreift Lorenz gestaltpsychologisch, von der Konstanz des Dings her, so wie etwa die Psychologen Gelb und Goldstein die „)arbkonstanz der Sehdinge“: physikalisch ist im Abendlicht alles anders als bei Tag, trotzdem bleibt die Orange orange; ein Rechteck, von der Seite gesehen, bleibt ein Rechteck. All das lässt sich psychophysiologisch vom Tintenfisch bis zum Menschen sehr gut als „Wiedererkennen“ durchexperimentieren. 0un leben aber die meisten Lebewesen ganz ohne ein Dingerfassen ihrer Umwelt. Ein Merkmal, roter Bauch oder aufgerichtete )losse, genügt, um die biologisch notwendigen Handlungsketten in Gang zu setzen. „Ding“ könnte allenfalls eine zufällige, nur biologisch wahrscheinliche Zusammenkunft verschiedener Auslöser heißen. Denn die Auslöser lassen sich leicht wieder voneinander trennen, wenn etwa eines evolutiven Tages und sehr unwahrscheinlich ein systematisch experimentierendes Wissenstier auftritt: der Biologe. Durch einfache Attrappen kann er jeden Auslöser ersetzen und so die Auslöser isolieren. Biologisch gibt es allerdings ein Problem mit den einfachen Auslösern. Sachen, die unten rot sind, gibt es viele. Das heißt: die Gefahr der Verwechslung oder Täuschung ist sehr hoch – mit )olgen auf Leben und Tod. 0ur möglichst unwahrschein-
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liche Merkmale sind gegen Verwechslung gefeit und damit gute Merkmale. Unwahrscheinlichkeit ist eine biologische 0otwendigkeit. 0un ist aber ein einzelnes Merkmal im Gewimmel der Erscheinungen nicht so leicht unwahrscheinlich zu machen wie zwei oder mehrere Merkmale oder eine ganze Konstellation von Merkmalen. Lorenz nennt eine solche Konstellation, Uexküll folgend, „Schema“. Wohl als erster Biologe bringt er in der Kumpan-Arbeit, geschrieben zu Ehren Uexkülls, die Wahrscheinlichkeitsfrage ins Spiel, also ein kommunikationstheoretisches Dispositiv avant la lettre de Claude Shannon. Lorenz Kommunikationstheorie stammt, wie Veronika Hofer gezeigt hat, aus der Proto-Kybernetik seines Lehrers, des Wiener Psychologen Karl Bühler vgl. Hofer . Die Krise der Psychologie Lacan wird sie von 0euem ausrufen beginnt bei Bühler mit dem tierischen Verhalten. Alles an ihm sei „Kommunikationsmittel“ Bühler , . Bis hin zur menschlichen Sprache entfalte es sich in drei Dimensionen: Kundgabe, Auslösung, Darstellung. Darwins Theorie der Ausdrucksbewegung, „Expression of Emotions“ , habe übersehen, dass zu jedem Kundgeber ein Kundnehmer gehöre, alles also mit dem Adressaten der Bewegung anfange, mit „zwei Mitgliedern einer Gemeinschaft“ und nicht mit dem Ausdruck innerer Zustände oder Stimmungen. Am reinsten sieht Bühler das „Zweiersystem von Sender und Empfänger“, diesen „Quellpunkt der Sprache“ ebd., , in technischen Dispositiven verkörpert, die er als solche erst gar nicht zu nennen wagt: )ernschreiber, Telegraf, Telefon. Denn Kundgabe sei immer auch Auslösung von anderem Verhalten. Dabei empfehle sich weniger der Begriff des „Verstehens“ als der der „Steue-
ڹBei Uexküll sind die Schemata meist physiologisch-technische Schaltpläne von 0erven und heißen auch „Gegenwelt“ oder „Innenwelt“. Die Gegenwelt also besteht aus Schemata Uexküll , . ںClaude Elwood Shannons „Mathematische Theorie der Kommunikation“ behandelt bekanntlich Zeichen, Worte, Bilder, Töne, wenn und insofern sie übertragen, also gesendet werden, ganz ohne Semantik als bloße )olge von „Erwartungswahrscheinlichkeiten“ und folgt darin einem mathematischen Ansatz des russischen Wahrscheinlichkeitstheoretikers Andrej Andrejewitsch Markov von . ڱڲDarwins Theorie, dass die Ausdrucksbewegungen frühere zweckgerichtete Bewegungen seien beißen – Zähne fletschen , wird damit ebenfalls hinfällig Bühler , f. „ ڲڲ0un wissen wir gar nichts von einem Innern, einem Zumutsein materieller Systeme. Aber man gebe uns eines von der Art, wie sie die Menschen für die Zwecke ihrer Mitteilungen in die )erne konstruiert haben, im Betrieb zur Untersuchung, und wir wollen an ihm rein mit den Mitteln des Technikers über die Art der Koppelung und die Angelegenheit der Steuerung allerhand wichtige Erkenntnis gewinnen“ ebd., . ڳڲDer Begriff der Auslösung stammt aus der letzten, kleinen Schrift des Arztes und Erfinders des ersten thermodynamischen Hauptsatzes, Julius Robert Mayer Mayer . Mayer beschreibt unter diesem Titel Prozesse, in denen kleinste Kräfte größte Wirkungen hervorbringen )unke–Explosion, Abzug–Schuss usw. und die darum der Äquivalenz der Energieformen zu widersprechen scheinen. Der Begriff nimmt von dort eine wechselvolle Geschichte über 0ietzsche, Wilhelm Ostwald und
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rung“ ebd., . Gut kybernetisch beginnt sie nicht mit einem einzigen Chauffeur, der einem blind dahintrottenden Passanten ausweicht, sondern dann, wenn ein Chauffeur einem anderen Chauffeur ausweicht, also mit „gegenseitiger Steuerung“ ebd., . 0ur hier entstehe im Verhalten Bedeutung, also das „sinnvolle Benehmen“ der Mitglieder einer „echten Gemeinschaft“, die auch für das Tierreich anzunehmen ist und nicht „Zufallsscharungen von Einsiedlern“ [ebd., ] . Die materiale Bedingung aber für das Entstehen sinnvollen Benehmens ist, dass es sich als „abzählbare Menge wohl charakterisierter Elemente und Komplexe“ vom Rauschen der Ereignisse unterscheidet, also „sich aus dem unübersehbaren Reich sinnloser Möglichkeiten das System des sinnvollen Benehmens heraushebt“ ebd., . Shannons 0achrichtentheorie würde von )iltern sprechen. Diese theoretische Herkunft von Lorenz )ragen, die seinem Kollegen Tinbergen etwa ganz abgeht, macht es verständlicher, warum Auslöser und Bild der Lorenzschen Verhaltensbiologie nach dem zweiten Weltkrieg mühelos in eine „kybernetisch psychologische Theorie“ einzuführen sein werden. Dass der dritte, sprachphilosophische Term, die Darstellung, in Bühlers radikaler Kommunikationstheorie nicht mit der Beschreibung von Tatsachen und deren Logik beginnt, sondern dort, wo bei Lacan das Register des Symbolischen anfängt: mit Lüge und Recht, „la parole menteresse, les lois et les contrats“ [ Lacan , f , dies sei nur nebenbei erwähnt].
Alwin Mittaschs „Energetik“ bis in heutige, medienhistorische Versuche, eine Urgeschichte der Kybernetik zu entwerfen. ڴڲHofer macht vor allem darauf aufmerksam, dass Bühlers „probabilistisches Konzept des Spielraums‘“ seit diesen )ilter im Dispositiv der Darwinschen „Selektion“ begreift: Selektion einiger Handlungen aus einem „Überfluss“ spielerischer Versuche Hofer , – . ڵڲDonald Campbell etwa versucht dies in den er Jahren. Jede Anpassungshandlung des multidimensionalen Homöostaten namens Tier braucht dann Referenzsignale und Schablonen für den Zielzustand: „Wo es sich um gegenseitige Beeinflussung von anderen Tieren oder Gegenständen handelt, nehmen diese Kriterien den Charakter von Bildern‘ an, und eine phänomenologische Dimension wird hinzugefügt. Hierher gehört Lorenz‘ Begriff des Auslösers‘“ Campbell , zit. bei Hofer , . ڶڲDas Recht, so Bühler, bestrafe den Meineid eines Zeugen auch dann, wenn er schließlich genau das Richtige trifft; es lässt den Eid in bestem Wissen straffrei, auch wenn er schließlich das )alsche sagt. Das Recht kommt Bühler schon darum in den Blick, weil er nicht vom wissenschaftlichen Satz, sondern vom „lebendigen Sprachverkehr“ ausgeht Bühler , . Man müsste nur „Überzeugung des Sprechers“ und „Sachverhalt“ nicht mehr wie Bühler in zwei „Sinndimensionen“ trennen und das Rechtssystem selbst zum dritten Term machen, um bei einem „Quellpunkt“ lacanschen Sprachdenkens zu landen.
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Unwahrscheinlich Wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, das ist für Lorenz auch der Ansatzpunkt, eine Evolution biologischer Schemata zu denken. Sie beginnt mit der fundamentalen Unterscheidung von „belebt“ und „unbelebt“. Ein unbelebtes Ding, ein Halm zum 0estbau etwa, hat nur wenige Merkmale. Seine generelle Unwahrscheinlichkeit lässt sich darum kaum über ein bestimmtes Maß steigern. Dagegen steckt in einem Artgenossen ein ungeheurer Detailreichtum. Da nun der Artgenosse als Auslöser und der Adressat des Auslösers beide veränderlich sind und beide Teil der gleichen Evolution, können sich die Schemata ihrer Kommunikation leicht in Richtung Unwahrscheinlichkeit differenzieren. Was dabei entsteht, sind Zeichen. Ein Zeichen ist nach Lorenz das Unwahrscheinliche. Zeichenhafte Bewegungen etwa können sich aus sogenannten „Intentionsbewegungen“ entwickeln: wenn die Entenmutter ihren Küken vorausläuft und einmal von ihrem geraden Weg abbiegt, macht sie vorher eine forcierte, schnelle und intensive 0ickbewegung in die Abbiege-Richtung. Eine solche Intentionsbewegung kann sich „formalisieren“ oder „ritualisieren“ und wird dann zum Zeichen. Denn wo es nur darauf ankommt, dass die Kommunikation zwischen Artgenossen funktioniert, da kann sich die Intentions-Bewegung durch „mimische Übertreibung“ schnell von jeglichem Signifikat lösen, indem etwa Intentionsbewegungen „bis zum Grotesken unterstrichen und überbetont“ werden oder auch durch übertriebene )arb- oder )ormmerkmale ergänzt Lorenz , . Dann fangen sie an zu bedeuten. Die Entwicklung zu immer höherer Unwahrscheinlichkeit kennt keine äußeren Grenzen, weil es ja nicht um Signifikate, sondern nur um intra-spezifische Kommunikation geht. Lorenz wird es in den kybernetischen er Jahren nachrichtentheoretisch reformulieren: „Wo ein intra-spezifisches System von Signal-aussendenden und Signal-empfangenden Differenzierungen ausgebildet wurde, dort ist die )orm der Signale so gut wie ausschließlich historisch durch die Konvention‘ zwischen Reizsender und Reizempfänger bestimmt und hat nur mehr sehr lose Beziehungen zur Außenwelt“ ebd., . Wegen dieser Lösung von der Außenwelt lassen sich die Schemata zu einer „beliebig hohen generellen Unwahrscheinlichkeit“ Lorenz , treiben, bis zu einer oft irrwitzigen Spezialisierung, ohne prinzipielle Außenweltgrenzen. Der Pfau ist „unwahrscheinlich schön“: denn er ist eben überhaupt unwahrscheinlich.
ڷڲDiese )rage hat in den er Jahren vor allem der 0achfolger von Konrad Lorenz im Max-PlanckInstitut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Wolfgang Wickler, weitergeführt, etwa in seinen )orschungen über die Signalbildung an den Eiattrappen von Buntbarschen der Gattung Haplochromis vgl. Berz .
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Komplexqualität An wahrscheinlich/unwahrscheinlich, einfach/kompliziert als Grundparametern einer Lorenzschen Bildtheorie entscheidet sich zuletzt auch die große, biologisch brisante )rage nach ererbt oder erworben. Die Auslöser-Schemata sind einfach, weil ererbt, und ererbt, weil einfach. Das ist Lorenz Urszene: dass die Auslöser einfach sind und sich darum einfach experimentell erzeugen lassen, durch, wie erwähnt, das Hauptinstrument früher Verhaltensforschung, die Attrappe. Mit ihr lässt sich ein einziges Auslösermerkmal simulieren, isolieren oder auch ins Übernormale steigern. Angeborene „Urbilder“, alias Jungsche Archetypen, wären nach Lorenz schon darum ein Unsinn. Das Angeborene ist einfaches Merkmal, aber weder Bild noch Schema. Dagegen sind erworbene Schemata, erworben durch Dressur oder schließlich Prägung, ihrem Wesen nach kompliziert. In ihnen sind, so Lorenz, „alle Merkmale einer Situation zu einer Komplexqualität vereinigt“ ebd., . Kein Teil des Schemas kann vom anderen getrennt werden. Das gilt vor allem für die „Eigendressuren“. Wenn in einer bestimmten Situation eine bestimmte Bewegung mit dem Halm fürs 0est zum Erfolg führte, wird der Vogel diese Bewegung „nur in einer in allen Einzelheiten gleichen [Gesamt-]Situation“ wiederholen. Denn woher soll er einzelne, charakteristische Merkmale unterscheiden, es sei denn im unwahrscheinlichen )all, dass in verschiedenen Situationen immer ein einziges Merkmal gleich bleibt und alle anderen variieren ebd., f ? Lorenz spricht die „Komplexqualität“ oder „Komplexgestalt“ eines Auslösers als „Gesamtbild“ oder schlicht „Bild“ an ebd., z.B. . Vor allem jener besondere Typ von Erwerbung, der Lorenz berühmt machte, die „Prägung“, handelt durchweg von solchen Komplexgestalten oder Bildern. Schon Heinroth schrieb so zitiert Lorenz , dass die junge Graugans das erste Wesen, auf das sie trifft, „wirklich in der Absicht ansieht, sich das Bild genau einzuprägen“ Zitat ohne Angabe ebd., . Aus Merkmal und Schema wird „das Bild des Elterntiers“ ebd., . )reilich gibt es keine Prägung ohne dass sie mit ererbten, einfachen Schemata zusammenspielte. Vielmehr vereinigt die Prägung „die einzelnen, von einander unabhängigen [ererbten, PB] Auslöse-Schemata einzelner Triebhandlungen, wie ein Ausnähbild für Kinder sich zwischen die vorgestochenen Löcher einfügt, die an sich keine Beziehungen zueinander haben und nur durch einen )unktionsplan zusammengefaßt werden, dessen Ganzheitlichkeit von einer andern Seite her bestimmt wird.“ Ebd., Außerdem haben die geprägten Bilder mit den ererbten Merkmalen oder Schemata gemeinsam, dass sie unwiderruflich sind. Sie können nicht wie
ڸڲAusnähbilder bestehen aus vorgestanzten Löchern, die wie beim Malen nach Zahlen durch 0adel und )aden verbunden werden.
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andressierte Bilder wieder vergessen werden. Die geprägten Bilder bekommen bei Lorenz den gleichen Status wie die Organe des Organismus. Bilder als Organe: Lorenz beruft sich dafür emphatisch auf eine nobelpreisverdächtige Wissenschaft, die Entwicklungsbiologie Hans Spemanns ebd., f . Der Basler Biologe Adolf Portmann, der wie kein zweiter die tierische Erscheinung in den Mittelpunkt seines Denkens stellte, wird dereinst die gesamte sichtbare Außenseite der Tiere, das, was sie zeigen und zu sehen geben, als ein eigenständiges Organ bezeichnen, von gleicher funktioneller und struktureller Komplexität wie Herz und Auge Portmann , – .
Objekt Bild Schließlich aber kommt mit den geprägten Bildern bei Lorenz etwas in den Blick, was seinem Denken unvermutete Anschlussmöglichkeit schaffen wird: die „objektlos ererbten Triebhandlungen“ Lorenz , z.B. . So ist etwa das 0achlaufen, diese komplizierte Handlungsfolge der jungen Küken, zwar genauestens ererbt. Aber es hat zunächst kein „Objekt“. Auch wenn in Lorenz spontaner Philosophie des Wissenschaftlers die Begriffe von „Ding“ und „Gegenstand“ und „Objekt“ oft durcheinanderwirbeln, stellt sich die prinzipielle )rage: Ist dieses durch Prägung erworbene Objekt nun ein Bild – das Bild des Eltern- oder genauer: )olge-Kumpans? Ist das Objekt der Handlung ein Bild? Das wäre schon darum ein lohnendes )eld philosophischer Spekulation, weil dieses Objekt als Komplexgestalt oder Bild eben nicht irgendetwas, sondern jemand ist, nämlich „seinesgleichen“, also der Artgenosse. Ist seinesgleichen ein Bild? Ist er das Bild einer biologischen Art? Wie überindividuell, wie generell ist dieses Bild? Wenn Eltern und Geschwister im 0est das Bild prägen, das dann auf alle anderen Artgenossen übertragen wird, dann müssten, so Lorenz, „überindividuelle, artkennzeichnende Merkmale aus dem Bilde der Eltern und Geschwister herausgegriffen und für immer eingeprägt werden“ ebd., . Das wird lustig, wo „Umprägung“, etwa auf das Bild eines Menschen, ins Spiel kommt. Denn diese Umprägung scheint, zur narzisstischen Kränkung des Ornithologen, gar nicht auf einen bestimmten Menschen zu gehen, sondern auf die Art homo sapiens überhaupt. Lorenz erzählt von einer Dohle, „der ein Mensch den Elternkumpan ersetzte und die
ڹڲSpektakulärstes Beispiel: Als bei einer Überschwemmung des an der 0ewa gelegenen Instituts Ivan Pavlovs alle seine Hunde in der eiskalten 0ewa landeten, vergaßen sie sofort sämtliche Konditionierungen. ںڲHans Spemann, den sein )reiburger Kollege Martin Heidegger / zum Urtyp des „führenden )orschers“ ernannte, erhält genau im Jahre für die Entdeckung des „Organisatoreffekts“ den 0obelpreis für Medizin. ڱڳZum Sprachgebrauch von „seinesgleichen“ oder „ihresgleichen“ vgl. Lorenz , , .
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vollständig Menschenvogel‘ geworden war“. Als sie geschlechtsreif wurde, richteten sich ihre „geschlechtlichen Triebe nicht etwa gegen den früheren Elternkumpan, sondern vielmehr mit der vollkommenen Unberechenbarkeit des SichVerliebens ganz plötzlich gegen irgend einen verhältnismäßig fremden Menschen, irgend eines Geschlechts, ganz sicher aber gegen einen Menschen. Es scheint sogar, als ob der frühere Elternkumpan als Gatte‘ nicht in Erwägung käme. Woran aber bestimmt so ein Vogel unsere Artgenossen als Menschen?“ ebd., Hervorhebungen von Lorenz . Das also geschieht, mit Donna Haraways letztem Buch gesprochen, „When species meet“ Haraway . Lorenz: „Hier harren noch eine ganze Reihe hochinteressanter )ragen der Beantwortung!“ Lorenz , . Ding, Bild, Objekt oder Schema: all diese, das Lorenzsche Denken von tragenden )ragen, werden einen Weltkrieg später aus dem Diskurs der Biologie herausfallen. 0icolaas Tinbergen möchte sie bereits ein für alle Mal verabschieden, „dieses Wort Schema mit seiner mehr oder weniger mystischen )ärbung“ Tinbergen , . Tinbergen schlägt vor, nur noch von „auslösenden Mechanismen“ zu sprechen und das bleibt bis heute der Stand der Verhaltensbiologie Mc)arland , ff; Kapitel . : „Der angeborene Auslösemechanismus“ . Lorenz philosophische Vögel aber fragten nach einer Theorie des biologischen Bildes. Antwort oder Echo werden sie nicht in der Biologie finden.
III. Substitution – Übersprung – déplacement. Eine Verschiebung. Die Reden, Seminare, Schriften Jacques Lacans führen seit den er Jahren die Ethologie ins Denken der Psychoanalyse ein. Sie liegt präzise zwischen Lorenz Bildtheorie und Tinbergens Versuchen. „Es ist kurios, daß Konrad Lorenz, obwohl er nicht an meinen Seminaren teilgenommen hat, es für angebracht gehalten hat, das sehr hübsche und rätselhafte Bild des Stichlingsmännchens vor dem Spiegel an den Anfang seines Buches zu stellen.“ Lacan , . war in Paris „Konrad Lorenz: Les animaux, ces inconnus“ erschienen, die Übersetzung von Lorenz erstaunlichem, direkt nach Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft geschriebenem Buch „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den )ischen“ Lorenz . Weder auf dem Titelblatt noch im Buch findet sich allerdings das Bild des Stichlings vor dem Spiegel. Die er-
ڲڳ in einer Rede über „Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale“ Lacan , den Sitzungen über „Die Topik des Imaginären“ des ersten Seminars Lacan und Seminar „Über Psychose und Wahnsinn“ Lacan .
in im
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schienene deutsche Ausgabe von 0icolaas Tinbergens „Instinktlehre“ dagegen trägt als Titelbild Tinbergens Leittier: den Stichling vor dem Spiegel vgl. Abb. . Die Bildunterschrift möchte daraus die halbe Verhaltensbiologie begründen. „Abb. Männchen des dreistachligen Stichlings Gasterosteus aculeatus in Drohstellung vor dem Spiegel. Dies angeborene Verhalten S. hängt von inneren Stimmungsfaktoren S. und Außenfaktoren S. ab. Es schreckt andere artgleiche Männchen S. . Stammesgeschichtlich ist es ein ritualisiertes S. Übersprunggraben S. “ alle Zitate aus Tinbergen . Wo man also mit Lacan lange Zeit nur nach Menschenkind und Affe vor dem Spiegel fragte, da schwimmt des Meisters Denken schon mit dem Stichling, einem Wappentier der frühen Verhaltensbiologie.
Konkordanz Innenwelt – Umwelt Im Kontext der Psychose freilich Seminar von – kommt die )rage nach dem Bildverhalten der Tiere nicht aus der Psychologie, und sei es ihrer Krise nach Bühler, sondern aus dem Wahnsinn, la folie, der fünf Jahre vor )oucault explizit das Thema des Seminars ist. Gegen ein „Verstehen“ des Wahnsinns, etwa im Sinn von Karl Jaspers „Psychopathologie“ , stellt Lacan schlicht die Analyse von „Verhaltenszyklen“, das ist: Ethologie. Der Begriff des Verhaltens tauchte schon auf, mitten im Horizont des psychiatrischen Denkens der Zwischenkriegszeit. Die Psychiatrie müsse Verhaltenszyklen in der Auseinandersetzung der Psychotikerinnen und Psychotiker mit ihrer sozialen Umwelt beschreiben, nach Maßgabe von Jakob von Uexkülls „Innenwelt und Umwelt der Tiere“ von / Lacan , ; vgl. auch ebd., , sowie Hofer und Bühler , .
ڳڳEnglisch: „The study of instinct“ Tinbergen an der Columbia-University im Jahre . ڴڳMit der Lacan noch arbeitet und die wird.
. Es handelt sich um Tinbergens Vorlesungen nur noch mit pädagogischem Spott überzogen
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Abb. : Männchen des dreistachligen Stichlings Gasterosteus aculeatus in Drohstellung vor dem Spiegel. )ontispiz aus 0icolaas Tinbergens „Instinktlehre“
Der systematische Ausgangspunkt von Lacans biologischem Denken, hier wie anderswo, ist einfach: die „Konnaturalität“ oder „Koaptation“ von – in Lacans Texten immer auf deutsch – Innenwelt und Umwelt bei den Tieren Lacan c, . Innenwelt und Umwelt sind Teil eines geschlossenen „)unktionskreises“, mit Uexkülls Ausdruck vgl. etwa Uexküll , – . Lacan spricht von „instinkthaften Verhaltenszyklen“ Lacan , . Im Leben der Tiere sei auch die Beziehung zum anderen recht einfach: fressen oder vögeln, „quand l envie les en prend“ Lacan , . Doch taucht auch in den realen und vitalen Befriedigungen beim Tier etwas anderes auf. Man habe die fundamentale Rolle zeigen können, „die das Bild im Verhältnis der Tiere zu ihresgleichen spielt“ Lacan , . Er listet Tinbergens Standardbeispiele auf: das Profil des Raubvogels, die rote Brust des Rotkehlchens, der rote, rautenförmige Rachen im )ütterungszyklus und schließlich die Auslösung sexueller Verhaltensweisen beim Stichling vgl. etwa Tinbergen . Gerade die Sexualzyklen stünden, so Lacan , „bei den Tieren selbst unter der Abhängigkeit
ڵڳVgl. auch den Ausdruck „coaptation imaginaire“ in Lacan , . Co-aptation statt adaptation ist ein Wort aus der Chirurgie und bezeichnet die Annäherung und Verheilung der zwei Ränder einer Wunde oder eines gebrochenen Knochens. ڶڳLorenz wird den Ausdruck übernehmen vgl. etwa Lorenz , z.B. . ڷڳIm zweiten Seminar Lacans wird daraus, die Tiere ganz ins technische Dispositiv einschreibend, ein „Reflexbogen“.
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einer gewissen Zahl von Auslösern, Auslösemechanismen, die im wesentlichen der imaginären Ordnung angehören“ Lacan , . Warum imaginär? Lacan argumentiert, wie so oft, wissensgeschichtlich: weil die Auslöser im Experiment durch künstliche Mittel ersetzbar sind, durch Attrappen, un leurre, einen Köder, eine )alle oder Täuschung. Trotzdem handelt es sich noch immer um die Konnaturalität von Innenwelt und Umwelt, sie läuft jetzt nur über auslösende Bilder. Denn daß Auslöser, releasers, déclencheurs überhaupt funktionieren, hat zur Bedingung, daß die Lebewesen an ihre Umwelt „angepaßt sind“ und mit ihr einen geschlossenen )unktionskreis bilden. Das Seminar von – wird einen speziellen über Bilder laufenden )unktionskreis analysieren: den Tanz der Stichlinge. „Le sujet animal“, männlich oder weiblich, sei hier ganz gefangen von einer „Gestalt“ im )ranzösischen auf Deutsch : ein duales, in sich abgeschlossenes und reziprokes Verhältnis von Auslösung und Verhalten, Bild und Bild Machen. In diesem Augenblick findet sich das Subjekt vollkommen mit dem Bild identisch, das die totale Auslösung eines bestimmten motorischen Verhaltens kommandiert, das seinerseits, in einem bestimmten Stil, dasjenige Kommando produziert und dem Partner übermittelt, welches ihn den anderen Teil des Tanzes ausführen läßt Lacan , .
Doch nur „seinesgleichen“ löse dieses Verhalten aus, das ist: Artgenosse oder -genossin. Die psychoanalytische Mission der Stichlinge geht bei Lacan auf die )reudsche Unterscheidung von Objektlibido und narzisstischer Libido. Bei den Stichlingen falle beides in eins, ja ihr Tanz als solcher sei das Bild dieser conjonction. Lorenz )rage nach Bild und Objekt, Bild als Objekt und „objektlos ererbtem Trieb“ reformuliert sich: In der Tat ist die Bindung eines jeden Objekts an das andre [die beiden Stichlinge, PB] aus der narzißtischen )ixierung an dieses Bild gemacht, denn es ist dieses Bild, und nur dieses, was er [der Stichling, PB] erwartet hat ebd.
Aber das menschliche Subjekt? „Où le situer alors?“ Lacan , . Lacan situiert es in einer wissensgeschichtlichen Unterbrechung. In einer bekannten, aus der Geschichte der physiologischen Optik verbürgten Anordnung „mein kleiner Apparat“, „den ich erfunden habe“ : dem Experiment mit umgedrehter Vase, Blumenstrauß, Hohl-und Planspiegel, endet der Diskurs der Biologie. Die
ڸڳDer eine Kreis kann, folgt man Lorenz, auch aus getrennten )unktionskreisen bestehen. Wie mehrere Auslöser nur zufällig in einem Ding, so sind )üttern, )olgen auf dem Boden, )olgen in der Luft nur zufällig in einen einzigen Artgenossen vereint. Sie könnten auch auf verschiedene Artgenossen, ja sogar auf Tiere anderer Arten verteilt sein vgl. etwa Lorenz , f ڹڳOder schlichter formuliert: „Das Tier lässt ein reales Objekt mit dem Bild, das in ihm ist, koinzidieren“ ebd. .
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Rede über die Tiere unterbricht sich schließlich selbst in einem symbolischen Universum von Linien, Buchstaben, Schemata aus dem Physikbuch und auf der Tafel. Das viermal erneuerte, ergänzte und umgearbeitete Schema vom Experiment mit der umgedrehten Blumenvase wird dem Imaginären der Tiere einen genauen Platz zuweisen: er liege dort, wo die Optik und das Auge ein „reelles Bild“ der Vase lokalisieren, also vor dem Hohlspiegel, wo sich dieses reelle Bild in die Welt der realen Objekte einordnet, s’insère. Beim menschlichen Subjekt dagegen sind Bilder und Objekte sowie alle „Erscheinungen der sexuellen )unktion durch eine eminente Unordnung charakterisiert“. Sie lässt sich im Experiment mit der umgedrehten Blumenvase, Version drei, nicht am Ort des reellen Bilds lokalisieren, sondern in einem „Versteckspiel“, jeu de cache-cache, zwischen dem Bild und dem „normalen Objekt“; im imaginären Bild Planspiegel des reellen Bilds Hohlspiegel ; in einer halb transparenten Glasscheibe statt des Spiegels, die auch das Objekt durchscheinen lässt – usw. Lacan , . Mit diesen Bilder-Spielen und ihrer schematischen Verzeichnung beginnt sowohl beim Subjekt als auch in der Anordnung der Diskurse die Ordnung des Symbolischen. Zwei Jahre später wird dem Bruch von der Biologie des Imaginären zum symbolischen Universum ein Zwischenspiel in der Biologie selbst vorgelagert sein. Das ist: eine spezielle Situation tierischen Verhaltens, auf die Lacan immer wieder zurückkommt. Mitten im biologischen Bild als Medium konnaturaler )unktionskreise ereigne sich hier plötzlich etwas anderes: eine Verschiebung, un déplacement, a displacement.
Displacement „Verschiebung“ ist an dieser Stelle kein Lacanismus, aufgespannt zwischen )reuds Verschiebungsarbeit und Roman Jakobsons shifters. Es ist ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Displacement reaction bezeichnet im Jargon der Ethologie einen bestimmten Moment im Verhalten mancher Tiere.
ںڳIn diesem )all Bouasse , f. ڱڴDas „virtuelle Bild“ des Planspiegels, das in die zweite und dritte Version der Anordnung eingeführt wird, liegt hinter der Spiegelebene.
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Die Drohgebärde des Stichlings nämlich ist, näher betrachtet, merkwürdig. Der )isch steht senkrecht und, so Tinbergen , „der nach unten gerichtete Kopf stößt ruckweise in den Boden“ Ter Pelkwijk/Tinbergen , ; vgl. Abb. und . Diese Bewegung ist die gleiche wie die bei der Suche nach 0ahrung im Sand. Sie ist auch die gleiche wie die beim Graben, wenn das Männchen im Sand die Mulde für das 0est herstellt. nun machen unabhängig voneinander die zwei Holländer Adriaan Kortlandt und 0icolaas Tinbergen eine Reihe merkwürdiger Beobachtungen vgl. Kortlandt , Tinbergen und Tinbergen . Sie sehen zwei Hähne kämpfen und auf dem Höhepunkt des Kampfes fangen die Hähne plötzlich an, im Sand nach Körnern zu picken; sie sehen zwei Vögel, zwei Säbelschnäbler, kämpfen und plötzlich steckt der eine Vogel seinen Kopf ins Gefieder als würde er schlafen; sie sehen zwei Entenerpel kämpfen und plötzlich, mitten im Kampf, fängt der eine an, sich demonstrativ die )edern zu putzen und zu glätten.
Abb. : Das drohende Männchen fixiert das Modell. Aus 0icolaas Tinbergens Die Übersprungsbewegung, Zeitschrift für Tierpsychologie
Kortlandt und Tinbergen stellen zunächst die Hypothese auf, hier würden zwei widerstrebende Triebe, )lucht und Angriff aufeinander treffen Tinbergen , ff; Kortlandt und entwerfen drei Auswege aus dem Dilemma: . eine kompromissuelle Handlung; . eine wechselnde )olge von )liehen und Angreifen; oder . der Ausweg, plötzlich etwas ganz anderes zu tun. Man spricht zunächst von irrelevant movements oder sparking over actions, Übersprungsfunken von einer Handlungsbahn in die andere, oder auch von substitute activity. Tinbergen, Huxley, Thorpe werden das Phänomen schließlich auf den 0amen displacement acitivity taufen Tinbergen , . Tinbergen konstruiert mit seinen Stichlingen und dazu zwei Experimente.
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Wenn ein Stichlingsmännchen in der Brunftzeit Revierverhalten entwickelt, verjagt es fremde Stichlinge aus dem eigenen Territorium; im fremden Territorium dagegen flieht es sofort, wenn es angegriffen wird. Probleme entstehen nur an der Grenze zweier Territorien. Oft sieht man hier zwei 0achbarn endlos und hektisch hin- und herschwimmen. Oder in manchen )ällen dann auch drohen. Damit setzt Tinbergens experimentelle )rage ein: Kann man „ein Tier, das in Angriffsstimmung ist, durch [künstliche, PB] Erregung des )luchttriebes zum Drohen bringen“, das ist: in die senkrechte Lage? ebd., Tinbergen stellt also eine Stichlingsattrappe im vollen Prachtkleid im Revier des Stichlings auf vgl. Abb. . „Läßt man nun die Attrappe zurückkämpfen, indem man das Männchen fortwährend mit ihr anstößt, so hat das anfänglich nur stärkere Reizung des Kampftriebes zur )olge, bald aber Reizung des )luchttriebes. Das Männchen benimmt sich dann, als wäre es von einem Eindringling besiegt worden und verkriecht sich irgendwo zwischen den Pflanzen. Hält man die Attrappe nun ruhig, so kommt das Männchen allmählich wieder zum Vorschein und greift auf einmal wieder an. Jetzt aber wechselt es mit Kämpfen und Drohen.“ Ebd. Drohen lässt sich also, so die erste Erkenntnis, durch eine Attrappe provozieren. treibt Tinbergen die Sache ins Extrem. Er sperrt fünf Stichlinge auf engem Raum zusammen. Sofort setzt ein wildes Drohen und )liehen und Kämpfen und wieder Drohen ein. Diese Aktivität hinterlässt Spuren: das Bild eines )elds mit Löchern oder Trichtern vgl. Abb. . Denn bei jedem Drohen gräbt der Stichling ein Loch in den Sand als würde er für das Weibchen ein 0est vorbereiten. Es sind richtige, tiefe Löcher und die Handlung keine schwächere )orm der originalen Grabhandlung, ja sie ist sogar verstärkt einer der Stichlinge etwa gräbt eine riesige Grube . Die Löcher markieren nun das Territorium des Stichlings wie Trichterfelder die )rontlinien des Ersten Weltkriegs. Bildunterschrift: „Gestrichelt: Grenzen, denen entlang die Revierbesitzer einander androhen; dazwischen 0iemandsland.“
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Abb. : Reviere zweier Stichlingsmännchen in einem überbesetzten Aquarium, im Übersprung gegrabene Löcher. Gestrichelt: Grenzen, denen entlang die Revierbesitzer einander androhen; dazwischen 0iemandsland. Aus 0icolaas Tinbergens „Instinktlehre“
Lacans Stichling Wie verschoben kommt diese Verschiebung als Bildverhalten des Stichlings in Lacans Theorie des Imaginären an? Zunächst wird sie als Verschiebung zwischen zwei verschiedenen Verhaltenszyklen gedeutet: aus dem „Kampfzyklus“ in den „Zyklus des Sexualverhaltens“. Wenn bei den Vögeln, so Lacan , mitten im Kampfzyklus „plötzlich einer der Kämpfenden beginnt, sich die )edern zu glätten“, dann scheint man hier „das jähe Auftauchen eines Segments aus dem Paradeverhalten zu beobachten“ Lacan , . Denn jedes Paradeverhalten, so wäre die biologische Behauptung, ist ein sexuelles und es gäbe keine genuin kriegerischen Paraden . Im Seminar über die Psychosen drei Jahre später beschreibt Lacan dann ein weiteres Mal und ohne 0ennung von 0amen und Quellen Tinbergens Versuche: das Revier des Stichlings und den Tanz, das röhrenförmige 0est, wie „ein kleiner Tunnel“. „Aber es gibt da noch etwas, das nicht leicht zu erklären ist, daß nämlich das Männchen, wenn alles vollbracht ist, noch Zeit findet, hier und da eine Menge kleiner Löcher zu machen“ Lacan , . Die Löcher des Stichlings – bei deren falscher Lokalisierung im Verhaltenszyklus wir uns nicht aufhalten – ereilt dann eine Verschiebung des Diskurses: in Philosophiegeschichte. Am Ende von „Das Sein und das 0ichts“ entwickelt Jean-Paul Sartre eine Reihe von fundamentalen, qualitativen, an Dinge gebundenen Erfah-
„ ڲڴEin wahrhafter Tanz, eine Art Hochzeitsflug findet statt, bei dem es zunächst darum geht, das Weibchen zu bezaubern, dann es sanft dazu zu verleiten, sich es sich gefallen zu lassen à se laisser faire und in einer Art kleinem Tunnel zu nisten, das man ihm zuvor verfertigt hat“ Lacan , . ڳڴEs scheint der Rhetorik geschuldet, dass die kleinen Löcher während des Sexualzyklus fabriziert werden: denn das Argument läuft ja grade darauf zu, dass in den Kampfzyklus ein )ragment des Sexualzyklus, alias 0estbau, eingeschoben wird. ڴڴÜber ein ähnliches Verfahren Lacans im „Seminar über die vier Grundbegriffe“ siehe Berz .
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rungen der Seinserschließung: das Klebrige, das Dunstige, das Teigige und am Ende das Loch, die Löcher, „Löcher im Sand und in der Erde“ Sartre , . Vor aller psychoanalytischen Deutung, so Sartre, gebe es das Loch als fundamentales Phänomen. Gerade im Leben der Kinder sei es unübersehbar präsent. „Alle Arten von Löchern Löcher im Sand, in der Erde, Grotten, Höhlen, Vertiefungen “ ebd., übten eine Anziehung auf Kinder aus. Die Löcher sind entweder das, was zu stopfen ist, bis hin zum Daumenlutschen, ja zum Essen als Stopfen eines Lochs. Oder die Löcher gehören dem „umgekehrten Trieb an, dem Trieb, Löcher zu bohren“ ebd. . Die ganze Sexualisierung des Lochs, die die Psychoanalyse versucht, setze, so Sartre, die qualititative Urerfahrung des Lochs voraus. Lacans Echo: „[D]iese Scheinmanifestationen der 0egativität […], nun, ich glaube, daß diesbezüglich das Stichlingsmännchen nicht im Rückstand ist“ Lacan , . Die Sartre-Verschiebung führt bei Lacan, Sartres Gedanken entwendend, ins Drohverhalten des Stichlings ein Sexualverhalten ein, was Kortlandt und Tinbergen nicht tun. Das Löchergraben des Stichlings in der Drohgebärde wird als Teil eines Sexualzyklus verstanden, als „Grenzreaktion zwischen Eros und Aggressivität, die durch das Bohren der Löcher angezeigt wird“ Sartre , . Biologisch müsste man also das Graben und 0estbauen, das vor dem Hochzeitstanz stattfindet, bereits als Teil des Zyklus der Verführung begreifen. Das bleibt prekär. Zumal es andere, vielleicht schlagendere Beispiele dafür gibt als den Stichling, wenn etwa Kortlandt von Vögeln berichtet, die sich mitten im Kampf auf ihren Gegner setzen und Kopulationsbewegungen ausführen Kortland , f. Wie dem auch sei: Weil nur in den sexuellen Registern „die Ordnung der imaginären Befriedigung“, de la satisfaction imaginaire, zu finden ist Lacan , , darum findet gerade hier die Verschiebung heraus aus der vitalen 0otwendigkeit, dem Kampf der Arten auf Leben und Tod, in das Register des Bild-Machens statt. Das sexuelle Verhalten biete auch bei den Tieren die größte possibilité de déplacement, also )reiheit, überhaupt ein Bild darzubieten und zugleich )reiheit, „ein falsches Bild“ darzubieten Lacan , . „So gehen wir davon aus, daß ein Verhalten imaginär werden kann, wenn seine über Bilder erfolgende Weichenstellung und sein eigener Wert als Bild für ein anderes Subjekt es zu einer Verschiebung aus dem Zyklus heraus befähigen, der die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses sichert“ Lacan , .
ڵڴDass Sartres Psychologie des menschlichen Wesens „beim Bourgeois“ landet, „der dabei ist, sich am Strand zu zerstreuen“, ist freilich eine Urlaubsphantasie Lacans und bei Sartre nicht zu finden Lacan , . ڶڴVgl. jüngst )urrer . Darin auch der Hinweis auf die weder Sartre noch Lacan noch die Stichlinge bedenkende Psychoanalyse der Löcher bei Ricardo Rodulfo Rodulfo . „ ڷڴSagen wir, daß in der Tierwelt der ganze Zyklus des sexuellen Verhaltens vom Imaginären beherrscht ist“ Lacan , .
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Mit dieser Verschiebung aber beginnt, so Lacan, eine andere Ordnung. Das „verschobene instinktive Verhalten beim Tier“ gebe „den Aufriß“, die erste Andeutung, l’ébauche, „eines symbolischen Verhaltens“ ebd. . Rückübersetzt in die Wissensgeschichte der Biologie: das Graben, im Zyklus der Reproduktion eine funktionale Triebhandlung, nimmt einen imaginären Wert für ein anderes tierisches Subjekt an und eben darin zeigt sich die erste Andeutung einer Symbolbildung. Im Unterschied also zur Ethologie nach Lorenz und Wickler, nach der sich Symbolhandlungen und Signale durch mimische Übertreibung einer einzelnen Intentionshandlung ins Unwahrscheinliche entwickeln, ereignet sich hier das Symbolische in der Verschiebung eines ganzen Handlungszyklus ins Bildhafte: in Parade, Demonstration, Verführung.
IV. Ein sekundärer Nesthocker Das alles findet schon beim „tierischen Subjekt“ statt. Über den Bruch zum menschlichen Subjekt ist damit noch wenig gesagt. Dieser Bruch gründet bei Lacan selbst auf einem Bild oder, genauer, der Reduktion auf ein einziges Bild: das Spiegelbild des eigenen Körpers. Dieses Bild gehört nicht nur der Geschichte einer alten Kulturtechnik an, die eines geschichtlichen Tages ebenso in der physikalischen Optik wie in bürgerlichen Schlaf-und Kinderzimmern ankommt. Auch das Bild im Spiegel hat eine Biologie. Tinbergen stellt irgendwann in den er Jahren ein Stichlingsmännchen vor den Spiegel vgl. Abb. ; siehe etwa Tinbergen , . Lacan: „Was macht es?“ Es macht das gleiche wie vor der Attrappe von seinesgleichen gleichen Geschlechts: stellt sich senkrecht und tut so als würde es Löcher bohren. „Anders ausgedrückt, sein Bild im Spiegel läßt es nicht gleichgültig“ Lacan , , auch wenn es nicht wirklich in den erotischen Verhaltenszyklus eintritt, also tatsächlich Löcher bohrt. Das Spiegelbild als Köder versetzt den Stichling in eine angetäuschte, verwirrte Lage, ein déreglement, das nicht mehr in der Koaptation von Innenwelt und Umwelt aufgeht.
ڸڴMit Parade, Verführung, Despotismus lässt Lacan schon im Enzyklopädie-Artikel über „Die )amilie“ früheste Identifikationsformen im Spiel zweier etwa gleichaltriger Kinder im Alter von einem halben bis zu zwei Jahren beginnen vgl. Lacan c, und . ڹڴDass Lacan ganz selbstverständlich vom „tierischen Subjekt“ spricht, würde am Ende ebenso von seiner lamarckistischen Inspiration zeugen wie davon, dass das lacansche Subjekt eben nichts mit dem Menschen zu tun hat.
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Beim Menschenkind aber greift das Spiegelbild als Köder in eine Lage ein, die selbst schon auf eine fundamentale Weise deplaziert ist. Der Diskurs über sie kommt aus der Biologie, das ist: der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der Säugetiere. Biologisch nämlich ist einer frühen Arbeit Adolf Portmanns folgend der Mensch schon darum kein „echtes Säugetier“ Portmann , , weil er weder zur Gruppe der Nesthocker noch zur Gruppe der Nestflüchter gehört. Eichhörnchen, Iltis, Marder gebären nackte, hilflose Junge, deren Augen sich erst Wochen nach der Geburt öffnen, als feuchte Organe also vor Austrocknung an der Luft geschützt sind. Elefanten, Kälber, Giraffen dagegen können schon in der ersten Stunde nach ihrer Geburt stehen und der Herde folgen oder wie die Schimpansen sich aktiv ins )ell der Mutter klammern. Ein Dogma der vergleichenden Entwicklungsbiologie besagt, dass die 0estflüchter nach Aktionsradius, Bauplan, Gehirngröße die evolutionär höher organisierten )ormen seien. Ein Beweis: 0estflüchter machen im Mutterleib die Phase der verschlossenen Sinnesorgane durch, die beim Embryo, der im Amnion ohnehin gegen Austrocknen geschützt ist, rein funktionell schwer zu erklären ist ebd., und . Und das neugeborene Menschenkind? 0ackt und schutzlos scheint es ganz und gar auf Hilfe aus der Umgebung angewiesen, wie ein typischer 0esthocker. Aber der erste Eindruck täuscht. Denn näher besehen trägt das Kleine alle biologischen Kennzeichen eines 0estflüchters: Augen und 0ase stehen weit offen, das zentrale 0ervensystem gleicht dem eines )ohlens, die motorischen )asern im Rückenmark entsprechen schon denen des Erwachsenen und auch die unkoordinierten Bewegungen sind nicht nur Hilflosigkeit, sondern aktives und „freies Spiel der Gliedmaßen“, also „Spielraum“ ebd., . 0ur ist dieser 0estflüchter, das Menschenkind, genau ein Jahr zu früh geboren, um ein „echtes Säugetier von menschenartiger Organisation“ ebd., zu sein. Darum ist es so schutzlos. Die Biologie spricht von einem „sekundären 0esthocker“, dessen erstes Lebensjahr ein „extra-uterines )rühjahr“ sei ebd., und . Durch dieses erste Jahr unterscheide sich die Ontogenese des Menschen strukturell von der aller Säugetiere. Die Einebnung seiner Beson-
ںڴUlrike Kadi spricht genau an dieser Stelle, mit Verweis auf Portmann, von Lacans „ungenauem Begriff von 0atur“ Kadi , und beruft sich auch auf das Diktum von einer „heimlichverbotenen Verbindung von transzendentaler Philosophie und empirischer Biologie“ in Lacans frühem Denken Gekle , zitiert bei Kadi , , Anm. . Eine Analyse der vielfältigen, wenig heimlichen und diskursstrategisch sehr reflektierten biologischen Elemente in Lacans Diskursanordnungen könnte am Ende ein anderes Licht auf diese )ragen werfen. ڱڵZu Bühlers Begriff des Spielraums vgl. weiter oben. ڲڵZwei wichtige Beweise für den „fötalen Charakter der )rühzeit“: bei allen höheren Säugetieren sind die 0eugeborenen „verkleinerte Abbilder der Reifeform“, beim Menschen nach allen Proportionen nur entfernt, jedenfalls, wenn man sich nicht, wie üblich, allein auf Kopf und Gesicht fixiert; im ersten Jahr wächst das Menschenkind sehr viel schneller als alle anderen Säugetiere, nach dem ersten Jahr aber um ein Vielfaches langsamer Portmann , – und f.
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derheit im Dispositiv von Abstammungen, Stufenmodellen, biogenetischem Grundgesetz zeige nur, so Adolf Portmann, das „Unverbindliche der Abstammungsdiskussionen“ ebd., und f . Dagegen setzt er, gut lamarckistisch und phänomenologisch, die „Einheit eines Entwicklungsgeschehens“ ebd. : die strukturelle Gleichzeitigkeiten, von stabiler Lage, also Stehen, und 0achsprechen etwa; die aktive Instabilitäten, das drängende Herstellen immer neuer Situationen, Herumprobieren, Lallen, schließlich 0achahmen ebd., – , – ; die daraus langsam entstehende „intensive Kenntnis des eigenen Körpers, das Verfügen über die Bewegungen der Arme und Beine […], aber auch die Macht über die Bewegungen der Lautorgane“ ebd., , usw. Das Menschenkind wachse im ersten Lebensjahr eben nicht abgeschlossen im Mutterleib und durch „Selbstdifferenzierung“ heran, sondern „durch Kontakt mit der Umgebung“. Und das heißt, nach Portmanns folgenreicher Bemerkung: durch „ungezählte Ereignisse‘, die einmalig sind“. In diesen einmaligen, biologisch nicht determinierten, artmäßig nicht gleichförmigen Ereignissen gründe am Ende das „Geschichtliche“ als solches, also auch eine Geschichte des Subjekts ebd., . Am . August interveniert ein junger Psychiater aus Paris auf dem der Kinderanalyse gewidmeten Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Marienbad in diesen Diskurs über das erste Lebensjahr. Weniger durch Herumprobieren, wie die Biologen es wollen, gewinne das Menschenkind eine erste Beherrschung, maîtrise, des eigenen Körpers vgl. etwa ebd., als durch Angleichung an Bild und Gestalt von seinesgleichen. Darin entstehe etwa ab dem sechsten Monat, der Mitte des extra-uterinen )rühjahrs, bis zum etwa achtzehnten jene )orm im emphatischen Sinn, über die erst die eigenen Bewegungen bis in ihre Statik hinein koordinierbar werden Lacan , f . Die Intervention hat ihr Besonderes auch darin, daß sie anders als Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker sonst das Bild vom eigenen Körper als einen biologischen Diskurs einführt. 0icht nur weil das Bild in eine biologisch definierte déhiscence oder béance fällt, eben die „normalisierte )rühgeburt“, in der Innenwelt und Umwelt auseinanderklaffen, oder weil, von der Ethologie her gesehen, jedes biologische Bild eine Attrappe, ein Köder, un leurre ist. Sondern darum, weil erstens die Angleichung ans Bild von seinesgleichen biologisch verbürgt scheint: in der Gonadenreifung der Tauben beim Anblick ihres Artgenossen, der auch ein Bild sein kann, oder im Übergang der Wanderheuschrecken vom solitären Stadium zum Schwarmstadium, ausgelöst durch den Anblick eines Artgenossen mit artspezifischen Bewegungen Lacan , . Und weil sich ڳڵDamit relativiere sich, so Portmann, auch die Reichweite von Haeckels „biogenetischem Grundgesetz“. ڴڵSo taucht etwa das „Körperschema“, ein Konzept des Wiener Psychiaters und Kriegsversehrtenarztes Paul Schilder , in der Phänomenologie Schelers und Merleau-Pontys auf. In der französischen Psychoanalyse denken vor allem Henri Wallon und und Jean Lhermitte über la notion, l’image du corps propre nach.
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zweitens der Mechanismus selbst der Angleichung ans ganze Bild vom eigenen Körper auf ein biologisches Phänomen berufen kann. Lacan setzt hier gegen den 0achahmungstrieb beim Affen die Mimikry der Insekten, wie sie der Philosoph Roger Caillois seit den surrealistischen er Jahren beschreibt. Deren lamarckistische Quintessenz besagt, dass in der heteromorphen Angleichung einer )alterart an eine andere, einer Heuschrecke an ein grünes oder auch, in einer äußersten Übertreibung oder Hypertelie, an ein trockenes, verwelktes, mit Schimmel besetztes und angefressenes Blatt nicht die Selektion durch )ressfeinde wirkt, sondern eine pathologische Verrückung in der 0atur selbst. Wie in manchen psychasthenischen Zuständen gewinne hier der Raum, normalerweise Garant der Trennung von Organismus und Umgebung, eine solche Dichte und Macht über die Lebewesen, dass sie in ihm aufgehen, ihm gleich werden. Eben diesen, bei Caillois in allen biologischen Einzelheiten ausbuchstabierten Prozeß ruft Lacan auf, um die Macht des einen Bildes zu begründen ebd., , über das im Unterschied zur reichen Bilderwelt der Tiere das Imaginäre des Menschen laufe. Die Beziehung zum eigenen Körper charakterisiert beim Menschen das letztlich reduzierte, [das ist: im Vergleich zu den Tieren reduzierte, PB] aber irreduzible )eld des Imaginären. Wenn irgendwas beim Menschen der imaginären )unktion entspricht, wie sie beim Tier wirksam ist, so ist es all das, was ihn in elektiver, aber stets äußerst schwer erfaßbarer Weise zur allgemeinen )orm seines Körpers in Beziehung setzt, wo dieser oder jener Punkt – beim Tier als releaser wirksam – als erogene Zone bezeichnet wird Lacan , .
Auch wenn Serge Leclaire die Artikulation dieser Zonen dereinst direkt als „buchstäbliche Ordnung“ ansprechen wird: in Lacans Theorie des menschlichen Subjekts ist die Beziehung zur Bild-Attrappe des eigenen Körpers, jenem Doppelgänger oder „andern“ mit kleinem a, zugleich die Eröffnung der Sprache und sie liegt vor der Sprache. „Am Ursprung, vor der Sprache, à l’origine, avant le langage, existiert das Begehren nur auf der einzigen Ebene der imaginären Beziehung des Spiegelstadiums, projiziert, entfremdet im andern“ Lacan , . Im ganzen Unterschied zum Tier nämlich etabliert die imaginäre Beziehung beim Menschen nicht einen geschlossenen )unktionskreis im Dispositiv der Adaptation, sondern eine „Spannung“, das ist: eine imaginäre Konkurrenz auf Leben und Tod zwischen dem Ich und seinem andern als Bild. „Sie hat keinen anderen Ausweg – wie Hegel uns lehrt – als die Zerstörung des andern“. Struktur und Lösung dieser zerstörerischen Bildfaszination des menschlichen Subjekts demonstriert das Seminar über die Psychosen an einem Gedankenexperi-
„ ڵڵDas ist übrigens auch die einzige wirklich fundamentale Differenz zwischen der menschlichen Psychologie und der tierischen Psychologie. Der Mensch weiß sich als Körper …“ Lacan , . ڶڵSpäter im Seminar wird die Dialektik der Anerkennung in Hegels Herr und Knecht explizit zum Thema vgl. Lacan , – .
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ment. In dessen Mitte taucht ein sehr merkwürdiges Phylum von Tieren auf. Man nehme an, was niemals der )all sein wird: die Beziehung des Menschen zu seinesgleichen beschränke sich auf die imaginäre Bildrelation, diese „assimilierende und dissimilierende )esselung“, capture Lacan , . Man entwickle dann aus dem gedachten Experiment ein durchführbares. In den er Jahren lernt Lacan die kleinen, biologisch streng nach Linné, also binär klassifizierten Wesen der Gattung Machina des amerikanischen Kybernetikers William Grey Walter kennen: M. sopora, M. labyrinthea, M. speculatrix vgl. Walter , – [mit Dank an Jan Müggenburg, Wien/Lüneburg!]; vgl. auch Lacan , . Die kleinen Maschinen ähneln zwar Stichlingen kaum und Schildkröten nur entfernt, doch lassen sich auch mit ihrer Hilfe, so Lacan im direkten Anschluss an den Stichling, bestimmte Verhaltenszyklen experimentell untersuchen. Machina speculatrix etwa, ausgestattet mit Lichtsensoren und Leuchtorganen, steht schon bei Grey Walter vor dem Spiegel: sie schaltet nach Maßgabe ihres im Spiegel gesehenen Lichts ihr Licht aus, gerät also in eine klassische singing condition – „das Geschöpf zögert vor einem Spiegel und flattert und zittert und trippelt wie ein 0arziß“ Walter , . Lacan schlägt dann eine Erweiterung der Maschine vor. Man konstruiere einen Vertreter der Gattung, der die rechte Pfote nur dann synchronisiert mit der linken heben kann, wenn „ein photoelektrischer Empfangsapparat das Bild einer anderen Maschine überträgt, die im Begriff ist, harmonisch zu funktionieren“, sprich: das gleiche zu tun Lacan , . Man nehme schließlich einen ganzen Schwarm solcher Maschinen und werfe sie auf die freie )läche einer Autoscooterbahn. Da jede Maschine durch den Anblick der anderen reguliert wird, „ist es mathematisch nicht unmöglich“, dass irgendwann alle Maschinen aufeinander zustürzen und sich „im Zentrum konzentrieren“, verkeilen, gegenseitig blockieren: im Bild einer allgemeinen Karambolage, une collision, un écrabouillement général. „Aber, Dieu merci, das Subjekt ist in der Welt des Symbols, das heißt in einer Welt von anderen, die sprechen“ Lacan , , und nicht in einer Welt „blokkierter Maschinen“, wie Lacans Kybernetismus geruht, die Tiere auch anzusprechen Lacan , . Dem merkwürdigen Subjekt aber, le sujet bicornu, das der Mensch ist, wäre nicht einmal ein „animales Leben“ möglich ohne die „überlagerte“ symbolische Ordnung Lacan , . Wenn also dieses Subjekt in „der Erfahrung“, das ist: Übertragung, durch seine Verwechslungskomödien, täuschenden Reden, scheinbaren oder echten Kontrakte in die Kommunikation eintritt und damit in die Anerkennung des anderen als System der Sprache, so tritt das Subjekt wissenschaftsgeschichtlich aus der imaginären Ordnung der Tiere, also dem Wisssen der Biologie, in die Geschichte buchstäblich schematisierter Anordnungen von physikalischer Optik oder Maschinen, jener „radikalsten symbolischen Aktivität beim Menschen“ Lacan , . Einer biologischen Bildwissenschaft wüchse damit ein wissenstheoretischer Standort zu, den sich die Biologie selbst wohl kaum träumen ließe.
Peter Berz
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Rezensionen
Tim-)lorian Goslar
Eine Kritik der technischen Vernunft? Oliver Müllers Technikphilosophie zwischen Selbst und Welt Rezension zu: Oliver Müller: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung, Berlin/Boston . Im Kontext seiner „Geistesgeschichte der Technik“ macht Hans Blumenberg darauf aufmerksam, dass der Akzeptanz und Realisierung der neuzeitlichen, konstruktiven Technik lange Zeit insbesondere eines im Wege stand: Es mangelte an einer Sprache, die imstande gewesen wäre, das zu konzeptualisieren und zu einem Verständnis zu bringen, was die Technik an Möglichkeiten eröffnete vgl. Blumenberg , Blumenberg . Ihr Potenzial sprengte den Rahmen des seinerzeit Vorstellbaren und verstieß gegen eine über Jahrhunderte mühsam aufrecht erhaltene Weltordnung. Inzwischen scheint ein Alltag ohne Technik zwar kaum mehr vorstellbar, doch noch immer stößt sie auf )aszination wie Unverständnis gleichermaßen, scheinen Akzeptanz und Dämonisierung der Technik nah beieinander zu liegen. Dies mag auch darin begründet liegen, dass der Begriff der Technik auf der einen Seite für technische Maschinen und Apparaturen steht und auf der anderen Seite für eine bestimmte Verfahrensrationalität, mittels der der Mensch die Technik und mit ihr die Welt als eine technische allererst hervorbringt. Bevor eine Antwort auf die )rage gefunden werden kann, weshalb wir der Technik mit einer solch ambivalenten Haltung gegenüberstehen, führt der Weg über eine Auseinandersetzung mit den ideengeschichtlichen Positionen zum Thema Technik, auf dem Oliver Müller die Grundlagen seines Projekts erarbeitet. Vorab möchte Müller jedoch der angedeuteten begrifflichen Schwierigkeit Rechnung tragen: Ausgehend vom antiken Verständnis der téchne und der poíesis sei Technik als die Einsicht in die Art und Weise verstanden worden, wie etwas hergestellt werde. Unter Techniken seien folglich „anwendungsorientierte )ormen des Wissens“ zu verstehen, die „kategorial von wissenschaftlichen und künstlerischen Wissensformen [nicht] zu unterscheiden“ Müller , seien. Von diesem Verständnis der Technik gelte es wiederum Technologien abzugrenzen, d. h. die „industriellen und maschinellen Verfahren“, mittels derer die „Menschen auf die Welt einwirken, sie verändern und gestalten“. Unter Technisierung versteht Müller „einen Prozess der Veränderung von Selbst und Gesellschaft durch Technologien“ ebd., . Die Welt, die der Mensch hervorbringt, wirkt schlussendlich rück auf den Menschen selbst, so dass Technik und Technisierung nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Müllers Technikbegriff umfasst instrumentelle Tätigkeiten, die technische Rationalität, die technisch moderierte Wechselwirkung zwischen Selbst und Welt
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sowie die Rückwirkung des technischen Handelns und der Technik auf das Selbst: Technik ist „das technische Tun fundierende Weltverhältnis“, Technisierung „die Steigerung und Verdichtung dieser Art von Technik“ ebd., . Vor dem Hintergrund dieses weiten Technikbegriffs zeichnet sich das Anliegen der vorliegenden Untersuchung bereits ab: Es gilt „Beschreibungsformen und Deutungsmuster“ zu generieren, um das „technische Selbst- und Weltverhältnis“ ebd., angemessen zu bestimmen. Zu Beginn der vorliegenden Untersuchung moniert Müller ein philosophisches Vergessen: Die „Versuche philosophischer Selbstvergewisserung über das Leben in der technischen Zivilisation [seien] in der derzeitigen Debatte kaum präsent“, da im Bereich „der angewandten Ethik“ kein Interesse „für das Verstehen größerer kultureller Zusammenhänge“ ebd., bestehe. Um diesem Vergessen entgegen zu steuern, müsse eine Ethik erarbeitet werden, um abseits spezifischer Debatten konkrete „)ragen der Lebensführung“ ebd., in der technischen Welt ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Um eine Ethik im technischen Zeitalter zu ermöglichen, müssen Müller zufolge zunächst die ideengeschichtlichen Vorläufer, die zur Entstehung der modernen Technik beigetragen haben, dargestellt werden Kapitel . Im Anschluss daran erfolgt die Ausarbeitung der anthropologischen, ontologischen und genealogischen Grundlagen, auf denen die technische Moderne steht Kapitel . Die gewonnenen Ergebnisse führen, in Analogie zu den Antinomien der „Kritik der reinen Vernunft“, in eine Dialektik der Technik: Da die Theorie an bestimmten Punkten keine eindeutigen Antworten zu geben weiß und die )ragen aufgrund dessen bestehen bleiben, gilt es die aus der Theorie gewonnene Problemstellung in die Praxis zu überführen Kapitel . Das fünfte Kapitel stößt damit zum Kern von Müllers Arbeit vor: zu einer Ethik der Selbstaufklärung im technischen Zeitalter Kapitel . Gerahmt werden die Hauptkapitel von einer Einleitung Kapitel , methodischen und begrifflichen Vorüberlegungen Kapitel sowie einem Schluss Kapitel , dem eine methodische Besinnung Kapitel vorausgeht und eine ethische Besinnung folgt Kapitel . In einem ersten Schritt analysiert Müller verschiedene zentrale geistesgeschichtliche Positionen und Konstellationen und folgt damit einem „Selbstverständigungsanliegen“ ebd., : Aus den philosophiegeschichtlichen Positionen heraus erarbeitet Müller die anthropologischen Grundlagen, die eine ethische Orientierung ermöglichen sollen. Begleitet wird dieses Unterfangen stets von einer kritischen Stoßrichtung wider entfremdungs- und deszendenztheoretische Technikdeutungen, die sich bereits zu Beginn der Untersuchung bei einem Seitenblick auf die Antike beobachten lässt. Oberflächlich, so Müller in diesem Seitenblick, setze Platon téchne und Rhetorik gleich: Als bloße Technik sei die Rhetorik Sache der Sophisten und liege fernab der Wahrheit, die der Philosoph zu erringen habe. Die Technik scheint damit diskreditiert, doch ein Blick unter die Oberfläche verrät, dass bereits Platon die téchne auf „Kategorien des Wissens und der Selbstbildung“ ebd., bezieht. Dies verdeutli-
Oliver Müllers Technikphilosophie zwischen Selbst und Welt
chen die „technomorphen Schöpfungsmythen“ des „Timaios“, insofern sie „den Schöpfungsakt als Ergebnis handwerklichen Tuns“ beschreiben. Der technische Handlungsvollzug übernimmt damit „eine Orientierungs- und Modellfunktion“ ebd., , da er veranschauliche, was im Anschluss in Wissen überführt werde. Erst diese Anschaulichkeit ermöglicht laut Müller „eine philosophische Reflexion über die Struktur des Wissens“ ebd., . Die Technik wird so zur Grundlage menschlichen Weltverhaltens, Philosophierens und Handelns überhaupt. Diese Interpretation verrät bereits einen entscheidenden Zug der vorliegenden Arbeit: Technikkritische Deutungen sind zwar durchaus ein wesentlicher Bestandteil der Analysen, doch Rationalität und technische Rationalität, theoretisches Wissen und technische Handlungsvollzüge interferieren, so dass es mit einer bloßen Dämonisierung der Technik nicht getan sein kann. Um einer vorschnellen Diskreditierung der Technik keinen Vorschub zu leisten, begegnet Müller technikkritischen Entfremdungs- und Verfallstheorien mit einem Grundlegungsanspruch des technischen Tuns, den er auf einer anthropologischen Ebene fundiert sieht. Mittels Anthropologie erklärt Müller die Technik „zur Grundtätigkeit der menschlichen Lebensform“ ebd., . Die Bestimmung des Menschen als eines technisch handelnden Wesens komme jedoch keinem Essentialismus gleich, da die wesentliche Bestimmung einen offenen und dynamischen Handlungsvollzug zwischen Selbst und Welt adressiert und keine starre Definition behaupten möchte; als technisch handelndes Wesen bleibt der Mensch seinem Wesen nach konstitutiv offen. Um dies zu gewährleisten, bedarf es zusätzlich jenes weiten Technikverständnisses, das Müller an dieser Stelle in Anlehnung an Ernst Cassirer entwickelt: Technik ist nicht lediglich ein auf die Welt und damit nach außen gerichtetes Verhalten, sondern wirkt stets rück auf den Menschen. Die Technik lässt Innen und Außen als zwei Bereiche hervortreten, die nicht absolut voneinander zu trennen sind – jedes „Erschließen der Welt“ ebd., erschließt zugleich immer auch das eigene, innere Sein. Technik ist folglich eine „entscheidende Stufe im ‚Aufbau des geistigen Selbstbewußtseins‘“ ebd., : „Ich-Bewusstsein und Selbsterkenntnis“ gewinnen allererst „durch das technische Wirken“ ebd., an Kontur, oder: 0ur dadurch, dass er Techniker ist, ist der Mensch Mensch. Der Mensch bringt sich als ein autotechnisches Wesen selbst hervor und steht im Zuge dieser „Selbstkonstituierung durch Technik“ in einem geistigen Selbstverhältnis. Bevor er zu sich selbst kommt, sieht er sich zunächst auf die Welt verwiesen: In Distanz zu sich selbst ist er der Technik nicht willenlos und unmittelbar ausgeliefert, sondern fähig sein eigenes Verhalten zu reflektieren. Der technisch handelnde Mensch steht damit auf einem )undament der )reiheit. Die Technik ist einerseits ein „konstitutives Moment des menschlichen Selbstseins“ ebd., , andererseits konturiert sie die Welt, die stets den „Hintergrund“ bildet, vor dem der Mensch „sein Handeln ausrichtet“ ebd., ; im )olgenden gilt es deshalb, deren ontologische Implikationen in den Blick zu nehmen.
Tim-)lorian Goslar
Die ontologischen und epistemologischen Rahmenbedingungen der modernen Technik sind historisch bedingt und scheinen einer ahistorischen, anthropologischen Wesensbestimmung zu widersprechen. Doch statt die anthropologischen und die historisch bedingten ontologischen Aspekte gegeneinander auszuspielen, möchte Müller beide Positionen miteinander verschränken. Die Betrachtung der Genese der technischen Welt soll „der Selbstsituierung in der technischen Welt“ dienen, denn „kein Weltbezug ist ohne Selbstbezug möglich – und umgekehrt“. Die Auseinandersetzung mit der Technik bietet so „einen Zugang zur Beantwortung der alten )rage, was der Mensch sei“ ebd., ; zugleich verzichtet die Anthropologie auf einen Essentialismus. Anthropologie, historische Genealogie und Ontologie sind aufeinander verwiesen: „Der Mensch verdankt sich [sich] selbst und verdankt sich gleichzeitig einem ‚System‘ von Voraussetzungen seiner Existenz“ ebd., . Mit der Moderne gibt die Technik „den epistemologischen und ontologischen Rahmen vor, innerhalb dessen die Wirklichkeit überhaupt ausgelegt wird“, sie „imprägniert gewissermaßen jeden Weltbezug“ ebd., . Der Mensch ist anthropologisch betrachtet Techniker. Doch erst mit Beginn der 0euzeit ist der Mensch als homo faber zunehmend in den Rang des menschlichen Selbstverständnisses aufgerückt. Dass er auch als homo faber begrifflich gefasst und als dieser verstanden werden konnte, ist wiederum eine Errungenschaft des . Jahrhunderts. Doch die zunehmende Dominanz der Technik schürt seither zunehmend Ängste vor einer Eigendynamik der Technik, die den Menschen zum bloßen )unktionär einer durch und durch technisierten Welt zu degradieren droht. Heideggers ‚Seinsgeschichte‘ bildet einen der Höhepunkte der technikkritischen Entfremdungstheorien, insofern sie die Technik verabsolutiert und totalisiert und in eine Deszendenztheorie einbettet. Heidegger zufolge habe keine Epoche zuvor den ursprünglich gegebenen „Seinssinn“ in dem Maße verdeckt, wie die technische Moderne. In ihrer „seinsgeschichtlichen“ Apostasie sei sie von ihrer ursprünglichen Bestimmung abgefallen, so dass der 0ihilismus nur mehr als eine logische Konsequenz erscheine. Müller weist solche Verabsolutierungs- und Totalisierungstendenzen von sich, da sie den Blick auf das Phänomen der Technik verstellen und die Möglichkeit untergraben, einen geeigneten Umgang mit der Technik und den durchaus ernstzunehmenden Entfremdungstendenzen zu finden, die sie hervorrufen kann. Wider die Totalisierungstendenzen der Technik eröffnet Müller eine hermeneutische Dimension, die in ein kritisches Modell überführt werden muss, um die Technik in einem umfassenderen Bezugsrahmen thematisieren zu können, ohne sie zu verabsolutieren. Das Zentrum seiner Technikphilosophie bildet die „kritische Hermeneutik der technisierten Welt“, die „zur angemessenen Selbstverortung“ ebd., beitragen und einen )ragehorizont eröffnen soll, vor dem die Technik ideologisch unvoreingenommen in den Blick genommen werden kann. Die genetischgenealogischen Deszendenztheorien gehen allzu oft, so Müller, auf die Annahme zurück, die moderne Technik entstamme ausschließlich „der Verfasstheit der
Oliver Müllers Technikphilosophie zwischen Selbst und Welt
abendländischen Rationalität“ ebd., . Doch diese Diagnose treffe nur bedingt zu, sei Technik doch stets mehr als das Erzeugnis einer bloß technischen Rationalität. Der Mensch erschließt sich die Welt technisch, und dies bereits grundlegend in )orm von rudimentären, pragmatischen Handlungsabläufen. 0icht die Technik bildet das Primat, sondern das Selbst, das Müller zum Ausgangs- und Zielpunkt technischen Weltverhaltens erklärt. Im Hintergrund steht an dieser Stelle Ernst Cassirers Überführung der Kantischen Transzendentalphilosophie in eine Kulturphilosophie. Cassirer ernennt die Philosophie im Zuge dessen zum logischen Gewissen der Kultur, die der Prämisse folgt, „dass das ‚Sein‘ nur über die Beschreibung des ‚Tuns‘ zu erfassen ist“ ebd., . Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand der Technik steht dann nicht die )rage nach dem Wesen der Technik im Mittelpunkt – wie sie Heidegger forciert hatte –, sondern die )rage nach der Eigenlogik der Technik, die sich nur über das technische Verhalten des Menschen in den Blick bekommen lässt. Die Technik ist nicht Ausdruck nihilistischer Verfallserscheinungen und eines verlorengegangenen, ursprünglichen Sinns, im Gegenteil: Die Technik ist ein zentrales „Moment der Sinngebung“ und „erkenntnisbringenden Gestaltung der Wirklichkeit“ – und dies „bei gleichzeitiger Konstitution des individuellen Selbstseins“ ebd., . Sie gewährt Halt und Orientierung und stabilisiert eine sonst flüchtige Welt, denn nur was der Mensch selbst hervorgebracht hat, kann er auch verstehen. Müllers kritische Hermeneutik möchte „die technische Welt erklären“ und in einem Atemzug „verstehen […] lernen“ ebd., . Als logisches Gewissen der Kultur soll sie den Boden bereiten, auf dem eine Ethik im Zeitalter der technischen Zivilisation erwachsen kann; zu diesem Zweck muss sie in einer tief von Ambivalenzen durchzogenen technischen Welt eben diese Ambivalenzen herausstellen, um Verabsolutierungstendenzen vorzubeugen und im Gegenzug eine ethische Orientierung zu ermöglichen. Auf der einen Seite kann ein Übermaß an Technik Entfremdungstendenzen hervorrufen – in diesem )all misslingt der Versuch, Erfahrenes als eigene Erfahrung zu interpretieren und auf das eigene Selbst zu beziehen. Auf der anderen Seite konstituieren sich Welt und Selbst allererst technisch. Einerseits gilt Optimierung als gewünschte Zielvorgabe technischer Prozesse, andererseits wohnt Optimierungsprozessen oftmals eine Beschleunigungstendenz inne, die den Menschen allzu schnell zu überfordern scheint. Auf der einen Seite erschließt die Technik neue Räume der Verfügbarkeit und dadurch „neue Handlungsmöglichkeiten“, auf der anderen Seite scheint sie im Gegenzug „andere humane Erfahrungen“ ebd., verloren zu geben. Der Aufweis solcher Ambivalenzen ermöglicht Müller zufolge einen unvoreingenommenen Blick auf )ragen der ethischen Bewertung: Vor- wie 0achteile, positive wie negative Wertungen werden miteinander konfrontiert, um einer Ethik den Weg zu bereiten. Diese bleibt stets an eine Anthropologie rückgebunden, die in
Tim-)lorian Goslar
pragmatischer )unktion Orientierung und Konturierung des Selbst gewährleisten soll. Im Zentrum steht die Möglichkeit der „Handlungsorientierung“ ebd., . Das menschliche Selbstverständnis als eine reflexive Struktur des Verstehens eigenen Verhaltens weist die Anthropologie auch als eine Anthropologie begrifflicher Explikation des eigenen Selbst aus. Unter Absage an essentialistische Deutungen soll nicht nur die )rage nach dem Wesen des Menschen konstitutiv offengehalten werden, sondern ebenso der Diskurs über Selbst, Welt und Technik. 0ur dann ist eine fortwährende, orientierende Verständigung und Selbstreflexion möglich. Vor dem Hintergrund einer kritischen Hermeneutik der technischen Welt, die „)atalismusresistenz“ bei gleichzeitiger „Entfremdungssensibilität“ ebd., aufweisen soll, steht am Ende die prinzipielle Unabschließbarkeit menschlicher Selbstdeutung und das Primat der Orientierung. Im Gegensatz zu entfremdungs- oder deszendenztheoretischen Positionen macht Müller deutlich, dass die technische Welt nicht als das Ergebnis einer ausschließlich technischen Rationalität zu begreifen ist. Die Technik ist stets zwischen Selbst und Welt zu situieren. Gerade weil die menschliche Vernunft nicht nur eine technische ist, die technische Welt ebenso wenig weder nur eine technische, noch ausschließlich das Ergebnis einer technischen Vernunft ist, gilt es die technische Rationalität der Kritik zu unterziehen – unter anderem, denn eine Aufklärung über die Technik ist zugleich Aufklärung über das menschliche Selbst in einer im Selbstverständnis technischen Welt, um die Grenzen technischer Verfügbarkeit aufzuzeigen und Handlungsorientierung und Selbstbestimmung zu gewährleisten. In )rage steht, ob nicht mit Blick auf das Phänomen der Technik bis zu einem gewissen Grad stets eine gewisse sprachliche Verlegenheit bestehen bleibt – und angesichts der konstitutiven Offenheit, die Müller auf verschiedenen Ebenen einfordert, bestehen bleiben muss. An Müllers geistes- und ideengeschichtlicher Epochendarstellung lässt sich ablesen, dass nicht nur die beginnende 0euzeit sich in dieser Verlegenheit sah, sondern darüber hinaus noch das . Jahrhundert mit diesem Problem konfrontiert und dort auf Sprachbilder ausgewichen war, wo es klarer Begrifflichkeiten ermangelte. Die z. T. perhorreszierenden Verabsolutierungs- und Totalisierungstendenzen der Technik, wie sie im . Jahrhundert prominent werden, scheinen kein geeignetes Mittel zu sein, um Orientierung in einer Welt zu stiften, in der der Mensch sich ohnehin seit jeher technisch eingerichtet hat. Selbstredend finden sich im . Jahrhundert weitaus moderatere Positionen, die Müller ebenso für sein eigenes Projekt zu Rate zieht. Ihm gelingt es damit, die verschiedenen heterogenen Stimmen zur Technikphilosophie in ein gemeinsames Gespräch über die )ragen nach Selbst, Welt und Technik zu verwickeln. Und vielleicht erfordern diese )ragen vor dem Hintergrund einer begrifflichen Explikation des Selbst unter Verzicht auf einen Essentialismus die fortwährende Erarbeitung einer Sprache. Die „ethische Orientierung des handelnden Individuums“ ebd., im technischen Zeitalter zumindest erfordert, so Müller, eine Hermeneutik der technischen
Oliver Müllers Technikphilosophie zwischen Selbst und Welt
Welt, steht die Technik doch zwischen Selbst und Welt – und nur „im Verstehen der Technik [kann] der Raum für die Ethik erschlossen werden“ ebd., .
Tim-)lorian Goslar
Literaturverzeichnis Blumenberg, Hans : „0achahmung der 0atur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart , – . Blumenberg, Hans : Methodologische Probleme einer Geistesgeschichte der Technik, in: Ders.: Geistesgeschichte der Technik, )rankfurt a.M., – .
Katharina Block/Bernd Straßburg
Wie nach dem Menschen fragen? Vom Wesen des Menschen zum Prinzip seiner Ansprechbarkeit Rezension zu: Matthias Wunsch: )ragen nach dem Menschen. Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie, )rankfurt a.M. . Matthias Wunsch unternimmt in seinem Buch eine systematische Untersuchung der philosophischen Dreierkonstellation, die sich in den späten er Jahren zwischen Heideggers Daseinsontologie, Cassirers kritisch-idealistisch ausgerichteter Kulturphilosophie und der Philosophischen Anthropologie, repräsentiert durch Scheler und vor allem Plessner, ergeben hat. Wunsch vertritt die These, dass „das )ragen nach dem Menschen“ von den beiden letzteren in anthropologischer, von den beiden ersteren dagegen in nicht-anthropologischer Weise erfolgt. In dieser Konstellation zeigen sich also verschiedene, anthropologische und nicht-anthropologische Denkrichtungen, die gemäß ihrem Thema aber alle der Disziplin der philosophischen Anthropologie angehören. Das Werk besteht aus fünf Hauptkapiteln. Einstieg in das Buch und Thema des ersten Kapitels bildet die historische Disputation zwischen Cassirer und Heidegger während der Davoser Hochschulkurse . Wunsch will zeigen, dass die Diskussion maßgeblich durch die Position der Philosophischen Anthropologie mitgeprägt wurde, insofern sich beide gegenseitig philosophisch-anthropologische Unzulänglichkeiten vorwerfen, ohne diese Position selbst direkt zu vertreten. Diese These öffnet Wunsch in den folgenden drei Kapiteln zu einer systematischen Analyse der philosophischen Positionen aller genannten Autoren eben in Hinblick auf „die )rage nach dem Menschen“, in der zugleich die Modifikationen und Erweiterungen dieser Positionen sichtbar werden, insoweit sie durch die Auseinandersetzung und gegenseitige Kritik nötig geworden sind. Als am meisten reflektiert und von allen Einwänden weitgehend unbeeindruckt erweist sich dabei die Position Plessners, an die anschließend Wunsch im letzten Kapitel die Aufgaben einer philosophischen Anthropologie heute skizziert. )ür deren Bewältigung bedarf es nach Wunsch einer „Anthropologie der Personalität“ bzw. einer „reflexiven Anthropologie des objektiven Geistes“ f , die „das )ragen nach dem Menschen von 0euem aufnehmen kann“ . Das erste Kapitel behandelt zunächst Heideggers existential-ontologische Analytik des Daseins und Cassirers kulturphilosophische Bestimmung des Menschen im Aufriss. Es wird deutlich, dass beide Autoren, obgleich sie die )rage nach dem Menschen stellen, einerseits kein Interesse an der Entwicklung einer Philosophischen Anthropologie haben, andererseits aber den Anspruch erheben, dieser mit ihrem
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jeweils eigenen Projekt erst das nötige )undament zu verleihen. Heidegger setzt beim Dasein an, das sich von allem Seienden unterscheidet, insofern es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Der Philosophischen Anthropologie, die den Menschen als ein Vorhandenes betrachtet, müsse diese ausgezeichnete Seinsweise des Menschen als Existenz gerade entgehen, weshalb sie für die )rage nach dem Menschen letztlich nicht geeignet sei. Bereits an dieser Stelle macht Wunsch auf die bekannte Schwierigkeit aufmerksam, dass Heideggers Welt-Begriff unterbestimmt bleibt, weil er nur als Existenzial in der Perspektive auf das Dasein untersucht wird, darüber hinaus aber kein Weg vorgesehen ist, wie das Sein, das nicht zugleich Dasein ist, bestimmt werden kann. Dagegen will Cassirer im vergleichenden Durchgang durch die menschliche Kulturgeschichte die symbolischen )ormen als die geistigen Grundfunktionen des Menschen ermitteln, sodass sich für ihn die )rage nach dem Menschen nicht in Hinblick auf das Individuum, sondern in Hinblick auf die Menschheit und deren Geschichte stellt. Die symbolischen )ormen dienen zugleich als Abgrenzungskriterium zwischen dem Menschen als Geistwesen und dem Bereich des Lebendigen, den Cassirer somit insgesamt ausblendet. )ür die Untersuchung der Davoser Disputation zwischen Cassirer und Heidegger steht Wunsch neben den bereits bekannten Dokumenten – dem Gesprächsprotokoll, Heideggers Vortragsnotizen sowie dessen Rezension des zweiten Bandes von Cassirers „Philosophie der symbolischen )ormen“ – mit den kürzlich veröffentlichten Davoser Vorträgen von Cassirer „Grundprobleme der philosophischen Anthropologie“ und „Gegensatz von Geist und Leben in Schelers Philosophie“ auch neu erschlossenes Quellenmaterial zur Verfügung. Zum einen kann Wunsch dadurch ein in der )orschung gängiges Bild der Auseinandersetzung korrigieren: Hat bislang Heidegger als der offensivere und Cassirer als der eher um einen Ausgleich bemühte Teilnehmer gegolten, wird die während der Diskussion von Heidegger geübte Kritik an Cassirer nun als Reaktion auf die Kritik verständlich, die er selbst neben Scheler bereits in den Vorträgen von Cassirer erfahren musste ff . Zum anderen führt das philosophisch-anthropologische Thema von Cassirers Vorträgen Wunsch zu der These – in deren Licht auch die bereits bekannten Quellen neu interpretiert werden –, „dass neben der Zweierkonstellation dieses Konflikts mit der modernen philosophischen Anthropologie ein drittes Paradigma im Raum stand, das in Davos zwar von keiner Partei direkt vertreten wurde, den Konflikt aber dennoch geprägt hat“ , nämlich insofern den beiden Streitenden „ein ansonsten ungenutztes Arsenal an Argumenten zur Verfügung stand, um dem jeweils anderen Mängel philosophisch-anthropologischer Art zu attestieren.“ Bereits in der Rezension und ebenso während der Disputation wendet Heidegger gegen Cassirer ein, dass zentrale Begriffe wie etwa „Geist“ oder „Subjekt“, auf denen dessen kulturphilosophische Untersuchung ruht terminus a quo , vollkommen problematisch, weil ontologisch unaufgeklärt blieben. Auch die Richtung von Cassirers )ragen nach dem Menschen terminus ad quem hält Heidegger für fehlgeleitet, weil dessen, so Heidegger, „exzentrischer Charakter“ darin unberücksichtigt bleibe.
Vom Wesen des Menschen zum Prinzip seiner Ansprechbarkeit
Dagegen lautet der zentrale Vorwurf, den Cassirer in seinen Vorträgen gegen Heideggers Analytik des Daseins erhebt, dass sie den spezifisch menschlichen Bereich in wesentlichen Aspekten überhaupt nicht erreiche und daher für die von Heidegger beanspruchte )undierung einer philosophischen Anthropologie nicht infrage komme. So sei etwa in Heideggers Zeuganalyse kein Übergang von der Zuhandenheit eines Dinges zu seiner Vorhandenheit, d. h. keine Möglichkeit zu einer ideativen Distanzierung zum Gegenstand vorgesehen. Es zeigt sich also, dass sich Cassirers )ragen nach dem Menschen nur auf dessen geistige Sphäre beschränkt, während das )ragen Heideggers gerade diese Sphäre außer Acht lässt. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Philosophische Anthropologie – in systematischer Hinsicht – in dem Konflikt als mittlere Position erscheinen wird, insofern sie den Menschen als von 0atur aus geistiges bzw. kulturelles Wesen fasst. Sicherlich rechnen beide mit einer philosophischen Anthropologie – Cassirer im Sinne einer philosophischen Disziplin, Heidegger im Sinne eines spezifischen Denkansatzes, wie Wunsch überzeugend herausstellt –, ob damit aber bereits behauptet werden kann, sie würden sich jeweils philosophisch-anthropologische Argumente zueigen machen, ist zu bezweifeln. Wenn z. B. Heidegger den Begriff „exzentrischer Charakter“ aufgreift, bezieht er damit noch keine philosophisch-anthropologische Position, die er ja selbst vehement kritisiert. Der Begriff „Exzentrizität“ steht bei Heidegger nach wie vor im Kontext der Analytik des Daseins, das in der „Sorge um sich“ immer schon über sich hinaus ist, während der Begriff als philosophisch-anthropologischer naturphilosophisch fundiert ist und die Öffnung der 0atur hin zum Geist beschreibt – also die Sphäre, die Heidegger nach Einschätzung von Cassirer und Wunsch übergeht. Ebenso ist der Vorwurf von Cassirer an Heidegger, die Sphäre des Geistes auszublenden, nicht per se philosophisch-anthropologisch begründet, sondern entspringt vielmehr der kritisch-idealistischen Position von Cassirer selbst. Im zweiten Kapitel wird die Konstellation der philosophischen Ansätze um die Position der Philosophischen Anthropologie erweitert, die anhand von Schelers „Zur Idee des Menschen“ und „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ sowie Plessners „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ entwickelt wird. In Bezug auf Scheler arbeitet Wunsch insbesondere die Problemlage und die Aufgaben heraus, derer sich die Philosophische Anthropologie annehmen soll. Im Weiteren thematisiert Wunsch das Verhältnis zwischen Scheler und Cassirer. Es stehen zunächst die Übereinstimmungen im )okus, etwa der Befund, dass die )rage nach dem Menschen mangels eines einheitlichen Bezugsrahmens gerade in der Moderne zu einem Problem geworden ist, oder die gemeinsame )orderung nach einer „Geschichte des Selbstbewußtseins des Menschen von sich selbst“ , Zit. v. Scheler . Die Differenzen entstehen dann in der )rage, mit welchem Ziel und auf welchem Weg philosophischanthropologisch nach dem Menschen zu fragen ist. Während Scheler eine Wesensontologie für unentbehrlich hält, begnügt sich Cassirer damit, den funktionellen Zusammenhang der symbolischen )ormen darzulegen. Dem Vorwurf Cassirers,
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Scheler bleibe aufgrund seiner dualistischen 0atur-Geist-Konzeption der cartesianischen Tradition verhaftet, tritt Wunsch im Rückgriff auf die Ontologie von 0icolai Hartmann überzeugend mit dem Hinweis entgegen, dass Scheler 0atur und Geist als „Prinzipien“ behandelt, weshalb es sich um einen Dualismus der Kategorien, nicht aber um einen Dualismus der Substanzen handelt. Vor dem Hintergrund des Plessner’schen Ansatzes zeigt Wunsch, dass eine philosophische Anthropologie zwei Aufgaben zu erfüllen hat. Zum einen soll sie den genuinen, irreduziblen Charakter der geistigen Sphäre verständlich machen, ohne sich gegen die empirischen 0aturwissenschaften abzuschotten, und zum anderen soll sie zeigen, dass der Mensch durch und durch 0aturwesen ist, ohne einem Reduktionismus zu verfallen . Dazu nimmt Plessner in den „Stufen“ eine naturphilosophische Perspektive ein, die Wunsch in Grundzügen nachzeichnet, wobei ein besonderes Gewicht auf deren methodischen Zugang gelegt wird. Plessner setzt bei dem phänomenalen Befund an, dass räumliche Dinge unterschiedlich erscheinen je nachdem, ob sie belebt sind oder nicht. Belebte Dinge erscheinen in einem Doppelaspekt, d. h. an ihnen tritt eine spezifische Beziehung zwischen ihrem Äußeren und einem Inneren als Dingeigenschaft zutage. Weil sich an dieser Beziehung zwei Richtungen unterscheiden lassen von innen nach außen und umgekehrt , sucht Plessner deren gemeinsamen Ansatz- und Umschlagpunkt. Dafür führt er den Begriff „Grenze“ ein, da ein lebendiges Ding seine Grenze selbst vollzieht. Die Oberfläche unbelebter Dinge zeigt demgegenüber keine Innen-Außen-Beziehung am Gegenstand, sondern sie erscheint als bloße Raumgrenze. Dass Wunsch der )rage nachgeht, was wir an einem belebten Ding immer schon wahrnehmen, damit wir es überhaupt von unbelebten Dingen unterscheiden und als belebtes Ding ansprechen können, dient vor allem auch als Vorbereitung für die spätere Untersuchung über den Menschen in Hinsicht auf das Prinzip der Ansprechbarkeit. Mit der Darstellung von Plessners Grundlegung der Philosophischen Anthropologie sind nun alle Voraussetzungen erfüllt, um Schelers und Plessners philosophisch-anthropologische Kritik an Heideggers „Sein und Zeit“ nachzuvollziehen. Wunsch betont zunächst die Einigkeit zwischen Scheler und Heidegger darüber, dass eine Metaphysik im Ausgang von einem )ragen nach dem Menschen zu begründen sei, bevor er vor allem Schelers methodische Einwände aus dem erst postum erschienen Teil V der Abhandlung „Idealismus – Realismus“ darlegt. Demnach geht Heideggers Versuch, eine Urstruktur des Daseins zu ermitteln, fehl, weil ihm auf diese Weise das Eigenrecht der Vernunft, der Person und des Geistes entgehe. Das Dasein wird faktisch der Seinsart des Lebens untergeordnet. Wider Willen stelle sich Heidegger in die 0achfolge Descartes, insofern die )rage nach der einheitlichen Urstruktur des Daseins als dem Sein des Daseins in einen Daseinssolipsismus führe, weil er letztlich das cartesianische cogito ergo sum bloß in ein sum ergo cogito umstelle. Wie aus seinem Brief an Josef König vom . . hervorgeht, sieht auch Plessner Heidegger noch in der subjektivistischen Tradition verfangen und bemängelt insbesondere die exklusive Unterscheidung in Vorhandensein und Existenz, in
Vom Wesen des Menschen zum Prinzip seiner Ansprechbarkeit
der für lebendige, aber nicht daseinsmäßige Wesen ontologisch kein Platz vorgesehen ist. Den Ausweg aus diesem cartesianischen Dilemma hat Plessner in seinem bekannten Ausdruck „Leben birgt Existenz“ Plessner , pointiert. Von Heideggers neu gefasster Kritik der Philosophischen Anthropologie im Kant-Buch untersucht Wunsch vor allem den Vorwurf, dass deren Idee vollkommen unbestimmt bleibe, weil ihr Verhältnis zur und ihre )unktion in der Philosophie unbestimmt bleibe. Zumindest im Hinblick auf Scheler hält Wunsch diesen Vorwurf für berechtigt. Das dritte Kapitel ist den philosophisch-anthropologisch inspirierten Modifikationen und Erweiterungen gewidmet, die sowohl Heidegger als auch Cassirer an ihren jeweiligen Entwürfen vornehmen. Orientiert an dem Aristotelischen Begriff der „Ersten Philosophie“ unterscheidet Heidegger nun von der )rage nach dem Seienden als solchen, die er in „Sein und Zeit“ und im Kant-Buch behandelt hat, die )rage nach dem Seienden im Ganzen, deren sich die Metontologie annehmen soll, die er in der Leibniz-Vorlesung vom Sommer entwickelt. Wunsch stellt heraus, dass damit vermittelt über den Begriff „Transzendenz“ eine 0eufassung des Begriffs „Welt“ einhergeht, die nun nicht mehr bloß als vom Dasein abhängiges Existenzial gefasst wird, sondern um eine kosmologische Dimension erweitert wird. Obwohl Heidegger damit dem metontologischen, d. i. nach Wunsch anthropologischen, Defizit aus den früheren Schriften begegnet, ergeben sich neue Schwierigkeiten, insofern sich ein Dualismus zwischen einem faktisch-natürlichen und einem transzendierenden Wesen Mensch abzeichnet. Heideggers Anspruch, dass die Metaphysik des Daseins die )rage nach dem Menschen übernehme, erteilt Wunsch daher eine klare Absage . Auch Heideggers Philosophie des Organischen, die in der Vorlesung „Grundbegriffe der Metaphysik“ entwickelt wird, bringt nach Wunsch keine entscheidenden )ortschritte mehr, auch weil das Dasein in dieser naturphilosophischen Perspektive nicht thematisiert wird. Cassirer verfolgt in seinem Spätwerk eine Anthropologie der Weltbildung, die ausgehend von den menschlichen Leistungen die Bedingungen der Möglichkeit der geistig-kulturellen Grundformen in einen systematischen Ansatz zu integrieren versucht. Der Mensch als das animal symbolicum wird aber nur als Entsprechung zu dem Ganzen seiner Leistungen gedacht und nicht eigens z. B. naturphilosophisch fundiert, sodass die bereits von Heidegger bemängelte Unterbestimmung von Cassirers terminus a quo nach Wunsch bestehen bleibt – an späterer Stelle unternimmt Wunsch den Versuch, diesem Mangel mit einer Anthropologie des Ausdrucks entgegenzuarbeiten ff . Zudem geht Cassirer auch in der Annahme fehl, zwischen seinem und Plessners Denken würde eine große 0ähe bestehen, denn erstens betrifft Plessners Kernproblem den menschlichen Leib, den Cassirer nicht thematisiert, und zweitens strebt Plessner mit seiner 0aturphilosophie keine Ergänzung oder Bestätigung der Kulturphilosophie an, sondern deren )undierung. Wunschs Vorwurf an Cassirer lautet, dass sich dieser trotz seines historisch-synoptischen Interesses „nicht
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genügend um eine Selbstverständigung über den systematischen Ort bemüht, an dem dieses Interesse entspringt und von dem aus es verfolgt wird.“ Dem stellt Wunsch im vierten Kapitel Plessners Geschichtskonzeption auf der Basis einer „universalen Anthropologie“ entgegen, die in „Macht und menschliche 0atur“ entwickelt wird und die – so die These von Wunsch – in der Position einer „reflektierten Selbstreflexivität“ letztlich zu einem neuen Philosophieverständnis gelangt. 0ach Plessner ist jede Sinnsphäre das Produkt historisch-kulturell situierter Menschen, die sich darin orientieren und ihr gegenüber verantwortlich bzw. verpflichtet sind – . Das bedeutet, dass keine Anthropologie denkbar ist, die eine Wesensstruktur des Menschen oder Prinzipien a priori angibt, die der menschlichen Geschichte zugrunde liegen, weil eine solche Anthropologie selbst Produkt historisch-kulturell situierter Menschen ist. Daraus ergibt sich aber keineswegs ein historischer Relativismus, der auch seinen spezifischen historisch-kulturellen Ursprung hat und daher nicht verabsolutiert werden darf. Wie Wunsch präzise herausarbeitet, gelangt man mit der von Plessner angebotenen Lösung dennoch zu einer universalen Anthropologie, die auf einer Modifikation der Apriorität jener Prinzipien beruht: Sie sind nicht länger als apriorische, d. h. überzeitliche Konstitutionsprinzipien zu verstehen, auf denen das geschichtliche Leben beruht und durch die es erkannt werden kann, sondern sie sind nur in dem Sinne a priori, als dass sie das enthalten, was immer schon gemeint ist, wenn in der Moderne vom Menschen gesprochen wird. Der Begriff „exzentrische Positionalität“ ist also ein „Prinzip der Ansprechbarkeit“ Schürmann des Menschen, und zwar in der historisch-kulturellen Situation der „geschichtlichen Weltansicht“, der die Einsicht in die historisch-kulturelle Kontingenz und somit in die Gleichberechtigung jeder orientierenden Sinnsphäre zugrunde liegt. Das Prinzip der Ansprechbarkeit wird ergänzt durch das „Prinzip der Verbindlichkeit der Unergründlichkeit“, das gewissermaßen die Kehrseite der Kritik an apriorischen Konstitutionsprinzipien darstellt. Das Prinzip der Unergründlichkeit besagt, dass um der Breite des Blickes der „universalen Anthropologie“ auf alle Zeiten und Kulturen willen offenbleiben muss, wozu der Mensch fähig ist, der in diesem Sinne als „Macht zu …“, als Können gefasst wird. Der Begriff der Verbindlichkeit weist dagegen auf den Status jenes Prinzips hin, das anders als die Konstitutionsprinzipien oder das Prinzip der Ansprechbarkeit kein theoretisches, sondern ein praktisches Prinzip ist. Als solches führt es zu einer bestimmten Haltung und hat demzufolge einen unmittelbar ethischen Charakter. Beide Prinzipien begrenzen sich gegenseitig: So verhindert das Prinzip der Ansprechbarkeit das Abgleiten in die Beliebigkeit und bildet letztlich die Voraussetzung für ein objektives Wissen vom Menschen; umgekehrt schützt das Prinzip der Verbindlichkeit der Unergründlichkeit des Menschen vor der Dogmatisierung und Verabsolutierung dieses Wissens. Mit der Philosophischen Anthropologie Plessners hat Wunsch somit diejenige Position philosophischer Anthropologie herausgearbeitet, die das )ragen nach dem Menschen „erneut in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses zu rücken“ vermag.
Vom Wesen des Menschen zum Prinzip seiner Ansprechbarkeit
Inwiefern dies in der aktuellen Debatte gelingen kann, zeigt Wunsch in seinem abschließenden fünften Kapitel anhand vier zentraler Themen des philosophischen Gegenwartsdiskurses: Verhältnis der Philosophischen Anthropologie zum 0aturalismus, Tier-Mensch-Verhältnis, Verhältnis zwischen Organismus und Person sowie das Verhältnis zwischen menschlicher Lebensform und objektivem Geist. Dass Wunsch dabei insbesondere auf die Diskussionen im englischsprachigen Raum eingeht und sie in einen kritischen und lösungsorientierten Dialog mit der Philosophischen Anthropologie zu bringen versucht, ist als besonderes Verdienst hervorzuheben. In Hinblick auf das scheinbar disparate Verhältnis zwischen Philosophie und den empirischen Wissenschaften zeigt Wunsch mit der Position eines „moderaten methodologischen 0aturalismus“ eine Möglichkeit auf, durch die Philosophie und empirische Wissenschaften eine gegenseitige Kontrollfunktion einnehmen und Verabsolutierungen auf beiden Seiten verhindert werden können. Dies betrifft auch aktuelle )orschungen zur )rage nach dem Tier-Mensch-Verhältnis, insofern die darin immer schon enthaltenen Selbstverständnisse des Menschen in ihrer historisch bedingten Partikularität offengelegt und somit als revidierbare ausgewiesen werden können. In Abgrenzung zu verschiedenen Autoren )rankfurt, Dennett, Olson, Baker macht Wunsch auf plausible Weise deutlich, dass Personalität im Sinne einer Strukturform die menschliche Lebensform durchdringt und nicht an wie auch immer geartete mentale )ähigkeiten geknüpft werden darf. Am „Phänomen der kollektiven Intentionalität“ , das aktuell auf problematische Weise in der philosophy of mind verhandelt wird, insofern „Geist“ darin mit einer subjektiven )ähigkeit gleichgesetzt wird, kann Wunsch – nicht zuletzt auch in Hinblick auf sein eigenes Anliegen, das )ragen nach dem Menschen von 0euem zu beginnen – zeigen, dass es dafür einer reflexiven Anthropologie des objektiven Geistes bedarf. Die philosophy of mind läuft nämlich Gefahr, die Einsicht zu verlieren, dass Menschen Lebewesen ohne „außernatürliche Zutat“ sind. Denn sowohl Leibkörperlichkeit als auch Geschichtlichkeit gründen auf demselben naturphilosophischen Prinzip: dem der exzentrischen Positionalität. Es wurde hier versucht, den zentralen Gedankengang der Studie von Matthias Wunsch nachzuzeichnen. Dabei liegt es in der 0atur der Sache, dass nicht auf alle thematischen Akzentsetzungen hingewiesen werden konnte. Hervorzuheben ist insbesondere im Hinblick auf die philosophische Dreierkonstellation aus Daseinsontologie, Kulturphilosophie und Philosophischer Anthropologie, dass Wunsch innovative Interpretationen zu den zentralen Texten vorlegt und dazu in allen Teilen eine detaillierte Diskussion und Prüfung der Argumente vornimmt. Es ist daher zu erwarten, dass das Buch dem gegenwärtigen philosophisch-anthropologischen Diskurs sowohl in philosophiehistorischer als auch in problemorientierter Hinsicht neue Impulse verleiht und ihm gerade in Hinsicht auf die )rage nach der praktischen Relevanz einer philosophischen Anthropologie heute interessante Perspektiven eröffnet.
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Literaturverzeichnis Plessner, Helmuth 3 : Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie Gesammelte Schriften, Bd. VIII, )rankfurt a.M., 3 –3 .
3 , in: Ders.:
Hans-Ulrich Lessing
Helmuth Plessner in seinen Lebensstationen. Ein neuer biographischer Sammelband erkundet seinen Weg von Wiesbaden bis Zürich Rezension zu: Tilman Allert/Joachim )ischer Hg. : Plessner in Wiesbaden, Wiesbaden . Unter dem leicht irreführenden Titel „Plessner in Wiesbaden“ vereinigt der sehr lesenswerte Band eine Reihe unterschiedlicher Textsorten: persönliche Erinnerungen, Reden, biographische Studien und philosophie- bzw. theoriegeschichtliche Aufsätze, die die zentralen Stationen von Plessners Lebensweg und seiner intellektuellen Biographie beleuchten. Thematisiert werden Wiesbaden, sein Studium in Heidelberg und Erlangen und der Aufenthalt in München, die Zeit an der Kölner Universität, die Jahre in Holland, insbesondere in Groningen, die Rückkehr nach Göttingen, das Jahr in 0ew York und die Zeit der späten Lehre in Zürich. Der werkbiographische Band enthält neben zahlreichen Originalbeiträgen auch einige Wiederabdrucke, die die neuen Texte ergänzen und dadurch das Porträt Plessners abrunden. Dazu gehören die bekannte Selbstdarstellung Plessners von , die in glücklicher Weise den Band eröffnet, indem sie die Chronologie der Lebensstationen Plessners von Wiesbaden über )reiburg, Heidelberg, Göttingen, Erlangen, 0ürnberg, München, Köln, Groningen, Utrecht, Amsterdam, Göttingen, 0ew York bis Zürich in Erinnerung bringt. Ebenfalls wiederabgedruckt sind das Kapitel „,Weil ich ein Wiesbadener bin…‘ – Plessners . Geburtstag “ aus Monika Plessners Erinnerungsbuch „Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen“ , in dem sie sehr eindrucksvoll vom ersten 0achkriegsbesuch mit ihrem späteren Mann in dessen Geburtsstadt erzählt, sodann die Schilderung der Anfänge der Soziologie in Göttingen von Christian Graf von Krockow aus der )estschrift für Christian von )erber sowie das Kapitel „Plessner in Zürich“ aus Christoph Dejungs gleichnamigem Buch von . Christa Allert ergänzt und vertieft in ihrem Aufsatz zum vorliegenden Band auf sehr prägnante Weise Plessners „Wiesbadener Kinderszenen“ aus seiner „Selbstdarstellung“, indem sie die )amiliengeschichte Plessners und die Darstellung seiner Kindheit und Jugend mit einer genauen kulturgeschichtlichen Beschreibung der Wiesbadener Kur- und Sanatoriumswelt verknüpft, in die der junge Plessner als Sohn des Leiters eines Privatsanatoriums für 0ervenkranke hineinwächst. Sehr anschaulich werden die Lebensgeschichten von Plessners Eltern, des zum Protestantismus konvertierten jüdischstämmigen Dr. )edor Plessner – und der
Hans-Ulrich Lessing
aus einer Musikerfamilie aus Bückeburg stammenden Protestantin Elisabeth Eschmann – , erzählt, wobei der Leser eine Vielzahl familien- und kulturgeschichtlicher Details erfährt. Ausgebaut werden diese Ausführungen in dem Aufsatz „Stationen auf dem Weg zur Philosophie“ von Walter Sprondel, in dem die Kindheit und Jugend Plessners sowie sein Weg als Student nachgezeichnet werden. 0ach dem Abitur im März beginnt Plessner sein Studium im Sommersemester in )reiburg. Obwohl er in der medizinischen )akultät eingeschrieben ist, entwickelt sich ein frühes Interesse an Philosophie und Politik, nicht zuletzt durch seine Aktivitäten im Rahmen der )reien Studentenschaft. 0ach einem Jahr in )reiburg wechselt Plessner nicht nur den Ort seiner Studien, sondern auch das Studienfach. In Heidelberg studiert er nun Zoologie und wird Schüler von Hans Driesch, allerdings ohne den Kontakt zur Philosophie zu verlieren. Um Husserl zu hören, wechselt Plessner nach Göttingen und schließt sein Studium der Philosophie nach dessen Weggang nach )reiburg im Dezember mit einer Promotion bei Paul Hensel in Erlangen ab. 0ach einem Zwischenengagement als Volontärassistent des Germanischen Museums in 0ürnberg wird Plessner vorübergehend in München zum Sekretär des „Rates geistiger Arbeiter“ bestellt, wodurch er indirekt zum Mitglied der bayerischen Revolutionsregierung wird. Der Aufsatz vermittelt aufschlussreiche und zum Teil wenig bekannte Einblicke in Plessners intellektuelle Entwicklung, die nachhaltig durch seine Mitgliedschaft in der )reien Studentenschaft und einige wichtige )reundschaften geprägt ist. Auf Einladung Schelers geht Plessner an die gerade wiedergegründete Universität Köln. Plessners Kölner Jahre, in philosophischer Hinsicht zweifellos seine fruchtbarsten, sind Gegenstand des umfangreichen, sehr anregenden Artikels „Die ,Kölner Konstellation‘. Scheler, Hartmann, Plessner und der Durchbruch zur modernen Philosophischen Anthropologie“ von Joachim )ischer. Dieser Aufsatz, der im Rahmen dieser Rezension nicht angemessen gewürdigt werden kann und eine ausführlichere Diskussion verdient, ergänzt )ischers großes Buch „Philosophische Anthropologie“ )ischer , worin er die – allerdings nicht unwidersprochen gebliebene – These vertritt, dass es neben der philosophischen Anthropologie als einer „Subdisziplin“ der Philosophie die Philosophische Anthropologie als philosophisches „Paradigma“ gibt, als eine eigenständige Denkschule, die gleichrangig neben dem 0eukantianismus, der Phänomenologie, der Existenzphilosophie, der )rankfurter Schule oder dem Wiener Kreis stehe. Die Geschichte der modernen Philosophischen Anthropologie reicht nach )ischer von Berufung Schelers an die Universität Köln und Übersiedlung Plessners dorthin bis zum Jahr , in dem Plessner kurz vor seinem öffentlichen Verstummen und Gehlen kurz vor seinem Tod in einem Erinnerungsband für Scheler letzte Rückblicke auf diesen großen „Verschwender“ von Ideen H.-G. Gadamer formulieren. Die neue Wendung, die )ischer seiner vieldiskutierten These in diesem Aufsatz verleiht, besteht nun darin, dass er den „Durchbruch zur Philosophischen Anthro-
Helmuth Plessner in seinen Lebensstationen
pologie“ in einer Dreierkonstellation in Köln verortet, zu der neben den bekannten Protagonisten Scheler und Plessner auch noch 0icolai Hartmann gehört. Hartmann, der auf die zweite Professur für Philosophie in Köln berufen wird – Scheler hatte seit ein Ordinariat für Philosophie in Köln inne – entstammte ursprünglich der Marburger Schule des 0eukantianismus, wendete sich aber von dieser ab und widmete sich fortan der Entfaltung seiner „0euen Ontologie“. Um seine durchaus plausible These zu stützen, greift )ischer in diesem theoriegeschichtlich gehaltvollsten Aufsatz des Bandes auf die von Dieter Henrich zur Erforschung der )rühgeschichte des Deutschen Idealismus entwickelte Methode der „Konstellationsforschung“ zurück. 0ach )ischer liegt „eine solche theoriegeschichtlich relevante ,Konstellation‘ […] dann vor, wenn mehrere Personen in enger Ideenkommunikation miteinander stehen, ähnliche Problemlagen haben, meistens antagonistische Debattenlagen vorfinden, die der kreativen Lösung harren“ , Anm. . Eine solche Konstellation macht )ischer nun an der Kölner Universität Mitte der ersten Hälfte der zwanziger Jahre aus. Hartmann habe nicht nur – wie Plessner in der Selbstdarstellung berichtet – versucht, den Konflikt zwischen Scheler und Plessner um die Priorität in Sachen philosophischer Anthropologie zu schlichten, sondern sei geradezu „der Katalysator eines Projekts der Philosophischen Anthropologie, ohne selbst dieses Projekt zu verfolgen, aber hochinteressiert, welche Gestalt diese Suchbewegung auch unter dem Eindruck seiner Ideen nahm“ . So lässt sich nach )ischer insbesondere am Begriff der „exzentrischen Positionalität“ „am deutlichsten die innere theoriesystematische Verbundenheit von 0euer Ontologie und Philosophischer Anthropologie, von Hartmann einerseits, Scheler und Plessner andererseits“ ersehen. Inwieweit sich Scheler und Plessner durch Hartmann, insbesondere durch dessen in Plessners „Philosophischem Anzeiger“ veröffentlichten Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ , tatsächlich zu ihrer philosophischen Biologie anregen ließen, muss allerdings vorläufig offenbleiben. Philologisch belastbare Belege finden sich – soweit ich sehe – dazu nicht, und Gespräche oder Diskussionen, die nicht schriftlich fixiert sind, entziehen sich der retrospektiven Erforschung. Hinzu kommt, dass weder Scheler noch Plessner, so sehr dieser Hartmann in seiner Selbstdarstellung erwähnt und seine Rolle als Vermittler im Prioritätsstreit mit Scheler in Sachen philosophischer Anthropologie hervorhebt, ihn als wichtige Anregungsquelle nennen. Demgegenüber macht Plessner mehrfach deutlich, dass für seine Entwicklung „die ,Einheit der Sinne‘ den Durchbruch zur philosophischen Anthropologie auf einem ganz eigenen Wege [bedeutet], der von Dilthey und nicht von Uexküll ausging“ Plessner , . Auch zur Problematik der „Rivalitätsstruktur“ zwischen Scheler und Plessner und der wichtigen )rage, ob Plessners Hauptwerk ein Plagiat Scheler’scher Ideen sei, wie dieser nach der
1 Vgl. auch Plessner Ders. , – .
,
–
und
–
; Ders.
,
–
und
; Ders.
,
–
;
Hans-Ulrich Lessing
Publikation der Stufen öffentlich verkündet hatte, bietet Joachim )ischers Aufsatz differenzierte Überlegungen vgl. ff . Auch wenn man die Bedeutung Hartmanns für den Durchbruch zur philosophischen Anthropologie weniger stark gewichtet, als )ischer dies macht, wird man ihm in jedem )all darin zustimmen müssen, dass die „weitere Aufklärung des damaligen Aufbruchs zur Philosophischen Anthropologie zwischen Scheler, Plessner und Hartmann in Köln ein erstrangiges theoriegeschichtliches )orschungsprojekt“ ist, das allerdings um die Erforschung der Bedeutung der „Göttinger Konstellation“, d. h. der Gruppierung Wilhelm Dilthey, Georg Misch und Josef König, für Plessners Konzeption zu ergänzen wäre. 0ach dem Ende des Wintersemesters / wird Plessner aufgrund des sogenannten „Arierparagraphen“ des 0S-„Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom . . entlassen. 0ach einem erfolglosen Intermezzo in Istanbul erhält Plessner eine Einladung seines )reundes ).J.J. Buytendijk, inzwischen Direktor des physiologischen Instituts in Groningen, zu einem zweijährigen Aufenthalt in Holland. Plessners holländischem Schüler Jan Glastra van Loon verdankt der Band eindrucksvolle Erinnerungen an Begegnungen mit Plessner, der im Januar nach Groningen reist und bis in Holland bleibt. 0ach zwei Jahren, die finanziell durch einen Hilfsfonds abgesichert waren, wurde Plessner an der Universität Groningen Professor eines eigens für ihn neugegründeten sozialwissenschaftlichen Instituts. 0ach dem Einmarsch deutscher Truppen in Holland musste Plessner zuerst in Utrecht, später in Amsterdam untertauchen. Zu Plessners )reunden und Schülern, die ihn in dieser sehr schwierigen Zeit unterstützten, zählt auch Jan Glastra van Loon, der in seinen Erinnerungen „Plessner – Wanderer in Holland“ sehr anschaulich von Plessners holländischen Jahren berichtet. Ebenfalls sehr anregend ist der Aufsatz „Ein Bau für die moderne Philosophie und Soziologie: Plessner in Göttingen“, in dem Heike Delitz Plessners Haus vorstellt, das dieser im Göttinger Ostviertel, der Villengegend der Stadt, von der Göttinger Architektin Lucy Hillebrand im Bauhaus-Stil errichten ließ. Plessners „kühl-moderne Heimstätte“ war – wie Delitz berichtet – in den frühen fünfziger Jahren ein nicht unumstrittenes Göttinger Ereignis und schaffte es sogar als „Das Haus des Professors“ in das Göttinger Merian-Heft des Jahrgangs . Eindringlich beschreibt die Autorin die großzügig-offene Anlage des Hauses, das Plessner nicht zuletzt auch für die Heranbildung des akademischen 0achwuchses mitkonzipiert hatte. Heike Delitz bezeichnet es als „Colloquium spirituale“, als „privates Wohnhaus, das sich der universitären Öffentlichkeit öffnete, sich ihr geradezu verschrieb“ . Sehr aufschlussreich ist der zweite Teil ihres Aufsatzes, in dem Heike Delitz die helle, großzügig-offene Architektur des Plessner’schen Hauses in Beziehung setzt zu seiner Philosophie des Menschen, der Moderne und der Architektur. Denn Plessners Philosophie seit der „Einheit der Sinne“ sei – so die These von Delitz – „eine durch und durch moderne Philosophie, die zur modernen Kunst und Gesellschaft in
Helmuth Plessner in seinen Lebensstationen
einem dezidiert positiven Verhältnis steht“ , was schon am Vokabular, wie „die Grenze“, „die offene )orm“, „der Sinn fürs 0egative“ durchscheine, das „auffällig mit der modernen architektonischen Bewegung des 0euen Bauens und dessen Architekturtheorie [koinzidiert]“ f. Anschaulich geschildert wird der Beginn von Plessners Wirken als Soziologe in Göttingen seit in den Erinnerungen von Christian Graf von Krockow, die unter dem Titel „ ,Arbeitsfreude‘ – Die Anfänge der Soziologie in Göttingen“ vgl. auch Krockow , ff , Einblick geben in Plessners empirisch-soziologische )orschungsprojekte, seine Sorge um den akademischen 0achwuchs, das besondere Verhältnis Lehrer-Schüler, seine spezifische Art zu lehren sowie sein Bemühen, den Bildungsauftrag über die akademischen Grenzen hinaus zu erfüllen. Über Plessners vielfältige universitäts- und wissenschaftspolitische Aktivitäten in Göttingen einschließlich seines Engagements für die Erwachsenenbildung und seine herausragende Bedeutung als erster Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland sowie als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – berichtet Karl-Siegbert Rehberg unter dem Motto „Intellektuelle Zivilisierung und Demokratisierung“ in seinem lehrreichen Aufsatz „Hochschulreform und Demokratisierung. Universität und Wissenschaft im Wirken Helmuth Plessners“, der durch die im Band enthaltenen persönlichen Erinnerungen seines späten )reundes Hermann Lübbe ergänzt wird. In den Erinnerungen von Plessners Stieftochter Katharina Günther „Helmuth Plessner in Göttingen“ wird neben dem Lehrer insbesondere der Privatmann Plessner lebendig, und Thomas Luckmann erzählt in seinen „Erinnerungen an Plessner in 0ew York“ von Begegnungen mit Plessner, der / als erster Theodor-HeussGastprofessor an die Graduate )aculty of Political and Social Science an der 0ew School for Social Research in 0ew York lehrte. Plessners Zürcher Jahre werden gespiegelt in den Erinnerungen seines ehemaligen Schülers Christoph Dejung und seiner Schülerin Claudia Schmölders. Plessner, der seit mit seiner )rau Monika in Erlenbach bei Zürich wohnte, erhielt durch Vermittlung von Wilhelm Keller einen Lehrauftrag an der Zürcher Universität, den er bis wahrnahm, wobei er und den Lehrstuhl des verstorbenen Hans Barth vertrat. Die beiden damaligen Hörer der Plessnerschen Vorlesungen und Seminare porträtieren vor allem den Lehrer Plessner und schildern anschaulich den großen Eindruck, den der schon Emeritierte durch seine Vorlesungen, Seminare und Lektüreseminare auf seine Zuhörer machte. Die freundschaftlichen Beziehungen, die Plessner in Zürich unterhielt, seine auf Distanz bedachte Haltung zu den linken Kreisen der jüdischen Community wie zur Studentenbewegung werden ebenso berührt wie die wissenschaftliche Ernte seiner späten Jahre. Den Band beschließt Joachim )ischers Eröffnungsrede zum V. Internationalen Helmuth Plessner Kongress, die eine ebenso leidenschaftliche wie überzeugende Aufforderung an die Stadt Wiesbaden enthält, in Anlehnung an den )rankfurter Adorno-Preis einen Plessner-Preis zu stiften. Dieses Plädoyer war erfolgreich und
Hans-Ulrich Lessing
die )orderung ist inzwischen realisiert worden: der Magistrat der Stadt Wiesbaden beschloss die Stiftung eines „Wiesbadener Helmuth Plessner Preises“, der an Plessners Geburtstag . September im dreijährigen Rhythmus verliehen wird. Erster Preisträger war im Übrigen Michael Tomasello, dem der Preis am . . verliehen wurde. Das Buch, dem zahlreiche )otos beigegeben sind, ist unbedingt empfehlenswert. Es erweitert in Detailansichten die bislang vorliegenden drei Biographien Schüßler ; Dejung ; Dietze und stellt wichtige biographische Materialien zur Verfügung, die das öffentliche Bild von Helmuth Plessner in wichtigen Hinsichten modifizieren und komplettieren. Die versammelten biographischen Mosaiksteine verbinden sich auf gelungene Weise zu einem eindrucksvollen Porträt, wobei insbesondere die Erinnerungen derjenigen, die Plessner in unterschiedlichen Situationen erleben konnten, sehr aufschlussreich und lebendig sind. Die von den Herausgebern formulierte Absicht einer Vergegenwärtigung der wichtigsten Lebensstationen Plessners und der Versuch, Aufmerksamkeit des Wiesbadener Publikums für einen bedeutenden Sohn der Stadt zu wecken, dürfen als gelungen angesehen werden. 0eben Wilhelm Dilthey, der in Biebrich geboren wurde, das heute zu Wiesbaden gehört, und der für die Entwicklung des Plessner’schen Denkens von nicht eben geringer Bedeutung war, entstammt mit Helmuth Plessner ein weiterer bedeutender Philosoph und Soziologe , dieser schönen Stadt am Rhein, der damit auch die Verpflichtung zufällt, das geistige Erbe dieser Denker zu pflegen. Abschließend sei auf ein kleines Manko des Buches hingewiesen. Die holländische Phase in Plessners Leben, die immerhin einen Zeitraum von siebzehn Jahren umspannt und in mehrfacher Hinsicht für Plessner von fundamentaler Bedeutung war, bleibt in dem Band leider etwas unterrepräsentiert. 0eben der „Kölner Konstellation“ hätte die „Groninger Konstellation“ Plessner/Buytendijk zweifellos eine stärkere Würdigung verdient.
Helmuth Plessner in seinen Lebensstationen
Literaturverzeichnis Dejung, Christoph : Plessner. Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik, Zürich. Dietze, Carola : 0achgeholtes Leben. Helmuth Plessner – , Göttingen. )ischer, Joachim : Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des . Jahrhunderts, )reiburg/München. Krockow, Christian Graf von : Zu Gast in drei Welten. Erinnerungen, Stuttgart/München. Plessner, Helmuth : Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, . Aufl., Berlin/0ew York. Plessner, Helmuth : Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth : Macht und menschliche 0atur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth : Die )rage nach der Conditio humana, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, )rankfurt a.M., – . Plessner, Helmuth : Selbstdarstellung, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. X, )rankfurt a.M., – . Schüßler, Kersten : Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biografie, Berlin/Wien.
Jasper van Buuren
Der Realismus als notwendige Fiktion Rezension zu: Étienne Bimbenet: L’invention du réalisme, Paris
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Vor fünf Jahren hat Étienne Bimbenet Université Jean Moulin Lyon III „L’animal que je ne suis plus“ veröffentlicht. In diesem Buch erforscht er die Beziehung zwischen Mensch und Tier vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen Humanismus und 0aturalismus. In seinem im letzten Jahr erschienenen „L’invention du réalisme“ wird diese )orschung fortgesetzt und in einer neuen Richtung erweitert: 0icht der Gegensatz zwischen Humanismus und 0aturalismus, sondern der zwischen Idealismus und Realismus steht im Vordergrund. Im neuen Buch vertritt Bimbenet die These, der grundlegende Unterschied zwischen Tier und Mensch sei, dass das Tier wesentlich Idealist und der Mensch Realist ist Bimbenet , – . Einerseits geht es ihm darum, den Gegensatz zwischen tierischem Idealismus und menschlichem Realismus darzustellen. Andererseits möchte Bimbenet eine Kontinuität aufzeigen: Der tierische Idealismus gehöre zu unserer Vergangenheit und bilde heute in der transformierten Gestalt eines transzendentalen Idealismus sogar die konstitutive Bedingung des Realismus. Das Konzept des tierischen Idealismus wird anhand von Uexkülls Umweltbegriff ausgeführt. 0ach Uexküll bilden Tier und Umwelt eine Struktur. Die Umwelt korreliert strikt mit den Bedürfnissen des Tieres, so dass Letzteres, Bimbenets Interpretation zufolge, im Wesen nicht auf das Andere, sondern auf sich selbst gerichtet ist. Das Tier sei nicht in der Lage, zur Transzendenz der Welt durchzudringen. Es ist diese Beschränkung des tierischen Erlebens auf die Immanenz der Umwelt, die Bimbenet als „Idealismus“ bezeichnet. Der Mensch hingegen ist offen zur Welt in ihrer Transzendenz, und diese Gerichtetheit ist sogar seine Grundeinstellung, d. h., mit einem Husserl’schen Wort, seine „natürliche Einstellung“. Es ist klar, dass „Realismus“ hier nicht zunächst auf eine theoretische Auffassung, sondern auf einen gelebten Realismus, auf eine „Lebensform“ ebd., : forme de vie , und zwar auf die notwendige, konstitutive Einstellung des Menschen verweist. Der Begriff eines gelebten Realismus und die damit einhergehende These, der Relativismus sei sekundär und daher letztlich nicht zu verteidigen ebd., , sind meines Erachtens überzeugend. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass Bimbenet zugleich darauf verzichten will, den Realismus zu verteidigen: „Darum sagen wir nicht, dass die Welt existiert – was noch eine These wäre; wir sagen nur, dass ein Lebewesen [der Mensch] auf die Welt-als-existierende gerichtet ist und dass diese Disposition in der Geschichte des Lebens die absolute Originalität dieser Art
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bildet“ ebd., . Es ist aber die )rage, ob man als Philosoph den Realismus als Grundeinstellung des Menschen verteidigen kann, ohne die grundlegende Wahrheit dieses Realismus zumindest implizit vorauszusetzen. Darauf komme ich später zurück. Bimbenets )rage in diesem Buch ist: Was ist der Ursprung des Realismus und wo fängt er an? Die Grundlage bildet, wie gesagt, die Voraussetzung, dass der Realismus genealogisch betrachtet im tierischen Idealismus und systematisch betrachtet im menschlichen Idealismus gründet. Das Wissen um die subjektiv-konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sozusagen die aufgeklärte natürliche Einstellung ist ein Wissen um die Vorbedingungen des Realismus. Damit ist die )rage, wo genau der Realismus innerhalb des )eldes der subjektiven Phänomene zu verorten sei, noch offen. Was ist es also in uns, das uns zu Realisten macht? Bimbenet skizziert zwei mögliche Antworten und verspricht dann, dass er eine dritte Möglichkeit „zwischen“ diesen beiden entwickeln wird. Die erste Option ist, dass man den Realismus im Rahmen einer vorbegrifflichen Objektivität versteht. „Objektivität“ verweist hier auf die Dinge in der Umgebung, mit denen wir uns im praktischen sensomotorischen Handeln auseinandersetzen. Objektivität heißt hier aber nicht, dass das praktische Handeln uns mit der Wirklichkeit in Beziehung setzt: „Man kann in einer Welt von Objekten handeln, d. h. in einer Welt von Entitäten, die dauerhaft und in einer verlässlichen Weise in der Umgebung lokalisiert sind, und zumeist handelt man tatsächlich in dieser Welt. Aber gerade weil man handelt, gleitet das Bewusstsein über die Objekte hinweg und sieht sie ohne sie zu sehen, statt sie sowie sie selbst sind zu beachten“ ebd., . Wichtig für Bimbenet ist, dass auch das Tier in diesem Sinne handeln kann. Aber das Tier verfügt Bimbenet zufolge nicht über den Realitätssinn, der uns Menschen eigen ist. Die Existenz des Tieres beweist gerade: „Eine praktische oder UmweltIntentionalität kann objektivierend sein ohne jedoch realistisch zu sein“ ebd., . Man könnte den Realismus aber auch – zweite Option – höher verorten, nämlich auf der Ebene der Sprache. Bimbenet zufolge ist die menschliche Sprache tatsächlich immer mit Realismus verbunden, aber zugleich kündigt er an, den Anfang und konstitutiven Grund des Realismus vor der Sprache zu verorten: „Daher ist hier von einer anthropologischen Dialektik die Rede, die den Menschen mit einer Blickrichtung verbindet, die entweder zu kurz oder zu lang ist: zu kurz, weil das Wirkliche auf eine Invariante des praktischen Typus reduziert wird – die Objektivität gilt dann innerhalb von strikten Grenzen der Motorik, aber nicht jenseits dieser; zu lang, weil der Realismus glaubt von der Sprache und der propositionalen Einstellung abhängig zu sein um effizient sein zu können, aber mit dem Risiko einer Intellektualisierung der )rage“ ebd., – .
ڲAlle Übersetzungen aus dem )ranzösischen sind von mir, JvB.
Der Realismus als notwendige )iktion
Wenn der dritte Weg Bimbenets zweimal in diesem Sinne angekündigt wird auch – , dann erwartet der Leser, dass das Buch auf ein Phänomen fokussieren wird, das weder dem sensomotorischen Verhalten noch dem Bereich der Sprache zugehört. Damit befindet der Leser sich aber auf einer falschen Spur: )ür Bimbenet ist der Realismus nämlich untrennbar mit der Sprache verbunden. Wenn Bimbenet sagt, die Blickrichtung sei zu lang, wenn sie auf „die Sprache und die propositionale Einstellung“ fokussiert, dann geht es ihm eigentlich nur um die propositionale Einstellung: Bimbenet versucht nämlich innerhalb der Sprache die grundlegende Ebene des Realismus freizulegen und zu zeigen, dass diese Ebene der propositionalen Einstellung vorhergeht. Obwohl Bimbenet auch kurz die vorsprachliche Zeigegeste, die auch „realistisch“ ist, bespricht, spielt diese )orm der Kommunikation im Vergleich mit dem Thema der sprachlichen Kommunikation kaum eine Rolle. Die propositionale Einstellung ist die Einstellung der Prädikation, die mit einem Wahrheitsanspruch, d. h. mit einem Realismus einhergeht. Prädikation setzt aber 0omination – das einfache „Benennen“ des Themas – voraus, und auch 0omination ist schon realistisch ebd., . Hier lernen wir zugleich mehr über Bimbenets Auffassung von „Realismus“. Das Sprechen, das in der 0omination gründet, ist in dem Sinne „idealisierend“ ebd., , dass es eine „perspektivische Vielfalt“ ebd., in Bezug auf das Thema oder das Objekt eröffnet. Diese Vielfalt ist grundlegend sozial: Die Perspektiven sind wirkliche oder mögliche Perspektiven von anderen Subjekten ebd., . Die soziale Dimension ist Bimbenet zufolge viel schwächer im vorsprachlichen sensomotorischen Handeln und dies heißt auch: viel schwächer im tierischen Verhalten als im sprachlichen Ausdruck ebd., – . Die Rolle der 0omination wird später als eine wichtige )orm der „Bekundung“ déclaration ausgelegt ebd., – . In der Bekundung wird das Ding in der Öffentlichkeit bekundet, es wird zum Objekt für alle. Außer der 0omination gibt es die erwähnte Zeigegeste als )orm der Bekundung. Dass Bimbenet den Realismus eng mit Husserlianischen Begriffen wie „idealisierend“ und „Idealität“ verbindet, mag erstaunen – Husserl hatte die Welt in der transzendentalen Reduktion ja vom Bewusstsein abhängig gemacht. Es lässt sich durch Bimbenets These erklären, dass Husserls transzendentaler Idealismus – wenn er richtig verstanden, d. h. bis an seine Grenze gedacht wird – die konstitutive Bedingung des Realismus bildet. Die natürliche Einstellung ist nach Bimbenets Husserl-Interpretation sowohl hinsichtlich des )eldes der transzendentalen Bedingungen, als auch hinsichtlich der erscheinenden Objekte „ideal“ ebd., . Der
ڳWenn man Husserl aber genau folgen will, müsste man eigentlich sagen, dass nur das erscheinende Objekt als Wesensobjekt „ideal“ statt real ist. Die transzendentalen Bedingungen der Wahrnehmung gehören der Immanenz zu und sind somit „ideell“ statt „reell“ . Vgl. Celms , und Bernet , .
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Mensch beansprucht das Eidos der Welt, was hier heißt: die Welt als „ein ideales Seiendes, das als dasselbe für alle vorausgesetzt wird“ Bimbenet , . Die „nicht-soziale“ Ausführung dieses Gedankens, die Bimbenet Heidegger zuschreibt, und die „Anthropologie des Mangels“, lasse ich außer Betracht. Bimbenet will Merleau-Pontys „sozialer“ Auslegung des erwähnten Gedankens folgen: Das Objekt oder die Welt ist „ideal“ in dem Sinne, dass es „als nicht-totalisierbare Totalität meiner Perspektiven“ wahrgenommen wird ebd., . Bimbenet zitiert hier zur Unterstützung Merleau-Pontys berühmte Aussage: „[D]as Haus selbst ist nicht das von nirgendwoher gesehene, sondern das von überallher gesehene Haus“ MerleauPonty / , bzw. ; Bimbenet , . Ich begrüße das Anliegen, Husserls Idealismus bis an seine Grenze zu denken und ihn so als Übergang zu einem – kritischen – Realismus aufzufassen. Der Verweis auf Merleau-Ponty ist aber bemerkenswert, denn Bimbenet hat den Realismus ja auf der Ebene der Sprache verortet und behauptet, dass das sensomotorische Verhalten zwar objektivierend, aber an sich nicht realistisch ist. Es ist klar, dass die ganze Idee einer „perspektivischen Vielfalt“ multiplicité perspective von MerleauPonty stammt. Wir finden diesen Ausdruck buchstäblich in seinem Buch „La structure du comportement“ Merleau-Ponty / , bzw. , wo er genau die These andeutet, die Bimbenet vorbringen will: Während das Tier an seine aktuelle physische Perspektive gebunden ist, wobei es auch hier innerhalb von einer bestimmten Bandbreite Raum für Virtualität gibt, ist das Objekt für den Menschen der Schnittpunkt einer unendlichen Menge virtueller Perspektiven, auch durch sehr unterschiedliche Orte und Zeiten hindurch. Aber Merleau-Ponty verortet die Grundlage dieser perspektivischen Vielfalt gerade nicht auf der Ebene der Sprache, sondern auf der der Wahrnehmung. Zwar spricht Merleau-Ponty in „La structure du comportement“ vom „Symbolischen“ in der Wahrnehmung, aber dies fällt nicht mit dem Bereich der Sprache zusammen. Es wäre interessant gewesen, wenn Bimbenet nicht nur Merleau-Ponty zugestimmt hätte, sondern auch klargemacht hätte, wo er von Merleau-Pontys Auffassung abweicht und wie er diese Abweichung begründen würde. Anschließend geht Bimbenet näher auf den sozialen Charakter des vom Idealismus vermittelten Realismus ein. Hier distanziert er sich noch mehr von Husserl, indem er nicht auf vermeintlich ewig gültige Wesensstrukturen, sondern auf die faktischen, kontingenten Regeln von Gesellschaften fokussiert – diese bildeten den transzendentalen Rahmen, der den Realismus ermögliche Bimbenet , – . Hiermit eröffnet sich eine interessante und vor dem Hintergrund der Unhaltbarkeit des einseitigen Ewigkeitsdenkens Husserls notwendige Diskussion. Die Regeln einer Gesellschaft, die den „common sense“ ebd., bilden, so Bimbenet, bestimmen nicht nur, wie man sich zu benehmen, sondern auch, was man unter „Wirklichkeit“ zu verstehen hat. Sie bestimmen die intersubjektive )orm, unter der jeder Inhalt gegeben ist; das ist ihre transzendentale )unktion. Regeln sind Bimbenet zufolge in
Der Realismus als notwendige )iktion
ihrer idealisierenden )unktion untrennbar mit der Sprache verbunden, die uns ja die Wirklichkeit „für alle“ erschließt. Bimbenet interpretiert die universelle Wirklichkeit also im Rahmen der kontingenten Kultur, was zu einer Relativierung vielleicht sogar zu einer Verneinung; siehe unten des menschlichen Realismus führt. Er beschreibt den Gegensatz zwischen der Partikularität der jeweiligen Kultur, zu der man gehört, und der Universalität, die im kommunikativen Verhalten beansprucht wird. Regeln sind kontingent und willkürlich, aber sie „naturalisieren sich“ ebd., , d. h. sie führen zum Glauben, dass unsere Wirklichkeit die Wirklichkeit an sich ist. Es ist mir nicht ganz klar, welche Schlussfolgerung Bimbenet aus diesem Gegensatz zieht. Manchmal scheint er zu meinen, dass der Realismus letztendlich unwahr ist, d. h. dass wir überhaupt keinen Zugang zu einer subjekttranszendenten Wirklichkeit hätten. Ein Beispiel ist folgende Passage: „Der Realismus ist eine transzendentale )iktion: Er ist eine Erfindung, die pragmatisch funktioniert und seine eigenen Beweise erzeugt; eine Erfindung, die sich selbst am Ende Recht gibt, die dem begegnet, was sie begehrt das wirkliche existierende Ding ; sie stellt sich als notwendig dar“ ebd., . Es ist überraschend, dass Bimbenet den Realismus, der unsere natürliche Einstellung sei, jetzt als „)iktion“ bezeichnet. Hieße das nicht, dass der Realismus einfach falsch ist, d.h. dass wir eine Illusion leben würden, indem wir Realisten wären? Bimbenets Begriff der „transzendentalen )iktion“ lässt sich auf zwei Ebenen analysieren. Einerseits gibt es den Realismus schlechthin als Lebensform: In allen Kulturen wird daran geglaubt, dass man sich auf die Wirklichkeit bezieht. Andererseits gibt es eine inhaltliche Ebene, nämlich die Ebene, auf der unterschiedliche Gesellschaften verschiedene Auffassungen über die Wirklichkeit haben, d. h. darüber, was überhaupt wirklich, was wahr und was falsch sei. Auch diese Auffassungen müssen Bimbenet zufolge als )iktionen verstanden werden. Dies wird noch mal klar, wenn Bimbenet den Grund des Realismus freizulegen versucht, indem er das „So-Tun-als-ob“ des Menschen hinterfragt ebd., – . Warum können wir von einem )ilm oder von einem Theaterstück berührt werden? Bimbenet zeigt sich hier mit dem Psychologen 0ico )rijda einverstanden: „[W]ir sind in der Lage zu entscheiden, was uns als wirklich erscheinen wird, d. h. glauben zu wollen“ ebd., . Die Bedeutung dieser )eststellung geht Bimbenet zufolge über den Bereich hinaus, den wir normalerweise als „)iktion“ bezeichnen. Bimbenet meint, solche )iktionen „spiegeln die vernünftige Textur der Erfahrung wider und nicht nur ihre fiktiven oder traumhaften 0achbarn“ ebd., . Dies wäre der )all, weil „unsere Verhaltensweisen, indem sie von der Gruppe gelernt werden, am Ende für wahr gehalten werden; sie sind eine Sammlung von )iktionen, die schließlich geglaubt werden, Geschichten, die wir uns erzählen, an denen wir letztendlich tatsächlich teilnehmen“ ebd., . Dies scheint Bimbenets Schlußfolgerung zu sein, und wenn dies stimmen würde, wäre das m. E. fragwürdig: Diese These ist ja im Rahmen von Bimbenets Argu-
Jasper van Buuren
mentation nichts weniger als ein Rückfall in den Idealismus – und somit in den Relativismus – des Tieres. Wenn sowohl unser Realismus als auch unsere inhaltlichen Überzeugungen über die Wirklichkeit bloße )iktionen wären, dann hätten wir uns nie aus dem Idealismus des Tieres befreit: Wir würden ja nicht wirklich zu den Dingen selbst, zur Welt selbst, vordringen. Der einzige Unterschied zwischen Mensch und Tier zumindest im Begriffssystem des Idealismus und Realismus wäre dann, dass der Mensch einen Zugang zur Welt zu haben meint, während das Tier – gewissermaßen wahrhafter – keine solchen unerfüllbaren Ansprüche erhebt. Obwohl diese Schlussfolgerung in der Logik des Buches unvermeidbar scheint, zieht Bimbenet sie nicht. Stattdessen behauptet er, die )iktion selbst sei die eigentliche Vorbedingung des Realismus: „Das Problem ist vielmehr, dass wir zugleich in der )iktion verloren und offen zur Wirklichkeit sind; oder auch, dass unsere sozialen )iktionen, unsere kollektiven Hypokrisien, die einzige wirkungsvolle Möglichkeit sind, um die Lebewesen, die wir sind, zur existierenden Welt hin zu öffnen“ ebd., . Bimbenet spricht hier von einer „Ambiguität“ ebd. . Ist das aber nicht zu schwach ausgedrückt? Haben wir es nicht vielmehr mit einem Widerspruch zu tun? Anders gesagt: Die )rage drängt sich auf, warum wir vor dem Hintergrund der These, unsere sozial bedingten Auffassungen seien )iktionen und sogar „Lügen“ ebd., , noch am Realismus festhalten sollten. Ich selbst würde den AntiRealismus nie verteidigen, folge aber der Logik des Buches. Bimbenet plädiert hier, mit einem Plessner’schen Ausdruck, für einen „Sprung in den Glauben“ Plessner , . Selbst spricht er von einem „coup de force“ Bimbenet , . Er meint damit, dass der eigentliche Grund des Realismus der Wille sei. Das Problem daran ist meines Erachtens folgendes: Mit einem „coup de force“ ließe sich vielleicht ein theoretischer Realismus erzeugen, aber kein Realismus als Lebensform. Dieser gründet in der Realitätserfahrung, die per definitionem – wenn wir sie ernst nehmen – als eine Erfahrung der Wirklichkeit verstanden werden muss. Der Realismus bleibt bei Bimbenet also ohne den transzendenten Grund, der den Realismus braucht, um Recht haben zu können. Hier ist relevant, dass Bimbenet, wie oben erwähnt, den Realismus nicht verteidigen, sondern nur beschreiben will. Dieses Vorhaben ist schwierig aufrecht zu erhalten. Bimbenet hat ja behauptet, „dass unsere sozialen )iktionen, unsere kollektive Hypokrisien, die einzige wirkungsvolle Möglichkeit sind, um die Lebewesen, die wir sind, zur existierenden Welt hin zu öffnen“ s. o. . Diese Aussage impliziert, dass Bimbenet den Realismus unterstützt: Es ist ja explizit die Rede von der Möglichkeit einer Offenheit zur Welt – die Definition des Realismus als Lebensform. Im ersten Teil der Studie meint Bimbenet, Erfahrung sei weder eine pure Erfahrung der Wirklichkeit noch eine rein subjektive Konstitution ebd., , , . Sie sei vielmehr ein „Begegnen“ ebd., zwischen Mensch und Realität. In diesen frühen Passagen ist von einer „transzendentalen Bewegung“ die Rede, die das „Subjekt in der Richtung desjenigen trägt, das es empfangen muss“ ebd. ; Kursivierung von mir nicht übernommen, JvB . Vor diesem Hintergrund ist die )rage zu
Der Realismus als notwendige )iktion
stellen, wie eine „)iktion“ oder ein „Lügen“ eine Begegnung mit der Wirklichkeit ermöglicht. Im Begriffssystem von Wahrheit und Unwahrheit: Wie können wir allein an die Möglichkeit von Wahrheit glauben, wenn der transzendentale Rahmen unserer Beziehung zur Umwelt eine bloße )iktion ist? Mit dem tierischen Idealismus hätten wir Bimbenet zufolge auch den konstitutiven Relativismus des Tieres überwunden. Aber wie entgehen wir dem Relativismus, wenn wir bei der )eststellung stehen bleiben, dass jede Gesellschaft oder Kultur notwendigerweise „dogmatisch glaubt“, dass ihre Weltanschauung „die Welt“ sei ebd., ? Die oben formulierten )ragen sind bewusst provozierend gemeint. Bimbenets „L’invention du réalisme“ lässt drängende )ragen offen, kann aber positiv als Anfang einer sehr wichtigen und interessanten Diskussion gelesen werden.
Jasper van Buuren
Literaturverzeichnis Bernet, Rudolf : Husserls Begriff des 0oema, in: Ijsseling, Samuel Hg. : Husserl-Ausgabe und Husserl-)orschung, Dordrecht, – . Bimbenet, Étienne : L’animal que je ne suis plus, Paris. Bimbenet, Étienne : L’invention du réalisme, Paris. Celms, Theodor : Phänomen und Wirklichkeit des Ich. Studien über das subjektive Sein, Riga. Merleau-Ponty, Maurice / : Phénoménologie de la perception, Deutsch: Phänomenologie der Wahrnehmung, Paris/Berlin. Merleau-Ponty, Maurice / : La structure du comportement, Deutsch: Die Struktur des Verhaltens, Paris/Berlin. Plessner, Helmuth : Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin.
Personenverzeichnis Adorno geb. Karplus , Gretel , Adorno, Theodor W. VII, VIII, X, ff, ff, f, , , ff, , ff, , , , ff, ff, ff, ff, ff, , , ff, , , ff, , , , f, , , , f, , Allert, Christa Allert, Tilman Amengual, Gabriel Améry, Jean Apel, Karl-Otto , Arendt, Hannah , , , , , Aristoteles , , , Arndt, Andreas IX, , , Bachmann, Ingeborg Badiou, Alain , , Bahrdt, Hans Paul Baker, Lynne R. Barboza, Amalia Barth, Hans Bataille, Georges , , Baudelaire, Charles Becker, Oskar Beckett, Samuel Benjamin, Walter ff, ff, ff, f, ff, Bergson, Henri , Berlin, Isaiah Bernet, Rudolf Bernhard, Thomas Bernstein, Jay Berz, Peter IX, , , , Bimbenet, Étienne ff Bloch, Ernst , Blumenberg, Hans , Blümle, Claudia Bodenstedt, )riedrich von Boer, Karin de Bolk, Louis Bollnow, Otto-)riedrich Bölsche, Wilhelm Brassier, Ray VII, , , ff, Breuer, Stefan Brunkhorst, Hauke Buber, Martin
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Buck-Morss, Susan Bühler, Karl f, , Bulthaup, Peter Buytendijk, )rederik Jacobus Johannes , Caillois, Roger ff, f, f, Campbell, Donald Cassirer, Ernst , , Claessens, Dieter f Clauß, Ludwig )erdinand Comte, Auguste , f, Dahrendorf, Ralf , Dalí, Salvador Dannemann, Rüdiger Darwin, Charles ff, Dejung, Christoph , Delitz, Heike Dempf, Alois Dennett, Daniel Déranty, Jean-Philippe Descartes, René , , Dewey, John Dietze, Carola , Dilthey, Wilhelm , , f, Dix, Otto Driesch, Hans Duflos, Huguette Dumbadze, Devi Durkheim, Émile ,
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Ebbinghaus, Julius Ebke, Thomas V, VII, , Edinger, Sebastian VIII, Eidelpes, Rosa Elias, 0orbert Engels, )riedrich , , Eschmann, Elisabeth Eßbach, Wolfgang Eusterschulte, Anne X Eyth, Max )ahrenbach, Helmut
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Personenverzeichnis
)euerbach, Ludwig , , , )ichte, Johann Gottlieb , ff, , )ischer, Joachim VI, VII, f, , , , f, , , , f, , f, , , ff )ittler, Doris M. , )oucault, Michel , , f, )rancé-Harrar, Annie )rankfurt, Harry )rege, Gottlob )reud, Siegmund , , , , ff, , , f, f )reyer, Hans )reytag, Gustav )riesen, Hans V )rijda, 0ico )rischmann, Bärbel )romm, Erich )rüchtl, Josef , f )urrer, Julian Gadamer, Hans-Georg , , Galton, )rancis Gamm, Gerhard f, Geble, Peter , Gehlen, Arnold VIII, IX, f, , ff, , ff, , ff, ff, , ff, ff, Geiger, Theodor Gekle, Hanna Gelb, Adhémar , Geml, Gabriele Glastra van Loon, Jan )rederik Göbbels, Joseph Gobineau, Arthur de Goethe, Johann Wolfgang von , Goldstein, Kurt , Grenz, )riedemann Günther, Katharina
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Habermas, Jürgen VIII, IX, , , , , , , ff, , , f, ff, ff, , ff, , , ff Hacke, Jens Haeckel, Ernst , Haraway, Donna Jeanne Harman, Graham Hartmann, 0icolai f, , ff Haug, )rigga
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Hebel, Johann Peter Heberer, Gerhard Hegel, Georg Wilhelm )riedrich IX, , , f, , , , , , , f, , f, , , ff, , , Heidegger, Martin V, VIII, f, , , f, , , , , f, Heinroth, Johann Christian August Henrich, Dieter Hensel, Paul Hesse, Christoph Hillebrand, Lucy Hobbes, Thomas , f, f Hofer, Veronika f, Hölderlin, )riedrich Homer Honneth, Axel IX, , , , , , , , ff, f, ff Horkheimer, Max VIII, ff, ff, f, , ff, f, , , ff, f, f, , ff, , , , , ff, , f, , , , Hugo, Victor Hulatt, Owen , Humboldt, Wilhelm von Husserl, Edmund f, , , , Huxley, Julian Huyssen, Andreas Jaeggi, Rahel , Jakobson, Roman Jaspers, Karl , Joas, Hans , , ,
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Jörke, Dirk
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Kadi, Ulrike , Kämpf, Heike , Kannetzky, )rank Kant, Immanuel , f, , , , , , , f, , , , , , , Kapust, Antje Keller, Wilhelm Kimmerle, Heinz Klages, Ludwig f, Klammer, Markus Klöcking, Philip X
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Personenverzeichnis
Koenen, Gerd Kojève, Alexandre f König, Josef , , Kortlandt, Adriaan , Kramme, Rüdiger Kraus, Karl , Krockow, Christian Graf von Krüger, Hans-Peter VI, VII, X, , , , , Kuhlmann, Andreas Kurth, Gottfried
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Lacan, Jacques IX, f, f, ff, Lamarck, Jean-Baptiste de , f Laruelle, )rançois , Lawrow, Pjotr Lawrowitsch Leclaire, Serge Leiris, Michel Leonhard, Rudolf Lerch, Henrike Lethen, Helmuth Leys, Ruth Lhermitte, Jaques Jean Lichtblau, Klaus Lindemann, Gesa Lindner, Burkhardt Linné, Carl von Lipps, Hans Litt, Theodor , , f Lorenz, Konrad , ff, ff, f, Lorenzer, Alfred , f Löwith, Karl , , , Lübbe, Hermann Luckmann, Thomas Lüdtke, 0ico Luhmann, 0iklas , , Lukács, Georg , , ff, , f, ff, f, ff, Luther, Martin ff MacIntyre, Alasdair Malthus, Thomas Robert f Mannheim, Karl Marcuse, Herbert , Markov, Andrej Andrejewitsch Marquard, Odo Marx, Karl , , ff, , , f, f, , , , , f, , , , ,
Maturana, Humberto Maus, Heinz Mayer, Julius Robert Mc)arland, David Mead, George Herbert IX, , Meillassoux, Quentin VII, , Mendel, Gregor Johann Menke, Christoph Menne, Albert Merleau-Ponty, Maurice , , Mettin, Martin VIII Metzger, Arnold Michels, Robert Misch, Georg Mittasch, Alwin Müggenburg, Jan Muir, Edwin Müller, )rank Müller, Oliver ff Müller, Stefan ,
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0egarestani, Reza 0ietzsche, )riedrich f, Olson, Eric T. Ostwald, Wilhelm Ottmann, Henning Ovid
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Palmier, Jean-Michel Pantin, Marguerite alias Aimée Paulhan, Jean Pavlov, Ivan Petrovič Petherbridge, Danielle Piéron, Henri Planck, Max f Plas, Guillaume f, Platon , , , , f, Plessner, )edor Plessner, Helmuth VI, VII, VIII, IX, ff, ff, ff, , ff, , , ff, , , ff, ff, ff, f, f, , , ff, ff, , ff, , ff, ff, Plessner, Monika , , , Pollock, )riedrich , Popitz, Heinrich Popper, Karl Portmann, Adolf IX, , , , , f
Personenverzeichnis
Proust, Marcel Przylebski, Andrzej Quine, Willard Van Orman
Smith, Adam Sonnemann, Ulrich VIII, Spemann, Hans Spengler, Oswald , Sprondel, Walter Sternberger, Dolf Sticker, Martin Storch, Otto Stöwer, Ralph
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Raulet, Gérard VII, , f, ff, Rehberg, Karl-Siegbert , , , Ricardo, David Ritter, Joachim Rodulfo, Ricardo Rohrmoser, Günter f Ross, Colin Roth, Gerhard Rothacker, Erich , , ff, f, Rousseau, Jean-Jacques , Ruda, )rank Sartre, Jean-Paul f Scheit, Gerhard Scheler, Max VII, VIII, ff, , , ff, f, , ff, , , f, , ff, ff Schelsky, Helmuth , Schilder, Paul Schiller, )riedrich , Schloßberger, Matthias V, , , Schmid 0oerr, Gunzelin , f, Schmidt, Alfred , Schmidt, Steffen Schmieder, )alko Schmitt, Carl Schmölders, Claudia Schnädelbach, Herbert , , Scholem, Gershom , Schopenhauer, Arthur , Schürmann, Volker Schüßler, Kersten , Schüßler, Michael VII, , Schütz, Alfred Schwarz, Michael X Schwemmer, Oswald Schweppenhäuser, Hermann Schwidetzky -Roesing , Ilse Sellars, Wilfrid , Shannon, Claude Elwood f Siegert, Bernhard Siep, Ludwig , Simmel, Georg , Skinner, Burrhus )rederic ,
ff
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Takada, Makoto Tarde, Gabriel f, ff Ter Pelkwijk, Jan-Joost Thies, Christian , , Thorpe, William Tiedemann, Rolf X Tillich, Paul Tinbergen, 0icolaas ff, , Tomasello, Michael , f, Tönnies, )erdinand , Tremmel, )rank Uexküll, Jakob von
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Vajda, Mihaly Vidal, Vanessa VIII von der Heiden, Anne von Horváth, Ödön von von Siemens, Werner von Wussow, Philipp Wagner, Richard Wallon, Henri Walter, William Grey Walzer, Michael Weber, Max , , Weiland, René VI, Wein, Hermann Weisgerber, Leo Welles, Orson Werner, Heinz f Wickler, Wolfgang , Wiggershaus, Rolf , Wildt, Andreas Wright, Richard Wunsch, Matthias , Yos, Roman VIII
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Personenverzeichnis
Zhavoronkov, Alexey IX Ziegler, Klaus
Zunke, Christine VII, VIII,