Subjektbildung und Gesellschaft. Beiträge zu Gruppenanalyse, Psychoanalytischer Pädagogik und Kritischer Theorie [1. ed.] 9783837931341, 9783837978209


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Inhalt
Prolog: Menschen begegnen sich … und davon handeln wir
I Kritische Theorie
1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen
1.1 Einführung
1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen
1.3 Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen
1.4 Prävention und Ausblick
2 Subjektivität und Gesellschaft
2.1 Einführung
2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud
2.3 Die klassische Kritische Theorie:Fromm, Marcuse und Adorno
2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler
2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded
2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute
2.7 Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik
3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus
3.1 Einleitung
3.2 Gesellschaftliche Transformationsprozesse
3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik
3.4 Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus
II Psychoanalytische Pädagogik
4 Psychoanalytische Pädagogikals kritische Kindheitspädagogik
4.1 Pädagogik und Gesellschaft – zur Einführung
4.2 Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung
4.3 Diskriminierung und Vorurteil
4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik
4.5 Eine andere Pädagogik ist möglich
5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix
5.1 Um was es geht
5.2 Die heterosexuelle Matrix
5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix
5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita
6 Erziehungspartnerschaft in der Kita
6.1 Einführung
6.2 Psychosoziale Themen der Elternschaft
6.3 Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik
6.4 Die Arbeit mit der Elterngruppe
6.5 Was brauchen Pädagog*innen?
Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik
III Gruppenanalyse
7 Gruppenanalytische Pädagogik
7.1 Einführung
7.2 Notizen zur gruppenanalytischen Theorie
7.3 Gruppenanalytische Pädagogik
7.4 Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern
7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit
7.6 Ausblick
8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik
8.1 Einleitung
8.2 Aggression, Erziehung, Beziehung
8.3 Aggressionstheorie – zur Funktionalität konstruktiver und destruktiver Aggression
8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik
9 Gruppenanalyse, Geschlechtund Sexualität
9.1 Einführung
9.2 Psychoanalyse und Queer Theory
9.3 Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven
9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse
Epilog: Ohne Angst verschieden und ohne Angst verbunden
Textnachweise
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Subjektbildung und Gesellschaft. Beiträge zu Gruppenanalyse, Psychoanalytischer Pädagogik und Kritischer Theorie [1. ed.]
 9783837931341, 9783837978209

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Thilo Maria Naumann Subjektbildung und Gesellschaft

Forum Psychosozial

Thilo Maria Naumann

Subjektbildung und Gesellschaft Beiträge zu Gruppenanalyse, Psychoanalytischer Pädagogik und Kritischer Theorie

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2022 Psychosozial-Verlag, Gießen E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Paul Klee, Begrüßung, 1922 Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Satz: SatzHerstellung Verlagsdienstleistungen Heike Amthor, Fernwald ISBN 978-3-8379-3134-1 (Print) ISBN 978-3-8379-7820-9 (E-Book-PDF)

Inhalt

Prolog: Menschen begegnen sich … und davon handeln wir

I

Kritische Theorie

1

Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen Psychoanalyse und Gesellschaftskritik Einführung Die universelle Bipolarität des Menschen Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen Prävention und Ausblick

1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3 3.1 3.2

9

15 15 18 47 55

Subjektivität und Gesellschaft 63 Grundlegungen und Zeitdiagnosen einer kritischen Theorie des Subjekts Einführung 63 Referenzrahmen: Marx und Freud 65 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno 79 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler 90 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded 108 Gesellschaft und Subjektivität heute 135 Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik 151 Neoliberalismus und Rechtspopulismus Zur Kritischen Theorie einer unheilvollen Verbindung Einleitung Gesellschaftliche Transformationsprozesse

165 165 167

5

Inhalt

3.3 3.4

Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus

II

Psychoanalytische Pädagogik

4

Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik Pädagogik und Gesellschaft – zur Einführung Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung Diskriminierung und Vorurteil Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik Eine andere Pädagogik ist möglich

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.3 5.4 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix Um was es geht Die heterosexuelle Matrix Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita Erziehungspartnerschaft in der Kita Die Arbeit mit der Elterngruppe Einführung Psychosoziale Themen der Elternschaft Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik Die Arbeit mit der Elterngruppe Was brauchen Pädagog*innen?

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik Checkliste Entwicklungspsychologie

6

171 180

189 189 192 198 202 219 225 225 226 237 249 263 263 264 269 274 279 283

Inhalt

III

Gruppenanalyse

7

Gruppenanalytische Pädagogik Zur Anwendung der Gruppenanalyse in pädagogischer Praxis, Supervision und Hochschulbildung Einführung Notizen zur gruppenanalytischen Theorie Gruppenanalytische Pädagogik Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit Ausblick

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 8 8.1 8.2 8.3 8.4 9

Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik Einleitung Aggression, Erziehung, Beziehung Aggressionstheorie – zur Funktionalität konstruktiver und destruktiver Aggression Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

293

293 296 301 316 324 340 347 347 350 353 357

Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität Freud, Butler und Queer Theory im Spiegel gruppenanalytischer Reflexion Einführung Psychoanalyse und Queer Theory Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

367 372

Epilog: Ohne Angst verschieden und ohne Angst verbunden

399

Textnachweise

401

9.1 9.2 9.3 9.4

367

380 386

7

Prolog: Menschen begegnen sich … und davon handeln wir

Jede Begegnung beginnt mit einer Begrüßung, ganz gleich ob sie einladend, offenherzig und zugewandt ausfällt oder kühl, abweisend, vielleicht sogar um Dominanz bemüht. Auf dem Cover dieses Buchs ist das Bild Begrüßung von Paul Klee zu sehen. Es macht spürbar, dass in jeder Begegnung von Beginn an Kräfte am Werk sind, die die Veränderung aller bewirken, mehr oder minder glücklich. »Menschen begegnen sich« – und diese Begegnungen sind der Stoff, aus dem Subjekte, Gruppen und Gesellschaften gemacht sind.1 Allerdings sind diese zwischenmenschlichen Begegnungen nicht nur existenziell für alle Menschen, sondern entziehen sich auch der Verfügung subjektiven Wollens. Die intersubjektive Dynamik jedweder Begegnung hat einen Ausgang zur Folge, den keine*r der Beteiligten autonom bestimmen kann. Prinzipiell ist der Ausgang offen. Zudem ist jede Begegnung historisch-gesellschaftlich überdeterminiert: von gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen jedes Subjekt geworden ist, und die jeder Begegnung ökonomisch, politisch und ideologisch vorausgehen. »Und davon handeln wir« – wir alle erzählen unsere eigene Geschichte, doch gleichzeitig werden wir und unsere Begegnungen von der Geschichte erzählt.2 Wie können wir darin unsere Autor*innenschaft behaupten? Wie 1 »Menschen begegnen sich« ist auch der Untertitel des gruppenanalytischen Lehrbuchs Gruppenanalytische Psychotherapie, das Harold Behr gemeinsam mit Liesel Hearst publiziert hat. Mir ist dieses Buch als Gruppenanalytiker sehr wichtig, weil es auf eindrückliche Weise den warmen Sound der Gruppenanalyse transportiert. Liesel Hearst gilt als Grande Dame der Gruppenanalyse – sie ist Ende 2020 im Alter von 100 Jahren verstorben. 2 Dieser Satz stammt aus dem Song Superstarfighter, der 1994 auf dem Album L’ETAT ET MOI der Band Blumfeld veröffentlich wurde. Für mich ist Blumfeld die Band einer kritischen Intersubjektivität. In vielen Songs geht es um ein Ich, das sich durch gesellschaftliche und diskursive Verwerfungen abgekapselt fühlt, und sich nach einem Du oder Wir sehnt, das nur durch ästhetische, politische, affektive und diskursive Bemühungen zu erreichen ist.

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Prolog: Menschen begegnen sich … und davon handeln wir

können wir unsere Geschichte vollständiger erzählen? Wie können wir unsere Begegnungen glücklicher gestalten, mit größerer Autonomie und tieferer Verbundenheit – wie können wir darin handlungsfähiger werden? Diesen Fragen nachzugehen, ist die Absicht des vorliegenden Buchs. Mein Zugang ist erfüllt von Themen, die mich seit über 30 Jahren theoretisch und praktisch intensiv beschäftigen: Kritische Theorie, Psychoanalytische Pädagogik und Gruppenanalyse. Aber unweigerlich ist auch meine Autorenschaft geprägt von vielen Begegnungen und überdeterminiert, schon allein familiär. Wie in zahlreichen anderen Familien auch, sind in meiner Herkunftsfamilie Liebe, Humor und sogar ein Strahlen vorhanden, aber auch Schatten und Fragmentierungen – transgenerational ebenso wie gegenwärtig. Zur Bewältigung und Weiterentwicklung haben vor allem das Netzwerk von Freund*innen und meine soziale Patchworkfamilie beigetragen. Hier möchte ich aber den Fokus auf wissenschaftliche und praktische Begegnungen in fachlichen Kontexten richten. Bereits mein Studium der Politologie, Psychoanalyse und Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt habe ich als große Bereicherung erlebt, weil es mir erlaubte, mich in einer fragmentierten Welt sinnvoll zu verorten. Darüber hinaus bin ich wunderbaren akademischen Lehrer*innen und vielen Kommiliton*innen begegnet, in Seminaren, Cafés und bei politischen Aktionen. Leitend war für uns die Frage, wie diese von Ökonomisierung, Ungleichheit, Sexismen und Rassismen gekennzeichnete Welt kritisch zu verstehen ist, um in ihr emanzipatorisch handlungsfähiger zu werden – eine Frage, die mich bis heute politisch und wissenschaftlich beschäftigt. In meiner Praxis als psychoanalytisch orientierter Pädagoge konnte ich in Begegnungen mit Kindern, Eltern und Kolleg*innen intensiv erleben, wie diese gesellschaftlichen Verhältnisse Alltage durchsetzen, Begegnungsräume einengen, aber auch, wie solche Räume regeneriert werden können im Sinne einer ebenso kritischen wie haltgebenden, verstehenden und freudvollen Pädagogik. Auch meine theoretischen Arbeiten zur psychoanalytischen Pädagogik leben bis heute von diesen Begegnungen, durch ein vertieftes Feldverständnis und zahlreiche Praxisbeispiele. Nicht zuletzt verdanke ich der Gruppenanalyse vielfältige und außerordentlich bereichernde Begegnungen – bereits während meiner Ausbildung, später als stellvertretender Vorsitzender des Instituts für Gruppenanalyse Heidelberg, als Supervisor und als Gruppenlehranalytiker. Die Gruppenanalyse als interdisziplinäre Theorie und Methode der Gruppenleitung fokussiert 10

Prolog: Menschen begegnen sich … und davon handeln wir

geradezu auf die Begegnung von Menschen, die die Integration von Vielfalt, die Versöhnung mit Begrenztheit, demokratische Partizipation sowie Individuation und Verbundenheit vertiefen möchte. Gruppen und ihre Potenziale haben gerade heute in Zeiten der Entgrenzung, Vereinzelung und Entsolidarisierung eine besondere Bedeutung. Persönlich habe ich die Aneignung gruppenanalytischer Fähigkeit als kreative Wendung einer passiv erlittenen Fragmentierung in einen aktiven Beitrag zu gelingenden Gruppenprozessen erlebt. Im Hinblick auf mein professionelles Handeln in Pädagogik, Supervision und Hochschulbildung fühle ich mich durch die gruppenanalytischen Begegnungen reich beschenkt. Schließlich lehre ich seit 16 Jahren Pädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Hier begegne ich alltäglich Kolleg*innen sowie vielen kritischen und neugierigen Studierenden, mit denen ich mich über den Zusammenhang und die Interdependenz von Subjekt, Gruppe und Gesellschaft immer wieder austauschen, mit ihnen streiten und verständigen kann. All diese Begegnungen sind explizit und implizit in den Texten enthalten, denen Sie, liebe Leser*innen, bei der Lektüre begegnen werden: je drei Texte zu den drei Schwerpunkten Kritische Theorie, Psychoanalytische Pädagogik und Gruppenanalyse. Alle drei Schwerpunkte repräsentieren unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Thema: glückende Begegnungen. Dabei sind Subjektbildung, Pädagogik und Gruppen unweigerlich in die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet, aber sie besitzen auch eine widerspenstige Eigenlogik, Leid zu lindern, Glück und Lust zu empfinden, und in diesem Sinne bedürfnisorientiert und solidarisch in die Gestaltung der Welt einzugreifen. Herzlich willkommen!

11

I Kritische Theorie

1

Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

1.1

Einführung

Stavros Mentzos (1930–2015) war Psychoanalytiker, Psychiater und Universitätsprofessor, leidenschaftlicher Therapeut und Theoretiker, und er war maßgeblicher Mitbegründer des Frankfurter Psychose-Projekts zur psychodynamischen Therapie von Psychosen und schweren Persönlichkeitsstörungen. Mit seiner warmherzigen, verstehenden und haltgebenden Persönlichkeit, seiner verständlichen Sprache und intersubjektiven Haltung hat er zahlreiche Menschen erreicht. Einer außerordentlich breiten Fachöffentlichkeit ist er mit seinen subjektzentrierten Bestsellern Neurotische Konfliktverarbeitung und Lehrbuch der Psychodynamik (1982/2011; 2009/2013) bekannt geworden. Stavros Mentzos hat aber nicht nur bedeutende Erkenntnisse zu Psychoanalyse, Psychodynamik und Psychosentherapie entwickelt, sondern auch zum psychosozialen Verständnis gesellschaftlicher Prozesse.1 Persönlich hatte ich das Glück, mit ihm in fachlichen Begegnungen immer wieder über das Verhältnis von psychoanalytischem und gesellschaftstheoretischem Verstehen debattieren zu können. Dies waren ungemein bereichernde Debatten, in denen Mentzos sich lebhaft für meine Positionen als psychoanalytisch orientierter Politologe, Pädagoge und Gruppenanalytiker interessierte und in denen ich viel von seiner psychoanalytischen Haltung lernen konnte. Auch in persönlichen Gesprä1 Mit meiner befreundeten Kollegin Cornelia Krause-Girth habe ich nach seinem Tod ein Buch mit dem Titel Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Erinnerungen an Stavros Mentzos (2018) herausgegeben, in dem zahlreiche Aufsätze zur Würdigung des vielfältigen Wirkens von Mentzos enthalten sind. Wir beide hatten eine besondere Beziehung zu Mentzos. Cornelia Krause-Girth hat bei ihm ihre Lehranalyse gemacht, und ich habe ihn zunächst als Stiefvater, ich möchte lieber sagen: als weitere zugewandte väterliche Bezugsperson kennengelernt, später sind wir uns neben unserer persönlichen Beziehung als analytische Kollegen begegnet.

15

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

chen ging es nicht selten um historische, gesellschaftliche und politische Themen. So sprachen wir wenige Wochen vor seinem Tod, es war der Höhepunkt der sogenannten »Schuldenkrise«, über die von den EU-Institutionen bewilligten »Hilfspakete« für Griechenland, die vor allem dazu dienten, Banken zu retten und Griechenland neoliberal zu restrukturieren. Wir sprachen dabei auch über die Frage, ob die autoritäre, herabwürdigende Haltung besonders von Vertretern der deutschen Regierung unter anderem als Abwehr einer historischen Schuld für die deutsche Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg verstanden werden kann: hunderttausende Hungertote, Massaker an der Zivilbevölkerung wie in Distomo oder Kalavryta, die Deportation der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis, Plünderungen und ein nie beglichener Zwangskredit. Nur eine Handvoll der Täter wurde je zur Rechenschaft gezogen und bis heute wurde kaum Wiedergutmachung geleistet, weder materiell noch symbolisch (vgl. dazu Sfountouris 2015; Glesos 2006). Mentzos war ein politisch hoch aufmerksamer Mensch, der die menschengemachte gesellschaftliche Destruktivität sowie das durch sie erzeugte Leid bis in die innerpsychische Verfasstheit der Menschen hinein verstehen wollte, um Wege für glücklichere, schöpferische Lösungen menschlicher Konflikte zu erkennen und zu öffnen. Selbst in den genannten Bestsellern finden sich zahlreiche Hinweise auf die Wechselwirkung von psychischer Entwicklung und Psychopathologie mit ihren sozialen Kontexten. Die aus dieser Wechselwirkung entstehenden »psychosozialen Arrangements« hat er insbesondere in Interpersonale und institutionalisierte Abwehr (1976/1988) sowie in seinem Werk Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen untersucht (Mentzos 1993/2002a). Zentrale Erkenntnis seiner psychoanalytischen und sozialpsychologischen Arbeiten ist die universelle Bipolarität des Menschen zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen, die zu einer dialektischen Integration von Individuation und Verbundenheit führt oder aber zu einer dilemmatischen Abspaltung eines Pols, zum Verzicht entweder auf Autonomie und Freiheit oder auf Liebe und Bindung. Sicherlich ist das Mentzos’sche Modell der Bipolarität gespeist durch die eigenen klinischen Erfahrungen und Diskussionen im Frankfurter Psychose-Projekt, die intersubjektive Wende der Psychoanalyse, die wachsende Akzeptanz der Bindungstheorie sowie die bahnbrechenden Erkenntnisse der Neurobiologie, und sicherlich hat nicht nur er dieses Modell als Neuerung innerhalb der analytischen Psychotherapie gesehen. Darüber hinaus war er der festen 16

1.1 Einführung

Überzeugung, dass dieses Modell auch beim Verstehen der Dynamiken in Gruppen, Institutionen und Gesellschaften von emanzipatorischem Nutzen sein kann. Gerne hätte er wohl noch ein grundlegendes Projekt dazu verwirklicht. Im Interview, das Alois Münch mit Mentzos anlässlich seines 80. Geburtstags führte, sagt er gegen Ende: »Das Modell der Bipolarität des Menschen mit seinen Implikationen, das sich fruchtbar im Bereich der Psychodynamik erwies, kann auch für psychosoziale Fragestellungen nützlich sein. Das Kriegsbuch entstand so als paradigmatischer Anwendungsfall einer in diesem Sinne erneuerten Psychoanalyse auf psychosoziale Probleme. Wenn mir das Schicksal noch genügend Lebenszeit schenkt, so möchte ich dieses Ziel noch überzeugender verwirklichen als im Kriegsbuch« (Mentzos/Münch 2010, S. 119).

Bis zuletzt hat Mentzos an diesem Projekt gearbeitet. In einem Manuskript-Fragment, das er hinterlassen hat, finden sich dazu diverse Ideen und Skizzen unter dem Arbeitstitel Die psychodynamische Dimension sozialer Prozesse (Mentzos 2015).2 Leider konnte er dieses Werk nicht mehr fertigstellen. Seine Stimme, mit der er für die Prävention gesellschaftlicher Destruktivität und die Humanisierung der Welt eintrat, fehlt – ebenso wie seine integrierende Haltung und seine unnachahmlich klare Sprache. Aber wir können seine Haltung verinnerlichen und seine Erkenntnisse bewahren, um das Projekt der Humanisierung auf unsere je eigene Weise und nach eigenen Möglichkeiten fortzuführen. Für mich und sicherlich viele Kolleg*innen in verschiedenen Arbeitsfeldern sind das Bipolaritätsmodell und seine Anwendung in psychosozialen Feldern stets eine wichtige Orientierung gewesen, deshalb möchte ich Mentzos’ sozialpsychologisches und sozialkritisches Schaffen in den Fokus dieses Textes rücken. Dieses ist zwar nicht unmittelbar der Kritischen Theorie zuzurechnen, aber es bietet einen sehr guten Einstieg zum Thema Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Zunächst werden bedeutsame Begriffe und Konzepte wie die Bipolarität, das Drei-Säulen-Modell, institutionalisierte Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen vorgestellt und im Hinblick auf ihre psychosoziale Dimension diskutiert. Dabei werde ich 2 Dieses Manuskript wurde mir von Ro Naumann-Mentzos und Dominik Mentzos vertrauensvoll zur Sichtung überlassen. Diverse Erkenntnisse aus diesem Manuskript sind auch in den vorliegenden Text eingegangen.

17

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

auch auf Passagen aus dem Manuskript-Fragment eingehen, insbesondere auf das innovative »Vier-Felder-Modell«. Im Folgenden zeichne ich die Anwendung des Bipolaritätskonzepts nach, mit der sich Mentzos in seiner breit rezipierten Analyse Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen beschäftigt hat. Schließlich wird es um präventive Potenziale des Bipolaritätskonzepts und um die Würdigung des sozialkritischen Wirkens von Stavros Mentzos gehen.

1.2

Die universelle Bipolarität des Menschen

1.2.1 Bipolarität und das »Kreuz des Südens«

Das menschliche und notwendig zwischenmenschliche Leben ist durch vielfältige Bipolaritäten wie Aktivität und Passivität oder Nähe und Distanz gekennzeichnet. Die wichtigste, übergreifende und universelle Bipolarität besteht aus selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen, die sich auch als Egophilie und Allophilie, Autonomie und Bindung oder Freiheit und Liebe bezeichnen lassen (Mentzos 2002a, S. 77; 2015). Gestützt auf die psychoanalytische Entwicklungspsychologie und differenziert durch die moderne Säuglingsforschung lässt sich diese Bipolarität besonders gut in der kindlichen Entwicklung zeigen. Das Selbst, seine Struktur, Funktion und Dynamik, entwickelt sich unweigerlich durch die Erfahrungen des Selbst in Beziehung zu den bedeutsamen Bezugspersonen bzw. den zunehmend verinnerlichten Objekten (Mentzos 2015). Im gelingenden Fall kann das Kind Nähe, Sicherheit und Verbundenheit erleben, ohne dass die Entwicklung eines eigenen, stabilen Selbst gefährdet wird. Gerade wenn die emotional haltende Beziehung ohne Besitzergreifung, Vernachlässigung oder intrusive Besetzung stattfindet, kann sich ein relativ autonomes Selbst gut entwickeln  – Selbst und Bindung stärken sich wechselseitig (ebd.). »Wenn aber die Bipolarität zwischen Autonomie- und Bindungsstreben aufgrund einer traumatisierenden Beziehung zu einem Konflikt erstarrt, so kann dies zwei extrem entgegengesetzte Formen annehmen: Das Kind kann entweder äußerst selbstbezogen und rebellisch werden und jede Objektbeziehung ablehnend in einem sogenannten Autoritätskonflikt verharren; oder es kann umgekehrt zwar die Liebe der Eltern durch übertriebene Anpassung

18

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

und Gehorsamkeit gewinnen, muss dafür jedoch seine Autonomie und sein Selbstwertgefühl aufgeben« (Mentzos 2002a, S. 78).

Die Bipolarität bleibt auch über die Kindheit hinaus, in der Adoleszenz und im Erwachsenenleben bis zum Alter, der zentrale Konflikt menschlicher Existenz. Grundsätzlich ist das bipolare Feld von zahlreichen Ambivalenzen und potenziellen Konflikten durchzogen. So sind bereits innerhalb der beiden Pole Ambivalenzen angelegt, »z.B. innerhalb des Selbstpols: Sehe ich mich mehr als Frau oder als Mann an? Oder innerhalb des Objektpols: Liebe ich mehr männliche oder weibliche Objekte?« (Mentzos 2013, S. 31). Entscheidend für mehr oder minder gelingende Bipolarität ist aber das Schicksal der selbst- und objektbezogenen Tendenzen. Wie eingangs schon angedeutet kann es unter günstigen inneren und äußeren Bedingungen zu einer interdependenten Verbindung von Selbst- und Objektpol kommen, zu einer Balance von Autonomie und Bindung – nicht als fixer Zustand, sondern als dynamisches Gebilde, das dialektisch-schöpferische Lösungen des Grundkonflikts ermöglicht. Unter ungünstigen Bedingungen aber, besonders bei immer wieder frustrierenden und kränkenden Objektbeziehungen, entstehen unhaltbare Ambitendenzen, Dysbalancen und Dilemmata, die zur antagonistischen Polarisierung zwischen dem Selbst- und Objektpol führen können (Mentzos 1995, S. 68; 2015). Diese scheiternde Integration der Bipolarität geht mit Gefühlen der Zerrissenheit einher, die als höchst unlustvoll und gefährlich erlebt werden, sodass die Dilemmata durch Abwehrmechanismen der Verdrängung, Abspaltung und Dissoziation überdeckt werden, um zumindest eine innerpsychische Pseudokohärenz herzustellen (Mentzos 2015). »Daraus resultieren Verhaltensweisen, Einstellungen und Haltungen, die wir im Alltag als egoistisch, uneinfühlsam, aggressiv, sadistisch, eigennützig oder aber unterwürfig, überangepaßt, aggressionsgehemmt und unsicher bezeichnen« (Mentzos 2002a, S. 78f.). Weil der Mensch nun gerade bei der Abspaltung entweder des selbstoder des objektbezogenen Pols scheinbar einheitlich wirkt, ist die leidvolle Dysbalance der Bipolarität meist nicht direkt sichtbar. Um hier einen ersten Überblick zu schaffen, hat Mentzos ein Schaubild entwickelt, das aus zwei sich kreuzenden Achsen besteht, die senkrecht die negativen und positiven Seiten des egophilen Selbstpols und waagerecht die negativen und positiven Ausprägungen des allophilen Objektpols repräsentieren: das »Vier-Felder-Modell« (Mentzos 2015) (Abb. 1). 19

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

Abb. 1: Das Vier-Felder-Modell (rekonstruiert von TMN)

Mentzos schreibt: »Das Vier-Felder-Modell bietet eine Orientierung, die mich aufgrund der äußeren Ähnlichkeit mit einem Kreuz an das Kreuz des Südens erinnert, also an jene kreuzartige Sternenformation, die wenigstens früher in der Seefahrt für Seeleute der südlichen Hemisphäre einen sicheren Orientierungspunkt in der unendlichen Weite der Meere darstellte. Damit vergleichbar soll auch unser Vier-Felder-Modell eine leicht erkennbare, erste Orientierung innerhalb der unendlichen Variationen menschlichen Erlebens und Verhaltens ermöglichen, ohne freilich den Anspruch auf eine genaue Lokalisierung des einzelnen Individuums zu erheben« (ebd.).

Die zwei Achsen lassen das Kreuz, bzw. die vier Felder entstehen. Die senkrechte Achse repräsentiert das Selbsterleben, während die horizontale Achse die objektbezogenen Emotionen des Selbst repräsentiert, die die Grundlage der dann real entstehenden Beziehungen bilden; sie sind gleichsam der Selbstbeitrag bei der Entstehung dieser Beziehungen (ebd.). Im oberen, rechten Feld A ist das innere Erleben sowohl des Selbst als auch der Objekte positiv besetzt, hier gelingen die Balance der Bipolarität und dialektisch-schöpferische Lösungen des Grundkonflikts. Im linken oberen 20

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Feld B hingegen sind infolge von negativen Beziehungserfahrungen objektfeindliche Tendenzen zu verorten, die von Antipathie, Konkurrenz, Neid und Intoleranz bis zum malignen Narzissmus reichen können. Bei diesem paaren sich intensive Aggressivität mit der Entwertung oder gar Entwürdigung des Objekts, sodass das Objekt zur Herstellung dialektischer Lösungen letztlich gänzlich unbrauchbar gemacht oder gar zum Verschwinden gebracht wird. Von dieser Form der Aggression zu unterscheiden ist die Aggression im linken unteren Feld C. Hier treffen negatives Objekt- und Selbsterleben zusammen und erzeugen ein massives Minderwertigkeitsgefühl, eine Selbstwertproblematik, die im Extremfall durch Aggression gegen das Objekt im Sinne einer gereizten, anklagenden und aggressivierten Depression kompensiert werden muss. Im rechten unteren Feld D schließlich tauchen zwar positiv erscheinende allophile Tendenzen auf, die von jenen in Feld A aber unterschieden werden müssen. In Feld D haben diese Tendenzen eine neurotische Herkunft, sie stammen aus einer Schwächung des Selbst, das sich durch die neuerliche Unterwerfung unter ein überhöhtes Objekt zu retten gezwungen sieht. Hier lässt sich im Extremfall eine masochistische Depression lokalisieren (ebd.). Diese unterschiedlichen Dynamiken zur Bewältigung bipolarer Konflikte lassen sich im VierFelder-Modell anschaulich darstellen (Abb. 2).

Abb. 2: Das Vier-Felder-Modell als Kreuz des Südens psychodynamischer Bipolarität (rekonstruiert von TMN)

21

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

Feld A zeigt also eine gelingende Entwicklung der Bipolarität an, während in den Feldern B, C und D mehr oder minder neurotische Lösungen des bipolaren Grundkonflikts vorliegen. Allerdings sind in diesen drei Feldern, trotz der Verzerrungen im Erleben von Selbst und Objekt, elementare Bezüge zur Realität erhalten. Wenn aber diese neurotischen Lösungen nicht mehr ausreichen, kann ein Abrutschen in einen psychotischen Modus ebenso funktional wie notwendig sein. Wenn es etwa im Falle des malignen Narzissmus nicht mehr gelingt, einen wenigstens prekären Bezug zum Objekt zu erhalten, wenn Ängste einerseits vor dem völligen Objektverlust aufkeimen und andererseits zugleich davor, vom Objekt verschluckt zu werden und die eigene Autonomie zu verlieren, können unbewusst psychotische Abwehrmechanismen mobilisiert werden, um das akute Dilemma eines Objektdefizits zu bewältigen. So repräsentiert etwa ein Verfolgungswahn negativ besetzte Objektanteile, bzw. das vom frühen Objekt eingepflanzte innere Böse, das auf einen äußeren Verfolger projiziert wird. Dieser Vorgang dient der Abwehr allzu großer Nähe zum Objekt, während in bestimmten Halluzinationen positiv besetzte Objektanteile zum Ausdruck kommen können, die die drohende totale Objektlosigkeit und das Gefühl völliger Leere verhindern helfen. Die Dynamik der Bipolarität zwischen Angst vor zu großer Nähe und der Angst vor dem Alleinsein ist ebenso auf der neurotischen wie auf der psychotischen Ebene wirksam. Allerdings unterscheiden sie sich im Bezug zur Realität. Während etwa ein Mensch mit einer Agoraphobie vielleicht nicht weiß, woher seine Angst stammt, wohl aber, dass sie im Hinblick auf den Auslöser irreal ist, ist ein Mensch mit Verfolgungswahn und Halluzinationen davon überzeugt, dass er real verfolgt wird oder dass die gehörten Stimmen von realen äußeren Personen stammen. Der psychotische Modus kann somit nicht ohne Weiteres im zweidimensionalen Vier-Felder-Modell abgebildet werden, »es sei denn, wir stellen uns vor, dass sich unter den Feldern Prozesse abspielen, die von der Realität im üblichen Sinne abgekoppelt sind« (ebd.). In jedem Fall ist das Vier-Felder-Modell, so Mentzos, keine intellektuelle Spielerei, sondern von großer theoretischer und praktischer Relevanz, weil es auf höchst anschauliche Weise sonst schwer zu fassende Dynamiken der Bipolarität zu beschreiben vermag – und dies gilt nicht nur für die Psychopathologie und Psychologie, sondern auch für psychosoziale Prozesse in Gruppen, Institutionen und Gesellschaften. Im Hinblick auf den Menschen zeigt das Konzept der Bipolarität, dass der einzelne Mensch 22

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

kein Homo clausus ist, sondern ein zutiefst soziales Wesen, das seine Beziehungserfahrungen als Beziehungsrepräsentanzen verinnerlicht und in die mehr oder minder gelingende Gestaltung neuer Beziehungen einbringt. Darüber hinaus kann es zum tieferen Verständnis psychosozialer Prozesse beitragen, weil soziale Systeme unweigerlich von Menschen belebt werden, es muss also Homologien, Gestaltähnlichkeiten zwischen subjektiven und sozialen Prozessen geben (Mentzos 2002b, S. 59). Mentzos betont dabei, dass er die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften keinesfalls psychologisieren möchte, da er um die Eigenlogik ökonomischer, politischer und sozialer Prozesse weiß. Aber er ist überzeugt, dass die Berücksichtigung der Bipolarität vertiefte Erkenntnisse über psychosoziale Prozesse ermöglicht. Es geht ihm darum, die Dynamik destruktiver Tendenzen hin zu rigiden Entweder-oder-Lösungen etwa im Nationalismus oder Egozentrismus zu verstehen, um den Blick für dialektische Sowohl-als-auch-Lösungen, für die Integration von Selbst- und Objektbezogenheit auch im psychosozialen Feld zu öffnen (Mentzos 2002c, S. 161). Für eine erste Orientierung kann auch hier das Vier-Felder-Modell sorgen (Abb. 3).

Abb. 3: Bipolarität im psychosozialen Feld (Rekonstruktion von TMN)

Wichtig ist dabei, dass es hier nicht um die widerstreitenden egophilen Interessen zwischen Gruppen, Institutionen und Gesellschaften geht, sondern zunächst um deren je eigene innere Bewältigung der Bipolarität, die 23

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

dann den eher destruktiven oder integrierenden Umgang mit anderen Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften konstelliert (Mentzos 2015). Für eine differenzierte Analyse solcher Prozesse sollen weitere wegweisende Konzepte von Mentzos für das Verstehen der Bipolarität im psychosozialen Feld rekapituliert werden. 1.2.2 Selbstwertregulation im Drei-Säulen-Modell

Mit dem Bipolaritätsmodell distanziert sich Mentzos behutsam von der zweiten Triebtheorie Freuds wie von »harten« Objektbeziehungstheoretikern wie Klein oder Kernberg insofern diese vom Gegensatz zweier primärer Triebe, Lebens- und Aggressionstrieb, als Grundkonflikt menschlicher Entwicklung ausgehen (Mentzos 2013, S. 55). Mentzos macht hingegen plausibel, dass es narzisstische und libidinöse, selbst- und objektbezogene Strebungen sind, die als primär gelten müssen und zu deren Befriedigung mitunter sekundär Aggression mobilisiert wird (Mentzos 2002a, S. 247). Um dabei den Aspekt der mehr oder minder gelingenden Entwicklung und Regulation von Selbstwertgefühlen im Wechselspiel mit benignen oder malignen Beziehungserfahrungen herauszuarbeiten, hat er das Drei-Säulen-Modell entwickelt. Dabei integriert Mentzos Erkenntnisse der klassischen Psychoanalyse ebenso wie objektbeziehungstheoretische und selbstpsychologische Erkenntnisse. Ganz im Sinne seines Bipolaritätsmodells hat Mentzos auch in seiner eigenen Arbeit integrative, schöpferische Sowohlals-auch-Lösungen den rigiden, spaltenden Entweder-oder-Lösungen vorgezogen. Abbildung 4 »zeigt eine runde, robuste waagerechte Plattform, die auf drei Säulen steht. Die Plattform repräsentiert, sofern sie horizontal und stabil bleibt, die adäquate Selbstwertgefühlregulation, also eine relativ ausgeglichene narzisstische Homöostase« (Mentzos 2013, S. 68). In der ersten Säule finden sich die noch nicht realitätsgerecht transformierten kindlichen Vorstellungen eigener Grandiosität, das Größen-Selbst. Etwas darüber »sind die bei allen Menschen mehr oder weniger lebenslang vorhandenen halbbewussten Größenfantasien positioniert. Schließlich, zur Spitze hin, findet man das reife Ideal-Selbst, also die realistisch korrigierte positive Vorstellung von sich selbst, das uns trotz unvermeidlicher Fehler, Mängel,

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1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Abb. 4: Das Drei-Säulen-Modell (Mentzos 2013, S. 69)

negativer Kritik etc. ein gewisses Maß an konstantem Selbstvertrauen und einen Puffer gegen Erschütterungen (durch Misserfolge und Kränkungen) garantiert« (ebd.).

Entscheidend für die Stabilität dieser Säule ist nicht etwa Anerkennung für erbrachte Leistungen, sondern die Bewunderung und positive Spiegelung, zunächst durch die primäre Bezugsperson und später auch in anderen bedeutsamen Beziehungen (ebd., S. 69). Die zweite Säule basiert, nach der frühesten symbiotischen Bindung, auf der identifikatorischen Partizipation an den idealisierten Eltern-Imagines. »Im mittleren Abschnitt dieser Säule wird die Identifikation mit anderen Leitbildern repräsentiert, die zum Teil die Eltern in ihrer Funktion ergänzen und/oder ablösen. Im oberen Abschnitt stellt die Säule das reife (assimilierte

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

und nicht nur introjizierte) Ideal-Objekt – wonach man sich orientiert – dar« (ebd., S. 70).

Hier ist es demnach die Bewunderung des Ideal-Objekts, die Identifizierung mit den idealisierten Eltern und später mit anderen Leitfiguren, die die Entwicklung vorantreibt (ebd.). »Die dritte, linke Säule entspricht in der Basis dem archaischen, unreifen, vorwiegend auf der Zweierbeziehung basierenden Über-Ich, im mittleren Abschnitt dem sogenannten ödipalen Über-Ich (also die während der ödipalen, triadischen Konflikte und ihrer Verarbeitung übernommenen Verbote und Gebote). Im oberen Drittel findet sich das reife Gewissen. Dies umfasst zwar zum Teil die früher übernommenen Verbote und Gebote, welche jedoch nunmehr bewusst akzeptiert und bewusst bejaht werden. Zum anderen Teil aber besteht dieses reife Gewissen auch aus eigenen, neu entstandenen Maßstäben und Werten« (ebd.).

Diese Säule beruht demnach auf der Anerkennung erbrachter Leistungen und dient eben dadurch der Stärkung des Selbstwertgefühls. Sicherlich ist das Drei-Säulen-Modell vor allem im klinischen Bereich außerordentlich hilfreich, nämlich beim differenzierten Verstehen von Störungen der narzisstischen Homöostase. Es macht nachvollziehbar, dass das Selbstwertgefühl zwangsläufig brüchig wird, wenn eine oder mehrere Säulen sich nur schwach ausbilden konnten. Zur notdürftigen Restabilisierung kann es dann einerseits zu überkompensierenden Reaktionen kommen, indem etwa bei Brüchigkeit der ersten Säule regressiv archaische Größenfantasien mobilisiert werden, bei der zweiten in einer Pseudounabhängigkeit die Bedeutung bewunderter Leitfiguren verleugnet wird, oder bei Brüchigkeit der dritten Säule die Unfähigkeit, Über-Ich-Anforderungen zu erfüllen, durch eine »Leistungswut« verdeckt wird – diese Überkompensationen sind freilich kaum von Dauer und überspielen bloß eine depressive Dynamik (ebd., S. 72). Andererseits kann die Brüchigkeit einer oder mehrerer Säulen durch Hypertrophie einer genügend stabilen Säule ausgeglichen werden. Mentzos veranschaulicht das am Beispiel eines Menschen, der als Kind kaum positive Spiegelungen erfahren hat und dem zudem keine geeigneten Identifikationsfiguren zur Verfügung standen, bei dem also die ersten beiden Säulen brüchig geblieben sind. Über lange Zeit konnte er diesen narzisstischen Mangel durch die Hypertrophie der Über26

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Ich-Säule ausgleichen, durch eine intensive Leistungsbereitschaft, die ihm zugleich die nötige soziale Anerkennung und Verbundenheit verschaffte, auch als Ersatz für die versagte narzisstische Versorgung beim Ideal-Objekt und Ideal-Selbst (ebd., S. 71). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Regulation des Selbstwertgefühls von sozialen Beziehungen im Privat- oder Arbeitsleben abhängt, und daraus folgt, dass das Drei-Säulen-Modell auch für die Analyse psychosozialer Prozesse außerordentlich nützlich sein kann. Es erlaubt, neben frühen konfliktbedingten Störungen auch zusätzliche Erschütterungen der Homöostase wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Arbeitsbelastung sowie Selbstwertprobleme im Rahmen gesellschaftlicher Desorientierung und Verunsicherung zu berücksichtigen (ebd., S. 72). Es hat überdies eine große sozialpsychologische Bedeutung, weil es verstehen hilft, wie Menschen ihre narzisstische Homöostase im Hinblick auf Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Über-Ich, ihre narzisstische Bedürftigkeit und Wünsche nach Verbundenheit durch gesellschaftliche Einflussnahme, ideologische Zugehörigkeit oder eine vermeintlich überlegene Moral zu sichern trachten (ebd., S. 70). Nicht zuletzt macht es nachvollziehbar, wie diese narzisstische Bedürftigkeit und der Wunsch nach Verbundenheit in den Dienst ökonomischer, politischer und ideologischer Interessen genommen werden können.3 3 Beispielsweise lassen sich die Ergebnisse des Forschungsprojekts »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« (APAS) mithilfe des Drei-Säulen-Modells sehr gut einordnen. Dieses zielt darauf, das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Anforderungen der Selbstoptimierung und biografisch-psychodynamischen Dispositionen herauszuarbeiten. Dabei lassen sich drei Typen der Lebensführung unterscheiden. Einigen »Individuen gelingt die Abgrenzung von den von außen angetragenen Perfektionierungsansprüchen recht gut, Selbst- und Fremdfürsorge können angemessen aufrechterhalten werden« (Salfeld-Nebgen et al. 2016, S. 10). Doch bei den anderen beiden Typen des Affirmierens und des Resignierens besteht ein ernstes Risiko, psychisch oder psychosomatisch zu erkranken. Sowohl bei jenen, die die Optimierungsansprüche recht erfolgreich erfüllen, als auch bei jenen, die immer wieder daran scheitern, zeigen sich unterschiedliche Erschöpfungssymptome sowie die Abwehr von Nähebedürfnissen und Beziehungswünschen (Uhlendorf et al. 2016, S. 33). In der Verquickung von biografischen Erfahrungen mit Herausforderungen der Arbeitswelt vermag eine Minderheit offenbar, Selbst- und Fremdfürsorge, Autonomie und Bindung, genügend gut zu balancieren – Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Gewissen können als relativ reif und gleichermaßen stabil gelten. Eine Mehrheit aber muss zur Selbstwertregulation auf Notlösungen zurückgreifen. So werden bei manchen unangemessene Größenfantasien mobilisiert, um sich das bedrohliche Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Mächten ebenso wie ängstigende

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

1.2.3 Affekte, Bipolarität und Konflikt

Eine wesentliche Rolle bei der gelingenden Balancierung der Bipolarität spielt die Dynamik der Affekte. Affekte bringen menschliche Bedürfnisse zum Ausdruck. Sie sind ausgesprochen körpernah und unweigerlich in ein zwischenmenschliches Beziehungsgeschehen eingebettet (vgl. Krause 1998, S. 28ff.). Zu unterscheiden ist zwischen primären und strukturellen Affekten. Primäre Affekte sind insbesondere Freude, Angst, Wut, Ekel und Trauer. Strukturelle Affekte sind etwa Neid, Stolz, Scham und Schuld oder auch Empathie – sie kommen erst mit der Bildung von Beziehungsrepräsentanzen mit ihrem Selbst- und Objektpol in der psychischen Struktur auf und sind wesentlich stärker sozialisationsbedingt (Mittelsten Scheid 2012, S. 166f.). Zu Beginn des Lebens ist das Kind zur Affektregulierung auf die markierten Spiegelungen des Affektausdrucks sowie Befriedigung stiftende Handlungen der primären Bezugspersonen angewiesen. In der weiteren Entwicklung kann das Kind zunehmend selbst durch sinnlich-symbolisches und sprachsymbolisches Handeln zur Affektregulierung beitragen. Bei genügend guter Affektregulierung entsteht mit etwa vier bis fünf Jahren die Fähigkeit zur Mentalisierung, also das Vermögen, die mentalen Zustände anderer Menschen wahrnehmen und sie von den eigenen mentalen Zuständen unterscheiden zu können (Fonagy/Target 2006, S. 365ff.). Wenn die Affektregulierung scheitert, können die Affekte nicht integriert werden und müssen sich unbewusst andere Abfuhrbahnen suchen. Auch die Fähigkeit zur Mentalisierung kann massiv eingeschränkt sein: Das Kind vermag die Getrenntheit und gleichzeitige Verbundenheit im Hinblick auf andere Menschen weder zu fühlen noch zu denken (ebd., S. 375ff.). Mit Mentzos könnte man sagen, dass es bei scheiternder Affektregulierung zur Bindungswünsche vom Leib zu halten; bei anderen verknüpft sich das Fehlen früher, glanzvoller Spiegelungen mit dem Gefühl, im Arbeitsleben nie gut genug zu sein, zu einer demoralisierten Haltung mit unbestimmter Aggression; und wieder andere versuchen durch eine maßlose Leistungsbereitschaft, gleichsam durch die Hypertrophie der Über-Ich-Säule, endlich jene Anerkennung und Zuwendung zu erfahren, die lebensgeschichtlich weitgehend versagt geblieben ist (vgl. Mentzos 2013, S. 69). Im Sinne eines psychosozialen Arrangements sind diese Lösungen sicherlich zunächst funktional, sowohl für das psychische Überleben als auch für die Arbeitsprozesse, doch sind sie letztlich destruktiv, da sich die unbewältigten Affekte und Konflikte andere Abfuhrbahnen suchen müssen und damit ein erhebliches psychosoziales Leid erzeugen, das jedenfalls Glück, früher oder später auch die Arbeitsfähigkeit kassiert.

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1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Dysbalance von selbst- und objektbezogenen Tendenzen kommt – bis hin zur Unfähigkeit, zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden. Die Affektdynamik ist also hoch bedeutsam bei der mehr oder minder gelingenden Bewältigung des Grundkonflikts. Deshalb möchte ich nun den Zusammenhang von Affekt und Konflikt anhand der Affekte Angst, Aggression, Scham und Schuld darstellen. »Die Angst ist einer der primär vorgegebenen und für das Überleben eminent wichtigen Affekte. Sie wird als Angstreaktion bei äußeren und inneren Gefahren mobilisiert und erfüllt die Funktion eines Signals, welches das Ich zu entsprechenden Maßnahmen zwecks Begegnung der Gefahr (Kampf, Flucht usw.) veranlasst« (Mentzos 2013, S. 34).

Im bipolaren Konflikt sind nun die entgegengesetzten selbst- und objektbezogenen Tendenzen strukturell mit intrapsychischen Spannungen, Gefahren und durch sie mobilisierten Ängsten verbunden. So droht beispielsweise beim Konflikt zwischen autistischem Rückzug und der Fusion mit dem Objekt entweder die Angst vor völliger Objektlosigkeit oder vor Selbstverlust durch die Verschmelzung mit dem Objekt; beim Konflikt zwischen Autonomie und Unselbstständigkeit droht entweder die Angst davor, abgelehnt und getrennt zu sein, oder in einer demütigenden Abhängigkeit verharren zu müssen (ebd., S. 31). Wenn dann aufgrund von ungünstigen inneren und äußeren Bedingungen keine dialektischen Lösungen des Konflikts gelingen, entstehen Symptome, die zwar als kreative Leistungen gelten können und das psychische Überleben sichern, die aber auch mit Dysbalancen und erheblichem Leid einhergehen. Mit Freud lässt sich hier sagen: »die Symptome werden geschaffen, um die Gefahrsituation zu vermeiden, die durch die Angstentwicklung signalisiert wird« (1926, S. 70). Aggression versteht Mentzos, ähnlich wie die Angst, nicht als Trieb oder Triebderivat, sondern als sinnvolles Reaktionsmuster zur Bewältigung äußerer und intrapsychischer Konflikte (Mentzos 2013, S. 42). Primär ist dabei die konstruktive Aggression, die der Verwirklichung der Balance von Autonomie und Bindung dient (Mentzos 2002a, S. 93). Dies zeigt sich schon im Kindesalter, wenn ein Kind in der Wiederannäherungskrise seinen Eltern ein trotziges »Nein« erwidert, um seine Autonomie zu verteidigen; oder wenn Aggression mobilisiert werden muss, um sich aus einer zu eng gewordenen dyadischen Beziehung heraus zu entwickeln. Aggression ist mitunter erfor29

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derlich, weil sie zur Befriedigung narzisstischer und libidinöser Bedürfnisse beiträgt (vgl. Naumann 2010, S.  134f.). Erst wenn diese Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, wenn es vielmehr zu wiederkehrender Missachtung und Verletzung kommt, ob in persönlichen Beziehungen oder gesellschaftlichen Kontexten, muss Aggression aktiviert werden, die sich mitunter destruktiv gegen das eigene Selbst richtet, an anderen Menschen agiert wird oder an diskursiv verfügbaren sozialen Gruppen entlädt (Bauer 2008, S. 75f.). Destruktive Aggression entsteht psychodynamisch also sekundär, wenn dauerhafte unlösbare Konflikte verinnerlicht werden. Die Verinnerlichung von wiederkehrenden Zurückweisungen, Kränkungen, Intrusionen oder Gewalterfahrungen führen entweder zur erzwungenen Aufgabe von Autonomie und Freiheit oder zum tragischen Verzicht auf Bindung und Liebe (Mentzos 2013, S. 42). Abbildung 5 bringt die psychodynamische Funktionalität von konstruktiver wie destruktiver Aggression zum Ausdruck.

Abb. 5: Funktionale Aggression nach Mentzos

Wenn der unbewältigte Konflikt dann in der psychischen Struktur verankert ist, entsteht eine nicht versiegende Quelle innerer Aggression. Im Falle der Überbetonung des Selbstpols zeigt sich die Aggression eher nach außen, um sich das ebenso ersehnte wie bedrohliche Objekt vom Leib zu halten oder um die eigene Pseudoautonomie durch die gewaltvolle Unterwerfung Anderer zu retten. Bei der Überbetonung des Bindungspols richtet sich die Aggression eher nach innen auf das eigene Selbst, um das dringend benötigte Objekt nicht zu verlieren (Mentzos 2002a, S. 96; 2013, S. 43). Zusätzlich kompliziert wird dieses Geschehen dadurch, dass der intrapsychische Konflikt unweigerlich in einem äußeren Beziehungsrahmen stattfindet – hier kann es zu Reinszenierungen des inneren Konflikts kommen, zu zusätzlichen mehr oder minder unterdrückten Frustrationsaggressionen infolge realer Anpassungszwänge, oder auch zu korrigierenden benignen Beziehungserfahrungen. 30

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Auch sozialpsychologisch ist dieser Aggressionsbegriff von großem Nutzen, weil er Aggression in sozialen Konflikten tiefer verstehbar macht. Sicherlich gibt es manifeste soziale Konflikte, in denen es um Macht, Ressourcen, Einflussnahme etc. geht, die Aggression erzeugen. Häufig wird diese Aggression zunächst projektiv abgewehrt, in der gegnerischen oder konkurrierenden Gruppe deponiert, um dann das eigene aggressive Handeln als notwendige Reaktion auf die Aggression dieser Gruppe zu rechtfertigen. Daneben aber, das macht Mentzos deutlich, gibt es innerhalb von Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften selbstproduzierte Frustrationsaggressionen aufgrund der Struktur gewordenen Pseudolösung des bipolaren Konflikts – Aggressionen, die dann freilich auch projiziert werden können (Mentzos 2002a, S. 102). So entsteht etwa in einer Gruppe, die den Selbstpol überbetont, Angst vor der Gefährdung der Gruppenidentität und potenziell Aggression als Abwehr dieser Angst, weil strukturell ein spiegelndes und regulierendes Gegenüber fehlt. Die Aggression kann sich dann als Zunahme psychosomatischer oder psychischer Erkrankungen zeigen und/ oder als entwertender und destruktiver Umgang mit anderen Gruppen. Die Affekte Scham und Schuld haben wie die Angst zunächst eine sinnvolle Signalfunktion. Schamgefühle signalisieren auf oft sehr unlustvolle Weise die Herabsetzung oder Bedrohung des Selbstwertgefühls besonders in Situationen, in denen das eigene Fühlen, Denken und Handeln in den Augen von Anderen lächerlich, selbstsüchtig, schwach oder kleinlich wirken könnte. Das Schamgefühl trägt dann dazu bei, »den Umstand, der unsere Wertigkeit oder Selbstachtung gefährdet, zu vermeiden oder rückgängig zu machen« (Mentzos 2013, S. 36). Schuldgefühle signalisieren hingegen »eine stattgefundene oder bevorstehende Verletzung der Rechte und Bedürfnisse der Anderen« (ebd.). Im Sinne eines reifen Über-Ich motivieren Schuldgefühle dazu, das schädigende Verhalten zu korrigieren oder eine Wiedergutmachung zu initiieren. Scham- und Schuldgefühle dienen also der Regulation des zwischenmenschlichen Zusammenlebens entlang des Selbstpols der Scham und des Objektpols der Schuld. Unter ungünstigen inneren und äußeren Bedingungen können Scham- und Schuldgefühle aber auch so unangemessen aufgebläht und unerträglich werden, dass sie abgewehrt werden müssen. So kann das Aufwachsen unter Bedingungen persistierender Beschämung dazu führen, dass sich die Angst vor Beschämung zu einer sozialen Phobie wandelt, zur grundsätzlichen Furcht und Vermeidung, sich dem beschämenden Blick Anderer auszusetzen – der bipolare Konflikt wird hier einseitig pseudogelöst, »der Selbstschutz wird 31

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

auf Kosten der Bindungs- und Kontaktbedürfnisse, die geopfert werden, gesichert« (ebd.). Schuldgefühle wiederum können unter dem Druck eines überstrengen Über-Ich so unerträglich werden, dass sie entweder verdrängt werden und sich andere Abfuhrbahnen suchen müssen, oder durch Gegenaktionen »wie etwa durch Selbstschädigung gleichsam ausgeglichen werden« (ebd., S. 37). Über diese Not individueller Abwehr hinaus zeigt Mentzos, wie sehr gerade Scham- und Schuldgefühle von den sozialen Kontexten ihrer Entstehung, von herrschenden Konventionen und Normen abhängen, und gleichzeitig mit der universellen Bipolarität des Menschen verquickt sind. Er differenziert dabei zwischen autonomen Scham- und Schuldgefühlen und heteronomen Scham- und Schuldgefühlen, die zwar verinnerlicht, aber nicht reif integriert sind, die also ein äußeres, nicht hinterfragtes Gesetz repräsentieren. Ein autonomes Schamgefühl signalisiert die Gefährdung des Selbstwertgefühls, wenn man verbirgt, wer man ist, wenn man sich sozialen Zumutungen einfach unterwirft und sich nicht wehrt, wenn es also zu einem Selbstverrat kommt (Mentzos 2002a, S. 117). Heteronome Schamgefühle keimen hingegen auf, wenn äußeren und verinnerlichten Konventionen nicht genüge getan wird. Bei den Schuldgefühlen verhält es sich ähnlich. Autonome Schuldgefühle zeigen sich bei der Verletzung wirklicher prosozialer Impulse, die zur Schädigung Anderer führt, während heteronome Schuldgefühle durch die Nichterfüllung herrschender Normen entstehen (ebd., S. 116). Ein plakatives Beispiel dazu ist der Umgang mit Verfolgten unter einem diktatorischen Regime. Autonome Scham- und Schuldgefühle müssten hier unweigerlich aufkommen, wenn Verfolgten nicht geholfen würde. Dagegen stehen aber heteronome Schamund Schuldgefühle, weil durch die Hilfe einerseits der Selbstwert im Spiegel der Mehrheitsgesellschaft bedroht wäre und andererseits eben diese Mehrheitsgesellschaft vermeintlich geschädigt würde. So wird bei heteronomen Schamgefühlen der autonome Selbstpol verleugnet und bei heteronomen Schuldgefühlen der autonom-zugewandte Objektpol – anstelle beider treten die Konventionen der herrschenden Moral. Um die Affektdynamik exemplarisch zu illustrieren, möchte ich das Schicksal der Bipolaritäten im Film Systemsprenger von Nora Fingscheidt in der hier gebotenen Kürze nachzeichnen (2019). Der Film zeigt auf ebenso eindrucksvolle wie differenzierte Weise die tragische Entwicklung der neunjährigen Benni innerhalb der Familie und insbesondere im System der Kinder- und Jugendhilfe. 32

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Benni imponiert durch ihre Notstärke und ihre überbordenden aggressiven Attacken gegen Erwachsene und Kinder. Bekannt ist, dass sie ein frühkindliches Trauma erlitten hat, eine bedeutsame Bezugsperson hat ihr immer wieder Windeln ins Gesicht gedrückt. Ihre Mutter Bianca ist durchaus liebevoll, wirkt aber selbst hochbedürftig, wenig protektiv und kaum in der Lage, triangulierend zu handeln – sie kann offenbar die Gefühlszustände ihrer ältesten Tochter nicht mentalisieren. Von einem Vater ist nicht die Rede, wohl aber tritt ein dominanter und gewaltvoller Partner der Mutter auf den Plan. Bennis Familie ist seit geraumer Zeit beim Jugendamt bekannt, allerdings erlebt sie immer wieder Beziehungsabbrüche, wird zwischen der Inobhutnahmestelle, Pflegefamilie, stationärer Erziehungshilfe und Familie herumgereicht. Aufgrund ihrer aggressiven Durchbrüche gilt sie inzwischen als unhaltbar – sie soll erst aus der Inobhutnahmestelle in eine geeignete Einrichtung vermittelt werden, wenn sie sich besser zusammenreißen kann. Das Helfer*innensystem arbeitet formal korrekt – so gibt es etwa Hilfeplangespräche, an denen die Vertreterin des Jugendamts, Frau Bafané, Vertreter*innen der Kinder- und Jugendhilfe, die Vertreterin der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, die Lehrerin und die Familie teilnehmen. Allerdings wirken diese Bemühungen ausschließlich an Bennis aggressivem Verhalten orientiert und nicht an einem gemeinsamen Verstehen der Affektdynamik im Kontext der familiären und institutionellen Prozesse. Aus Verzweiflung ermöglicht die warmherzige Frau Bafané, übrigens die einzige konstante Bezugsperson im Jugendhilfesystem, dass Benni der Pädagoge und Anti-Aggressivitäts-Trainer Micha als Schulbegleiter zur Seite gestellt wird. Nach einem brutalen Vorfall in der Schule erhält Micha die Erlaubnis, ein Wochenende mit Benni in einer einsamen Waldhütte erlebnispädagogisch zu arbeiten, so wie er es zuvor bereits mit gewalttätigen Jugendlichen gemacht hat. Micha scheint in der Lage zu sein, nicht nur Bennis Aggression wahrzunehmen, sondern all ihrem Tun einen Sinn zuzuschreiben. Benni erlebt mit Micha eine Bezugsperson, die sie auszuhalten und zu sehen vermag und ihr somit alternative Beziehungserfahrungen anbietet, die Benni verwundert annehmen zu können scheint. In einer besonders bewegenden Szene fordert Micha Benni auf, an einer echogebenden Stelle etwas in den Wald zu rufen. Laut und immer wieder ruft sie »Mama« – und erhält als Echo nur ihren eigenen Ruf. Das erste Mal kommt sie in Kontakt mit einer Traurigkeit darüber, dass die Fürsorge, die Liebe 33

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

und der Schutz der idealisierten Mutter vielleicht doch ungenügend waren. Allerdings bricht auch Micha die Beziehung ab, nachdem Benni, überflutet von ungestillten Sehnsüchten, massiv den Wunsch agiert, zu Michas Familie zu gehören. In einem finalen Akt wird beschlossen, dass Benni zu einer Erziehungsmaßnahme nach Kenia verschickt werden soll – am Flughafen flüchtet Benni wieder einmal, und in der letzten Szene springt sie vor einer Brüstung in die Höhe und fliegt gleichsam mit einem erlöst wirkenden Lächeln im Gesicht. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun auf die Affektdynamik im Kontext scheiternder Bipolarität eingehen. Für Benni sind Beziehungen offenbar zutiefst mit Angst verknüpft  – mit traumatischen Erfahrungen, Schutzlosigkeit und Beziehungsabbrüchen. Diese unsagbare Angst zwingt sie immer wieder dazu, den bedrohlichen Objektpol abzuspalten, indem sie andere Menschen in konflikthaften Situationen verächtlich macht oder höchst aggressiv attackiert. Die unerfüllte Sehnsucht nach Verbundenheit, Liebe und Schutz bleibt aber umso wuchtiger virulent. Bei Benni führt dies psychodynamisch zu einem zweiten Bewältigungsmuster, das der so oft agierten expressiven Aggression konträr entgegensteht: die Abspaltung des Selbstpols.4 Den Menschen gegenüber, an die sie ihre ungestillten Hoffnungen und Sehnsüchte heftet, versucht sie zunächst in einer Überanpassung all dem gerecht zu werden, was sie als deren Erwartungen vermutet, und im Konfliktfall richtet sie die Aggressionen gegen sich selbst, um das ersehnte gute Objekt nicht zu verlieren oder es gar zu zerstören. So erleben wir Benni, wie sie sich nach einem Konflikt mit Frau Bafané, der warmherzigen, kontinuierlich ansprechbaren aber selbst ohnmächtigen Vertreterin des Jugendamts, ebenso selbstverletzt wie nach dem gebrochenen Versprechen ihrer Mutter, sie wiederaufzunehmen, oder wie sie sich nach dem Wochenende mit Micha in der Waldhütte und angesichts der bevorstehenden Trennung den Kopf an der Autoscheibe blutig stößt. Im Helfer*innensystem wird diese bipolare Affektdynamik aber nicht zum Verstehen im Dienste förderlicher Angebote genutzt, sondern bloß die als unhaltbar geltende Aggression problematisiert. Es existieren keine gesicherten Reflexionsräume, die zu verstehen erlauben würden, wie sich Bennis Not im Hilfesystem spiegelt, wie zudem die eigene Ohnmacht, 4 Hier kann eine desorganisierte Bindung oder eine Bindungsstörung mit Enthemmung vermutet werden – eine solche Kategorisierung ist beim Verstehen aber nicht entscheidend.

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1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Angst und Aggression im Hilfesystem auf Benni projiziert werden, und wie sich für Benni schließlich die konflikttypische Szene der reaktiven Aggression zur Angstbewältigung durch Beziehungsabbrüche und Ausstoßung immer wieder komplettiert. Scham- und Schuldgefühle infolge des professionellen Scheiterns werden nicht zur Veränderung des Hilferahmens und Settings genutzt, sondern abgewehrt und in Benni deponiert: Sie sollte sich schämen und ist selbst schuld, wenn sie aus dem Rahmen fällt – eine umfassend destruktive Dynamik. Die Beziehung zwischen Micha und Benni deutet demgegenüber einen förderlichen Weg an, er hat eine gute und empathische Beziehung zu Benni aufgebaut, aber aufgrund eines völlig diffusen Auftrags und fehlender haltgebender Strukturen bricht auch er die Beziehung letztlich ab, weil er sich vor Bennis Sehnsüchten und Aggressionen nicht schützen kann. Ein fester, förderlicher Weg wäre freilich möglich und wird beispielsweise durch »Best-Practice-Modelle« bereits gegangen (Izat 2020). Er beinhaltet eine stabile multiprofessionelle Kooperation, ein gemeinsames mehrperspektivisches Fallverstehen, die Partizipation der Kinder und ihrer Familien sowie vor allem genügend gute und haltgebende institutionelle Strukturen, die den Fachkräften erst die Angstfreiheit, Stabilität und Reflexionsfähigkeit für Autonomie und Verbundenheit verleihen, um ihren Klient*innen ihrerseits haltgebende Beziehungen für nachholende Erfahrungen zur Balancierung von Autonomie und Verbundenheit zu ermöglichen. Insgesamt ist festzuhalten, dass Affekte wesentlich an der mehr oder minder gelingenden Balancierung der Bipolarität beteiligt sind, und dass dabei unweigerlich innere und äußere Konflikte ineinandergreifen. Neben den hier problematisierten Aspekten und ihren destruktiven Tendenzen in den Einzelnen oder sozialen Gemeinschaften ist immer auch zu fragen, wie in psychosozialen Feldern schöpferische Begegnungen und Prozesse zu ermöglichen sind, in denen Individuation und Verbundenheit balanciert sind und sich lustvolle Affekte wie Freude über das Dasein und Stolz auf die eigene und gemeinsame Kreativität zeigen und entfalten können. 1.2.4 Institutionalisierte Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen

Heftige Affekte, die infolge einer verinnerlichten Konfliktdynamik nicht bewältigt werden konnten, müssen unbewusst bleiben oder unbewusst gemacht werden (Mentzos 2011, S.  60). Sie sind damit aber nicht ver35

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schwunden, sondern suchen sich andere Abfuhrbahnen, vor allem in Form einer sich zwangsläufig wiederholenden und manchmal verdreht erscheinenden Inszenierung, die zwar dem psychischen Überleben dient, aber die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen mehr oder minder leidvoll einschränkt. Eben diese Abwehr bedrohlicher Affekte und die verschiedenen Abwehrmechanismen hat Mentzos konsequent aus der Perspektive der Bipolarität systematisiert. Im Folgenden sollen deshalb zunächst intrapsychische Abwehrmechanismen vorgestellt werden, um dann ausführlicher auf das Konzept der psychosozialen, insbesondere der institutionalisierten Abwehr einzugehen, da dieses für das Verständnis psychosozialer Prozesse höchst bedeutsam ist. Mentzos unterscheidet zunächst drei Ebenen der Abwehr, die Abwehr auf eher psychotischem, narzisstischem oder neurotischem Niveau. Diese Einteilung bemisst sich nach den psychosozialen Kosten, etwa der Tiefe der Einschränkung in der Wahrnehmung innerer und äußerer Realität, die mit der Abwehr von Angst, Wut, Scham oder Schuld einhergehen (Mentzos 2013, S. 45). In der psychotischen Abwehr ist die Fähigkeit zur Unterscheidung von Fantasie und Realität ernsthaft außer Kraft gesetzt: ➣ So wird beispielsweise bei der psychotischen Projektion ein Verfolgungswahn erlebt, in dem das als unerträglich böse empfundene Eigene auf einen Verfolger projiziert wird und zugleich wenigstens eine Restbeziehung zwischen Verfolger und Verfolgtem aufrechterhalten bleibt; ➣ in der psychotischen Verleugnung hingegen kann es, wie etwa in der Manie, zur Verleugnung der eigenen Schwächen kommen; ➣ oder aber sie zeigt sich als Liebeswahn einer schicksalhaften Verbindung mit dem Objekt der Begierde – ein Wahn, der zwar eine ersehnte Beziehung imaginiert, doch dabei die äußere Realität, in diesem Fall die reale Verfasstheit des begehrten Menschen, dessen Bedürfnisse und Ablehnung, völlig verleugnet (ebd., S. 45f.; Naumann 2010, S. 43). Bei der eher narzisstischen Abwehr fehlt das psychotisch Wahnhafte, allerdings ist das Erleben recht global durch eine Selbstwertproblematik, eine besondere narzisstische Bedürftigkeit und Kränkbarkeit geprägt: ➣ So kommt es etwa in der nichtpsychotischen Projektion zur Spaltung und Verleugnung von negativen, schambesetzten Selbstanteilen, die dann auf andere Menschen oder Gruppen projiziert werden. Auf 36

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

diese Weise ist die in Beziehungen erlebte und verinnerlichte Ambivalenz als einfaches Schema von Gut und Böse entsorgt (Mentzos 2013, S. 46). Besonders bedeutsam ist auch die projektive Identifizierung, also die Projektion von unbewältigten Gefühlen auf real verfügbare Andere, die dann zum Mitagieren im Sinne der Projektion neigen (ebd., S. 47): ➣ Dies kann sich zum Beispiel in Größenfantasien zeigen, die der Abwehr von ebenso schambesetzten wie ängstigenden Gefühlen der Schwäche, der Abhängigkeit und Ohnmacht dienen. Um diese Gefühle loszuwerden und zugleich im Dienste der Größenfantasien erlebbar zu halten, sind Andere notwendig, die sich schwach, abhängig und ohnmächtig machen lassen; ➣ umgekehrt gilt dies ebenso für die projektive Identifizierung von unerfüllten aggressiven Autonomiewünschen – eine Projektion, die auf einen real verfügbaren, ermächtigten und stark erscheinenden Anderen angewiesen ist, um sich diesem dann in Abhängigkeit unterwerfen zu können (vgl. Naumann 2010, S. 43). Die klassischen neurotischen Abwehrmechanismen schließlich resultieren aus eher eingegrenzten Beziehungskonflikten und dienen der Abwehr von einzelnen Affekten oder Affektbereichen. Auch einige dieser Abwehrmechanismen möchte ich hier in Rekurs auf Mentzos kurz beschreiben (Mentzos 2013, S. 46f.): ➣ Die Intellektualisierung etwa dient der Vermeidung von Emotionalem durch ein überbetont kognitives Reden; ➣ die Rationalisierung zielt auf die pseudorationale Erklärung eines irrationalen Verhaltens; ➣ die Affektisolierung führt zur Abtrennung eines Affekts von der dazugehörigen Vorstellung, wenn jemand etwa teilnahmslos von der eigenen und schwierigen Mutter-Beziehung berichtet; ➣ die Affektualisierung hingegen mobilisiert starke Affekte, um andere ängstigende Affekte nicht spüren zu müssen, etwa in sexualisiertem Verhalten, das den Hunger nach Geborgenheit und Anerkennung überspielt; ➣ die Verschiebung von massiven Ängsten, die sich um das gefährdete Selbst drehen, kann zu Phobien führen, etwa in Form einer Tierphobie; 37

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen







das Ungeschehenmachen dient der Neutralisierung oder Revision unangenehmer Affekte durch entgegengesetzte Gedanken oder Handlungen, wenn etwa ein Waschzwang von einem aggressiven Impuls und den daraus folgenden unerträglichen Schuldgefühlen befreien soll; die Wendung gegen das Selbst führt zu einem autoaggressiven Verhalten mit der unbewussten Intention, Aggression gegen Andere zu verhindern, ob aus Angst vor Sanktionen oder zum Schutze des Anderen; nicht zuletzt verwandelt die Reaktionsbildung verpönte Affekte in eine entgegengesetzte Dauerhaltung. So kann sich eine bodenlose Verunsicherung als Ordnungszwang zeigen, oder eine unsagbare Wut als aggressionsgehemmte Überhöflichkeit.5

Quer zu dieser Logik unterschiedlicher Reife, von psychotischer Abwehr bis hin zum Humor, liegen nach Mentzos noch die psychosomatische und die psychosoziale Abwehr. Die Errichtung psychosomatischer Abwehr ist sicherlich ein multifaktorieller Prozess. Gleichwohl muss es eine Homologie, eine Passung zwischen Körper und Konflikt geben, die unbewusst zur Konfliktbewältigung eingesetzt wird (ebd., S. 191). Der »Gewinn« im psychosomatischen Modus besteht darin, dass die unbewältigen Affekte und das Leiden daran scheinbar entsorgt scheinen, indem sich der psychische Konflikt nurmehr in Körpersprache zeigt (Mentzos 2011, S. 247). 5 Über diese mehr oder minder unreifen Verarbeitungsweisen verinnerlichter, schwelender und noch ungelöster Beziehungskonflikte hinaus benennt Mentzos mit dem Humor und dem Coping zwei reife Bewältigungsmechanismen (Mentzos 2013, S. 47). Der Humor eröffnet einen Spielraum, der das Lachen über die eigenen Begrenzungen und Verrücktheiten, über die Dramen zwischenmenschlicher Begegnungen ermöglicht, und der damit auch die affektiven Ambivalenzen in die bewusste Wahrnehmung zu rücken erlaubt. Das reife Coping umfasst verschiedene Bewältigungsformen, die dazu dienen, im Hier und Jetzt einer belastenden Situation Erleichterung herbeizuführen. Dies können, gleichsam als praktische Mentalisierung, Reflexionen über die interaktiven Affekte im Konflikt sein, die Aktivierung kommunikativer Ressourcen, um im Spiegel des Anderen die Affektdynamik verstehen zu können, oder auch die bewusste Verhaltensmodifikation, die ein erweitertes Erleben und Handeln trotz der Konflikthaftigkeit menschlicher Bipolarität ermöglicht. Im Sinne des salutogenetischen Konzepts Antonovskys kann Coping auch als Verwirklichung des Kohärenzsinns verstanden werden, der das eigene Fühlen, Denken und Handeln in einen verstehbaren Kontext einbettet und darin Selbstwirksamkeit und Sinn erfahrbar macht.

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1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

Nun aber gerät der Körper zu einem Beziehungsobjekt, das stets zur Verfügung steht, um durch Internalisierung oder Externalisierung, wie bei den Fress- und Brechanfällen im Kontext einer Bulimie, einen ungelösten Konflikt zu inszenieren und gleichzeitig loszuwerden (Mentzos 2013, S. 197). So kann etwa ein Magenulcus entstehen, wenn unerfüllt gebliebene Versorgungswünsche, die durch besondere Leistungsbereitschaft überspielt oder infolge massiver Versagungen abgewehrt werden müssen, sich in übermäßiger Magensäureproduktion äußern, in der verkörperten Sehnsucht, doch genügend gut gehalten und gefüttert zu werden. Bei Neurodermatitiden, um ein letztes Beispiel zu nennen, können sich hochambivalente, zwischen Nähe und Distanz schwankende Beziehungserfahrungen auf der Haut niederschlagen. Damit ist es möglich, die affektive Spannung durch das Kratzen der juckenden Haut autoaggressiv abzuführen sowie die wiederum verkörperten Botschaften zu versenden: »Pflege mich« und »Bleib’ mir vom Leib« (vgl. ebd., S. 194). Der häufigste Abwehrmodus ist laut Mentzos die psychosoziale Abwehr. Dabei werden internalisierte Konflikte, die eine starke Tendenz zur Externalisierung haben, in verfügbaren sozialen Beziehungen untergebracht. Durch das alltägliche Mitagieren der beteiligten Menschen entstehen »Kollusionen« (Willi), psychosoziale Arrangements, die meist der Kompensation narzisstischer Defizite oder der Ersatzbefriedigung libidinöser Bedürfnisse dienen (Mentzos 2011, S.  256ff.). So spricht Mentzos von interpersonaler Abwehr, wenn die Beteiligten in einer realen Beziehung unbewusst miteinander verhakt sind, sodass ihr wechselseitiges Agieren die Abwehr unbewältigter Affekte aufrechterhält. Mit dem folgenden familiendynamischen Beispiel von Mentzos zur interpersonalen Abwehr lässt sich diese leidvolle, aber bearbeitbare Dynamik veranschaulichen (ebd.): Es geht um eine Familie, bestehend aus beiden Eltern und zwei Töchtern. Die Fallrekonstruktion nimmt ihren Ausgang, als die jüngere der beiden schon erwachsenen Töchter einen Psychotherapeuten wegen sexueller Schwierigkeiten aufsucht, die später als Autonomie-Abhängigkeitskonflikt verstanden werden. Im Fokus der Fallrekonstruktion steht die Beziehung zwischen der Mutter und ihren Töchtern. Die Mutter ist in der Familie die dominante Figur. Sie überdeckt ihre depressiven Tendenzen mit einer zwanghaften Betriebsamkeit sowie mit dem Hang zum Herumkommandieren und Kritisieren. 39

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

Der Vater hingegen ist sehr zurückhaltend, kommt nur selten zu Wort, scheint aber mit dieser Rolle zufrieden zu sein, weil er so vor Aggressionen relativ geschützt bleibt und sich der Verantwortung für die Familie entziehen kann. Die jüngere Tochter nun ist eine betont unabhängige, sich oft auflehnende und »unangepasste« junge Frau, die sich gegen jeden Versuch, sie zu beherrschen, vehement auflehnt. Zugleich ist sie gutmütig und freundlich, zeigt sich meist lebhaft und unbekümmert. Die ältere Schwester hingegen ist ernst, angepasst und führt ein »bürgerliches« Leben. Mit der Mutter geht sie konform und versteht sich mit ihr auch viel besser als die jüngere Schwester. Nur sehr versteckt auftretende Fehlhandlungen und Merkwürdigkeiten im Verhalten deuten auf eine stark unterdrückte Aggression hin. Was ist hier der Fall? Die Familiendynamik sorgt dafür, dass beide Töchter an ihren Rollen festhalten müssen. Jeder Versuch der jüngeren, sich angepasster zu verhalten, wird übersehen, während Anzeichen ihres unangepassten Verhaltens hervorgehoben werden, begleitet von Kritik und Anklage. Die gelegentlichen Versuche der älteren Tochter, sich auch einmal aufzulehnen, werden ebenfalls ignoriert oder bagatellisiert. Es zeigt sich als zentraler Aspekt der Familiendynamik, dass die beiden Töchter zwei entgegengesetzte Selbstanteile der Mutter repräsentieren. Die Mutter muss offenbar einen unbewältigten Konflikt zwischen ungestillten Wünschen nach Lebendigkeit und strengen Über-Ich-Forderungen psychosozial abwehren, indem sie die Töchter in ein Arrangement gegensätzlicher projektiver Identifizierungen einbindet. An der jüngeren Tochter mit ihrer Unbekümmertheit und Unangepasstheit kann sie die eigenen, unerfüllten Wünsche miterleben und zugleich sanktionieren. Mit der älteren Tochter hingegen, die mit den schweren Über-Ich-Forderungen identifiziert ist, kann sie die Ausschweifungen der jüngeren verurteilen. Über lange Zeit funktioniert dieses Arrangement, weil die Töchter aus Loyalität und um die Liebe der Mutter zu erhalten, unbewusst ihren Auftrag erfüllen. Erst als spürbar wird, dass die Divergenz zu den eigenen Bedürfnissen und das erbrachte Opfer zu groß sind, scheitert das Arrangement. Die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe durch die jüngere Tochter, die Bearbeitung und Versöhnung mit der unweigerlichen wechselseitigen Abhängigkeit in sexuellen Beziehungen, die einer so betont autonom auftretenden jungen Frau sehr schwer fallen muss, kann dann aber auch ein Start40

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

schuss sein für eine affektiv förderliche Entwicklung nicht nur der einen Tochter, sondern der ganzen Familiengruppe (vgl. Naumann 2014, S. 49ff.). Wie auch in diesem Fall deutlich wird, spielen bei der interpersonalen Abwehr besonders projektive Identifizierungen eine wichtige Rolle, bei denen der Andere, auf den unbewältigte negative Selbstanteile oder auch unerreichbare ideale Selbstbilder projiziert werden, tatsächlich im Sinne dieser Zuschreibung zu fühlen und zu handeln beginnt. In Gruppen lässt sich dies sehr gut beobachten. So erleben wir in Gruppen manchmal die Idealisierung eines Teilnehmers, der dann ebenso stolz wie angestrengt dieser Anrufung gerecht zu werden versucht, oder wir begegnen dem leidvoll bekannten Phänomen des »Sündenbocks«, an dem nicht nur Aggression entladen wird, sondern der überdies die ihm auferlegte Rolle des »negativen Selbst« zu agieren beginnt (Mentzos 1988, S. 93; Naumann 2014, S. 49). Der für die Analyse psychosozialer Felder wichtigste Modus ist die institutionalisierte Abwehr. Institutionalisierung ist als dynamischer sozialer Prozess zu verstehen, in dem Regelungen produziert werden, die Komplexität reduzieren und soziale Handlungs- und Beziehungsmuster auf eine Weise formen und regulieren, die für die Beteiligten eines Interaktionsprozesses erwartbar sind, somit Sicherheit spenden und bestenfalls der Befriedigung berechtigter Bedürfnisse dienen (vgl. Mentzos 2011, S. 259). Die so entstehenden Institutionen sind unweigerlich eingebettet in historisch-gesellschaftlich entstandene, ökonomische, politische und ideologische Verhältnisse, und sie haben, kritisch betrachtet, die Funktion, diese Verhältnisse zu reproduzieren. Eine besonders wichtige Spielart der Institutionen sind Organisationen wie etwa Unternehmen, Verwaltungsapparate oder Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens. Diese haben eine primäre Aufgabe, verfolgen also einen bestimmten Zweck, wie die Produktion von Waren, Bildung oder Gesundheit (vgl. Busch 2007a, S. 23). Entscheidend ist nun, dass Institutionen nicht nur soziale, sondern auch psychische Funktionen haben, schließlich sind sie von Menschen für Menschen geschaffen. Dabei erzeugen die institutionellen Handlungsabläufe, Interaktionsmuster und Sprachnormen ein institutionell Unbewusstes und verkoppeln sich mit der Abwehrbereitschaft der Einzelnen (ebd., S.  25). Einerseits entsteht institutionalisierte Abwehr dadurch, dass die Einzelnen ihre Abwehr unbewältigter Affekte in den institutionellen Mus41

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

tern unterbringen können. Dies entlastet zunächst von Angst und sichert gleichzeitig den Fortbestand der Institution. Denn »die von der Institution garantierte Sicherung der neurotischen Abwehr wirkt beim einzelnen als eine Art Prämie, die seine Motivation zur Unterstützung der Institution erhöht und somit zu ihrer Stabilisierung beiträgt« (Mentzos 1988, S. 111). Beispielhaft schreibt Mentzos: »Der patriarchalische Chef mag wegen seiner systemimmanenten autoritären Haltung und der damit einhergehenden Unterdrückung unangenehm, sogar verhaßt sein, andererseits übernimmt er eine quasi väterliche Funktion, er schützt vor äußeren Gefahren, er garantiert (tatsächlich oder angeblich) eine sichere Zukunft, er übernimmt Verantwortung im Hinblick auf wichtige Entscheidungen etc. Auf einer tieferen, unbewußten Ebene mag er auch als geeignete Vaterübertragungsfigur wahrgenommen werden, an der die ödipale Problematik weitab von der eigenen Familie heftig agiert werden kann. Umgekehrt wiederum dient diese Konstellation dem ›Chef‹ selbst bei der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen und bei der Festigung von Größenphantasien. Sie hilft ihm beim Verleugnen, Rationalisieren und Verschieben. Seine Angst vor Verantwortung, seine Zweifel an seiner eigenen Potenz und seinen Fähigkeiten kann er dadurch besser kompensieren. Aber auch bei der Verdrängung von Schuldgefühlen, die infolge seines aggressiven Verhaltens entstehen, ist sie ihm nützlich – er handelt ja im Rahmen seiner Aufgabe und Funktion. So hat er die Gelegenheit, in legaler Weise aggressive Affekte auf die Untergebenen zu verlagern und dort abzureagieren. Auf einer tieferen, unbewußten Ebene schließlich hilft ihm womöglich diese aktive, eingreifende, herrschende Rolle bei der Festigung seiner individuellen Abwehr gegen eigene Passivitäts- und Geborgenheitswünsche« (ebd., S. 82).

Andererseits können Institutionen selbst Ängste erzeugen und institutionell begründete Abwehrformen und Pseudolösungen des Grundkonflikts erforderlich machen (Mentzos 2002a, S. 79). Besonders in Organisationen »erzeugt das aufgabenorientierte interne organisationsspezifische Handeln bei den beteiligten Organisationsmitgliedern Ängste, gegen die Abwehrformationen gebildet werden« (Busch 2007a, S. 24). Dazu ein weiteres Beispiel aus dem pädagogischen Feld: Wenn sich in einer Kindertageseinrichtung unter wachsendem Optimierungsdruck ein »Förderwahn« (Wolfgang Bergmann) etabliert, 42

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

der den Kindern Kompetenzen antrainieren und abweichendes Verhalten austreiben will, verfestigt sich eine Kultur der Affektarmut und des Wegfühlens, in der Wünsche nach Nähe und Verbundenheit verworfen werden müssen. Die durch diese Interaktionspraxis der Organisation erzeugten Ängste vor fehlendem Halt und davor, in der Konkurrenz nicht zu bestehen, müssen dann im Sinne institutionalisierter Abwehr dem Erleben ferngehalten werden. So lässt sich etwa die wenig einfühlsame Förderpraxis, und selbst die darin versteckte Aggression infolge der Zumutungen für Pädagogen, Eltern und Kinder, als notwendige Maßnahme rationalisieren, die den Kindern erst ein erfolgreiches Bestehen in der Welt sichere. Freilich ist zu befürchten, dass sich die abgewehrten Affekte früher oder später als psychosomatisches Symptom oder als destruktive Aggression zeigen (Naumann 2014, S. 49). In jedem Fall erzeugt die institutionalisierte Abwehr mit ihren Pseudolösungen der intrapsychischen, interpersonalen und institutionellen Konflikte erhebliche psychosoziale Kosten. Im Hinblick auf Organisationen macht Christian Kinzel deutlich, dass die von ihm sogenannten Angstabwehrsysteme die Erledigung der Primäraufgabe beeinträchtigen, weil sie Demoralisierung auslösen können, notwendige Weiterentwicklungen stocken lassen, da dies mit Veränderungen und weiteren Ängsten verbunden wäre, oder auch durch Spaltungen und projektive Identifizierungen destruktive Entwertungen und Sündenbockbildungen erzeugen (Busch 2007a, S. 26f.). Besonders in Krisenzeiten, wenn Institutionen oder gar ganze Gesellschaften vor massiven Umwälzungsprozessen stehen, wird die institutionalisierte Abwehr womöglich zunächst noch intensiviert, löst sich dann aber unter Veränderungsdruck auf, sodass die bislang institutionell gebundenen Affekte freigesetzt werden, was mit erheblichen Verunsicherungen und gar Dekompensationen einhergehen kann (ebd., S. 23; Mentzos 2011, S. 265). So ist es sicherlich kein Zufall, dass die rasanten Veränderungen der Arbeitswelt, die sich kurz als Deregulierung, Flexibilisierung, Subjektivierung und Entgrenzung beschreiben lassen, mit einem dramatischen Anstieg reaktiver Erkrankungen wie Sucht und Depression einhergehen (Morgenroth 2015). Daraus sollte freilich nicht folgen, Veränderungen abzublocken, und zwar nicht nur, weil manche Institution dann existenziell bedroht wäre, sondern auch weil die institutionalisierte Abwehr zwar temporär Sicherheit spendet, aber dennoch Destruktivität und Leid perpetuiert. Sinnvoller ist es, 43

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

»sich die Frage zu stellen, ob und welche Bedeutung die beabsichtigte institutionelle Veränderung für das psychoökonomische Gleichgewicht der beteiligten Individuen haben wird. Dabei zeigt sich in der Praxis, daß eine solche psychosoziale Diagnostik, inklusive Einschätzung der neurotischen Bedürfnisse und Ich-Kapazitäten der einzelnen, meistens nicht etwa dazu führt, daß man die Innovation zurückstellen müßte, sondern umgekehrt dazu, daß man sie besser, d. h. der psychosozialen Realität adäquater durchführen kann« (Mentzos 1988, S. 105).

Ganz praktisch ist das Aufspüren von institutionalisierter Abwehr und die Integration der abgespaltenen Affekte im Sinne einer gelingenden Erfüllung der Primäraufgabe eine wichtige Aufgabe für psychodynamische Forschung, Supervision und Organisationsberatung. Über diese innerinstitutionellen Dysbalancen der Bipolarität in der institutionalisierten Abwehr hinaus thematisiert Mentzos das wichtige Verhältnis zwischen Gruppen, Gemeinschaften oder Gesellschaften. Dieses Verhältnis kann zunächst im Sinne einer »Kaskade der Wir-Bildungen« als Abfolge immer umfassenderer, mehr oder minder gelingender Wir-Bildungen betrachtet werden: von der primären dyadischen Beziehung über die triadische Beziehung bis zum Wir der Gesamtfamilie, von kleineren zu größeren sekundären Gruppen, von sozialen, kulturellen und geschlechtlichen Zugehörigkeiten über nationale und kontinentale Orientierungen bis hin zur Weltgemeinschaft (Mentzos 1995; 2002b; 2002c). Daneben ist es ebenso lohnend für die Analyse psychosozialer Prozesse, die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Wir-Bildungen im Hinblick auf übergeordnete Wir-Bildungen zu untersuchen, etwa das Verhältnis zwischen Jugendkulturen, zwischen Geschlechtern oder zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten im Hinblick auf die nationalstaatlich verfasste Gesamtgesellschaft. Aus einer kritisch-sozialwissenschaftlichen Perspektive sind solche Wir-Bildungen nicht einfach von Vielfalt geprägt, sondern eingebettet in eine »Dominanzkultur«, die das Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten zum Ausdruck bringt. Dies bedeutet, »dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1998, S. 22). Diese Über- und Unterordnungen verlaufen entlang der Bewertung von sozialer und kultureller Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung. Sie erteilen oder verweigern Staatsbürgerschaft, Zugänge zum Arbeitsmarkt oder zu Ressourcen und gesellschaftlicher Teil44

1.2 Die universelle Bipolarität des Menschen

habe und schaffen so ein Verhältnis von Bemächtigung und Entmachtung (vgl. Reinert/Jantz 2001, S. 107). Solche dominanzkulturell strukturierten Wir-Bildungen lassen sich nun mithilfe des Bipolaritätsmodells tiefer verstehen. Jede Wir-Bildung steht sowohl horizontal als auch vertikal anderen Wir-Bildungen gegenüber, und sie verfügt über einen Selbstpol, der die Autonomie und Differenz betont, aber auch über einen Objektpol, der Tendenzen zu Bindung und Gemeinschaftsbildung repräsentiert (Mentzos 2002a, S. 128). Wenn es zu erweiterten Wir-Bildungen kommt, entsteht auch ein erweiterter Selbstpol sowie ein neu orientierter Objektpol, der sich wiederum horizontal und vertikal anderen Wir-Bildungen gegenübersieht. Prinzipiell sind dabei progressive Potenziale angelegt: »Obwohl es auf der jeweiligen Stufe zu einer Betonung der objektbezogenen, der prosozialen Tendenzen und somit zur Einigung kommt, entsteht wundersamerweise auch eine Stärkung und Stabilisierung des Selbst, allerdings des jetzt erweiterten Selbst (und dies gilt für alle Beteiligten). Dies ist ein gutes Beispiel für die schöpferische Aufhebung von Gegensätzen und beiderseitige Stärkung und Stabilisierung der beteiligten Personen« (ebd., S. 129).

Allzu häufig misslingen aber solche integrativen Prozesse in der Verquickung von gesellschaftlicher Destruktivität, politischem oder ökonomischem Druck und der Abwehr der Bipolarität. So entstehen Pseudo-WirBildungen, die den bipolaren Gegensatz nicht dialektisch integrieren, sondern durch Spaltung, Projektion und Real-Externalisierung abwehren. Das bedeutet, dass die Selbststabilisierung, innere Kohärenz und Homogenität nur durch projektive Abwehr innerer Konflikte behauptet werden kann und dabei auf real verfügbare, fremde oder verfremdete Gruppen angewiesen ist. Denn in solchen Gruppen kann das Abgespaltene deponiert werden, diese sind es, die minderwertig und schwach oder gefährlich sind, und deshalb müssen sie mit gehöriger Aggression bekämpft werden (ebd., S. 130; 2002c, S. 73). Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch einen Gedanken von Mentzos aufgreifen, der auf eine hoffnungsstiftende Weise zum Thema der psychosozialen Abwehr und Pseudo-Wir-Bildungen passt: die »Verschüttung des Guten«. Nach Mentzos fußt die menschliche Destruktivität nicht nur auf Angstabwehr und der Projektion von Minderwertigkeitsgefühlen oder Aggression, sondern auch auf der Blockierung prosozialer Impulse, die 45

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

sowohl durch lebensgeschichtlich frühe Beschädigungen als auch durch maligne gesellschaftliche Einflüsse ausgelöst werden kann (Mentzos 2002a, S. 124ff.). Um dies am Beispiel männlicher Identität zu verdeutlichen, rekurriert Mentzos auf Jessica Benjamins Buch Die Fesseln der Liebe (1990), in dem sie herausarbeitet, dass strikte Männlichkeit die eigene überbetonte Autonomie nur behaupten kann, indem sie Fürsorglichkeit, Nähe und Empathie mit Weiblichkeit assoziiert und diese prosozialen Fähigkeiten eben als weiblich abspaltet (Mentzos 2002a, S. 123). Ein anderes Beispiel ist die selektive Eliminierung prosozialer Gefühle bestimmten Gruppen gegenüber, die als anders, fremd, gefährlich oder minderwertig gelten, und die deshalb schikaniert, diffamiert und ausgeschlossen werden dürfen. Umgekehrt gelten all jene, die ihre Zuwendung, ihr Interesse und ihre Empathie nicht vollständig ausschalten können, schnell als schwach, naiv und weltfremd (ebd., S. 127). Dass diese prosozialen Tendenzen mit ihrer Verschüttung nicht vollständig verschwinden, lässt sich sogar am berühmten Milgram-Experiment zeigen. Dabei ging es um die Untersuchung, inwiefern sich Menschen unter der Ägide einer akademischen Autorität dazu bringen lassen, anderen Schmerzen zuzufügen. Die Proband*innen sollten einem Menschen, der in Wahrheit Schauspieler war, immer höhere Stromstöße verpassen, sobald dieser eine ihm gestellte Frage falsch beantwortete. Die Stromstöße waren natürlich fingiert, doch davon wussten die Proband*innen nichts, ebenso wenig davon, dass die folgenden Schmerzensschreie nur gespielt waren. Ähnlich wie Erich Fromm in der Anatomie der menschlichen Destruktivität konstatiert, ist für Mentzos nicht nur bemerkenswert, wie wenige Proband*innen sich der Weiterführung des Experiments verweigerten – sie hatten offenbar autonome Schuldgefühle, die stärker waren als die heteronomen Schuldgefühle der Autorität gegenüber. Bemerkenswert ist ebenso, dass diejenigen, die das Experiment bis zum Ende mitmachten, zumindest auf der Köperebene massive Schuldgefühle zum Ausdruck brachten: als Stottern, Schwitzen, Zittern, auf die Lippen beißen, Fingernägel ins Fleisch graben oder als bizarres Lachen (ebd., S. 116; Fromm 1977, S. 67ff.). Ein weiterer Aspekt, der Mentzos in seinem Glauben an die Wiederkehr des Guten bestärkt, sind Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, die nahe legen, dass das Prosoziale gleichsam im evolutionären Erbe der Menschheit verankert ist. So kommt er sowohl im Lehrbuch als auch im ManuskriptFragment auf die Arbeiten von Joachim Bauer zu sprechen: die neuronalen Vernetzungen, die Bildung oder der Verfall von Synapsen, die Wirksamkeit von Botenstoffen wie Dopamin oder die Ausschüttung von Hormonen 46

1.3 Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen

und selbst epigenetische Prozesse – immer sind es soziale Erfahrungen und deren psychische Erlebniseindrücke, die das Gehirn in biologische Signale verwandelt. Und: »Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation« (Bauer 2009, S. 196f.). Insgesamt ist, so hoffe ich, deutlich geworden, dass das von Mentzos entwickelte Konzept der Bipolarität unter besonderer Berücksichtigung der Selbstwertregulation, der Affektdynamik, der institutionalisierten Abwehr und der Pseudo-Wir-Bildungen ein außerordentlich wertvolles Instrument bereitstellt, um destruktive Tendenzen im psychosozialen Feld zu erkennen und schöpferische Potenziale aufzuspüren.

1.3

Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen

1.3.1 Mentzos und der Krieg

Die Anwendung des Bipolaritätsmodells im psychosozialen Feld hat Mentzos intensiv am Beispiel des Krieges und dessen psychosozialer Funktionen erprobt. Die zentrale Erkenntnis seiner Arbeit ist, dass Kriege selbstverständlich durch ökonomische und politische Interessen und Interessenkonflikte entstehen, dass sie aber ohne die Berücksichtigung der psychosozialen Arrangements zwischen Kriegstreiber*innen und der Bevölkerung nicht hinreichend verstanden werden können (Mentzos 1995, S. 78). Der megalomane Narzissmus der kriegstreibenden Führerfiguren oder Eliten verkoppelt sich mit den mehr oder minder neurotischen Bedürfnissen bedeutsamer Bevölkerungsteile nach Bindung, Orientierung und Selbstwertstabilisierung, sodass ein nationalistisch oder kollektivistisch aufgeladenes, jedenfalls pathologisch archaisches Größen-Selbst hervortritt. Der bipolare Grundkonflikt findet freilich nur eine Pseudolösung, und deshalb müssen die abgespaltenen bösen Anteile in den Feind projiziert werden – meist begleitet von dessen zunehmender Dehumanisierung –, sodass es notwendig erscheint, diesen zu bekämpfen und zu vernichten (Mentzos 2002c, S. 158f.). Mentzos hat zahlreiche Texte zum Thema veröffentlicht (bspw. 1995; 2002a; 2002c; 2003) und auch im privaten Kreis intensiv über den Krieg gesprochen. Er hat viele Vorträge zu Krieg und Kriegsprophylaxe gehalten. 47

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

Offenbar lag ihm das Thema sehr am Herzen. Eine Begebenheit dazu, die mich bis heute besonders berührt, möchte ich etwas ausführlicher schildern. Am 10. Juni 1994 jährte sich das Massaker, das Soldaten einer SS-Division im griechischen Dorf Distomo 1944 begangen hatten, zum 50. Mal. Argyris Sfountouris, der das Massaker als einer der wenigen im Alter von knapp vier Jahren überlebt hatte, organisierte zu diesem Anlass mit der Gemeinde Distomo die Tagung für den Frieden. Gedenken – Trauer – Hoffnung vom 17. bis 20. August 1994 im nahegelegenen Delphi. Als er im Frühjahr 1994, also recht kurzfristig, einen Brief mit der Anfrage für einen Vortrag zum Themengebiet »Sozio-politische Entwicklungen und deren psychologische Ursachen, die derart unmenschliche Handlungen ermöglichen« an Mentzos schickte, setzte dieser alle Hebel in Bewegung, um an der Tagung teilnehmen zu können. Ich möchte einige Sätze der Eröffnungsrede von Argyris Sfountouris zitieren, die den Geist dieser Veranstaltung erkennen lassen: »Welches sind die Mechanismen des Hasses, welches die Mittel zu dessen Verarbeitung oder sogar Überwindung? Ist die Geschichte eine unbekannte Funktion des Schicksals – oder kann der Mensch, kann die Menschheit Zusammenhänge entdecken, die es ermöglichen, Wiederholungen vorzubeugen? […] Wir trauern um die Toten, die keine Stimme mehr haben, um uns von ihrem schwer nachfühlbaren Schrecken zu erzählen. Aber wir trauern auch um die Lebenden, um jene, die am 10. Juni 1944 in Distomo zum Überleben verurteilt worden sind. Sie müssen seit 50 Jahren mit einem schrecklichen Trauma leben. Nichts kann sie davon befreien, und wenig ist unternommen worden, um es ihnen erträglicher zu machen. […] Wir trauern um den Hass, der in unseren Seelen seit fünfzig Jahren wuchert. Es ist gewiss ein berechtigter Hass, aber er zermürbt, wie alle negativen Gefühle, in erster Linie uns selbst. […] Hoffnung […] Es sind mehrere Fälle bekannt, wo deutsche Soldaten bewusst Menschen vor dem Tod retteten und vor ihren mordenden Kameraden versteckten, sicherlich auch im Bewusstsein der Gefahr für das eigene Leben, wenn ihre Taten entdeckt und sie vors Kriegsgericht gestellt würden. Es ist kaum zu glauben, dass es im fünften Kriegsjahr noch junge deutsche Soldaten gab, die nach zwölfjährigem Drill zum Übermenschentum noch zu solchen urmenschlichen Handlungsweisen fähig geblieben waren. Aber ich stünde jetzt nicht hier vor Ihnen, wenn nicht auch dies eine geschichtliche Tatsache wäre. Unsere Hoffnung besteht darin, dass es sehr viele solche Menschen gibt und dass es uns gelingt, noch mehr Menschen dazu zu befähigen, rassistischer Propaganda zu widerstehen. […] Lasst uns mit der

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1.3 Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen

Arbeit beginnen, in der Hoffnung, wie Ingeborg Bachmann schrieb, dass ›die Wahrheit den Menschen zumutbar‹ sei« (Sfountouris 2015, S. 25ff.).

Am 17. August 1994 hielt Mentzos seinen Vortrag mit dem Titel Analyse der psychosozialen Faktorenkonstellation von Krieg und Grausamkeit – Überlegungen zur Prophylaxe in Delphi. Argyris Sfountouris setzt sich bis heute für die juristische, moralische und materielle Anerkennung des Unrechts ein, das nicht nur Distomo widerfahren ist (dazu ausführlich Seibel 2016). Schon lebensgeschichtlich hatte der Krieg für Mentzos eine große Präsenz. Sein Vater erzählte ihm vom Ersten Weltkrieg und von den Schrecken der »kleinasiatischen Katastrophe« 1922, als Griechenland von der Entente, die zuvor zur Verwirklichung der großgriechischen Megali Idea in Kleinasien ermuntert hatte, fallengelassen und die griechische Bevölkerung Kleinasiens der Rache der Truppen Kemal Atatürks überlassen wurde. Im Interview, das Alois Münch mit Mentzos anlässlich seines 80. Geburtstags führte, berichtet er von der Diktatur Metaxas ab 1936, von der deutschen Besatzung Griechenlands ab 1941, von den unzähligen Hungertoten und Massakern; vom Bürgerkrieg im Nachkriegsgriechenland, der zu Verfolgung, Folter und Flucht von Kommunist*innen führte, die zuvor den Widerstand gegen die faschistischen Besatzer*innen maßgeblich organisiert hatten; von seiner Zeit als Sanitätsoffizier in der griechischen Armee in den Jahren 1953 bis 1957 (Mentzos/Münch 2010, S.  98f.). Über diese biografischen Erfahrungen hinaus war Mentzos auch als politisch informierter Humanist am Krieg interessiert. Im Vorwort zur ersten Ausgabe seines Werks Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen nennt er das Erschrecken über den Falkland-Krieg 1982, den Ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak in den 1980er Jahren sowie den Zweiten Golfkrieg 1991 als Motive für die Publikation (Mentzos 2002a, S. 15). Anlass für die zweite aktualisierte Ausgabe waren der AlQaida-Terror des 11. September 2001 sowie der folgende Dritte Golfkrieg, der auch als »Krieg gegen den Terror« firmierte (ebd., S. 12f.). 1.3.2 Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen – Mentzos im Wortlaut

Bei meinen Recherchen bin ich auf einen Artikel gestoßen, den Mentzos für die Wochenzeitung der Freitag verfasst hat. Er basiert auf dem Vortrag Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen, den Mentzos am 14. Feb49

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

ruar 2003 im Psychotherapeutischen Institut Berlin gehalten hatte, und erschien in einer gekürzten Fassung am 28. März 2003, während des Dritten Golfkriegs.6 Der Beitrag ist von einer Klarheit und Prägnanz, die eine Zusammenfassung seiner Argumente nicht leisten könnte, deshalb möchte ich diesen Beitrag hier im Wortlaut zitieren: »Obwohl Kriege gewaltsame Lösungsversuche von realen, machtpolitischen und ökonomischen Interessenkonflikten darstellen, die per se nicht wegpsychologisiert werden können, besteht das Bedingungsgefüge des Krieges und insbesondere der Kriegsbereitschaft keineswegs nur aus diesen Konflikten oder aus den herrschenden Machtverhältnissen. Vielmehr wird die Bereitschaft, einen Konflikt kriegerisch und somit nicht auf dem Verhandlungsweg zu lösen, im gleichen Maß auch durch psychosoziale Prozesse erzeugt, die aus dem hervorgehen, was ich im Titel meines kürzlich in aktualisierter Auflage neu erschienenen Buches provokativ die ›psychosozialen Funktionen des Krieges‹ nenne. Die Existenz konkurrierender ökonomischer und machtpolitischer Interessen reicht für sich allein noch nicht aus, um den Krieg verständlich zu machen. Diese These, die gelegentlich nicht nur von hartgesottenen Politikern und Militärs, sondern auch von manchen Soziologen, Ökonomen und Politologen bis jetzt als zu hypothetisch kritisiert wurde, bekommt angesichts der heutigen Situation bedeutend bessere Chancen, ernsthaft angehört zu werden, weil man ohne sie die erschütternden Erscheinungen und Entwicklungen unserer Zeit nicht erklären kann. Was gehört zum Bedingungsgefüge des jetzt laufenden Irak-Krieges? In unzähligen Diskussionen, unter dem Einfluss von Informationen, aber auch reichlich vielen Desinformationen und wiederum Korrekturen dieser Desinformationen gewann man den Eindruck, dass es sich nicht um das hehre Ideal 6 Zur Einbettung möchte ich daran erinnern, dass der Dritte Golfkrieg (auch bekannt als Zweiter Irakkrieg) von den USA, Großbritannien und der »Koalition der Willigen« als Präventivkrieg gegen angeblich bevorstehende Angriffe mit Massenvernichtungswaffen durch den Irak geführt wurde. Eine Verurteilung dieses Unterfangens als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg durch den UN-Sicherheitsrat wurde nur aufgrund eines Vetos der USA und Großbritanniens verhindert. Die Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen und plane einen Angriff auf die USA kann als widerlegt gelten. Der Krieg begann am 20. März 2003 und wurde am 1. Mai 2003 von Präsident Bush für siegreich beendet erklärt. Es gab zahlreiche zivile Opfer und in der Folgezeit kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Folter durch die Besatzungsmacht und letztlich auch zum Erstarken des sogenannten »Islamischen Staats«.

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1.3 Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen

der Abschaffung einer Diktatur, nicht nur um eine sinnvolle Bekämpfung des Terrorismus und wahrscheinlich nicht einmal um die Abwendung einer angeblich der Menschheit drohenden akuten Gefahr handelt, die man mit einem Präventivkrieg abwehren müsse. Wahrscheinlich haben wir es mit einer Einzelheit innerhalb eines größeren Planes zur Sicherung von ökonomischen Vorteilen bei der Ölförderung, um die Errichtung von militärisch und geopolitisch wichtigen Stützpunkten, um die zusätzliche Stärkung labil und unsicher gewordenen Einflusszonen zu tun. Dies alles nicht nur oder nicht an erster Stelle aufgrund nackter ökonomischer Interessen von Machteliten, sondern auch aus Gründen einer Staatsräson der einzig gebliebenen Supermacht, welche nolens volens die Züge eines weltweiten Imperiums annimmt. Dabei werden selbstverständlich viele persönliche ökonomische Interessen und auch persönliche Karrieren und Ambitionen mitbedient. Ich gehe davon aus, dass es Kriegsprofiteure und Kriegsnarzissten, aber auch gewissenhafte Diener dieser Staatsräson gibt, die konsequent eine pax americana herbeiführen wollen.7 Nun behaupte ich aber, dass dies alles noch nicht hinreicht, um zu erklären, auf welche Weise es möglich wird, das schwere Schwungrad des Krieges in Bewegung zu setzen, Millionen von Menschen zum Töten Anderer zu motivieren und dazu, sich selbst in Lebensgefahr bringen. Das war auch der Grund, weshalb Albert Einstein 1933 in einem berühmten Brief Sigmund Freud die Frage gestellt hat: ›Warum Krieg?‹. Freud antwortete: Zwar spielten gewisse Interessen der Machthaber eine große Rolle; was jedoch die Mobilisierung der Massen betreffe, so handele es sich im wesentlichen [sic!] um eine Entfesselung und Ausnutzung des biologisch vorgegebenen Aggressionstriebes. Diese Antwort befriedigt uns heute nicht mehr. Die narzisstische Kränkung der amerikanischen Machtelite und des amerikanischen Volkes, die Erschütterung der Großartigkeit, Unversehrtheit und Unbesiegbarkeit ihrer idealisierten Nation am 11. September 2001 wird sicher auch von Aggression begleitet. Das ist aber erstens eine reaktive Aggression, eine, die im Dienst der Ich-Erhaltung aktualisiert wird, und nicht eine, die triebhaft sinnlos fließt, wie die alte Triebtheorie annahm. Zweitens ist sie bestimmt nicht das einzige oder gar das vorherrschende Motiv. Es sind viel7 Heute ist die globale Lage sicherlich noch unübersichtlicher, geprägt von diversen Machtzentren, insbesondere die USA, China, Russland und die EU. Der Erfolg der Losung des Ex-Präsidenten Trump »Make America Great Again« mit seiner ebenso neoliberalistischen und protektionistischen wie rassistischen, sexistischen und autoritaristischen Politik lässt sich, unter veränderten historischen Bedingungen, in dieser Linie verorten.

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

mehr andere, zum Teil normale, zum Teil pathologische psychische Bedürfnisse und Nöte, welche vorwiegend die Identität von Individuen und großen Gruppen bedrohen. Die Selbststabilisierung, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Aufrechterhaltung von Loyalitäts- und anderen Bindungen bei den Vielen einerseits und die megalomane Stabilisierung des Selbstwertgefühls bei den Angehörigen der Machteliten andererseits müssen hier vorrangig berücksichtigt werden. Wichtig ist dabei, dass meistens eine Komplementarität, ein ›zu pass-kommen‹ dieser beiden Gruppen – der Vielen und der Machteliten – besteht, die sich sozusagen im Sinne einer Kollusion ergänzen und besonders dadurch die Kriegsbereitschaft erhöhen können. Unter einer Kollusion – lateinisch ›geheimes Einverständnis‹ – versteht man ein unerlaubtes Zusammenwirken Mehrerer zum Nachteil eines Dritten, besonders die Zusammenarbeit eines Vertreters und seines Geschäftspartners, um den Vertretenen zu schädigen. Psychologen interpretieren den Begriff als ›unbewusste Abmachung‹ zweier Partner hinsichtlich ihrer neurotischen Bedürfnisse und Mechanismen; er spielt etwa in der Paartherapie eine Rolle. Das kollusive Zusammentreffen der Vielen und der Machteliten lässt sich differenzierter beschreiben, wenn man die Beziehungen untersucht, die jeder Teilnehmer des Krieges eingeht: die Beziehung zur kleinen Gruppe, die Beziehung zum Führer und zu den Machteliten, die Beziehung zur Nation und nicht zuletzt die Beziehung zum Feind. Für den einzelnen [sic!] ist es zum Beispiel wichtig, dass es in der Beziehung zur Nation und zum Vaterland möglich wird, eine nationale Selbstdefinition und Selbststabilisierung zu finden, eine Partizipation am kollektiven archaischen Größen-Selbst bis hin zur Apotheose der Nation, die zur Entdifferenzierung und Primitivierung des Einzelnen führt. In der Beziehung zum Feind bietet sich nicht nur die Möglichkeit der Projektion eigener aggressiver Impulse – das war der Gesichtspunkt, den man früher hervorgehoben hat –, sondern es kann auch durch die Erniedrigung und Dehumanisierung des Gegners die Regulation des Selbstwertgefühls gestützt und gestärkt werden. Die Selbstdefinition per Kontrast erleichtert die Abgrenzung. In dieser Aufzählung unbewusster und halbbewusster psychischer Zustände und Tendenzen, die die Kriegsbereitschaft erhöhen, habe ich bisher die Angst nicht erwähnt, obwohl sie selbstverständlich von zentraler Bedeutung ist, und zwar aus folgendem Grund. Zwar treibt die Angst sehr oft in den Krieg. So die offene, offensichtliche und berechtigte Angst vor dem Terrorismus oder auch, wie Emanuel Todd in seinem Buch Weltmacht USA. Ein Nachruf meint, die Angst der Machteliten der USA vor einem baldigen

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1.3 Zur Anwendung des Bipolaritätsmodells: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen

Verlust der imperialen Herrschaft, ja sogar vor dem Niedergang des Imperiums. Aber wenn wir Angst als wichtiges Movens des Krieges feststellen, muss unsere Analyse einen Schritt weitergehen und versuchen, die eigentlichen Angstquellen aufzudecken. Oft handelt es sich um eine diffuse, nicht näher definierbare Angst, die tiefergehende, noch nicht richtig bewusste Gründe hat. Die Angst ist eigentlich zunächst eine normale Reaktion auf innerseelische und äußere reale Gefahren. Oft handelt es sich zwar tatsächlich um konkrete reale Gefahren. Häufiger jedoch werden diese realen Gefahren nicht nur gewollt übertrieben und für politisch-strategische Zielsetzungen instrumentalisiert, sondern auch zur Konkretisierung der sonst schwer fassbaren Angst unbewusst benutzt. So ist zu vermuten, dass der Abbau alter überholter Institutionen in der Postmoderne zu immer mehr Verunsicherung und Desorientiertheit führt und die Selbstidentität von Individuen und Gruppen bedroht, ja als eine zentrale Existenzbedrohung empfunden wird. Sie wird zum Teil verdrängt, zum anderen Teil jedoch – wenn sie nicht mehr verdrängt werden kann – auf eine äußere Gefahr, auf den äußeren Feind, auf die ›Bösen‹ dieser Welt verschoben, projiziert und dort bekämpft, eventuell mit Hilfe des Krieges. Dass die dadurch erreichbare Stabilisierung nur künstlich und kurzlebig ist, dass sie zuletzt zur noch größeren Verunsicherung oder sogar in die Katastrophe führen kann, versteht sich von selbst« (Mentzos 2003, o. S.).

1.3.3 Destruktive Tendenzen im Neoliberalismus

Obwohl der Krieg das zentrale gesellschaftliche Thema war, mit dem sich Mentzos aus psychodynamischer Perspektive kritisch auseinandergesetzt hat, finden sich in seinem Werk immer wieder auch Passagen, in denen er sich weiterführend auf die »postmoderne Gesellschaft«, den »Turbokapitalismus« oder gar einen »malignen liberalen Kapitalismus« bezieht (Mentzos 2002b; 2015). Er konstatiert, dass im Neoliberalismus das Profitstreben zu wachsendem Egozentrismus führt, während prosoziale Strebungen nur noch in Nischen oder als kurzlebige Momente des Mitleids für Hilfebedürftige sichtbar werden (2002b, S. 56). Im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung war Mentzos selbst durchaus pessimistisch: »Meine schweren Bedenken beziehen sich auf den ungebrochenen Lauf eines ungebremsten Kapitalismus, der das mühsam im Laufe der Zeit gewonnene Potential an kooperativen Bindungsmotivationen und überhaupt

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

an integrativ dialektischen Lösungen (durch die Verherrlichung und Hervorhebung der Profitmaximierung und der Konkurrenz als der höchsten Werte) wettmacht und eliminiert. Die berühmte Globalisierung, auch wenn sie als nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle Globalisierung verstanden werden sollte, gewinnt mehr und mehr den Charakter einer erzwungenen Wir-Bildung, welche letztlich den eigennützigen Vorteil der Mächtigen auf Kosten der Schwächeren zum Ziel hat, während sie in der Lage gewesen wäre, eine exzellente Möglichkeit zur Entwicklung von echten Wir-Bildungen abzugeben. Was wir also durch eine verbesserte Sozialisation in der Kindheit und durch eine Demokratisierung unserer politischen Systeme und durch eine trotz allem bessere Informationsvermittlung an Humanisierung gewonnen haben, laufen wir Gefahr unter dem Einfluss dieses alles beherrschenden wirtschaftlichen Systems zu verlieren« (Mentzos 2002c, S. 162f.).

Und er befürchtet infolge der zunehmenden Fragmentierung, Vereinzelung und Integrationsdefizite in der Gesellschaft, dass der bipolare Konflikt auf gesellschaftlicher Ebene wieder vermehrt durch nationalistische Selbstdefinitionen einer destruktiven Pseudolösung zugeführt wird (Mentzos 2002b, S.  63; 1995, S.  83f.). Und tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass bei gesellschaftlichen Krisen, äußeren Bedrohungen, provozierten Eskalationen oder infolge der inneren Dynamik der PseudoWir-Bildung selbst dieses Abwehrarrangement nicht mehr ausreicht und noch leidvollere, autoritärere und rassistischere Pseudo-Wir-Bildungen entstehen. Die jüngste Leipziger Autoritarismus-Studie Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments – neue Radikalität zeugt jedenfalls von einem hohen Niveau antidemokratischer Einstellungen der bundesdeutschen Bevölkerung. Die Forschungsergebnisse zur Ausbreitung des »autoritären Syndroms« mit seinen Varianten des Sadomasochismus und der Projektivität von Verschwörungsmentalität lassen sich bestens im eingangs vorgestellten Vier-Felder-Modell verstehen (Decker et al. 2020). Es steht zu befürchten, dass sich Menschen und Gruppen, die sich den Feldern B, C und D zuordnen lassen, in einem hypernationalistischen und autoritaristischen Wir verbinden: jene, die ihren extremen Narzissmus durch die Entwertung anderer aufrechterhalten, jene, die ihre Selbstwertproblematik durch Anklage und Aggression (bspw. gegen Eliten und ihre angeblichen Verschwörungen) kompensieren, und jene, die sadomasochistisch auf die Unterwerfung unter ein idealisiertes Objekt bei gleichzeitiger Aggression gegen geächtete Gruppen angewiesen sind. 54

1.4 Prävention und Ausblick

1.4

Prävention und Ausblick

1.4.1 Prävention

Im Fokus des letzten Abschnitts standen destruktive Tendenzen im psychosozialen Feld am Beispiel des Krieges. Es wurde deutlich, dass diese destruktiven Tendenzen auch Folge einer gesellschaftlichen Destruktivität sind, die in die Alltage der Menschen hineinwirken, durch Pseudo-Wir-Bildungen In- und Exklusionen erzwingt und letztlich zu Angst und reaktiver destruktiver Aggression führt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Prävention solch destruktiver Tendenzen, wie die Entfaltung dialektisch-schöpferischer Potenziale gelingen könnte. Mentzos gründet seine Hoffnung darauf, dass ein tieferes Verstehen der Destruktivität auch andere, förderliche Entwicklungs-, Empfindungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen könnte. Notwendig ist dabei, die psychosozialen Funktionen, die unbewussten Wünsche, Ängste und affektiven Erfahrungen zu berücksichtigen, weil diese in psychosozialen Prozessen eine maßgebliche Rolle spielen – als Widerstände oder als dynamische Antriebskräfte (Moré 2015, S. 190; Mentzos 2015). In seinen Überlegungen zur Entfaltung dialektisch-schöpferischer Potenziale differenziert Mentzos drei Dimension der Prävention: Die erste zielt auf politische Interventionen wie Aufklärung und Protest; die zweite umfasst das Bewusstmachen der psychosozialen Arrangements, die mit der Abwehr der Bipolarität immer wieder Destruktivität reproduzieren; und die dritte Dimension meint das stetige Arbeiten daran, zwischenmenschliche, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die eine balancierte Bipolarität und schöpferische Lösungen des Grundkonflikts ermöglichen (Mentzos 2002a, S. 225ff.). Im Kontext der ersten präventiven Dimension geht es um die Kritik der gesellschaftlichen Destruktivität im neoliberalistischen Kapitalismus und um ein politisches Handeln, das sich gegen die Folgen dieser Destruktivität in Form von wachsender sozialer Ungleichheit, zunehmender Vereinzelung und Entsolidarisierung sowie die verschärften autoritaristischen, sexistischen und rassistischen Tendenzen wendet. Solche Interventionen können, wie ich meine, sehr viel Schwung aus der kulturtheoretischen Überzeugung von Mentzos ziehen, dass nicht Selbstzwang, Konkurrenz und nationalistische Bindung kulturellen Fortschritt bedeuten, sondern zuallererst die dialektisch-schöpferische Lösung des Grundkonflikts, also das Denken, 55

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

Fühlen und Handeln von und zwischen Menschen, die um die Relativität ihrer Autonomie wissen und sie integrativ mit prosozialen Tendenzen zu verknüpfen vermögen (ebd., S. 134f.). Im Hinblick auf die zweite präventive Dimension, deren Fokus auf dem Bewusstmachen der destruktiven psychosozialen Arrangements liegt, ist von entscheidender Bedeutung, die Dynamik der Bipolarität zu berücksichtigen, da diese die existenziellen Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens und mithin die psychosozialen Dimensionen von Leid, Destruktivität und Glück zu berücksichtigen erlaubt. Auf diese Weise können einerseits Pseudo-Wir-Bildungen mit ihren bipolaren Dilemmata tiefer verstanden werden, weil nicht nur die Destruktivität, die die Projektion von Sehnsüchten und Aggression erzeugt, sichtbar wird, sondern auch das Leid und die affektive Verarmung innerhalb solcher Pseudo-Wir-Bildungen. Andererseits bietet das Bipolaritätsmodell eine klare Orientierung beim Versuch, auf allen gesellschaftlichen Ebenen dialektisch-schöpferische Lösungen des Grundkonflikts zu verwirklichen.8 Die dritte präventive Dimension schließlich umfasst die Überwindung von psychosozialen Bedingungen in Gruppen und Institutionen, die die Balancierung der Bipolarität durch institutionalisierte Abwehr blockieren, sowie insbesondere die Herstellung von Bedingungen, die die grundlegende oder nachholende Erfahrung und Verinnerlichung integrativ schöpferischer Lösungen des Grundkonflikts erlauben (ebd., S. 226; 1995, S. 76). Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Bedingungen der kindlichen 8 Ähnlich wie in der psychoanalytischen Therapie geht es in der psychoanalytischen Sozialforschung zunächst darum, durch die Bearbeitung der Pseudolösung des Grundkonflikts zur dialektischen Aufhebung des Konflikts und somit zur Befreiung der bislang konflikthaft blockierten psychischen Kräfte beizutragen (Mentzos 2002a, S. 228). Dabei steht weniger das emanzipatorische Potenzial zur Überwindung individuellen, lebensgeschichtlichen Leidens im Mittelpunkt als die Aufklärung und Aufhebung jener psychosozialen Zwänge, »die das Leben der Menschen beeinträchtigen und sie daran hindern, es gemäß den eigenen Bedürfnissen zu gestalten« (Volmerg, zit. nach Brunner et al. 2012, S. 54). Gerade weil psychoanalytische Sozialforschung (bzw. analytische Sozialpsychologie) die psychosozialen Kosten gesellschaftlicher Destruktivität zu taxieren erlaubt, gerade weil sie verdeutlicht, welche Potenziale zur Balance von Individuation und Verbundenheit bestehen und brachliegen, bildet sie einen Gegendiskurs zur marktideologischen Vereinzelung ebenso wie zur nationalistischen Vergemeinschaftung (vgl. Busch 2012, S. 43). Angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Verwerfungen muss es hartnäckig darum gehen, die Erkenntnisse psychoanalytischer Sozialforschung ins psychosoziale Feld zurückzuspielen, um auf diese Weise immer wieder emanzipatorische Prozesse anzustoßen (vgl. Brunner et al. 2012, S. 54).

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1.4 Prävention und Ausblick

Sozialisation, Entwicklung und Bildung, weil sich hier die basalen psychischen Strukturen, die mehr oder minder gelingende Integration und Balance von selbst- und objektbezogenen Tendenzen herausbilden (Mentzos 2002a, S. 226). Aber auch darüber hinaus, im Hinblick etwa auf das gesamte Bildungs- und Gesundheitswesen, auf Kultur, Verwaltung, Politik, Arbeitswelt und Gesamtgesellschaft gilt es, solch förderliche Bedingungen zu schaffen. Insgesamt müssten, mit Winnicott gesprochen, auf allen gesellschaftlichen Ebenen Übergangsräume hergestellt und institutionalisiert werden, in denen auch die schweren, dilemmatischen Konflikte der Bipolarität genügend angstfrei gezeigt und bearbeitet werden können, um letztlich glücklichere Lösungen, Erfahrungen von Individuation und Verbundenheit, wachsender Kreativität und Symbolisierungsfähigkeit zu ermöglichen (vgl. Winnicott 2006, S. 25). 1.4.2 Abschied und Ausblick

Mein Eindruck ist, dass Mentzos sogar und gerade in einer aus den Fugen geratenen Welt noch das Menschliche aufspüren wollte. Was gesellschaftskritisch für die Entfremdung und Destruktivität des Krieges gilt, gilt subjektzentriert vielleicht ebenso für das Einsame und Wahnhafte der Psychose: Beide Gebiete haben sein Schaffen in den letzten Jahren bestimmt. Ohnmacht, Angst und Aggression auszuhalten, ihnen ein Verstehen zur Seite zu stellen, das womöglich heilende und befriedende Handlungen anzustoßen vermag, ist ein herausforderndes und zutiefst humanistisches Projekt. Auch und gerade heute sind die Analysen von Mentzos von dringlicher Bedeutung. Stavros Mentzos hat im Laufe von über 40 Jahren zahlreiche Beiträge zu psychosozialen Themen publiziert und unermüdlich Vorträge gehalten. Seine Positionen und Erkenntnisse zur Bedeutung des Bipolaritätsmodells in psychosozialen Feldern werden bis heute breit rezipiert, die Werke Interpersonale und institutionalisierte Abwehr und Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen sind moderne Klassiker. In seinen Arbeiten vertritt Mentzos eine gesellschaftlich engagierte Psychoanalyse, die insbesondere mithilfe des Bipolaritätsmodells destruktive Tendenzen aufspüren möchte, um zu deren Überwindung und damit zur Humanisierung der Welt beizutragen. Weniger im Fokus seines Erkenntnisinteresses stand die episte57

1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen

mologische Frage der interdisziplinären Kooperation von Psychoanalyse und Sozialwissenschaften – die Frage also, wie das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft mithilfe psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Methoden untersucht werden kann, ohne psychologistische oder soziologistische Verkürzungen zu produzieren (dazu etwa Busch 2007b; 2012; Haubl/Schülein 2016; Naumann 2000). Gleichwohl hat Mentzos die Bedeutung politischer, ökonomischer und sozialer Verhältnisse nie unterschätzt, sondern die Notwendigkeit betont, diesen Verhältnissen sozialwissenschaftlich beizukommen. Er selbst war sozialwissenschaftlich sehr gut informiert, immer wieder rekurriert er in seinen Texten beispielsweise auf Norbert Elias, Theodor W. Adorno oder auch auf Judith Butler, doch in der ihm eigenen Bescheidenheit weist er oft darauf hin, dass er ja kein Sozialwissenschaftler sei. Sein Zugang zum psychosozialen Feld zeichnet sich dadurch aus, dass er sozialwissenschaftliche Analysen durch seine psychodynamische Expertise ergänzen möchte, um auch die Tiefendimension sozialer Prozesse, die affektiven Dynamiken, Abwehrarrangements und psychosozialen Dilemmata der Bipolarität in den kritisch-emanzipatorischen Blick zu rücken. Hans-Joachim Busch verortet Mentzos mit dieser Form angewandter Psychoanalyse in einem Kreis mit Alexander und Margarete Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter, Michael Lukas Moeller und Christa Rohde-Dachser, die allesamt auf ihre je unterschiedliche Weise virtuos, höchst produktiv und mit breiter Resonanz für eine gesellschaftlich engagierte Psychoanalyse stehen (Busch 2007b, S. 35f.). Persönlich fühle ich mich als Politologe, Pädagoge und Gruppenanalytiker durch das Werk und Wirken von Stavros Mentzos reich beschenkt, inspiriert und gehalten. Die Vorstellung der universellen Bipolarität des Menschen bietet eine außerordentlich hilfreiche Orientierung sowohl in zwischenmenschlichen Begegnungen als auch beim Zugang zum psychosozialen Feld. Seine klare Sprache ebenso wie seine originellen und einleuchtenden Schaubilder wirken niemals belehrend, sondern erzeugen schon bei der Rezeption das Gefühl, zu einem gemeinsamen Verständigungsprozess eingeladen zu sein. Nicht zuletzt beeindruckt seine empathische Haltung, neugierig und offen selbst heftigste Affekte und Konflikte als zutiefst menschliche Themen anzunehmen, sie verstehend durchzuarbeiten, um so potenziell feinere Wahrnehmungen und glücklichere Handlungen zu ermöglichen. Die Inspiration, die sein Werk, seine Haltung und sein Bipolaritätsmodell für mich bedeutet, möchte ich abschließend anhand einer kleinen Anekdote schildern. 58

1.4 Prävention und Ausblick

Als ich jüngst im Rahmen eines gruppenanalytischen Buchprojekts über das Verhältnis von Individuation und Verbundenheit nachdachte, fiel mir ein Diktum Adornos aus der Minima Moralia ein. Adorno schreibt – 1944 im amerikanischen Exil und angesichts einer konformistischen Gleichheit, die alles Abweichende auszuschließen drohte –, dass es um die Schaffung eines Zustandes gehen müsse, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 1969, S. 131). Im Kontext unserer gegenwärtigen, eher vereinzelnden Gesellschaft schien mir dies zwar noch immer richtig, aber nicht mehr zureichend. Dann kam mir das Bipolaritätsmodell in den Sinn und die Frage klärte sich: Es geht nicht nur darum, ohne Angst verschieden sein zu können, sondern es muss zugleich darum gehen, ohne Angst verbunden sein zu können (Naumann 2014, S. 29). Weit über die Inspiration hinaus bin ich Stavros Mentzos zutiefst und von Herzen dankbar. Diesen Text zur Rekonstruktion des Bipolaritätsmodells, zur Anwendung im psychosozialen Feld und zur Verbindung von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik verstehe ich im Sinne dieser dankbaren Erinnerung. Ich hoffe sehr, dass sich möglichst viele Menschen, ob in psychotherapeutischen, psychologischen, medizinischen, pädagogischen oder soziologischen Arbeitsbereichen, mit der Haltung und dem Werk von Mentzos auseinandersetzen, um seinen Beitrag zur Humanisierung der Welt fortzuführen. Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Bauer, Joachim (2008): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. München, Heyne. Bauer, Joachim (2009): Spiegelung: Der Kern der pädagogischen Beziehung. In: Haubl, Rolf & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 196–203. Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Stroemfeld, Frankfurt am Main. Brunner, Markus; Burgermeister, Nicole; Lohl, Jan; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (2012): Psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum. Geschichte, Themen, Perspektiven. Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie 3/4/2012, 15–78. Busch, Hans-Joachim (2007a): Psychoanalytische Supervision. Zu Entwicklungen, gegenwärtigem Stand und Möglichkeiten eines Beratungsansatzes am Unbewussten in Profession und Organisation. http://www.sfi-frankfurt.de/fileadmin/ redakteure/pdf/03_Mitarbeiter_PDFs/03_Busch_Manuskripte/Busch-2007-Psy choanalytische_Supervision.pdf (12.10.2017).

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen Busch, Hans-Joachim (2007b): Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft. In: Busch, Hans-Joachim (Hrsg.): Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 13–54. Busch, Hans-Joachim (2012): Psychoanalytische Politische Psychologie heute. In: Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 33–50. Decker, Oliver; Schuler, Julia; Yendell, Alexander; Schließler, Clara & Brähler, Elmar (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 179–209. Fonagy, Peter & Target, Mary (2006): Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Stuttgart, Klett-Cotta. Freud, Sigmund (1926): Hemmung, Symptom und Angst. Leipzig u. a., Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Fromm, Erich (1977): Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt. Glesos, Manolis (2006): Schwarzbuch der Besatzung. Athen, Nationalrat für die Entschädigungsforderungen Griechenlands an Deutschland. Haubl, Rolf & Schülein, Johann August (2016): Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften: Wegweiser und Meilensteine eines Dialogs. Stuttgart, Kohlhammer. Izat, Yonca (2020): Kinder- und jugendpsychiatrischer Kommentar zum Film »Systemsprenger«. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 5/2020, 248–252. Krause, Rainer (1998): Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre. Bd.  2. Stuttgart, Kohlhammer. Mentzos, Stavros (1988): Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Mentzos, Stavros (1995): Pseudostabilisierung des Ich durch Nationalismus und Krieg. In: Rohde-Dachser, Christa (Hrsg.): Über Liebe und Krieg. Psychoanalytische Zeitdiagnosen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 66–84. Mentzos, Stavros (2002a): Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, Stavros (2002b): Die bemerkenswerte Korrespondenz zwischen der SelbstFragmentierung in der Psychose und der Dezentrierung und Inkonsistenz in der Postmoderne. In: Lempa, Günther & Troje, Elisabeth (Hrsg.): Gesellschaft und Psychose. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 50–67. Mentzos, Stavros (2002c): Die Psychosoziodynamik des Krieges. Eine Alternativantwort auf die Einstein’sche Frage »Warum Krieg?«. In: Schlösser, Anne-Marie & Gerlach, Alf (Hrsg.): Gewalt und Zivilisation. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 151–164. Mentzos, Stavros (2003): Unerlaubtes Zusammenwirken. https://www.freitag.de/auto ren/der-freitag/unerlaubtes-zusammenwirken (27.10.2021). Mentzos, Stavros (2011): Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt am Main, Fischer.

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1.4 Prävention und Ausblick Mentzos, Stavros (2013): Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, Stavros (2015): Die psychodynamische Dimension sozialer Prozesse. Unveröffentlichtes Manuskript-Fragment aus dem Nachlass. Mentzos, Stavros & Münch, Alois (2010): Stavros Mentzos wird zu seinem 80. Geburtstag von Alois Münch interviewt. In: Mentzos, Stavros & Münch, Alois (Hrsg.): Reflexionen zu Aspekten einer Theorie der Psychosen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 95–120. Mittelsten Scheid, Brigitte (2012): Die Bedeutung der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse für eine gruppenanalytische Supervision. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, S. 161–184. Moré, Angela (2015): »Ausschließlich im Dienste der Individualität und freien Entwicklung des Menschen«. Demokratische Intentionen der Foulkes’schen Gruppenanalyse. In: Waldhoff, Hans-Peter; Morgenroth, Christine; Moré, Angela & Kopel, Michael (Hrsg.): Wo denken wir hin? Lebensthemen, Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 173–196. Morgenroth, Christine (2015): Gesellschaftskrankheiten: Entgrenzung und beschädigte Subjektivität. In: Waldhoff, Hans-Peter; Morgenroth, Christine; Moré, Angela  & Kopel, Michael (Hrsg.): Wo denken wir hin? Lebensthemen, Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 197–211. Naumann, Thilo Maria (2000): Das umkämpfte Subjekt. Subjektivität, Hegemonie und Emanzipation im Postfordismus. Tübingen, edition diskord. Naumann, Thilo Maria (2010): Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung. Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik. Gießen, PsychosozialVerlag. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria & Krause-Girth, Cornelia (Hrsg.) (2018): Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Erinnerungen an Stavros Mentzos. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Reinert, Ilka  & Jantz, Olaf (2001): Inter, Multi oder Kulti? Inwiefern die geschlechtsbezogene Pädagogik die interkulturelle Perspektive benötigt. In: Rauw, Regina; Jantz, Olaf; Reinert, Ilka & Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (Hrsg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit. Opladen, Leske & Budrich, S. 89–110. Rommelspacher, Birgit (1998): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, Orlanda Frauenverlag. Salfeld-Nebgen, Benedikt; Gerisch, Benigna; Beerbom, Christiane; King, Vera; Lindner, Diana & Rosa, Hartmut (2016): Bagatellisierung als Idealtypus. Über ein Muster der Lebensführung in Zeiten der Perfektionierung. Psychoanalyse im Widerspruch 1/2016, 9–30. Seibel, Peter (2016): »Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals«. Das SS-Massaker von Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit. Frankfurt am Main, Westend Verlag. Sfountouris, Argyris (2015): Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze eines Überlebenden. Würzburg, Königshausen & Neumann.

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1 Stavros Mentzos und die universelle Bipolarität des Menschen Uhlendorf, Niels; Schreiber, Julia; King, Vera; Gerisch, Benigna; Rosa, Hartmut & Busch, Katarina (2016): »Immer so dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein«. Optimierung und Leiden. Psychoanalyse im Widerspruch 1/2016, 31–50. Winnicott, Donald W. (2006): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, Klett-Cotta.

62

2

Subjektivität und Gesellschaft Grundlegungen und Zeitdiagnosen einer kritischen Theorie des Subjekts

2.1

Einführung

2.1.1 Subjekt, Individuum oder was?

Ich beginne diesen Text mit einer einfachen begrifflichen Frage, die gleichzeitig die Komplexität des Erkenntnisgegenstands kritischer Subjekttheorie verdeutlicht: Warum taucht nicht der Begriff des Individuums, sondern der des Subjekts im Namen des hier gewählten theoretischen Zugangs auf ? Der Begriff des Individuums bezeichnet eher deskriptiv das Unteilbare, also die Position einer Person mit bestimmten Rechten und Pflichten innerhalb oder gegenüber einer gegebenen Gemeinschaft. Der Begriff des Subjekts ist dagegen dynamischer, bereits in seiner lateinischen Herkunft ist eine besondere Doppeldeutigkeit enthalten – das Subjekt ist das Unterworfene und das Unterwerfende. Der Subjektbegriff fängt die Widersprüchlichkeit jeder menschlichen Entwicklung ein: Der Mensch ist einerseits den immer schon vorgängigen gesellschaftlichen Verhältnissen unterworfen, sie prägen seine existenziellen Erfahrungen, andererseits verfügt er über unterwerfende Macht, er kann, freundlich gesprochen, die Welt im Sinne eigener oder allgemeiner Bedürfnisse gestalten. Das Subjekt verfügt demnach über eigenlogische und eigenwillige Fähigkeiten, sich sinnhaft und handelnd innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verorten. Das Resultat dieses Wechselspiels von Gesellschaft und Subjektivität sind schließlich mehr oder weniger wahrnehmungs-, reflexions- und handlungsfähige Formen von Subjektivität. 2.1.2 Kritische Theorie des Subjekts

Die Kritische Theorie hat dieses Wechselspiel mit emanzipatorischem Impetus von Beginn an als wesentlichen Erkenntnisgegenstand betrachtet. 63

2 Subjektivität und Gesellschaft

Entstanden ist die Kritische Theorie am Frankfurter Institut für Sozialforschung in den späten 1920er Jahren. Dort wurde ein interdisziplinäres Konzept entwickelt, das in Kooperation von Freud’scher Psychoanalyse und Marx’scher Gesellschaftstheorie einerseits zeigen sollte, wie die Menschen durch gewaltvolle Erfahrungen bis in ihre psychische Struktur hinein anfällig sind für die Unterwerfung unter eine faschistische Weltanschauung und die Reproduktion der herrschenden Gesellschaft, andererseits aber auch, welche emanzipatorischen und widerspenstigen Potenziale sowohl in den Subjekten als auch in der Gesellschaft auszumachen sind. Die Kritische Theorie hat im 20. Jahrhundert eine enorme Strahlkraft entwickelt und wird bis heute in vielfältiger Weise weiterentwickelt. Seit den 1970er Jahren haben insbesondere Alfred Lorenzer und Klaus Horn eine kritische Theorie des Subjekts auf den Weg gebracht, die die subjektiven Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Erfahrungen in den Fokus rückt und in diesem Sinne Psychoanalyse explizit als Sozialwissenschaft rekonstruiert. Der vorliegende Text ist dieser Tradition ebenso tief wie offen verbunden. Er versteht sich als Beitrag zur kritischen Theorie des Subjekts, der klassische Bezüge der Kritischen Theorie reflexiv würdigt, neuere Erkenntnisse etwa der Psychoanalyse, des Poststrukturalismus und der kritischen Gesellschaftswissenschaft integriert, um auf dieser Grundlage zeitdiagnostische Analysen gegenwärtiger Subjektivitätsformen anzufertigen. Es wird sich zeigen, wie gesellschaftliche Verhältnisse von den Menschen über institutionelle, diskursive und zwischenmenschliche Praxis erlebt, verinnerlicht und verarbeitet werden, welche destruktiven und leidvollen Subjektivitätsformen daraus entstehen, um letztlich emanzipatorische Spielräume zu identifizieren, die Autonomie und Verbundenheit, wachsende soziale Gestaltungsfähigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität ermöglichen. Kritische Theorie samt der hier versammelten Ansätze ist immer auch eine narzisstische Kränkung. Die entfremdete Logik kapitalistischer Verwertungsprozesse, die Wirkmacht des Diskursiven und die Dynamik des Unbewussten kränken die menschliche Größenfantasie, rational und autonom handlungsfähig, gleichsam »Herr*in im eigenen Haus« zu sein. Doch die Anerkennung der Begrenztheit führt über tiefere Erkenntnisse gesellschaftlicher, diskursiver und subjektiver Verhältnisse zu erweiterten Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten und zum substanziellen Erhalt der Idee, dass die Welt auch anders, glücklicher eingerichtet werden könnte. 64

2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

2.2

Referenzrahmen: Marx und Freud

2.2.1 Karl Marx und der Historische Materialismus Historischer Materialismus

Historisch-materialistisch ist die Marx’sche Theorie deshalb zu nennen, weil sie die Entwicklung der Menschheit einerseits als gebunden an die Naturhaftigkeit und Sinnlichkeit der Menschen sowie an ihre materiellen Lebensgrundlagen begreift, andererseits aber auch die historische Entwicklung der Gesellschaft, der Arbeitsteilung sowie der Kämpfe zwischen verschiedenen Klassen betont. Marx hat die Analyse der gesellschaftlichen Prozesse seiner Zeit (bis zu seinem Tod 1883) als rückblickende logisch-historische Rekonstruktion der Veränderung der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse betrieben und die weitere Entwicklung als offen verstanden. Marx zufolge kann vom Menschen nur im Plural gesprochen werden, weil die Menschen existenziell darauf angewiesen sind, ihre Lebensmittel gemeinsam zu produzieren. »Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse zueinander […] findet die Produktion statt« (MEW 6, S. 407). Mensch und Gesellschaft befinden sich somit in einem dialektischen Zusammenhang: Die Menschen entwickeln sich innerhalb ihnen vorausgesetzter gesellschaftlicher Verhältnisse, zugleich können diese Verhältnisse nichts anderes sein als das wechselseitige Verhalten der Menschen (vgl. MEW 3, S. 38/423). Innerhalb dieses dialektischen Zusammenhangs sind die Menschen in der Lage, durch ihr Verhalten die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, und zwar besonders durch eine spezifisch menschliche und historisch entstandene Fähigkeit, das Bewusstsein: »Was  […] von vorneherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war« (MEW 23, S. 193).

Damit aber keine idealistischen Missverständnisse aufkommen, etwa im kantischen Sinne, dass der Mensch sich seine Welt kraft seiner Vernunft 65

2 Subjektivität und Gesellschaft

schaffe, betont Marx den besonderen Einfluss gesellschaftlicher Verhältnisse auf das Bewusstsein: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (MEW 13, S. 8f.).

Mit anderen Worten bilden die Produktivkräfte, also die historisch entstandenen technischen und intellektuellen Fertigkeiten, gemeinsam mit den Produktionsverhältnissen, also der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Produktionsweise einer Gesellschaft, die reale Basis und das Sein der Menschen. Gleichsam determiniert von dieser Basis ist der politische, rechtliche und ideologische Überbau, der letztlich dazu dient, die Produktionsweise zu erhalten. Marx aber wendet sich nicht nur gegen den vernunftgläubigen Idealismus seiner Zeit, sondern ebenso gegen die philosophische Gegenbewegung der Romantik in ihrer Überbetonung der Natur und Sinnlichkeit des Menschen. So setzt er sich in seinen »Feuerbachthesen« intensiv mit dem Ansatz des von ihm durchaus geschätzten romantischen Philosophen Ludwig Feuerbach auseinander und kommt in der bekannten 6. These zum Schluss: »Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (MEW 3, S. 6). Insgesamt versucht Marx, die Bewusstseinsfähigkeit und Sinnlichkeit des Menschen sowie die historisch-spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse in seine Vorstellung menschlicher Entwicklung zu integrieren. Er begreift die gemeinsame Praxis als eine im besten Falle lustvolle Notwendigkeit der menschlichen Natur, in der die Menschen ihre Sinne und ihre Fähigkeiten immer weiter entfalten (vgl. Eagleton 1994, S. 212). In diesem Sinne schreibt Marx den schönen Satz: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, 66

2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

jedem nach seinen Bedürfnissen« (MEW 19, S. 21). Zugleich erwächst ihm damit ein Maßstab der Kritik herrschender Praxisformen, wenn diese nämlich die Entfaltung der Sinne und Fähigkeiten beschneiden oder in den Dienst der Herrschaft stellen. Kritik der politischen Ökonomie

Unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung konstatiert Marx nun eine historisch-spezifische Entfremdung der Menschen von sich selbst und ihren Lebensgrundlagen, weil diese von den Menschen immer weniger selbstbestimmt gestaltet werden können. Diese Entfremdung verdeutlicht Marx anhand der Warenform, also der kapitalistischen Form, die Lebensmittel der Menschen herzustellen. Diese Warenform ist durch die Doppeldeutigkeit der Ware gekennzeichnet, durch ihren Gebrauchswert und ihren Tauschwert. Der Gebrauchswert beschreibt die qualitativ verschiedenen Arbeiten, die in ein Produkt mit seinen bestimmten Eigenschaften eingehen. Der Tauschwert hingegen meint abstrakt die gleichartigen, nämlich in Arbeitszeit und Geld bemessenen Arbeiten zur Herstellung der Waren. Im Kapitalismus, also in einer privatwirtschaftlichen, konkurrenz- und profitorientierten Gesellschaft werden Waren überwiegend wegen ihres Tauschwerts produziert. Nach Marx lassen sich damit drei Aspekte der Entfremdung differenzieren. Wenn erstens nur mehr der Tauschwert von Interesse ist, werden die konkreten Arbeiten und Fertigkeiten zunehmend bedeutungslos. Die Selbstbestimmung darüber, was wie gefertigt werden sollte, auch im gesellschaftlichen Maßstab, geht verloren. Die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit tritt den Menschen allein in Form des Geldes, als verallgemeinerter Tauschwert, als »allgemeinem Äquivalent« gegenüber. Zweitens ist nach Marx nur die lebendige menschliche Arbeit produktiv. Im Kapitalismus aber verkommt die Arbeitskraft zur austauschbaren Ware und wird überdies ausgebeutet: Wenn der Wert der Arbeit sich nach der für die Herstellung eines Produkts notwendigen Arbeitszeit bemisst, ist der Mehrwert, den der Unternehmer als Profit einstreicht, nichts anderes als unentlohnte Arbeitszeit (vgl. Hirsch 1992). Und drittens begegnen sich die Menschen auf dem Markt unter der Ideologie des freien und fairen Tauschs nur noch als Warentauscher mit spezifisch kapitalistischen »Charaktermasken« als Arbeiter oder Unternehmer, als Verkäufer und Käufer. Weil die herrschenden Gedanken immer die Gedanken der Herrschenden sind, erscheint 67

2 Subjektivität und Gesellschaft

den Menschen ihr Leben, jenseits von Geschichte und Herrschaft, als ein Verhältnis von Dingen. Geleugnet werden damit sowohl die gewaltsame Durchsetzung des Kapitalismus als auch die Ausbeutung der Arbeit im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital (MEW 23, S. 86ff.). Emanzipationshoffnung

Marx attestiert dem Kapitalismus eine ungeheure Produktivkraftentwicklung, die im Dienste von Herrschaft und Ausbeutung zwar nur wenigen, nämlich der Bourgeoisie, zugutekommt – doch zugleich betont Marx, dass es eben die Arbeiterklasse ist, die mit ihrer Arbeit den gesellschaftlichen Reichtum erzeugt. Und gerade weil zu Marx’ Zeiten die Arbeit zunehmend zerstückelt und verdinglicht wird, glaubt Marx, dass die Arbeiterschaft ihrer Entfremdung gewahr werden und ein kollektives Bewusstsein ihrer Macht als universale Produzentin der lebensnotwendigen Waren entwickeln müsste. Auf diese Weise könne das Proletariat dann eine sozialistische Revolution in Gang setzen, die nicht nur die ökonomische Ausbeutung und ideologische Entfremdung beseitigt, sondern damit auch die besagten menschlichen Sinne und Fähigkeiten zur Entfaltung bringt. Kritik

Kritik an der Marx’schen Theorie kann aus gesellschafts- und subjekttheoretischer Perspektive formuliert werden. Die Marx’sche Theorie hat insofern eine ökonomistische Schlagseite, als einerseits im Basis-ÜberbauTheorem von der Determinierung des Bewusstseins durch die ökonomische Basis im Dienste der Herrschaft ausgegangen wird. Andererseits muss selbst die Erwartung einer revolutionären Formierung des Proletariats als Folge einer ökonomischen Dynamik (Produktivität und Entfremdung) verstanden werden. Diese ökonomistischen Verkürzungen stehen überdies im Widerspruch zur Einsicht Marx’, dass die Geschichte immer eine Geschichte von sozialen Kämpfen ist, deren Ausgang als offen gelten muss. Nicht zuletzt übersieht Marx mit dem Fokus auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital andere soziale Verhältnisse, die eine zumindest relative Autonomie gegenüber dem Kapitalverhältnis haben: etwa das Verhältnis von Ökonomie, Gesellschaft und Staat (den Marx schlicht dem Überbau zur Verwirklichung von Kapitalinteressen zurechnet), gesellschaftliche Naturverhältnisse und Geschlechterverhältnisse. 68

2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

Auch aus subjekttheoretischer Perspektive gibt es ungeklärte Fragen. Marx ist einem »romantischen Humanismus« (Eagleton) verpflichtet, wenn er fordert, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, S. 385). Was er dabei jedoch übersieht, ist die psychische Verankerung von Herrschaft in den Menschen, auch wenn sie unter elenden Bedingungen leben. In diesem Kontext zeigen Studien über die Arbeiterkultur, dass selbst die Kämpfe der Arbeiterbewegung mehrheitlich weniger auf die Überwindung des Kapitalismus zielten, sondern häufig auf die Ausweitung bürgerlich-patriarchalischer Privilegien auf die (männliche) Arbeiterschaft. Und die Autoritarismusstudien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung kamen noch in den 1920er und 1930er Jahren zu dem Schluss, dass autoritäre und mit den gewaltvollen Verhältnissen identifizierte Charaktere bis hinein in die revolutionäre Arbeiterschaft verbreitet waren. 2.2.2 Sigmund Freud und die Psychoanalyse

Die Psychoanalyse kann nun eben jene subjekttheoretische Lücke in der Marx’schen Theorie schließen, indem sie die inneren Prozesse der Subjektbildung untersucht. Freud hat die Psychoanalyse in den vielen Jahren seines Schaffens vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu seinem Tod 1939 als Psychotherapie, als Entwicklungspsychologie, als Krankheitslehre sowie als Kulturtheorie fortwährend weiterentwickelt. Zunächst ging Freud infolge seines naturwissenschaftlichen Verständnisses als Mediziner davon aus, dass psychische Erkrankungen organische Auslöser haben müssen und glaubte an die Wirksamkeit entsprechender Therapien durch Medikamente oder Operationen. Doch über viele Erfahrungen, etwa die Kooperation mit dem Arzt Stefan Breuer im Falle Anna  O., über Erkenntnisse über Hypnose, Selbstversuche mit Kokain bis hin zur Traumdeutung, Selbstanalyse und vor allem seiner klinischen Praxis, entfernte sich Freud zunehmend von einem medizinisch-objektivistischen Krankheitsbild und entfaltete die Psychoanalyse als Redekur. Psychoanalyse als Therapie

Das Revolutionäre der Freud’schen Psychoanalyse besteht in der zugrundeliegenden Vorstellung menschlicher Entwicklung und psychischer Er69

2 Subjektivität und Gesellschaft

krankungen. Freud ist der Überzeugung, dass psychische Erkrankungen durch kulturelle und zwischenmenschliche Konflikte entstehen. Er geht infolge seiner klinischen Erfahrungen davon aus, dass all jene Wünsche und Impulse dem Bewusstsein entzogen sind, die kulturell oder familial verpönt sind oder gar mit traumatischen Erfahrungen verknüpft sind. Wenn diese ursprünglichen Wünsche und Impulse durch immer wiederkehrende Kränkungen, Strafen oder Traumata mit Angst, Scham und Schuldgefühlen unerträglichen Ausmaßes besetzt sind, müssen sie verdrängt werden. Mit dieser Unbewusstmachung sind aber weder die Wünsche noch die ihrer Verdrängung zugrundeliegenden Konflikte verschwunden. Vielmehr geraten die Wünsche und Konflikte im Unbewussten unter die Logik des sogenannten Primärvorgangs. Der Primärvorgang bezeichnet die eigenwillige Funktionsweise des Unbewussten. Hier existieren keine Widersprüche, kein vorher oder nachher, kein richtig oder falsch, alleiniges Ziel ist die Abfuhr der mit dem angstbesetzten Wunsch verknüpften psychischen Energien. So kann zum Beispiel durch den Abwehrmechanismus der Reaktionsbildung Verschwendungssucht in Sparsamkeit, Spontaneität in Ordnungsrituale verkehrt werden. Daraus folgt, dass Wunsch und Konflikt in eigenartig verzerrter Form wiederkehren, als psychisches oder auch psychosomatisches Leiden, als Symptom, manchmal sogar in Form der Überanpassung an eine destruktive Kultur. Diese Symptome sind zwar immer auch eine kreative Leistung, eine Überlebensstrategie, gleichwohl sind sie mit erheblichem Leid verbunden und schränken die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit und damit die mögliche Selbstbestimmung der Menschen mehr oder minder drastisch ein. Nicht allein, dass die Wünsche unbefriedigt, die Konflikte ungelöst und dem Sekundärvorgang, also der bewussten sprachlichen Integration, verschlossen bleiben – überdies führt die Wiederkehr des Verdrängten im Wiederholungszwang zur unbewussten Reinszenierung einer leidvollen Beziehungsgeschichte. Eben diese leidvolle Dynamik ist nun in der Psychoanalyse Ansatzpunkt der Therapie. Dem liegt die wichtige Erkenntnis zugrunde, dass eine in Beziehungen entstandene Erkrankung auch nur in Beziehung geheilt werden kann. Zu diesem Zweck hat Freud ein spezielles Setting entwickelt. Im geschützten Rahmen der psychoanalytischen Therapie sind Analysand*innen aufgefordert frei zu assoziieren, also alle Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Träume möglichst unzensiert mitzuteilen. Auf diese Weise schon gerät das Unbewusste, geraten die Symptome und gerät 70

2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

der Widerstand gegen schmerzhafte Affekte und Einsichten in Bewegung. Es kommt so zur Übertragung der guten wie schlechten Anteile gelebter bedeutsamer Beziehungen auf die Analytiker*innen. Diese begleiten die Mitteilungen der Analysand*innen mit einer Haltung freischwebender Aufmerksamkeit, enthalten sich also moralisierender Zurechtweisung oder vorschneller Kommentare. Vielmehr versuchen sie in der Gegenübertragung zu erspüren, welche Beziehungen die Analysand*innen erlebt oder herbeigesehnt haben, welche Gefühle im Spiel sind, aber noch nicht benannt, noch nicht integriert werden können. Das können ebenso Gefühle sein, die die bedeutsamen Bezugspersonen dem*der Analysand*in entgegengebracht haben (Ärger oder Unverständnis etwa), wie Gefühle, die die Analysand*innen nicht zu fühlen wagen (Ohnmacht und Wut etwa). Im Verlauf der Therapie wird dann immer weiteres psychisches Material erinnert, durchgearbeitet und gedeutet, wobei die Deutungen der Analytiker*innen keine Wahrheit beanspruchen, sondern ihre Plausibilität durch die wachsende Empfindungs- und Handlungsfähigkeit im Alltag der Analysand*innen unter Beweis stellen. Insgesamt kann eine konflikthafte und leidvolle Lebensgeschichte in der Psychoanalyse in Szene gesetzt, rekonstruiert und so letztlich einer glücklicheren Weiterentwicklung zugeführt werden. Psychoanalyse als Kulturtheorie

Vor dem Hintergrund der therapeutischen Praxis, wie sie hier skizziert wurde, ist auch die psychoanalytische Kulturtheorie zu verstehen. Denn diese stellt, ebenso wie die Metapsychologie, den Versuch dar, die in der klinischen Praxis gewonnenen Erkenntnisse zu systematisieren und auch auf die Frage der Kulturentwicklung anzuwenden. Das berühmte Junktim zwischen Forschen und Heilen eröffnet Freud somit die Möglichkeit, seine Vorstellungen menschlicher Entwicklung mit gelebter therapeutisch-zwischenmenschlicher Erfahrung zu füllen. Ähnlich wie Marx geht Freud zunächst davon aus, dass Menschen angesichts der »Ananke«, der realen Lebensnot, überlebensnotwendig auf kulturelles Zusammenleben angewiesen sind. Doch während Marx die Verhältnisse zwischen den Menschen an ihrer Produktionsweise abliest, versteht Freud die Kulturentwicklung in seinem 1930 erschienen Werk Das Unbehagen in der Kultur eher vom Subjekt aus, vor allem als Dynamik zweier Triebe, des Lebenstriebes Eros und des Todestriebes Thanatos 71

2 Subjektivität und Gesellschaft

(Freud 1948).1 Grundsätzlich folgt der Mensch dem Lustprinzip, er strebt nach Triebbefriedigung, »will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle« (ebd., S. 433f.). Da nun aber die Triebe in ihrer ursprünglichen Form nicht kulturfähig sind, auf unmittelbare Entladung zielen und somit ein Klima permanenter Angst und existenzieller Bedrohung erzeugten, müssen sie in jedem Menschen kulturfähig gemacht werden, sie müssen sublimiert, also verfeinert werden (ebd., S. 457). Durch die Sublimierung dienen die erotischen Energien der Bindung zwischen den Menschen, der Schaffung und Erhaltung kultureller Gemeinschaften, während die aggressiven Energien für die Unterwerfung und Verwertung der Natur genutzt werden (ebd., S. 477ff.). Umgekehrt bietet die Kultur einen notwendigen Schutz der Menschen vor ihren eigenen destruktiven Potenzialen (ebd., S. 448f.). Der psychische Apparat

Weil nun aber der Mensch Teil der Natur ist und zunächst dem Lustprinzip folgt, weil zugleich die kulturelle Entwicklung dem Menschen 1 Freud ging in seiner ersten Triebtheorie, etwa in »Triebe und Triebschicksale«, vom Dualismus des Selbsterhaltungs- und Sexualtriebes aus (Freud 1915/1946). Angesichts der Gräuel in Weltkrieg I, angesichts verstörender Erfahrungen mit Aggressionen in der klinischen Praxis und vermutlich auch angesichts der aufkeimenden faschistischen Barbarei konzipierte er in seinen Texten »Jenseits des Lustprinzips« (1920/1940a) und »Das Unbehagen in der Kultur« (1930/1948) die Wirkmacht des Lebens- und des Todestriebes. Diese Triebtheorie wurde bereits von Zeitgenoss*innen, wie Karen Horney und Erich Fromm, ob ihrer biologistischen Implikationen kritisiert. Jürgen Habermas sprach gar von einem »szientistischen Selbstmißverständnis« der Psychoanalyse, das die diskursiven Momente der psychoanalytischen Therapie und Kulturtheorie schlicht als Naturwissenschaft missverstehe (Habermas 1968). Damit aber werden die Ambivalenzen und leisen Töne in der Freud’schen Theoriebildung vorschnell entsorgt. Ich selbst kann mich der Lesart Bernard Görlichs gut anschließen, dass die Triebtheorie zwar die sinnlich-leibliche Eigenlogik der Verarbeitung sozialer Erfahrungen bewahrt, aber dabei tendenziell das unabdingbare Zusammenwirken von menschlicher Natur und Sozialität bloß auf mystifizierende Begriffe zu bringen vermag (Görlich 1987; De Lauretis 1996). Jedenfalls wird die jahrzehntelange Wirkmacht der Triebtheorie in der psychoanalytischen Praxis und Theoriebildung seit rund 20 Jahren durch die sogenannte intersubjektive Wende, die Psychoanalyse in erster Linie als Beziehungsanalyse versteht, zurückgedrängt. Dabei sollte die körperliche, sinnliche und affektive Eigenlogik der Subjektbildung und Subjektbeschädigung weiter konzeptualisiert werden – etwa durch die Interdisziplinarität von Psychoanalyse und moderner Neurobiologie.

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2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

einen Triebverzicht im Sinne des Realitätsprinzips abverlangt, muss ein Teil der aggressiven Energien auf den Menschen selbst gerichtet werden, um Triebdurchbrüche zu unterbinden. Auf diese Weise wird im Über-Ich die herrschende Moral installiert, und diesen Prozess der Über-Ich-Bildung muss jedes einzelne Subjekt durchlaufen, um kulturfähig zu werden. Dabei bezieht sich Freud auf eine Vorstellung des psychischen Apparats, die er in seiner 1923 erschienen Schrift »Das Ich und das Es« formuliert hat (Freud 1940b). Die Theorie des psychischen Apparats bringt einen psychischen Konflikt im Spannungsfeld von Lust- und Realitätsprinzip zum Ausdruck. Freud unterscheidet hier zwischen den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Das Es repräsentiert die körperlich verankerten triebhaften Impulse. Das Über-Ich repräsentiert die verinnerlichten gesellschaftlichen Normen. Es ist das normativ aufgeladene Resultat einer Beziehungsgeschichte und damit eine psychisch verankerte und urteilende Repräsentanz, die die Es-Impulse in Schach hält. Wenn den Anforderungen des Über-Ichs nicht genüge getan wird, treten unweigerlich vehemente Schuld- und Schamgefühle auf den Plan. Das Ich schließlich ist die Instanz, die zwischen Es-Impulsen, den Anforderungen von Über-Ich und der gelebten Realität vermitteln muss. Das Ich versucht also im Hier und Jetzt die Spannung zwischen Lust- und Realitätsprinzip so auszutarieren, dass das psychische und materielle Überleben in einem gegebenen kulturellen Kontext gewährleistet bleibt. In diesem Sinne organisiert das Ich nicht allein Wahrnehmung, Denken und Handeln, die dem Bewusstsein zugänglich sind, sondern ebenso die Abwehr unlustvoller und angstbesetzter Gefühle, innerpsychische Vorgänge also, die weitgehend unbewusst bleiben. Wie sich die Entwicklung in affektiven Turbulenzen zwischen Angst, Liebe, Aggression und Schuldgefühl hin zur Errichtung des Über-Ich vollzieht, hat Freud immer wieder am Beispiel der ödipalen Dynamik zwischen Kind und elterlicher Autorität untersucht, auch in »Das Unbehagen in der Kultur«.2 Um die Argumentation und den Sound Freuds zu vermitteln, möchte ich hier zwei längere Auszüge zitieren: 2 Ich habe hier Passagen ausgewählt, die weitgehend geschlechtsneutral formuliert sind. Gleichwohl finden sich in Freuds Schriften, neben revolutionären und geradezu queeren Ansätzen, auch immer wieder heteronormative und biologisierende Tendenzen, etwa in der prominenten Verhandlung der ödipalen Dynamik zwischen Vater und Sohn, der Annahme einer quasi anatomisch bedingten unterschiedlichen psychosexuellen Entwick-

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2 Subjektivität und Gesellschaft

»Wir kennen also zwei Ursprünge des Schuldgefühls, den aus der Angst vor der Autorität und den späteren aus der Angst vor dem Über-Ich. Das erstere zwingt dazu, auf Triebbefriedigungen zu verzichten, das andere drängt, da man den Fortbestand der verbotenen Wünsche vor dem ÜberIch nicht verbergen kann, außerdem zur Bestrafung. Wir haben auch gehört, wie man die Strenge des Über-Ichs, also die Gewissensforderung, verstehen kann. Sie setzt einfach die Strenge der äußeren Autorität, die von ihr abgelöst und teilweise ersetzt wird, fort. Wir sehen nun, in welcher Beziehung der Triebverzicht zum Schuldbewußtsein steht. Ursprünglich ist ja der Triebverzicht die Folge der Angst vor der äußeren Autorität; man verzichtet auf Befriedigungen, um deren Liebe nicht zu verlieren. Hat man diesen Verzicht geleistet, so ist man sozusagen mit ihr quitt, es sollte kein Schuldgefühl erübrigen. Anders ist es im Falle der Angst vor dem ÜberIch. Hier hilft der Triebverzicht nicht genug, denn der Wunsch bleibt bestehen und läßt sich vor dem Über-Ich nicht verheimlichen. Es wird also trotz des erfolgten Verzichts ein Schuldgefühl zustande kommen und dies ist ein großer ökonomischer Nachteil der Über-Ich-Einsetzung, wie man sagen kann, der Gewissensbildung. Der Triebverzicht hat nun keine voll befreiende Wirkung mehr, die tugendhafte Enthaltung wird nicht mehr durch die Sicherung der Liebe gelohnt, für ein drohendes äußeres Unglück – Liebesverlust und Strafe von Seiten der äußeren Autorität – hat man ein andauerndes inneres Unglück, die Spannung des Schuldbewußtseins, eingetauscht« (1948, S. 486f.).

Allerdings speist sich die Macht des Über-Ichs nicht nur aus der Aggression der Autorität dem Kind gegenüber, die im Über-Ich nun verinnerlicht und gleichsam konserviert ist, sondern auch aus der Aggression des Kindes gegen die elterlichen Versagungen, die nicht agiert werden konnten und sich nun andere Abfuhrbahnen verschaffen müssen: lung von Jungen und Mädchen und der daraus resultierenden geminderten weiblichen Kulturfähigkeit (Freud 1948, S. 463; dazu kritisch Naumann 2020). Besonders aus feministischer Perspektive liegen dazu bahnbrechende Arbeiten vor, die die psychosexuelle Entwicklung heteronormativitätskritisch beleuchten und dabei auch die präödipale Entwicklung stärker berücksichtigen, etwa Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter von Nancy Chodorow (1986), Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht von Jessica Benjamin (1990) oder auch Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse von Christa RohdeDachser (1992).

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2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

»Gegen die Autorität, welche das Kind an den ersten, aber auch bedeutsamsten Befriedigungen verhindert, muß sich bei diesem ein erhebliches Maß von Aggressionsneigung entwickelt haben, gleichgiltig [sic!] welcher Art die geforderten Triebentsagungen waren. Notgedrungen mußte das Kind auf die Befriedigung dieser rachsüchtigen Aggression verzichten. Es hilft sich aus dieser schwierigen ökonomischen Situation auf dem Wege bekannter Mechanismen, indem es diese unangreifbare Autorität durch Identifizierung in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird und in den Besitz all der Aggression gerät, die man gern als Kind gegen sie ausgeübt hätte« (ebd., S. 488f.).3

Insgesamt geht Freud davon aus, dass im Zuge der Kulturentwicklung immer mehr sublimierte aggressive Energie auf das Subjekt zurückgewendet werden muss, dadurch die bindende Kraft erotischer Energien sukzessive geschwächt wird und letztlich die Barbarei droht. Gegen Ende von Das Unbehagen in der Kultur formuliert er den vielzitierten Absatz: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?« (ebd., S. 506). 3 Aus der Unterwerfung unter die väterliche Autorität folgt demnach die Idealisierung des Vaters und die Internalisierung der Verbote und Gesetze, die vom Vater vertreten werden, sowie letztlich die transgenerational perpetuierte Einschränkung von Wahrnehmungs-, Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten. In den treffenden Worten von Sigrun Anselm: »Der Sohn gibt seinen Widerstand gegen die Verbote des Vaters preis und unterwirft sich, verlockt durch das Versprechen, als Erwachsener dem Vater gleich zu werden. Und er wird ihm gleich, wenn auch anders, als dem Kind der allmächtige Vater erschien, nämlich er wird wie dieser den verinnerlichten Zwang und die verdrängte Angst nicht loswerden und erst in den Augen seines Sohnes zu der selbstmächtigen Figur, die der erwachsen und zum Vater gewordene Sohn für sich selbst selten zu werden vermag« (Anselm 1994, S. 106).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

Kritische Würdigung der klassischen Psychoanalyse

Ähnlich wie Marx ist Freud offenbar von einem wirklich emanzipatorischen Impetus angetrieben. Allerdings richtet sich sein Fokus weniger auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als auf intrasubjektive Prozesse, die er immer wieder triebtheoretisch einbettet. Er versteht den Menschen als sinnlich-leibliches Wesen, das Lust und Angst, Glück und Leid empfindet. Wie glücklich oder unglücklich sich der Mensch von Geburt an entwickelt, ist abhängig von den Beziehungen in einem institutionellen und sozialen Kontext, die mehr oder minder förderlich sind. Psychoanalytische Kritik zielt dabei auf Formen der Unterdrückung, die den Menschen im Namen herrschender Gesetze und Moral ihre Selbstbestimmung, ihre Liebes- und Arbeitsfähigkeit beschneidet. Denn besonders die beschädigenden Seiten der Entwicklung verbleiben dabei im Unbewussten, um dann als Symptom wiederzukehren, das die Selbstbestimmung einschränkt. Anders gesagt hat Freud erstmalig systematisch rekonstruiert, wie äußere Herrschaft verinnerlicht wird und im Subjekt das Wahrnehmen, Denken und Handeln ebenso unbewusst wie destruktiv einschränkt. Darüber hinaus verdanken wir Freud die nicht nur therapeutisch oder pädagogisch bedeutsame Erkenntnis, dass die Übertragung früher Erfahrung auf spätere Beziehungen als »Universalie der Praxisstruktur« und der Widerstand gegen schmerzhafte Einsichten in erlittene Kränkungen als »Universalie der Erkenntnisstruktur« (Niemeyer) zu verstehen sind. Insgesamt fordert uns Freud heute noch dazu auf, Vernunft und Leidenschaft zu versöhnen und unseren Beitrag zu einem Leben zu leisten, das die Menschen liebesfähig, arbeitsfähig und, mit Dornes gesprochen, spielfähig leben können (vgl. Dornes 2000, S. 217). Die bereits angesprochenen heteronormativen und biologistischen Tendenzen in Freuds Werk sind sicherlich auch dessen Entstehungsgeschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geschuldet. Doch wenn Subjektbildung und Kulturentwicklung allein durch die Triebdynamik determiniert verstanden werden, müssen kulturelle Einrichtungen und gesellschaftliche Verhältnisse als bloße Emanationen der Triebe oder des Unbewussten erscheinen. Die sozialisierende Wirkung und Eigenlogik der historisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Subjektbildung geraten so aus dem analytischen Blick. Die klassische Psychoanalyse ist in den unaufgelösten Widerspruch verstrickt, einerseits die kulturelle Entwicklung der Menschheit sowie die Entwicklung jedes Menschen als unausweich76

2.2 Referenzrahmen: Marx und Freud

liche und destruktive Prozesse zu begreifen, andererseits aber in der Redekur über die Rekonstruktion beschädigter Lebensgeschichte das durch Familie und Gesellschaft produzierte Leiden lindern zu wollen (Naumann 2000, S. 18). 2.2.3 Resümee

Die Stärke der Theorien von Marx und Freud liegt insbesondere in ihrer Dekonstruktion der bürgerlichen Idee eines qua Vernunft autonomen Subjekts. Sie arbeiten heraus, dass die Menschen ökonomischen und unbewussten Zwängen unterliegen, die, gleichsam hinter dem Rücken der Akteur*innen wirksam, die selbstbestimmte, bewusste Verfügung über die Gestaltung des kollektiven und individuellen Lebens einschränken. Marx und Freud bringen diesen Zusammenhang auf kritische Begriffe, Marx mit dem Begriff der Warenform, Freud mit dem des Symptoms (Dahmer 1986, S. 79). Zugleich aber verkürzen Marx und Freud ihre Erkenntnisse deterministisch. Marx geht davon aus, dass die menschliche Entwicklung durch die ökonomische Basis determiniert ist, Freud knüpft sie an die quasi biologische Triebdynamik. Unvermittelt steht diesen Determinismen dann die Erkenntnis gegenüber, dass das Leiden an einer konflikthaften und beschädigenden Gesellschaft auch soziale Kämpfe hervorrufen kann (Marx), bzw. dass das Leiden an kulturellen und lebensgeschichtlichen Zumutungen durch die Reinszenierung und Rekonstruktion der Lebensgeschichte gemildert werden kann (Freud). Was beide verfehlen ist der widersprüchliche Zusammenhang von Subjekt und Gesellschaft, bzw. von gesellschaftlich und psychisch wirkenden Zwängen bei gleichzeitig vorhandenen Reflexions- und Handlungsfähigkeiten. Marx konnte nicht erkennen, auf welche Weise sich die sozialen Verhältnisse in die Menschen einschreiben, und Freud vermochte die historisch-gesellschaftliche Dimension der Lebensgeschichten und Symptome nicht zu erfassen. Klaus Horn bringt es auf den Punkt: »Marx, dem historisch zunächst das Problem der politökonomischen Dimension der Entfremdung, der realen Verelendung des Proletariats auf den Nägeln brennen musste, dem die Entwicklung des gesellschaftlichen Problembewusstseins aufgrund der realen historischen Entwicklung noch keine ange-

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2 Subjektivität und Gesellschaft

messene Psychologie zur Verfügung stellen konnte, musste deshalb übersehen, dass Geschichte in den Menschen zur Natur wird; später verkennt Freud, dass Natur in den Menschen zur Geschichte wird« (Horn 1990, S. 131).

Weil aber die Kritik an Marx und Freud wechselseitig auf die Verkürzungen der je anderen Theorie verweist, bietet sich eine interdisziplinäre Kooperation an. Eine solche Kooperation ist schon deshalb wichtig, weil Subjekt und Gesellschaft über eine spezifische Eigenlogik verfügen. So kann das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem, die Eigenlogik psychischer Prozesse im Subjekt nicht vollständig durch gesellschaftstheoretische Begriffe (Ökonomie, Politik, Ideologie etc.) erfasst werden. Umgekehrt ist es unmöglich, gesellschaftliche Prozesse, kapitalistische Strukturzwänge, soziale Kämpfe etc. allein mit subjekttheoretischen Begriffen (des Unbewussten etwa) zu analysieren. Erst in der wechselseitigen Kooperation von Gesellschafts- und Subjekttheorie kann das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft in seiner Widersprüchlichkeit, Historizität und Komplexität erschlossen werden (Naumann 2000; 2003). Gelingen kann diese Kooperation freilich nur dann, wenn die beteiligten Theorien auch anschlussfähig sind, wenn sie hinsichtlich ihres Erkenntnisgegenstandes, ihres Erkenntnisinteresses und ihres methodischen Vorgehens kompatibel sind. Dies ist für den Historischen Materialismus und die Psychoanalyse grundsätzlich gegeben. Beide Ansätze untersuchen den kapitalistisch vergesellschafteten Menschen. Während Marx aus gesellschaftlicher Perspektive die Verhältnisse zwischen den Menschen in den Fokus rückt, die sich aus der Vergesellschaftung äußerer Natur ergeben (Arbeitsteilung, Kapitalverhältnis), richtet Freud sein Augenmerk auf die Verhältnisse in den Menschen, die sich aus der gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Vergesellschaftung der inneren Natur ergeben (Dahmer 1984, S. 139). Zugleich verfolgen beide ein ähnliches Erkenntnisinteresse, wenn sie die soziale und individuelle Praxis der Menschen auf ihre gewalt- und leidvollen Momente hin untersuchen, bzw. gesellschaftliche und subjektive Emanzipationspotenziale greifbar machen (Zepf 1993, S. 15). Nicht zuletzt ist auch das methodische Vorgehen anschlussfähig: Beide versuchen die bewusstlosen, beziehungsweise unbewussten Dynamiken einer in der Warenform und im Symptom verdinglichten Praxis sichtbar zu machen. In diesem Sinne kann die Marx’sche Methode als logischhistorische Rekonstruktion gesellschaftlicher Praxis und die Freud’sche als tiefenhermeneutische Rekonstruktion subjektiver Praxis verstanden 78

2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

werden (Zepf/Hartmann 1989, S. 70). Der erste ambitionierte Versuch einer solchen interdisziplinären Kooperation wurde am Institut für Sozialforschung in Frankfurt gewagt, heute bekannt unter dem Label Kritische Theorie oder Frankfurter Schule.

2.3

Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

Die interdisziplinäre Kooperation von Historischem Materialismus und Psychoanalyse wird im Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) in den späten 1920er und frühen 1930er  Jahren zu einem großangelegten Arbeitsprogramm, das insbesondere in den beiden Studien Autorität und Familie sowie Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Faschismus zum Tragen kommt. Es sollte herausgearbeitet werden, wie sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse psychisch in den Menschen niederschlagen – die Ergebnisse waren niederschmetternd: Bei einer Vielzahl der Menschen zeigte sich ein schwaches Ich, hervorgerufen durch eine repressive Erziehung, und somit die Bereitschaft, sich gesellschaftlichen Autoritäten, bzw. faschistischen Führern zu unterwerfen, um die Ich-Schwäche zu kompensieren. Die versagten Wünsche nach Verbundenheit wurden durch die Teilhabe an einer »Volksgemeinschaft« auf perverse Weise ersatzbefriedigt, während die erlittenen Beschädigungen an den gesellschaftlich Geächteten aggressiv ausagiert wurden. Alfred Lorenzer, maßgeblicher Begründer der kritischen Theorie des Subjekts, fasst die gewonnenen Erkenntnisse rückblickend in eindringlichen Worten zusammen: »Der ursprüngliche Triebimpuls, der allemal libidinös ist in der Sehnsucht, geglückte Interaktionsformen herzustellen, geht in die Ersatzbefriedigung ein. Die Verschiebung der Befriedigung spaltet diese dabei merkwürdig auf. Der libidinöse Anteil bewirkt jene Massenbindung, die Freud ausführlich beschrieben hat: die ›Brüderhorde‹, deren Bezugspunkt die idealisierte Autorität ist. Ersatzbefriedigung aber ist das Symptomziel: die autoritätsgefügige Vernichtung Fremder, Verfremdeter, Ausgegrenzter. Darin kommt die eigene aggressive Reaktion gegen die zugemutete Versagung zur Geltung. Die Rechtfertigung der Aggression aber leistet die in der nachinfantilen Vergesellschaftung dem Individuum angebotene Weltanschauung: Die Symptomschablone wird weltanschaulich gefüllt. Der Feind wird benannt: der

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2 Subjektivität und Gesellschaft

Jude kann/muss vernichtet werden, weil er schuld ist an meinem/unserem Unglück. […] Indem die Symptomschablone inhaltlich gefüllt wird, ›greift‹ die Weltanschauung die Persönlichkeitsdefekte auf, die von den objektiven Verhältnissen in sozialen Konflikten hergestellt wurden – in sozialen, aber verschleierten Konflikten, die weiterhin verschleiert bleiben sollen! Denn die Weltanschauung hat eine ›objektive‹ Funktion: ein ›sozialer Konflikt‹ soll dadurch stillgestellt und reaktionär umgekehrt werden, dass an die Stelle einer emanzipatorischen Frage die Antwort dagegengesetzt wird. Objektive Verblendung und individuelle Pathologie treten zueinander zu einem stabilen Kurzschluss: die falsche Antwort aufs soziale Problem wird mit dem falschen Namen für den Triebkonflikt verbunden in Schablonen als dem Kern eines falschen Ich« (1988, S. 121f.).

Die Erkenntnisse zu Autoritarismus und Faschismusanfälligkeit in Deutschland bewegten die meisten Mitglieder des IfS, überwiegend kritische jüdische Intellektuelle, noch vor der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten 1933 Deutschland zu verlassen. 2.3.1 Erich Fromm Analytische Sozialpsychologie

Der 1930 von Erich Fromm verfasste Aufsatz »Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie« gilt als programmatische Grundlage der Autoritarismus-Studien am IfS (Fromm 1980a). In Rekurs auf die Freud’sche Triebtheorie entwickelt Fromm die These, dass kapitalistische Gesellschaften, neben der ökonomischen, politischen und ideologischen Struktur, auch durch eine »libidinöse Struktur« gekennzeichnet sind, die den Zusammenhalt, den »Kitt« der Gesellschaft bildet (ebd., S. 54). Die Familie fungiert dabei als wichtigste »Sozialisationsagentur der Gesellschaft«, die von Beginn des Lebens an die Triebstruktur der Menschen im Sinne der Reproduktion herrschender Verhältnisse formt (ebd., S. 42). Von der Triebtheorie zur Analyse des Sozialcharakters

Allerdings beginnt Fromm die Triebtheorie in der Folgezeit als Hemmnis sozialpsychologischer Erkenntnis zu begreifen, weil sie das biologisti80

2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

sche Bild eines Menschen transportiere, der andere nur zum Zweck eigener Triebbefriedigung zu instrumentalisieren trachtet. Über den Konflikt unterschiedlicher Lesarten der Triebtheorie bricht Fromm dann mit den Kolleg*innen des IfS und arbeitet bereits 1942 in seinem Werk Furcht vor der Freiheit an einer umfassenden Revision der Psychoanalyse (Fromm 1990). Er entwickelt eine Charaktertheorie, die das Subjekt als Resultat der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse sichtbar machen soll. Dementsprechend behält die Familie als Sozialisationsagentur ihren theoretisch prominenten Platz, jedoch nunmehr ohne triebtheoretische Begründung, sie wird nun als zentrale Vermittlungsinstanz herrschender Verhaltensanforderungen verstanden. Konsequent tritt dann auch der Begriff des »Sozialcharakters« an die Stelle der »libidinösen Struktur«, um die bewussten und unbewussten Haltungen und Einstellungen der Subjekte in einer historisch-spezifischen Gesellschaft zu begreifen (ebd., S. 200). Mit dieser Abkehr von der Triebtheorie geht Fromm aber auch die begriffliche Begründung einer Emanzipationshoffnung verloren. Herbert Marcuse etwa konzipiert die Triebnatur, wie noch zu zeigen sein wird, als niemals vollständig zu sozialisierende Kraft, die insbesondere durch erotische Energien gegen repressive gesellschaftliche Verhältnisse mobilisiert werden kann. Fromm hingegen muss, um den kritischen Stachel seiner Theorie zu bewahren, die menschliche Natur quasi normativ-ethisch rekonstruieren. In diesem Sinne versteht er Hunger und Sexualität eher als rein physiologische Phänomene und unterstellt spezifisch menschliche Entwicklungspotenziale, die je nach gesellschaftlichen Voraussetzungen in progressive oder regressive Richtungen ausschlagen: Bezogenheit durch Liebe oder Narzissmus, Transzendenz durch Kreativität oder Destruktivität, Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder Inzest, Identitätserleben durch Individualität oder Konformität sowie Orientierung durch Vernunft oder Irrationalität (Fromm 1987, S. 36ff.). Mithilfe der Verortung historisch-spezifischer Sozialcharaktere auf diesen Skalen versucht Fromm schließlich, den »autoritären Charakter« besonders im nationalsozialistischen Deutschland oder auch den »Marketing-Charakter« in den zunehmend durchkapitalisierten Nachkriegsgesellschaften als mehr oder minder regressiv zu kritisieren und ihnen die existenzielle, nicht zu tilgende Möglichkeit reifer, »produktiver Charaktere« gegenüberzustellen, deren Kräfte gleichsam im Unbewussten aufgehoben seien (Fromm 1980b, S. 47/56). 81

2 Subjektivität und Gesellschaft

Kritik

Problematisch erscheint an Fromms Argumentation, dass er die menschliche Natur von ihrer Körperlichkeit tendenziell abtrennt, Sinnlichkeit und Sexualität als widerspruchsfrei voraussetzt und damit die wichtige Einsicht Freuds preisgibt, dass Sinnlichkeit und Bewusstsein in der Subjektbildung eine komplizierte, aber untrennbare Einheit bilden (Görlich 1980, S. 356). Er löst den Zusammenhang von Subjekt und Gesellschaft nach der gesellschaftlichen Seite hin auf und handelt sich damit den Vorwurf Marcuses und Adornos ein, er reduziere Subjektivität auf eine Funktionsgröße gesellschaftlicher Verhältnisse.4 2.3.2 Herbert Marcuse Triebstruktur und Gesellschaft

Während Fromm die Triebtheorie verwirft, stellt Marcuse sie ins Zentrum seiner Argumentation.5 Er erkennt gerade in der Triebtheorie das kritische Potenzial der Psychoanalyse, weil sie die Vergesellschaftung der menschlichen Natur, die leibliche Verankerung der Herrschaft, die Verwehrung lustvoller Ansprüche und letztlich auch die Möglichkeit, diesen Ansprüchen zu ihrem Recht zu verhelfen, zum Ausdruck bringe. Zwar kritisiert auch Marcuse, dass die Triebtheorie das mehr oder minder glückliche Zusam4 Ich möchte betonen, dass die hier vorgetragene Kritik an den Ansätzen berühmter Theoretiker*innen meinem heutigen Erkenntnisinteresse am Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft entspringt und mit großer Dankbarkeit und Bewunderung vorgetragen wird. Ich habe schon während meines Studiums die Texte der Kritischen Theorie verschlungen, sie haben mir theoretisch, politisch und pädagogisch eine wichtige Orientierung verschafft. Bei Fromm haben mich immer seine humanistischen Gedanken und die außerordentlich klare Sprache fasziniert. Mein Eindruck ist, dass seinem Schreiben die jahrzehntelange psychoanalytische Tätigkeit sowie eine Nähe zu den alltäglichen Themen und Konflikten der Menschen anzumerken ist. Mit Werken wie Haben oder Sein oder Die Kunst des Liebens, die moderne Klassiker sind, hat er weltweit unzählige Menschen erreicht. 5 Die geradezu polemisch geführte Debatte zwischen Fromm und Marcuse über die Rezeption der Triebtheorie, die vor allem in der Zeitschrift Dissent ausgefochten wurde, ist als »Dissent-Debatte« in die Annalen der Kritischen Theorie eingegangen.

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2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

menspiel von Subjekt und Gesellschaft nur auf mystifizierende Begriffe zu bringen vermag, aber er versucht, dieses Dilemma durch eine gesellschaftstheoretische Lesart zu überwinden und auf diese Weise den kritischen Stachel der Psychoanalyse zu retten. In seinem großen Freud-Buch Triebstruktur und Gesellschaft von 1955 pflichtet er Freud zunächst bei, wenn dieser in »Das Unbehagen in der Kultur« feststellt, dass die Kulturentwicklung den Menschen die Sublimierung ihrer Triebe und die Unterwerfung unter das Realitätsprinzip abverlangt (Marcuse 1987). Wenn Freud aber prophezeit, dass die Kulturentwicklung unweigerlich in der Barbarei münden muss, weil jede Sublimierung eine Reduktion des Lebenstriebes und ein Anwachsen der destruktiven Energien bewirke, widerspricht Marcuse vehement, indem er zwischen einer »notwendigen Unterdrückung« im Rahmen der historischen Produktivkraftentwicklung und einer »zusätzlichen Unterdrückung« im Rahmen des herrschenden Realitätsprinzips differenziert (ebd., S.  40). Die notwendige Unterdrückung bringt dabei die Mühsal der Menschen zu ihrer gesellschaftlichen Reproduktion gemäß der verfügbaren Produktivkräfte zum Ausdruck. Die zusätzliche Unterdrückung hingegen bürdet einer Mehrheit der Menschen im Zeichen von gesellschaftlicher Ungleichheit und Ausbeutung eine, gesamtgesellschaftlich betrachtet, irrationale Mehrarbeit und Einschränkung lustvoller Bestrebungen auf (ebd., S. 129). Der eindimensionale Mensch

Die zusätzliche Unterdrückung im »Spätkapitalismus« der westlichen Gesellschaften der 1950er und 1960er Jahre unterzieht Marcuse dann in seinem Werk Der eindimensionale Mensch von 1964 einer scharfen Analyse (Marcuse 1970). Ausgehend von der Marx’schen Theorie zeichnet er das Bild einer zunehmend durchkapitalisierten, »eindimensionalen Gesellschaft«. Einerseits schreitet die kulturindustrielle Kommerzialisierung der Haushalte und Freizeit voran, mit der Folge, dass nahezu alle Bedürfnisse nunmehr warenförmig ausgerichtet und gestillt werden können. Die im Konsum möglichen Triebdurchbrüche bezeichnet Marcuse als »repressive Entsublimierung«, die selbst das Aufflackern von Lust und Widerstand warenförmig kanalisiert und privatistisch einhegt. Andererseits sind die Menschen weiterhin gezwungen, ihre Arbeitskraft in mehr oder minder sinnentleerter Lohnarbeit zu verkaufen, um wenigstens die im Konsum mögliche Bedürfnisbefriedigung zu erheischen (ebd., S. 92ff.) – und dies, 83

2 Subjektivität und Gesellschaft

obgleich der Stand der Produktivkräfte mit seinen Automatisierungs- und Rationalisierungspotenzialen Arbeit massiv zu reduzieren erlauben würde. Auf diese Weise werden die Menschen insgesamt ebenso libidinös wie aggressiv an die Warenform gebunden, sie sind einem »Leistungsprinzip« unterworfen, das Marcuse als historisch-spezifische Form zusätzlicher Unterdrückung begreift. Versuch über die Befreiung

Infolge dieser Totalisierung des Tauschprinzips innerhalb der eindimensionalen Gesellschaft vermag Marcuse keine bestimmte gesellschaftliche Klasse, wie etwa das Proletariat bei Marx, als befreiende Kraft zu identifizieren. Stattdessen rückt er die Subjektivität selbst in den emanzipatorischen Blick, weil er dort die widerspenstigen Potenziale der Triebnatur des Menschen verortet. Selbst im Aggressionstrieb komme demnach nicht etwa Destruktionslust, sondern der Drang nach Abwesenheit von Leid zum Ausdruck (Marcuse 1987, S. 231). Aber besonders dem Eros traut Marcuse in seinem »Versuch über die Befreiung« von 1969 zu, gegen das Leistungsprinzip, gegen die herrschende instrumentelle Vernunft eine Haltung der »Großen Weigerung«, eine »Neue Sensibilität« und eine »libidinöse Moral« in Anschlag zu bringen, um die Erotisierung aller Lebensbereiche zu verwirklichen (Marcuse 1984, S. 250). Kritik

Dieser emphatische Überschwang Marcuses war immer auch als Zeichen der Solidarität mit Protestbewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Revolte von 1968, der zweiten Frauenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen gemeint. Dennoch ist in Marcuses Ansatz ein ebenso theoretischer wie politischer Widerspruch eingeschrieben. Es ist der Widerspruch zwischen der Annahme der Totalisierung des Tauschprinzips, das bis in die Triebstruktur der Menschen im Sinne des Leistungsprinzips destruktiv hineinreicht, und der Stilisierung des Eros als einer transhistorischen Kraft, die zur Befreiung hindrängt, obwohl auch sie der proklamierten Eindimensionalität anheimfallen müsste.6 6 Bei Marcuse haben mich immer seine großangelegten Analysen und seine kämpferische Emphase begeistert. Etwas verdeckt durch diese Emphase finden sich in seinem Werk

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2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

2.3.3 Theodor W. Adorno Die Dialektik der Aufklärung

Adorno teilt Marcuses Einschätzung, dass der Spätkapitalismus eine Epoche bildet, die dazu neigt »totalitär zu sein, selbst wo sie keine totalitären Staaten hervorgebracht hat« (Marcuse 1987, S. 7). Doch gerade deshalb weigert er sich, Marcuse in dessen erotischem Enthusiasmus zu folgen. Vielmehr geht er schon 1944 in der »Dialektik der Aufklärung«, gemeinsam mit Max Horkheimer, davon aus, dass sich die Menschen im Zuge von Aufklärung, Industrialisierung und Aufblühen der Naturwissenschaften zwar von den Zwängen äußerer Natur befreien, sich als rationale und selbsttätige Subjekte konstituieren und sich mit ihren wachsenden instrumentellen Fähigkeiten die Natur sukzessive dienstbar machen (Horkheimer/Adorno 1947). Zugleich aber fällt diese Freiheit als Herrschaft auf die Menschen zurück, weil sie selbst Teil der Natur sind und nur mehr einen instrumentalistischen Umgang mit sich, ihren Mitmenschen und ihrer Welt zu praktizieren vermögen. Terry Eagleton beschreibt diesen Vorgang in eindringlichen Worten: »Das Subjekt, das seine innere Natur im Namen seiner Unabhängigkeit unterdrückt, würgt eben die Spontaneität ab, die sein Bruch mit der Natur angeblich freigesetzt hat – so dass das Ergebnis der anstrengenden Mühsal der Individuation in einer Unterminierung des Ich von innen heraus besteht, bei der das Selbst nach und nach in leere mechanische Konformität verfällt« (1994, S. 358).

Eine tiefe Kluft tut sich auf – zwischen den zunehmenden gesellschaftlichen Normierungen der Subjektivität in der Fabrik, der Verwaltung, der Politik, der Familie und immer weiteren Lebensbereichen einerseits und dem Bereich des Abweichenden, Spontanen, Sinnlichen, Verdrängten andererseits, all jenem also, was mit der berechnenden, instrumentellen Vernunft bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften »nichtidentisch« (Adorno). Besonaber immer wieder auch leisere, poetische Töne jenseits der Triebtheorie, wenn er etwa in Rekurs auf Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit darauf hofft, dass lebensgeschichtlich entstandene und gesellschaftlich tabuisierte Wünsche rekonstruiert und reintegriert werden können (1975; 1984; 1987).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

ders tief ist diese Kluft im Spätkapitalismus, weil die Gesellschaft nun beherrscht ist vom Warentausch, vom Geld als sich unendlich vermehrendem Signifikanten, mit dem jede Tätigkeit, jeder Gegenstand taxiert werden kann. Damit aber bringt die spätkapitalistische Gesellschaft alle Vielfalt zum Verschwinden und macht »Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 18). In einer Vorlesung aus dem Jahr 1965 führt Adorno weiter aus: »Der totale Zusammenhang hat die Gestalt, daß alle dem Tauschgesetz sich unterwerfen müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, gleichgültig, ob sie subjektiv von einem ›Profitinteresse‹ geleitet werden oder nicht« (Adorno 2003, S. 14). Gesellschaft, Kultur und Familie

Adorno geht davon aus, dass sich bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften durch eine besondere Kälte auszeichnen, eine Kälte, die aus der gesellschaftlich vermittelten Isolation und Konkurrenz der Subjekte resultiert. Im Nationalsozialismus kam es somit auf mörderische Weise zu einem »Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können.  […] Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass nur ganz wenige sich regten« (1971, S. 101).

Diese Kälte ist nun mit dem Nationalsozialismus nicht verschwunden, sie lebt fort in der Vereinzelung der Menschen und wird immer wieder gekontert durch einen Nationalismus, der »im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke an sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muss, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell« (ebd., S. 103). Im Spätkapitalismus gesellt sich zu diesem Nationalismus mit seinen Ritualen eine wachsende Kulturindustrie, die noch jedes offene Bedürfnis warenförmig zu stillen trachtet – gemeinsam bieten sich Nationalismus und kulturindustrielle Waren dafür an, die Menschen affektiv an die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu binden. Die Subjekte schließlich sind wegen der Bedingungen der familialen Sozialisation dazu genötigt, diese affektiven Bindungen auch einzugehen. 86

2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

Einerseits sind die elterlichen Autoritäten infolge der Anonymisierung gesellschaftlicher Mächte längst geschwächt, andererseits bestehen repressive Erziehungsweisen fort, die sich in der psychischen Realität der Heranwachsenden autoritaristisch niederschlagen.7 Deshalb spielen unzählige Erwachsene den Erwachsenen, »der sie nie ganz geworden sind, [und] müssen […] ihre Identifikation mit solchen Vorbildern womöglich auch noch überspielen, übertreiben, sich in die Brust werfen, mit Erwachsenenstimmen daherreden, nur um die Rolle, die ihnen selber eigentlich misslungen ist, sich und anderen glaubhaft zu machen« (ebd., S. 142).

Sie leiden noch immer unter einer Ich-Schwäche, einer Ohnmacht, die dann durch den konformistischen Konsum kulturindustrieller Waren, durch die Rede von Autorität und nationaler Bindung und durch Aggression gegen all jene Gruppen, die gesellschaftlich als nonkonform oder gar gefährlich gelten, in magische Omnipotenz verwandelt werden kann. Letztendlich schreibt sich die warenförmige Totalität, gepaart mit Nationalismus und Repression, destruktiv in die Menschen ein. »Individuum und Gesellschaft werden eines, indem die Gesellschaft in die Menschen unterhalb ihrer Individuation einbricht und diese verhindert. Dass aber diese Einheit keine höhere Gestalt der Subjekte sei, sondern sie auf ein archaisches Stadium zurückwirft, zeigt sich an der barbarischen Repression, die dabei ausgeübt wird. Die heraufdämmernde Identität ist nicht Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen, sondern das Allgemeine als Absolutes, in dem das Besondere verschwindet« (Adorno 1980, S. 183).

Das Nichtidentische als Hoffnungsschimmer

Im Rahmen dieser pessimistischen Analyse kann Adorno die Idee der Emanzipation nur ex negativo formulieren. Es ist die Idee einer Gleichheit, 7 Im Werk Studien zum autoritären Charakter sind die Ergebnisse einer umfänglichen Studie zusammengefasst, die Adorno gemeinsam mit Kolleg*innen in den 1940er Jahren in den USA durchgeführt hat. Ein wichtiges Ergebnis war, ähnlich wie in den Frankfurter Studien zu Autorität und Familie, die weite Verbreitung des autoritären Charakters, beziehungsweise des »autoritären Syndroms« (Adorno 1973, S. 322ff.).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

die die brutale Gleichmacherei des Tauschprinzips transzendiert und sich im Moment ihrer Verwirklichung in der Vielfalt des Verschiedenen auflösen kann; die Idee einer Subjektivität, die das Nichtidentische, das Sinnliche, das Unbewusste sowohl im eigenen Selbst als auch in dem aller Anderen anzuerkennen vermag; die Idee also der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem (Naumann 2000, S. 26). Unter den Bedingungen spätkapitalistischer Gesellschaftenn erblickt Adorno nur noch in der Philosophie und besonders der Kunst einen Ort, der die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem bewahrt, der sich dem allgegenwärtigen Tauschprinzip zu entziehen vermag und damit das Nichtidentische erfahrbar macht. »Einfach kraft ihrer Formen spricht die Kunst für das Kontingente, Sinnliche, Nichtidentische« (Eagleton 1994, S. 261), sie wirkt als Widerspruch zur zwanghaften Pathologie des alles identifizierenden Tauschprinzips und als »Statthalterin nicht-repressiver Naturverhältnisse« (Ritsert 1996, S. 105). Im schlechten Hier und Jetzt bleibt nach Adorno nichts anderes übrig, als die verschlüsselten Botschaften des Nichtidentischen als philosophische und künstlerische Flaschenpost zu verschicken.8 2.3.4 Resümee

Auch Adornos Konzeptualisierung des Verhältnisses von Subjektivität und Gesellschaft kann aus meiner Sicht die offenen Probleme in den Ansätzen Fromms und Marcuses nicht lösen  – weder gesellschafts- noch subjekttheoretisch. Alle drei Vertreter der klassischen Kritischen Theorie teilen 8 In seinem Text Erziehung nach Auschwitz (1966) wird sein ganzes Werk vom Impetus getragen, dass sich Auschwitz nie wiederhole, ebenso wie im Gespräch mit Hellmut Becker über Erziehung zur Mündigkeit (1969) hat Adorno durchaus praktischere Ideen zur Emanzipation formuliert, etwa im Hinblick auf Aufklärung über destruktive Prozesse, Bedingungen des Aufwachsens und Erziehung. Zu letzterer sagt er: »Ich würde, auf die Gefahr hin, dass Sie mich einen Philosophen schimpfen, der ich nun einmal bin, sagen, dass die Gestalt, in der Mündigkeit sich heute konkretisiert, die ja gar nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, weil sie an allen, aber wirklich an allen Stellen unseres Lebens überhaupt erst herzustellen wäre, dass also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin besteht, dass die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, dass die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist« (Adorno 1971, S. 145).

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2.3 Die klassische Kritische Theorie: Fromm, Marcuse und Adorno

weitgehend die Auffassung, dass die spätkapitalistische Gesellschaft durch die Totalisierung des Tauschprinzips ein tendenziell totalitäres Gebilde ist. Sicherlich greifen sie mit der Durchkapitalisierung eine wichtige und vorherrschende Tendenz der damaligen Gesellschaft auf, aber mit dieser Tendenz allein werden sie der Widersprüchlichkeit jener Gesellschaft, die heute als Fordismus bezeichnet wird, nicht gerecht.9 Schon die Durchkapitalisierung brachte, neben der warenförmigen Vereinzelung der Menschen, auch eine Befreiung von persönlichen und traditionellen Abhängigkeiten mit sich. Der Staat organisierte nicht nur Überwachung und Disziplinierung, sondern gewährte als Wohlfahrtsstaat auch ein Mindestmaß sozialer Sicherheit, die wiederum Spielräume für persönliche und politische Verständigungsprozesse eröffnete. Ideologisch war der Fordismus nicht nur von autoritärem Konformismus und Nationalismus geprägt, sondern auch von Individualismus und Egalitarismus, die sich etwa als soziale Bewegungen in der Zivilgesellschaft zeigten (Hirsch 1990, S. 102f.). Und selbst die Kulturindustrie brachte immer auch Waren hervor, etwa kritische Bücher oder Protestsongs, die Irritationen, überschreitende Erfahrungen oder gar die Kritik ihrer eigenen Warenförmigkeit auslösen konnten. Aus subjekttheoretischer Perspektive werden die inneren Widersprüche der Subjekte nicht angemessen gewürdigt, wenn der unterstellten warenförmigen Totalität und deren subjektivierender Wirkung recht unvermittelt ein befreiendes subjektives Prinzip entgegengestellt wird. Fromm hofft in seiner normativ-ethischen Rekonstruktion der menschlichen Natur auf die Möglichkeit »reifer Charaktere«, Marcuse stilisiert den Eros als Kraft, die im Bewusstsein neuer Sensibilität die Erotisierung aller Lebensbereiche ermöglichen wird, und Adorno glaubt, dass erst unter Maßgabe eines totalen Bruchs mit dem Tauschprinzip selbstidentische und über ihre Sinne frei verfügende Subjekte entstehen (Naumann 2000, S. 28). Die widersprüchlichen und vielfältigen Verarbeitungsweisen, mit denen die Subjekte ihre gesellschaftlichen Erfahrungen zu bewältigen suchen und die von Über9 Schon der Begriff Spätkapitalismus suggeriert eine gleichsam kausal begründete Entwicklungsabfolge kapitalistischer Gesellschaften. Mit dem Begriff des Fordismus hingegen wird eine Gesellschaftsformation bezeichnet, für die symbolisch die revolutionäre standardisierte Massenproduktion in den Automobilfabriken Henry Fords steht. Diese war etwa von den 1930er bis zu den 1960er Jahren vorherrschend, geriet in den 1970er Jahren in eine Strukturkrise und seit den 1980er Jahren lässt sich die Entwicklung hin zum Postfordismus beziehungsweise Neoliberalismus rekonstruieren. Diese Entwicklung wird im sechsten Abschnitt ausführlich nachgezeichnet.

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2 Subjektivität und Gesellschaft

anpassung über die Entwicklung psychischer Symptome bis hin zu kreativen emanzipatorischen Praktiken reichen können, werden so systematisch nicht fassbar. Doch trotz dieser gesellschafts- und subjekttheoretischen Grenzen bildet die Kritische Theorie mit ihrer Frage nach der Vergesellschaftung äußerer und innerer Natur unter dem Diktat der Warenform sowie der Empörung darüber, dass den Subjekten mögliches Glück, Individuation und Verbundenheit unter den herrschenden Verhältnissen versagt bleibt, fraglos einen wesentlichen Ausgangspunkt der kritischen Theorie des Subjekts.

2.4

Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Der Poststrukturalismus dekonstruiert starre, normative und deterministische Vorstellungen von Subjekt und Gesellschaft und kann damit auch die deterministischen Tendenzen in der Kritischen Theorie überwinden helfen. Sehr allgemein gesagt untersucht der Poststrukturalismus das Verhältnis von Sprache und sozialer Wirklichkeit. Er setzt dabei, schon begrifflich, an den Erkenntnissen des Strukturalismus an, der in westlichen Gesellschaften seine Blütezeit Mitte des 20. Jahrhunderts hatte. Der Strukturalismus geht davon aus, dass soziale Gruppen, Organisationen, Kulturen wie eine Sprache konstituiert sind. Sprache bildet demnach soziale Wirklichkeit nicht objektiv ab, sondern erzeugt und ordnet sie erst, einerseits durch die binäre Ordnung der Sprache, die Gegensatzpaare wie Mann/ Frau, Kultur/Natur oder Geist/Körper beinhaltet, andererseits durch die Formung des Signifikats, also des Bezeichneten, durch den Signifikanten, den Bezeichnenden. Während der Strukturalismus relativ stabile gesellschaftliche und subjektive Strukturen zu beschreiben und erklären sucht, setzt der Poststrukturalismus deutlich weitere Akzente.10 Er stellt die Binarität der Sprache aus machtkritischer Perspektive infrage, berücksichtigt 10 Hier deutet sich bereits an, dass Theorien sich auch mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen (weiter-)entwickeln. So kann der Strukturalismus als Ausdruck der relativ stabilen Verhältnisse in westlichen und sowjetischen Gesellschaften verstanden werden, während der Poststrukturalismus mit der besagten fordistischen Krise aufkam und sich in einem historischen Kontext entwickelte, der durch zunehmende Individualisierung und Pluralisierung beschrieben werden kann. Dazu später mehr.

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2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

dynamische Veränderungsprozesse im Hinblick auf Subjekt und Gesellschaft und untersucht nicht nur strukturale Subjektivierungsprozesse, sondern auch Handlungsmöglichkeiten der Subjekte, die aus der Dekonstruktion folgen können (vgl. Weik 2003, S. 45f.). Seit den 1970er Jahren hat der Poststrukturalismus großen Einfluss gewonnen, gegenwärtig etwa in den Gender und Queer Studies, den Postcolonial und Cultural Studies sowie in Disziplinen wie Psychologie, Pädagogik und Politologie. Ein zentrales theoretisches Werkzeug des Poststrukturalismus ist der Diskursbegriff. Diskurse entspringen der menschlichen Symbolisierungsfähigkeit, die es den Menschen erlaubt, ihre rein biologische Existenz bewusst zu überschreiten. Doch weil Diskurse aus einer historisch-gesellschaftlichen Praxis erwachsen, haben sie auch eine gesellschaftliche Funktion, die sich der bewussten Verfügung der Menschen zunächst entzieht. Sie liefern relevantes Wissen und Bedeutung, sie vermitteln den Menschen bestimmte Wahrnehmungsmuster, mit denen sie soziale Situationen und andere Menschen taxieren, sie tragen durch Ritualisierung zur Bildung von Institutionen bei, sie transportieren also Praxisdeutungen und Praxisanweisungen und gehen auf diese Weise als konstitutives Moment in die gesellschaftlichen Verhältnisse ein. In den Worten des Politwissenschaftlers Alex Demirovic: »Es handelt sich um einen offenen Prozeß der Bedeutungserzeugung, -zirkulation, -transformation und -verschiebung. Die Bedeutungen werden in diskursiven Auseinandersetzungen in der unendlichen Zahl alltäglicher Kommunikationen gebildet und miteinander zu kompakten semiologischen Formen verknüpft, die für die sozialen Akteure einen unhintergehbaren Sinnhorizont der von ihnen gelebten jeweiligen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft konstituieren« (1996, S. 100).

Daraus folgt, dass Diskurse kein abstraktes Zeichensystem sind, sondern sich an Praxis heften. Diskurse materialisieren sich in der Bedürfnisstruktur der Subjekte, sie materialisieren sich in konkreten Redeereignissen und sie materialisieren sich in gesellschaftlichen Institutionen – und dies alles mehr oder minder glücklich, mehr oder minder ausschließend (ebd., S. 93.). Die Subjekte sind letztlich gezwungen, ihre eigenen »Texte« diskursiv zu synchronisieren, um nicht aus der Gemeinschaft herauszufallen, und umgekehrt beschert diese Synchronisierung den Diskursen erst ihre Existenz in Form subjektiv gelebter Praxis (ebd., S. 103). 91

2 Subjektivität und Gesellschaft

Die poststrukturalistische Dekonstruktion von Diskursen zielt nun vor allem darauf, die Funktionsweise, Formen und Folgen diskursiver Prozesse bei der Konstituierung von Subjekt und Gesellschaft sichtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden drei prominente Vertreter*innen des Poststrukturalismus vorgestellt: Louis Althusser, Michel Foucault und Judith Butler. Im Fokus steht dabei die Frage, welche ihrer Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der kritischen Theorie des Subjekts beitragen können. 2.4.1 Louis Althusser

Die Arbeiten Althussers können insofern als Kritik an den Determinismen der Kritischen Theorie gelesen werden, als diese von der Totalität der Warenform und subjektiv verankerter Widerständigkeit ausgeht. Althusser stellt der Idee einer »expressiven Kausalität«, in der sich etwa die Warenform schicksalhaft durchsetzt oder Subjekte auf Befreiung hindrängen, sein Konzept der »strukturalen Kausalität« entgegen (Balibar 1994), das gesellschaftliche und subjektive Strukturen als historisch-spezifische und kontingente Gestalten einordnet. Mit dieser Haltung entwickelt er einerseits ein neues Verständnis des Marx’schen Basis-Überbau-Theorems und untersucht andererseits den Einfluss ideologischer Diskurse auf die Subjektbildung. Basis und Überbau als Artikulationsverhältnis

Nach Althusser lassen sich politische und ideologische Verhältnisse, also der Überbau, nicht einfach aus der ökonomischen Basis mit ihrer kapitalistischen Produktionsweise ableiten, vielmehr besitzen diese eine »relative Autonomie« und eigene Materialität, sie bilden erst die historisch-spezifischen Existenzbedingungen der Kapitalverwertung (Althusser 1973, S. 121). Die Kopplung des Ökonomischen mit den relativ autonomen Bereichen des Politischen und Ideologischen versteht somit nicht als von der ökonomischen Basis determiniert, sondern als Artikulationsverhältnis, als die spezifische Weise, wie Ökonomie, Politik und Ideologie diskursiv zum Ausdruck kommen. Stuart Hall erinnert in diesem Kontext daran, dass das Wort »articulated« im Englischen auch für einen »verkoppelten« (articulated) Lastwagen verwendet wird, »bei dem das Führerhaus mit einem 92

2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Anhänger verkoppelt sein kann, aber nicht muss«, und weiter: »Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist« (zit. nach Spies 2009). Daraus folgt, dass vielfältige eigenständige politische und ideologische Prozesse inklusive sozialer Auseinandersetzungen stattfinden, die sich nicht im Kapitalinteresse homogenisieren lassen und sogar für die Kapitalverwertung insgesamt gefährlich werden können (Demirovic 1994, S. 90f.). Für diese wechselseitige Beeinflussung hat Althusser den Begriff der Überdetermination aufgegriffen, das heißt, dass verschiedene Kämpfe, Widersprüche, Diskurse aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen an einen bestimmten Bereich, wie etwa der Ökonomie, verschoben und dort gleichsam energetisch verdichten werden, sodass sogar eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Strukturen möglich wird.11 Zwar verfügt die ökonomische Basis über eine besondere überdeterminierende Wirkmacht, da sie schlicht das materielle Überleben der Menschen begründet. Aber Althusser schreibt bereits 1968, »dass die ökonomische Dialektik nie im reinen Zustand sich geltend macht, dass man in der Geschichte nie sieht, dass die Instanzen, die Überbauten etc. sich respektvoll zurückziehen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben oder sich auflösen wie ihre reine Erscheinung, um auf dem königlichen Weg der Dialektik ihre Majestät die Ökonomie voranschreiten zu lassen, weil die Zeit gekommen wäre. Die einsame Stunde der ›letzten Instanz‹ schlägt nie, weder im ersten, noch im letzten Augenblick« (Althusser 2011, S. 139). 11 Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass Althusser ein aufmerksamer Rezipient der Psychoanalyse war, insbesondere von Lacans und Freuds Schriften. Bei Freud meint Überdetermination die unbewusste Verschiebung verschiedener Vorstellungen auf einen bestimmten symbolischen Knotenpunkt, an dem sie sich verdichten, beispielsweise im Traum oder im psychischen Symptom – die Angst vor einem bestimmten Objekt im Traum oder die tatsächliche Angststörung etwa speisen sich aus diversen unbewussten Wünschen und Motiven. Dazu ein relativ einfaches Beispiel für die Überdetermination auf dem gesellschaftlichen Feld: Wenn die politisch und ideologisch eingehegte Gleichheit durch krisenhafte Prozesse brüchig wird, und wenn von erstarkenden sozialen Bewegungen eine radikale Verwirklichung dieses Versprechens eingefordert wird, kann dies zur Verschiebung und Verdichtung von Gleichheitsforderungen in der Ökonomie führen.

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2 Subjektivität und Gesellschaft

Ideologie und Subjekt

Diese Absage an ökonomistische Gesellschaftsmodelle eröffnet Althusser auch einen neuen Blick auf die Verknüpfung von Ideologie und Subjektbildung. Wenn er betont, dass sich Gesellschaft nur als historisch-spezifische Konfiguration von ökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnissen bestimmen lässt, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, auch das Ideologische als relativ autonomen gesellschaftlichen Teilbereich zu analysieren. Dabei kann Ideologie theorieimmanent nicht als ideelle Folgeerscheinung der ökonomischen Basis, nicht als falsches Bewusstsein, verstanden werden, sondern verlangt nach einer angemessenen Ideologietheorie (Demirovic 1994, S. 92). Eine solche Theorie entwirft Althusser 1971 in seiner Skizze Ideologie und ideologische Staatsapparate (in Althusser 1973), gleichzeitig gewinnt hier auch sein Subjektbegriff Kontur. Grundsätzlich geht Althusser davon aus, dass Subjekte keine der Ideologie vorgängige Substanz besitzen, sondern erst durch bestimmte Signifikanten (heute würde man vielleicht eher von Diskursen sprechen) erzeugt werden und diesen eine spezifische Materialität verleihen. In einer wunderbar paradoxen Formulierung sagt Althusser, dass »der Mensch von Natur aus ein ideologisches Tier ist« (ebd., S. 157) – es gibt kein Subjekt ohne Ideologie und keine Ideologie ohne Subjekt; eben das, was den Menschen vom Tier unterscheidet ist gleichsam seine Natur. Eine besondere ideologische Funktion haben dabei die sogenannten Staatsapparate. Diese umfassen einerseits den repressiven Staatsapparat mit der Regierung, der Gesetzgebung, den Gerichten, der Polizei und der Verwaltung, und andererseits die ideologischen Staatsapparate, die von politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und medialen bis hin zu schulischen und familiären Institutionen reichen (ebd., S. 122ff.). Vor allem die ideologischen Staatsapparate erzeugen und strukturieren die alltäglich gelebte Praxis der Subjekte über wiederkehrende Rituale und Konventionen. Die damit verbundenen Ideen, an die ein Subjekt glaubt, haben also eine materielle Existenz, »insofern seine Ideen seine materiellen Handlungen sind, die sich einfügen in materielle Praktiken, welche durch materielle Rituale geregelt werden. Diese Rituale werden ihrerseits bestimmt durch den materiellen ideologischen Apparat, vom dem die Ideen des betreffenden Subjekts abhängen« (ebd., S. 154).

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2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Ihre ideologische Note erhalten diese Ideen, indem die Individuen in ihrer institutionellen Praxis als freie Subjekte »angerufen« werden (ebd., S. 156f.). Im Bereich des repressiven Staatsapparats zielt die Anrufung eher auf Disziplinierung von Verhalten, das der Gesetzesübertretung verdächtig ist. »Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: ›He, Sie da!‹« (ebd., S. 160). Doch besonders in den ideologischen Staatsapparaten wird die Anrufung als freie Subjekte wirkmächtig, weil sie sich als solche in der alltäglichen intersubjektiven und institutionellen Praxis wiedererkennen.12 Sie vermeinen eben jene Verhältnisse zu erschaffen, die ihnen nicht nur historisch vorausgesetzt sind, sondern die die Subjekte als ideologischen Effekt erst hervorbringen.13 Infolge dieser Selbstverkennung 12 Für dieses Wiedererkennen wählt Althusser unter anderen folgendes Beispiel: »Wenn wir auf der Straße jemandem begegnen, den wir (wieder-)erkennen, so geben wir ihm ein Zeichen, daß wir ihn wiedererkannt haben (und daß wir gesehen haben, daß er uns wiedererkannt hat), indem wir ihm ›Guten Tag, mein Lieber‹ sagen und ihm die Hand schütteln (die zumindest in Frankreich übliche materielle rituelle Praxis des ideologischen Wiedererkennens im Alltag; in anderen Ländern herrschen andere Rituale« (Althusser 1973, S. 158). 13 Aufgrund dieser Subjektvorstellung sind laut Althusser die Begriffe Individuum und Subjekt nicht mehr trennbar. Um diesen Gedanken sowie Althussers eigenwillige Anlehnung an Freud und seinen Sound erfahrbar zu machen, hier ein längeres Zitat: »Daß ein Individuum immer-schon, selbst vor seiner Geburt, ein Subjekt ist, ist nichts weiter als die einfache, für jeden überprüfbare Wirklichkeit und keinesfalls paradox. Daß die Individuen bezogen auf die Subjekte, die sie immer-schon sind, immer ›abstrakt‹ sind, hat Freud gezeigt, indem er darauf hinwies, mit welch einem ideologischen Ritual die Erwartung einer ›Geburt‹, dieses ›freudige Ereignis‹, umgeben ist. Jeder weiß, wie sehr und wie die Geburt eines Kindes erwartet wird. Mit anderen sehr prosaischen Worten (wenn wir uns darauf einigen, ›Gefühle‹ beiseite zu lassen, d. h. die Formen der familiären Ideologie, sei sie nun väterlich, mütterlich, die der Ehepartner oder brüderlich, in denen die Ankunft eines Kindes erwartet wird): Es steht von vornherein fest, daß es den Namen des Vaters tragen wird und damit eine Identität besitzt und durch niemand anderen zu ersetzen sein wird. Bevor das Kind also überhaupt geboren ist, ist es immer-schon Subjekt, dazu bestimmt in und durch die spezifische familiäre ideologische Konfiguration, in der es nach der Zeugung ›erwartet‹ wird. Es versteht sich von selbst, daß bei aller Einmaligkeit diese familiäre, ideologische Konfiguration eine feste Struktur besitzt und daß in dieser unerbittlichen, mehr oder weniger ›pathologischen‹ Struktur (vorausgesetzt dieser Begriff habe einen definierbaren Sinn) das ehemalige zukünftige Subjekt (l’ancien futur-sujet) ›seinen‹ Platz ›finden‹ muß, d. h. zu dem geschlechtlichen Subjekt (Junge oder Mädchen) werden muß, das es bereits von vornherein gewesen ist. Man

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2 Subjektivität und Gesellschaft

als schöpferische und freie Subjekte entwickeln sie letztlich ein imaginäres Verhältnis zu ihren realen Existenzgrundlagen – sie unterwerfen sich als freie Subjekte freiwillig den kapitalistischen Produktionsverhältnissen (ebd., S. 169). Kritik

Aus meiner Sicht ist der Ansatz Althussers eigentümlich sperrig, widersprüchlich und herausfordernd. Im Hinblick auf die Gesellschaft öffnet das Konzept des Artikulationsverhältnisses von Ökonomie, Politik und Ideologie ebenso wie der Begriff der Überdetermination einen neuen Denkraum zum Verstehen gesellschaftlicher Funktions- und Transformationsprozesse. Auf der anderen Seite wird das Subjekt bei Althusser so restlos durch ideologische Praktiken bestimmt, ja konstituiert, dass die freiwillige Selbstunterwerfung als einzig verfügbare Option erscheint. So ist es wohl nicht verwunderlich, dass Althusser seine Emanzipationshoffnung letztlich wieder auf die Arbeiterklasse richtete, vielleicht als Mitglied der damals moskauorientierten Kommunistischen Partei Frankreichs oder schlicht, um ungelöste theoretische Probleme zu überdecken – jedenfalls müssten ja auch die ideologischen Staatsapparate der kommunistischen Partei die besagten ideologischen Subjektbildungen erzeugen (Sablowski 1994; Böke 1994). Althusser kann mit dem Begriff der ideologischen Staatsapparate nicht differenzieren zwischen Institutionen, die den Status quo ideologisch aufrechterhalten und solchen, die ihn zu verändern trachten (Eagleton 1994, S. 398). Und auch die widersprüchliche Subjektanrufung mit ihren offenen Verarbeitungsweisen durch die Subjekte kann er nicht erfassen, ganz zu schweigen von der fehlenden Vorstellung subjektiven Leids und subjektiver Widerständigkeit (Fraser 1994).14 Gleichwohl gibt Althusser vielfältige Anregungen zum Weiterdenken. Diese beziehen sich auf die bereits angesprochene Möglichkeit, mit den Bewird begreifen, daß dieser Zwang und diese ideologische Vorausfestlegung sowie alle Rituale der Aufzucht und später der Erziehung in der Familie im Zusammenhang stehen mit den Studien Freuds über die Formen der prägenitalen und genitalen ›Phasen‹ der Sexualität, also über den ›Eingriff‹ dessen, was Freud vermittels seiner Auswirkungen als das Unbewußte entdeckt hat« (Althusser 1973, S. 162f.). 14 An diesem Punkt wird auch spürbar, dass Althusser historisch und begrifflich dem strukturalistischen Denken deutlich näher ist als Foucault und Butler.

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2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

griffen Artikulation und Überdetermination ökonomische, politische und ideologische Verhältnisse als sich historisch verändernde und veränderbare Konfigurationen zu denken. Und subjekttheoretisch hat die Vorstellung der Subjekte als Ausdruck der Praktiken in den ideologischen Staatsapparaten unbestreitbaren Wert, weil sie verdeutlicht, dass die herrschenden Institutionen und Diskurse die grundlegenden Wahrnehmungs-, Sprach- und Handlungsmuster der Menschen bedeutsam mitprägen. Daran anknüpfend könnte es lohnend sein, die Eigenlogik von Subjektivierungsprozessen weiter auszuloten und das Subjekt, wie schon eingangs gefordert, als ebenso überdeterminiert wie als überdeterminierend zu begreifen. 2.4.2 Michel Foucault Macht und Diskurs

Michel Foucault hat den Ansatz seines Mentors und späteren Freundes Louis Althusser auf innovative Weise aufgegriffen und zu einer Theorie weiterentwickelt, die bis heute breit rezipiert wird. Er entledigt sich der von Marx geprägten Terminologie von Basis und Überbau und entwickelt einen Machtbegriff, der Macht weniger als institutionalisierte Zwangsgewalt versteht, sondern vielmehr als eine allgegenwärtige Kraft, die kapillar noch jeden Winkel des Alltags durchdringt und sich selbst im Inneren der Subjekte und durch deren willentliche Selbsttätigkeit hindurch entfaltet (Foucault 1991a, S. 114f.). Insbesondere über Diskurse, über normalisierende symbolische Praktiken, konstituiert die Macht die Individuen bis in ihr körperliches Begehren hinein als sinnhafte und sinnstiftende Subjekte mit historisch-spezifischen Verhaltensdispositiven (ebd., S. 168). Auf diese Weise werden subjektive lebendige Körper konstruiert, die wiederum im Rahmen eines sozialen Körpers über Bevölkerungspolitiken zusammengefasst, vereinheitlicht und reguliert werden können (ebd., S. 173). Bio-Macht

Die Gestalten der Macht, die Formen der Subjektivierung und die Verhaltensdispositive verändern sich allerdings im Laufe der Geschichte. So stand in den Feudalgesellschaften die Macht des Souveräns, »sterben zu machen oder leben zu lassen« (Foucault) im Zentrum – entsprechend richteten 97

2 Subjektivität und Gesellschaft

sich soziale Kämpfe gegen Herrschaft; in den sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaften zielte die Macht insbesondere auf die Nutzbarmachung des menschlichen Körpers als Arbeitskraft – demgemäß richteten sich die Kämpfe vornehmlich gegen Ausbeutung; und in der Gegenwart breitet sich eine Bio-Macht aus, die vor allem die Produktivität des Subjekts mit all seinen Regungen steigern will, wodurch sich die Kämpfe vor allem um widerspenstige Formen der Subjektivität drehen (Seibert 2018). Die vormals vorherrschenden Machtformen sind damit allerdings nicht verschwunden. So ist unter der Ägide der Bio-Macht insbesondere der »Rassismus die Bedingung für die Ausübung des Rechts auf Tötung. Wenn die Normalisierungsmacht das alte souveräne Recht zu töten ausüben möchte, muss sie sich des Rassismus bedienen. Und wenn umgekehrt eine Souveränitätsmacht, das heißt eine Macht, die das Recht über Leben und Tod innehat, mit den Instrumenten, Mechanismen, der Technologie der Normalisierung funktionieren will, dann muss sie sich ebenfalls des Rassismus bedienen. Selbstverständlich verstehe ich unter Tötung nicht den direkten Mord, sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes auszusetzen, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. zu erhöhen« (Foucault 1999, S. 297).

Und auch die Disziplinarmacht wird weiterhin ausgeübt. Hier geht es darum, »das Lebende in einen Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren. Eine solche Macht muss eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich in einem Ausbruch zu manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet« (Foucault 1991a, S. 139).

Vorherrschend in der Gegenwart ist dennoch die Bio-Macht, die im Gegensatz zu den anderen Machtformen nicht repressiv auf den Menschen lastet, sondern Subjekte erzeugt, denen ihr Fühlen, Denken und Handeln, ihre Autonomie, ihre Lust als ihr zutiefst Eigenes erscheint, und die als solche Subjekte im sozialen Körper produktiv gemacht und zusammengefasst werden. Foucault führt aus: 98

2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

»Der Grund dafür, daß Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht, und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht« (Foucault 1978, S. 35).

Besonders wirksam ist dabei das Sexualitätsdispositiv, also all jene Diskurse und Praktiken, die Sexualität als gleichsam tiefste Wahrheit der Subjekte zugleich erzeugen und naturalisieren. Auf diese Weise öffnet das Sexualitätsdispositiv ebenso wie weitere Dispositive, die unmittelbar auf das Leben zielen, wie etwa das Gesundheitsdispositiv, der Bio-Macht den Zugang zum Körper der Subjekte. Biopolitik kann so die Biologisierung des Politischen, eine »politische Technologie des Lebens« betreiben, die die Subjekte als »Technologien des Selbst« in alltägliche Praxis (beispielsweise Sexualität, Ernährung, Fitness etc.) übersetzen und dabei vermeinen, es wäre ihre eigene Wahl (Foucault 1991a, S. 173; Seibert 1996, S. 116). Letztlich entsteht eine »Gouvernementalität«, indem die Subjekte die biopolitisch vermittelten Prinzipien guten Regierens als selbstverständliche und grundlegende Aspekte ihrer Subjektivität in sich aufnehmen (Lemke 2001, S. 109). Die Gefahren des Diskurses

Aus dieser Analyse der Macht zieht Foucault weitreichende politische Konsequenzen, die sich vor allem aus der produktiven Wirkung der Bio-Macht ergeben. Wenn die Bio-Macht kapillar bis in alle Bereiche des Alltags hineinreicht und die Subjekte bis in ihre Körperlichkeit hinein konstituiert, kommen keine Politiken der Befreiung des Subjekts aus gewaltvollen Zwangsverhältnissen infrage, keine großangelegten Politiken, die auf die Abschaffung etwa staatlicher oder ökonomischer Macht zielen, weil diese schlicht am produktiven und allgegenwärtigen Charakter der Macht vorbeiagieren (Fraser 1994, S. 41). Vielmehr müssen sich Politiken gegen die Macht an den Öffnungen und Bruchstellen orientieren, die zwangsläufig aus der Funktionsweise der Macht resultieren. Denn die diskursive Vermittlung von Dispositiven, Verboten, Aufrufen, Praktiken beschwört unweigerlich die »Gefahren des Diskurses« herauf, bringt das Verbotene, Nichtgesagte, 99

2 Subjektivität und Gesellschaft

Nichtpraktizierte ins Spiel und provoziert somit andere, vielleicht sogar widerständige Symbolisierungen und Praktiken (Foucault 1991b, S. 11). Foucault bleibt zwar seinem machtbewehrten Pessimismus treu, wenn er schreibt: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen« (ebd., S. 10f.).

Gleichwohl glaubt er an die Möglichkeit und Notwendigkeit von Widerstand, aber eher als Differenz zu den machtvollen Setzungen und sicher nicht mit revolutionärem Pathos: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.  […] Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsam, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromißbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können« (Foucault 1991a, S. 96).

Trotz dieser bescheidenen und fast disparat wirkenden Einschätzung widerständiger Praktiken weiß Foucault, dass auch der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung wichtig bleibt (Seibert 2018). Im Hinblick auf die subjektivierende Wirkung der Bio-Macht aber betont er die minoritäre, partikulare und alltägliche Mikropolitik, mit dem Ziel, eine Vielzahl autonomer Existenzen zu schaffen, die ihr Leben, einem Kunstwerk gleich, als »Ästhetik der Existenz« in der Differenz zur Macht zu gestalten. Möglich erscheint dies, weil die Subjekte eben als freie Subjekte konstituiert sind und das Feld der Möglichkeiten jenseits der diskursiven Setzungen erproben können – letztlich ist das Subjekt bei Foucault, und hier geht er deutlich über Althusser hinaus, nicht »nur als Ort der Unterwerfung zu verstehen, sondern muss auch als Ort der Widerständigkeit begriffen werden« (Spies 2009). 100

2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Kritik

Es scheint, als wollte Foucault mit der »Ästhetik der Existenz« eine subjektive Handlungsfähigkeit restituieren, die er zuvor mit seiner monistisch anmutenden Vorstellung der Macht als kassiert erklärt hat (Naumann 2000, S. 36).15 Mich erinnert dies, bei aller Unterschiedlichkeit der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft, an die Problematik der klassischen Kritischen Theorie. Der Idee totaler warenförmiger Vergesellschaftung wurde in der Kritischen Theorie die prinzipielle Widerspenstigkeit des Subjekts entgegengestellt. Und bei Foucault wird der Omnipräsenz der Macht gegenüber die Potenzialität subjektiver Widerständigkeit in der prinzipiellen Differenz zur Macht betont – so als könnte die Produktivität der Macht im Subjekt nachgebildet und gegen sie gewendet werden (Eagleton 1994, S. 405). Die Widersprüche zwischen ermächtigenden und einschränkenden Institutionen, die Vielfalt und Ungleichzeitigkeit von Diskursen, die diversen psychischen Verarbeitungsweisen institutioneller und diskursiver Erfahrungen können somit theoretisch nicht differenziert fassbar gemacht werden – weder in der Kritischen Theorie noch bei Foucault. Bei letzterem kommt hinzu, dass er keine Begriffe für das Leiden der Subjekte und ihre überschreitenden Wünsche zur Verfügung hat, die ihren widerständigen Handlungsdrang begründen könnten. Foucaults Werk und Wirken hat eine unglaublich breite Resonanz hervorgerufen, in wissenschaftlichen Diskussionen ebenso wie in politischen Bewegungen  – er selbst hat sich immer wieder sehr bewusst und seiner Verantwortung gewahr in dieses Getümmel begeben (Seibert 2018). Was bleibt ist allemal die Sensibilisierung für die Effekte der Bio-Macht, ihre intersektionale Verknüpfung mit Herrschaft und Ausbeutung sowie die Verfeinerung der Erkenntnisse zur Subjektivierung und Gouvernementalität – gerade in Zeiten, in denen die Feier von subjektiver Freiheit, Fitness und Flexibilität Konjunktur hat. Für mich bleibt jedoch die offene Frage, ob der Poststrukturalismus ohne eine Theorie der unterschiedlichen Eigen15 In einer zugegeben recht groben psychodynamischen Deutung könnte man die Vorstellung einer produktiven, omnipräsenten und subjekterzeugenden Macht als existenzielle narzisstische Kränkung verstehen, die durch die Behauptung existenzieller subjektiver Lebenskunst kompensiert werden muss – der hohe Preis für diese Kompensation wäre freilich die Verleugnung realer Abhängigkeiten in erotischen, intersubjektiven und institutionellen Beziehungen (Naumann 2000, S. 38; Anselm 1994, S. 121).

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logik von Subjekt und Gesellschaft auskommen kann, und umgekehrt, inwiefern die Diskursivität von Subjekt und Gesellschaft in einer kritischen Theorie des Subjekts berücksichtigt werden muss. 2.4.3 Judith Butler

Seit Erscheinen ihres Werks Gender Trouble im Jahr 1990 hat Judith Butler zahllose theoretische Debatten und politische Bewegungen beeinflusst.16 Sie gilt als maßgebliche Stimme in den Gender und Queer Studies und sie hat wesentlich zur Entwicklung eines poststrukturalistischen Feminismus beigetragen, der im Unterschied zum Differenzfeminismus der 1960er und 1970er Jahre nicht von zwei unterscheidbaren, sondern von einer Vielfalt von Geschlechtern sowie Differenzen innerhalb eines Geschlechts ausgeht. Insgesamt werden die Arbeiten Butlers in den Sozialwissenschaften, der Philosophie und zunehmend auch in der Psychoanalyse rege rezipiert. Verwerfungen

Butler betont die Doppelbedeutung des Subjektbegriffs, wenn sie Subjektbildung immer als Prozess der Unterwerfung und der Ermächtigung, der »Subjection« und der Subjectivation« versteht (Butler 1993, S. 40). Ihre Texte lassen sich als Versuch lesen, Unterwerfungen kritisch zu analysieren und Ermächtigungschancen auszuloten, dabei die potenzielle Vielfalt der Subjektbildung zu berücksichtigen und den Begriff eines Leidens zu entwickeln, das durch diskursive Vereindeutigung der Subjekte entsteht. In diesem Sinne ersetzt sie den monistischen Machtbegriff Foucaults durch die Vorstellung eines »Gesetzes« (in Anlehnung an Lacan), das bestimmte Subjektformen als Resultat und gleichsam als Schnittpunkt von hegemonialen Diskursen hervorbringt. Diese Subjektformen werden ermöglicht durch die performative, diskursiv transportierte, geregelte und restringierte Subjektivierung gesellschaftlich herrschender Normen (Butler 1994, S. 103). Das Symbolische fungiert dabei als Vehikel, auf dem das Gesetz die Subjektkonstitution befördert, »es besteht aus einer Serie von Forderungen, Tabus, Sanktionen, Einschärfungen, Verboten, unmöglichen 16 Die deutschsprachige Ausgabe erschien bereits 1991 unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter – eine klare Anspielung auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur.

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2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Idealisierungen und Drohungen – performativen Sprechakten […] mit der Macht, subjektivierende Wirkungen zu produzieren oder zu materialisieren« (Butler 1997, S. 154). Die entscheidende Differenz zu Foucault (und auch zu Althusser) besteht in der Annahme, dass die Subjekte nicht durch die eine Macht oder Ideologie hervorgebracht werden, sondern grundsätzlich vielfältig konstituiert sind und erst durch die Maßnahmen des Gesetzes eine »kohärente Identität« entwickeln. Im Prozess der Subjektivierung müssen all jene Identifizierungen verworfen und ausgeschlossen werden, die die Kohärenz im Sinne des Gesetzes infrage stellen (Butler 1994, S. 125/129). Mit diesem Begriff der Verwerfung bringt Butler die Psychoanalyse auf innovative Weise wieder ins Spiel und gewinnt begründbare Kategorien des Leidens und der Kritik.17 Denn »einem vielfach konstituierten Subjekt, wie es jedes Subjekt ist, eine ausschließliche Identifizierung vorzuschreiben bedeutet, eine Vereinseitigung und eine Lähmung zu erzwingen« (ebd., S. 133). Die innere Lähmung wird dann vom Zwang gekontert, die Figuren der Verwerflichkeit nach außen auf Subjekte zu projizieren, die als Bedrohung für die eigene Kohärenz bekämpft werden müssen (ebd., S. 129f.). Ich möchte solche Verwerfungen, Vereinseitigungen und Projektionen am Beispiel der Heteronormativität verdeutlichen, einem Feld, das von Butler intensiv analysiert wurde. Heteronormativität beruht auf der Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Hetero- und Homosexualität, sowie auf der Tabuisierung, Ausschließung, Diskriminierung oder gar Pathologisierung von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten, die aus hegemonialer Sicht als abweichend gelten. Am Beispiel der heteronormativ fixierten Geschlechtsidentität und Objektwahl lassen sich diese leidvollen Dynamiken zeigen. Nach Butler unterlegt eine strikte Aufgabe der gleichgeschlechtlichen Objektwahl die Geschlechtsidentität und das heterosexuelle Begehren potenziell mit einer Melancholie, mit einer verleugneten Trauer über all das, was in der geschlechtlichen und sexuellen 17 An anderer Stelle erklärt Butler ihr Verständnis von Verwerfung im Unterschied zur Verdrängung: »›Verwerfung‹ ist zur Lacanschen Begrifflichkeit für Freuds Konzept der ›Verdrängung‹ geworden. Im Unterschied zur Verdrängung, die als Handlung eines bereits geformten Subjekts verstanden wird, ist Verwerfung der Akt der Negierung, die das Subjekt selbst begründet und formt« (Butler 1995, S. 186). Möglicherweise lassen sich auch hier Verbindungen zur modernen Psychoanalyse herstellen, die nicht nur auf das dynamisch verdrängte Unbewusste, sondern auch auf das »prozedurale Unbewusste« achtet.

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Vereindeutigung verloren gegangen ist. In der Melancholie wird der starr heterosexuelle Mann gleichsam zu dem Mann, den er nie lieben oder dessen Verlust er nie betrauern konnte, zugleich begehrt er die Frau, die er niemals sein würde. Umgekehrt wird die starr heterosexuelle Frau zu der Frau, die sie nie lieben oder betrauern konnte, und sie begehrt den Mann, der sie niemals sein durfte (Butler 2001, S. 129ff.). All das dabei Verworfene, all jene in der Melancholie liegengeblieben Themen werden dann potenziell durch Verächtlichmachung und Diskriminierung an denjenigen agiert, die als anders gelten. Dies ist freilich kein Spezifikum einer starren heterosexuellen Identität. Butler verweist darauf, dass selbstverständlich auch homosexuelles Begehren, besonders in der Behauptung einer kohärenten homosexuellen Identität, melancholisch unterlegt sein kann, nämlich als Verwerfung heterosexuellen Begehrens und gegengeschlechtlicher Identifizierung (ebd., S. 140). Allgemeiner noch macht sie deutlich, dass Identität und Autonomie grundsätzlich nur in Abhängigkeit von unverfügbaren Beziehungen und diskursiven Kontexten existieren, und dass die Verwerfung dieser Abhängigkeit ein melancholisches Erleben etabliert. Erst die Akzeptanz der »Spur des anderen« im Inneren, erst die Trauer um Autonomieverlust eröffnet die Versöhnung mit der existenziellen Ambivalenz und Begrenztheit jedweder Identität (ebd., S. 182; vgl. Naumann 2017; 2020). Dekonstruktion und Resignifikation

Mit dieser Kritik einer kohärenten Identität bestreitet Butler also nicht die Notwendigkeit von Identität. Sie weiß, dass kein Subjekt tätig sein kann, ohne bestimmte Möglichkeiten von sich zu weisen und sich zu anderen zu bekennen, darüber hinaus benötigt auch jede befreiende Politik die Identifikation mit einem gemeinsamen Anliegen (Butler 1994, S.  132). Ihre Kritik richtet sich vielmehr auf die »Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs […], nach der die eine Identifizierung immer nur auf Kosten einer anderen erkauft wird« (ebd., S. 135). Politisch kann es deshalb nicht darum gehen, die pluralistische Vervielfältigung kohärent identifizierter Subjekte anzustreben, weil dies der Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs verhaftet bliebe. Es kann zunächst nur darum gehen, im Wissen um die unweigerliche Widersprüchlichkeit der Identität, die Frage nach der Identität grundsätzlich offen zu halten, um nicht in den Formen ihrer diskursiven Zurichtung zu erstarren (Hall 1996, S. 50f.). 104

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Voraussetzung befreiender Politik ist vor diesem Hintergrund, die hegemonialen Subjektformen zu dekonstruieren, ihnen das Verworfene und Ausgeschlossene entgegenzuhalten und zu versuchen, die Verwerfungen und Ausschließungen durch »Resignifikation« wieder in den Horizont subjektiver Erfahrungsfähigkeit zu rücken (Butler 1994, S. 125). Darüber hinaus jedoch muss sich der Kampf, so Butler, gegen die gesellschaftlichen Bedingungen richten, die die Dynamik der Verwerfung und Ausschließung immer wieder anfachen und kohärente, vereinseitigte und selbst repressiv agierende Subjekte erzeugen (ebd., S. 135). Kritik

Butlers Ansatz wird, wenig überraschend, vor allem in konservativen und maskulinistischen Kreisen angegriffen. Allerdings gibt es auch Kritik von Wissenschaftler*innen, die sich im Kontext einer aktuellen Kritischen Theorie verorten lassen. Bereits 1994 hat Alex Demirovic der Theorie Butlers eine »idealistische Zuspitzung der Diskursanalyse« zugeschrieben (Demirovic 1994, S. 98), eine Kritik, die sich sowohl subjekt- als auch gesellschaftstheoretisch wenden lässt. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive wird ihr vorgehalten, dass sie die institutionell materialisierte, politisch-ökonomische Situation der Diskurse und somit den Umstand übersieht, dass die Diskurse nur einen, wenngleich konstitutiven Aspekt der Subjektbildung ausmachen (vgl. Grimm/Rebentisch 1996, S. 100). Aus subjekttheoretischer Perspektive kann Butler, so Andrea Maihofer, die Körperlichkeit der Subjekte nicht adäquat erfassen, in Butlers Theorie werde der Körper ganz allmählich »zu etwas Immateriellen, Intelligiblen, Fiktiven« (Maihofer 1994, S.  178f.). Im Hinblick auf die Geschlechter entgehe ihr somit, dass »›Geschlecht‹ im heutigen Sinne […] das Ergebnis eines langwierigen gesellschaftlichen Prozesses [ist], und zwar sowohl was den scheinbar natürlichen Geschlechtskörper als auch was die Geschlechtsrollen, -normen und -identitäten anbetrifft. Der herrschende Geschlechterdiskurs umfaßt nämlich nicht nur ein umfangreiches Set an ›männlich‹ oder ›weiblich‹ konnotierten Denk- und Gefühlsweisen, sondern auch ein vielfältiges Repertoire an Körperpraxen und -gefühlen bis hin zu spezifischen Körperformen« (ebd., S. 181).

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Butler reagiere mit ihrem Subjektbegriff zwar berechtigt auf essenzialistische und biologistische Setzungen, könne aber weder die gesellschaftliche Produktion von Subjektivität noch die körperliche Sedimentierung diskursiver Erfahrungen mit ihren aggressiven, libidinösen und narzisstischen Anteilen wirklich erfassen (Knapp 1994, S. 276). Ich bin nicht sicher, inwieweit diese Kritik greift. Aus meiner Sicht lädt Butlers Theorie dazu ein, theoretische Verknüpfungen zu entwickeln. Wenn Butler die »Bedingungen« der vereinseitigenden diskursiven Subjektbildung kritisch in den Blick nimmt, bietet sich an, auch die gesellschaftlichen Institutionen und politökonomischen Strukturen in ihrer institutionellen und diskursiven Materialisierung ebenso wie in ihrer diskursproduzierenden Wirkung in die Analyse einzubeziehen. Im Hinblick auf den Körper betont Butler in Körper von Gewicht zurecht, dass »der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper […] immer als vorgängig gesetzt oder signifiziert« wird (Butler 1997, S. 56). Der menschliche Körper zeigt sich nie als bloße Natur, Körperprozesse sind erstens von Anbeginn des Lebens von sozialen Erfahrungen und nicht zu trennen, und zweitens sind sie nur interpretativ zugänglich. Butler hat unter anderem mit den Begriffen von Leiden, Verwerfung und Ausschließung, Lähmung und Melancholie, Dekonstruktion und Resignifikation eine solche Interpretation unternommen. Sie hat damit dem Poststrukturalismus eine neue Tiefe verliehen und ihn mit kritischen psychoanalytischen Ansätzen anschlussfähig gemacht. So kann etwa der Ansatz Lorenzers, der Psychoanalyse immer auch als Sozialwissenschaft und als »Hermeneutik des Leibes« versteht, oder auch die neuere intersubjektive Psychoanalyse von den Erkenntnissen zur diskursiven Einengung und grundsätzlichen Vieldeutigkeit der Subjektbildung profitieren. In den letzten Jahren jedenfalls finden spannende theoretische Entwicklungen statt, beispielsweise zur Verbindung von Queer Theory und Psychoanalyse (siehe dazu etwa Butler 2011; Hutfless/Zach 2017). 2.4.4 Resümee

Die Arbeiten von Althusser, Foucault und Butler können gleichsam als Abbild der Entwicklung von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gelesen werden. Gilles Deleuze hat mit diesen Begriffen zu fassen versucht, dass der moderne Kapitalismus nicht mehr so sehr auf die Disziplinierung der 106

2.4 Poststrukturalist*innen: Althusser, Foucault und Butler

Subjekte angewiesen ist, um ihre Arbeitskraft zu vernutzen, sondern vielmehr auf produktive Subjekte, die sich selbst kontrollieren und dabei auch noch frei fühlen (Deleuze 1993). Mit Nancy Fraser könnte man heute von der Subjektform des »progressiven Neoliberalismus« sprechen. Dabei werden Diskurse zur Selbstverwirklichung, Solidarität und Freiheit, die von sozialen Bewegungen gegen die Disziplinarmacht eingefordert wurde, unter der Ägide der Kontrollmacht individualisiert, ihrer Kapitalisierung zugeführt und obendrein wird dem Neoliberalismus ein freiheitlicher und egalitärer Anstrich verpasst (Fraser 2017).18 Während Althusser mit seinen Begriffen der repressiven und ideologischen Staatsapparate eher noch als Kritiker der Disziplinarmacht verortet werden kann, könnte Foucault und Butler vorgeworfen werden, sie würden der Dynamik der Kontrollgesellschaft Vorschub leisten. Mit der Vorstellung eines freien Subjekts, das sein Leben in einer selbstgewählten »Ästhetik der Existenz« gestaltet, oder in der Rede von einer Performanz, in der die Subjekte quasi alles sein können, was sie wollen, würde eben jene Imagination subjektiver Gestaltungsmacht bedient, die die Subjekte in der Kontrollgesellschaft haben sollen. Ich meine jedoch, dass die vorgestellten poststrukturalistischen Ansätze eher als Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden sollten und auch für die kritische Theorie des Subjekts bereichernd sind. Althusser hat mit den Begriffen der Artikulation und Überdetermination zur Überwindung gesellschaftstheoretischer Determinismen beigetragen und die Offenheit und Historizität gesellschaftlicher Reproduktion denkbar gemacht. Foucault hat mit seinem Diskursbegriff die unweigerliche Diskursivität der Konstituierung von Gesellschaft und Subjektivität herausgearbeitet und mit der Gourvernementalität ein Analysewerkzeug für 18 Thomas Seibert erinnert in seiner Auseinandersetzung mit dem epochalen Werk Empire von Toni Negri und Michael Hardt (2002) daran, dass der globalisierte Kapitalismus auf weltumspannenden kommunikativen Netzen beruht, um Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Waren zu gewährleisten, und dass er dazu existenziell auf die Produktion und die Produktivität von Subjekten angewiesen ist, die ihr Wissen, ihre Sprache und ihre Gefühle freiwillig in die Kapitalverwertung einbringen. Seibert erinnert aber auch daran, dass in diesem Prozess millionenfach überflüssiges gesellschaftliches Leben, überflüssige Subjektivität produziert wird – »Überschussbevölkerungen«, die es in ihren Territorien zu sistieren gilt. Insgesamt organisiert sich der globale Kapitalismus somit »als universelles Spektakel freier Partizipation wie als weltpolizeiliches Gewaltmonopol« (Seibert 2004).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

das gegenwärtige Eindringen der Diskurse in die Subjekte vorgelegt. Und Butler hat unter anderem mit der Dekonstruktion kohärenter Subjektformen die diskursive Vereinseitigung und prinzipielle Vielfältigkeit der Subjekte in den Blick gerückt und zudem mit der Dynamik von Verwerfung und Resignifikation ein Beispiel zur hermeneutischen Rekonstruktion der Subjektbildung entwickelt.

2.5

Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

Aus der in den vorigen Abschnitten geführten Diskussion verschiedener Ansätze zum Verhältnis von Gesellschaft und Subjektivität kann eine kritische Theorie des Subjekts bedeutsame Erkenntnisse ziehen. Vom Historischen Materialismus und der Psychoanalyse kann sie lernen, dass Subjektivität von den Formen der Vergesellschaftung äußerer und innerer Natur abhängt – die ökonomistischen Verkürzungen Marx’ und die biologistischen Verkürzungen Freuds sollten dabei überwunden werden. Von der klassischen Kritischen Theorie kann sie lernen, dass eben jene Vergesellschaftung äußerer und innerer Natur sich erst in interdisziplinärer Kooperation von Gesellschafts- und Subjekttheorie erschließt – der Annahme einer Totalität des Tauschprinzips oder eines im Subjekt quasi transhistorisch verorteten Befreiungsprinzips sollte sie nicht folgen. Vom Poststrukturalismus schließlich kann die kritische Theorie des Subjekts lernen, dass Gesellschaft und Subjektivität unweigerlich diskursiv konstituiert sind – ohne dabei die spezifische Eigenlogik und Materialisierung von Diskursen in Institutionen und Subjekten zu übergehen. Vor diesem Hintergrund lassen sich erkenntnistheoretische Anforderungen an eine interdisziplinäre Kooperation von kritischer Subjekt- und Gesellschaftstheorie formulieren, die beide Zugänge strukturanalog erfüllen müssen, um möglichst tiefgreifende Erkenntnisse zu gewinnen, die wiederum ein fundiertes emanzipatorisches Handeln begründen können (Naumann 2000; 2003): ➣ Diskursivität der Konstitution von Gesellschaft und Subjektivität: Natur bildet zwar den Ausgangspunkt der Vergesellschaftung, aber sie tritt immer nur vergesellschaftet und somit diskursiv benannt in Erscheinung – umgekehrt erhalten Diskurse erst in der Praxis gesellschaftlicher Institutionen und der Subjekte ihre Materialität. Eine kritische Gesellschaftstheorie muss berücksichtigen, dass sich Gesellschaften nur durch institutionell-diskursive Praktiken reproduzieren. 108

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded







Diese Praktiken bilden den alltäglich hergestellten und unhintergehbaren Sinnhorizont der von den sozialen Akteur*innen gelebten jeweiligen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dementsprechend muss eine kritische Subjekttheorie konstatieren, dass sich auch die Subjekte unweigerlich innerhalb dieser institutionell-diskursiven Praktiken konstituieren und dabei theoretisch fassbar machen, aus welcher subjektiven Eigenlogik heraus die Subjekte unterschiedliche Diskurse nutzen, um ihre alltägliche Lebenssituation zu bewältigen. Eigenlogik von Gesellschaft und Subjektivität: Die Eigenlogik von Subjektivität präsentiert sich zwar auch als Einschreibung institutionell-diskursiver Praktiken in die Subjekte. Aber die innere Verarbeitung dieser Praktiken erzeugt Bedürfnisstrukturen sowie eine Dynamik bewusster und unbewusster Prozesse, die weder gesellschafts- noch diskurstheoretisch allein erfasst werden können, sondern in erster Linie subjekttheoretisch. Umgekehrt sind die Eigenlogik gesellschaftlicher Prozesse, das dynamische Verhältnis von Ökonomie, Politik und Ideologie ebenso wie ihre institutionell-diskursive Materialisierung vor allem gesellschaftstheoretisch zu erschließen. Beide Ansätze müssen dabei theorieimmanent berücksichtigen, dass sie ihren je eigenen Erkenntnisgegenstand, also Subjekt und Gesellschaft, niemals vollständig allein ergründen können, sondern nur in wechselseitiger und interdisziplinären Vermittlung der jeweiligen Erkenntnisse von Subjekt- und Gesellschaftstheorie. Widersprüchliche Verhältnisse in Gesellschaft und Subjektivität: Kapitalistische Gesellschaften vereinen in sich widersprüchliche Verhältnisse von Lohnarbeit und Kapital sowie sexistische und rassistische Verhältnisse, die in Widerspruch zur Konstruktion freier und gleicher Marktteilnehmer*innen und Staatsbürger*innen stehen  – eine kritische Gesellschaftstheorie muss diese Widersprüchlichkeit und die daraus folgenden sozialen Dynamiken und Auseinandersetzungen konzeptualisieren können. Subjektivität wird zwar innerhalb dieser Verhältnisse konstituiert, doch gebrochen über konkrete intersubjektive Beziehungen. Kritische Subjekttheorie muss Subjektivität mithin als Verhältnisfigur begreifen, in der sich die sozialisatorisch bedeutsamen Verhältnisse als Widerspruch zwischen unbewussten und symbolisierbaren Praktiken niederschlagen. Gewalt und Leid: Kritische Theorien können die bestehenden gesellschaftlichen und subjektiven Verhältnisse nicht in positivistischer 109

2 Subjektivität und Gesellschaft



Weise einfach affirmieren und zu optimieren trachten. Vielmehr muss eine kritische Gesellschaftstheorie klären, warum und wie die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, soziale Ungleichheit, Rassismen und Sexismen wirken. Eine kritische Subjekttheorie muss untersuchen, welche Verheerungen, welches Leid und welche Destruktivität in den Subjekten, in ihrem Fühlen, Denken und Handeln, durch gewaltvolle gesellschaftliche Prozesse ausgelöst und perpetuiert werden. Erkenntnisleitend ist dabei die fundierte Überzeugung, dass eine solidarischere Gesellschaft und glücklichere Subjektivität möglich sind. Historizität der gesellschaftlichen und subjektiven Verhältnisse: Nicht zuletzt können kritische Subjekt- und Gesellschaftstheorie keine ehernen Wahrheiten ergründen. Als kritisch-reflexive Wissenschaften müssen sie berücksichtigen, dass sich die Erkenntnisgegenstände im historischen Prozess verändern, und dass sich somit auch Erkenntnismittel wie Methoden und Begriffe weiterentwickeln müssen, um letztlich neue, angemessenere und weiterführende Erkenntnisse produzieren zu können, die dem emanzipatorischen Impetus gerecht werden.

Diese Forderungen zusammengenommen, stehen Subjekttheorie und Gesellschaftstheorie in einem Verhältnis wechselseitiger Korrektur, das es erlaubt, die analytischen Kategorien an den Erkenntnissen des je anderen Blickwinkels zu überprüfen, zu historisieren und fortzuentwickeln. In diesem Sinne werden im Folgenden mit der Materialistischen Sozialisationstheorie und der Regulationstheorie exemplarisch eine kritische Subjekttheorie und eine kritische Gesellschaftstheorie vorgestellt, die beide die hier formulierten Anforderungen zu erfüllen vermögen. 2.5.1 Materialistische Sozialisationstheorie

Alfred Lorenzer hat die materialistische Sozialisationstheorie in den 1970er und 1980er Jahren auf den Weg gebracht und gilt als maßgeblicher Begründer der kritischen Theorie des Subjekts. Er war Pionier einer interdisziplinären Psychoanalyse, die soziologische, psychologische und biologische Erkenntnisse zusammendenkt, hat die Psychoanalyse konsequent auch als Sozialwissenschaft verstanden und obendrein die intersubjektive Wende der Psychoanalyse vorweggenommen (Lorenzer 2002; Bohleber 110

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

2006, S. 213).19 In meine folgende Darstellung der materialistischen Sozialisationstheorie werde ich auch aktuelle Erkenntnisse integrieren, etwa aus dem psychodynamischen Bipolaritätsmodell nach Stavros Mentzos oder der Theorie der Affektregulierung und Mentalisierung nach Peter Fonagy und Mary Target, die Lorenzers Ansatz weiter zu verfeinern erlauben. Theorie der Interaktionsformen

Der Mensch ist im Sinne seines Überlebens in einem ihm vorausgesetzten gesellschaftlichen Kontext auf die Interaktion mit anderen Menschen angewiesen. Hier zeigt sich bereits das Dilemma jeder Subjektbildung: Das werdende Subjekt benötigt einerseits zugewandte Andere, also Objekte in psychoanalytischer Terminologie, die das Überleben ermöglichen, Sicherheit und Lust spenden, aber eben diese Objekte sind andererseits durch Vernachlässigung, Kränkung oder Gewalt auch eine potenzielle Quelle von Unlust, Angst und Ohnmacht. All diese Interaktionserfahrungen, die haltenden und lustvollen wie die bedrohlichen, werden verinnerlicht und führen damit zum Aufbau der psychischen Struktur. Lorenzer versteht diese Struktur als Gefüge von Interaktionsformen: die alltäglichen, mehr oder minder glückenden Interaktionen des Kindes mit seinen selbst schon gesellschafts-, klassen- und geschlechtsspezifisch sozialisierten Bezugspersonen werden als Interaktionsformen verinnerlicht (Lorenzer 1988, S. 288). Interaktionsformen sind somit psychische Repräsentanzen der Beziehungserfahrungen und enthalten das Erleben von Selbst und Anderem, von sinnlich-szenischer Qualität und von den sozialen Kontexten der Beziehung (vgl. Naumann 19 Lorenzer hat auch die aktuellen Verbindungen von Psychoanalyse und Neurowissenschaften vorweggenommen, wunderbar nachzulesen im Buch Die Sprache, der Sinn und das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften (2002). Gerne hätte ich ein Gespräch zwischen Lorenzer und dem kritischen Neurobiologen Robert Sapolsky miterlebt, dessen Erkenntnisse Raul Zelik folgendermaßen zusammenfasst: »Worin also besteht die menschliche ›Natur‹? […] Unser Verhalten und unsere Selbstwahrnehmung sind von Biochemie und neuronaler Architektur bestimmt, die eine genetische Grundlage haben, gleichzeitig aber produzieren die sozialen Verhältnisse, Kulturformen, Wertesysteme und Umweltbedingungen die stofflichen Abläufe unserer Körper und unserer Epigenetik« (Zelik 2020, S. 281). Und: »Kulturelle Muster einer Gesellschaft wirken sich also auf die neuronalen Strukturen der Individuen aus, zugleich ist die Plastizität von Gehirnen so groß, dass sich Fähigkeiten weiterentwickeln« (ebd., S. 280).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

2010, S. 34). Im fortwährenden Wechselspiel von Interaktionen, Bildung von Interaktionsformen als Bedingung erweiterter Interaktionen und deren neuerlicher Verinnerlichung vollzieht sich letztlich die psychische Entwicklung. Lorenzer hat nun die Phasen dieses Sozialisationsprozesses als Entwicklung sinnlich-organismischer, sinnlich-symbolischer und sprachsymbolischer Interaktionsformen ausdifferenziert. Schon vorgeburtlich macht das werdende Kind bedeutsame Interaktionserfahrungen, einerseits in der Interaktion mit dem mütterlichen Organismus, andererseits über das Erleben der psychosozialen Welt der Mutter. Nach der Geburt gestaltet sich der Interaktionsprozess noch ungleich komplizierter. Das Kind ist mit seinen primären Affekten wie Freude, Ekel, Wut, Angst und Trauer befasst, die die universale Ausdrucksform menschlicher Bedürfnisse sind (vgl. Krause 1998, S.  31). Diese mitunter heftigen und potenziell überwältigenden Affekte kann der Säugling aber kaum selbst regulieren. Da er seine Bedürfnisse noch nicht symbolisieren kann, ist er darauf angewiesen, dass seine Bezugspersonen das unmittelbare Handeln, das Weinen, Schreien oder die motorische Aktivität ihres Kindes als Aufforderung zur Zuwendung interpretieren. Und tatsächlich zeigen sich die Affekte besonders deutlich in der Stimme sowie im Gesicht und können als Mitteilungen an die Bezugspersonen verstanden werden. So signalisiert die Freude »Schön, dass Du bei mir bist«, der Ekel sagt »Du sollst heraus aus mir«, die Wut fordert »Geh weg von mir«, die Angst spricht »Ich muss weg von hier« und die Trauer bedeutet »Du sollst wieder bei mir sein« (vgl. ebd., S. 28ff.). Im gelingenden Fall nimmt eine Bezugsperson den Affekt angemessen wahr und gibt eine spiegelnde Antwort. Wenn etwa das Kind weint, antwortet die Bezugsperson selbst mit weinerlicher Stimme. Doch ist diese Antwort keine bloße Verdoppelung des kindlichen Affekts, sondern eine spielerisch modulierte Variation, begleitet von der sprachlichen Interpretation. So kann die Antwort je nach konkreter Szene lauten: »Oh, Du bist gerade aufgewacht und dachtest, Du seist ganz allein, jetzt bin ich ja bei Dir« (Naumann 2011, S. 22). Auf diese Weise kommt es einerseits zur »referentiellen Entkoppelung«, weil das Kind durch die spielerische Antwort spürt, dass der Affekt nicht vollständig zur Bezugsperson gehört. Andererseits ist damit die Bedingung für die »referentielle Verankerung« geschaffen, in der das Kind den markiert gespiegelten Affekt als zu sich gehörig erleben kann (Potthoff 2008, S. 90f.). Insgesamt entdeckt das Kind seine Affekte im Gegenüber, es ent112

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

deckt dadurch auch, dass diese bewältigt werden können und dass seine Handlungen in der geteilten Welt offenbar befriedigende Reaktionen bewirken, etwa im Trösten oder in Form gemeinsamer Freude (Dornes 2000, S. 200; vgl. Naumann 2011, S. 22). Weil aber dem Kind noch keine Symbole zur Verfügung stehen, weil es vielmehr auf seine körperlichen Signale sowie die Reaktionen der primären Bezugspersonen angewiesen ist, erlebt es die Welt bei all dem im Körpermodus, bzw. im somatopsychischen Modus (Diez Grieser/Müller 2018, S. 44). Die vielen vorsymbolisch und unter der mehr oder minder feinfühligen Dominanz der Bezugspersonen einsozialisierten Erlebnisfiguren bilden somit das »prozedurale Unbewusste« (Dornes), sie sind in das Körpergedächtnis als sinnlich-organismische Interaktionsformen eingeschrieben (Brandes 2005, S. 157).20 Aus diesem frühen Ein- und Abstimmungsprozess entwickeln sich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zunehmend sinnlich-symbolische Interaktionsformen. Diese resultieren aus der Verinnerlichung der vielen Szenen samt ihrer Gesten, Mimiken und Laute, die im markierten Spiegeln durch die Bezugspersonen erlebt wurden (vgl. Lorenzer 1988, S. 161f.). Mithilfe der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen kann das Kind nun schon symbolisiert zur Affektregulierung in den Interaktionen mit seinen Bezugspersonen beitragen, indem es etwa zeigt, lächelt, den Kopf schüttelt oder Laute moduliert, die als sinnlich-symbolische Vorläufer der Sprache zu erkennen sind (vgl. Dornes 2000, S. 202f.). Durch diese erste Symbolisierungsfähigkeit findet das Kind auch in den teleologischen, bzw. zielgerichteten Modus des Erlebens und Handelns, besonders im Hinblick auf die Interaktionen mit den Bezugspersonen (Diez Grieser/Müller 2018, S. 44). In den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen muss somit eine erste Differenzierung selbst- und objektbezogener Tendenzen enthalten sein: Einerseits also die mehr oder minder ausgeprägte Fähigkeit, die Objekte zu lustspendendem Verhalten zu bewegen und das Selbst vor Unlust zu schützen, und andererseits die Erwartungen an die Objekte. Dies zeigt sich auch in Vorformen der Kreativität und des Spiels, nicht nur beim be20 Auch wenn es sich von selbst verstehen dürfte, möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, dass die mehr oder minder ausgeprägte Feinfühligkeit der Bezugspersonen entscheidend von den verinnerlichten Sozialisationserfahrungen der Bezugspersonen abhängt, von ihren lebensgeschichtlichen Beschädigungen und Fähigkeiten ebenso wie von ihren Belastungen und Ressourcen im Hier und Jetzt.

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2 Subjektivität und Gesellschaft

rühmten, von Winnicott beschriebenen Übergangsobjekt, sondern beispielsweise auch in Fort-da-Spielen, in denen das Kind die Themen der Getrenntheit und Verbundenheit verhandelt. Die nicht selten zu erlebende Anspannung und das begeisterte Lachen des Kindes veranschaulichen den Ernst der Themen sowie die Freude am mitgestalteten Spiel. Das Kind gewinnt also mit den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen größere Interaktionsspielräume, gleichwohl wird es dabei in die Welt sozial geteilter Bedeutungen eingeführt. In den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind Affektivität und sozial codierte sinnliche Symbole untrennbar verquickt, sie verklammern »die individuelle Erfahrung mit dem kollektiv Verbindlichen« und bilden die »Tiefenschicht der Persönlichkeit« (Brandes 2005, S. 156f.). Der nächste große Entwicklungsschritt ergibt sich im zweiten Lebensjahr durch die Spracheinführung. In der Doppelregistrierung von Lebenspraxis als Verinnerlichung von affektiv besetzten Szenen und Sprachfiguren können nun sprachsymbolische Interaktionsformen entstehen. Diese verankern in der psychischen Struktur einerseits die Fähigkeit zur Benennung und differenzierteren Unterscheidung von Selbst und Anderen. Damit aber tauchen auch strukturelle Affekte wie Neid, Verlegenheit und Empathie, dann auch Scham, Stolz und Schuld im kindlichen Erleben auf, die aus den Beziehungen entspringen und im Sinne des psychischen Überlebens reguliert werden müssen (Mittelsten Scheid 2012, S. 167).21 Andererseits ermöglichen die sprachsymbolischen Interaktionsformen, Affekte als Emotionen zu benennen und innerlich Probehandlungen emotional und kognitiv durchzuspielen, um in der eigenen Lebenspraxis befriedigende Interaktionen anzustoßen (Lorenzer 1988, S. 91). Dies gelingt besonders gut, wenn mit den sprachsymbolischen Interaktionsformen tatsächlich eine 21 Während das Soziokulturelle in der Regulierung der primären Affekte zwar durch die schon sozialisierten Bezugspersonen präsent ist, sind die strukturellen Affekte sehr viel stärker kulturgebunden. Strukturelle Affekte entstehen, wenn das Selbst und die bedeutsamen Anderen in der psychischen Struktur symbolisch repräsentiert sind. Denn nun müssen sowohl die inneren als auch die äußeren Beziehungen zwischen Selbst und Anderen aktiver ausbalanciert werden – eben mithilfe der strukturellen Affekte. Wie aber Neid, Empathie, Stolz oder Scham sich anfühlen, ob es zu einer freundlichen oder affektiv widersprüchlichen Entwicklung kommt, hängt wesentlich von den durch die Bezugspersonen habituell und individuell ausgestalteten, jedenfalls aber soziokulturellen Formen der Anerkennung und Sanktionierung des Verhaltens im konkreten Beziehungsgeschehen ab (vgl. Mittelsten Scheid 2012, S. 166f.).

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2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

weitere Differenzierung und Symbolisierung der selbst- und objektbezogenen Tendenzen verknüpft ist. Dabei erlebt das Kind sich selbst in der Welt überwiegend im Äquivalenzmodus: Fantasie und Realität, Innen und Außen können nicht durchweg unterschieden werden, sie werden eben als äquivalent wahrgenommen (Fonagy/Target 2006, S. 370). In klar abgegrenzten Spielsituationen können die Kinder hingegen in den Als-ob-Modus finden. Das Spielen im Als-ob-Modus bildet ein entscheidendes Entwicklungsmedium zur Affektregulierung und Symbolisierung, hier können die Kinder ihre affektiv besetzten Themen genügend angstfrei zeigen und Spielfiguren entwickeln, die ihnen die Bearbeitung und mildere Reintegration dieser Themen eröffnen (vgl. Dornes 2000, S. 204). Dies zeigt sich beispielsweise in einem Raubkatzenspiel, in dem die Kinder in die Rolle einer gefährlichen, mutigen oder schutzspendenden Raubkatze schlüpfen können, oder auch in die Rolle einer ängstlichen und schutzbedürftigen kleinen Raubkatze – ein lebendiges Spiel, das Themen der Wut und Angst, der Scham und Schuld, aber auch der Empathie und des Stolzes zu bearbeiten erlaubt (vgl. Naumann 2011, S.  24). Jedenfalls ist es besonders das szenische Spiel, das einen »Übergangsraum« für wachsende Kreativität und Symbolisierungsfähigkeit erzeugt (Winnicott 2006, S. 25). Allerdings ist die Sprache bei alldem nicht etwa ein neutrales Kommunikationsmittel. Sie zwingt das kindliche Erleben vielmehr in das aus gesellschaftlicher Praxis hervorgegangene System kollektiv geteilter Sprachnormen (Lorenzer 1988, S. 93). Jede in den sprachsymbolischen Interaktionsformen verinnerlichte Sprachfigur erzeugt bestimmte Bedeutungen und bewirkt zugleich die Verwerfung möglicher anderer Bedeutungen (vgl. König 2012, S. 137). Ob im Erleben und Sprechen eher denotative, also gesellschaftlich allgemeine Bedeutungen überwiegen, oder ob konnotative Bedeutungen assoziative und affektive Spielräume eröffnen, hängt von der angeeigneten Beziehungs- und Sprachpraxis ab (vgl. Zepf 1997, S. 32).22 Bestenfalls entwickelt das Kind sprachsymbolische 22 In den Worten von Cornelius Castoriadis, dem großen griechisch-französischen Philosophen: »Das Symbolische umfaßt beinahe immer einen ›rational-realen‹ Bestandteil, der das Reale darstellt und für den theoretischen oder praktischen Umgang mit diesem unentbehrlich ist. Aber diese Komponente ist unentwirrbar mir der des aktualen Imaginären verwoben« (zit. nach Krovoza 2012, S. 87).

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2 Subjektivität und Gesellschaft

Interaktionsformen, die ab dem Alter von etwa vier Jahren die Fähigkeit zur Mentalisierung befördern (Fonagy/Target 2006, S. 370). Mentalisierung bezeichnet die Fähigkeit, Affekte als Emotionen wahrzunehmen und mitzuteilen, sich in die mentalen Zustände anderer Menschen einzufühlen und das soziale Handeln dementsprechend zu gestalten (Franz 2008, S.  26). In der Mentalisierung greifen der Ernst des Äquivalenzmodus und das Spielerische des Als-ob-Modus ineinander zur »Reflexion über sich selbst und den Anderen als getrennte Personen mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Absichten« (Lüpke 2006, S. 172f.), die gleichwohl in einer geteilten wie veränderbaren äußeren Realität leben (Naumann 2011, S. 24).23 Nun setzt sich Entwicklung natürlich auch nach der Kindheit fort und ist unweigerlich in gesellschaftliche Kontexte mit ihren Chancen und Gefahren eingebettet. Die klischeehafte psychoanalytische Idee, dass die wesentlichen psychischen Strukturen in der Kindheit gebildet werden, ist zwar insofern zutreffend, als in dieser Phase basale psychische Erlebensmuster entstehen, doch ohne die Thematisierung nachkindlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Kontexte bleibt sie eine infantilistische und psychologistische Verkürzung (Lorenzer 1980, S. 320). 23 Diesen hier aufgeworfenen Zusammenhang von psychischer Strukturbildung und sozialer Erfahrung in den Interaktionsformen möchte ich anhand des Beispiels »Tisch« als Gegenstand und Wort illustrieren, auch um die Bedeutung der historisch-gesellschaftlich entstandenen gegenständlichen Welt für die Sozialisation zu betonen. Ein Tisch ist in vielen Gesellschaften ein Gegenstand, an dem Menschen, zumeist sitzend, arbeiten, essen, spielen oder auf noch andere Weisen zusammenkommen. Dabei konstelliert schon die Anordnung mit Tisch und Stuhl sinnlich-symbolische Erfahrungen, die sich aber in ihrer konkreten psychosozialen Gestalt deutlich unterscheiden können. Es dürften unterschiedliche sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen entstehen je nachdem, ob der Tisch und die Umgebung eher kühl, sachlich und übersichtlich oder sinnlich-wild gehalten sind; ob die Stimmung am Tisch eher sachlich, streng und maßregelnd oder affektfreundlich und kommunikativ ist; und ob die Erfahrungen am Tisch eher auf die Anpassung an die vermuteten Zwänge im Schul- und Arbeitsleben vorbereiten oder ob sie ein selbstbewusstes und solidarisches Fühlen und Sprechen eröffnen. Die Affekte, die mit dem Wort Tisch in Interaktionsformen verknüpft sind, können demnach auch auf sehr unterschiedliche Weise bewältigt werden. Zum einen kann der Tisch zu einem Ort der Beschämung, der Angst und abgewehrten Wut geraten. Zum anderen kann er mit der Gewissheit von Freude und Stolz verbunden sein. In diesem Fall gibt der Tisch im wahrsten Sinne kreative Spielräume frei: Potenziell kann er zur Bühne, zu einer durch Tücher entstehenden Höhle oder, umgedreht, zu einem Schiff für Entdeckungsreisen werden (Naumann 2014, S. 38).

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2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

Lorenzer geht davon aus, dass das im Zuge der infantilen psychischen Entwicklung einsozialisierte Gefüge von Interaktionsformen zwar die subjektive Grundlage der postinfantilen Sozialisation bildet. Doch werden diese frühen Strukturen postinfantil im Sinne gesellschaftlicher Verkehrsformen permanent aufgegriffen, modifiziert, zugerichtet oder auch erweitert. Die Subjekte interagieren dabei in transfamilialen Diskursen und Institutionen, die bspw. von der Schule über die Kirche, den Betrieb und den Staat, bis hin zu informellen Zusammenhängen reichen und die in der infantilen Sozialisation über die Bezugspersonen einen nur mittelbaren Einfluss ausübten. Sie werden mithin vergesellschaftet über eine »gruppenund kollektivspezifische Lebenspraxis« und »über ein gruppen- und kollektivspezifisches Bewußtsein, über Sprachfiguren also, die in mehr oder weniger klarer Übereinstimmung mit dem allgemeinen sprachlichen Denk- und Handlungssystem die besondere ›Ideologie‹ des jeweiligen kulturellen Systems […] ausmachen. Es sind dies [sic!] Vergesellschaftungen, die den Einzelnen in seiner Persönlichkeitsstruktur ›auffädeln‹ zu einer ›Gemeinschaft‹ mit gemeinsamem, alltagspraktisch bedeutsamem Bewußtsein« (Lorenzer 1988, S. 116).

Wenn nun aber durch diese institutionell-diskursive Auffädelung der Subjekte ein gruppen- und kollektivspezifisches Bewusstsein entsteht, müssen rückseitig alle institutionell-diskursiv verworfenen, unbotmäßigen und verpönten affektiv besetzten Themen ins Unbewusste verwiesen werden, weil sonst die Teilhabe an der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft und mithin das soziale Überleben gefährdet wäre. Selbst manche Bedürfnisse und Wünsche, die in der Familie noch bewusstseinsfähig waren, müssen sich nun den Anforderungen und Ausschließungen der postinfantilen Institutionen anschmiegen: »die Selbstwidersprüchlichkeit der Gesellschaft setzt die sich bildenden Subjekte in Widerspruch zu sich selbst und teilt sie auf in bewußte und unbewußte Anteile« (Zepf 1993, S. 19). Gebrochen über die je individuellen Sozialisationserfahrungen kann das individuell Unbewusste letztlich nichts anderes sein als eine Existenzform gesellschaftlicher Widersprüche. Aus alldem folgt, dass die Sozialisation der Subjekte in gesellschaftliche Kontexte eingebettet ist, und dass jede Entwicklung aufgrund von widersprüchlichen und ängstigenden psychosozialen Erfahrungen mit unbewältigten Affekten einhergeht, deren bedrohliche Wirkung durch Abwehr dem bewussten Erleben ferngehalten werden müssen. 117

2 Subjektivität und Gesellschaft

Beschädigende Sozialisationsprozesse in der Kindheit

Wie gesagt ist der Mensch existenziell auf Beziehungen angewiesen. In der psychischen Struktur ist verinnerlicht, wie sich das Selbst in bedeutsamen Beziehungen erlebt hat. Zugleich begründet diese Struktur spezifische Fähigkeiten, aktuelle Beziehungen mitzugestalten, die dann wiederum verinnerlicht werden und zur Modifizierung der Struktur führen können. Dabei wird die psychische Entwicklung vorangetrieben durch primäre und später auch strukturelle Affekte, die immer schon einen interaktionellen Charakter besitzen. Ob Angst oder Freude, ob Scham oder Stolz – Affekte dienen der Balancierung des Selbst in Beziehung zu Anderen. Zugleich, weil der Mensch ein Wesen ist, das Lust und Leid zu empfinden vermag, drängt die Affektdynamik dahin, unangenehme Affekte loszuwerden und angenehme Affekte andauern zu lassen (Mittelsten Scheid 2010, S. 85). Die Möglichkeit, gerade auch heftige Affekte zu bewältigen, zu symbolisieren und zu mentalisieren, hängt entscheidend von der erlebten frühen und zunehmend innerlich wachsenden Fähigkeit zur Affektregulierung ab. Diese Fähigkeit kann im Kontext konkreter Beziehungserfahrungen hinreichend gut gelingen oder aber massiv beschädigt sein. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, mit welchen lebensgeschichtlichen Sozialisationserfahrungen und mit welcher Sprache, welchen Ressourcen und ungelösten Konflikten die Bezugspersonen im Hier und Jetzt die Interaktionen mit dem Kind treten. Bereits wenn das kleine Kind gerade beginnt, sich im Gegenüber selbst zu entdecken, dabei aber fehlende Feinfühligkeit, falsche Interpretation seiner Affekte oder gar Gewalt findet, hinterlässt diese Erfahrung in den frühen Interaktionsformen fatale Spuren (Naumann 2010, S. 39f.). Auf unterschiedliche Weise scheitert dann das Spiegeln und Markieren der primären Affekte. Beim unmarkierten Spiegeln etwa reagiert eine Bezugsperson auf die Angst des Kindes mit eigener Panik. Das Kind findet kein abgegrenztes, empathisches Gegenüber, sondern bloß den ungefilterten elterlichen Affekt. Diesen hält das Kind für den eigenen und verinnerlicht ihn als Grundlage eines falschen Selbst. Der kindliche Affekt bleibt unbewältigt, obendrein muss das Kind den unbewältigten elterlichen Affekt für die eigene Realität halten und letztlich verfügt es über keinerlei Spielraum für alternative Empfindungsweisen (Fonagy/Target 2006, S. 375). Wenn hingegen die Bezugspersonen die kindlichen Affekte ignorieren und sie bloß als Ausdruck rein körperlicher Zustände wie Müdigkeit oder Hunger 118

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

interpretieren können, kommt es zur Vermeidung der Affektspiegelung. Damit aber wird der affektive Zustand des Kindes vollständig verkannt und das Kind verliert in der Verinnerlichung einer solchen schablonenhaften Interpretation den Kontakt zu seinen Bedürfnissen (vgl. ebd., S. 375f.). Ein markiertes, aber inkongruentes Spiegeln schließlich liegt vor, wenn die Bezugsperson zwar ausgiebig, aber völlig unzutreffend markiert. Damit ist zwar ein erheblicher Spielraum etabliert, doch das Kind vermag darin kein eindeutiges Gefühl für die Echtheit seiner Affekte zu entwickeln (Potthoff 2008, S. 94; Naumann 2011, S. 26). Diese früh beschädigte Affektregulierung hat auch Folgen für die weitere Entwicklung. Im Falle einer gelingenden Entwicklung erwachsen mit den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen auch Spielräume für die symbolische Erkundung der inneren und äußeren Welt im teleologischen Modus. Wenn aber das kindliche Erleben vor allem auf eine Unlustvermeidung abzielen muss, weil bestimmte und wiederkehrende Interaktionen als zu bedrohlich erscheinen, verarmen gleichsam die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. In der Vermeidung von unangenehmen Affekten, die gerade deshalb so bedrohlich sind, weil sie das Kind nicht integrieren konnte, entstehen »Erlebnisschablonen«, die das Wahrnehmen und Handeln der Kinder auf enge Wege zwingen (Lorenzer 1988, S. 168). So können manche Kinder auch später nicht spielen, da sie befürchten müssen, von Wut oder Ohnmacht überwältigt zu werden; andere, die bei jeder affektiven Botschaft nur mit Essen abgespeist wurden, versuchen ihr affektives Gleichgewicht weiterhin mit Nahrungsaufnahme wiederherzustellen; und wieder andere, die ihre Bezugsperson meist mit Blick auf ihr Display erleben, wachsen mit dem unsagbaren Gefühl auf, nicht gesehen zu werden. Mit den sprachsymbolischen Interaktionsformen schließlich geht, wie oben bereits ausgeführt, einerseits die Fähigkeit zum Probefühlen und Probehandeln einher, andererseits die Notwendigkeit, die nun aufkeimenden strukturellen Affekte zu regulieren und in verfügbare Sprachspiele einzuordnen. Wenn aber das Kind vollständig im Äquivalenzmodus verbleibt, weil schon in der frühen Affektregulierung das spielerische Markieren gefehlt hat, dann verschwimmt der Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen Spiel und Realität. Die Folge ist, dass besonders destruktive Impulse nicht bewältigt werden können, da sie immer in ihrer ganzen Wucht gefühlt werden und eben nicht im genügend angstfreien Spiel gezeigt, moduliert und verarbeitet werden können (vgl. Potthoff 2008, S. 92). Umgekehrt verliert sich das Kind bei einer Fixierung im Als-ob-Modus, infolge 119

2 Subjektivität und Gesellschaft

eines wortreichen, aber die Affekte verfehlenden Markierens, in einer abgespaltenen Fantasiewelt, ohne einen Bezug zu seinen Affekten oder zur äußeren Realität herstellen zu können (ebd., S. 93). Die Doppelfunktion der Sprache als innere Repräsentanz der Interaktionserfahrungen, mit der zunehmend das Selbst und bedeutsame Andere differenziert werden können, sowie als Kommunikationsmittel in einer ebenso gemeinsamen wie geteilten Realität, ist dann arg eingeschränkt. Mit Lorenzer gesprochen kann hier die Verbindung von affektiver Erlebnisfigur und Sprachfigur scheitern. So gibt es für manche einsozialisierten Interaktionsformen keine Sprache, entweder weil die Affekte in den bisherigen Beziehungserfahrungen zu bedrohlich geblieben sind, als dass sie benannt oder gedacht werden könnten, oder es existiert in einer Familie, Gruppe oder Gesellschaft für verpönte Affekte schlicht keine Sprache, obgleich sie potenziell symbolisierbar wären – diese Interaktionsformen sind nach Lorenzer »noch-nicht-bewusst«. »Nicht-mehr-bewusst« hingegen nennt er Interaktionsformen, die zwar schon versprachlicht waren, aber infolge von konflikthaften und beängstigenden Beziehungserfahrungen wieder verdrängt werden müssen, um das psychische Überleben zu gewährleisten. Eine affektdynamische Interpretation des Falls vom »kleinen Hans«, den dessen Vater in Freuds Praxis vorstellt, kann dies verdeutlichen. Hans gerät in eine ödipale Rivalität mit seinem Vater. In Hans arbeiten Affekte der Wut, der Angst und des Neides, zugleich erlebt er Freude und Stolz im Zusammensein mit seinem Vater. Um die Beziehung zu seinem Vater aufrechtzuerhalten und mit seinen hoch ambivalenten Affekten darin fertig zu werden, entwickelt Hans eine hartnäckige Pferdephobie, nachdem er eine grausige Situation mit Pferden erlebt hat. Er verschiebt seine Affekte von gewaltvoller Wut und unsagbarer Angst auf die Beziehung zu Pferden. Dadurch ist er zwar die Ambivalenz in der Beziehung zum Vater los und gewinnt überdies neue Aktionsweisen, schließlich kann er vor Pferden wenigstens davonlaufen, doch gleichzeitig ist damit seine Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit in Beziehungen beschnitten. Die sprachsymbolischen Interaktionsformen, die die Beziehung zu Vater und Pferd repräsentierten, zerfallen teilweise und sind somit nicht-mehr-bewusst. Einerseits entstehen dabei »Sprachschablonen« (Lorenzer), weil das Wort »Vater« die in der Beziehung virulenten Affekte von Wut und Angst nicht integriert, während das Wort »Pferd« unangemessen mit ängstigender Gewalt aufgeladen wird. Andererseits entstehen »Verhaltensklischees« (Lorenzer), die sich nicht nur in der scheinbar ungetrübten 120

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

Liebe zum Vater zeigen, sondern vor allem in der reflexhaften Flucht vor Pferden (Lorenzer 1988, S. 111f.). Nicht zuletzt kann die Geschichte des »kleinen Hans« auch als Fall einer vorerst gescheiterten Mentalisierung verstanden werden. Die unangenehmen Affekte werden nicht bewältigt, sie behalten ihre ganze Wucht, ohne klären zu können, ob diese Affekte wirklich zu Hans oder zu seinem Vater gehören und wie viel Fantasie und Realität in diesem affektiven Erleben steckt. Das Gefühl von Verbundenheit mit seinem Vater und gleichzeitiger Individuation kann Hans jedenfalls noch nicht mentalisieren. Ein aktuelleres Beispiel könnte sein, dass ein zweijähriges Kind bei Unruhe von der Mutter immer wieder vor ein Tablet gesetzt wird. Das Wort »Mutter« wird dann von der Sehnsucht nach geteilter Freude und Zuwendung sowie von der aufkommenden Wut bereinigt, wenn diese fehlen, während das Wort Tablet mit unangemessenen Größenfantasien, sich in der Bilderwelt selbst regulieren zu können, aufgeladen wird. Umgekehrt entstehen Verhaltensklischees, auf die mütterliche Zuwendung verzichten und das Tablet nutzen zu müssen. Wohlgemerkt geht es bei diesen Überlegungen nicht darum, die Beziehungen zwischen Kind und Bezugspersonen zu individualisieren oder gar zu pathologisieren, sondern um ein verstehendes Annähern an die Dynamik des Sozialisationsprozesses, an die Versuche, unter gegebenen Sozialisationsbedingungen psychisch zu überleben. Notwendig müssen dabei allzu schmerzhafte Affekte abgewehrt werden – deshalb möchte ich im folgenden Exkurs verschiedene Abwehrformen behandeln. Exkurs zur Abwehr

Immer dann, wenn in bedeutsamen Beziehungen dauerhafte und unlösbare Konflikte eingeschrieben sind, müssen allzu bedrohlich wirkenden Affekte unbewusst bleiben oder unbewusst gemacht werden. Affekte aber, die nicht bewältigt und schon gar nicht versprachlicht werden konnten, suchen sich im Unbewussten andere Abfuhrbahnen, vor allem in Form einer sich zwangsläufig wiederholenden und manchmal wie verdreht erscheinenden Inszenierung. Die unbewältigten Affekte, die aus der Konfliktszene ausgestanzt werden mussten, um das psychische Überleben in bedeutsamen Beziehungen zu sichern, verlieren also nicht ihre Wirkung, sondern zeigen sich im unbewussten Agieren auf eine starre Weise, die die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit des Menschen mehr oder minder stark einschränkt. Psychoanalytisch betrachtet, treten hier Abwehrmecha121

2 Subjektivität und Gesellschaft

nismen auf den Plan, die die nicht zu bewältigenden Affekte unbewusst machen oder dem Bewusstsein fernhalten. Weil die Theorie der Abwehrmechanismen »eine der fruchtbarsten und am meisten, auch außerhalb der Psychoanalyse, akzeptierten Teile der psychoanalytischen Theorie« ist (Mentzos 2013, S. 45), möchte ich die wichtigsten Abwehrmechanismen in der hier gebotenen Kürze vorstellen.24 Nach Mentzos lassen sich zunächst drei Ebenen der Abwehr unterscheiden, nämlich die Abwehr auf eher psychotischem, auf narzisstischem und schließlich auf neurotischem Niveau. Die Einteilung bemisst sich nach den psychosozialen Kosten, nach der Tiefe der Einschränkung in der Wahrnehmung von innerer und äußerer Realität, die mit der Abwehr etwa von Angst, Wut, Scham oder Schuld einhergehen (ebd.). Hinzu kommen auf einer vierten Ebene reife Bewältigungsmechanismen psychosozialer Konflikte wie Humor und Coping. Nicht zuletzt werde ich auf die psychosomatische und vor allem die psychosoziale Abwehr eingehen. In der psychotischen Abwehr ist die Fähigkeit zur Unterscheidung von Fantasie und Realität außer Kraft gesetzt. So kann sich etwa eine psychotische Verleugnung als Liebeswahn einer schicksalhaften Verbindung mit dem Objekt der Begierde zeigen – ein Wahn, der zwar eine ersehnte Beziehung zum Objekt zum Ausdruck bringt, doch dabei die äußere Realität, die konkrete Verfasstheit des Objekts, dessen Bedürfnisse und Ablehnung, völlig verleugnet (ebd., S. 46). Bei der eher narzisstischen Abwehr fehlt das psychotisch Wahnhafte, allerdings ist das Erleben recht global durch eine besondere narzisstische Bedürftigkeit und Kränkbarkeit geprägt. So kommt es in der nichtpsychotischen Projektion zur Spaltung und Verleugnung von negativen, schambesetzten Selbstanteilen, die dann auf andere Menschen oder Gruppen projiziert werden. Auf diese Weise ist die in Beziehungen erlebte und verinnerlichte Ambivalenz als einfaches Schema von Gut und Schlecht entsorgt (ebd., S. 46). Die klassischen neurotischen Abwehrmechanismen, wie Rationalisierung, Intellektualisierung, Affektualisierung, Reaktionsbildung oder Verschiebung, resultieren aus eher eingegrenzten Beziehungskonflikten und dienen der Abwehr von einzelnen Affekten oder Affektbereichen. So kann etwa die Verschiebung von Ängsten, die sich um das gefährdete Selbst oder Objekt drehen, zu Phobien führen. Quer zu dieser Logik unterschiedlicher Reifegrade ist noch 24 Eine ausführliche Fassung findet sich im vorangegangenen Kapitel und natürlich bei Mentzos selbst (2011; 2013).

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2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

die psychosomatische Abwehr zu erwähnen. Dabei kommt es zu einer Passung zwischen Körper und Konflikt, die unbewusst zur Konfliktbewältigung eingesetzt wird (ebd., S. 191). Der Körper gerät zu einem Beziehungsobjekt, das stets zur Verfügung steht, um durch Internalisierung oder Externalisierung, wie bei den Fress- und Brechanfällen im Kontext einer Bulimie, einen ungelösten Konflikt zu inszenieren und gleichzeitig loszuwerden (ebd., S. 197). Schließlich sind Humor und Coping als reife Bewältigungsmuster zu nennen, die Spielräume für affektive Ambivalenzen öffnen und damit Reflexion, Symbolisierung und ein erweitertes Erleben und Handeln trotz der Konflikthaftigkeit der menschlichen Bipolarität ermöglichen. Bei der psychosozialen Abwehr schließlich unterscheidet Mentzos die interpersonale und die institutionalisierte Abwehr. Von interpersonaler Abwehr spricht Mentzos, wenn die Beteiligten in einer realen Beziehung unbewusst miteinander verhakt sind, sodass ihr wechselseitiges Agieren die Abwehr unbewältigter Affekte aufrechterhält. Besonders häufig sind hier projektive Identifizierungen, bei denen der Andere, auf den unbewältigte negative Selbstanteile oder auch unerreichbare ideale Selbstbilder projiziert werden, tatsächlich im Sinne dieser Zuschreibung zu handeln und zu fühlen beginnt. In Gruppen lässt sich dies sehr gut beobachten. So erleben wir in Gruppen häufig die Idealisierung eines Teilnehmers, der dann aber zunächst ebenso stolz wie angestrengt dieser Anrufung gerecht zu werden versucht, oder wir begegnen dem leidvoll bekannten Phänomen des »Sündenbocks«, an dem nicht nur Aggression entladen wird, sondern der überdies die ihm auferlegte Rolle des »negativen Selbst« zunehmend zu agieren beginnt (Mentzos 1988, S. 93). Institutionalisierte Abwehr und nachinfantile Sozialisation

Das Thema der institutionalisierten Abwehr bringt uns wieder stärker zurück zu Lorenzers Ansatz und der Frage beschädigender Sozialisationserfahrungen in der nachinfantilen Entwicklung. Wie gesagt geht Lorenzer davon aus, dass die Subjekte über institutionell-diskursive Praxis zu Gemeinschaften werden, die ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, eine gemeinsame Sprache sprechen, während rückseitig das institutionell-diskursiv Unsagbare institutionell unbewusst gemacht wird (vgl. Lorenzer 1988, S. 116). Daraus folgt, dass die institutionell-diskursiv verfestigten Sprachfiguren bestimmte Interaktionsformen bewusstseinsfähig machen, 123

2 Subjektivität und Gesellschaft

bzw. erhalten, während andere ins Unbewusste verwiesen werden. Mehr noch, die Subjekte agieren ihre unbewussten Wünsche zwangsläufig auch in ihrer institutionellen Praxis weiterhin aus, mit der Folge, dass diese Wünsche eine institutionell zugerichtete Form annehmen. Es bilden sich institutionelle psychosoziale Arrangements, in denen die Subjekte ihre institutionelle Redeposition im Sinne »institutionalisierter Abwehr« nutzen, um sich vor Unlust zu schützen. Zugleich dient die institutionell gewährte Entlastung von Unlust als Prämie, die die Bindung an die Institution und somit ihren Fortbestand sicherstellt (Mentzos 1988, S. 111). Die Sprache der Subjekte wird in diesem Zusammenhang eigentümlich verändert. Grundsätzlich »[bedeutet] die Bindung des Interagierens an Sprache […] immer die Nötigung, das eigene Verhalten einem kollektiv vereinbarten Normensystem so zu unterwerfen, dass es diesem nicht mehr widerspricht« (Zepf 1994, S. 12). Das auf diese Weise unbewusst gewordene schafft sich freilich weiter Platz, indem es die institutionellen Sprachfiguren durchdringt. »Es ist zwar aus dem individuellen Bewußtsein – und das heißt aus der Sprache des Subjekts – ausgestanzt, aber bleibt dennoch innerhalb des semantischen Systems der Sprache und zwar unter der Intension, ihm lebensgeschichtlich nicht zugehöriger Begriffe, so daß es auch nur mehr in falschen Begriffen reflektiert werden kann« (Zepf 1993, S. 19f.).

Im schlimmsten Fall setzt die postinfantile Vergesellschaftung nicht an infantil gestifteten sprachsymbolischen Interaktionsformen an, die sich einer vollständigen Vereinnahmung durch herrschende Normen sperren, sondern an individueller Beschädigung, also an einer schon infantil gebildeten Verbindung von Ersatzbefriedigung und Sprachschablone. Gelingt es nämlich im Sinne der herrschenden Institutionen, die frühen Störungen der Subjekte als soziales Bindemittel zu funktionalisieren und gelingt es umgekehrt, den Subjekten die Möglichkeit zu bieten, ihre individuelle Psychopathologie soziofunktional unterzubringen, etabliert sich ein »doppelt verstelltes Gewaltverhältnis«: die lebensgeschichtlich hergestellten Beschädigungen werden gesellschaftlich noch weiter zementiert und können infolge ihrer gesellschaftlichen Funktionalität, infolge der »Pathologie der Normalität« (Fromm), nicht als Beschädigungen begriffen werden. Katalysator dieser ebenso regressiven wie repressiven Entwicklung ist die Angst vor Unlust und Isoliertheit. Sie treibt das Ich dazu, alle Objekte, die die ver124

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

drängten Wünsche aktualisieren und Unlust auslösen, zu hassen und mit Zerstörungsabsichten zu verfolgen (Horn 1990, S. 99). Ich möchte versuchen, diesen Zusammenhang am Beispiel institutionalisierter Heteronormativität zu veranschaulichen: Zunächst sind Menschen mit non-binären Tendenzen unter dem Druck fehlender Anerkennung, drohender Gewalt und Diskriminierung gezwungen, ihr Selbstwertgefühl zu stabilisieren, indem sie diese Tendenzen verleugnen oder trotz der Entwertungsdrohung durcharbeiten und in queeren Communities stabilisieren. Menschen, die sich heteronormativ als Frauen identifizieren, befinden sich hingegen im Dilemma zwischen Selbstermächtigungsdiskursen und wirkmächtigen Weiblichkeitsidealen, das nicht selten durch die Überbetonung der Bindung, dem Verzicht auf potenzielle Autonomie oder gar durch depressiven Rückzug und autoaggressives Verhalten einer Pseudolösung zugeführt werden muss. Schließlich besteht bei heteronormativ identifizierten Männern die Gefahr, dass sie Bindungswünsche leugnen, ihre Autonomie überbetonen und ihre Angst vor Schwäche durch riskantes Verhalten oder das Verächtlichmachen von »Schwächeren« agieren (Naumann 2014, S. 41). Die Worte »männlich« und »weiblich« werden somit im Kontext der Heteronormativität gleichsam zu Sprachschablonen. Im Wort »männlich«, samt der assoziierten Begriffe wie Rationalität, Aktivität und Autonomie, ist das Erleben von Emotionalität, Passivität und Abhängigkeit getilgt, und dem Wort »weiblich« sind eben »männliche« Attribute wie Autonomie etc. tendenziell entzogen. Auf diese Weise entstehen Verhaltensklischees wie die männliche Überbetonung der Autonomie und die weibliche Überbetonung der Bindung, während all das heteronormativ Verworfene, die Wünsche nach Integration und Überschreitung sowie die Angst vor dem Verlust von Anerkennung an jenen diffamiert wird, die als unweiblich oder unmännlich gelten. Fruchtbare Irritationen

Abwehr ist anstrengend, manchmal gar destruktiv und schränkt immer das Fühlen, Denken und Handeln ein, kassiert potenzielle Selbstbestimmung und punktuell auch die Fähigkeit zur Empathie. Abwehr ist aber immer auch ein kreativer Versuch, das psychische Überleben durch das Austarieren von Vergangenem und Gegenwärtigem zu gewährleisten. Das Gute daran ist, dass die noch unsagbaren und affektiv besetzten Konflikte sich immer wieder in Szene setzen müssen. Mit der Übertragung verinnerlichter Beziehungserfahrungen auf aktuelle Beziehungen werden unweigerlich auch 125

2 Subjektivität und Gesellschaft

ungelöste Konflikte inszeniert und zugleich der Widerstand aktiviert, diese Dynamik anzuerkennen und zu überwinden. Aber niemand möchte dauerhaft eingeschränkt oder gar destruktiv fühlen und handeln, immer schwingt die Hoffnung mit, das starre Erleben in Beziehungen zu überwinden. Wenn nun dieses Bangen und Hoffen in haltenden, zugewandten, interessierten Beziehungen auftaucht, besteht die Chance, dass in einem solchen intersubjektiven Raum »fruchtbare Irritationen« ausgelöst werden, die bislang Verworfenes spürbar machen und den Weg dahin öffnen, modifizierte Beziehungserfahrungen zuzulassen, diese zu verinnerlichen und letztlich zu glücklicheren Konfliktlösungen zu finden (Lorenzer 1988, S. 131). Dies kann in Freundschaften geschehen oder in neuen sozialen Begegnungen, und in einer reflexiven psychosozialen Praxis ist diese Gewissheit von Reinszenierungen und Entwicklungschancen Ausgangspunkt jeder Beziehungsgestaltung. Sozialisationstheoretisch betrachtet fußen solche Emanzipationspotenziale auf der Widersprüchlichkeit und Vieldeutigkeit der Subjektbildung. Erstens findet jede Subjektbildung in einem Feld von hegemonialen Diskursen, den »Gefahren des Diskurses« (Foucault) und gegenhegemonialen Symbolisierungen statt, sodass eine hermetische Einhegung der Subjektivität schlicht unmöglich ist. Und zweitens werden selbst die Erfahrungen eines Subjekts innerhalb der vorherrschenden Praktiken und Diskurse immer auf biografisch besondere Weise erlebt und psychodynamisch vielfältig umgearbeitet – mit offenem Ausgang. Diese widerspenstigen und potenziell emanzipatorischen Potenziale sollen nun im Hinblick auf die sinnlich-symbolischen und sprachsymbolischen Interaktionsformen verdeutlicht werden. Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen umfassen das biografisch symbolisch Darstellbare ebenso wie das verkörperte soziale Unbewusste (im Sinne des Habitus-Begriffs Bourdieus). Sie verklammern die individuelle Affektivität des Menschen mit sozialer Bedeutung und bilden damit die »Tiefenschicht der Persönlichkeit« (Brandes 2005, S. 157). Aufgrund der im Vergleich zur Sprache größeren Nähe zum Unbewussten eröffnet das symbolisch Darstellbare auch den Weg zu gesellschaftlich und biografisch liegengebliebenen und bislang nur sinnlich-symbolisch repräsentierten Wünschen und Ängsten. Gerade weil die symbolische Körperpraxis noch nicht sprachlich eingehegt ist, transportiert sie habituelle Abwandlungen und eine reiche Vieldeutigkeit, deren Wahrnehmung zur Grundlage neuer und affektiv bedeutsamer Erfahrungen avancieren kann (ebd., S. 163). Wenn die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen durch neue Beziehungserfahrungen in Bewegung kommen und gespiegelt werden, 126

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

können auch neue Körperwahrnehmungen, neue Gefühle und neue Worte gefunden werden (vgl. ebd., S. 161). Auch die sprachsymbolischen Interaktionsformen sind grundsätzlich widersprüchlich und vielfältig verfasst, sie sind Resultat der gesellschaftlichen Diskurse und des darin Verworfenen ebenso wie des biografisch besonderen, affektiv besetzten Ausbuchstabierten und Unsagbaren. Diese sprachsymbolische Praxis lässt sich niemals vollständig gesellschaftlich hegemonialen Zwecken unterwerfen. Denn all jene affektiven Themen und Konflikte, die in der einsozialisierten Sprachpraxis verworfen werden mussten, entwickeln im Unbewussten eine Eigenlogik, die sich als Kommunikationsblockade oder irritierendes Verhalten zeigt, und gerade weil sich solche Störungen zeigen müssen, können sie wahrgenommen und bearbeitet werden. Darüber hinaus sind die in den sprachsymbolischen Interaktionsformen vermittelten denotativen Bedeutungen von mehr oder minder ausgeprägten konnotativen Spielräumen für Assoziationen, Fantasie und Humor, von Dialekten und privatsprachlichen Abweichungen begleitet, die Irritationen auslösen und die Wahrnehmung gerückt werden können (ebd., S. 163). Nicht zuletzt existieren in einer pluralisierten Gesellschaft schon auf der denotativen Ebene vielfältige widersprüchliche Diskurse. Die Wahrnehmung dieser Widersprüche, etwa zwischen proklamierter Freiheit und Gleichheit einerseits und realer Abhängigkeit und Ungleichheit andererseits, eröffnet die Chance, die Wirkmacht sprachlich gesetzter Normen zu hinterfragen und darunter verborgene Bedürfnisse wiederzuentdecken (Naumann 2000, S. 85f.). Allerdings lässt sich die gesellschaftliche Funktion der Institutionen und Diskurse mit ihrer sozialisierenden Wirkung subjekttheoretisch allein nicht klären. Deshalb muss hier, wie bereits erwähnt, eine aktuelle kritische Gesellschaftstheorie befragt werden, die die Eigenlogik kapitalistischer Vergesellschaftung, ihre Widersprüchlichkeit und Dynamik zu fassen vermag. Erst dann, in der interdisziplinären Kooperation von Subjekt- und Gesellschaftstheorie, können die herrschenden Zwänge und Reproduktionslogik sowie die emanzipatorischen Handlungsspielräume angemessen ausgelotet werden. 2.5.2 Regulationstheorie

Eine solche anschlussfähige kritische Gesellschaftstheorie liegt mit der Regulationstheorie vor. Sie wurde in internationalen wissenschaftlichen Netz127

2 Subjektivität und Gesellschaft

werken entwickelt und im deutschsprachigen Raum insbesondere vom Frankfurter Politologen Joachim Hirsch vorangetrieben. Die Regulationstheorie überwindet den Marx’schen Ökonomismus, indem sie die Vielfalt und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Verhältnis, die Bedeutung von Diskursen und Institutionen sowie der Eigenlogik subjektiver Verarbeitungs-, Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten systematisch berücksichtigt. Widersprüche und Vielfalt kapitalistischer Gesellschaften

Das materielle Überleben wird in kapitalistischen Gesellschaften vor allem durch die Produktion, Zirkulation und Konsumtion von Waren organisiert. Diese Waren wiederum werden in konkurrenzvermittelter und profitorientierter Privatproduktion hergestellt, zugleich werden sie von Menschen produziert, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um sich reproduzieren zu können. Daraus folgt, dass alle Menschen im Kapitalismus unmittelbar als Lohnarbeiter*innen, selbstständige Dienstleister*innen oder Unternehmer*innen, und mittelbar als Kinder, Hausarbeiter*innen und Leistungsempfänger*innen von Warenproduktion und gelingender Kapitalverwertung abhängig sind. Nicht zuletzt ist die Warenproduktion vom Kampf um das Surplusprodukt gekennzeichnet, also um den gesellschaftlich produzierten, aber privat angeeigneten Mehrwert – die Folge sind schon im Bereich der Ökonomie strukturell angelegte Kämpfe etwa um Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Kapitalistische Gesellschaften sind demnach bereits ökonomisch von Widersprüchen gekennzeichnet. Nun sind diese Widersprüche zusätzlich und potenziell krisenhaft in eine Vielzahl weiterer gesellschaftlicher Verhältnisse eingebettet. ➣ Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse sind durch die industrielle Vernutzung und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen sowie den ungleichen Zugang zu Ressourcen gekennzeichnet – zugleich aber finden Kämpfe gegen sozialökologisch destruktive Arbeitsbedingungen und für die Verteidigung der Lebensgrundlagen im Weltmaßstab statt. ➣ Die Verhältnisse zwischen den Individuen sind einerseits durch die Anrufung der Menschen als freie und gleiche Marktteilnehmer*innen und Staatsbürger*innen geprägt, andererseits durch die Positionierung der Menschen innerhalb gesellschaftlicher Ungleichheits128

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded





verhältnisse – zugleich können sich die Menschen in Lebensstilen, kulturellen Zugehörigkeiten und sozialen Bewegungen vergemeinschaften und eine egalitäre Umverteilung von Ressourcen einfordern. Auch die Geschlechterverhältnisse sind, zumindest in demokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaften, durch eine formale Gleichstellung gekennzeichnet, rückseitig aber wird über geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, ungleiche Entlohnung, unentgeltliche Reproduktionsarbeit in der Familie und rechtliche Regelungen eine Ungleichstellung sowie Inklusion und Exklusion von bestimmten Geschlechtern organisiert  – zugleich aber finden immer wieder Kämpfe für die Gleichstellung und die Anerkennung der Vielfalt von Geschlechtern statt. Interkulturelle Verhältnisse gehen einerseits mit der Anerkennung von kultureller Diversität und der Freiheit kultureller Zugehörigkeit einher, andererseits werden über rassistische Diskurse der Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Staatsbürger*innenschaft reguliert sowie gesellschaftliche Konflikte ideologisch kanalisiert  – zugleich aber finden auch antirassistische Kämpfe statt.

Insgesamt lösen die heteronomen Tendenzen innerhalb der diversen gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig immer wieder Gegenbewegungen aus. Der Prozess gesellschaftlicher Entwicklung muss also als offen gelten. Akkumulationsregime und Regulationsweise

Die Regulationstheorie versucht nun, diesen Zusammenhang von gesellschaftlicher Reproduktion mit den vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie die Offenheit gesellschaftlicher Transformationsprozesse mit den Begriffen »Akkumulationsregime« und »Regulationsweise« theoretisch fassbar zu machen. Das Akkumulationsregime steht für die Erkenntnis, dass in kapitalistischen Gesellschaften die Kapitalakkumulation ein wesentliches ökonomisches Prinzip bildet, und dass sich Gesellschaften mittels arbeitsteiliger Privatproduktion, Warentausch und Lohnarbeit materiell reproduzieren. Es bezeichnet die historisch-konkreten Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsverhältnisse sowie das Verhältnis von warenförmiger und nicht-warenförmiger Reproduktion. Weil von diesen Verhältnissen das materielle Überleben der Gesellschaft und der Individuen abhängt, kommt im Akkumulationsregime letztlich auch der strukturelle 129

2 Subjektivität und Gesellschaft

Zwang kapitalistischer Gesellschaften zum Ausdruck. Dieser Zwang wird jedoch nicht determinierend wirksam, weil er sich erst im alltäglichen Handeln der Subjekte materialisiert und weil dieses Handeln sich immer schon aus verschiedenen Deutungen und Motivationen speist, die über die abstrakte, bloß ökonomische Dimension des Akkumulationsregimes hinausweisen. Demnach wird die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften nicht einfach von Kapitalverwertungsimperativen bestimmt, sondern zugleich von einer Regulationsweise, von einer institutionell-diskursiven »Vermittlung struktureller Zwänge mit den Handlungskompetenzen sozialer Akteure« (Görg 1994, S. 107). Die Regulationsweise kann bezeichnet werden als »Gesamtheit der institutionellen Formen, Netze, expliziten und impliziten Normen, die die Kompatibilität der Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes in Übereinstimmung mit den jeweiligen sozialen Verhältnissen und jenseits ihrer konfliktuellen Eigenschaften sichern« (Lipietz, zit. nach Naumann 2002, S. 111).

Das Akkumulationsregime ist demnach auf eine korrespondierende Regulationsweise angewiesen, auf eine institutionell-diskursive Praxis, die die Menschen in ihren Reflexions- und Handlungsweisen zur Reproduktion des Akkumulationsregimes beitragen lässt. Wichtig dabei ist, dass die Regulationsweise nicht deterministisch aus dem Akkumulationsregime hervorgeht, sondern eine relative Autonomie, Eigenlogik und institutionell-diskursive Materialität besitzt. Akkumulationsregime und Regulationsweise stehen in einem Verhältnis der wechselseitigen Artikulation, sie sind zwar miteinander verkoppelt, aber im Sinne einer passageren Kontingenz, einer möglichen, nicht zwingenden funktionalen Entsprechung. Dieses Artikulationsverhältnis ist aus mindestens drei Gründen prekär und krisenanfällig. Erstens kann die Kopplung von Akkumulationsregime und Regulationsweise durch ökonomische Krisenprozesse dysfunktional werden. Zweitens können die relative Autonomie, die Konflikte und die Dynamik der Regulationsweise zur Dysfunktion der Kopplung beitragen. Und drittens ist die vielfältige und widersprüchliche institutionell-diskursive Praxis zwar auch Ausdruck gesellschaftlicher Strukturzwänge, aber zugleich alltäglicher Sinnzusammenhang für die Subjekte, in dem sich letztlich auch selbstbestimmte Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten verwirklichen können (Naumann 2000, S. 87). 130

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

Dieser Zusammenhang lässt sich tiefer verstehen mit einem kritischen Blick auf die Zivilgesellschaft und den Staat, den beiden wesentlichen Feldern der Regulationsweise. Die Zivilgesellschaft besteht etwa aus Gewerkschaften, Arbeitgeber*innenverbänden, Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften, Vereinen und sozialen Bewegungen, hier tummeln sich diverse Akteur*innen, finden sich vielfältige Diskurse und kommen Möglichkeiten kollektiven Handelns jenseits des Staates zum Ausdruck (Blank 2007). Die gesellschaftlichen Widersprüche, Interessengegensätze und Potenziale selbstbestimmten und solidarischen Handelns lassen sich in der Zivilgesellschaft nicht vollständig einhegen. In der Zivilgesellschaft entstehen immer wieder neue und nicht vorhersehbare Interessenassoziationen. Dies können durchaus auch individualistische, sexistische und rassistische Assoziationen sein, die letztlich destruktiv der Funktionalität der Regulationsweise dienen. Dies können aber auch Assoziationen sein, die sich als emanzipatorischer Protest gegen die kapitalistische Verwertungslogik und gegen den Widerspruch zwischen dem Versprechen von Freiheit und Gleichheit einerseits und sexistischen, rassistischen Ausschließungen andererseits wenden. Dabei sind die zivilgesellschaftlichen Prozesse immer auch bezogen auf den Staat mit seinen legislativen, judikativen und exekutiven Funktionen. Einerseits bestimmt und garantiert der Staat durch Gesetze und als physische Sanktionsinstanz die »Spielregeln« auf dem Feld der Zivilgesellschaft, andererseits werden zivilgesellschaftliche Forderungen erst zu gesetzlich fixierten und einklagbaren Rechten, wenn sie, wie etwa Gender Mainstreaming oder Antidiskriminierung, in entsprechende Gesetzestexte eingegangen sind (vgl. Hirsch 1992, S. 223). Der Staat steht somit im Zentrum der Regulation. Der Staat hat die Aufgabe, die warenförmige Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten, auf die er als Steuerstaat zur Bewältigung seiner hoheitlichen Aufgaben auch angewiesen ist, und zugleich hat er die Aufgabe, demokratische Teilhabe zu gewährleisten. Die vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnisse kristallisieren sich im Staat als eigenlogische Institutionen und Diskurse. Er verkörpert ein übergeordnetes nationales Interesse über zivilgesellschaftliche Konfliktlinien hinweg und kann sich in relativer Autonomie gegenüber der Zivilgesellschaft und der Ökonomie als Walter des Gemeinwohls ausgeben (Hirsch 1995, S. 57). Dies gelingt auf prekäre Weise durch die Anrufung der Menschen als einzelne Marktteilnehmer*innen und Staatsbürger*innen und ihre gleichzeitige Vergemeinschaftung als An131

2 Subjektivität und Gesellschaft

gehörige eines »Volks als Nation« (ebd., S. 56), »wobei Gesetze, Verwaltungsprozeduren und Gewaltapparate […] die Funktion haben, die bestehende Eigentums- und Machtordnung zu erhalten« (Zelik 2020, S. 304). Da die gesellschaftlichen Verhältnisse aber weitaus vielfältiger und widersprüchlich sind, muss Widerstand und Protest immer auch eingebunden werden, »um die Legitimation der Herrschaft zu erweitern. Die Forderungen ›von unten‹ schreiben sich also in den Staat ein – gesetzlicher Arbeitsschutz, demokratische Reformen, die Einbindung von Parteien – und besitzen stets auch eine materielle Dimension. Anders ausgedrückt: Der Staat organisiert einen sozialen und ökonomischen Kompromiss, der die ungleichen Machtund Eigentumsverhältnisse bekräftigt, und ist damit sowohl Akteur als auch Feld der Auseinandersetzung« (ebd.).

Die Akteur*innen der Zivilgesellschaft und die vielfältig situierten Subjekte können mithin Einfluss nehmen auf den Staat als Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Feld der Auseinandersetzung, und umgekehrt muss der Staat versuchen, die Bedürfnisse und Interessen der vielfältig situierten Subjekte diskursiv so zu mobilisieren und zu kombinieren, dass eine gemeinsame gesellschaftliche Entwicklungsvorstellung entsteht, die sich in einer alltäglichen Lebensweise verallgemeinert und verstetigt (Hirsch 1995, S. 58ff.). Hegemonie, Krise und Emanzipation

Eine solche verallgemeinerte Lebensweise bezeichnet Antonio Gramsci als Hegemonie, als Einheit von Wissen, Praxis und Leidenschaften einer führenden Gruppe, die »die Bevölkerungsmehrheit davon zu überzeugen vermag, dass die Ordnung im allgemeinen Interesse, also auch dem der Subalternen ist. Hergestellt wird diese Hegemonie durch eine Vielzahl von Mechanismen und Apparaten: Schule, Medien und die Kirche gehören für Gramsci hier ebenso dazu wie Literatur oder Musik, die bestimmte Überzeugungen popularisieren, politische Bündnisse, die eine Vormachtstellung markieren, und eine Alltagspraxis, die ›moralische‹ Praktiken sichtbar macht« (Zelik 2020, S. 297; Gramsci 1995, S. 1467f.).

132

2.5 Subjekt- und Gesellschaftstheorie reloaded

Diese Hegemonie einer bestimmten Lebensweise ist notwendig, um die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung prozessierbar zu machen, zugleich aber bleibt sie eben aufgrund dieser Widersprüchlichkeit krisenbedroht: durch den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital, den Widerspruch gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die ökologische Ressourcen als Gratisproduktivkraft vernutzen und zugleich zerstören, und schließlich durch den Widerspruch zwischen demokratisch garantierter Freiheit und Gleichheit und den individualistischen, sexistischen und rassistischen Ausschließungen. Darüber hinaus bringt das Prozessieren dieser Widersprüche in Form von Vereinzelung und Re-Vergemeinschaftung zivilgesellschaftlich eine Vielzahl von Assoziationen hervor, die sich nicht immer einer bruchlosen hegemonialen Integration fügen. Somit befindet sich die hegemoniale Lebensweise in einem permanenten Konkurrenzverhältnis zu subalternen Lebensweisen und ist einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen (Demirovic 1992, S. 151). Aus diesen Analysen zu den widersprüchlichen und vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnissen, zur Artikulation von Akkumulationsregime und Regulationsweise sowie zum Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Staat erwachsen letztlich auch emanzipatorische Perspektiven, die Joachim Hirsch als »radikalen Reformismus« zu fassen versucht: »Die historische Erfahrung hat gezeigt, dass etwa die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht ausreicht, um strukturelle Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zu überwinden. Die komplexen gesellschaftlichen Strukturen müssen umgewälzt werden, aus denen die Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse hervorgehen. Das sind die Formen der Arbeitsteilung, die Produktionsbeziehungen, die Familien-, Natur- und Geschlechterverhältnisse, Bewusstseinsinhalte und Wertvorstellungen bis hin zu den Konsumstilen, d. h. die Lebensweise insgesamt. Ihre Veränderung ist eine Angelegenheit der Menschen selbst, von konkreter Praxis, die im unmittelbaren Lebenszusammenhang ansetzen muss. Eine auf Emanzipation abzielende Politik kann sich nur aus der bestehenden Gesellschaft und ihren Widersprüchen heraus entwickeln und bleibt deren Strukturen, Handlungsorientierungen und Subjektprägungen verhaftet. Es bedarf dazu politisch-sozialer Bewegungen, die neue gesellschaftliche Orientierungen und Praktiken durchsetzen und kollektive Erfahrungs-, Aufklärungs- und Lernprozesse in Gang setzen. Statt die staatliche Macht zu ergreifen, kommt es zuallererst darauf an, die Gesellschaft, wie Marx es formuliert hat, ›praktisch zu revo-

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2 Subjektivität und Gesellschaft

lutionieren‹. Der so umrissene Begriff von emanzipatorischer gesellschaftlicher Veränderung wird als ›radikaler Reformismus‹ bezeichnet. ›Reformismus‹ deshalb, weil es nicht um revolutionäre Machtergreifung geht, ›radikal‹, weil auf die gesellschaftlichen Beziehungen gezielt wird, die die dominanten Macht- und Herrschaftsverhältnisse hervorbringen. Die Selbstveränderung der Menschen, ihrer Verhaltens- und Bewusstseinsformen, ist ein komplizierter und schwieriger Prozess mit offenem Ausgang. Möglich ist er nur, wenn es gelingt, Formen der politisch-sozialen Selbstorganisation jenseits und unabhängig von den bestehenden Herrschaftsapparaten, von Staat und Parteien, zu schaffen und einen Politikbegriff zu praktizieren, der das ›Politische‹ am ›Privaten‹ zu seinem Gegenstand macht. Auf den Staat bezogene Politik ist dabei nicht unwichtig, weil auf dieser Ebene nicht nur Bedingungen gesetzt, sondern auch erkämpfte soziale Rechte und Kompromisse verbindlich festgeschrieben werden können. Sie ist aber nicht der Kern und der Hauptansatzpunkt emanzipatorischen Handelns« (Hirsch 2007, S. 234f.).

Die Reflexionen zu Subjektprägungen, zu Verhaltens- und Bewusstseinsformen und zum Verhältnis von Alltäglichem, Privatem und Politischem ermöglicht schließlich auch den Rückbezug auf die Anschlussfähigkeit der Regulationstheorie an die kritische Theorie des Subjekts. Im Hinblick auf die Subjekte geht die Regulationstheorie davon aus, dass sich die Reproduktion und Transformation kapitalistischer Gesellschaften unweigerlich innerhalb der alltäglichen institutionell-diskursiven Praxis vollzieht. Dabei wirken die Institutionen und Diskurse nicht nur einschränkend auf die Subjekte, sie wirken auch ermächtigend: innerhalb der widersprüchlichen institutionell-diskursiven Praxis entwickeln die Subjekte differenzierte Reflexions- und Handlungspotenziale – symbolische Orientierungen, die von der Affirmation eines »nationalen Interesses« bis hin zur vehementen Kritik von Geld und Staat reichen können. Die Subjekte werden als Schnittpunkt widersprüchlicher und vielfältiger Diskurse konstituiert, woraus sich »nicht zu unterschätzende Spielräume für die Art und Weise der subjektiven Verarbeitung und Erfahrung und der daraus folgenden psychischen Prägungen« ergeben (Hirsch 1990, S. 132). Die Regulationstheorie kann also letztlich so gelesen werden, dass sie einer kritischen Subjekttheorie bedarf, um eine umfassende kritische Analyse aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse durchzuführen und emanzipatorische Potenziale auszuloten. 134

2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

2.6

Gesellschaft und Subjektivität heute

2.6.1 Vom Fordismus zum Neoliberalismus Der Fordismus

Mit »Fordismus« wird die vorherrschende kapitalistische Gesellschaftsformation zwischen den 1930er und 1960er Jahren bezeichnet. Der Name resultiert aus der von Charles Taylor maßgeblich entwickelten und erstmals von Henry Ford in der Automobilproduktion der 1930er Jahre konsequent umgesetzten Fließbandproduktion zur Herstellung des berühmten T-Modells. Die damit ermöglichte standardisierte Massenproduktion kann als paradigmatisch für die Transformation der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden. Einerseits ermöglichte die Massenproduktion über den verbilligten Konsum erstmalig gesellschaftliche Teilhabe auch der Arbeiter*innen, andererseits traten neue Politiken auf den Plan, wie etwa der steuerungspolitische Ansatz von John Maynard Keynes, der die politische Gestaltung der Volkswirtschaft und des Wohlfahrtsstaats forderte und im Fordismus erheblichen Einfluss hatte. Ökonomisch erlaubte das Fließband zunächst eine profitträchtige Nutzung der Arbeitskraft, eine bessere Überwachung der Arbeiter*innen und der Arbeitsschritte und letztlich einen ungeheuren Produktivitätszuwachs. Konkurrenz von handwerklichen Kleinbetrieben etwa konnte zerstört werden, dadurch entstanden neue Anlagesphären für das Kapital, zugleich wurden mit der Massenproduktion die Reproduktionskosten der Arbeitskraft gesenkt und im zunehmenden Massenkonsum auch Absatzmärkte erweitert. Insgesamt zeichnet sich der Fordismus ökonomisch durch eine neue Produktivität, die zunehmende Durchkapitalisierung der Gesellschaft sowie die Generalisierung der Lohnarbeit aus. Die Zerstörung traditionaler Lebensformen wie etwa Subsistenzwirtschaft, die Generalisierung der Lohnarbeit und die damit verbundene Vereinzelung der Menschen als Arbeitskräfte machte, wie bereits angedeutet, neue Politiken erforderlich. So wurde der Sozialstaat ausgebaut und übernahm im gesamtgesellschaftlichen Maßstab Aufgaben, die vormals in der Familie oder informellen sozialen Netzen erfüllt wurden. Sozialversicherung, wohlfahrtsstaatliche Fürsorge und Bildung etc. zielten im nationalstaatlichen Rahmen auf die Erhaltung und Qualifizierung der Arbeitskräfte. Der Interventionsstaat bereitete den Boden für die Kapitalverwertung durch infrastruktur-, 135

2 Subjektivität und Gesellschaft

technologie- und industriepolitisches Engagement. Der Sicherheitsstaat bekämpfte desintegrative Tendenzen wie Devianz oder die revolutionäre Arbeiterbewegung und radikale Frauenbewegung. Schließlich wurde durch die staatliche Einbindung wichtiger Kapitalfraktionen und, historisch erstmalig, von wichtigen Teilen der Arbeiterklasse in ein nationales Projekt die Formulierung eines übergreifenden »nationalen Interesses« möglich. Eine wichtige Komponente der ideologischen Verschiebungen im Fordismus war die Ausbreitung der Kleinfamilie bis in die Arbeiterklasse hinein. Auf diese Weise konnte erstmals in der Geschichte die heteronormative Trennung von einer öffentlichen, männlich codierten Sphäre (Politik, Verwaltung, Betrieb) und einer privaten, weiblich codierten Sphäre (Pflege, Familie) gesamtgesellschaftlich durchgesetzt und als geschlechtshierarchische Arbeitsteilung naturalisiert werden. Gekontert war diese sexistische ideologische Praxis durch den im Fordismus möglich gewordenen massenhaften Konsum, der allen Menschen, Erwerbstätigen und ihren Familienangehörigen, eine individuelle und konsumistische gesellschaftliche Teilhabe in Aussicht stellte. Nicht zuletzt wurde der Fordismus ideologisch von einem nationalistischen und konformistischen Anpassungsdruck zusammengehalten, der unweigerlich mit rassistischen Exklusionsprozessen einherging. Insgesamt wurde ein ideologisches Projekt formuliert, »das gesellschaftlichen Fortschritt als unbegrenztes ökonomisches Wachstum, einen durch Arbeitsdisziplin, Verhaltensstandardisierung und Konsumismus gekennzeichneten Individualismus, Emanzipation durch Lohnarbeit, etatistische Sozialreform, bürokratisch gewährleisteten Egalitarismus, schrankenlose Ausbeutbarkeit natürlicher Ressourcen sowie den Glauben an wissenschaftlich-technische Machbarkeit definierte« (Hirsch 1990, S. 103).25

Krise des Fordismus

In den späten 1960er Jahren geriet der Fordismus dann in eine strukturelle Krise – beispielhaft steht hierfür die große »Ölkrise« von 1973. Die Produktivitätsreserven der standardisierten Fließbandproduktion waren zunehmend 25 In diesem Kontext kann der Nationalsozialismus als destruktivste Ausgeburt des Fordismus verstanden werden: als Verknüpfung eines »völkischen« Wohlfahrtstaats und eines ebensolchen Wohlstands- und Teilhabeversprechens mit der fabrikmäßig organisierten Auslöschung all jener Menschen, die als nicht zugehörig und gefährlich verfremdet wurden.

136

2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

erschöpft. Einerseits konnten die Produktionsabläufe kaum mehr weiter optimiert werden, andererseits entwickelten sich aufseiten der Arbeiter*innen Widerstände, etwa als Absentismus, Sabotage oder Dienst nach Vorschrift und in Form von Arbeitskämpfen gegen die herrschende Arbeitsmonotonie und Arbeitsdichte. Die Unternehmen reagierten darauf mit zwei zentralen Strategien: Erstens wendeten sie sich zunehmend von der Binnenmarktorientierung ab und setzten auf Internationalisierung der Produktion und Exportorientierung, und zweitens wurden neue Informationstechnologien genutzt und weiterentwickelt, um die Produktion auf diese Weise zu optimieren und zu internationalisieren. Durch diese informationstechnologische Optimierung der Produktion und die damit verbundene Suche des Kapitals nach den profitträchtigsten Standorten begann in den 1970er Jahren die Massenarbeitslosigkeit zu wachsen. Nationalstaaten gerieten zunehmend in Konkurrenz um die Ansiedlung von Kapital, und so wurde die ökonomische Krise gleichzeitig zu einer politischen und ideologischen Krise. Politisch betrachtet wurde der Sozialstaat von einer Stütze zum Hindernis der Kapitalverwertung, weil die wachsenden sozialstaatlichen Kosten im Kontext der Massenarbeitslosigkeit finanzielle Mittel erforderten, die zunehmend für die Standortpolitik gebraucht wurden, um den Ausbau der Infrastruktur, Innovationsförderung, Steuererleichterungen für Unternehmen etc. zu finanzieren. Der Staat geriet somit in das Dilemma, nicht zugleich die Integration der Gesellschaft durch materielle Wohlfahrt und die Standortförderung betreiben zu können. Die Folge waren Desintegrationsprozesse, sozialer Protest und ideologische Krisendynamiken. Allgemein breitete sich in der fordistischen Krise ein Unbehagen aus, entzündet an der konsumistischen Vereinzelung der Menschen, an der Entkoppelung von Bildung und Chancen auf dem Arbeitsmarkt, an der Kritik der Kleinfamilie ebenso wie an der Furcht vor ihrer Zersetzung durch alternative Familienmodelle. Vor diesem Hintergrund formierte sich einerseits eine »Neue Rechte«, die das Unbehagen aufgriff und versuchte, sich mit Forderungen nach radikaler Selektion des Sozialstaats, rassistischer Abschottung der Gesellschaft, rigider geschlechtlicher Arbeitsteilung sowie der Aufhebung der Vereinzelung durch die Geborgenheit im Schoße der Nation zu profilieren. Gleichzeitig wurde aber auch, beschleunigt durch die studentische Revolte von 1967/68, eine vehemente Kritik entfacht an der Gewaltförmigkeit der Gesellschaft, die sich exemplarisch im Vietnamkrieg, in der atomaren Aufrüstung der Nato und der Sowjetunion sowie in der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zeigte, aber auch an 137

2 Subjektivität und Gesellschaft

Bürokratismus und staatlicher Bevormundung, an geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung und repressiver Erziehung, an Konformismus und bloßer Ersatzbefriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse im Konsumismus. Aus dieser Kritik entstanden nicht nur staatlich initiierte Reformen wie die Bildungsreform, insbesondere in Form neuer Konzepte in Kindertageseinrichtungen und der Gründung von Fachhochschulen, sondern auch neue soziale Bewegungen wie die Friedensbewegung, die (zweite) Frauenbewegung und die Ökologiebewegung. Aus dieser ökonomischen, politischen und ideologischen Krise entstehen bis heute neue Gesellschaftsformationen, die regulationstheoretisch als »Postfordismus« verhandelt werden, also als das, was nach dem Fordismus kommt. Diese Bezeichnung ist sicherlich auch der Verlegenheit geschuldet, dass derzeit keine eindeutigen gesellschaftlichen Entwicklungen auszumachen sind, die ein globales Reproduktionsmodell zu kennzeichnen erlauben würden. Vielmehr weist die globale politökonomische Entwicklung viele Ungleichzeitigkeiten, Fragmentierungen und Differenzen auf. Pragmatisch würde ich vorschlagen, von der Vorherrschaft des Neoliberalismus zu sprechen. Dieser knüpft an die liberalen Ideen des 19.  Jahrhunderts an, also an die Freiheit der Individuen und deren Verteidigung gegen den Einfluss staatlicher Autoritäten. Der Neoliberalismus nutzt diese Ideen aber, um die keynesianische Steuerungspolitik zurückzudrängen, dem Markt unbedingten Vorrang vor der Politik einzuräumen, verbunden mit der Erzählung, dass der Erfolg von frei wirtschaftenden Unternehmen letztlich gesellschaftlichen Reichtum erzeugt und auf diese Weise auch der arbeitenden Bevölkerung zugutekommt.26 Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die mit der Privatisierung von öffentlichen Gütern wie Gesundheit und Bildung, mit der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und mit der Individualisierung sozialer Risiken einhergehen, können dann als persönliches Scheitern Einzelner entsorgt werden.27 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die ökonomischen, 26 Es ist sicherlich kein Zufall, dass die neoliberale Wende zwar von konservativen Politiker*innen wie Ronald Reagan in den USA, von Margarete Thatcher in Großbritannien und von Helmut Kohl in der BRD auf den Weg gebracht wurde, aber nur durch eher sozialdemokratische Politiker*innen wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder durchgesetzt werden konnte, weil diese erst in der Lage waren, alternative und proletarische Milieus auf diesem Weg einzubinden. 27 So wird die Bedürftigkeit der Benachteiligten durch Tafeln und stiftungsfinanzierte Projekte ebenso befriedigt wie verewigt, indem Almosen an die Stelle politisch und juristisch verbriefter Rechte treten.

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2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

politischen und ideologischen Tendenzen im Neoliberalismus einer detaillierteren Kritik unterzogen werden, weil diese die gesellschaftlichen und subjektiven Verhältnisse unserer Gegenwart maßgeblich bestimmen. Neoliberalismus

Unsere heutige Welt ist ebenso medial wie ökonomisch entgrenzt. Virtuell sind wir mit allen Regionen dieser Erde verbunden und die ökonomischen Prozesse der Produktion, Zirkulation und Konsumtion bilden ein hochvernetztes, disparates und permanentes Geschehen im globalem Maßstab (Morgenroth 2015, S. 198). Technologische Grundlage der globalisierten Ökonomie ist die rasant fortschreitende Entwicklung von Informationsund Kommunikationstechnologien, die in erster Linie der Rationalisierung, Vernetzung und Kostensenkung dienen. Einerseits können innerbetriebliche Abläufe besser flexibilisiert und überwacht werden, verbunden mit der raumzeitlichen Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse. Dies betrifft durchaus zunehmend fest angestellte Arbeitskräfte, aber auch immer mehr freie Selbstständige. Ein recht junges und extremes Beispiel dafür ist das Crowdworking, bei dem die vereinzelten Arbeitskraftunternehmer*innen ihre immateriellen Dienstleistungen auf einem globalen digitalen Markt auf Zuruf zu verwerten trachten, dabei in einem weltweiten Konkurrenzkampf mit unzähligen Mitbewerber*innen stehen und sich zumeist ohne Sozialversicherung von einem prekären Job zum nächsten hangeln. Andererseits ermöglichen diese Kommunikations- und Informationstechnologien die raumzeitliche Zerlegung des materiellen Produktionsprozesses. Diese zeigt sich beispielsweise im Outsourcing, also der Beauftragung von Subunternehmen für Produktionsschritte, die nur bei Bedarf aktiviert und bezahlt werden, oder auch bei der Just-in-time-Produktion, bei der bestimmte Produktionsschritte an Orte ausgelagert werden, an denen bei kurzfristiger Nachfrage kostengünstig und meist unter schlechten Arbeitsbedingungen produziert wird (Naumann 2010, S. 60). Ökonomisches Ziel ist dabei insgesamt, die einzelnen Arbeitskräfte und unterschiedliche global verfügbare Standorte so zu nutzen, dass Waren und Dienstleistungen möglichst günstig und profitträchtig produziert werden können – zynisch gesprochen ist es umso profitabler je weniger Arbeitsschutz, Rechtsschutz, menschliche Rekreationsbedürfnisse und Menschenwürde beachtet werden müssen. In diesem Kontext haben sich die Arbeitsverhältnisse selbst in privilegierten Ländern dramatisch verändert. Zunächst existiert weiterhin die 139

2 Subjektivität und Gesellschaft

Gruppe der sogenannten Kernbelegschaftsangehörigen. Diese sind in der Regel recht gut qualifiziert, sozial relativ abgesichert, zugleich aber einer beschleunigten und entgrenzten Arbeit ausgesetzt. Daneben wächst die Gruppe der prekär Beschäftigten immer weiter an. Darunter fallen Zeitund Leiharbeiter, neue Selbstständige in der Industrie, im Dienstleistungsgewerbe oder in der Landwirtschaft, allesamt sozial kaum abgesichert und fortwährend auf der Suche nach neuen Jobs, um ihr Auskommen irgendwie zu gewährleisten. Nicht zu vergessen ist die Gruppe derjenigen, die in sogenannten Bad Jobs arbeiten müssen. Vor allem in der Gastronomie, in der Pflege und in privaten Haushalten verdingen sich Menschen, die schlecht bezahlt, der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgeliefert und häufig illegalisiert sind. Schließlich gibt es noch die in Millionen zu zählenden Menschen, die von Erwerbslosigkeit betroffen sind (ebd., S. 60f.). Die staatliche Politik hat nun die schwierige Aufgabe, sowohl die Folgen der Globalisierung als auch die wachsenden gesellschaftlichen Spaltungen im Rahmen des Nationalstaats zu regulieren – denn der Globalisierung wirtschaftlicher Macht steht keine Globalisierung der Politik entgegen (Bauman 2016, S. 62). Im Zuge dieser Entwicklung haben sich »nationale Wettbewerbsstaaten« herausgebildet (Hirsch 1998). Diese sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie in eine Standortkonkurrenz zu anderen Staaten geraten. Nur wenn genügend Unternehmen an einem Standort verbleiben oder neu investieren, entstehen Arbeitsplätze und fließen Steuereinnahmen, die der Staat zur Bewältigung seiner hoheitlichen Aufgaben benötigt. Somit zielt die Politik des nationalen Wettbewerbsstaats insbesondere darauf, durch rechtliche Rahmenbedingungen, Infrastrukturpolitik, Technologieförderung, Steuerpolitik, Bildungspolitik bis hin zu städtebaulichen Maßnahmen die Attraktivität des Standorts zu erhöhen (Naumann 2010, S. 61). Dadurch aber entsteht ein strukturelles politisches Dilemma. Wie schon bemerkt bindet und erfordert die Standortpolitik einerseits erhebliche finanzielle Mittel, andererseits steigen infolge der wachsenden sozialen Verwerfungen die Kosten des Wohlfahrtsstaats immens an. Zur Bewältigung dieses Dilemmas reagiert der Staat mit drei Strategien: Erstens kommt es zu staatlicher Neuformierung des Arbeitsmarkts in Form der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen, der Lockerung des Kündigungsschutzes sowie der Förderung von prekären Beschäftigungsverhältnissen. In Verbindung mit der ökonomischen und informationstechnologischen Entgrenzung arbeiten immer mehr Menschen als »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/ 140

2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

Pongratz)  – ob festangestellt oder prekär beschäftigt (vgl. Haubl 2012, S. 368; Funk 2011, S. 57). Zweitens wird der Sicherheitsstaat ausgebaut, um diejenigen unter Kontrolle zu halten, die innerhalb und außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen weder als Arbeitskräfte noch als Konsumenten zu gebrauchen sind. Die Frage der Produktion »überflüssiger Menschen«, und zwar im Weltmaßstab, wird durch diese »Versicherheitlichung« einer Pseudolösung zugeführt (Bauman 2016, S. 9/33). Drittens ist ein dramatischer Umbau des Sozialstaats zu konstatieren, der die Verwandlung des sorgenden in einen gewährleistenden Sozialstaat mit sich bringt (Bude 2008, S. 31). Die Transferleistungen werden zurückgefahren, um Kosten zu senken, und dienen nicht länger dem Erhalt eines erreichten sozialen und materiellen Status, sondern bestenfalls der Vermeidung eines vollständigen sozialen Ausschlusses – alle weitere Sicherung muss privat organisiert und bezahlt werden. Auf diese Weise treibt der politische Diskurs der Eigenverantwortung die Privatisierung von Risiken sowie den Abbau von Solidargemeinschaften voran und erlegt den Benachteiligten und Marginalisierten die Schuld für ihr etwaiges Scheitern auf (Bauman 2016, S. 60). Im Kontext dieser ökonomischen und politischen Transformationsprozesse wandelt sich auch die Regulationsweise, also die institutionell-diskursive Praxis, in der die Menschen ihr Leben zu deuten versuchen. Das heute vorherrschende Deutungsmuster ist das der Individualisierung und meint zunächst die Möglichkeit, das eigene Leben jenseits tradierter Vorgaben und Zwänge etwa durch Geschlecht oder soziale Herkunft, selbst gestalten zu können. Diese Diskurse der Individualisierung gründen durchaus in neuen sozialen Entfaltungsmöglichkeiten, denn zweifellos sind die Spielräume für Selbstbestimmung und vielfältige Lebensentwürfe in den letzten Jahrzehnten außerordentlich gewachsen. Diese Spielräume werden allerdings schnell kassiert, wenn die neoliberalistischen Kontexte nicht kritisch reflektiert werden. Denn die Individualisierung hat auch eine ideologische Kehrseite. Der neoliberale Abbau von schutzspendenden, solidarischen Institutionen, die Erosion sozialer Gemeinschaften wird gekontert durch die Verlagerung der Verantwortung für ein gelingendes Leben in die einzelnen Menschen hinein. Die Rede ist dann zwar von Freiheit, von neuen Möglichkeiten, den eigenen Neigungen und Leidenschaften nachzugehen (ebd., S. 58). Doch ist diese Freiheit nicht nur von diffusen Ängsten gezeichnet, gesellschaftlichen Prozessen ausgesetzt zu sein, ohne diese selbst beeinflussen zu können, sondern weitgehend auf die Freiheit von Arbeitskraftunternehmer*innen reduziert, sich selbst möglichst erfolgreich zu vermarkten, den eigenen Egoismen 141

2 Subjektivität und Gesellschaft

in permanenter Konkurrenz zu den Mitbewerber*innen zu folgen und ansonsten einen distinktiven Lebensstil qua Konsum zu kreieren (vgl. Gebauer 2016, S. 18; Decker et al. 2020, S. 205).28 Mit Nancy Fraser gesprochen ist somit ein »progressiver Neoliberalismus« hegemonial geworden, der nur jenen Subjekten, die dessen Diskurse in ihrer Arbeits- und Konsumwelt zu nutzen vermögen, die Selbsterzählung von Freiheit und Vielfalt erlaubt. Damit entziehen sie jedoch den neoliberalistischen Kapitalismus jeglicher Kritik, sie verkennen die eigene privilegierte Position und verleugnen den Ausschluss wachsender Bevölkerungsgruppen von sozialer und materieller Anerkennung. Vielmehr tragen sie dazu bei, dem Neoliberalismus den Augenschein verwirklichter Selbstbestimmung, Toleranz und Egalität zu verleihen (Fraser 2017). Weil aber im Neoliberalismus soziale Bindungskräfte geschwächt werden und immer mehr Menschen unter dem Verlust sozialer und materieller Gratifikationen leiden, entstehen auch immer stärkere, noch destruktivere Gegenbewegungen. Hier ist besonders der aktuelle Rechtspopulismus zu nennen, der mit rassistischer und cis-sexistischer Wut versucht, die Individualisierung und Globalisierung zu bekämpfen und eigene Handlungsmacht zurückzugewinnen. Doch letztlich muss dies als »reaktionärer Neoliberalismus« verstanden werden, weil der Rechtspopulismus die politökonomischen Bedingungen der Globalisierung verleugnet, damit die Ursachen fehlender Anerkennung verkennt und das eigene Leiden aggressiv an bestimmten privilegierten und benachteiligten Bevölkerungsgruppen ausagiert: Es darf nicht verstanden werden, dass der rassistische und sexistische Hass nichts an den materiellen Lebensgrundlagen bessert (ebd.). Schließlich sind aber auch emanzipatorische Tendenzen im Neoliberalismus zu konstatieren. Diese resultieren zunächst aus den offengebliebenen Versprechen des Fordismus wie materielle Wohlfahrt und Bildung für alle, Selbstbestimmung und Solidarität sowie Demokratisierung der 28 Diese Variante von Individualisierung hat Richard Sennett als den »flexiblen Menschen« beschrieben: immer bereit, sich den Flexibilisierungs-, Mobilitäts- und Leistungsanforderungen anzupassen, und dies als individuelle Freiheit zu verstehen. Mit Michel Foucault kann dies vielleicht noch besser als heutige Form der Gouvernementalität verstanden werden, als Erzeugung von produktiven Subjekten, die sich mit Technologien des Selbst zu optimieren trachten, ohne sich selbst je genügen zu können, ohne sich selbst wirklich zu verstehen.

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2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

gesamten Gesellschaft. Darüber hinaus, in einer negativen Bestimmung, erwachsen aus dem Kampf gegen Verwertungslogik und gegen individualistische, sexistische und rassistische Verhältnisse emanzipatorische Bewegungen. Nicht zuletzt können auch die Vervielfältigung von Lebensentwürfen, Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten im lebensweltlichen und globalen Maßstab, die Entstehung selbstkonstituierter Gemeinschaften bis hin zu politisch-emanzipatorischen und kommunikationstechnologisch organisierten Netzwerken begünstigen. Solche Tendenzen zeigen sich u. a. in egalitären Familienformen, in einer emanzipatorischen Sozialen Arbeit, in kritischen Diskursen der LGBTIQ-Bewegung, im intersektionalen Einsatz von Antifa, Fantifa und Migrantifa, in solidarischen Formen der Sharing Economy, der Selbstverwaltung und Selbstermächtigung von Unternehmen (wie etwa bei Vio.Me in Griechenland) oder auch in globalen Bewegungen wie Fridays for Future, Attac oder Occupy. Wie nun aber die Subjekte sich in die neoliberalistischen Verhältnisse einfügen, ob individualistisch, ob rassistisch und sexistisch oder ob emanzipatorisch, wie sie ihre alltäglichen Erfahrungen innerpsychisch verarbeiten, kann gesellschaftstheoretisch allein nicht geklärt werden – hier muss, wie schon bemerkt, die zeitdiagnostische Expertise der kritischen Theorie des Subjekts eingeholt werden. 2.6.2 Subjektivität im Neoliberalismus

Subjektivität entfaltet sich unweigerlich im Rahmen der dargelegten Regulationsweise des Neoliberalismus, in einer widersprüchlichen und vielfältigen institutionell-diskursiven Praxis, die heteronome, dysfunktionale und transgressive Verarbeitungsweisen und Subjektformen hervorbringt. Das Grundproblem gegenwärtiger Subjektivität ist die arg eingeschränkte soziale Gestaltungsfähigkeit. Unter den Bedingungen von Globalisierung, Ökonomisierung, Entgrenzung, Prekarisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und marktförmiger Vereinzelung sind die Möglichkeiten, die eigenen sozialen Beziehungen und Bezüge zu gestalten, auf fragmentierte Alltagsbereiche beschränkt (vgl. Bartsch 2012, S. 108). Die verselbstständigte neoliberalistische und globalisierte Ökonomie ist gleichsam zu einer neuen anonymisierten Autorität geworden, die die Menschen zu funktionaler Anpassung zwingt (Decker et al. 2020, S. 206f.). Sie sind strukturell 143

2 Subjektivität und Gesellschaft

mit Gefühlen der Angst und Ohnmacht konfrontiert, sie geraten innerpsychisch unter ein Diktat der Unlustvermeidung, das darauf zielt, die Angst und die Ohnmacht, aber auch Wünsche und Sehnsüchte, die sich im Hier und Jetzt nicht realisieren lassen, abzuwehren. Sie leiden unter einer Ich-Schwäche, sowohl im Hinblick auf die innere als auch die äußere Realität, und fügen Realitätsausschnitte zu irgendwelchen Ganzheiten zusammen, die nur subjektiv einen vorteilhaften Sinn ergeben müssen (ebd., S. 195; Horn 1990). In diesem Sinn nutzen die Menschen die verfügbaren gesellschaftlichen Diskurse flexibel je nach lebensgeschichtlicher Vorerfahrung und sozialer Verortung, um die Unlust zu bewältigen. Dies können rechtspopulistische, rassistische und sexistische Diskurse sein, weil sie die Ohnmacht und Kränkung kompensieren helfen, Bindungsbedürfnisse ersatzbefriedigen und die Wiedergewinnung eigener Handlungsmacht durch die aggressive Diffamierung bestimmter Bevölkerungsgruppen suggerieren.29 Vor allem aber sind es die neoliberalistischen Erzählungen von Freiheit, Vielfalt und Selbstoptimierung, die zur Bewältigung von Angst und Ohnmacht genutzt werden. Der Preis dafür sind freilich unangemessene Größenfantasien und die Verdrängung all jener Gefühle, wie etwa Bindungs- und Versorgungswünsche, Gefühle der Haltlosigkeit oder Abhängigkeitsängste, die diese Selbsterzählung und das psychosoziale Überleben im ökonomisierten Alltag bedrohen.30 Im Folgenden möchte ich die vorherrschenden Formen und Dynamiken der Subjektivität an den Beispielen des Erwerbslebens, des Konsums und der Gruppenbildung im Neoliberalismus untersuchen. 29 Wie die aktuelle Autoritarismus-Studie von Brähler und Decker zeigt, besteht in der BRD auch heute eine ausgeprägte Anfälligkeit für ein »autoritäres Syndrom« und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Decker/Brähler 2020). Der »autoritäre Charakter« hat offenbar noch nicht ausgedient, allerdings auf veränderte und widersprüchliche Weise. Einerseits dürften weniger Menschen aufgrund einer demokratischen Erziehung anfällig für das autoritäre Syndrom sein. Andererseits ist der autoritäre Charakter in seiner Starrheit für viele gesellschaftliche Bereiche im Neoliberalismus, in denen Flexibilität und Selbstständigkeit gefordert sind, geradezu dysfunktional. Es ist ein »sekundärer Autoritarismus«, der alle Menschen der Autorität der Wirtschaft unterwirft und auf antidemokratischer Seite zu Sadomasochismus (autoritäre Aggression, autoritäre Unterwürfigkeit oder Konventionalismus) oder Projektivität führt (Verschwörungsmentalität oder Aberglaube) (Decker et al. 2020, S. 196). 30 Hier kommt ein psychodynamisch vertieftes Verständnis der Gouvernementalität und produktiven Subjektivität, wie sie Foucault beschrieben hat, zum Ausdruck.

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2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

Subjektivität von Arbeitskraftunternehmer*innen

Sicherlich gab es niemals zuvor ein so ausgeprägtes Gefühl der Selbsttätigkeit im Erwerbsleben wie heute. Flache Hierarchien, Flexibilisierung, Informatisierung, Kooperations- und Kommunikationsspielräume erscheinen subjektiv zunächst als Freiheit und Selbstbestimmung. Allerdings realisiert sich diese Freiheit unweigerlich unter den neoliberalistisch veränderten Arbeitsbedingungen, die durch Entgrenzung und Ökonomisierung, durch Verdichtung, Beschleunigung, Prekarisierung und Subjektivierung gekennzeichnet sind (vgl. Haubl 2012, S. 368). Die Konstituierung der Subjekte als Arbeitskraftunternehmer*innen führt zur Verinnerlichung dieser Prinzipien und letztlich dazu, dass sie ihr ganzes Fühlen, Denken und Handeln in den Dienst des Erhalts ihrer Arbeitsfähigkeit und Fitness stellen. Mit dieser schädlichen Selbstinstrumentalisierung wird eine Aggressivität gegen das eigene Selbst agiert (Funk 2011, S. 58), die im Kern den alltäglichen Zumutungen gelten dürfte. Nun aber zeigt sie sich als pseudorationales Handeln in der Exekution von Betriebsinteressen oder gar im Sinne einer arbeitswütigen »interessierten Selbstgefährdung« (Krause), die sich letztlich auch gesundheitsgefährdend gegen das eigene Selbst richten kann (Haubl 2012, S. 369). Es ist somit kein Zufall, dass das entgrenzte Erwerbsleben zur massiven Ausbreitung von reaktiven Erkrankungen wie Sucht und Depression führt, es erzeugt massenhaft nicht nur Verlierer, Unfähige und Ausgegrenzte, sondern auch Kranke (Morgenroth 2015, S. 207f.). Eine weitere Differenzierung dieses Befundes eröffnet das von Vera King, Hartmut Rosa und Benigna Gerisch geleitete Forschungsprojekt Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne (APAS). Dieses zielt darauf, das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Anforderungen der Selbstoptimierung und biografisch-psychodynamischen Dispositionen herauszuarbeiten (Salfeld-Nebgen et al. 2016, S. 11). Dabei lassen sich drei Typen der Lebensführung unterscheiden. Einigen »Individuen gelingt die Abgrenzung von den von außen angetragenen Perfektionierungsansprüchen recht gut, Selbst- und Fremdfürsorge können angemessen aufrechterhalten werden« (ebd., S. 10). Doch bei den anderen beiden Typen des Affirmierens und des Resignierens besteht ein ernstes Risiko, psychisch oder psychosomatisch zu erkranken. Sowohl bei jenen, die die Optimierungsansprüche recht erfolgreich erfüllen, als auch bei jenen, die immer wieder daran scheitern, zeigen sich unterschiedliche Erschöpfungssymp145

2 Subjektivität und Gesellschaft

tome sowie die Abwehr von Nähebedürfnissen und Beziehungswünschen (Uhlendorf et al. 2016, S. 33).31 Im Sinne eines psychosozialen Arrangements sind diese Lösungen sicherlich zunächst funktional, sowohl für das psychische Überleben als auch für die Arbeitsprozesse, doch sind sie letztlich destruktiv, da sich die unbewältigten Affekte und Konflikte andere Abfuhrbahnen suchen müssen und damit ein erhebliches psychosoziales Leid erzeugen, das jedenfalls Glück, früher oder später aber auch die Arbeitsfähigkeit kassiert. Diese Destruktivität dürfte sich selbst und gerade in jenen Unternehmen entfalten, die ihre Mit- und Zuarbeiter*innen durch eine kommunikative Unternehmenskultur an eine vermeintliche Unternehmensfamilie zu binden trachten. Das Versprechen von Selbstbestimmung und Bindung befördert geradezu die Selbstinstrumentalisierung der beteiligten Subjekte. Mit Mentzos gesprochen entsteht eine institutionalisierte Abwehr all jener affektiven Themen, die in der Inszenierung von produktiver Subjektivität und Unternehmensbindung nicht integriert werden können. Wünsche nach zwanglosem Halt und Bindung jenseits der Verwertungslogik ebenso wie Deklassierungs- und Existenzängste, Ohnmacht und Wut dürfen nicht in die Wahrnehmung treten. Damit sind diese Gefühle nicht verschwunden, vielmehr gehen sie in die umso entschlossenere Selbstinstrumentalisierung und Unternehmensbindung ein. Die damit einhergehende Gefährdung der Subjekte gefährdet dann letztlich auch die Funktionalität der unternehmerischen Institution (vgl. Gerisch et al. 2019). 31 Ich möchte hier in Rekurs auf das vorangegangene Kapitel nochmals darauf hinweisen, dass sich die Ergebnisse des APAS-Projekts mithilfe des Drei-Säulen-Modells nach Mentzos sehr gut einordnen lassen. In der Verquickung von biografischen Erfahrungen mit Herausforderungen der Arbeitswelt vermag eine Minderheit, wie bereits erwähnt, Selbst- und Fremdfürsorge, Autonomie und Bindung, genügend gut zu balancieren – Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Gewissen können als relativ reif und gleichermaßen stabil gelten. Eine Mehrheit aber muss zur Selbstwertregulation auf Notlösungen zurückgreifen. So werden bei manchen unangemessene Größenfantasien mobilisiert, um sich das bedrohliche Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Mächten ebenso wie ängstigende Bindungswünsche vom Leib zu halten; bei anderen verknüpft sich das Fehlen früher, glanzvoller Spiegelungen mit dem Gefühl, im Arbeitsleben nie gut genug zu sein, zu einer demoralisierten Haltung mit unbestimmter Aggression; und wieder andere versuchen durch eine maßlose Leistungsbereitschaft, gleichsam durch die Hypertrophie der Über-Ich-Säule, endlich jene Anerkennung und Zuwendung zu erfahren, die ihnen lebensgeschichtlich weitgehend versagt geblieben ist (vgl. Mentzos 2013, S. 69).

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2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

Die Belohnung für diese Entbehrungen, die Ersatzbefriedigung einer wirklichen Balancierung von Autonomie und Verbundenheit, verspricht der Konsum in einer diversifizierten Konsumwelt. Subjektivität im diversifizierten Konsum

Sicherlich eröffnet die hochdiversifizierte Warenwelt auch Momente der Selbstbestimmung, sie bietet vielfältige identifikatorische Möglichkeiten und erleichtert über geteilte kulturelle Codes Vergemeinschaftungsprozesse, durch Ironie oder Kritik kann sie sogar emanzipatorische Potenziale enthalten. Doch wie bereits erwähnt, leiden viele Menschen unter einer Ich-Schwäche, unter dem Diktat der Unlustvermeidung, der erzwungenen Überbetonung von Autonomie und der gleichzeitigen Angst vor Bindung und Abhängigkeit. Unter diesen Umständen kann der Konsum zu einem psychosozialen Arrangement zwischen Subjekten und der Warenwelt führen, das schon Lorenzer als »ästhetische Symptombildung« beschrieben hat (Lorenzer 1988, S. 173). Die Warenwelt ist heute, noch viel mehr als zu Lorenzers Zeiten, von einer schier unendlichen Fülle ästhetisch aufgeladener Gegenstände, Dienstleistungen und Zeichen von Sinnlichkeit geprägt, von Sexualität, Kommunikation und Verbundenheit. In dieser Fülle scheint es keine Widersprüche und keine Geschichte zu geben, alle Zeichen scheinen disparat nebeneinander zu stehen, alles scheint gleichermaßen verfügbar – eine Welt, die eigentümlich der geschichtslosen und widerspruchsfreien Funktionsweise des Unbewussten korrespondiert. Auf diese Weise drängt sich die Warenwelt für die Bewältigung subjektiv unbewältigter Konflikte geradezu auf. Die Subjekte können ihre innere Realität in der Fülle der Warenwelt deponieren, sie greifen die warenförmig verfügbaren Symbole auf und arrangieren sie im Hinblick auf ihre subjektive Funktionalität. Die real eingeschränkte Gestaltungsfähigkeit und gesellschaftliche Ohnmacht der Subjekte kann sich somit in die Imagination einer grenzenlosen Autonomie verwandeln, eine Größenfantasie, die sich durch Auswahl von Waren, Kaufentscheidungen und Kaufakte in einer scheinbar frei verfügbaren Warenwelt immer wieder selbst bestätigt. Doch nicht nur das, auch die abgewehrten Bindungswünsche können warenförmig ersatzbefriedigt werden, weil die Warenwelt unzählige Gegenstände und Dienstleistungen bereitstellt, die mit Codes der Sinnlichkeit, Kommunikation und Verbundenheit daherkommen. Der Konsum dieser Codes erzeugt dann Selbstbilder inten147

2 Subjektivität und Gesellschaft

siver Kommunikations- und Bindungsfähigkeit, ohne die Angst vor Kränkung, Überwältigung und Abhängigkeit, ohne das Gefühl eigener Insuffizienz spüren zu müssen – Gefühle, die in realen zwischenmenschlichen Beziehungen auftauchen können und als hochbedrohlich erlebt werden.32 Insgesamt peilen die Subjekte also größtmögliche Subjektivitätsgewinne an, doch in der warenförmigen Praxis verkommen Worte wie Freiheit, Lust und Bindung zu Sprachschablonen, die Ängste und reale Abhängigkeit verleugnen, und die diversifizierten Kaufakte geraten zu Verhaltensklischees, die immer wieder zwanghaft zur Ersatzbefriedigung von Autonomie und Verbundenheit treiben. Die narzisstische Wut (Kohut) infolge der Leere, die die ästhetische Symptombildung hinterlässt, muss im Sinne der unbewussten Funktion des psychosozialen Arrangements zwischen der Bedürftigkeit der Subjekte und der Konsumwelt verdrängt bleiben. Sie zeigt sich nur mehr in der besagten Selbstinstrumentalisierung, die erst den Konsum ermöglicht, im bemächtigenden und doch bloß ersatzbefriedigenden Kaufakt selbst sowie in der Abgrenzung und Entwertung von anderen Konsumstilen.33 Gruppen als Pseudo-Wir-Bildung

Eine weitere Möglichkeit zur Pseudolösung unbewältigter psychosozialer Konflikte besteht in der Konstituierung einer scheinbar homogenen Selbstgruppe und der Projektion von abgespaltenen Affekten wie Wut, 32 Forciert werden diese Tendenzen durch die rasante Weiterentwicklung des Internets. Neben den zweifellos wichtigen Errungenschaften wie Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten, ist das Internet nicht nur eine riesige Datensammelmaschine, die u. a. hochpersonalisierte Werbung ermöglicht, sondern überdies ein entgrenzter Raum der Emotionalisierung, Sensationalisierung und Skandalisierung. Subjektiv bedient das Internet einerseits Größenfantasien unendlicher Zugriffsmacht auf die Welt und andererseits erlaubt es den vereinzelt und mehr oder minder anonym verbundenen Menschen je nach Bedarf unterschiedlichste Inszenierungen und Affektdurchbrüche. 33 Die Verbindung von Subjektivität und Konsum findet sich natürlich ebenso im progressiven wie im reaktionären Neoliberalismus. Während ersterer sich häufig Zeichen der Vielfalt, etwa von relevanten Minderheiten wie People of Color oder der LGBTIQ-Community einverleibt, um den Konsum symbolisch zu bereichern und zu diversifizieren, zielt letzterer eher auf Vereindeutigungen, nicht nur durch bekannte, eindeutig rechts codierte Marken wie Thor Steinar, sondern auch durch Entwendung von Marken wie Fred Perry oder einen mitunter hipsterartigen Konsumstil wie bei den »Identitären«.

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2.6 Gesellschaft und Subjektivität heute

Ohnmacht oder Angst auf diskursiv verfügbare Gruppen. Solche transsubjektiven Prozesse können bis zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit reichen (Heitmeyer 2012, S. 16). Mit Mentzos lassen sich diese Prozesse als »Pseudo-Wir-Bildung« und »Real-Externalisierung« verstehen. Die eigene Bezugsgruppe kann ihre Homogenität nur behaupten, indem alle Widersprüche, Konflikte und Affekte, die zu bedrohlich sind und mithin unbewältigt bleiben, abgewehrt werden. Da in einer solchen Gruppe kein reifes Wir entstehen kann, ein Wir, das Unterschiede, Konflikte und auch schwere affektiv besetzte Themen zu integrieren vermag, entsteht bloß eine Pseudo-Wir-Bildung. In der Pseudo-Wir-Bildung sind die abgewehrten Themen freilich nicht verschwunden, sie müssen sich infolge der Abwehr psycho- und gruppendynamisch andere Abfuhrbahnen suchen. Und eine intergruppale Abfuhrbahn ist die Real-Externalisierung, also die Projektion der abgewehrten affektiv besetzten Themen auf eine reale, diskursiv verfügbare Fremdgruppe, die damit zugleich verfremdet und homogenisiert wird. Der »Gewinn« besteht darin, dass die allzu bedrohlichen Affekte, wie etwa eigene Bedürftigkeit oder Ohnmacht, durch die Real-Externalisierung dem eigenen Erleben ferngehalten und an der verfremdeten Gruppe bekämpft und verächtlich gemacht werden können (Mentzos 2002, S. 130). Ich möchte diese Gruppenbildungen am Beispiel des progressiven und reaktionären Neoliberalismus verdeutlichen. Im Kontext des progressiven Neoliberalismus konstituiert sich eine Bezogenheit von Subjekten, die sich als leistungsfähig, tolerant, flexibel und weltoffen vermeinen. Die in dieser Gruppe abgewehrten Gefühle der eigenen Ohnmacht, der Wünsche nach zwanglosem Gehaltenwerden oder die Wut infolge der besagten Selbstinstrumentalisierung werden auf diskursiv verfügbare Gruppen projiziert, die dem progressiv neoliberalistischen Selbstbild entgegenstehen. So werden etwa im Verhältnis zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Affekte untergebracht. Der Gruppe derjenigen, die staatliche Transferleistungen erhalten, kann beispielsweise eine besondere Faulheit und Unfähigkeit, oder auch eine Dreistigkeit, es sich in der »sozialen Hängematte« bequem zu machen, zugeschrieben werden, um auf diese Weise Wünsche, sich nicht immer ständig selbst optimieren zu müssen, verächtlich machen zu können. Oder es entwickelt sich eine Coolness, die der Bedürftigkeit anderer jede Empathie verweigert, oder gar ein Zynismus, der in Bedürftigkeit nur selbstverschuldete Schwäche zu erkennen vermag – ein gruppenbezogenes Manöver, das letztlich der Abwehr einer virulenten Angst dient, 149

2 Subjektivität und Gesellschaft

selbst persönlich zu versagen oder nutzlos zu sein (Haubl 2007, S. 119ff.). Auf diese Weise kann zwar das eigene leistungsfähige Selbstbild aufrechterhalten werden, aber das innere Erleben verarmt zunehmend.34 Im Kontext des reaktionären Neoliberalismus kommt es eher zu einer intersektionalen Verkoppelung von kulturell-rassistischen und cis-sexistischen Pseudo-Wir-Bildungen. Dabei wird eine besondere Homogenität durch Volkszugehörigkeit imaginiert, während bestimmte Menschengruppen als inkompatibel mit diesem vermeintlich Eigenen identifiziert werden, um ihnen dann eine essenzielle Fremdheit und Bedrohlichkeit zuzuschreiben (Naumann 2010, S. 66/103). So wird etwa der LGBTIQ-Community eine besondere, das Volk und seine Geschlechterordnung bedrohende Fremdheit zugeschrieben, während bestimmten, gleichsam rassifizierten Gruppen mit dem Ressentiment begegnet wird, sie würden nicht nur den Wohlfahrtsstaat auszunutzen und die autochthone Bevölkerung übervorteilen, sondern obendrein auf deren Verdrängung hinwirken. Die eigenen Gefühle fehlender Anerkennung, Gefühle der Kränkung und Wut oder auch Wünsche nach innerer Vielfalt werden dabei auf diese Gruppen projiziert, um sie dort verächtlich machen und bekämpfen zu können – der sexistische und rassistische Hass kann sich dann als gerechtfertigte reaktive Aggression gegen eine reale äußere Bedrohung ausgeben (vgl. Decker et al. 2020, S. 207).35 Diese Gegenüberstellung von Gruppen als Pseudo-Wir-Bildungen, die ideologiekritisch eher dem progressiven oder dem reaktionären Neoliberalismus zugerechnet werden können, ist freilich nicht so zu verstehen, dass diese strikt gegensätzlich wären. Vielmehr besteht das spezifische der Subjektivität im Neoliberalismus darin, dass sie im Hier und Jetzt ihres sozialen Orts in der ebenso globalisierten wie fragmentierten Welt situativ und fle34 Etwas anders gelagert sind die Gruppenbildungen im Community-Kapitalismus (van Dyk/Haubner 2021). Silke van Dyk und Tine Haubner verstehen darunter die Ausbreitung von ehrenamtlichem Engagement, Freiwilligenarbeit und Stiftungswesen, von Tätigkeiten also, mit denen die Akteur*innen dem grassierenden Hyperindividualismus Erfahrungen von Sinnhaftigkeit und Verbundenheit entgegenstellen wollen. Sicherlich sind die Motive für solche Tätigkeiten psychosozial gut nachvollziehbar und die Arbeit verdient Anerkennung. Da aber mit diesen Tätigkeiten vielfach das Outsourcing sozialer Daseinsvorsorge, die staatlich garantiert und finanziert werden sollte, sowie die Entpolitisierung der sozialen Frage einhergehen, können sie als weitere Ausdrucksform des progressiven Neoliberalismus verstanden werden (ebd., S. 152ff.). 35 Das Thema progressiver und reaktionärer Neoliberalismus wird im folgenden Kapitel weiter ausdifferenziert.

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2.7 Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik

xibel die verfügbaren individualistischen, rassistischen und sexistischen Diskurse bemüht, um die je eigene psychosoziale Not irgendwie zu bewältigen.

2.7

Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik

Aufgrund des Wechselspiels von Subjekt und Gesellschaft, aufgrund der interdisziplinären Kooperation von kritischer Subjekt- und kritischer Gesellschaftstheorie war die Argumentation in den letzten Abschnitten wie eine Wellenbewegung angelegt – von der materialistischen Sozialisationstheorie als kritischer Subjekttheorie zur Regulationstheorie als kritischer Gesellschaftstheorie, und dann von der kritischen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse im Neoliberalismus hin zur kritischen Analyse der aktuellen psychischen Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Erfahrungen und daraus folgender Subjektbildungen. Nun sollen emanzipatorische Potenziale im Fokus stehen. Bereits Adorno hat in Erziehung zur Mündigkeit drei Dimensionen emanzipatorischen Handelns differenziert (Adorno 1971), die auch heute, unter Berücksichtigung veränderter gesellschaftlicher und subjektiver Verhältnisse, bedeutsam sind. Die erste zielt auf politische Interventionen, die zweite umfasst Aufklärung über destruktive gesellschaftliche Verhältnisse und ihre sozialpsychologischen Dynamiken, und die dritte Dimension meint das stetige Arbeiten daran, zwischenmenschliche, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die das Selbstwertgefühl stärken, die das Fühlen, Denken und Handeln vertiefen und die Partizipation und solidarische Verbundenheit ermöglichen. 2.7.1 Subjektivität und Beziehungsästhetik

Wie bereits im Abschnitt zur materialistischen Sozialisationstheorie ausgeführt, vollzieht sich die Sozialisation in sozialen Beziehungen. Durch die Verinnerlichung der mehr oder minder gelingenden Beziehungserfahrungen entstehen im Subjekt sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen oder auch Verhaltensklischees und Sprachschablonen, die das Denken, Fühlen und Handeln erheblich und leidvoll einschränken. Dabei findet die Subjektbildung unweigerlich innerhalb einer institutionell-dis151

2 Subjektivität und Gesellschaft

kursiven Praxis statt, die die Subjektivität immer auch in hegemoniale Praxisdeutungen und Handlungsweisen einbindet. Dies kann sich im Zeichen von Ökonomisierung, Konkurrenz, Vereinzelung und Entsolidarisierung etwa als Individualisierung und Dekontextualisierung von psychosozialen Störungen zeigen, als Übernahme vorherrschender Praxis im Erwerbsleben und Konsum oder auch als Naturalisierung und Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse. Das psychosoziale Überleben der Subjekte hängt unter solch heteronomen Lebensbedingungen auch davon ab, all jene Affekte abzuspalten, die eben dieses Überleben gefährden könnten. Im Neoliberalismus sind dies insbesondere Gefühle der Ohnmacht, der Trauer, der Scham und der Schuld, aber auch die Sehnsucht nach wirklicher Selbstbestimmung und haltenden Beziehungen. Psychodynamisch betrachtet löst schon das Aufkeimen solcher Gefühle Angst aus, die Angst wird zum absolut bestimmenden Affekt, sie muss dringend abgewehrt und dem Erleben ferngehalten werden. Dies geschieht häufig durch eine aggressive Bewältigung, die destruktiv, aber auch ebenso subjektiv wie gesellschaftlich funktional ist. Es ist eine Aggressivität, die sich als Selbstinstrumentalisierung gegen das eigene Selbst wendet, die sich auf andere Subjekte als Konkurrent*innen richtet oder an diskursiv verfügbaren Gruppen ausagiert wird. Aber diese destruktive Dynamik ist weder allumfassend noch schicksalhaft. Aus einer emanzipatorisch subjekttheoretischen Perspektive ist zum einen entscheidend, dass Subjektivität gerade heute vielfältig und widersprüchlich konstituiert ist, und zum anderen, dass sich das Gefüge der Interaktionsformen in Beziehungen entwickelt hat und in neuen Beziehungen auch verändern kann. Aufgrund dieser Vielfalt können sich insbesondere in gelingenden Beziehungen fruchtbare Irritationen ergeben, die das Fühlen, Denken und Handeln in Bewegung bringen. So bilden schon die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen einen Fundus für Fantasie und Kreativität, der potenziell bewusstseinsfähig ist. Auch die sprachsymbolischen Interaktionsformen können geweitet und differenziert werden, bis hin zur sprachlichen Integration bislang abgewehrter Affekte oder der Überwindung der binären diskursiven Ordnung. Selbst Verhaltensklischees und Sprachschablonen können ihre Macht verlieren, wenn eine gelebte Alternative existiert, beispielsweise zum Verhaltensklischee der Selbstinstrumentalisierung und der Sprachschablone individueller Freiheit und Autonomie. Insgesamt kann in gelingenden Beziehungen sowohl das subjektiv Verworfene, das Affektive und Transgressive entdeckt und bezeichnet werden, als auch das gesellschaftlich Verworfene, die Destrukti152

2.7 Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik

vität und Ungleichheit ebenso wie die Zuversicht, dass eine andere Welt möglich ist. Aus subjekttheoretischer Perspektive bilden alternative Beziehungserfahrungen also eine wichtige Voraussetzung dafür, die subjektivierte institutionell-diskursive Praxis zu überschreiten und eine emanzipatorische Praxis zu entwickeln. Notwendig sind haltgebende, nicht-instrumentelle, intersubjektive und genügend angstfreie Beziehungen, die Vielfalt und Individuation ebenso wie Verbundenheit und Solidarität ermöglichen. Denn erstens entsteht in solchen Beziehungen erst die Sicherheit, ein erweitertes Fühlen und Denken zu erproben, zweitens können auf dieser Grundlage Abwehr und Widerstand gelockert werden, und drittens erzeugen die Sicherheit und die gelockerte Abwehr die Bereitschaft, fruchtbare Irritationen zuzulassen und sich auf Begegnungen der Vielfalt und Verbundenheit einzulassen. Diese emanzipatorischen Potenziale von Beziehungen, die neue Erfahrungen eröffnen, möchte ich unter dem Begriff »Beziehungsästhetik« fassen. Grundsätzlich bildet die ästhetische Praxis die den Subjekten zugewandte Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil sie die sinnliche Wahrnehmung sozialer Erfahrungen und ihre Einordnung als angenehm oder weniger angenehm umschließt (Diederichsen 1998, S. 42). Gerade angesichts des emanzipatorischen Anspruchs, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen, besteht die Gefahr, dass die Wucht des Anspruchs subjektive Bedürfnisse und Gefühle zum Verschwinden bringt. Der Respekt der ästhetischen Praxis gegenüber richtet sich gegen eine selbstverleugnende Aufopferung von Subjekten, die emanzipatorisch aktiv sind oder werden wollen, gegen den Verzicht auf subjektives Glück und gegen das Phantasma eines radikalen Lebens jenseits der herrschenden Verhältnisse, weil dies schlicht eine Überforderung darstellt und die Kraft für emanzipatorisches Engagement rauben würde (ebd., S. 50f.). Darüber hinaus birgt die ästhetische Praxis als Beziehungsästhetik besondere Potenziale, weil in ihr eine gemeinsame Polyphonie von Affekten, Bedürfnissen und Vorlieben zum Ausdruck kommt, die die destruktiven Verwerfungen der hegemonialen institutionell-diskursiven Praxis erfahrbar machen und eine erweiterte Wahrnehmung von Subjektivität und Gesellschaft, ihren neoliberalistischen Einschränkungen und glücklicheren Entwicklungschancen eröffnet.36 Die Erfahrung, dass auch die schweren Affekte wie 36 Die emanzipatorische Nutzung ästhetischer Praxis kann freilich nur gelingen, wenn sie nicht ästhetizistisch verkürzt wird, denn ohne Zweifel fungiert Ästhetik immer auch als

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2 Subjektivität und Gesellschaft

Ohnmacht, Angst oder Scham gemeinsam haltbar und benennbar sind, hat nicht nur versöhnliche Effekte, sondern bildet die Bedingung geteilter Freude und der Kraft für emanzipatorische Praxis (dazu aus queerfeministischer Perspektive Mesquita/Nay 2013, S. 207f.). Aus solchen Erfahrungen können dann nicht nur differenziertere Kritik-, Identifizierungs- und Assoziierungsmöglichkeiten folgen, sondern auch die ebenso ästhetische wie politische Forderung, über die berechtigte Verbesserung je eigener Lebensumstände hinaus, die Lebensumstände aller zu verbessern. Anders gesagt: In einer glückenden Beziehungsästhetik wird erfahrbar, dass es potenziell lustvoll ist, mit den herrschenden Verhältnissen und Normen nicht einverstanden zu sein (vgl. ebd., S. 208). Selbstverständlich kann sich die Beziehungsästhetik nicht auf Subjektivität und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen beschränken, sondern muss notwendig auch sozialökologische Beziehungen berücksichtigen, also die Beziehungen zur sozialen und ökologischen Welt (Guattari 1994). Auch hier ist ein kritischer, sorgsamer, bedürfnisorientierter und solidarischer Zugang unabdingbar, weil in dieser Welt Lebensmöglichkeiten, Glück und Leid, ungleich verteilt sind, und weil obendrein die gemeinsamen Lebensgrundlagen aller Menschen von Zerstörung bedroht sind. Bini Adamczak spricht hier von einer »Beziehungsweise«, die »informelle wie institutionalisierte und formalisierte Beziehungen« umfasst (Adamczak 2017, S. 256), und die Solidarität ins Zentrum der Beziehungsgestaltung stellt: »Stärker als Gleichheit und Freiheit, die sich eher an einem äußerlichen Maßstab manifestieren – Verteilung von Gütern, Abwesenheit von direkten Zwängen –, erfordert das Verständnis von Solidarität ein Denken jenes zwischen, das den eigentlichen Lebensraum der Beziehungsweise bildet« (ebd., S. 225). Entscheidend ist demnach, »jene BeziehungsweiIdeologie. Schon in ihrer enklavischen Verkörperung von Sinnlichkeit und Glück, legitimiert die Ästhetik hinterrücks die Geltung der herrschenden institutionell-diskursiven Praxis, »in ihrer Wahrheit selbst, der Versöhnung, welche die empirische Realität verweigert, ist die Ästhetik Komplize der Ideologie, täuscht vor, Versöhnung wäre schon« (Adorno 1990, S.  203). Dies gilt insbesondere auch für den Markt der Selbstverwirklichungsgruppen, in denen mit Echtheits- und Authentizitätsgerede gesellschaftliche Kontexte ausgeblendet, Bedürfnisse ersatzbefriedigt oder Selbstoptimierungsprozesse vorangetrieben werden. Sollen demgegenüber die ästhetisch-emanzipatorischen Potenziale freigesetzt werden, muss der Bezug auf die subjektiven Bedürfnisse und ästhetischen Beziehungen ergänzt werden durch die kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und vorherrschenden Formen sozialen Austauschs.

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2.7 Subjektivität, Beziehungsästhetik und emanzipatorische Politik

sen zu pflegen, die als Kern des linken Projekts gelten können, nämlich die Solidarität und die Sorge umeinander. Dieses Bemühen ist das eigentliche Kraftzentrum emanzipatorischer Macht« (Zelik 2020, S. 317).37 2.7.2 Emanzipatorische Politik im Neoliberalismus – ein Ausblick

Unter der Hegemonie der neoliberalistischen Lebensweise, mit ihren progressiven oder reaktionären Spielarten sowie ihrer ökologischen, sozialen und subjektiven Verheerungen, bildet das Leben sorgsamer und solidarischer Beziehungen bereits eine gegenhegemoniale Strategie. Solche Beziehungsformen können eine erhebliche und exemplarische Strahlkraft entfalten, die auch über die unmittelbar Beteiligten hinaus in andere gesellschaftliche Bereiche mit der Botschaft hineinreichen kann, dass ein anderes Leben möglich ist, ein Leben ohne zwangsläufige Vereinzelung und Selbstinstrumentalisierung, ein Leben ohne rassistischen und sexistischen Hass. Dies wird insbesondere dann gelingen, wenn diese gegenhegemoniale Praxis eine ihre Grenzen überschreitende, kulturelle und intellektuelle Attraktivität zu vermitteln vermag (ebd., S. 294). Nancy Fraser spricht in diesem Kontext etwa von einem »progressiven Populismus«, der vielfältige Identitäten nicht gegen Klassenzugehörigkeit ausspielt, und der einerseits darauf zielt, etwa Mitglieder der LGBTIQ-Communities und People of Color von den »Konzernversionen der Diversität« abzuwerben, und andererseits darauf, Menschen, die rechtspopulistische Diskurse nutzen, davon zu überzeugen, dass Fremdenhass, Rassismus, Antifeminismus etc. nicht dazu beitragen, materielle Bedingungen für ein besseres und solidarisches Leben zu schaffen (Fraser 2017). Kurzum, es geht um Anti-Diskriminierung und Anerkennung vielfältiger Identifizierungen ebenso wie um eine entschlossene Umverteilung, die allen Menschen genügend Zeit, Bildung und materielle Ressourcen für gesell37 Ein Bezug zur Sozialen Arbeit drängt sich hier geradezu auf. Wenn Soziale Arbeit nicht auf ihre Funktion zur neoliberalistischen Kreislaufglättung und als Teil der juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparate reduziert werden will, muss sie eine fachlich versierte Beziehungsästhetik verwirklichen und auf solidarische sozialökologische Beziehungen hinwirken. Prinzipiell verfügt die Soziale Arbeit mit der Lebenswelt- und Sozialraumorientierung über angemessene emanzipatorische Konzepte, die mit psychoanalytisch-gesellschaftskritischen Zugängen vertieft werden können.

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2 Subjektivität und Gesellschaft

schaftliche Teilhabe und eigene Entscheidungsfreiheit ermöglicht (ebd.; Mesquita/Nay 2013, S. 213f.).38 Im Hinblick auf eine grundlegende emanzipatorisch-politische Zielrichtung plädiert Raul Zelik für eine doppelte und sich ergänzende Strategie. Diese sollte erstens im Sinne des radikalen Reformismus die vorherrschenden Formen gesellschaftlicher und subjektiver Reproduktion durch eine alternative Praxis infrage stellen. Hierzu zählen etwa »soziale und kulturelle Orte, kritische Öffentlichkeiten, solidarisches Alltagsverhalten, kollektive Überzeugungen, Arbeitskämpfe und vieles andere mehr« (Zelik 2020, S. 308). Und zweitens zielt diese Strategie auf die Demokratisierung des Staates, auf beharrliche Kämpfe darum, Prinzipien der Gleichheit, Teilhabe und Solidarität in die Staatsapparate zu tragen, damit diese Prinzipien zu juristischen verbrieften Rechten möglichst aller Menschen einer Gesellschaft werden (ebd.). Ich möchte diesen Text mit einem ermutigenden Zitat von Raul Zelik schließen, das ebenso bescheiden wie anspruchsvoll verdeutlicht, um was es geht: »Um das Allernächstliegende und Vernünftige. Nämlich um einen sozialen Rahmen, der uns die Angst vor sozialem Abstieg nimmt, zum Teilen ermutigt, einfühlsames Verhalten belohnt und die Zusammenarbeit erleichtert. Nicht viel mehr, als man Kindergartenkindern in einer guten Vorschule zu vermitteln versucht« (ebd., S. 283).

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38 Dies schließt im Hinblick auf den oben erwähnten Community-Kapitalismus ein, »die neoliberale Strategie der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage, die auf Outsourcing, Ressourcennutzung und Entpolitisierung setzt, umzukehren und im Sinne eines Insourcing zivilgesellschaftliche Akteure als handlungsmächtige Gestalter*innen in die Organisation öffentlicher Daseinsvorsorge und Infrastruktur zu integrieren« (van Dyk/ Haubner 2021, S. 156).

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3

Neoliberalismus und Rechtspopulismus Zur Kritischen Theorie einer unheilvollen Verbindung Alles Grau (Isolation Berlin)1

3.1

Einleitung »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Horkheimer (1939, S. 115)

Max Horkheimer hat diesen vielzitierten Satz am Vorabend des zweiten Weltkriegs geschrieben. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen könnte man paraphrasieren: Wer vom neoliberalistischen Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Rechtspopulismus schweigen. Max Horkheimer war, neben Persönlichkeiten wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Walter Benjamin, ein maßgeblicher Vertreter der Kritischen Theorie, die am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) in den späten 1920er Jahren auf den Weg gebracht wurde. Die Kritische Theorie war und ist gekennzeichnet durch ein interdisziplinäres Forschungsprogramm, das Gesellschaftskritik mithilfe psychoanalytischer Sozialpsychologie auch in der affektiven Dimension des Denkens und Fühlens der Menschen unter historisch gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen vertiefen soll. So hat etwa Erich Fromm bereits 1930 in seinem programmatischen Aufsatz Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie betont, dass kapitalistische Gesellschaften nicht nur durch eine politökonomische und ideologische Struktur geprägt sind, sondern auch durch eine »libidinöse Struktur«, die die Menschen mit ihren Leidenschaften an die herrschenden Verhältnisse bindet und damit erst den »Kitt« der Gesellschaft bereitstellt (Fromm 1980, S. 54).2 In gesellschaftlichen Krisen verliert 1 Dieser Text wird durch einen »Soundtrack« begleitet, um zusätzliche Assoziationsräume zu öffnen. 2 Wie bereits im vorangegangenen Text zur kritischen Subjekttheorie bemerkt, waren die im Kontext der Studien zu Autorität und Familie sowie der Studien Zum Bewusstsein von

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3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

dieser Kitt allerdings seine Sinnhaftigkeit, die bislang gebundenen Affekte werden freigesetzt und biografisch ebenso wie gesellschaftlich bedingte Ängste keimen auf (Wirth 2019, S. 16). Um Krisenerfahrung und Angst zu verarbeiten, werden dann gesellschaftlich verfügbare, heute beispielsweise rechtspopulistische Diskurse aufgegriffen (vgl. Heim 2019, S. 29). Mit Antonio Gramsci gesprochen kommt es in gesellschaftlichen Krisen unweigerlich auch zu einer Krise der Hegemonie. Hegemonie meint die Einheit von Wissen, Praxis und Leidenschaften einer vorherrschenden Lebensweise, die sich als allgemeine ausgeben kann und der gegenüber andere Lebensweisen als untergeordnet gelten (Gramsci 1995, S. 1467f.). Gegenwärtig befinden wir uns in einer Krise globalen Ausmaßes infolge des neoliberalistischen Kapitalismus. Dieser hat seinen Siegeszug vor weit über 30 Jahren angetreten, gekennzeichnet durch den Vorrang des Marktes vor dem Staat, die Erosion des wohlfahrtsstaatlich gewährleisteten Egalitarismus und sozialer Sicherungssysteme, die Entgrenzung, Deregulierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen sowie die Globalisierung der Ökonomie. Hegemonial geworden ist dabei eine Lebensweise, die Nancy Fraser »progressiven Neoliberalismus« nennt (Fraser 2017). In dieser Lebensweise ist die Rede von Diversität, Weltoffenheit, Toleranz, Freiheit und Selbstoptimierung an ihre Verwertbarkeit innerhalb des neoliberalen Kapitalismus gebunden, während rückseitig andere Lebensweisen als untergeordnet und sozial Benachteiligte als individuell Gescheiterte gelten. Doch nun ist im Zuge ökonomischer Krisen, der Schwächung etablierter politischer Mächte, der ökologischen Existenzbedrohung und wachsender sozialer Ausschlüsse auch die Hegemonie des progressiven Neoliberalismus in die Krise geraten (ebd.). Die zunehmende Zahl von Bevölkerungsgruppen, die innerhalb dieser Hegemonie nicht von Verteilungspolitik profiArbeitern und Angestellten am Vorabend des Faschismus am IfS gewonnenen Erkenntnisse schockierend: Bei einer Vielzahl der Menschen zeigte sich ein schwaches Ich, hervorgerufen durch eine repressive Erziehung, und somit die Bereitschaft, sich gesellschaftlichen Autoritäten, faschistischen Führern und ihrer nationalsozialistischen Weltanschauung zu unterwerfen, um das schwache Ich zu stabilisieren. Die liegengebliebenen Wünsche nach Verbundenheit wurden durch die Zugehörigkeit zu einer »Volksgemeinschaft« ersatzbefriedigt, während die erlittenen Beschädigungen an den gesellschaftlich Geächteten aggressiv ausagiert wurden. Diese Erkenntnisse bewegten die meisten Mitglieder des IfS, kritische jüdische Intellektuelle, noch vor der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten 1933 und dem Holocaust Deutschland zu verlassen. Horkheimer und Adorno kehrten nach dem Krieg nach Frankfurt zurück und bauten das IfS wieder auf.

166

3.2 Gesellschaftliche Transformationsprozesse

tieren, kaum soziale Anerkennung erfahren oder sich politisch gegen die Verheerungen des neoliberalistischen Kapitalismus wehren, führt potenziell zum Anwachsen gegenhegemonialer Bewegungen (ebd.). Dies können progressive soziale Bewegungen, wie Occupy oder Fridays for Future sein, die grundsätzlich nicht mit der neoliberalistischen Lebens- und Wirtschaftsweise einverstanden sind. Aber auch der Rechtspopulismus, mit seiner reaktionären Erzählung eines nationalistischen Wir sowie rassistischen, antifeministischen und transphoben Tendenzen, kann als eine solche gegenhegemoniale Bewegung verstanden werden – möglicherweise sogar als Ausdruck der zentralen Konfliktlinie der Gegenwart angesichts des Strukturwandels von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft (Koppetsch 2019, S. 16/26).3 Um diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, werden zunächst jene aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Erinnerung gerufen, die im vorangegangenen Text ausführlich dargelegt wurden. Sie bilden den Rahmen für das ideologische Verhältnis von Neoliberalismus und Rechtspopulismus sowie die damit verbundenen sozialpsychologischen Dynamiken.

3.2

Gesellschaftliche Transformationsprozesse What’s going on? (Marvin Gaye)

Grundsätzlich ist die Entstehung und Transformation bürgerlicher Gesellschaften zutiefst mit der Entwicklung des Kapitalismus verwoben. 3 Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat freilich eine Vorgeschichte, etwa den sogenannten Ethnopluralismus. Dieser Kampfbegriff der neuen Rechten essenzialisiert Kulturen, um dann die Ungleichheit und Inkompatibilität von bestimmten Kulturen im Sinne eines kulturellen Rassismus zu behaupten. Zudem muss der Rechtspopulismus im Kontext des krisenhaften Strukturwandels verstanden werden – ereignisorientierte Erklärungsversuche wie die »Flüchtlingskrise« ebenso wie Erklärungen, die persönliche Beschädigungen von Anhänger*innen des Rechtspopulismus fokussieren, greifen zu kurz (Koppetsch 2019, S. 14). Koppetschs Buch Gesellschaft des Zorns wurde inhaltlich hochgelobt, dann wurden der Autorin diverse plagiierte Passagen nachgewiesen. Ich habe mich dafür entscheiden, wichtige Erkenntnisse des Buches in meine Argumentation aufzunehmen, bei denen ich begründet annehmen kann, dass diese keine Urheberschaft verletzen.

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3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Der Nationalstaat hat in diesem Kontext die Aufgabe, die Kapitalverwertung und zugleich die bürgerliche Teilhabe zu gewährleisten. Im Staat kristallisieren sich historisch-gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in eigenlogischen Institutionen und Diskursen, er verkörpert ein übergeordnetes nationales Interesse und kann sich in relativer Autonomie gegenüber der Zivilgesellschaft und der Ökonomie als Walter des Gemeinwohls ausgeben.4 In der Zivilgesellschaft, in der maßgeblich die Kämpfe um Hegemonie ausgetragen werden, ist der Staat ein besonderer Akteur, da er, mit Gramsci gesprochen, Hegemonie, gepanzert mit Zwang, repräsentiert. Über nationale Symbole, Institutionen und Diskurse, über Legislative, Judikative und Exekutive wirkt der Staat durchaus widersprüchlich in Zivilgesellschaft, Hegemoniebildung und Alltag der Menschen hinein: beispielsweise durch den besonderen Schutz des Eigentums und nationale »Leitkultur« sowie durch Rechtsstaatlichkeit und demokratische Teilhabe. Insgesamt sind in bürgerlichen Gesellschaften somit »autoritär-populistische« Tendenzen in Form von Nationalismus, Autoritarismus, Rassismus und Sexismus strukturell ebenso angelegt wie »populardemokratische« Tendenzen zur Vertiefung des demokratischen Lebens und der Kämpfe gegen den Machtblock in Wirtschaft und Politik, gegen Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung (Stuart Hall in Demirovic 2018, S. 29f./39).5 Diese allgemeinen Merkmale bürgerlicher Gesell4 Der Staat konstituiert eine nationale Einheit durch die Historisierung eines Territoriums und die Territorialisierung einer Geschichte (Poulantzas 1978, S. 107). 5 Wenn hier von Rechtspopulismus, »autoritärem Populismus« (Hall) und später »reaktionärem Neoliberalismus« (Fraser) gesprochen wird, ist stets dasselbe mit unterschiedlicher Akzentuierung gemeint: eine Rechtsverschiebung hin zur einem homogenisierten Volksbegriff, der zwar durchaus auf Demokratie bezogen bleibt, aber einen radikalen nationalistischen, rassistischen und sexistischen Umbau demokratischer Institutionen impliziert (Demirovic 2018, S. 32). An dieser Stelle sei auch kritisch-reflexiv auf die Problematik der politischen Verortung im Links-Mitte-Rechts-Schema hingewiesen. Die Mitte kann sich insbesondere durch die rhetorische Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus als Walter des Gemeinwohls ausgeben und dabei die Unterschiede zwischen Links und Rechts einebnen. Dethematisiert wird dabei nicht nur, dass die »Mitte« maßgeblich zur Reproduktion heteronomer neoliberalistischer Verhältnisse beiträgt, sondern zur Erfüllung dieser Aufgabe auf den »Extremismus der Mitte« zurückgreift (Decker 2017, S. 3). Obendrein wird verleugnet, dass sich rechte Politiken am Prinzip der nationalistisch oder rassistisch konstruierten Ungleichheit orientieren, während linke Politiken prinzipiell an Gleichheit orientiert sind und somit grundsätzlich die Verwirklichung demokratischer Prinzipien anstreben (Staas 2020).

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3.2 Gesellschaftliche Transformationsprozesse

schaften zeigen sich nun im neoliberalistischen Kapitalismus auf historisch besondere Weise. Ökonomisch zeichnet sich der Neoliberalismus durch ökonomische und informationstechnologische Entgrenzungsprozesse aus (Morgenroth 2015, S. 198). In diesem »Netzwerkkapitalismus« (Koppetsch 2019, S. 15) werden Produktionsprozesse raumzeitlich zerlegbar und entgrenzt, sodass die profitträchtigsten Produktionsstandorte in globalem Maßstab genutzt werden können. Die staatliche Politik hat nun die schwierige Aufgabe, sowohl die Folgen der Globalisierung als auch die gesellschaftlichen Risiken, die wachsende Ungleichheit und bedrohte nationale Wohlfahrt zu regulieren. Dabei müssen die Nationalstaaten infolge der Kontroll- und Selektionsmacht von Unternehmen Souveränitätsverluste hinnehmen (ebd.) – der Globalisierung wirtschaftlicher Macht steht keine Globalisierung der Politik entgegen (Bauman 2016, S. 62). Im Zuge dieser Entwicklung haben sich »nationale Wettbewerbsstaaten« herausgebildet (Hirsch 1998), die sich in permanenter Standortkonkurrenz zu anderen Staaten um die Ansiedlung oder den Verbleib von Unternehmen befinden. Damit aber entsteht ein strukturelles politisches Dilemma, weil die Standortpolitik erhebliche finanzielle Mittel bindet und gleichzeitig die Kosten des Wohlfahrtsstaats infolge der wachsenden sozialen Verwerfungen immens ansteigen. Zur Bewältigung dieses Dilemmas reagiert der Staat mit der Deregulierung von Arbeitsverhältnissen, dem Ausbau des Sicherheitsstaats und dem Abbau des Wohlfahrtsstaats. Begleitet durch individualisierende Diskurse der Chancen und der Eigenverantwortung werden soziale Risiken privatisiert, und die im Zuge wachsender Ungleichheit marginalisierten Menschen können als persönlich gescheiterte dargestellt werden (Bauman 2016, S. 60). Diese politischen Strategien ändern allerdings nichts daran, dass der Staat im globalen neoliberalistischen Kapitalismus mit massiven Steuerungsverlusten und Integrationsdefiziten konfrontiert ist. Da immer mehr Menschen immer weniger materielle Gratifikationen und/oder soziale Anerkennung erhalten, verschärft sich eine politische Repräsentationskrise hin zu einer Hegemoniekrise (vgl. Demirovic 2018, S. 29). Can’t see the Sky (I-Mitri) Die wachsende Ungleichheit und die Integrationsdefizite werden im Kontext der Transnationalisierung von Wirtschaftsräumen durch so169

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

zialräumliche Transformationsprozesse in neoliberalistischen Zentren und Peripherien weiter verschärft. Einerseits breiten sich grenzüberschreitende und sich überlagernde Räume aus, gekoppelt an lokale Infrastrukturen und Interaktionen in elektronischen Räumen, insbesondere in den sogenannten Global Cities (Koppetsch 2019, S. 21). Diese sind gekennzeichnet durch eine polarisierte Sozialstruktur: Hier steht eine transnationale Mittelklasse mit einer kosmopolitischen Orientierung in globalisierten Unternehmen einer transnationalen Unterklasse entgegen, bestehend aus mehr oder minder gut qualifizierten Migrant*innen, dequalifizierten autochthonen Erwerbstätigen, einfachen Dienstleister*innen, Randbelegschaften im industriellen Sektor, Erwerbsarbeitslosen und Empfänger*innen sozialer Hilfen. Die in den Global Cities existierende Mittelschicht, die noch in den nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum eingebunden ist, befindet sich hingegen in der Defensive (ebd., S. 17ff.). Aber hier leben, nein danke (Tocotronic) Andererseits breitet sich in der Peripherie, in wenig verdichteten und für die globale Ökonomie unbedeutenden Räumen ein Gefühl der Perspektivlosigkeit und fehlender Anerkennung aus (Wirth 2019, S. 12). Hier finden sich Menschen aus allen Klassen, nicht nur ökonomisch Benachteiligte, sondern auch Privilegierte, die sich als Missachtete im Prozess globaler Entgrenzungen betrachten (Koppetsch 2019, S. 27). Diese sind, ebenso wie die nationalstaatlich orientierte Mittelschicht der Global Cities, strukturell empfänglich für gegenhegemoniale Erzählungen und mithin potenzielle Adressat*innen des Rechtspopulismus  – der wiederum durch erstarkte national-konservative Teile des neoliberalen Machtblocks befördert wird (Demirovic 2018, S. 41).6

6 Alex Demirovic spricht gar von einer neuen Phase des Neoliberalismus, in der die erstarkten national-konservativen Kräfte in Wirtschaft und Politik nach der weltweiten Krise 2007/2008 und den massenhaften Protesten gegen den Neoliberalismus nicht länger auf eine neue Hegemonie zielen, sondern auf den Kampf zur Durchsetzung ihrer Interessen durch rassistische Diffamierung, Autoritarismus bis hin zur Mobilisierung faschistischer Gewalt (Demirovic 2018, S. 32).

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3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik

3.3

Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik »The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born; in this interregnum a great variety of morbid symptoms appear.« Gramsci (1971, S. 276)

3.3.1 Progressiver Neoliberalismus

Anders als glücklich (Blumfeld) Wie deuten, erleben und verarbeiten die Menschen ihr Leben unter den Bedingungen der Ökonomisierung und Entgrenzung in einer »zunehmend deregulierten, polyzentrischen, aus den Fugen geratenen Welt« (Bauman 2016, S.  15)? Das heute noch vorherrschende Deutungsmuster ist das der Individualisierung. Diese meint zunächst die Möglichkeit, das eigene Leben jenseits tradierter Vorgaben und Zwänge etwa durch Geschlecht oder soziale Herkunft, selbst gestalten zu können. Diese Diskurse der Individualisierung gründen durchaus in neuen sozialen Entfaltungsmöglichkeiten, denn zweifellos sind die Spielräume für Selbstbestimmung und vielfältige Lebensentwürfe bis hin zu emanzipatorischen und kommunikationstechnologisch organisierten Netzwerken gewachsen (Naumann 2018, S. 201). Hegemonial geworden ist aber eine Spielart der Individualisierung, die Nancy Fraser, wie bereits erwähnt, als progressiven Neoliberalismus bezeichnet. Dieser verleibt sich liberale, antirassistische und antisexistische Diskurse der neuen sozialen Bewegungen ein, erlaubt eine meritokratische Anerkennungspolitik subjektiver Fähigkeiten von Benachteiligten ebenso wie die Diversifizierung kapitalistischer Teilhabe und gibt dem neoliberalen Kapitalismus den Anstrich eines Projekts zur Verwirklichung von Egalität und Diversität (Fraser 2017). Doch selbst diejenigen, die den Anerkennungsformeln des progressiven Neoliberalismus zu entsprechen vermögen, sind der destruktiven Kehrseite dieser hegemonialen Ideologie ausgesetzt. Der neoliberale Abbau von schutzspendenden, solidarischen Institutionen, die Erosion sozialer Gemeinschaften wird gekontert durch die Verlagerung der Verantwortung für ein gelingendes Leben in die einzelnen Menschen hinein. Die Rede ist dann zwar von Freiheit, von neuen Möglichkeiten, den eigenen Neigun171

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

gen und Leidenschaften nachzugehen (Bauman 2016, S. 58). Allerdings ist diese Freiheit nicht nur von diffusen Ängsten gezeichnet, gesellschaftlichen Prozessen ausgesetzt zu sein, ohne diese selbst beeinflussen zu können, sondern weitgehend auf die Freiheit von Arbeitskraftunternehmer*innen reduziert, sich selbst möglichst erfolgreich zu vermarkten und den eigenen Egoismen in permanenter Konkurrenz zu den Mitbewerber*innen zu folgen (Gebauer 2016, S. 18). Individualisierung dient dann, in einer spitzen Formulierung von Zygmunt Bauman, als »Tarnname für die Entschlossenheit der etablierten Mächte, welche für die imaginierte Totalität der ›Gesellschaft‹ stehen, bei der Aufgabe, mit den aus der existenziellen Unsicherheit erwachsenden Problemen fertigzuwerden, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren und sie in die Verantwortung des Einzelnen mit seinen äußerst unzureichenden Ressourcen zu geben (oder genauer gesagt: sie dort abzuladen und auf diese Weise zu entsorgen)« (2016, S. 57).

Die neoliberalistisch getrimmte Individualisierung erzeugt eine ubiquitäre Verunsicherung sowie vereinzelte, permanent leistungsbereite Arbeitskraftunternehmer*innen und individuell Gescheiterte. Lauf davon (Danger Dan) Diese destruktiven Aspekte des progressiven Neoliberalismus werden allerdings nicht nur individuell agiert, sondern auch psychosozial bewältigt, indem die abgewehrten Gefühle der eigenen Bedürftigkeit, Angst oder Wut auf diskursiv verfügbare Gruppen projiziert werden, um sie dann verächtlich machen und bekämpfen zu können (vgl. Mentzos 2002, S. 130). Dies kann sich etwa bei denjenigen, die sich zur Gruppe der leistungsfähigen und selbstoptimierenden Menschen zählen, als Coolness zeigen, die der Bedürftigkeit anderer jede Empathie verweigert, oder als Zynismus, der in Bedürftigkeit nur selbstverschuldete Schwäche zu erkennen vermag – obgleich es um die Abwehr der virulenten Angst geht, persönlich zu versagen oder selbst nutzlos zu sein (Haubl 2007, S. 119ff.).7 7 Diese destruktive gruppenbezogene Affektdynamik kann sich durchaus auch rassistisch wenden. Bereits 1995 haben Sabine Grimm und Klaus Ronneberger in ihrer Studie Weltstadt und Nationalstaat. Frankfurter Dienstleistungsangestellte äußern sich zur mul-

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3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik

Insgesamt erzeugt die Lebensweise des progressiven Neoliberalismus individuelles Leid und perpetuiert gesellschaftliche Exklusionen. Diejenigen, die seinen Leitbildern folgen, erhalten immerhin soziale Anerkennung und können die Größenfantasie individueller Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens pflegen. Letztlich aber dient der progressive Neoliberalismus als hegemoniale Ideologie der Absicherung der neoliberalistischen Ökonomie, auch wenn er diese Funktion infolge seiner fortschreitenden Brüchigkeit zunehmend einzubüßen scheint. 3.3.2 Rechtspopulismus als reaktionärer Neoliberalismus

Deutsche Hymne ohne Refrain (Bernd Begemann) Diese Brüchigkeit ist schon darin begründet, dass Bevölkerungsgruppen anwachsen, die sich unter der Hegemonie des progressiven Neoliberalismus missachtet fühlen. Diese müssen sich anderer verfügbarer, etwa rechtspopulistischer Diskurse bedienen, um Gefühle der Kränkung, der Perspektivlosigkeit und Ohnmacht zu bewältigen.8 Auch die diversen Autoritarismus-Studien von Decker und Brähler legen nahe, dass für Menschen am Rand der Global Cities und in verödeten ländlichen Regionen das Gefühl mangelnder Anerkennung, der kränkende Verlust kultureller Bedeutung ebenso wie des individuellen und kollektiven Selbstwertgefühls mitunter durch Autoritarismus, Verschwörungsmentalität und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit kompensiert werden muss (Wirth 2019, S.  12). Die besonders in den Global Cities und medial repräsentierte urbane und diverse Kultur des progressiven Neoliberalismus muss in diesem Kontext als Bedrohung erscheinen, die durch die Erzählung eines nationalistischen Wir abgewehrt werden soll (Koppetsch 2019, S. 18). Cornelia Koppetsch identifiziert dazu drei rechtspopulistische Erzählstränge (ebd., S. 24f.): tikulturellen Gesellschaft am IfS herausgearbeitet, dass urbane Dienstleister*innen mit kosmopolitischem, tolerantem und liberalem Selbstbild bei Bedarf kulturell-rassistische Diskurse nutzen – schließlich sind auch sie Bewohner*innen einer ebenso neoliberalen wie rassistischen Gesellschaft (Grimm/Ronneberger 1995). 8 Es ist sicherlich kein Zufall, dass besonders in Gesellschaften, die ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit aufweisen, nicht nur Suizide und psychische Erkrankungen häufiger zu verzeichnen sind, sondern auch Rassismus und Gewalt, wie etwa die Studien von Wilkinson und Pickett zeigen (Gebauer 2016, S. 24).

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3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

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erstens die Re-Nationalisierung als Wiederherstellung eines kulturellen Zentrums mit der Betonung eines Volkes und der angestammten Geschlechterverhältnisse wider die korrupten und parasitären Eliten; zweitens die Re-Souveränisierung als Ermächtigung ehemals privilegierter und nun deklassierter Bevölkerungsgruppen im Sinne eines vertikalen Bündnisses kulturell Entfremdeter aus konservativen Fraktionen der Ober-, Mittel- und Unterschicht; drittens die Re-Vergemeinschaftung mit der Orientierung an der Vorstellung einer Volksgemeinschaft in Opposition zu den hegemonialen individualistischen Markt- und Selbstverwirklichungskulturen.9

Verbindendes Movens dieser Erzählstränge ist eine Anerkennungs- und Selbstwertproblematik, die durch die Bezugnahme auf ein Volk und tradierte Geschlechterverhältnisse bewältigt werden soll – auf diese Weise wird die Verbundenheit mit etwas Großem sowie die soziale Anerkennung ohne Ansehen der sozialen Position oder der individuellen Leistungsfähigkeit gesichert (Wirth 2019, S. 21). Die narzisstische Bedürftigkeit all jener, die sich im Neoliberalismus als Missachtete fühlen, kann so durch die Orientierung an Nationalismus, Volk und Männlichkeit pseudokompensiert werden (Mentzos 2002, S. 63).10 Rebel Girl (Bikini Kill), Outside (George Michael) Es entsteht ein ebenso destruktives wie erfolgreiches psychosoziales Arrangement zwischen den realen und megalomanen Interessen von national9 Besonders perfide an der Konstruktion eines vereinheitlichten Volks-Wir, das im Kontext des Zuzugs von Migrant*innen von den ruchlosen Eliten verraten worden sei, ist, dass sich das rassistische Ressentiment als herrschaftskritisch gerieren kann (Demirovic 2018, S. 38). 10 Offenbar ist der Rechtspopulismus auch Ausdruck der Krise traditioneller Männlichkeit angesichts realer Emanzipationsprozesse im Hinblick auf Geschlechter und sexuelle Orientierungen, und auch im Hinblick auf die Diversitätsfeier im progressiven Neoliberalismus. So finden sich in rechtspopulistischer Rhetorik reaktionäre antifeministische und cis-sexistische Positionen, die Wählerschaft etwa der AfD in Deutschland ist zu zwei Dritteln männlich – vor allem in der mittleren Altersgruppe zwischen 35 und 59 Jahren und über Klassengrenzen hinweg (Koppetsch 2019, S. 96). Antifeminismus und Cis-Sexismus können als weitere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verstanden werden, als Reaktion auf Modernisierungsprozesse ebenso wie als reaktionäre Verteidigung strikter männlicher Subjektpositionen (Höcker et al. 2020, S. 267).

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3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik

konservativen Teilen des neoliberalen Machtblocks mit der narzisstischen Bedürftigkeit und Folgebereitschaft wachsender Bevölkerungsgruppen (vgl. ebd.; Demirovic 2018, S. 41). Der Rechtspopulismus kann in diesem Kontext als sinnstiftendes Narrativ verstanden werden, das Handlungskorridore sowie das Versprechen eröffnet, innere und äußere Verunsicherungen durch ein starkes nationalistisches Ordnungsmodell aufzuheben (Koppetsch 2019, S. 92f.). Sozialpsychologisch betrachtet kann die Konstruktion eines scheinbar homogenen Volkes nur gelingen, wenn die inhärenten und ungelösten Konflikte und Widersprüche auf diskursiv verfügbare Fremdgruppen projiziert werden, um sie dort bearbeitbar zu machen. Mit Stavros Mentzos gesprochen kommt es im Rechtspopulismus besonders zu kulturell-rassistischen Pseudo-Wir-Bildungen, die ihre Kohärenz nur behaupten können, indem bestimmte Menschengruppen als inkompatibel mit dem vermeintlich Eigenen identifiziert werden, um ihnen dann eine essenzielle Fremdheit und Bedrohlichkeit zuzuschreiben. Das »autoritäre Syndrom« verlangt gleichsam nach verfremdeten Gruppen, um an ihnen die unerledigten Anerkennungsund Selbstwertprobleme, Ängste und unerfüllten Wünsche aggressiv zu bewältigen (Decker et al. 2020, S. 206f.).11 Ein besonders dramatisches Beispiel für diese Dynamik ist die sogenannte »Flüchtlingskrise«. Nicht nur aus rechtspopulistischer Sicht sind mit der Flüchtlingskrise weniger die Herkunftsgesellschaften der Flüchtenden gemeint, in denen Bürgerkrieg, Armut, Hunger oder Folter herrschen; auch nicht die Groß- und Hegemonialmächte, die im Sinne geopolitischer und ökonomischer Interessen in Ländern Einfluss nehmen, aus denen 11 Hier sei nochmals an die Leipziger Autoritarismus Studie 2020 erinnert, die bereits im vorangegangenen Text zur kritischen Subjekttheorie aufgegriffen wurde. Das »autoritäre Syndrom« mit seinen Varianten der Projektivität (Verschwörungsmentalität und Aberglaube) und des Sadomasochismus (aggressiver Autoritarismus, unterwürfiger Autoritarismus und Konventionalismus) ist weit verbreitet: mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung »offenbart autoritäre Aggression«, mehr als jede*r »Fünfte sehnt sich nach einer starken Autorität« und ein Drittel der Bevölkerung ist dem Konventionalismus zuzuordnen. Diese Werte sind zwar im Vergleich zu den Vorjahren spürbar zurückgegangen, bleiben aber auf hohem Niveau (Decker et al. 2020, S. 203). Zudem tritt die Verschwörungsmentalität im Kontext der Coronapandemie wieder stärker zutage, »weil in ihr mehr als in Autoritäten die Angst kompensiert werden kann« – hier ist eine (Wieder-)Zunahme von 30,8 % im Jahr 2018 auf 38,4 % im Jahr 2020 zu verzeichnen (ebd., S. 204/202ff.).

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3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Menschen fliehen; selbst die Flüchtenden und Geflüchteten sind kaum gemeint: Gemeint ist die Krise in den potenziellen Aufnahmeländern, die vorgeblich durch die Zahl und Gefährlichkeit der Geflüchteten ausgelöst wird. Stephan Lessenich hat in diesem Kontext den Begriff der Externalisierungsgesellschaft geprägt. Die Inseln des Wohlstands und der relativen Sicherheit im globalen Kapitalismus externalisieren den Umstand, dass ihr Wohlstand und ihre Sicherheit zumindest auch auf globalen Ungleichheitsund Ausbeutungsverhältnissen beruht, indem sie den Ländern des globalen Südens samt Bürgerkriege, Terror oder Hunger eine kulturell, biologistisch oder religiös konstruierte Inferiorität zuschreiben (vgl. Lessenich 2016, S. 75f.). Nun kommt es aber mit den Fluchtbewegungen gleichsam zu einer Wiederkehr des Verdrängten, die weitere reaktionäre Abwehrmuster verlangt. Gerade weil die Geflüchteten auf drastische Weise die eigene Verunsicherung der Inselbewohner aufstören, gerade weil sie das externalisierte Elend ebenso wie die menschliche Verwundbarkeit und die Zerbrechlichkeit des Wohlstands widerspiegeln, evozieren sie nicht nur ethische Reflexion und Hilfe, sondern auch Hass und Aggression. Nicht die Geflüchteten sind Opfer, sondern die Inselbewohner, die ihre Sicherheit und ihren Wohlstand verteidigen müssen (ebd.; Bauman 2016, S. 83f.). Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, warum der Rechtspopulismus mit seiner nationalistischen und chauvinistischen Rhetorik so bedrohlich erfolgreich zu sein scheint. Einerseits kann er an real verfügbare nationale Symbole, an nationalstaatliche Regelungen in der Asyl- und Standortpolitik, an dominanzkulturelle Vergemeinschaftungen wie der »deutschen Leitkultur« und an den immer wieder messbaren »Extremismus der Mitte« (Brähler/Decker) anschließen, um diese Phänomene dann nationalistisch und autoritär zuzuspitzen (Gebauer 2016, S. 13; Decker 2017, S. 3). Andererseits kann der Rechtspopulismus potenziell die Verunsicherungen, Versagensängste und Ohnmachtsgefühle aufgreifen, die angesichts der entgrenzten ökonomischen Verhältnisse nicht nur marginalisierte, sondern auch vom Scheitern bedrohte sowie durchaus ökonomisch erfolgreiche Menschen umtreiben. Im Sinne eines »nationalen Containments« (Lohl) können sich die unerledigten Selbstwertprobleme und unerfüllte Bindungswünsche dann ersatzweise an die verfügbaren, nationalistisch gewendeten Symbole heften (Brunner et al. 2012, S. 41; Mentzos 1995, S. 70f.). Das darin Abgespaltene, etwa regressive Versorgungswünsche oder Aggression infolge erlebter Zumutungen, muss dann, wie bereits erwähnt, projektiv in verfremdeten Gruppen untergebracht werden – es sind die Ge176

3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik

flüchteten und andere »Schwache«, die es sich im sozialen Netz bequem machen und den Wohlstand des »Volkes« gefährden, es sind die rassistisch und sexistisch verfremdeten Gestalten der Diversität, die das Überleben des »Volkes« bedrohen, und es sind bestimmte, hinterrücks agierende Eliten, die sich gegen das »Volk« verschworen haben. Die Aggressivität rechtspopulistischer Diskurse gegen diese Gruppen kann sich dann als notwendige reaktive Selbstverteidigung geben. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Aufgreifen und Verfestigen von Ressentiments. Grundsätzlich haben Gefühle Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wertungsfunktion, wenn sie aber zu schmerzhaft sind, müssen sie verdrängt werden. Damit sind sie jedoch nicht verschwunden, sondern müssen sich andere Abfuhrbahnen suchen. Gefühle wie Ohnmacht, Neid oder Scham können, gerade weil sie das Subjekt auf sich selbst zurückwerfen und mit einer Selbstwertproblematik fehlender Anerkennung in Kontakt bringen, als so bedrohlich erlebt werden, dass sie unbewusst gemacht werden müssen. Ressentiments, insbesondere auch im Rechtspopulismus, eröffnen hingegen eine Verschiebung und Kollektivierung der unangenehmen Gefühle samt aggressiver Entladungen in einem affektiv aufgeladenen kognitiven Konstrukt von schädlichen Eliten und gefährlichen Gruppen (Wirth 2019, S. 17). Zwar sind im Ressentiment Gefühle instrumentalisiert, um feindselige Entwertungen zu rechtfertigen, auch geht ein angemessener Kontakt zur Innen- und Außenwelt verloren, doch im Ressentiment kann Passivität in Aktivität, Kontrollverlust in wiedergewonnene Kontrolle über das eigene Leben verkehrt werden (ebd., S. 17ff.). Das bisschen Totschlag (Die Goldenen Zitronen) In diesem Sinne trägt die zur Schau gestellte Tatkraft rechtspopulistischer Akteur*innen gegen den liberalen Rechtsstaat, gegen Verfechter*innen von Vielfalt und vor allem gegen verfremdete Gruppen zur Kompensierung von Ohnmachtserfahrungen bei (Gebauer 2016, S. 21). Letztlich repräsentiert der Rechtspopulismus dabei aber eine »konformistische Rebellion«, die trotzig eine Wiedererrichtung nationaler Autorität fantasiert, dazu die ungelösten Konflikte an Schwächeren auslässt, aber die globale und anonymisierte Autorität der neoliberalistischen Ökonomie dethematisiert und reproduzieren hilft (Brunner et al. 2015; Decker 2017, S. 3; Demirovic 2018, S. 41). Mit Nancy Fraser sollte vielleicht besser von einem reaktionären Neoliberalismus gesprochen werden, der sich in seinem Nationalismus, 177

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Rassismus, Homo- und Transphobie vom progressiven Neoliberalismus vor allem in Anerkennungsfragen unterscheidet (Fraser 2017). 3.3.3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus als ideologische Kollusion

Diktatur der Angepassten (Blumfeld) Der Rechtspopulismus samt seiner Destruktivität ist unweigerlich und eigentümlich auf den Neoliberalismus bezogen. Dabei sind zunächst bemerkenswerte Gestaltähnlichkeiten festzustellen: Neoliberalismus und Rechtspopulismus attackieren beide den Staat, weil dieser vorgeblich noch immer zu viel reguliere oder die autochthone Bevölkerung benachteilige; beide rationalisieren und verleugnen die ihnen inhärente Destruktivität, nämlich von neoliberalistischer Ökonomisierung wie von rassistischem und sexistischem Hass; und beide folgen einem Nützlichkeitsdenken, das Menschen utilitaristisch entweder nach ihrem individuellen Leistungsvermögen oder nach ihrem Nutzen für die autochthone Bevölkerung taxiert. Ganz praktisch zeigt sich, dass immer dann, wenn Rechtspopulisten (wie in den USA, Brasilien, Ungarn oder Polen) eine Regierung stellen, die Deregulierung des Arbeitsmarkts, der Abbau des Sozialstaats sowie die Standortpolitik fortgesetzt wird – als Variante des Neoliberalismus mit rassistischer und protektionistischer Note. Die Integrationsdefizite der neoliberalistischen Gesellschaften werden dann, wie schon bemerkt, nationalistisch pseudokompensiert. Neoliberalistische Ökonomie und rechtspopulistische Praxis sind also kein Widerspruch. Widersprüchlich erscheinen allerdings ihre Ideologien, also hier die Individualisierung mit der Feier von Freiheit und Gestaltungsfähigkeit, dort die Bildung eines nationalistischen Kollektivs. Beide sind Ausdruck gesellschaftlicher und affektiver Spaltungen zwischen denen, die Resonanz und Anerkennung erfahren und scheinbar über ihre Existenzbedingungen verfügen, und jenen, deren Selbstgewissheit und Kontrollmöglichkeiten bedroht sind (Koppetsch 2019, S. 27). Meiner Einschätzung nach liegt hier eine unbewusste wechselseitige Bezogenheit zwischen progressivem und reaktionärem Neoliberalismus vor, ein psychosoziales Arrangement, das ich als »ideologische Kollusion« bezeichnen möchte. Beide Gruppierungen agieren ihre unerledigten Kon178

3.3 Ideologische Formationen und ihre affektive Dynamik

flikte an der je anderen Gruppe, ohne die im neoliberalistischen Kapitalismus wurzelnden Ursachen reflektieren zu können. Diese ausbleibende Reflexion struktureller Ursachen hat eine ideologische Funktion, aber sie ist zugleich sozialpsychologisch begründet. Ideologiekritisch betrachtet sind beide Ideologien überdeterminiert durch die politökomischen Verhältnisse. Die Menschen werden im Sinne Althussers als eigenverantwortliche und/oder nationalistisch kollektivierte Subjekte angerufen (Naumann 2000, S. 30). Die neoliberalistische Verwertung der einzelnen Arbeitskraft bis in ihre inneren Motivationssysteme hinein erscheint dann als eigenverantwortliche, flexible und autonome Subjektivität, rückseitig ist somit auch das eigene Scheitern selbstverschuldet. Und die (auch) politökonomisch begründeten sozialen Ungleichheiten erscheinen so als national, kulturell oder ethnisch verfasste Differenzen. Die ideologische Funktion dieser Anrufungen besteht darin, die Destruktivität des neoliberalen Kapitalismus unsichtbar zu machen, doch sind sie kein bloßer ideologischer Schein, sondern alltägliche, institutionell und diskursiv gelebte Praxis mit sozialpsychologischer Bedeutung. Auf der einen Seite findet sich eine neoliberalistische Selbsterzählung von Freiheit und Toleranz, deren Freiheitsversprechen weitgehend durch Optimierungszwänge ökonomisch gekapert und durch soziale Exklusionen konterkariert wird. Um die Selbsterzählung aufrechterhalten zu können, müssen die psychosoziale Destruktivität, die mit ihr verbundenen Ängste und Aggressionen sowie die liegengebliebenen Bindungswünsche verleugnet werden – was der Selbsterzählung jedoch eine eigentümliche Oberflächlichkeit und Leere verleiht. Auf der anderen Seite findet sich eine rechtspopulistische Erzählung, die mit ihrer Aggressivität, ihrem Schüren von Ängsten, ihrer vermeintlichen Authentizität und ihrem Pochen auf Ungleichheit, eben diese Leere aufspürt und provoziert. Was hat dich bloß so ruiniert (Die Sterne) Zur ideologischen Kollusion wird das psychosoziale Arrangement zwischen progressivem und reaktionärem Neoliberalismus vor allem durch wechselseitige projektive Identifizierungen: Einerseits werden die verleugneten Bindungswünsche und die abgespaltene Aggressivität auf den Rechtspopulismus projiziert und dort als nationalistische Kollektivierung und rassistische Gewalt verächtlich gemacht. Andererseits werden die versagten Hoffnungen auf Autonomie und Anerkennung auf das neolibera179

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

listisch verkürzte Freiheits-, Vielfalts- und Toleranzgerede projiziert, um es dann als Verrat am Volk und schädliche Integration von gefährlichem Fremden zu entlarven – ein malignes Spiegeln und Verkennen im jeweiligen Gegenüber.12 Es ist nicht auszuschließen, dass sich im Kontext der Krisendynamik des neoliberalistischen Kapitalismus, der Schwächung des progressiven Neoliberalismus sowie der erstarkenden Verbindung zwischen den realen und megalomanen Interessen von national-konservativen Teilen des neoliberalen Machtblocks mit der narzisstischen Bedürftigkeit und Folgebereitschaft wachsender Bevölkerungsgruppen im Sinne des reaktionären Neoliberalismus immer mehr Menschen in einem ebenso traurigen wie destruktiven hypernationalistischen Wir zusammenfinden (Naumann 2018, S. 207). Sinnefiasmeni Kiriaki (Vassilis Tsitsanis)

3.4

Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte […] den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« Adorno (1969, S. 131)

Lichtjahre voraus (Britta) 12 Auch dies spricht für die Annahme einer ideologischen Kollusion: Es sind stets die Anderen, die Ressentiments pflegen – mit moralisierender Herablassung werden aufseiten des progressiven Neoliberalismus Rassisten, Homophobe und Frauenfeinde ausgemacht, ohne die eigene hegemoniale Stellung zu reflektieren – und aufseiten des Rechtspopulismus werden Elitisten, Volksfeinde, Moralapostel und gefährliche Gruppen identifiziert, um gesellschaftlich bedingte Kränkungen zu verarbeiten (Fraser 2017). Im Sinne emanzipatorischer Veränderungen wäre es wichtig, neben dem politischen Kampf gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus, die psychosoziale Not anzuerkennen sowie deren gesellschaftliche Ursachen zu hinterfragen.

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3.4 Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Offenbar ist dem neoliberalistischen Kapitalismus mit reiner Anerkennungsund Identitätspolitik nicht beizukommen, er kann sich sowohl progressive als auch reaktionäre Identitätspolitiken einverleiben. Eine emanzipatorische Politik muss Umverteilungspolitik mit nicht-hierarchischer Anerkennungspolitik verbinden – anders gesagt muss eine emanzipatorische Identitätspolitik antineoliberalistisch, und mehr noch, antikapitalistisch sein (Fraser 2017). Notwendig ist dabei aber auch, die unbewussten Wünsche, Ängste und affektiven Erfahrungen der Menschen zu berücksichtigen, weil diese sowohl subjektiv als auch sozialpsychologisch das Fühlen, Denken und Handeln maßgeblich beeinflussen, dabei zerstörerische Wirkungen entfalten, aber auch angstfreiere, verbundenere und glücklichere Entwicklungen ermöglichen können. Bereits Adorno hat in Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit drei Dimension emanzipatorischen Handelns differenziert: Die erste zielt auf politische Interventionen, die zweite umfasst Aufklärung über destruktive gesellschaftliche Verhältnisse und ihre sozialpsychologischen Dynamiken, und die dritte Dimension meint das stetige Arbeiten daran, zwischenmenschliche, institutionelle und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die das Ich in seinen sozialen Bezügen stärken (Adorno 1971). Die inhaltliche Füllung dieser Dimensionen muss freilich angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse aktualisiert werden. Die politischen Interventionen sollten sich heute zunächst auf die Transformation der kapitalistischen Lebensweise und ihrer Prinzipien der Verwertbarkeit und Konkurrenz richten (Gebauer 2016, S. 24). So könnte an die Stelle von schädlicher Selbstoptimierung und Entgrenzung eine Arbeitsutopie treten, die nicht nur technologisch längst möglich ist, sondern vor allem Erfahrungen der Befriedigung, Selbstwirksamkeit, Verbundenheit und Rekreation mit sich brächte (Morgenroth 2015, S. 210). An die Stelle systematischer Exklusion könnte eine soziale Infrastruktur treten, die allen Menschen den Zugang zu Daseinsvorsorge und sozialer Absicherung eröffnet, und die damit das ubiquitäre Gefühl existenzieller Verunsicherung auffängt. So könnte sich statt Egoismus, Aggressivität und regressiven Versorgungswünschen ein Klima ausbreiten, das durch soziales Engagement und Kreativität bestimmt ist, und das im Sinne eines emphatischen Bildungsbegriffs in möglichst allen gesellschaftlichen Bereichen Platz greift (Gebauer 2016, S. 25f.). Nicht zuletzt sollten sich die politischen Interventionen gegen Unterordnung und Exklusion entlang rassistisch, sexistisch oder klassistisch konstruierter Hierarchisierungen wenden und stattdessen auf die dialogische Verwirklichung von Vielfalt, Menschenrechten und Ge181

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

rechtigkeit im Sinne »einer friedlichen und für alle Seiten vorteilhaften, kooperativen und solidarischen Koexistenz« hinarbeiten (Bauman 2016, S.  114). Alex Demirovic rekurriert hier, wie bereits bemerkt, auf Stuart Halls Idee einer popularen Demokratie, Nancy Fraser schlägt einen »progressiven Populismus« vor, der vielfältige Identitäten nicht gegen Klassenzugehörigkeit ausspielt. Er zielt einerseits darauf, Frauen, Mitglieder der LGBTIQ-Communities und People of Color von den »Konzernversionen der Diversität« abzuwerben, und andererseits darauf, Menschen, die rechtspopulistische Diskurse nutzen, davon zu überzeugen, dass Fremdenhass, Rassismus, Antifeminismus etc. nicht dazu beitragen, materielle Bedingungen für ein besseres Leben zu schaffen (Fraser 2017). Respect (Aretha Franklin) Dieser Ansatz leitet zur zweiten Dimension der Aufklärung über, zur Aufklärung über jene psychosozialen Zwänge, »die das Leben der Menschen beeinträchtigen und sie daran hindern, es gemäß den eigenen Bedürfnissen zu gestalten« – mit dem Ziel, diese Zwänge zu überwinden (Volmerg, zit. nach Brunner et al. 2012, S. 54). Gerade weil Kritische Theorie die psychosozialen Kosten gesellschaftlicher Destruktivität zu taxieren erlaubt, gerade weil sie verdeutlicht, wie gesellschaftliche Prozesse bis in die psychische und affektive Struktur der Menschen hineinwirken, bildet sie einen Gegendiskurs zur marktideologischen Vereinzelung ebenso wie zur nationalistischen Vergemeinschaftung (vgl. Busch 2012, S. 43). Die Aufklärung über die neoliberalisierte Welt mit ihren destruktiven Tendenzen in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Ideologie und Alltag kann dann einhergehen mit der Zuversicht, dass eine andere Welt möglich ist, ja möglich sein muss – eine Welt, in der die gesellschaftlichen Naturverhältnisse nicht zu einer existenziellen Bedrohung der gesamten Menschheit führen, in der kapitalistisches Profitund Verwertungsinteresse nicht zu unfassbaren Ungleichheiten, zur globalen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und ideologischen Spaltungen führt, und in der Bedürfnisorientierung, Selbstbestimmung und Solidarität als zutiefst zwischenmenschliches Projekt verwirklicht werden können. Angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Verwerfungen muss es hartnäckig darum gehen, die Erkenntnisse Kritischer Theorie ins psychosoziale Feld zurückzuspielen, um auf diese Weise immer wieder emanzipatorische Prozesse anzustoßen (vgl. Brunner et al. 2012, S. 54). Dieser Text versteht sich als bescheidener Beitrag zu eben solcher Aufklärung. 182

3.4 Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Sto Perigiali to Krifo (Mikis Theodorakis) Die dritte Dimension schließlich umfasst die Herstellung von Bedingungen des Aufwachsens, der Entwicklung und Bildung, die Selbstwertgefühl, Partizipation und solidarische Verbundenheit ermöglichen. Dies ist sicherlich auch die Aufgabe wirtschafts-, sozial- und familien- und gesundheitspolitischer Interventionen, aber nicht zuletzt und insbesondere die Domäne der Sozialen Arbeit. Als Menschenrechtsprofession ist die Soziale Arbeit der kritische Stachel im Fleisch der herrschenden neoliberalistischen Verhältnisse mit der Aufgabe, gegen repressive, exkludierende und destruktive gesellschaftliche Verhältnisse vorzugehen (Thiersch 1986, S. 43).13 Sozialarbeiter*innen können natürlich auch in den ersten beiden Dimensionen emanzipatorischer Entwicklungen aktiv werden, als politische Subjekte, als Gewerkschaftsmitglieder, als Forscher*innen oder Aktivist*innen in sozialen Bewegungen. Ihre fachliche Expertise können sie aber besonders als Professionelle im Aktionszentrum der Praxis Sozialer Arbeit einsetzen – in politischer Bildung und entlang der derzeitigen Leitparadigmen der Sozialraum13 Als Teil der juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparate läuft die Soziale Arbeit immer auch Gefahr, Einzelfälle im Rahmen der herrschenden Verhältnisse zu produzieren und eben dadurch diese Verhältnisse der Kritik zu entziehen (Fraser 1994, S. 240; Naumann 2000, S. 201f.). Die international geteilte Definition Sozialer Arbeit, vom Fachbereichstag Soziale Arbeit im Rahmen des Qualifikationsrahmens Soziale Arbeit formuliert, kann dem entgegenwirken: »Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Gesellschaftswissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein. […] Aus emanzipatorischer Perspektive, die von dieser Definition unterstützt wird, zielen die Strategien der Sozialen Arbeit darauf ab, die Hoffnung, das Selbstwertgefühl und kreative Potential der Menschen zu stärken, um repressiven Machtverhältnissen und strukturellen Quellen für Ungerechtigkeiten entgegenzutreten und diese zu bekämpfen und somit die Mikro-Makro-Dimension und die persönlich-politische Dimension der Interventionen in einem kohärenten Ganzen zu vereinen« (FBTS 2016, S. 12f.). Ein ähnliches Verständnis findet sich in der Erklärung ethischer Grundsätze globaler Sozialer Arbeit der International Federation of Social Workers (IFSW 2018).

183

3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus

orientierung und der Lebensweltorientierung. Die Sozialraumorientierung zielt auf Aneignungs-, Teilhabe- und Emanzipationsprozesse in sozialen Räumen. Und die Lebensweltorientierung nimmt die Selbst- und Weltdeutungen der Adressat*innen Sozialer Arbeit ernst, allerdings ohne destruktive individualistische, sexistische oder rassistische Deutungen schlicht hinzunehmen. Vielmehr geht es darum, solch pseudokonkrete Gewissheiten aufzuspüren, ihre Funktion für die Betroffenen zu verstehen und im sozialpädagogischen Dialog angemessenere und glücklichere Deutungen für einen gelingenderen Alltag anzubieten. Besonders eine gesellschaftskritisch und psychoanalytisch orientierte Soziale Arbeit kann hier eine förderliche Wirkung entfalten, weil sie die soziale Situation der Betroffenen ebenso wie ihre affektive Not zu berücksichtigen erlaubt. Emanzipatorische Theorie und Praxis muss insgesamt den Verheerungen des progressiven, reaktionären und ökonomischen Neoliberalismus kritisch-reflexiv begegnen, damit sich diese nicht weiter in den Alltagen zahlloser Menschen destruktiv niederschlagen. Demgegenüber muss es darum gehen, für die Verwirklichung von Autonomie und Verbundenheit, Diversität und Gleichheit, Anerkennung und Umverteilung, Partizipation und Solidarität einzutreten. Wie eine solche emanzipatorische Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit gestaltet werden kann, soll in den folgenden Texten exemplarisch anhand psychoanalytisch-pädagogischer Kindheitspädagogik gezeigt werden. Keep on keeping on (Curtis Mayfield) Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Brunner, Markus; Burgermeister, Nicole; Lohl, Jan; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (2012): Psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum. Geschichte, Themen, Perspektiven. Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie 3/4/2012, 15–78. Brunner, Markus; Haubl, Rolf; Kirchhoff, Christine; König, Julia; Lohl, Jan; Uhlig, Tom D. & Winter, Sebastian (2015): Editorial. Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie 2/2015, 7–10.

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3.4 Emanzipation in Zeiten von Neoliberalismus und Rechtspopulismus Busch, Hans-Joachim (2012): Psychoanalytische Politische Psychologie heute. In: Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute. Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 33–50. Decker, Oliver (2017): »Subjektform des Faschismus«. Interview mit Oliver Decker über den Aufstieg der Rechten. konkret 1/2017, 3. Decker, Oliver; Schuler, Julia; Yendell, Alexander; Schließler, Clara & Brähler, Elmar (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 179–209. Demirovic, Alex (2018): Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie. PROKLA 1/2018, 27–42. FBTS (2016): Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SozArb) – Version 6.0. http://www. fbts.de/qr-sozarb-version-60.html (15.09.2019). Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken. Macht, Geschlecht, Diskurs. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Fraser, Nancy (2017): Vom progressiven Neoliberalismus zu Trump. https://adamag.de/ nancy-fraser-progressiver-neoliberalismus-trump (05.10.2020). Fromm, Erich (1980): Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Gesamtausgabe Band 1. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, S. 37–57. Gebauer, Thomas (2016): Weltoffenheit unter Druck. Über das Unbehagen in der Globalisierung. Psychoanalyse im Widerspruch II/2016, 11–29. Gramsci, Antonio (1971): Selections from the Prison Notebooks. New York, International Publishers. Gramsci, Antonio (1995): Philosophie der Praxis. Gefängnishefte 10/11. Hamburg, Argument. Grimm, Sabine & Ronneberger, Klaus (1995): Weltstadt und Nationalstaat. Frankfurter Dienstleistungsangestellte äußern sich zur multikulturellen Gesellschaft. In: Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Studien zur aktuellen Entwicklung. Frankfurt am Main, Campus, S. 91–128. Haubl, Rolf (2007): Be cool! Über die postmoderne Angst, persönlich zu versagen. In: Busch, Hans-Joachim (Hrsg.): Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 111–133. Heim, Robert (2019): Wir, das Volk und die Verschwörung des Anderen. Psychoanalyse, Populismus, Verschwörungstheorie. psychosozial 2/2019, 26–41. Hirsch, Joachim (1998): Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. Berlin, ID-Verlag. Höcker, Charlotte; Hellweg, Nele  & Decker, Oliver (2020): Antifeminismus  – das Geschlecht im Autoritarismus? Die Messung von Antifeminismus und Sexismus in Deutschland auf der Einstellungsebene. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 249–282. Horkheimer, Max (1939): Die Juden in Europa. Studies in Philosophy and Social Science 8/1939, 115–137. IFSW (2018): Globale Soziale Arbeit – Erklärung ethischer Grundsätze. https://www.ifsw. org/global-social-work-statement-of-ethical-principles/ (15.09.2019).

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3 Neoliberalismus und Rechtspopulismus Koppetsch, Cornelia (2019): Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld, transcript Verlag. Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin, Hanser. Mentzos, Stavros (1995): Pseudostabilisierung des Ich durch Nationalismus und Krieg. In: Rohde-Dachser, Christa (Hrsg.): Über Liebe und Krieg. Psychoanalytische Zeitdiagnosen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 66–84. Mentzos, Stavros (2002): Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Morgenroth, Christine (2015): Gesellschaftskrankheiten: Entgrenzung und beschädigte Subjektivität. In: Waldhoff, Hans-Peter; Morgenroth, Christine; Moré, Angela  & Kopel, Michael (Hrsg.): Wo denken wir hin? Lebensthemen, Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 197–211. Naumann, Thilo Maria (2000): Das umkämpfte Subjekt. Subjektivität, Hegemonie und Emanzipation im Postfordismus. Tübingen, edition diskord. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2018): Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld. In: Naumann, Thilo Maria & Krause-Girth, Cornelia (Hrsg.): Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Erinnerungen an Stavros Mentzos. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 170–223. Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie. Hamburg, VSA Verlag. Staas, Christian (2020): Links, rechts, Weimar? Die reflexhafte Gleichsetzung von Rechten und Linken stärkt nicht die Demokratie, sondern ihre Feinde. Anmerkungen zu einem historischen Argument. https://www.zeit.de/2020/10/links-rechts-ex tremismus-verharmlosung-gleichsetzung/komplettansicht (01.03.2020). Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim, München, Juventa. Wirth, Hans-Jürgen (2019): Ressentiments, Verbitterung und die Unfähigkeit zu vertrauen als emotionale Bausteine des Populismus. psychosozial 2/2019, 10–25.

186

II Psychoanalytische Pädagogik

4

Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

4.1

Pädagogik und Gesellschaft – zur Einführung

1925, vor fast 100 Jahren, hat der psychoanalytisch ausgebildete und gesellschaftskritische Pädagoge Siegfried Bernfeld Überlegungen zu den Grenzen der Erziehung angestellt, die bis heute von Bedeutung sind (Bernfeld 1967). Die erste Grenze wird dadurch markiert, dass Pädagog*innen es immer mit mindestens zwei Kindern zu tun haben, nämlich dem realen Kind vor ihnen und dem verdrängten Kind in ihnen – dies erfordert die Selbstreflexion der Pädagog*innen in der pädagogischen Beziehung, um das reale und das verinnerlichte Kind nicht zu verwechseln (ebd., S. 141f.). Die Erziehbarkeit des Kindes stellt eine zweite Grenze dar, weil angesichts der eigenständigen, gewordenen Persönlichkeit des Kindes, angesichts seiner Lebenswirklichkeit und immer auch sinnvollen Widerspenstigkeit jedwede Idee einer umfassenden erzieherischen Einflussnahme als pädagogische Größenfantasie erscheinen muss (ebd., S. 143). Die dritte Grenze schließlich ergibt sich aus den gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, die unweigerlich in pädagogische Prozesse hineinwirken, ohne dass sie pädagogisch allein außer Kraft gesetzt werden könnten. Jede noch so emanzipatorisch ausgerichtete Pädagogik hat es immer mit Mächten zu tun, die stärker sind als sie selbst (ebd., S. 127). Wenn nun diese gesellschaftlichen Verhältnisse in pädagogischen Kontexten nicht kritisch hinterfragt werden, besteht die Gefahr, dass heteronome Verhältnisse über pädagogische Praxis schlicht reproduziert werden. Die in den vorangegangenen Texten untersuchten gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse bilden unweigerlich den Kontext pädagogischer Theorie und Praxis. Ich möchte hier an den Begriff der Dominanzkultur erinnern, der die vorherrschenden Leitbilder, Selbst- und Weltdeutungen meint, denen gegenüber andere Selbst- und Weltdeutungen gegenüber als unterordnet gelten. Daraus folgt, »dass unsere ganze 189

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1998, S. 22). Diese Über- und Unterordnungen verlaufen entlang der Bewertung von sozialer und kultureller Herkunft, von Geschlecht und sexueller Orientierung. Sie erteilen oder verweigern Staatsbürgerschaft, Zugänge zum Arbeitsmarkt oder zu Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabe und führen so zu Bemächtigung und Entmachtung (vgl. Reinert/Jantz 2001, S. 107). Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen ist eine neoliberalistische Vorstellung von Individualisierung vorherrschend geworden. Im Zeichen des »progressiven Neoliberalismus« (Fraser 2017) ist diese Individualisierung mit der Konstruktion selbstbestimmter, flexibler und produktiver Subjekte verbunden, die jenseits überkommener Traditionen und Zwänge eine Vielfalt eigener Lebensentwürfe anzufertigen und zu verwirklichen vermögen. Verschwiegen wird dabei aber, wie diese Individualisierung an gesellschaftliche Ökonomisierungs- und Entgrenzungsprozesse gekoppelt ist, verwoben mit alten wie neuen Rassismen und Sexismen, und nicht zuletzt: dass sie mit Vereinzelungs- und Entsolidarisierungstendenzen einhergeht. Auch in der Pädagogik, insbesondere in den Debatten zur Bedeutung von kindlicher Bildung und Vielfalt, hat sich der progressive Neoliberalismus als wirkmächtige Gouvernementalität breitgemacht (ReimerGordinskaya 2020, S. 311). Die neoliberalistische Ökonomie ist zu einer verselbstständigten Autorität geworden, die mit der Entgrenzung und Prekarisierung der Erwerbsarbeit tief in familiäre und pädagogische Alltage hineinwirkt. Im Zuge dessen werden nicht nur Öffnungszeiten von Kitas ausgeweitet und flexibilisiert, um die elterliche Arbeitskraft bestmöglich nutzbar zu machen, auch die Kinder werden einem entgrenzten Alltag und einem Bildungsbegriff unterworfen, der vor allem auf Selbstkontrolle, Leistung und Kompetenz abzielt (vgl. Decker et al. 2020, S. 204ff.). Mit diesem individualisierenden Bildungsbegriff sind destruktive Ideologien freilich nicht verschwunden, vielmehr reproduzieren sich Sexismus, Rassismus, Klassismus und Adultismus diskriminierend besonders in solchen Kitas, in denen sie nicht reflektiert werden. Kinder, die dadurch an den Rand gedrängt, beschämt oder ausgeschlossen werden, stehen dann allzu schnell als individuell Gescheiterte da (vgl. Wagner 2020, S. 32). In einem emphatischen Sinne sollte Bildung jedoch als Fähigkeit verstanden werden, die Welt im Sinne der eigenen Bedürfnisse und der Be190

4.1 Pädagogik und Gesellschaft – zur Einführung

dürfnisse anderer zu gestalten. Eine daraus folgende Pädagogik müsste das Fühlen, die pädagogische Beziehung und die geteilte soziale Realität in den Fokus rücken, geleitet von einer ebenso empathischen wie reflexiven Haltung, die Vielfalt wertschätzt und Diskriminierung entgegentritt, um letztlich einen freudvollen und machtkritischen Alltag zu ermöglichen, in dem Kinder gemeinsam mit Erwachsenen Autonomie und Solidarität erfahren können. Insgesamt wäre eine politische und pädagogische Praxis anzustreben, die den unabdingbaren Zusammenhang von Individuation und Verbundenheit bewahrt und die Erfahrung ermöglicht, nicht nur ohne Angst verschieden sein zu können, wie Adorno in der Minima Moralia formulierte (Adorno 1969, S. 131), sondern auch ohne Angst verbunden sein zu können (Naumann 2014, S. 29). In diesem Sinn ist es – nicht nur pädagogisch – notwendig, die konkreten Kinder und Familien wahrzunehmen, ihre soziale Verortung, ihre sinnhaften Verrücktheiten und widersprüchlichen Interessen, ihre Bedürfnisse, Ängste, Wünsche und Hoffnungen, ihre mehr oder minder glücklichen Selbst- und Weltdeutungen – all dies bildet die Grundlage förderlicher pädagogischer Arbeit in Verbindung mit einer verstehenden, zugewandten Haltung, die auch die Wirkmacht gesellschaftlicher Prozesse angemessen reflektiert. Vor diesem Hintergrund stehen zunächst die Auswirkungen der fortschreitenden Ökonomisierung auf pädagogische Theorie und Praxis im Fokus, die die eigenwilligen Entwicklungschancen von Kindern, die Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit von Pädagog*innen und emanzipatorische Potenziale insgesamt zu kassieren drohen. Anschließend sollen die destruktiven Dynamiken von Vorurteilen und Diskriminierung in pädagogischen Feldern untersucht werden, die Exklusionen und Leid bei allen Beteiligten erzeugen. Schließlich wird es mit der psychoanalytischen Pädagogik, kombiniert mit dem Anti-Bias-Ansatz einer vorurteilsbewussten Erziehung und Bildung, um eine kritische Kindheitspädagogik gehen. Die psychoanalytische Pädagogik berücksichtigt gesellschaftliche Verhältnisse ebenso wie affektive, unbewusste Dynamiken in pädagogischen Prozessen und kann gerade deshalb zur tiefgehenden Entfaltung von Selbstbestimmung und Solidarität beitragen. Der Anti-Bias-Ansatz wiederum verfügt über ein reichhaltiges Repertoire machtkritischer, inklusiver und antidiskriminierender Erkenntnisse, das die psychoanalytische Pädagogik sehr gut ergänzen kann. Wenn pädagogische Praxis insgesamt das Fühlen, Denken und Handeln aller Kinder und Erwachsenen zu weiten vermag, wird die 191

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Kita zu einem freudvollen, inklusiven und demokratiefördernden Bildungsort.1

4.2

Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung

Michael Winkler hat vor nicht allzu langer Zeit darauf hingewiesen, wie heute über Bildungsstandards schon Kinder einer Optimierung im Sinne gesellschaftlicher Idealerwartungen unterworfen sind, die subjektives Wollen negiert, abweichende Weisen des Aufwachsens diskriminiert und letztlich auf die Verzweckung von Bildung für die künftige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zielt (Winkler 2016, S. 59f.). »So werden die offenen Deutungen aufgegeben, die den Blick auf Gesellschaft und ihre Kultur mit dem individuellen Aufwachsen verbinden. Ein Denken geht verloren, das sich an Subjekten orientiert, die ihr Leben eigenwillig praktisch bewältigen und sich in ihren eigenen Sinnkontexten bewegen: Gesellschaft wird ignoriert, obwohl Menschen sich gegenüber dieser verhalten, sie bewältigen oder an ihr scheitern« (ebd., S. 60f.).2

Individualisierung und Ökonomisierung machen also auch vor der Pädagogik nicht halt. Dies zeigt sich schon an der Ökonomisierung pädagogischer Organisationen: Sie werden im Sinne »neuer Steuerung« betriebswirtschaftlichen Effizienzzwängen unterworfen und ihre Aufgaben der Hilfe und der Bildung auf technisch messbare Dienstleistungen reduziert 1 Zudem ist die Kita ein hervorragender Ort zur Prävention psychosozialer Belastungen. In der Kita werden nahezu alle Familien erreicht, die Praxis ist niedrigschwellig und von alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt. Bereits in diesen Beziehungen ist Prävention potenziell angelegt (primär und sekundär, bzw. universell, selektiv und indiziert), zudem kann die Kita zu Netzwerkbildungen beitragen und eine Brückenfunktion zu weiteren Hilfs- und Unterstützungsangeboten einnehmen (vgl. Naumann 2008). 2 Auch die Alltagspraxis von Familien, Kindern und Eltern ist zwangsläufig von diesen gesellschaftlichen Verhältnissen durchwirkt. Eine Analyse des wachsenden Drucks, der Verunsicherung, der alltäglichen Hektik, potenziellen Demoralisierung, aber auch der gewachsenen Spielräume für Kommunikation und Kooperation sowie für egalitäre Formen der Haus- und Erziehungsarbeit ist wichtig, kann aber im Rahmen dieses Textes nicht geleistet werden (dazu etwa Naumann 2011; Flaake 2014).

192

4.2 Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung

(vgl. Funk 2011, S. 55). Ethische Prinzipien von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Solidarität drohen hier ebenso verlorenzugehen wie ein emphatischer Bildungsbegriff, der Affektbildung, Empathie und Kreativität einschließt und auf die Gestaltung der Welt im Sinne eigener und allgemeiner Bedürfnisse zielt (ebd., S. 56; Naumann 2010, S. 69f.). Die Grundidee besteht darin, einen Katalog der Leistungen zu erstellen, die eine pädagogische Institution zu erbringen hat. Über Art, Umfang und Qualität der Leistungen wird mit dem*der Geldgeber*in oder Träger*in eine Zielvereinbarung abgeschlossen, die wiederum im Rahmen des »Kontraktmanagements« auf ihre Erfüllung hin überprüft wird (Esch et al. 2006, S. 12). Aus der Zielvereinbarung ergibt sich dann die Budgetierung, also die Bereitstellung eines Budgets, das zur erfolgreichen Produktion der vereinbarten Leistungen berechnet wurde. Der Erfolg soll schließlich durch das »Controlling« nach betriebswirtschaftlichen Kosten- und Leistungsrechnungen gesichert werden (vgl. ebd.). Auch in Kitas hat das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) insbesondere in den §§ 78a–g den Weg für »Vereinbarungen über Leistungsangebote, Entgelte und Qualitätsentwicklung« und damit für das besagte Kontraktmanagement freigemacht (vgl. ebd., S. 14). So gehen immer mehr Bundesländer dazu über, die Zuweisung finanzieller Mittel nach dem Output, der Zahl der Kund*innen also, zu bemessen. Insgesamt zeigt sich die Tendenz, Kitas als Dienstleistungsunternehmen zu reorganisieren, die flexibel auf den Bedarf des Arbeitsmarktes reagieren und Öffnungszeiten wie Aufgaben der Fachkräfte entgrenzen. Die Qualität soll durch Wettbewerb und standardisierte Evaluationsverfahren permanent gesteigert werden, ohne freilich zu berücksichtigen, dass das Gelingen kindlicher Entwicklungsprozesse auf verlässlichen, haltgebenden und feinfühligen pädagogischen Beziehungen beruht, die sich nicht einfach quantifizieren lassen (vgl. Schoneville/Karner 2008, S. 8). Vor diesem Hintergrund ist auch eine fortschreitende Individualisierung und Ökonomisierung pädagogischer Theorie und Praxis zu konstatieren. Dies zeigt sich schon in den Bildungs- und Erziehungsplänen der Bundesländer. So wird etwa in den Bildungsplänen Hessens und Bayerns die Bedeutung der Ko-Konstruktion für kindliche Selbstbildungsprozesse betont, doch letztlich erscheint das Kind als Ansammlung von Kompetenzen, die seine Fähigkeit zur Selbststeuerung begründen sollen. Dabei sind solche Pläne von Standards und versteckten Normen durchzogen, und es sind die Erwachsenen, die »ko-konstruktiv« entscheiden, welche Kompeten193

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

zen das Kind braucht, um später in Schule und Berufsleben zu funktionieren (Schäfer 2006, S. 72; Winkler 2016, S. 66). Ähnliches gilt für den um sich greifenden »Förderwahn« (Bergmann 2008, S. 12). Hier finden sich Programme zur Förderung der Sprache, des mathematischen Denkens, des naturwissenschaftlichen Verständnisses, der Motorik etc. ebenso wie Trainingsprogramme zur Prävention abweichenden Verhaltens. Wolfgang Bergmann weist pointiert darauf hin, was schon mit der Bindungsforschung bekannt sein sollte, nämlich dass wenig feinfühlige Eltern sich so verhalten, wie Pädagog*innen in Förderkonzepten: »Alles ist hier gelenkt und insgeheim kontrolliert« (ebd.). Die pädagogisch vorherrschende Individualisierung fördert demnach nicht die kindliche Individualität, sondern zielt auf eine Normierung von Kompetenzen und Verhaltensweisen, die das Kind bestenfalls auf sein Überleben in einer Gesellschaft vorbereiten, deren heteronome und destruktive Tendenzen der Kritik jedoch entzogen bleiben. Bei alldem stehen die Pädagog*innen selbst unter wachsendem Druck. Einerseits müssen sie immer weitere Fördermaßnahmen unter Evaluationsdruck durchführen, mit immer weniger Möglichkeiten zur Gestaltung des pädagogischen Alltags. Andererseits kommen sie über die kindlichen Entwicklungsthemen, die Bedürftigkeit, intensive Affektivität und widerspenstigen Autonomiebestrebungen der Kinder in Kontakt mit eigenen biografischen Themen oder auch mit einer Scham, den eigenen pädagogischen Idealen nicht (mehr) gerecht werden zu können. Weil diese intensiven Themen den verengten pädagogischen Alltag zu sprengen drohen, entsteht allzu schnell ein institutionalisiertes Abwehrbündnis, in dem all die affektiven Themen, die als unhaltbar erlebt werden, durch die Identifizierung mit individualisiertem Förderwahn, ökonomisierter Dienstleistungslogik und ihrem Produktivitätsgerede manisch-affirmierend oder resignativ-erschöpft abgewehrt werden (vgl. Volhard 2005, S. 267; Mentzos 1988).3 Dazu ein 3 Diese Prozesse sind insbesondere für Fachkräfte in der Kindheitspädagogik mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden, wie Cornelia Krause-Girth in ihrer empirischen Untersuchung Geschlechtsspezifische Prävention psychosozialer Probleme in städtischen Kindertagesstätten und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung und Gesundheit des pädagogischen Personals 2008–2010 herausfinden konnte (Krause-Girth 2011). Zu vermuten ist, dass psychische und psychosomatische Erkrankungen, wie etwa Burnout, auch im Bereich der Pädagogik als letzte, jedoch dysfunktionale Bastion des Widerstands gegen Entgrenzungs- und Optimierungszwänge fungieren, wenn Affirmation oder Resignation als Überlebensstrategie nicht mehr genügen. Jedenfalls mussten Manfred Ger-

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4.2 Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung

Fallbeispiel, wie es sich ähnlich in vielen Kitas abspielen dürfte (Naumann 2015): Viktorias Eltern haben Glück. Sie haben eine gesunde Tochter und gut bezahlte Jobs, die sie wiederaufnehmen müssen, um keine Einbußen in Einkommen und Karriere zu erleiden. Und sie haben, als Viktoria 15 Monate alt ist, einen Krippenplatz gefunden. Doch leider werden in der Krippe die Gefühle von Angst und Trauer rund um den Trennungsprozess zwischen Eltern und Kind heruntergespielt, während das wütende Aufbegehren von Kindern gegen die Belastungen des Krippenalltags verpönt ist. Viktoria gilt zwar bald als angenehmes und unauffälliges Kind, das gut funktioniert. Aufmerksamen Beobachter*innen würden aber ihre oft gedämpfte Stimmung und ihr wenig fantasievolles Spiel auffallen. Später in der Kita, Viktoria ist inzwischen fünf Jahre alt, wird sie als sozial sehr gut angepasstes Mädchen betrachtet. Sie ist höflich, befolgt die Regeln und zeigt sich in Förderkursen für Vorschulkinder kognitiv kompetent und leistungsfähig. Wiederum würden feinfühlige Beobachter*innen wahrnehmen, dass Viktoria eine verdeckte Aggression agiert, indem sie weniger angepasste oder leistungsschwächere Kinder verächtlich macht und sonst vor allem die Anerkennung von Erwachsenen sucht. Sie würden sich auch nicht darüber wundern, dass Viktoria beginnt, nachts einzunässen – als verdrehter körperlicher Ausdruck all jener kindlichen Bedürfnisse nach bedingungsloser Zuwendung und lustvoller Exploration innerer und äußerer Welten, die in ihrer Entwicklung unbeachtet geblieben sind. Gefühle wie Angst, Trauer und Wut, die Kinder in ihrer Entwicklung nicht zeigen, bearbeiten und integrieren dürfen, müssen sich früher oder später andere, verrückt erscheinende oder destruktive Abfuhrbahnen suchen. Wenn Eltern in der zunehmend entgrenzten Arbeitswelt unter Druck geraten; wenn Kinder in einem belasteten Alltag nur mehr funktionieren sollen; und wenn Krippen und Kitas spach und ich in unserer tiefenhermeneutischen Evaluation städtischer Kitas erkennen, dass in einem Großteil der untersuchten Kitas angesichts des Optimierungsdrucks entweder eine affirmative oder eine resignative Haltung festzustellen war, verbunden mit psychosozialen Belastungen und einem hohen Krankenstand. Durchaus vergleichbare Erkenntnisse finden sich auch in einer Studie von Viernickel et al. – dazu später mehr.

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4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

diese Tendenzen nicht kritisch hinterfragen, sondern sich als bloße Dienstleister verstehen, dann wird einer solch leidvollen Entwicklung von Kindern, aber auch von Eltern und Pädagog*innen Vorschub geleistet. Es besteht die Gefahr, dass Pädagog*innen die unerfüllbar scheinenden und somit bedrohlichen Wünsche nach einer befriedigenden pädagogischen Welt aggressiv an den Kindern bekämpfen und dies dann als Fördermaßnahme rationalisieren (vgl. Seifert 1996, S. 176f.). Schlicht formuliert: »Nur wer selbst nicht unter Druck steht, muss keinen Druck ausüben« (ebd., S. 191). So aber herrscht häufig eine behavioristische und kognitivistische Haltung vor, in der Verhalten gesteuert, Empfinden gelernt und Kompetenzen angeeignet werden sollen (vgl. Figdor 2006, S. 106). Dabei wird nicht bedacht, dass schon das pädagogische Sprechen über Kinder einen performativen Akt darstellt: »der will ja nur Aufmerksamkeit« oder »die will bloß ihren Willen durchsetzen« sind Beispiele für ein solches Sprechen, das das je besondere Kind mit seinen Bedürfnissen und Konflikten übersieht, die pädagogische Macht an die Stelle der empathischen Frage setzt, und Pädagogik letztlich auf Handlungstechnik reduziert (Brandl 2016).4 Doch wenn das Affektive und die Bedürfnisse der Kinder keinen integrierten Platz in den pädagogischen Beziehungen erhalten, sondern die 4 Im Hinblick auf den Optimierungsdruck in Gesellschaft, Pädagogik und Familie muss die Inszenierung unbewältigter Konflikte durch aggressives und/oder anderes irritierendes Verhalten in der pädagogischen Beziehung differenziert betrachtet werden. So gibt es Kinder, die aus familiendynamischen Gründen den Druck destruktiv zu verarbeiten suchen: als einsame Reproduktion der auferlegten Härte von Konkurrenz- und Leistungsnormen; als Versuch, durch Aggression oder Apathie die erlebte Demoralisierung und Ohnmacht zu kompensieren (vgl. Winkler 2016, S. 65); oder eben, wie im Fallbeispiel, als leistungsorientierte soziale Überanpassung, die das Leiden daran, dass die eigenen kindlichen Bedürfnisse übergangen wurden, nur verdreht, etwa als Anzeigen von vermeintlichen Regelverstößen und Unzulänglichkeiten anderer Kinder oder als Bettnässen zeigen kann (Naumann 2015, S. 133). Es kann aber auch zu besagten Abwehrbündnissen zwischen Pädagog*innen, Eltern und Kindern kommen, die den Optimierungsdruck affirmieren und die darin unbewältigten Konflikte einer Pseudolösung zuführen, indem sie all jene verächtlich machen und mit Ausschluss bedrohen, die der Optimierungsnorm nicht genügen können oder wollen. Nicht zuletzt gibt es auch Kinder, die mit ihrer Aggression einen gesunden und berechtigten Widerstand gegen die Zumutungen in ihrem familiären und/oder pädagogischen Alltag zum Ausdruck bringen.

196

4.2 Pädagogik in Zeiten der Ökonomisierung und Individualisierung

mehr oder minder wohlgemeinte Disziplinierung der Kinder im Sinne erwünschten Verhaltens den Alltag bestimmt, wird nicht nur Bildung verhindert, sondern schlimmstenfalls sogar eine pathogene Entwicklung in Gang gesetzt (Figdor 2006, S. 119). Dann nämlich können die Konflikte und Themen der Kinder nicht bearbeitet werden. Stattdessen erscheinen dem Kind die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Fantasien als bedrohlich, »was es vor die Wahl stellt, solche bedrohlichen Selbstanteile abzuwehren oder auf eine gute Beziehung, in welcher sich das Kind vorwiegend geliebt erleben kann, zu verzichten« (ebd., S. 109). Ohne ein haltgebendes Setting und unter dem Druck der äußeren und verinnerlichten Erwartungen macht sich so eine Kultur des Wegfühlens und der Affektarmut breit. Das Affektive, Spielerische, Verbindende und Unvorhersehbare der Kindergruppe wird gebannt, indem individualisierte Fördertechniken in den Vordergrund treten. All die in der Kindergruppe schwelenden Affekte aber, deren Bearbeitung die Voraussetzung für tiefgreifende Selbstbildungsprozesse bieten würde, müssen sich andere Abfuhrbahnen suchen. Sie zeigen sich früher oder später als psychosoziale Störung, als psychosomatische Beschwerde – oder sie binden sich an dominanzkulturelle Diskriminierungsprozesse, die sich durch individualistische, sexistische oder rassistische Zuschreibungen gegen diskursiv verfügbare Gruppen richten (Naumann 2014, S. 16f.).5 5 Das Erkenntnisinteresse dieses Abschnitts richtet sich darauf, hegemoniale pädagogische Tendenzen kritisch zu benennen. Selbstverständlich gibt es immer wieder auch progressive Entwicklungen – das kindheitspädagogische Feld ist widersprüchlich: So zeigen die ethnografischen Studien im Band »Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung«, dass Pädagog*innen in speziell arrangierten Situationen durchaus sensibel mit Themen der Vielfalt und Diskriminierung umgehen, dass im dichten Kita-Alltag aber häufig Klischees reproduziert werden (Hoffmann et al. 2015). In der Forschungsarbeit »Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Bildungsaufgaben, Zeitkontingente und strukturelle Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen«, in der der Umgang mit neuen Herausforderungen etwa durch Bildungspläne untersucht wurde, konnten drei Typen unterschieden werden: ein Typ, der sich vor diesen Herausforderungen abschottet; ein zweiter, der sich überidentifiziert; aber auch ein dritter Typ, der sich durch die kreative Integration neuer Perspektiven auszeichnet (Viernickel et al. 2013). Um eine solch stabile, kreative und integrierende Haltung zu unterstützen, plädieren die Autorinnen u. a. für mehr materielle und soziale Anerkennung, mehr Zeit, mehr Fort- und Weiterbildung sowie Räume für die Reflexion pädagogischer Praxis – alles Forderungen, die ebenso sinnvoll sind wie sie der Ökonomisierungslogik entgegenstehen.

197

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

4.3

Diskriminierung und Vorurteil

Diskriminierung meint die systematische Benachteiligung eines Individuums oder einer minoritären Gruppe aufgrund von Vorurteilen und die damit verknüpfte generalisierte Zuschreibung negativer Merkmale – mit erheblichen psychosozialen Belastungen für die betroffenen Menschen. Diskriminierung muss als Form psychischer Gewalt verstanden werden (Roos/Kästner 2020; Wagner 2020). Vorurteile sind grundsätzlich generalisierte Haltungen bestimmten Menschen oder Gruppen gegenüber, denen positive oder negative Eigenschaften zugeschrieben werden, sie sind mit Stereotypisierungen, Bewertungen, kognitiven Zuschreibungen und affektiver Aufladung verbunden (Roos/Kästner 2020). Im Kontext von Diskriminierungsprozessen stehen negative Zuschreibungen im Zeichen dominanzkultureller Be- und Entwertungen im Vordergrund. Hier dominieren Vorurteile als »negative oder ablehnende Einstellungen […] einer Menschengruppe gegenüber, wobei dieser Gruppe infolge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vornherein zugeschrieben werden, die sich aufgrund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung, selbst bei widersprechender Erfahrung, schwer korrigieren lassen« (Davis, zit. nach Auernheimer 2003, S. 84). Aus psychoanalytischer Sicht lassen sich solche Vorurteile als Ausdruck einer dyadischen Verklebung mit der eigenen dominanten Bezugsgruppe verstehen, die die Übereinstimmung mit der Bezugsgruppe und ihre Überordnung minoritären Gruppen gegenüber erzwingt. Der triangulierende Kontakt mit Neuem und Anderem muss hingegen per Vorurteil abgewehrt werden, um die ebenso unverdienten wie realen narzisstischen und sozialen Gratifikationen als Teil der Mehrheitsgruppe aufrechterhalten zu können. Denn einerseits begegnet dem Subjekt im Anderen das fremd gewordene Eigene, das ja gerade durch das Vorurteil dem inneren Erleben ferngehalten werden soll. Und andererseits erscheint in der dyadischen Verklebung jede Erfahrung mit Fremdem weniger als Herausforderung zum neugierigen Kennenlernen und zur Versöhnung mit Differenz, sondern vielmehr schlicht als Bedrohung des dominanzkulturell aufgeblasenen Selbstwertgefühls (Naumann 2010, S. 106). Diejenigen, die zum Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung werden, sind demgegenüber mit Beschämung, Entwertung und Ausgrenzung konfrontiert und versuchen häufig, zunächst durch Anpassungsversuche, sich unsichtbar machen oder durch trotziges Annehmen der zugeschriebenen Fremdheit zu überleben. 198

4.3 Diskriminierung und Vorurteil

Was folgt aus all dem nun für die kindliche Entwicklung, in der die Basis jeder Subjektentwicklung gelegt wird? Sicherlich ist die Gefahr der Vorurteilsbildung besonders groß, wenn Kinder schon in ihrer frühen Entwicklung mit wenig feinfühligen Bezugspersonen aufwachsen, wenn die Affektregulierung scheitert und die Kinder somit keinen Kontakt zu ihren eigenen Bedürfnissen finden. Denn dann werden sie später dazu neigen, ihre unbewältigten Affekte entweder durch Selbstentwertung oder durch die Entwertung von Kindern anderer Bezugsgruppen zu agieren (vgl. Naumann 2011, S. 27). Doch selbst bei einer gelingenden frühen Entwicklung kommen die Kinder unweigerlich in Berührung mit den herrschenden Vorurteilen, zumal sich diese mit den entwicklungsspezifischen Themen der Kinder verknüpfen. Im zweiten und dritten Lebensjahr sind sie mit Größenfantasien und Ohnmachtsgefühlen, mit Autonomie-Abhängigkeitskonflikten befasst, zugleich kommt der Spracherwerb in Fahrt. Dabei nutzen die Kinder einerseits zunehmend die Sprache und das Symbolspiel, um ihre Themen des Groß- und Kleinseins zu bearbeiten, andererseits ist dies aber auch das Einfallstor für die Übernahme von Vorurteilen, für die gesellschaftlich konstruierten und sprachlich transportierten Bewertungen etwa von Geschlecht und Kultur (Naumann 2010, S. 105). Entscheidend ist dabei natürlich, welches Handeln und Sprechen die Kinder mit ihren bedeutsamen Bezugspersonen erleben, eher reflexiv, empathisch und heterogenitätssensibel oder vorurteilsbeladen und diskriminierend (Roos/Kästner 2020). Wenn die Kinder dann ab etwa drei Jahren über emotionale Objektkonstanz verfügen, entwickeln sie auf der Grundlage der bis dahin gemachten Erfahrungen auch Theorien über die Konstanz und Veränderbarkeit sichtbarer Unterschiede (vgl. Mahler et al. 1999, S. 142), unter ungünstigen Bedingungen verknüpft mit einem Unbehagen gegenüber Kindern, die als abweichend gelten (Roos/Kästner 2020). Mit vier bis fünf Jahren, wenn die Selbstwahrnehmung der Kinder sich auf die Zukunft hin verzeitlicht (Perner 2010, S. 217), korrigieren sie von sich aus »unangemessenes Verhalten« und beginnen sich als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe zu identifizieren (Wagner 2003, S. 39f.). Fehlt es den Kindern dann an triangulierenden Erfahrungen in vorurteilssensiblen Beziehungen, drohen früh einsozialisierte empathische und solidarische Fähigkeiten durch zunehmend verinnerlichte Vorurteilsstrukturen überdeckt zu werden (vgl. Keller 2008, S. 50). In diesem Kontext spricht Louise Derman-Sparks, Mitbegründerin des Anti-Bias-Ansatzes, von »internalisierter Unter199

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

drückung« und »internalisierter Überlegenheit« (2001, S. 10). Bei der internalisierten Unterdrückung herrschen beständige narzisstische Kränkungen vor, die in das Selbstbild sickern und gegebenenfalls durch die Überbetonung des aufgezwungenen Andersseins kompensiert werden. Bei der internalisierten Überlegenheit hingegen können die Kinder kein ihren Fähigkeiten angemessenes Selbstbild entwickeln und verlieren den Kontakt zu all jenen Wünschen, die sie auf eine Fremdgruppe projizieren und dort in verstellter Form entwerten und bekämpfen (vgl. Rommelspacher 1998, S. 172f.). Doch Kinder, »die sich anderen gegenüber als überlegen oder unterlegen empfinden, können sich nicht auf einer realistischen Grundlage gut mit sich selbst und mit anderen fühlen« (Wagner 2003, S. 40). Diese ebenso gesellschaftlich produzierten wie unbewusst und affektiv im Subjekt verankerten Dimensionen sind es, die Vorurteile gegen rein kognitive pädagogische Aufklärung imprägnieren. Pädagogische Praxis muss demnach auch die sich im Vorurteil zeigenden Affekte berücksichtigen, in Verständigung mit den Kindern zu deren Symbolisierung beitragen und triangulierende Erfahrungen der Vielfalt und Solidarität ermöglichen. Mit einem weiteren Praxisbeispiel möchte ich die tiefgehende Beschämung von diskriminierten Kindern, die Bedeutung pädagogischer Bezugspersonen und die glücklichen Potenziale einer empathischen und reflexiven Haltung nachvollziehbar machen: Seit mehr als 15 Jahren biete ich am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt Projekte zu psychoanalytischer Pädagogik in der Kita an. Diese Projekte laufen jeweils über ein Studienjahr und umfassen Theorieseminare, sozialpädagogische Praxis und begleitende Praxisreflexion. In einer Reflexionssitzung bringt eine Studentin, Frau R., eine Szene ein, die sie in ihrer Kita erlebt hat. Die vierjährige Maria ist mit ihrer Familie aus Kolumbien nach Deutschland migriert und wird in der Kita eingewöhnt, in der Frau R. ihr Praktikum absolviert. Im Morgenkreis wird Maria von der Gruppenleiterin begrüßt und sodann mit der Aufforderung konfrontiert, auf Deutsch bis drei zu zählen. Maria schaut eingeschüchtert zu Boden und kein Laut kommt über ihre Lippen, manche der anderen Kinder schauen mit großen Augen auf die Szene, andere kichern. Die Gruppenleiterin sieht daraufhin in die Runde und bringt mit Haltung und Worten zum Ausdruck, sie habe ja gewusst, dass Maria nicht die 200

4.3 Diskriminierung und Vorurteil

klügste sei. Frau R. schildert diese Begebenheit sehr unsicher und angespannt, offenbar selbst eingeschüchtert von der Autorität der erfahrenen Fachkraft. Aber unterstützt durch den Rückhalt in der Reflexionsgruppe wagt sie, auch über ihre Identifizierung mit Maria und ihren zunächst heimlichen Beziehungsaufbau mit ihr zu sprechen. Maria ist nach der beschämenden Initialszene gleichsam zum Schweigen gebracht. Sie verharrt in einer angespannten Einsamkeit und scheint jedweden Kontakt zu meiden, um in dieser fremden Welt nicht neuerlich entwertet zu werden. Die anderen Kinder wiederum scheinen Maria zu übersehen – alle haben die Szene im Morgenkreis miterlebt und niemand möchte von der Beschämung infiziert werden. In einer genügend sicheren Situation spricht Frau R. Maria dann mit einem ihrer wenigen spanischen Worte an, über die sie verfügt: »Hola«! Schlagartig wird aus der versteinerten Miene Marias ein strahlendes Gesicht. In der gemeinsamen Verständigung mit spanischen und deutschen Worten stellt sich heraus, dass Maria nicht nur auf Spanisch, sondern auch auf Deutsch bis zehn zählen kann. Insgesamt wurde für die ganze Reflexionsgruppe spürbar, wie ausschließend und leidvoll Beschämung wirkt, wie sie das Fühlen und Handeln in der Gruppe einschränkt, und wie freudvoll umgekehrt Anerkennung und Verständigung sind, indem sie Selbstbildung und Partizipation ermöglichen. Frau  R. hat ihre Eindrücke letztlich auch in ihrer Praxisstelle geschildert und ist auf offene Ohren gestoßen.6 6 An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, sich in pädagogischen Kontexten für die konkreten Familien mit ihren konkreten Erfahrungen, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen zu interessieren, bspw. auch für ihre Migrationserfahrungen: Welche Anlässe lagen der Migration zugrunde, wie sind Abschied, Verlauf und Ankommen erlebt worden, gibt es besondere psychosoziale Belastungen oder Ressourcen etc.? Im Hinblick auf Kinder, die wie Maria mehrsprachig aufwachsen, ist entscheidend, die Erstsprache zu würdigen, als zusätzliche Kompetenz und als die Sprache, in der die Kinder in ihrer frühesten Entwicklung Trost, Versorgung und Freude erfahren haben. Schon diese Würdigung hat zur Folge, dass sich die Kinder und ihre Familien gesehen, anerkannt und gehalten fühlen – und dies spendet die Sicherheit dafür, sich auf weitere Bildungsprozesse einzulassen (Naumann 2012). Grundsätzlich weist Gerd E. Schäfer darauf hin, dass sprachliche Bildung alle Sinnes-, Empfindungs- und Fühlmöglichkeiten einschließt und wesentlich auf dem alltäglichen gemeinsamen Fühlen, Sprechen und Handeln beruht – nicht auf Sprachförderprogrammen (2019, S. 147).

201

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

4.4

Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

Eine Pädagogik, die die hegemonialen gesellschaftlichen Tendenzen reflektiert und förderliche Entwicklungs- und Selbstbildungsprozesse ermöglichen will, braucht entsprechende Bedingungen: das Ernstnehmen des sozialen Orts der Pädagogik und das Bereitstellen einer fördernden Umwelt im Sinne Winnicotts (2006a); eine gemeinsame Praxis, in der Selbst- und Weltbezüge erlebbar sind und auch »Verrücktes« gewagt werden darf; Zeit für die Prozesshaftigkeit von Entwicklung und Bildung, die Kindern durch das Kennenlernen und Überschreiten von Grenzen die Anerkennung der äußeren Realität sowie deren Gestaltung ermöglicht; und annehmende Beziehungen, in denen auch bei destruktiv oder verrückt erscheinendem Verhalten kein Defizit, sondern grundsätzlich ein subjektiver Sinn unterstellt wird, mit den Herausforderungen einer spezifischen Lebenssituation fertig zu werden (Winkler 2016, S. 69ff.). Hier gilt es gegebenenfalls, neue Entwicklungsräume zu öffnen. Die interdisziplinäre Kooperation von Pädagogik und Psychoanalyse bietet für eine solche Haltung außerordentlich gute Voraussetzungen. Diese Kooperation war schon in ihrer Geschichte nicht nur an tiefgreifenden, mitunter heilenden, jedenfalls gelingenden Entwicklungs- und Bildungsprozessen interessiert, sondern auch, mit emanzipatorischem Impetus, an der kritischen Reflexion der je herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Um dies zu unterstreichen, möchte ich nochmals auf den eingangs erwähnten Siegfried Bernfeld hinweisen; auf die Erziehungsberatungsstellen, die Alfred Adler im Wien der 1920er gründete; auf die Aufsätze Theodor W. Adornos Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit; auf die Antiautoritäre Erziehung, die Kinderladenbewegung und die diesbezüglichen Arbeiten Monika Seiferts; auf die Renaissance der Psychoanalytischen Pädagogik in den 1970er Jahren, die mit den Namen Aloys Leber, Alfred Lorenzer und Hans-Georg Trescher verbunden ist; und auch auf die aktuelleren Arbeiten etwa von Manfred Gerspach, Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Urte Finger-Trescher, Gerd E. Schäfer, Holger Brandes und mir selbst, die neuere Entwicklungen der psychoanalytischen Theoriebildung integrieren (Säuglingsforschung, Mentalisierungskonzept, intersubjektive Wende der Psychoanalyse), die gruppenanalytisches und soziologisches Wissen nutzen und Pädagogik grundsätzlich in ihrem gesellschaftlichen Kontext begreifen. Im Folgenden möchte ich anhand der 202

4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

Aspekte »Selbstbildung, Verständigung und Spiel«, »Partizipation, Autonomie und Solidarität« sowie »Entwicklungsbündnis, Optimalstrukturierung und Szenisches Verstehen« die förderlichen, emanzipatorischen und kritischen Potenziale der psychoanalytischen Pädagogik am Beispiel der Kindheitspädagogik herausarbeiten, ergänzt um differenzierende Einsichten des Anti-Bias-Ansatzes. 4.4.1 Selbstbildung, Verständigung und Spiel

»Bildung meint nicht Schule, sondern eine immer reflexiv, nämlich subjektiv sinnhaft eingeholte Auseinandersetzung mit der eigenen natürlichen Entwicklung, den individuellen Affekten einerseits, langen Familiengeschichten, kulturellen Deutungen und sozialen Möglichkeitsstrukturen andererseits« (Winkler 2016, S. 61). Emphatisch gesprochen ist Bildung keine Anhäufung marktgängiger Kompetenzen, kein erlerntes angemessenes Verhalten, sondern die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Solidarität, zur wachsenden Gestaltung der Welt im Sinne eigener und allgemeiner Bedürfnisse. Kinder können nicht gebildet werden, vielmehr kann kindliche Bildung nur als Selbstbildung gelingen. Selbstbildung ist die eigenaktive und subjektiv-sinnhafte Erweiterung von Selbst- und Weltbild, die in zwischenmenschlichen Beziehungen und Bezügen zur sozialen und kulturellen Umwelt gedeiht und bestenfalls Können und Wissen hervorbringt, das zur kreativen Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben führt (Schäfer 2019, S. 64). Auch in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ist das Recht auf Bildung und Gewaltfreiheit für jedes Kind festgeschrieben – als Voraussetzung für subjektive Sinnfindung und sozialkulturelle Beteiligung (vgl. ebd.). Im Sinne ihrer Selbstbildung sind die Kinder natürlich auf einen förderlichen Rahmen angewiesen. Hier stehen die Erwachsenen in der Verantwortung zur Erziehung, zur Bereitstellung von Zeit, Raum und Material einerseits und von verlässlichen, dialogischen Beziehungen andererseits (vgl. Laewen 2002, S. 72). Erziehung ist dabei nicht nur von persönlichen und fachlichen Orientierungen der Pädagog*innen abhängig, sondern unweigerlich eingebettet in kulturelle, soziale, rechtliche und politische Rahmenbedingungen. Für gelingende Selbstbildung sollte Erziehung die Beziehung mit Kindern daran ausrichten, den Kindern größtmögliche und 203

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

dauerhafte Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen (Schäfer 2019, S. 64). Bildung und Erziehung stellen somit zwei unterschiedliche Blickwinkel auf dieselbe Beziehungsgeschichte dar (ebd., S. 65). Anders gesagt: »Da der Mensch nur als erzogener die Möglichkeit der (Selbst-)Bildung hat, ist Erziehung zwar eine Antithese von Bildung, zugleich auch ihre Voraussetzung« (Eggert-Schmid Noerr 2009, S. 187). Eine solche Erziehung will den Kindern ein selbstbestimmtes Hineinwachsen in die Gesellschaft eröffnen und muss sich zugleich Schritt für Schritt überflüssig machen. Eine Erziehung, die Selbstbildung und Beteiligung der Kinder nicht begrenzt, sondern ermöglicht, braucht eine entsprechende Haltung. Hier hat Gerd E.  Schäfer den unabdingbaren Zusammenhang von Selbstbildung und Verständigung herausgearbeitet. Verständigung meint die szenische, emotionale und sprachliche Einigung zwischen Menschen über den gemeinsamen Sinn einer geteilten Erfahrung, die emotionale, rationale, sachliche und soziale Bezüge aufweisen kann. Verständigung basiert auf der wechselseitigen Resonanz zwischen Kind und Pädagog*in; sie braucht das Einlassen auf die kindliche Perspektive und gleichwertige Kommunikationsanteile von Kind und Erwachsenem (Schäfer 2019, S.  82ff.). Im Rahmen genügend guter Verständigung kann dann Selbstbildung voranschreiten: als innere Dynamik der Bewertung, Verarbeitung und Verinnerlichung der Interaktionserfahrungen, die immer differenziertere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet (Schäfer 2005, S.  52ff.). Dazu eine kleine Szene aus der pädagogischen Praxis: Stellen wir uns eine Kita vor, in der alle Kinder bereits abgeholt wurden, bis auf einen vierjährigen Jungen. Er scheint sehnsüchtig, schwankend zwischen Weinerlichkeit und Wut, auf seine Mutter zu warten. Dabei hantiert er etwas lustlos mit den Autos aus der Autokiste herum. Ein Pädagoge geht nun auf ihn zu und es entwickelt sich ein Spiel, bei dem die beiden sich verschiedene Autos aus wechselnden Entfernungen und immer virtuoser zuschieben. Begleitet ist das Spiel von fantasiereichen Geräuschen und Worten, die den Spaß an der Schnelligkeit, die Lust am Verreisen, mal mit Freunden, mal mit der Familie, aber auch den Ärger des Wartens und die Sehnsucht nach der Mutter zum Ausdruck bringen. Selbstverständlich lernt der Junge so etwas über die Fliehkraft, schult seine Auge-Hand-Koordination und seine Motorik. Entscheidend ist aber die Verständigung 204

4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

über den Sinn der Szene. Hier geht es um die Lust am Spiel, um die Freude an den eigenen Fähigkeiten, zugleich wird das Thema Trennung und Wiedervereinigung erprobt, durchgespielt und gemeinsam symbolisiert. Psychoanalytisch betrachtet kann Verständigung zu einer stabilen psychischen Entwicklung als innere Basis für Selbstbildungsprozesse beitragen. Das Kind kann in der Verständigung gute innere Objekte aufbauen und Ich-stärkende Identifizierungen entwickeln; narzisstische Kränkungen infolge des Kleinseins können milde und erträglich ausfallen, da das Kind grundlegende Beteiligungserfahrungen verinnerlicht. Die Erfahrung mit nicht-strafenden, sondern empathischen Erwachsenen trägt zur Entstehung eines freundlichen Über-Ich bei, und eine triangulierende Verständigung eröffnet dem Kind einen genügend angstfreie Vorstellungen kultureller und geschlechtlicher Differenzen (vgl. Leuzinger-Bohleber et al. 2006, S. 243; Naumann 2011, S. 44). Wenn auf diese Weise die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder gestillt sind, können sie sich auf die Verunsicherungen und Herausforderungen der Selbstbildung, den Kontakt mit Neuem und Fremdem einlassen. Selbstbildung und Verständigung gelingen bei größtmöglicher Empathie der Fachkräfte und größtmöglicher Beteiligung der Kinder (Schäfer 2019, S. 83). Sie kann aber auch scheitern, etwa durch fehlende Empathie, die Einschränkung von Beteiligung und die Beschämung entlang sexistischer, rassistischer oder adultistischer Kategorisierungen. Die Welt erscheint dann als ein bedrohlicher Ort, vor dem die Kinder sich schützen müssen. Jeder Kontakt mit Neuem, jede Öffnung muss dann als Wiederkehr von Kränkung, Missachtung und Ohnmacht befürchtet werden. Gelingt die Verständigung hingegen, können die Kinder sich selbst und die gemeinsame Welt immer weiter neugierig erforschen. Auch die moderne Neurobiologie kann den Zusammenhang von Verständigung und Selbstbildung bezeugen: »Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation« (Bauer 2009, S. 197).7 7 Die Begleitung von Selbstbildung erfordert die Berücksichtigung der Eigenlogik kindlicher Entwicklungsprozesse. »Frühkindliche Bildung scheint in den ersten Lebensjahren vornehmlich ›ästhetische Bildung‹ zu sein, also Bildung des Handelns und Denkens mit-

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4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Das zentrale Medium der kindlichen Selbstbildung ist das Spiel. Im Spiel wird geforscht, ausprobiert und Wirklichkeit vergegenwärtigt. Im Spiel machen Kinder die Erfahrung von Absprachen, Reziprozität und Verständigung, und im Spiel sind auch Selbstheilungskräfte angelegt, weil es zur Verarbeitung emotional drängender Themen beiträgt (vgl. Schäfer 2005, S. 104). Das Spiel ist »die Externalisierung eines Gefühlszustandes und dessen Verankerung in einer Spielfigur, mit der das Kind sich identifiziert. Dieser Vorgang wirkt schon als solcher ein Stück weit beruhigend« (Dornes 2000, S. 204). Darüber hinaus erhält das Kind im gemeinsamen Spiel von seinen Spielgefährten Antworten auf die Spielfigur, die dann als bedeutsame Interaktionserfahrung verinnerlicht werden können (vgl. ebd.). Oft sind es die existenziellen »Dramen« familiärer, geschlechtlicher und kultureller Erfahrungen, die im Spiel gezeigt, kennengelernt, durchgespielt und auf förderliche Weise wieder verinnerlicht werden (Brandes 2009). Beispielsweise können die Kinder in einem Raubkatzenspiel affektiv hoch aufgeladene Themen inszenieren und durchspielen, etwa Autonomie-Abhängigkeits-Konflikte oder Erfahrungen der Über- und Unterordnung – so können die Kinder zu einem starken und gefährlichen Tiger werden und eine Macht erleben, die ihnen oft schmerzlich fehlt; sie können sich als kleine Raubkatze an größere anschmiegen und Geborgenheitswünsche zulassen, die ihnen sonst zu bedrohlich erscheinen; und sie können neue Welten erschaffen, in denen jede*r unterschiedlich ist und doch alle zusammenhalten (Naumann 2011, S. 24). Insgesamt eröffnet das Spiel die grundlegende Erfahrung, dass die Wirklichkeit im Sinne der eigenen und gemeinsamen Bedürfnisse und Träume veränderbar ist. Es bietet einen »Übergangsraum« (Winnicott) zwischen hilfe der Sinne, des Körpers, der Emotionen und der daraus entstehenden repräsentativen Welt« (Schäfer 2006, S. 65). Diese Bildung der Sinnlichkeit ist deshalb so wichtig für die kindliche Entwicklung, weil die Kinder nur solche Erfahrungen mit Bedeutung besetzen können, die sie fernsinnlich, körpersinnlich und emotional wahrnehmen. Die sinnliche Wahrnehmung ist damit Vorläufer und Begleiter der Fantasieentwicklung und des sprachlichen Denkens (vgl. Schäfer 2005, S. 138f.). Wenn die sinnlichen Eindrücke vielfältig und nicht allzu beängstigend sind, kann sich eine reichhaltige und kreative Fantasietätigkeit bilden. Sodann wächst auch ein sprachliches Denken, das sowohl die inneren Zustände, Gefühle und Bedürfnisse als auch die äußere Wirklichkeit zu benennen vermag (dazu Bulander 2020; Kirchner 2020).

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4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

Fantasie und Realität, in dem die Kinder ihre lebensweltlichen Themen, Fragen, Bedürfnisse und Interessen genügend angstfrei in Szene setzen und mit der Wirklichkeit abgleichen können, ohne die Überwältigung durch innere destruktive Impulse oder äußere Sanktionen befürchten zu müssen (Winnicott 2006b, S. 25). Das Spiel sollte mit so viel Zeit, Raum und Vielfalt wie möglich im Zentrum der Kindheitspädagogik stehen (Franz 2016). Nicht umsonst ist auch das Recht auf Spiel in der UN-KRK festgeschrieben – ebenso wie das Recht auf Partizipation. 4.4.2 Partizipation, Autonomie und Solidarität

Die Voraussetzung dafür, dass Kinder Spielräume nutzen können, ist ihre alltägliche Partizipation an den Belangen der Kita. Hier stellt sich zunächst die pädagogische Aufgabe, den Alltag nicht für, sondern mit den Kindern zu gestalten (Reimer-Gordinskaya 2020, S. 317). Diese Aufgabe betrifft vor allem zwei Aspekte: die räumliche Gestaltung und die pädagogischen Beziehungen. Die räumliche Gestaltung muss Sicherheit spenden, weil diese zur lustvollen Exploration neuer Welten grundlegend ist, zugleich aber muss sie den Kindern Anlässe für eigenaktive neugierige Erkundungen ihrer inneren, zwischenmenschlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Welten geben (vgl. Schäfer 2019, S. 258). Auf der Beziehungsebene müssen Pädagog*innen immer wieder reflektieren, ob ihnen bei manchen Kindern aufgrund eigener biografisch und/oder dominanzkulturell erworbener Vorurteile die Empathie abhandenkommt. Kulturalisierende und sexifizierende Zuschreibungen etwa machen die Anerkennungswünsche, Erfahrungen und Identitäten betroffener Kinder unsichtbar, sie werden sprachlos entwertet und beschämt, während andere Kinder, deren Sichtbarkeit scheinbar natürlich gewährleistet ist, in ihrer Persönlichkeit mit Stolz bestärkt werden (Wagner 2020, S. 35). Die Folge ist, dass sich auch in der Kita dominante und subordinante Gruppen bilden – mit destruktiven Folgen für alle (Reimer-Gordinskaya 2020, S. 318). Die größte Herausforderung für Pädagog*innen ist dabei, Macht und Selbstgewissheit abzugeben und die Verunsicherung auszuhalten, die durch das Anders- und Besonderssein, die widerspenstigen Ideen und die Kreativität der Kinder notwendig aufkommt. Der Lohn ist aber ein lebendiger und freudvoller Alltag mit der ganzen Gruppe, der das Fühlen, Sprechen und Handeln beweglicher macht. 207

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Im Hinblick auf die Kinder betrifft Beteiligung zunächst ganz schlicht die selbstverständliche Nutzung von Räumen und Materialien. Diese sollten für alle Kinder so weit als möglich zugänglich sein, frei genutzt und gestaltet werden können und Heterogenität erfahrbar machen, damit Räume und Materialien von den Kindern im Sinne des Ausdrucks und der Bearbeitung ihrer lebensweltlichen Themen überhaupt verwendet werden können. Doch nicht nur im Hinblick auf das tägliche Spiel gilt es, die Kinder mit einzubeziehen, sondern auch bei Fragen der Gestaltung des gemeinsamen Raums, der Tagesabläufe und der gemeinsamen Regeln. Dabei können die Kinder in Kinderkonferenzen die selbstverständliche Erfahrung der Mitsprache machen, die für die Entwicklung der Kinder von unschätzbarem Wert ist, weil es ihre Bedürfnisse und Wünsche, ihre Kreativität und Reziprozität sind, die sich raumzeitlich im Alltag materialisieren (Naumann 2010, S. 148f.). Dies gilt selbstverständlich auch für den Umgang mit Regeln: »Das sukzessive Entwickeln eines sozialen Regelsystems, das dem Kind nicht autoritär aufgesetzt, sondern in einem emotional tragenden, sicheren Beziehungsgefüge mit dem Kind ›ausgehandelt‹ und dem Entwicklungsalter entsprechend gemeinsam ›gelernt‹ und ›reflektiert‹ wird, ist die Voraussetzung für Internalisierungsprozesse, die nicht durch eine Unterwerfung, sondern durch eine Stabilisierung von Selbst und Autonomie gekennzeichnet sind« (Leuzinger-Bohleber et al. 2006, S. 243).

In einem solchen affektfreundlichen und mentalisierenden Raum, in dem positiv wie negativ besetzte Affekte gezeigt werden können und der die unterschiedlichen mentalen Zustände, Bedürfnisse und Interessen aller am pädagogischen Prozess beteiligten Menschen erfahrbar macht, kann nicht nur Autonomie, sondern auch Solidarität besonders gut gedeihen. Die Erfahrung von Teilhabe, von Autonomie und Selbstwirksamkeit, von Solidarität trotz aller unterschiedlichen Familienkulturen, Bedürfnisse und Interessen sowie der bedürfnisgerechten Gestaltung der gemeinsamen Welt – dies sind Erfahrungen, die, wenn sie so früh und tief einsozialisiert wurden, nicht revidierbar sind. Dann gelingt das eingangs erwähnte Wagnis der Individuation und Verbundenheit, das auch pädagogisch dringliche Wagnis, ohne Angst verschieden und ohne Angst verbunden sein zu können.8 Die Kinder sind 8 Den emanzipatorischen Anspruch, Autonomie und Solidarität in der gemeinsamen Gestaltung der Welt erfahrbar zu machen, teilt die Psychoanalytische Pädagogik mit

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4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

dann keine Objekte pädagogischer Behandlung, sondern werden in all ihren Äußerungen, auch in ihrem nonkonformen und widerständigen Handeln unterstützt – und die Kita wird zu einem Ort demokratischer Alltagskultur (Reimer-Gordinskaya 2020, S. 316ff.). 4.4.3 Entwicklungsbündnis, Optimalstrukturierung und Szenisches Verstehen

Psychoanalytische Pädagogik zielt auf Entwicklungsbündnisse mit den Kindern und der Kindergruppe, um ihnen Erfahrungen der Autonomie, Selbstbildung, Beteiligung und Solidarität zu ermöglichen. Jedes Kind bringt dabei seine biografischen Vorerfahrungen und sozialen Bezüge mit in die Gruppe, wodurch ein vielfältiges Beziehungsnetzwerk entsteht.9 In diesem sind die Familienkulturen der Kinder, ihre Belastungen und Ressourcen, mehr oder weniger bewältigte Affekte sowie Sagbares und (noch) Unsagbares enthalten. Daraus ergeben sich zwei miteinander verwobene Dynamiken. Einerseits übertragen die einzelnen Kinder unweigerlich auch ihre bewussten und unbewussten Vorerfahrungen auf die aktuellen Beziehungen in der Kita. Andererseits ist der Gruppenalltag durch Tagesabläufe, Bildungsthemen, Beziehungskonflikte und geteilte Freude geprägt. In diesem Prozess können Selbstbildungsprozesse blockiert werden, und zwar sowohl durch die Vorerfahrungen einzelner Kinder, die sich in Form von Ohnmacht, Angst oder weiteren pädagogischen Ansätzen. Hier sind insbesondere die Freinet-Pädagogik, die Reggio-Pädagogik, die Antiautoritäre Erziehung sowie der Situationsansatz in enger Kooperation mit dem Anti-Bias-Ansatz zu nennen – es sicherlich kein Zufall, dass all diese Ansätze letztlich einer antifaschistischen Geschichte entstammen. Das Besondere der psychoanalytischen Pädagogik ist, dass sie neben dem pädagogischen Optimismus, der sie mit vielen reformpädagogischen Ansätzen verbindet, auch mit unbewussten, potenziell destruktiven Prozessen in pädagogischen Institutionen und Beziehungen rechnet. Damit stellt sie nicht nur ein förderliches entwicklungspsychologisch begründetes Setting zur Verfügung, sondern auch ein Repertoire für Verstehen und Handeln für Situation heftigster Wut, massiver Angst oder verrückt erscheinender Verhaltensweisen, die in der Pädagogik die größte Herausforderung darstellen. 9 Damit wird auch das Vorurteil entkräftet, die psychoanalytische Pädagogik würde vor allem Zweierbeziehung in quasi therapeutischer Manier betrachten. Mein Verständnis einer pädagogischen Perspektive, die die Gruppe in den Vordergrund rückt, wird im später folgenden Text zur gruppenanalytischen Pädagogik vorgestellt.

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4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Aggression zeigen können, als auch durch die Konflikte in der Gruppe, etwa als Spaltung von Subgruppen oder Verschiebung auf einen Sündenbock. Im Entwicklungsbündnis gelten alle Äußerungen der Kinder als bedeutsam – auch Störungen, die zunächst Kommunikationsblockaden und Irritationen erzeugen, muss ein Sinn unterstellt werden. Die Aufgabe der Pädagog*innen ist nicht etwa, heftige Affekte und Störungen kleinzuhalten, sondern vor allem, Interaktion und Kommunikation immer wieder in Gang zu bringen, damit auch Störungen sich zeigen können – denn nur was sich zeigen darf, kann auch im pädagogischen Prozess gemeinsam bearbeitet werden (Naumann 2014). In diesem Sinne sind Pädagog*innen auf besondere Weise Teil der Gruppe. Auf horizontaler Ebene fungieren sie als Interaktionspartner*innen im Spiel, im Gespräch und überhaupt im Gruppenalltag mit seinen Freuden und Zwängen, auf vertikaler Ebene sind sie aufgrund ihrer Leitungsfunktion in besonderer Weise Übertragungsfigur und real verantwortliche, intervenierende Bezugsperson im Hier und Jetzt der Gruppe (Finger-Trescher 2012a, S. 26). Besonders in Situationen, in denen Selbstbildungsprozesse zu scheitern drohen, in denen Unbehagen, Ärger, Irritationen oder Sorge aufkommen, ist es psychoanalytisch-pädagogisch geboten, der eigenen Gegenübertragung auf das Geschehen in der Gruppe nachzuspüren, um eventuell noch unsagbare Affekte und einen möglichen Sinn im Beziehungsgeschehen zu entdecken, und um dieses Verstehen schließlich den Kindern als haltgebende und sinnhafte Verständigung zur Verfügung zu stellen. Allerdings sind das Wahrnehmen und Halten von Konflikten mit teils schweren Affekten, die notwendige Selbst- und Praxisreflexion in einem komplexen Beziehungsnetzwerk und die Gestaltung des pädagogischen Alltags zwar wichtige und oftmals freudvolle Herausforderungen, aber auch eine potenziell überlastende Arbeit. Besonders unter unzureichenden Arbeitsbedingungen, etwa durch den besagten Ökonomisierungsdruck, besteht die Gefahr bloßen Agierens von unbewältigten Affekten, die zur Ablehnung bestimmter Kinder, zu heteronormativen und kulturalisierenden Zuschreibungen oder zum pädagogischen Wegfühlen führen. Ich meine, dass hier die Integration von psychoanalytischer Pädagogik und Anti-Bias-Ansatz ebenso strukturierend wie hilfreich sein kann. Am Begriff der bereits erwähnten Familienkultur und anhand der vier Ziele des AntiBias-Ansatzes möchte ich dies verdeutlichen. Jede Familie bringt in ihrer Alltagspraxis eine spezifische Familienkultur hervor, ein »Mosaik von Gewohnheiten, Deutungsmustern, Traditionen 210

4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

und Perspektiven einer Familie, in das auch ihre Erfahrungen mit Herkunft, Sprache(n), Behinderungen, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, sozialer Klasse usw. eingehen« (Wagner 2003, S. 42). Ganz gleich ob diese Familienkulturen der Kinder durch dominanzkulturelle Vorurteile, Demoralisierung oder glückende Selbst- und Weltdeutungen geprägt sind: Das Ernstnehmen jeder Familienkultur rückt das konkrete Kind und die konkrete Familie in den Blick, schützt vor kulturalisierenden, rassistischen oder klassistischen Klischees und kann als Angebot zum Verstehen und Dialog verstanden werden. Darüber hinaus sind im Anti-Bias-Ansatz vier Ziele für die Arbeit mit den Kindern formuliert (ebd., S.  52ff.; 2020, S.  34), die ich jeweils aus meiner psychoanalytisch-pädagogischen Sicht ergänze: ➣ Alle Kinder in ihren Identitäten stärken – hier geht es um die Anerkennung der besonderen Identität jedes Kindes, die auch von der Zugehörigkeit zu bedeutsamen Gruppen wie der Familie und der Kitagruppe geprägt ist, also um die Balance von Individuation und Verbundenheit. ➣ Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen – gemeint ist dabei ein genügend angstfreier Umgang mit Heterogenität, der Differenz nicht als Bedrohung, sondern empathisch erlebbar macht. ➣ Kritisches Denken über Gerechtigkeit anregen  – das gemeinsame Denken und Sprechen über Unrecht und Gerechtigkeit eröffnet auch den Zugang zu Gefühlen wie Scham, Angst, Ohnmacht und Wut oder auch Empathie, Stolz und geteilte Freude. ➣ Aktiv werden gegen Unrecht und Diskriminierung – hier können die Kinder Selbstwirksamkeit, Zuversicht in eine gestaltbare Welt, Verbundenheit und Solidarität erleben. Alle vier Ziele verhindern vorschnelle Zuschreibungen, basieren auf der Würde jedes Menschen und bringen zum Ausdruck, dass die Balance von Individuation und Verbundenheit maßgeblich für jede glückende menschliche Entwicklung ist. Gemeinsam mit dem Blick für Familienkulturen können sie das psychoanalytisch-pädagogische Entwicklungsbündnis bereichern. Hier dient das »Holding« (Winnicott), also das Halten aller Gefühle, der schönen wie der schweren, dazu, dass die Kinder die Gewissheit haben, sich mit ihren Themen zeigen zu dürfen, ohne Angst vor Beschämung oder Zurückweisung. Damit entsteht die Sicherheit, auch affektiv besetzte Themen, Ängste und Fantasien sowie Fragen 211

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zu Familien, geschlechtlichen und kulturellen Differenzen zu explorieren. Im »Containing« (Bion) nimmt die pädagogische Bezugsperson die besonders heftigen und noch überwältigenden Affekte in sich auf, versucht sie durchzuarbeiten und mit Bedeutung zu versehen, um diese dann den Kindern in verdaulicher Form anzubieten. Damit können etwa Angst und Wut, Schuld und Scham, die auch aus der dyadischen Verklebung mit der eigenen Bezugsgruppe stammen können, hin zu triangulierenden Erfahrungen geöffnet werden, die das Dritte und zunächst Fremde nicht als bedrohlich, sondern als gespiegeltes Eigenes und attraktives Anderes erlebbar machen (Naumann 2012). Nicht zuletzt ist eine mentalisierende Haltung zu nennen, die in den letzten Jahren immer stärker in pädagogischen Kontexten integriert wird. Dabei geht es darum, die Kinder zu mentalisieren, ihnen eigene mentale Zustände, Bedürfnisse, Motive und eine eigenständige Entwicklung zuzuschreiben und sie dabei durch Affektspiegeln, affektfokussiertes Fragen, gemeinsame Entdeckung von Bedeutung und auch durch Selbstoffenbarungen der Pädagog*innen zu ihren mentalen Zuständen zu begleiten (Ramberg/Gingelmaier 2016).10 All dies unterstützt die Kinder dabei, die innere und äußere Realität zunehmend unterscheiden zu können. Auf diese Weise werden die Kinder bedürfnisorientiert und gemeinsam handlungsfähig in der geteilten Wirklichkeit. Allerdings resultieren die Themen und etwaigen Konflikte in der pädagogischen Praxis nicht allein aus den Geschichten, die die Kinder mitbringen, sondern auch aus den institutionellen Verhältnissen einer Kita. Im Sinne der Optimalstrukturierung müssen das pädagogische Setting und die institutionellen Strukturen daraufhin überprüft werden, ob sie Entwicklungsbündnisse eher begünstigen oder gar behindern. Einerseits müssen die Räume, Materialien und Tagesabläufe so gestaltet sein, dass institutionell begründete Konflikte, wie beängstigende Bringsituationen oder Streit wegen beengter Räume, minimiert werden – dazu sollten auch die Materialien, Räume, Flyer und Infotafeln diverse Familienkulturen repräsentieren, damit sich alle Kinder und Eltern anerkannt und zur Teilhabe eingeladen fühlen. Ein solch partizipatives und affektfreundliches Setting 10 Eine schöne Methode für gelingende Verständigung im Entwicklungsbündnis ist auch das »relationale Beobachten« und Dokumentieren – gleichsam als Ausgangspunkt einer Verständigung, die die Kinder nicht objektiviert, sondern an ihren Bedürfnissen und Themen ansetzt und sie empathisch, parteilich und demokratisch zum Dialog einlädt (Schäfer 2019, S. 259).

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4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

(Naumann) dient letztlich auch als Hilfs-Ich für die Kinder, weil sie ihre darin erlebten Interaktionserfahrungen verinnerlichen und zu erweiterten Wahrnehmungs- und Handlungsweisen verarbeiten können (vgl. Trescher 2001, S. 187ff.). Andererseits muss der organisatorische Rahmen in Form von Finanzplanung, Personalschlüssel, Qualifizierung und Weiterbildung, Konzeptentwicklung, Supervision sowie pädagogischen Gestaltungsspielräumen gewährleisten, dass die Pädagog*innen freudvoll, gesund, empathisch und reflexiv arbeiten können. Besonders im Hinblick auf institutionelle Reflexionsräume kann wiederum der Anti-Bias-Ansatz mit seinen vier Reflexionsebenen für Pädagog*innen die Optimalstrukturierung verfeinern. Diese umfassen: ➣ die Reflexion der eigenen familienkulturellen Prägungen; ➣ die Reflexion über eigene verinnerlichte Vorurteile und affektive Barrieren; ➣ Klärung des eigenen Gerechtigkeitsempfindens im Abgleich mit pädagogischen Routinen; ➣ und die Reflexion eigener Erfahrungen mit widerständigen Praktiken sowie etwaiger Ängste, »Nein« zu sagen und sich gegen Unrecht zu wehren (Wagner 2020, S. 34). Nicht zuletzt muss der gesellschaftliche und bildungspolitische Kontext im Sinne der Optimalstrukturierung kritisch in den Blick genommen werden. Wenn die fortschreitende Ökonomisierung den pädagogischen Alltag zu durchsetzen droht, wenn Bildung auf die bloße Ansammlung von Kompetenzen reduziert wird, die in individualisierende Förder- und Trainingsmaßen anzueignen sind, oder wenn dominanzkulturelle Zuschreibungen machtvoll in die pädagogische Arbeit drängen, konstelliert dies die pädagogischen Beziehungen auf einengende Weise, die Entwicklungsbündnisse massiv erschwert. Hier kann es notwendig und erforderlich sein, gesellschaftskritisches und bildungspolitisches Engagement zu entfalten (Naumann 2011, S. 53). Das szenische Verstehen schließlich ist ein Erkenntnisverfahren, das bei der Verwirklichung von Entwicklungsbündnissen und Optimalstrukturierung eine substanzielle Hilfestellung bietet. Dieses von Alfred Lorenzer entwickelte Verfahren befasst sich mit Szenen, die sich zwischen Patient*innen und Therapeut*innen in der psychoanalytischen Situation entwickeln. Solche Szenen sind durchwirkt von unbewältigten, verinnerlichten Beziehungserfahrungen der Patient*innen, und zwar als »Wieder213

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

holung einer erlebten oder die Erdichtung einer ersehnten Szene« – eine Dynamik, in die auch die Analytiker*innen unweigerlich hineingezogen werden (Lorenzer 1973, S. 143). Hans-Georg Trescher hat das szenische Verstehen dann für die psychoanalytische Pädagogik adaptiert. Wenn beispielsweise ein Kind von verinnerlichten und unbewältigten Konflikten geplagt ist, kann es diese nicht versprachlichen, sondern muss Thema und Dynamik des Konflikts auf der Handlungsebene als konflikttypische Szene inszenieren (Trescher 1987, S. 156). Der*die Pädagog*in, der*die sich in diese Beziehungsdynamik verstricken lässt, kann dann seine*ihre spontanen Reaktionen, gleichsam seine*ihre Gegenübertragung, als zur Szene gehörig verstehen, den Konflikt entschlüsseln und auf dieser Grundlage pädagogische Beziehungsangebote machen, die die Chance für korrigierende Erfahrungen und zur Konfliktbewältigung eröffnen (ebd., S. 159). So löst etwa ein überbordend aggressives Kind in dem*der Pädagog*in bodenlose Ohnmachtsgefühle aus. Mithilfe des szenischen Verstehens kann diese Ohnmacht als projektive Identifizierung verstanden werden, also als Ohnmacht, die das Kind als schrecklich erlebt hat, niemals mehr spüren möchte und durch seine Aggression zu bewältigen sucht – die Ohnmacht ist nicht aus der Szene verschwunden, sondern nun in dem*der Pädagog*in deponiert (vgl. Trescher 2001, S.  173ff.). Wenn diese*r ihre*seine Gegenübertragung bloß agieren würde, indem sie*er etwa die in ihr*ihm deponierte Ohnmacht durch Zurückweisung und bloße Maßregelung des Kindes zu bewältigen sucht, wird die konflikttypische Szene aus Sicht des Kindes wieder einmal tragisch komplettiert. Wenn der*die Pädagog*in aber die Erfahrung ermöglicht, dass er*sie durch die Aggression nicht vernichtet wird, dass in Beziehungen nicht automatisch Ohnmacht erzeugt wird, sondern Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit und Freude erlebbar sind, stehen dem Kind nachholende und neue Entwicklungen offen. Über solche Beziehungsdynamiken hinaus muss das szenische Verstehen in der Kindheitspädagogik auch die Bedeutung der pädagogischen Institution für die Gruppe sowie der Gruppe für die Entwicklung der Kinder berücksichtigen (Naumann 2014, S. 127f.). Demgemäß muss sich das szenische Verstehen auf die Rekonstruktion des Sinns von Szenen richten, die sich zwischen Mitgliedern einer Gruppe in einem bestimmten institutionellen Rahmen abspielen (vgl. Naumann 2011, S. 53). Hier gilt es verschiedene Beziehungsebenen wahrzunehmen, die zwar zusammenwirken, aber analytisch unterschieden werden können (Naumann 2014, S. 128): 214

4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

1. 2. 3. 4.

Die verinnerlichten und wiederbelebten Beziehungserfahrungen der Kinder. Die realen Beziehungen im Hier und Jetzt der Kindergruppe, in die auch die aktuellen sozialen Beziehungen außerhalb der Gruppe hineinspielen. Die Beziehung zum gegenwärtigen Bildungsthema der Kinder, das mehr oder minder lustvoll besetzt oder auch ängstigend sein kann. Die Beziehungen im Hinblick auf das pädagogische Setting und die institutionellen Bedingungen.

Auf allen vier Beziehungsebenen kommt es zu Übertragungen, und zwar nicht einfach nur als individuelle Wiederholungen, sondern als »Dramatisierung von realistischen Wahrnehmungen und folglich als Interaktionseffekt« im realen Hier und Jetzt der Gruppe (Haubl zit. nach FingerTrescher 2012b, S. 42). In diesem komplexen Geschehen formieren sich unweigerlich auch konflikthafte Szenen, die durch unbewältigte affektiv besetzte Themen geprägt sind, die wiederum Entwicklung und Selbstbildung blockieren können. Diesen Themen gilt es in der Gegenübertragung nachzuspüren, um ihre affektive Dynamik und Verortung auf den vier Ebenen zu verstehen und angemessene pädagogische Antworten geben zu können (Naumann 2014, S. 128). Das szenische Verstehen im Dienste des Entwicklungsbündnisses bezieht sich zunächst vor allem auf die ersten drei Ebenen. Folgende erkenntnisleitende Fragen bieten sich an: Welche Affekte sind in der zu verstehenden Szene noch unsagbar und unbewältigt, zeigen sich nur atmosphärisch, in irritierendem Verhalten oder sinnlich-symbolischen Kommunikationen? Sind mit den virulenten Affekten eher kränkende Selbstanteile oder eher bedrohliche Objektanteile verbunden? Zu wem gehören die Affekte in der Szene, zu Einzelnen, Subgruppen oder zur Gesamtgruppe? Wirken sie eher horizontal zwischen Gruppenmitgliedern oder vertikal in der Beziehung zum Gruppenleiter (vgl. Finger-Trescher 2012b, S. 43ff.)? Im Fokus stehen dabei Belastungen und Ressourcen, Familiendynamiken, lebensweltliche Fragen und Bildungsthemen, die die Kinder in die pädagogische Gruppe mitbringen und auch von Ökonomisierungsdruck, Entgrenzung und dominanzkulturellen Zuschreibungen, Vorurteilen, Ohnmacht und Beschämung geprägt sein können. Das szenische Verstehen im Dienste der Optimalstrukturierung richtet sich eher auf die dritte und vierte der oben genannten Ebenen, also auf die 215

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

gesellschaftliche Funktion pädagogischer Institutionen, das Setting und die pädagogisch gesetzten Bildungsthemen. Da die pädagogischen Szenen, wie bereits erwähnt, unweigerlich durch gesellschaftliche und institutionelle Themen mitkonstelliert werden, ist hier die Analyse der institutionellen Gegenübertragung unerlässlich. Damit kann untersucht werden, inwiefern der herrschende Optimierungsdruck und verletzende Klischees pädagogische Praxis überdeterminieren, auf welche Weise gesellschaftliche Prozesse, institutioneller Rahmen und pädagogisches Setting entwicklungshemmend, ängstigend oder gar retraumatisierend in die Gruppenbeziehungen hineinwirken. Zur Veranschaulichung der Potenziale szenischen Verstehens möchte ich hier das Fallbeispiel »Wo oder wer ist Masud?« von Helene Messer und Gudrun Nagel aufgreifen, in dessen Fokus ein Junge steht, der von den Pädagog*innen zunächst immer wieder übersehen wird. Der Fall spielt sich in einer recht überschaubaren Kita mit offenem Konzept ab, die von zahlreichen Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte besucht wird. Die Kinder können alle spielen wo sie wollen, müssen sich aber, wenn sie einen Spielraum wechseln, bei den Pädagog*innen ab- und anmelden: »In der Beratung möchten die Erzieherinnen über Masud sprechen, darüber ist sich die Gruppe schnell einig. Aber niemand möchte beginnen, das Kind vorzustellen. Dann beginnt doch eine junge Kollegin, die erst seit kurzer Zeit in der Einrichtung arbeitet, die Daten zu schildern: Masud ist ein türkischer Junge…, aber schon jetzt gerät die Gruppe in Widerspruch, ist er 4 oder 5 Jahre alt, wie lange ist er schon in der Kindertagesstätte, seit einem Jahr oder seit einem halben Jahr? Auch bei der Frage, aus welchen Beobachtungen heraus sie heute über Masud sprechen wollen, berichten alle Beteiligten Unterschiedliches. Niemand weiß, wo er spielt. Eine Erzieherin berichtet, dass sie ihn immer vergisst. Wenn er morgens gebracht wird, begrüßt sie ihn, macht ihm ein Spielangebot und nimmt ihn dann den ganzen Tag nicht mehr wahr. Es wird immer deutlicher, dass es kein Bild von diesem Kind gibt, selbst die Beschreibung des Kindes ist völlig widersprüchlich. Ist er dick, ist er dünn, ist er hübsch oder weniger hübsch, groß oder klein, spricht er, und wenn ja, welche Sprache? Die Situation wird den Erziehrinnen langsam peinlich, sie trauen sich nicht mehr, sich zu widersprechen, halten sich zurück. Aber es gibt kein Bild von diesem Kind, keine Spielszenen, keine 216

4.4 Widerstandspotenziale psychoanalytischer Kindheitspädagogik

Geschichten, keine Konflikte mit anderen Kindern oder mit Erzieherinnen. Masud scheint nicht wirklich zu existieren. Alle sind erschrocken, sie fühlen sich schuldig. Da fällt einer Erzieherin ein, dass er häufig im Flur auf der Bank sitzt und weint, wenn sie zu ihm geht, hört er sofort auf, steht auf und geht weg. Jetzt spüren alle die Trauer des Kindes. In der Gegenübertragung der Beraterin entsteht das Gefühl der Hilflosigkeit und vor allem der Inkompetenz. Das Gefühl, nichts zu verstehen, die Gruppe in diesem Chaos zu belassen, sie gar zu beschämen, weil sie den Jungen nicht beschreiben können, löst Gefühle der Insuffizienz aus. Als die Beraterin ihr eigenes Insuffizienzgefühl, als möglichen Ausdruck der vorgestellten Problematik, der Gruppe zur Verfügung stellt, geht ein entlastendes Aufatmen durch die Gruppe. Fast gemeinsam rufen sie aus: ›So geht es uns auch‹ und lachen. Einzelne berichten davon, dass sie das Gefühl haben, eine schlechte Erzieherin zu sein und haben ein schlechtes Gewissen, wenn ihnen ein Kind in Vergessenheit gerät. Nun versucht die Gruppe kein weiteres ›Material‹ mehr zu sammeln, sondern das zu verstehen, was an spärlichen Szenen vorhanden ist. Was zeigt das Kind, wenn es ›unsichtbar‹ ist? Die Gruppe fantasiert darüber, warum es für Masud sinnvoll sein kann, nicht gesehen zu werden. Schnell kristallisiert sich heraus, dass Masud vielleicht niemandem zur Last fallen möchte und meint, allein in der Fremde zurechtkommen zu müssen, sich dabei aber einsam und traurig fühlt. Zwei […] Erzieherinnen [mit eigener Migrationsgeschichte] fällt ein, wie es ihnen ging, als sie als Schulkind und als Jugendliche allein mit der Fremdheit in einem fremden Land zurechtkommen mussten, wie tapfer sie sein mussten. Beide erzählen Szenen ihrer Verweigerung, ihrer Angst und ihrer Scham. Sie deuten an, wie mühsam es war, die Abwehr gegen die fremde Sprache aufzugeben und Deutsch zu lernen. Jetzt können die Erzieherinnen spüren, wie hilflos und unsicher Masud sich fühlen mag und seine Signale, mit denen er zeigt, dass er Zeit, Behutsamkeit und viel Einfühlung braucht, werden als solche verstanden« (Messer/Nagel 1998, S.  234ff., Einfügung TMN). Nach dieser Sitzung führen die Erzieherinnen ein Elterngespräch mit den jungen Eltern von Masud und erfahren, dass sie erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben, noch wenig deutsch sprechen und 217

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

voller Hoffnung sind, bleiben zu können (ebd., S. 237). Wir können vermuten, dass Masud nicht nur die eigene Geschichte des Abschieds und des Ankommens bewältigen muss, sondern auch seine Eltern als hoch verunsichert und bedürftig erlebt und obendrein als Einziger in der Familie tagtäglich in einer »fremden« Öffentlichkeit bestehen muss. Er ist mit Gefühlen der Trauer und des Ausgeliefertseins befasst und kann nicht wissen, ob die ihm vertrauten Wege der Kontaktaufnahme in der ungewohnten Umgebung greifen. Es scheint bedrohlich, Kontakt aufzunehmen, denn vielleicht kann er den Erwartungen, die an ihn gestellt werden, nicht entsprechen, vielleicht würden vielmehr seine Wut, Angst und Scham herausbrechen – kurzum: »Er weiß nicht, ob er sich den Erwachsenen mit all seinen Konflikten zumuten kann« (ebd., S. 236). Das Fallbeispiel zeigt, wie die Unsichtbarkeit von Masud durch das szenische Verstehen im Entwicklungsbündnis überwunden werden konnte, und wir dürfen annehmen, dass er sich mehr gehalten gefühlt und auf dieser Grundlage konturierter in die Gruppe finden konnte. Auch im Hinblick auf die Optimalstrukturierung ist das Beispiel insofern erhellend, als die zuvor unsichtbare Heterogenität im Team durch das gemeinsame Verstehen sichtbar und institutionell integriert werden konnte (vgl. Wagner 2020, S. 36). Nicht zuletzt deuten sich dabei bereits die Potenziale einer mentalisierenden Haltung an, auftauchenden Affekten, auch wenn sie noch unverstanden sind, einen Sinn zuzuschreiben, das zunächst unvermeidliche Nicht-Wissen auszuhalten, und sich neugierig und forschend diesem Sinn anzunähern (Ramberg/Gingelmaier 2016). Insgesamt kann das szenische Verstehen dazu beitragen, die pädagogische Institution als Ort zu gestalten, der ein genügend gutes Holding gewährt, der Übergangsräume eröffnet und so zur Stiftung von nachholender Entwicklung, Neugier und Bildungslust beiträgt (Naumann 2014, S. 130). Das szenische Verstehen kann eine Haltung begründen, die sich einerseits pädagogisch-praktisch gegen die destruktiven Verheerungen von Ökonomisierung und Dominanzkultur wendet und stattdessen die subjektive Sinnhaftigkeit jedweden Verhaltens in einer konkreten Lebenssituation zu erschließen sucht. Andererseits vermag sie die destruktive Wirkmacht gesellschaftlicher Verhältnisse in pädagogischen Settings aufzuspüren, um auf dieser Grundlage pädagogisch förderliche ebenso wie politisch engagierte Antworten zu geben. 218

4.5 Eine andere Pädagogik ist möglich

4.5

Eine andere Pädagogik ist möglich

Pädagogische Arbeit zeichnet sich zumeist durch Nähe, Alltäglichkeit, Prozesshaftigkeit, affektiv aufgeladene Beziehungsdynamiken sowie lebensweltliche Themen aus. In der Kita kommen noch die spezifischen Entwicklungsthemen der Kinder hinzu: das Erleben und mehr oder minder gelingende Integrieren von Autonomiebestrebungen und Bindungswünschen, von Wut, Angst und Trauer, von Scham und Schuld, Macht und Ohnmacht, Freude und Stolz. Nur wenn diese affektiven Themen genügend gut bewältigt werden, können sich die Kinder neugierig und lustvoll ihrer Selbstbildung zuwenden. Eben dies ist die primäre Aufgabe pädagogischer Arbeit. Dabei sind diese spezifischen Rhythmen, affektiven Themen und pädagogischen Erfordernisse aber durchwirkt von heteronomen gesellschaftlichen Tendenzen, denen die Offenheit und Widerspenstigkeit kindlicher Entwicklung entgegensteht. Wenn nun im Zeichen von Ökonomisierung und Individualisierung, Dominanzkultur und Diskriminierung wesentliche affektiv besetzte Themen institutionalisiert abgewehrt werden, erzeugt dies nicht nur hohe psychosoziale Kosten für Kinder, Eltern und Pädagog*innen, sondern verhindert schlicht die wirkliche Erfüllung der primären Aufgabe. Deshalb müssen die affektiven Themen und Beziehungsdynamiken ebenso wie ihre gesellschaftlichen Kontexte systematisch in der Pädagogik berücksichtigt werden – nebenbei bemerkt, macht dies die Arbeit auch lebendiger und freudvoller. So kann die Kita zu einem affektfreundlichen Übergangsraum werden, in dem die Kinder genügend angstfrei ihre Bedürfnisse, Konflikte und Alltagsthemen zeigen und im Sinne wachsender Kreativität und Symbolisierungsfähigkeit, Autonomie und Solidarität bearbeiten können (vgl. Winnicott 2006b, S. 25). Auch für die Eltern kann die Kita so zu einem Ort werden, an dem sie ihre Sorgen, Zweifel oder auch den alltäglichen Druck zeigen dürfen, an dem sie ihre Bedürfnisse und Hoffnungen thematisieren oder auch erst entdecken können, und der ihnen die entlastende Vernetzung im Sinne einer »unterstützenden Matrix« (Stern) eröffnet (Ahlheim 2009, S. 31f.). Auf diese Weise ermöglicht die Kita Kindern wie Eltern alternative Erfahrungen zu Optimierungsdruck und Ausgrenzungsdrohung, indem Teilhabe und Solidarität, Individualität und Verbundenheit, Entschleunigung und Kreativität erlebbar werden. Um all dies zu ermöglichen, müssen die Pädagog*innen selbst von ihrer Einrichtung genügend gut gehalten werden. Sie benötigen verlässliche 219

4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik

Räume für Rekreation und Reflexion, damit sie im Wechselspiel von gesellschaftlichem Druck, pädagogischem Auftrag und biografischen Dispositionen nicht in Affirmationen oder Resignation verfallen und obendrein immense psychosoziale Kosten tragen. Gerade weil Pädagog*innen in der Begleitung kindlicher Selbstbildung und der Erziehungspartnerschaft mit den Eltern eine intensive, verantwortungsvolle und herausfordernde Arbeit leisten, deren Erfüllung obendrein durch die besagten gesellschaftlichen Verhältnisse gefährdet ist, verdienen sie soziale und materielle Anerkennung und jede mögliche Unterstützung. Pädagogik ist ein potenziell widerständiges und emanzipatorisches Projekt. Dessen Realisierung benötigt eine Beziehungsästhetik (Naumann), die leid- und freudvolle Gefühle im Wechselspiel von biografischen und gesellschaftlichen Erfahrungen ernst nimmt (das Private ist politisch!) und auf glücklichere Begegnungen zielt. Und dazu braucht es vor allem für Familien und Pädagogik eine Politik der Anerkennung von Vielfalt, eine Politik der Umverteilung, die materielle Sicherheit, Zeit für Beziehungen und gemeinsame Entscheidungsfreiheit ermöglicht (vgl. Reimer-Gordinskaya 2020, S. 323f.). Ja, kritische Pädagogik hat es mit Kräften zu tun, die stärker sind als sie selbst. Aber dies ist kein Grund zu verzagen: Alle emanzipatorischen Erfolge wurden durch zivilgesellschaftliche und politische Kämpfe errungen (Wagner 2020, S. 32). Am Versuch, die hier skizzierten Bedingungen einer förderlichen und kritischen pädagogischen Arbeit zu erstreiten und zu verstetigen, sind auch heute zahlreiche Menschen beteiligt, in pädagogischer Theorie und Praxis, in Weiterbildungsinstituten und Supervision, in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Ich verstehe diesen Text als Beitrag zu diesem Kampf. Um es mit den Worten der mexikanischen Zapatisten zu sagen (vgl. Naumann 2010): Preguntando caminamos – Fragend gehen wir voran! Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Ahlheim, Rose (2009): Elternschaft  – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential. In: Haubl, Rolf; Dammasch, Frank & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 15–35. Auernheimer, Georg (2003): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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4.5 Eine andere Pädagogik ist möglich Bauer, Joachim (2009): Spiegelung: Der Kern der pädagogischen Beziehung. In: Haubl, Rolf & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 196–203. Bergmann, Wolfgang (2008): Wider den Förderwahn. Frankfurter Rundschau 132, 12. Bernfeld, Siegfried (1967): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Brandes, Holger (2009): Die Kindergruppe als Übergangsraum. psychosozial I/2015, 49–60. Brandl, Yvonne (2016): Sprachspiele der Professionalität. Sprach- und gruppenanalytische Überlegungen zu Grenzverletzungen durch professionelle Rhetoriken. In: Rauh, Bernhard & Kreuzer, Tillmann F. (Hrsg.): Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung. Opladen u. a., Verlag Barbara Budrich, S. 35–47. Bulander, Yvonne (2020): Brüche der Wahrnehmung. Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit. Frühe Kindheit 5/2020, 18–23. Decker, Oliver; Schuler, Julia; Yendell, Alexander; Schließler, Clara & Brähler, Elmar (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 179–209. Derman-Sparks, Louise (2001): Anti-Bias-Arbeit mit jungen Kindern in den USA. https:// situationsansatz.de/publikationen/anti-bias-arbeit-mit-jungen-kindern-in-den -usa/ (28.10.2021). Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt am Main, Fischer. Eggert-Schmid Noerr, Annelinde (2009): Psychoanalytische Pädagogik und Bildung. In: Haubl, Rolf; Dammasch, Frank & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 181–195. Esch, Karin; Klaudy, Elke Katharina; Micheel Brigitte & Stöbe-Blosseyet, Sybille (2006): Qualitätskonzepte in der Kindertagesbetreuung. Ein Überblick. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Figdor, Helmuth (2006): Psychoanalytische Pädagogik und Kindergarten: Die Arbeit mit der ganzen Gruppe. In: Steinhardt, Kornelia; Büttner, Christian & Müller, Burkhard (Hrsg.): Kinder zwischen drei und sechs. Bildungsprozesse und Psychoanalytische Pädagogik im Vorschulalter. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 97–126. Finger-Trescher, Urte (2012a): Kinder – Gruppe – Leitung. Die horizontale und vertikale Ebene des Gruppenprozesses. TPS 2/2012, 22–26. Finger-Trescher, Urte (2012b): Psychoanalytisch-pädagogisches Können und die Funktion gruppenanalytischer Selbsterfahrung. In: Datler, Wilfried; Finger-Trescher, Urte & Gstach, Johannes (Hrsg.): Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln – Aneignen – Anwenden. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 34–52. Flaake, Karin (2014): Neue Mütter – neue Väter: Eine empirische Studie zu veränderten Geschlechterbeziehungen in Familien. Gießen, Psychosozial-Verlag. Franz, Margit (2016): Heute wieder nur gespielt – und dabei viel gelernt! Frühe Kindheit 3/2016, 16–21. Fraser, Nancy (2017): Vom progressiven Neoliberalismus zu Trump. https://adamag.de/ nancy-fraser-progressiver-neoliberalismus-trump (05.10.2020). Funk, Rainer (2011): Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus.

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4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik Hoffmann, Hilmar; Borg-Tiburcy, Kathrin; Kubandt, Melanie; Meyer, Sarah & Nolte, David (Hrsg.) (2015): Alltagspraxen in der Kindertageseinrichtung. Annäherungen an Logiken in einem expandierenden Feld. Weinheim, Basel, Beltz Juventa. Keller, Monika (2008): Die Entwicklung moralischen Denkens und moralischer Gefühle in der Kindheit. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg u. a., Herder, S. 34–55. Kirchner, Constanze (2020): Bildnerisches Gestalten im Kindesalter. Frühe Kindheit 5/2020, 6–17. Krause-Girth, Cornelia (2011): Geschlechtsspezifische Prävention psychosozialer Probleme in städtischen Kindertagesstätten und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsbelastung und Gesundheit des pädagogischen Personals 2008–2010. http://www. boeckler.de/pdf_fof/S-200‚70-4-1.pdf (18.07.2015). Laewen, Hans-Joachim (2002): Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. In: Laewen, Hans-Joachim & Andres, Beate (Hrsg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim, Basel, Beltz, S. 16–102. Leuzinger-Bohleber, Marianne et al. (2006): Die Frankfurter Präventionsstudie. Zur psychischen und psychosozialen Integration von verhaltensauffälligen Kindern im Kindergartenalter. In: Leuzinger-Bohleber, Marianne; Brandl, Sarah Yvonne & Hüther, Gerald (Hrsg.): ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 238–269. Lorenzer, Alfred (1973): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Mahler, Margaret S.; Pine, Fred & Bergman, Anni (1999): Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt am Main, Fischer. Mentzos, Stavros (1988): Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Messer, Helene & Nagel, Gudrun (1998): Mittlerinnen zwischen den Welten – Interkulturelles Lernen in der Beratung von Erzieherinnen. In: Büttner, Christian; Finger-Trescher, Urte & Grebe, Harald (Hrsg.): Brücken und Zäune. Interkulturelle Pädagogik zwischen Fremdem und Eigenem. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 223–238. Naumann, Thilo Maria (2008): Prävention in der Kindertageseinrichtung. psychosozial 111/2008, 97–113. Naumann, Thilo Maria (2010): Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung. Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2011): Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte. Psychoanalytischpädagogische Elternarbeit in der Kita. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2012): Zum Umgang mit Ausgrenzung in der Kita. In: Heilmann, Joachim; Krebs, Heinz & Eggert-Schmid Noerr, Annelinde (Hrsg.): Außenseiter integrieren. Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 133–156. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2015): Ökonomisierungsdruck? Eine andere Pädagogik ist möglich! In: Seifert-Karb, Inken (Hrsg.): Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck. Entwicklungspsychologische und familientherapeutische Perspektiven. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 133–142.

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4.5 Eine andere Pädagogik ist möglich Perner, Achim (2010): Zur Bindung von Angst und Aggression im adoleszenten Ablösungsprozess. In: Ahrbeck, Bernd (Hrsg.): Von allen guten Geistern verlassen? Aggressivität in der Adoleszenz. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 213–236. Ramberg, Axel & Gingelmaier, Stephan (2016): Mentalisierungsgestützte Pädagogik bei Kindern, die Grenzen verletzen. In: Rauh, Bernhard & Kreuzer, Tillmann F. (Hrsg.): Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung. Opladen u. a., Verlag Barbara Budrich, S. 79–98. Reimer-Gordinskaya, Katrin (2020): Kinder und Kindertagesstätten: Die Gestaltung demokratischer Alltagskultur in der »Vielfachkrise«. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 311–326. Reinert, Ilka  & Jantz, Olaf (2001): Inter, Multi oder Kulti? Inwiefern die geschlechtsbezogene Pädagogik die interkulturelle Perspektive benötigt. In: Rauw, Regina; Jantz, Olaf; Reinert, Ilka & Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (Hrsg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit. Opladen, Leske & Budrich, S. 89–110. Rommelspacher, Birgit (1998): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, Orlanda Frauenverlag. Roos, Jeanette & Kästner, Rahel (2020): Vielfalt und die Entwicklung kindlicher Vorurteile am Beispiel Hautfarbe. Frühe Kindheit 4/2020, 22–29. Schäfer, Gerd E. (2005): Was ist frühkindliche Bildung? Aufgaben frühkindlicher Bildung. In: Schäfer, Gerd E. (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Weinheim, Basel, S. 10–102. Schäfer, Gerd E. (2006): Die Bildungsdiskussion in der Pädagogik der frühen Kindheit. In: Steinhardt, Kornelia; Büttner, Christian & Müller, Burkhard (Hrsg.): Kinder zwischen drei und sechs. Bildungsprozesse und Psychoanalytische Pädagogik im Vorschulalter. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 57–80. Schäfer, Gerd E. (2019): Bildung durch Beteiligung. Zur Theorie und Praxis frühkindlicher Bildung. Weinheim, Basel, Beltz Juventa. Schoneville, Holger  & Karner, Britta (2008): Die Ökonomisierung des Sozialen. Das Kinderförderungsgesetz gefährdet die Bildungsqualität. HLZ Zeitschrift der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung 10/2008, S. 8–9. Seifert, Monika (1996): Kann die Kinderladenbewegung einen allgemeinen Beitrag zur Frage von Möglichkeiten kindlicher Autonomie leisten? In: Beutler, Kurt & Horster, Detlef (Hrsg.): Pädagogik und Ethik. Stuttgart, Reclam, S. 174–194. Trescher, Hans-Georg (1987): Bedeutung und Wirkung szenischer Auslösereize in Gruppen. In: Büttner, Christian & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Chancen der Gruppe. Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag. Mainz, Matthias-Grünewald-Verlag, S. 150–161. Trescher, Hans-Georg (2001): Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 167–204. Viernickel, Susanne; Nentwig-Gesemann, Iris; Nicolai, Katharina; Schwarz, Stefanie & Zenker, Luise (2013): Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung – Bildungsaufgaben, Zeitkontingente und strukturelle Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen. Berlin, Alice Salomon Hochschule.

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4 Psychoanalytische Pädagogik als kritische Kindheitspädagogik Volhard, Cornelia (2005): Gruppenanalytische Supervision in Pädagogischen Institutionen. In: Haubl, Rolf; Heltzel, Rudolf & Barthel-Rösing, Marita (Hrsg.): Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 249–272. Wagner, Petra (2003): »Anti-Bias-Arbeit ist eine lange Reise …«. Grundlagen vorurteilsbewusster Praxis in Kindertageseinrichtungen. In: Preissing, Christa  & Wagner, Petra (Hrsg.): Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Freiburg u. a., Herder, S. 34–62. Wagner, Petra (2020): Für alle heißt für alle – ohne Diskriminierung! Inklusion in der Kitapraxis mit dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Frühe Kindheit 4/2020, 30–37. Winkler, Michael (2016): Verhärtete Subjektivität. Über die Grenzen pädagogisch gemeinter Grenzsetzung. In: Ahrbeck, Bernd, Dörr, Margret; Göppel, Rolf; Krebs, Heinz & Wininger, Michael (Hrsg.): Innere und äußere Grenzen. Psychische Strukturbildung als pädagogische Aufgabe. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 57–73. Winnicott, Donald W. (2006a): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen, Psychosozial-Verlag. Winnicott, Donald W. (2006b): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, Klett-Cotta.

224

5

Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

5.1

Um was es geht

Wirken sich aktuelle Geschlechterverhältnisse und sexuelle Verhältnisse mehr oder minder förderlich auf die kindliche Entwicklung aus? Was kann Pädagogik im Sinne einer gelingenden kindlichen Entwicklung zur Entfaltung von Autonomie, Verbundenheit und einem ebenso selbstbestimmten wie bedürfnisgerechten Umgang mit dem Körper, Gefühlen und Beziehungen innerhalb dieser Verhältnisse beitragen? Der Beantwortung dieser Fragen möchte ich in diesem Text nachgehen. Leichter gesagt als getan, hier überschneiden sich zahlreiche Fragen, etwa nach den Spezifika der infantilen Sexualität und der frühen Herausbildung einer Geschlechtsidentität, nach der Erzeugung von Sexualität und Geschlecht in der Interaktion zwischen Kind und Eltern, nach der historischen und aktuellen gesellschaftlichen Bedeutung von sexuellen und geschlechtlichen Verhältnissen, und natürlich auch nach förderlichen pädagogischen Umgangsweisen. Wir werden sehen. Sexuelle Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse sind ebenso wie Interkulturalität und Rassismus, soziale Ungleichheit und Umgang mit Behinderungen intersektionale Strukturmerkmale moderner Gesellschaften und damit auch Querschnittsthemen in pädagogischen Praxisfeldern. Diese Themen wiederum sind eingebettet in eine Dominanzkultur, deren Leitbilder dazu führen, »dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1998, S. 22). Im Hinblick auf die hier fokussierten sexuellen Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse kann mit Judith Butler von der Dominanz einer heterosexuellen Matrix gesprochen werden, in der Heteronormativität, also die naturalisierte Verkopplung von Zweigeschlechtlichkeit und heterosexuellem Begehren das vorherrschende Muster bildet (Butler 2001, S. 128). Hinzu kommt eine hegemoniale Männlichkeit, die sich als 225

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

aktiv, autonom und überlegen imaginiert, während Weiblichkeiten und abweichende Männlichkeiten als untergeordnet gelten. Sicherlich sind die Spielräume für Geschlechteridentitäten und Begehrensformen in den vergangenen Jahren gewachsen, dennoch strukturiert die heterosexuelle Matrix gesellschaftliche Verhältnisse, sie formiert zwischenmenschliche Beziehungen und wirkt über unzählige, alltägliche und performative Akte bis in die psychische Strukturbildung hinein. Dabei besteht die Gefahr, dass sich geschlechtliche und sexuelle Verwerfungen zwischen und in den Menschen destruktiv festsetzen. Damit sich destruktive Tendenzen nicht in pädagogischen Beziehungen reproduzieren, sondern vielmehr emanzipatorische Potenziale für gelingende Entwicklungs- und Bildungsprozesse freigesetzt werden können, muss die heterosexuelle Matrix kritisch hinterfragt werden.1

5.2

Die heterosexuelle Matrix

5.2.1 Von wo wird hier gesprochen?

Eine lohnende theoretische Quelle zur Erkundung der heterosexuellen Matrix sind die Queer Theory, die feministisch und intersubjektiv orientierte Psychoanalyse sowie die psychoanalytisch aufgeklärte kritische Sexual- und Sozialforschung.2 Queer bedeutet eigentlich sonderbar oder 1 An diesem frühen Punkt des Textes möchte ich auf die Gefahr der Reifizierung hinweisen. Diese besteht darin, eine gesellschaftlich konstruierte und kritisch zu hinterfragende Figur, hier die binäre Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit, durch die Verwendung binärer Zeichen von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« doch zu reproduzieren (vgl. Kubandt 2015, S. 104f.). Helga Kelle plädiert in diesem Kontext dafür, Klassifikationskategorien als »Praktiken interdependenter Unterscheidungen« zu verstehen, die als Wiederherstellung von Ungleichheit, aber auch als potenzielle Herstellung von Gleichheit und Vielfalt in den Blick genommen werden können (Schaich 2020, S. 28). 2 Eine wichtige theoretische Referenz bildet dabei der Poststrukturalismus Judith Butlers. Butler wiederum hat sich in den letzten Jahren immer intensiver mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt, etwa mit Freud, Lacan und vor allem mit dem intersubjektiven Ansatz Jessica Benjamins (Butler 2001; 2011). Umgekehrt wird nicht nur in der feministisch orientierten psychoanalytischen Debatte zunehmend auf queere und poststrukturalistische Erkenntnisse Bezug genommen (Benjamin 1995; Watson 2005; König 2012; Wagner 2012; Quindeau 2014; Hutfless 2014), letztgenannte ist auch Mitbetreiberin der hochinteressanten Internetseite Queering Psychoanalysis (Hutfless et al. o. J.).

226

5.2 Die heterosexuelle Matrix

fragwürdig. Der Begriff hat sich von einem homophoben Schimpfwort zur Selbstbezeichnung von politischen Bündnissen gewandelt, deren Akteur*innen sich mit ihren lesbischen, schwulen, bisexuellen, transidenten oder auch heterosexuellen Identitätskonstruktionen der heteronormativen Logik zu entziehen trachten ( Jagose 2001, S. 13ff.). In wissenschaftlichen Kontexten ist der Begriff – erstmals von Teresa de Lauretis in ihrem Aufsatz »Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities« verwendet – namensgebend für die Queer Studies oder eben Queer Theory (de Lauretis 1991; vgl. Watson 2005, S. 71). Im Wesentlichen zielt Queer Theory auf die kritische Auseinandersetzung mit der binären Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Hetero- und Homosexualität sowie mit der Pathologisierung von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten, die aus hegemonialer Sicht als abweichend gelten (vgl. Watson 2005, S. 74). Die Psychoanalyse war mit der Freud’schen Vorstellung der ursprünglichen Bisexualität des Menschen eigentlich queer angelegt, aber in ihrer folgenden Entwicklung sind bis heute immer wieder homophobe und sexistische Tendenzen zu konstatieren (vgl. Hutfless 2014; Quindeau 2015, S. 658). »Mit dem normativen Festhalten an der traditionellen Familie, an der heterosexuellen Verteilung der Elternfunktion, den Geschlechtsstereotypen, mit der Verachtung für Forderungen nach Gleichheit, mit den abstrakten, apolitischen und archaischen Bezügen auf ein höheres Gesetz ist die Psychoanalyse lange jeder kritischen Analyse mit Hochmut begegnet« (Tessier, zit. nach Heenen-Wolff 2015, S. 600).

Innerhalb der Psychoanalyse sind diese Tendenzen schon vor Jahren von feministischen Analytikerinnen wie Christa Rohde-Dachser (1992) oder Jessica Benjamin (1990) kritisiert worden. Aber darüber hinaus kann die Psychoanalyse von Queer Theory profitieren, wenn sie sich auf deren Erkenntnisse zur Komplexität, Breite und Offenheit von Geschlechtern, sexuellen Identitäten und Orientierungen sowie zur intersektionalen Kopplung von geschlechtlichen, sexuellen und weiteren sozialen Entwertungs- und Exklusionsprozessen einlässt (Hutfless 2014). »Umgekehrt wäre es für queer-theoretische Ansätze fruchtbar, sich mit der komplexen Art und Weise zu befassen, in der die Psychoanalyse Subjektwerdung als Phänomen denkt, das über Identität und Identifizierung hinausgeht,

227

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

in dem unbewusste Prozesse eine Rolle spielen und Verwerfungen und Ausschlüsse nicht nur gesellschaftlich, sondern auch intrapsychisch eine Rolle spielen« (ebd.).

5.2.2 Geschlechter und Sexualitäten

Beide Ansätze, die Queer Theory sowie die geschlechter- und sexualitätssensiblen Perspektiven in der Psychoanalyse, treffen sich in ihrer Kritik der Heteronormativität. Wie schon bemerkt, koppelt diese Geschlechtszugehörigkeit an sexuelle Aktivitäten, sie naturalisiert damit ein männliches und ein weibliches Geschlecht mit heterosexueller Orientierung, während rückseitig die Vielzahl anderer sozialer Geschlechter und Begehrensweisen verleugnet oder ausgegrenzt wird (Pimminger 2012, S. 140f.; Quindeau 2014, S. 85). Aus kritischer Perspektive muss es darum gehen, diese Ineinssetzung von Geschlecht und Sexualität zu dekonstruieren. Geschlecht und Sexualität sind zu unterscheidende, aber sozio-historisch verflochtene und sich verändernde Kategorien (Engel 2002, S. 45). Die Heteronormativität bildet hier ein Machtregime, das gesellschaftliche Institutionen, Diskurse, Beziehungsformen und Subjektivitäten strukturiert (ebd., S. 46). Aus dieser zugespitzten Perspektive dient das Geschlechtsdispositiv eher der Zuordnung zu Gruppen und Hierarchisierung von Beziehungen, etwa in der Familie oder der Arbeitswelt, während das Sexualitätsdispositiv eher auf die Herstellung eines Körpers und eines Begehrens zielt, das die Subjekte als ihr Innerstes und Eigenes betrachten, das aber letztlich im Dienste der Reproduktion hegemonialer gesellschaftlicher Verhältnisse steht (vgl. Ott 1998, S. 179). Diese Dekonstruktion der Heteronormativität sollte ergänzt werden durch eine psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Rekonstruktion der Entstehung von Geschlechtern und Sexualitäten, um die Tiefendimension, Ambivalenz und Konflikthaftigkeit dieses Geschehens auszuloten. Am Beispiel der Sexualität lässt sich dies gut zeigen: Sexualität wird, mit Alfred Lorenzer gesprochen, in unzähligen leibsymbolischen, sinnlichsymbolischen und sprachsymbolischen Interaktionen hergestellt, die als Interaktionsformen verinnerlicht und dann in neuerliche Interaktionen eingebracht werden (Lorenzer 1988; Böllinger 2015, S. 623). Die Sexualität jeden Subjekts konstituiert sich somit durch konkrete Erfahrungen in einem sozialen Kontext, also durch eine Körper-, Bedürfnis-, Beziehungs228

5.2 Die heterosexuelle Matrix

und Geschlechtsgeschichte (Schmidt 2014, S. 68), im Zusammenspiel von anatomischen Strukturen, physiologischen Prozessen, Beziehungserfahrungen und Fantasien (Quindeau 2014, S. 87). Dies ist aber kein konfliktfreier Prozess, der die Subjekte schlicht zum Objekt der heteronormativen Hegemonie macht. Zwar wird das Begehren in intersubjektiven und gesellschaftlichen Interaktionen und Kommunikationen erst erzeugt, doch vermitteln diese nicht nur durchaus widersprüchliche Botschaften und Erfahrungen, obendrein werden diese Erfahrungen und mithin das Begehren, im Subjekt sinnlich und psychisch eigenlogisch umgearbeitet. Einerseits erzeugt die hegemoniale Heteronormativität gegenhegemoniale, etwa queere Diskurse und Praktiken, zudem gerät sie immer wieder in Widerspruch zu individualisierenden, flexibilisierenden und ökonomisierenden Tendenzen in neoliberalistischen Gesellschaften. Andererseits führt die psychodynamische Eigenlogik der Subjektbildung dazu, dass alle Regungen, die in bedeutsamen Interaktionen nicht angemessen gespiegelt wurden oder als allzu angstbesetzt und tabuisiert erlebt werden, unbewusst bleiben oder verdrängt werden müssen. Doch damit sind diese Regungen, Wünsche, Bedürfnisse und Konflikte nicht verschwunden, sie müssen sich andere, mitunter verdreht und skurril erscheinende Ausdrucksformen suchen. Die heteronormative Einhegung der Sexualität zeitigt psychosoziale Folgen, die sich als melancholische oder aggressive Überanpassung, als einsam auftrumpfende Über- und beschämende Unterordnung, als individualisiertes psychosoziales oder psychosomatisches Leiden, als kontraphobisches sexuelles Agieren oder auch als gegenhegemoniale Praxis von Widerspruch und Kreativität zeigen können (vgl. Heenen-Wolff 2015, S. 595; Böllinger 2015, S. 623). Kurzum, die heteronormativ strukturierten Subjekte wirken überangepasst, dysfunktional oder widerständig, jedenfalls strukturierend auf die gesellschaftlichen Diskurse und Institutionen zurück. Die Erkenntnis, dass Sexualität und Geschlecht in einem widersprüchlichen Prozess als sehr körpernah erlebt und zugleich gesellschaftlich hergestellt wird, eröffnet einen aufklärenden Blick auch auf das Verhältnis von Begehren, Hetero- und Homosexualität. Nach Lorenzer ist sexuelle Praxis grundsätzlich »der Zentralpunkt, an dem sich das Kommunizieren und Interagieren mit der Umwelt bündeln«, sie ist »die zentrale Stelle, an der die Körperlichkeit ihre soziale Formung zeigt« (Lorenzer 1980, S. 324f.). Hier überlappen sich sämtliche sinnlich-psychischen Entwicklungspunkte einer ebenso subjektiven wie kulturell konstituierten Begehrensgeschichte. Sexualität »impliziert den Objektwechsel von Vater zu Mutter, das Spiel 229

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

mit dem Sadismus und der Zerstörung bis zur Auflösung und Verschmelzung, die zugleich eine neue Erfahrung der Getrenntheit und Individuierung nach sich zieht« (King 1995, S. 345). Sexualität als Körperpraxis ist dabei nicht genital oder geschlechtlich festgelegt, sondern kann verstanden werden als »verhältnismäßig offener Prozeß sexueller Strukturierung, der vom Wandel und von den Zufälligkeiten in der Innen- und Außenwelt des Subjekts überdeterminiert ist« (de Lauretis 1996, S. 221). Homo- wie Heterosexualität dienen dazu, im Rahmen einer konkreten Lebensgeschichte und innerhalb gegebener gesellschaftlicher Kontexte Lust zu erzeugen und möglichst angstfreie, befriedigende Beziehungen zu leben (vgl. RohdeDachser 1994, S. 835ff.). Jedwede sexuelle und geschlechtliche Identität, ob hetero-, homo-, bi- oder asexuell, ob männlich, weiblich, trans- oder intersexuell, ist somit kein Ausdruck bloßer Natur, sondern ebenso kontingent wie kulturell überformt und im Sinne von »Umschriften« lebenslang veränderbar (Quindeau 2014, S. 98). Wenn überhaupt muss bei aufkeimenden psychosozialen Problemen in jedem konkreten Einzelfall, also auch bei heterosexueller Orientierung, genau und offen hingesehen werden – die sexuelle Orientierung sagt schlichtweg nichts über psychische Gesundheit (Böllinger 2015, S. 619; Heenen-Wolff 2015, S. 593). Daraus folgt, dass die hegemoniale Naturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität sowie die Subordination oder gar Pathologisierung von Homosexualität nur durch die vorherrschende Heteronormativität erklärt werden kann. Um solchen Verwerfungen entgegenzuwirken, schlägt Quindeau vor, Weiblichkeit und Männlichkeit, Passivität und Aktivität sowie Hetero- und Homosexualität nicht als Gegensatzpaare, sondern als Pole zu verstehen, die Kontinuen mit unterschiedlichsten Zwischenstufen und Ausprägungen umschließen (Quindeau 2014, S.  84). Insgesamt wäre anzustreben, Räume für vieldeutige und flexiblere Konstruktionen geschlechtlicher und sexueller Identitäten zu eröffnen (ebd., S. 135; Jagose 2001, S. 125f.).3 3 Ein weiteres Beispiel für die destruktive Wirkmacht der heterosexuellen Matrix ist der Umgang mit Intersexualität, also mit Menschen, die im Blick herrschender Geschlechternormen von Geburt an weder als richtiger Junge noch als echtes Mädchen gelten. Dass die jahrzehntelange Praxis, die Betroffenen zu pathologisieren, etwa mit dem diagnostischen Stempel »Disorders of Sex Development« (DSD), und sie ab dem frühesten Kindesalter massiven operativen Maßnahmen zur Vereindeutigung ihres Geschlechts zu unterziehen, psychophysische Verheerungen nach sich zieht, ist inzwischen auch empirisch belegt (Voß 2012, S. 62ff.). Ohne das Engagement von Vereinen wie Intergeschlechtliche Menschen e. V. oder die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V.

230

5.2 Die heterosexuelle Matrix

5.2.3 Zur Kenntlichkeit hin übertrieben: die heterosexuelle Matrix

Wie aber wirkt sich nun die heterosexuelle Matrix mit ihrer Kopplung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität auf die Alltagspraxis, die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die psychische Struktur- und Identitätsbildung aus? Schon ökonomisch müssen wir von der Fortdauer geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung ausgehen. Trotz der gegenwärtigen Individualisierung und Pluralisierung, trotz der formalen Gleichheit von Frauen und Männern in demokratischen Gesellschaften erhalten Männer eher einen selbstverständlichen Zugang zur öffentlichen Sphäre der Erwerbsarbeit, der Politik und Verwaltung, während Frauen noch immer eher für die private Sphäre der Haus- und Erziehungsarbeit zuständig zu sein scheinen – hier steigt männliche Beteiligung nur in geringem Maße, und eine Umschichtung findet eher zwischen Frauen statt, etwa durch die Anstellung von weiblichen Haushaltshilfen oder Kindermädchen in bessergestellten Haushalten (Lange/Lüscher 2006, S. 37). Darüber hinaus finden Frauen besonders in feminisierten Berufen selbstverständlichen Zugang, in denen weiblich codierte Fähigkeiten der Pflege und Kommunikation gefragt sind; weiterhin erhalten Frauen seit Jahren hartnäckig über 20 Prozent weniger Lohn als Männer; sie arbeiten weitaus häufiger in Teilzeit; und sie sind es zumeist, die die Doppelbelastung von Familie und Beruf bewältigen müssen (Winker 2020).4 wären selbst die wenigen Fortschritte der letzten Jahre nicht möglich gewesen. Doch deren Empfehlungen, die angleichenden Operationen komplett auszusetzen bis Betroffene mündig selbst entscheiden können sowie im Geburtsregister eine dritte Kategorie neben »männlich« und »weiblich« zu etablieren wurden erst vom Ethikrat des deutschen Bundestages verwässert und dann in dem seit November 2013 geltenden Gesetz vom Gesetzgeber weitgehend kassiert. Immerhin kann seit Ende 2018 die dritte Option »divers« im Personenstandsregister eingetragen werden und Anfang 2021 lag ein Gesetzesentwurf vor, medizinisch nicht notwendige Operationen vor dem 14. Lebensjahr zu verbieten. Allerdings bleibt bei der dritten Option die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit letztlich bestätigt, da neben dem etablierten Männlichen und Weiblichen gleichsam ein abweichendes Drittes auftaucht; darüber hinaus ist ein späterer Wechsel des geschlechtlichen Personenstands mit entwürdigenden und pathologisierenden medizinischen und psychiatrischen Zwangsuntersuchungen verbunden (Adamczak 2019). 4 Aus diesen Erkenntnissen zur Arbeitsteilung erwachsen umgekehrt bereits politische Forderungen, die sich gegen die neoliberalistische Verwertung geschlechtlich differenzierter Arbeitskräfte, gegen die Heteronormativität in Politik, Wirtschaft und Familie richten, und sich für die soziale und materielle Anerkennung von Care-Arbeit im Sinne

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

Mit dieser Arbeitsteilung ist zugleich ein binäres zweigeschlechtliches Symbolsystem verwoben, in dem Weiblichkeit und Männlichkeit als Gegensatzpaar konstruiert ist. Auf sprachlicher Ebene ist das Wort »Männlichkeit« verknüpft mit Zeichen der Autonomie, der Rationalität und Aktivität, während »Weiblichkeit« im Zeichen von Abhängigkeit, Emotionalität und Passivität zu stehen scheint (vgl. Naumann 2000 S. 163). Allerdings wirkt das binäre Symbolsystem nicht nur auf der sprachsymbolischen, sondern auch auf der sinnlich-symbolischen Ebene des »doing gender«. In unzähligen performativen Wiederholungen entsteht ein »Geschlecht als Existenzweise« (Maihofer 1995), das sich in geschlechtlichen sinnlich-symbolischen Interaktionen, im Lachen, Gehen und Fühlen, in Sprechweisen und ästhetischen Vorlieben konturiert ( Jagose 2001, S. 112; Maihofer 1995). Auf diese Weise bildet sich ein geschlechtlicher »Habitus« (Bourdieu) heraus, eine »verleiblichte, in den Körper eingeschriebene Ordnung«, die »die Zuordnung der Geschlechter zueinander, das Verhältnis von Unterordnung und Durchsetzung, von Nähe und Distanz, von Ordnung und Unordnung oder von Aktivität und Passivität« reguliert und damit geschlechterhabituelle Zugehörigkeiten und Hierarchiebildungen inszeniert (Brandes 2005, S. 158ff.; Naumann 2014, S. 57). Erst das Einfügen in dieses zweigeschlechtliche Symbolsystem verschafft den Menschen sichere soziale Anerkennung und Teilhabe (Bilden 1998, S.  294), gleichzeitig wirkt die Geschlechterdichotomie bis in ihre Körperwahrnehmung, Lust und Befriedigungsmodalitäten hinein (Quindeau 2014, S. 86).5 Die performativen zweigeschlechtlichen Erfahrungen in der alltäglichen Arbeits- und Beziehungswelt hinterlassen letztlich auch in der inneren Struktur und Psychodynamik sowie in den Begehrensformen ihre Spuren. So führt die heteronormative Kopplung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität zumeist dazu, dass sich die anfänglich bisexuelle Orientierung der Menschen über die Verdrängung homosexuellen Begehrens hin einer solidarischen Gesellschaft einsetzen (Winker 2020). An dieser Stelle soll auch daran erinnert werden, dass das Recht auf eigenständige Erwerbsarbeit von Ehefrauen in der BRD erst 1977 eingeführt wurde, und dass das Vergewaltigungsverbot in der Ehe erst seit 1997 besteht – juristische Fortschritte, die ohne die Kämpfe der Frauenbewegung nicht erzielt worden wären. 5 Der Fokus liegt hier auf doing gender, aber selbstverständlich muss berücksichtigt werden, dass doing gender mit doing difference verwoben ist, dass also geschlechtliche, kulturelle und Klassenzugehörigkeit intersektional zusammenwirken (Schaich 2020, S. 26).

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5.2 Die heterosexuelle Matrix

zum heterosexuellen Begehren wandelt (ebd., S. 88). Sicherlich eröffnet die heterosexuelle Objektwahl auch lustspendende Erfahrungen und Beziehungen. Doch eine strikte Aufgabe der gleichgeschlechtlichen Objektwahl unterlegt die Geschlechtsidentität und das heterosexuelle Begehren potenziell mit einer Melancholie, mit einer verleugneten Trauer über all das, was in der geschlechtlichen und sexuellen Vereindeutigung verloren gegangen ist. In der Melancholie wird der starr heterosexuelle Mann gleichsam zu dem Mann, den er nie lieben oder dessen Verlust er nie betrauern konnte, zugleich begehrt er die Frau, die er niemals sein würde. Umgekehrt wird die starr heterosexuelle Frau zu der Frau, die sie nie lieben oder betrauern konnte, und sie begehrt den Mann, der sie niemals sein durfte (Butler 2001, S. 129ff.). Dies ist freilich kein Spezifikum einer starren heterosexuellen Identität. Butler verweist darauf, dass selbstverständlich auch homosexuelles Begehren, besonders in der Behauptung einer kohärenten homosexuellen Identität, melancholisch unterlegt sein kann, nämlich als Verwerfung heterosexuellen Begehrens (ebd., S.  140). Allgemeiner noch macht sie deutlich, dass Identität und Autonomie grundsätzlich nur in Abhängigkeit von unverfügbaren Beziehungen und diskursiven Kontexten existieren, und dass die Verwerfung dieser Abhängigkeit ein melancholisches Erleben etabliert. Erst die Akzeptanz der »Spur des anderen« im Inneren, erst die Trauer um Autonomieverlust eröffnet die Versöhnung mit der existenziellen Ambivalenz und Begrenztheit jedweder Identität (ebd., S. 182; Naumann 2015 S. 205).6 Darüber hinaus trägt die heteronormative Praxis psychodynamisch auch zur geschlechtlichen Spaltung von Autonomie und Bindung bei. Zugespitzt formuliert beruht Männlichkeit auf der unangemessenen Größenfantasie, unabhängig und rational handlungsfähig zu sein. Die zweifellos vorhandene Abhängigkeit von anderen Menschen und all die Wünsche nach Geborgenheit und Nähe, die in diesem Selbstbild nicht integriert sind, müssen sich dann andere Abfuhrbahnen suchen. Im Kontext der hegemonialen Männlichkeit ist die naheliegende Abfuhrbahn die Projektion der Ängste und Wünsche auf Weiblichkeit, die als Symbol der Abhängig6 Hier soll nochmals betont werden, dass die Dekonstruktion der Heteronormativität auf die Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen und daraus folgenden starren Subjektivierungsweisen zielt und nicht als Feindlichkeit gegenüber individuell gelebter Heterosexualität missverstanden werden kann, zumal Heterosexualität von rigiden, homophoben Formen bis hin zu einem heterosexuell-queeren Selbstverständnis reichen kann.

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

keit verachtet und als Symbol der Nähe und Sinnlichkeit idealisiert werden kann. Weiblichkeit gerät so zu einem Behälter, in dem die männlich verleugneten Gefühle deponiert und gefahrlos aufgesucht werden können (vgl. Rohde-Dachser 1992, S. 97ff.; Böllinger 2015, S. 618). Weil umgekehrt in der Geschlechterdichotomie für Weiblichkeit keine männlich codierte Autonomie vorgesehen ist, entsteht die Tendenz, unerfüllte Autonomiewünsche auf Männlichkeit zu projizieren, um so am vermeintlichen Glanz idealisierter männlicher Unabhängigkeit teilhaben zu können. Auf diese Weise wird das Verhältnis von Autonomie und Bindung geschlechtlich polarisiert, es kommt zur männlichen Überbetonung der Autonomie und zur weiblichen Überbetonung der Bindung. Frauen und Männer sind dann, nicht zuletzt in Paarbeziehungen, auf eine destruktive Weise aufeinander verwiesen. Eine förderliche Entwicklung sollte demgegenüber die Balance von Autonomie und Bindung ermöglichen innerhalb und zwischen Menschen, ob sie sich nun weiblich, männlich oder nonbinär verstehen – als Bedingung auch für beweglichere Begehrensformen. 5.2.4 Stimmt das denn?

Lässt sich die Geschichte nicht auch als Geschichte der Befreiung von geschlechtlichen und sexuellen Begrenzungen erzählen? Bereits die sogenannte »sexuelle Revolution« infolge der Revolte rund um das Jahr  1968 richtete sich gegen eine repressive Sexualmoral, die der Elterngeneration, zumindest in Deutschland, auch dazu diente, nicht über Kriegsschuld und Völkermord sprechen zu müssen (Schmidt 2014, S. 137). Darüber hinaus wurde einer befreiten Sexualität neben der Lustfunktion auch eine Macht zugeschrieben, die repressiven gesellschaftlichen Verhältnisse umzustürzen (Sigusch 2014, S. 28). Die in der Revolte noch verbliebenen patriarchalischen und heteronormativen Verkrustungen wurden in der Folgezeit von der Schwulen-, Lesben- und neuen Frauenbewegung aufgebrochen, indem Homosexualität und Weiblichkeit sichtbar gemacht wurden (vgl. Schmidt 2014, S. 34). Besonders der Differenzfeminismus der 1970er Jahre thematisierte sexistische und pädosexuelle Gewalt, formulierte Vorstellungen einer spezifisch weiblichen Sexualität und zielte auf die Kritik und Überwindung der Entwertung weiblich codierter Fähigkeiten der Kommunikation, der Haus-, Erziehungs- und Gefühlsarbeit. Während der Differenzfeminismus noch an 234

5.2 Die heterosexuelle Matrix

einem Geschlechterdualismus festhielt, rückte dann der poststrukturalistische Feminismus der 1980er und 1990er Jahre den Konstruktionscharakter von Geschlecht sowie die Unterschiede auch zwischen Frauen, etwa aus antirassistischer Perspektive, in den Blick. Heute existieren in den Queer und Gender Studies, in der Psychoanalyse und Sexualwissenschaft vielfältige emanzipatorische und gesellschaftskritische Ansätze. Zudem sind diese theoretischen Bemühungen flankiert von sozialen Bewegungen, die sich besonders in Großstädten etwa als feministische, lesbische, schwule und queere Communities zeigen, und die überdies immer wieder Aktivitäten für politische und juristische Fortschritte anstoßen. In den Medien kursieren diverse Bilder von Hetero- und Homosexualität, zudem werden Themen wie Transgender und Intersexualität medial und rechtlich sichtbarer – eine Entwicklung, die ein breiteres Spektrum von Geschlechteridentitäten und Begehrensweisen zur Identifizierung anbietet. Im Bereich der Erwerbsarbeit werden »weibliche« Fähigkeiten der Kommunikation und Kooperation aufgrund der zunehmend vernetzten Arbeitswelt immer gefragter. Auch eröffnen flexible Arbeitszeitmodelle und Telearbeit zumindest die Möglichkeit, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Zudem existieren heute vielfältige Familienformen und erweiterte Spielräume für die Gestaltung eines durch Kooperation und Empathie getragenen Familienalltags (vgl. Naumann 2010, S. 93). Nicht zuletzt weiten sich Potenziale einer »Verhandlungsmoral« in sexuellen Beziehungen, die wechselseitige Lust fördern und Destruktivität eindämmen können (Schmidt 2014, S. 8). Insgesamt ist, mit Volkmar Sigusch gesprochen, für die letzten Jahre bis heute eine »neosexuelle Revolution« zu konstatieren, die sich zunächst durch die Vervielfältigung von Geschlechtern, Begehrens- und Lebensformen kennzeichnen lässt (Sigusch 2014, S. 34ff.). Sigusch macht allerdings auch deutlich, dass der nicht zu leugnende Autonomiezuwachs und die neuen Freiheiten auch mit neuen Zwängen einhergehen (ebd., S. 28). In Zeiten eines globalisierten Neoliberalismus, der ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit immer weiter kassiert, können den Menschen durchaus größere geschlechtliche und sexuelle Freiheiten zugestanden werden (ebd.). Mehr noch: Die Rede von sexuellen und geschlechtlichen Freiheiten ist geradezu gesellschaftlich funktional, weil sich dadurch ein weites kulturindustrielles Feld für die Kommodifizierung von Sexualität, Geschlecht und Körper öffnet und obendrein die neoliberalistischen Tendenzen zur technischen Machbarkeit, Flexibilisierung 235

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

und Selbstoptimierung bis in sexuelle Regungen und Körperverhältnisse hineinreichen (ebd., S. 37; Schmidt 2014, S. 31). Für die einzelnen Subjekte sind die Konflikte rund um Sexualität und Geschlecht damit nicht gelöst (Heenen-Wolff 2015, S.  587). So wird etwa mit einer selbstoptimierten, technisierten Sexualität zwar die Angst vor dem Rauschhaften der Sexualität, auch der Nähe und Abhängigkeit, kontraphobisch durch einen neuerlichen Leistungsbeweis abgewehrt, die Angst vor Beziehungslosigkeit und die Sehnsucht nach Verbundenheit bleiben aber virulent (vgl. Böllinger 2015, S. 612/615). Auf widersprüchliche Weise scheint hier die Heteronormativität eine hegemoniale und dadurch verfügbare Form der Verbundenheit anzubieten, auf die im Zweifelsfall zurückgegriffen wird. Insgesamt muss darauf hingewiesen werden, dass die Gestalten der neosexuellen Revolution zwar eine gewisse öffentliche Wirksamkeit entfaltet haben, letztlich aber gesellschaftlich marginal geblieben sind (ebd., S. 607). Hegemonial ist noch immer die heterosexuelle Matrix mit der institutionalisierten Heterosexualität, der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit und hegemonialen Männlichkeit (ebd., S. 626). Nur sind in diese hegemonialen Tendenzen zunehmend Brüche, Ungleichzeitigkeiten und gegenhegemoniale Bewegungen eingewoben. Im Hinblick auf neue Freiheiten und Vielfalt gibt es sicherlich eine wachsende Zahl von Menschen, die eine flexiblere geschlechtliche Identität und auch eine als befriedigend erlebte Sexualität entwickeln, wie etwa in der Verhandlungsmoral, gleich ob in homo- oder heterosexuellen Beziehungen. Daneben besteht die Gefahr, wie oben bereits bemerkt, dass die Rede von Freiheit und Selbstoptimierung auf der subjektiven Ebene eine einsame Beziehungslosigkeit erzeugt und auf der gesellschaftlichen Ebene als erzwungene Freiheit imponiert, die die Menschen letztlich auf ihre Funktion als flexible und entgrenzte Arbeitskraftunternehmer*innen einschwört. Politisch existieren einerseits emanzipatorisch intendierte, widerspenstige und widerständige Bewegungen, die sich für die Rechte von Schwulen und Lesben, Männern, Frauen sowie transidenten und intersexuellen Menschen einsetzen, sowie institutionalisierte Praktiken wie das Gendermainstreaming, die auf größere Geschlechtergerechtigkeit zielen. Andererseits scheinen gerade diese Entwicklungen angesichts der Veränderungen in der heteronormativen Hegemonie auch Verunsicherungen und Ängste auszulösen, die dann cis-sexistische und antifeministische Reflexe nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass die heterosexuelle Matrix zwar im Wandel begriffen ist, 236

5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

aber trotz der gewachsenen Spielräume für offenere geschlechtliche und sexuelle Identifizierungen weiterhin ökonomisch, symbolisch und psychosozial wirksam bleibt (vgl. Naumann 2010, S. 94). Was daraus für die kindliche Entwicklung folgt, wird im nun folgenden Abschnitt erörtert.

5.3

Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

5.3.1 Von Familien und Eltern

Eine wesentliche Bedingung für mehr oder weniger gelingende Entwicklungsprozesse ist zweifellos die Familie. Doch das In- und Gegeneinander von Heteronormativität einerseits und von gewachsenen Spielräumen und emanzipatorischen Ansprüchen andererseits stellt auch Eltern vor neue Herausforderungen. Eltern müssen sich heute nicht nur mit der Flexibilisierung mitunter prekärer Erwerbsarbeit, mit wachsender sozialer Ungleichheit und interkulturellen oder auch rassistischen Verhältnissen befassen, sondern eben auch mit Geschlechterverhältnissen und Begehrensformen, deren heteronormative Selbstverständlichkeit zumindest in Bewegung zu kommen scheint, wodurch wiederum Verunsicherung ebenso wie Spielräume wachsen können.7 In diesem Kontext begegnen wir EinEltern-Familien, die in soziale Isolation geraten, und solchen, die förderliche Netzwerke knüpfen (vgl. Rauchfleisch 2006, S.  93). Wir können Patchworkfamilien beobachten, deren Subfamilien feindschaftlich gespalten sind, und andere, die empathisch zugewandt kooperieren (vgl. Bliersbach 2007, S. 63/156). Wir können überdies Wohngemeinschaften mit Kindern kennenlernen, in denen infolge eines steten Bezugspersonenwechsels für Kinder kaum Halt zu finden ist, während andere von der Vielfalt stabiler Beziehungen zu Erwachsenen profitieren. Präsenter werden auch LGBTIQ-Familien, also Regenbogenfamilien, die unter Diskriminierung, Vorurteilen oder gar Gewalt leiden, die sich häufig aber durch besondere Reflexions- und Vernetzungsfähigkeiten sowie eine egalitäre Arbeitsteilung auszeichnen (vgl. Jansen/Steffens 2006; Rauchfleisch 2006, S.  84f./95). 7 Aus machtkritischer Perspektive scheinen das Geschlechts- und Sexualitätsdispositiv zunehmend und auf ambivalente Weise mit einem Flexibilitätsdispositiv verwoben zu sein. Was dies für familiale Lebenswelten und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern bedeutet, ist meines Wissens kaum erforscht und wäre eine eigene Untersuchung wert.

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

Selbstverständlich begegnen wir auch klassischen Familien, bestehend aus einem Elternpaar und Kind oder Kindern, in denen die Kinder hochbelastet sind, und solchen, in denen die Kinder wunderbare Entwicklungsmöglichkeiten haben (vgl. Naumann 2011, S. 100ff.). Und quer zur Logik der Familienformen gibt es sicherlich Eltern, ob hetero- oder homosexuell, die auf der Ebene der Paarbeziehung unter dem Abebben oder der Aggressivierung von Sexualität leiden, und solchen, die ihre Sexualität etwa im Sinne der Verhandlungsmoral genießen. Diese Ambivalenzen zeigen sich auch bei einer differenzierten Betrachtung von Müttern und Vätern in der heterosexuellen Matrix. Während im traditionellen Familienmodell zumeist der Mutter die Haus- und Erziehungsarbeit zufällt, lassen sich heute viele Mütter nicht länger auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau einengen, sondern erheben Ansprüche auf selbstverständliche Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen. Darin aber ist zugleich ein zentraler Konflikt eingeschrieben, und zwar zwischen dem Ideal selbstloser Mütterlichkeit und der Individualisierungsnorm, deren Erfüllung durch eigene Berufstätigkeit und materielle Unabhängigkeit erst soziale Anerkennung verschafft. Wenn die Mütter auf Beruf und Karriere verzichten, besteht die Gefahr, dass sie ihre Mutterrolle schamhaft idealisieren oder ihrem Partner neidisch wegen seiner Unabhängigkeit grollen (vgl. Figdor 2006, S.  144). Wenn sie hingegen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, nehmen sie nicht nur die Doppelbelastung von Familie und Beruf auf sich, sondern auch potenzielle Schuldgefühle den Kindern gegenüber. Den Zwischenweg des Berufsausstiegs bei Geburt eines Kindes und späteren Wiedereinstiegs gehen zwei Drittel der Mütter. Sie verzichten dabei auf berufliche Chancen und mögliche anspruchsvollere Tätigkeiten, um für ihre Kinder zu sorgen (vgl. Friebertshäuser et al. 2007, S. 190), und vielleicht auch, um irgendwie eine Balance von Scham- und Schuldgefühlen zu bewerkstelligen. Nachdem aber Mütter seit Jahren mit diesem konflikthaften Balanceakt zu tun haben, präsent in lebensweltlichen, medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen, gelingt es ihnen wohl leichter, ihre eigenen Bemutterungserfahrungen zu integrieren sowie einen selbstbestimmten Weg der Mütterlichkeit und einen kreativen Lebensentwurf zu verwirklichen (vgl. Benjamin 1990, S. 204; Naumann 2011, S. 102). Väter hingegen reagieren auf veränderte Erwartungen, etwa der Beteiligung an Haus- und Erziehungsarbeit, schneller verunsichert und mit rigider Abwehr. Dies liegt sicherlich auch daran, dass sie mehr materielle, so238

5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

ziale und psychische Gratifikationen zu verlieren haben. Bei einigen Vätern kommt hinzu, dass sie bei und nach der Geburt in Gestalt des Kindes und der gebärenden, stillenden und sorgenden Mutter mit einer Nähe, Sinnlichkeit und Abhängigkeit begegnen, die sie mit ihrer männlichen Identität gerade zu verleugnen versuchen. So geraten manche Väter in überwältigende Regression, konkurrieren gleichsam mit dem Baby um mütterliche Zuwendung. Viele aber reagieren eher mit der Flucht in eine überbetonte Männlichkeit und den Beruf und treten dann bestenfalls als Freizeit-Väter in Erscheinung, wenn das Kind nicht mehr gar so abhängig und klein ist (vgl. Metzger 2009, S. 45f.). Die Hinwendung zur Ernährerrolle hat sicherlich auch ökonomische Gründe, weil Männer noch immer ein durchschnittlich höheres Einkommen haben, doch mitunter wird dadurch auch die Angst vor überflutender Regression, vor dem Wunsch auch gehalten und versorgt zu werden, vor dem Kind (und vor der Mutter) »ökonomisch maskiert. Das Kind wird auf den Kostenfaktor reduziert« (Dammasch/ Metzger 2006, S.  9). Die Ernährerrolle ist auch heute noch bei vielen Vätern emotional besetzt und zudem sozial anerkannt, gleichzeitig aber müssen sich die Väter mit den erziehungswissenschaftlich, politisch und medial lauter werdenden Rufen nach größerer Beteiligung auseinandersetzen. Auch für Väter besteht hier die Chance, entweder auf gute Vatererfahrungen zurückzugreifen oder sich vom verinnerlichten und von Versagungen gespeisten Vaterbild zu emanzipieren, um eine selbstbestimmte väterliche Identität zu entwickeln (Naumann 2011, S. 103). Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass sich die heteronormative Hegemonie samt der gegenhegemonialen Tendenzen auf widersprüchliche und vielfältige Weise in Familienpraxis übersetzen kann. Wenn Müttern im Sinne einer traditionellen Arbeitsteilung allein die Haus- und Erziehungsarbeit aufgebürdet wird, geraten sie zur einzigen, jedenfalls wesentlichen Bezugsperson der Kinder, hier finden die Kinder Geborgenheit und Unterstützung, möglicherweise aber auch eine überlastete, alleingelassene und mit den Kindern verstrickte Mutter (vgl. Bürgisser/Baumgarten 2006, S. 47). Wenn Mütter obendrein einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen, geraten sie alltagspraktisch schnell unter Dauerdruck und finden dann weder Zeit zur Regeneration und Entspannung noch zum freudvollen Zusammensein mit den Kindern (vgl. Beck-Gernsheim 2000, S. 91). Bei den Vätern in einer solchen strikten Arbeitsteilung besteht die Gefahr, dass sie weder den Müttern noch den Kindern genügend gut zur Verfügung stehen. Wenn Väter physisch und/oder psychisch abwesend sind, entlasten sie die 239

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

Mütter nicht bei der Haus- und Erziehungsarbeit und sie tragen kaum, oder nur sehr abstrakt, zu einem förderlichen Beziehungsdreieck zwischen Mutter, Vater und Kind bei.8 Demgegenüber gelingt es einer Minderheit von immer mehr Müttern und Vätern, die alltägliche Haus- und Erziehungsarbeit soweit als möglich egalitär zu teilen sowie eine je eigene Beziehung zum Kind aufzubauen und ein triadisches Beziehungsnetz zwischen Eltern und Kind zu knüpfen. Das Kind erlebt so einen triangulierten Raum mit einer Mutter, die nicht in 8 Interessant ist hier die Studie Neue Väter – andere Kinder? Vaterschaft, familiale Triade und Sozialisation, die von Andrea Bambey und Hans-Walter Gumbinger am Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführt wurde (Bambey/Gumbinger 2006). Fünf von sechs ermittelten Vatertypen lassen sich im weitesten Sinne dem traditionellen Vaterentwurf zuordnen. Sie verdeutlichen die Wirkmacht traditioneller Vaterschaft ebenso wie ihre Verunsicherung angesichts des Wandels der Geschlechterverhältnisse. Dem traditionellen, partnerschaftlichen Vater gelingt eine befriedigende Integration von Männlichkeit und Elternschaft. Die Vaterschaft führt zu einer grundlegenden Veränderung der Identität, zu einer starken Orientierung am Wohl des Kindes. Er ist in der Erziehung engagiert, geduldig mit dem Kind und von der Partnerin hochgeschätzt. An klassischen Vorstellungen der Arbeitsteilung und der Erziehung hält er allerdings fest (ebd., S. 30). Traditionelle, partnerschaftliche Väter bilden mit 6 % die kleinste Gruppe der ermittelten Vatertypen (ebd., S. 27). Fast dreimal größer (17,8 %) ist die Gruppe der traditionellen, distanzierten Väter. Dieser Typ sieht seine Aufgabe in erster Linie darin, für den Unterhalt zu sorgen, während er die Betreuung der Kinder, insbesondere die emotionale Zuwendung als Hoheitsgebiet der Mutter betrachtet (ebd., S. 27/30). Der unsichere, gereizte Vater (12,8 %) scheint im Widerspruch zwischen traditioneller Orientierung und den Anforderungen einer neuen, fürsorglichen Vaterschaft handlungsunfähig, er ist in seiner väterlichen Rolle stark verunsichert. Den Kindern begegnet er höchst ungeduldig und gereizt (ebd.). Der randständige Vater (10,2 %) fühlt sich in der Dreierbeziehung zwischen Mutter, Kind und Vater an den Rand gedrängt, als wolle die Partnerin ihn aus der Beziehung zum Kind ausschließen. Offenbar leidet der randständige Vater trotzig darunter, dass er seine Partnerin als starke Frau wahrnimmt, die ihm seine traditionellen Lebensentwürfe zu zerstören droht (ebd., S. 28). Der fassadenhafte Vatertyp schließlich ist symptomatisch für die Veränderung von Vaterschaft (24,7 %). An der Oberfläche beschreibt er sich als engagierten, den Kindern zugewandten und von der Partnerin hoch geschätzten Vater. In der Praxis hingegen folgt er eher einem traditionellen Rollenmodell, nimmt emotional recht wenig Anteil am Leben der Kinder, verfolgt seine eigenen Interessen und gibt sich bestenfalls als »Freund der Kinder«. Die Partnerin stabilisiert dieses Arrangement, indem sie dem Vater nur begrenzte Erziehungsaufgaben zumutet und ihn im Alltag wohlwollend unterstützt. Das Vaterbild des fassadenhaften Vaters ist demnach eine sehr kognitive Konstruktion, auf affektiver Ebene bleibt es eher flach (ebd., S. 27f.). Der sechste Typ, der egalitäre Vater ist immerhin mit 28,5 % vertreten (ebd., S. 27) – von ihm wird noch die Rede sein.

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5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

der Erziehungsarbeit allein aufgeht, und einem Vater, der sich auch durch Fürsorge und Empathie auszeichnet (Flaake 2013, S. 127). Auf diese Weise kann es schließlich auch den Kindern besser gelingen, »weibliche« und »männliche« Anteile zu integrieren (ebd.).9 Dass dies förderlich für die kindliche Entwicklung ist, bestätigt auch die Resilienzforschung. Einerseits stammen resiliente Kinder meist aus Familien, in denen weibliche Bezugspersonen auch Unabhängigkeit erlebbar machen können, und/oder aus Familien, in denen männliche Bezugspersonen auch Gefühle der Nähe und Abhängigkeit nicht abwehren müssen (vgl. Plass 2005, S. 5). Andererseits zeigen resiliente Kinder ein deutlich geringeres geschlechterklischeehaftes Verhalten, sodass Resilienz offenbar besonders dann gedeiht, wenn Mädchen Selbstbestimmung und Exploration, Jungen Emotionalität und Empathie genügend gut integrieren können (vgl. Eggers 2014, S. 40). 5.3.2 Eltern-Kind-Beziehung, Geschlecht und Sexualität in der kindlichen Entwicklung

Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist der Blick auf das Kind von zumindest zwei elterlichen Erlebensweisen durchwirkt. Erstens begegnen die Eltern nicht nur dem realen Kind, sondern auch dem Kind, das sie selbst waren oder gerne gewesen wären. Zweitens spielt das lebensgeschichtliche Gewordensein der Eltern sowie die Situation im Hier und Jetzt der Familie eine Rolle. Daraus folgt, dass Geschlecht und Sexualität eines Kindes schon zu Beginn des Lebens auch durch die primären Bezugspersonen, 9 Dies scheint auch in Regenbogenfamilien besonders gut zu gelingen. Viele Eltern in Regenbogenfamilien bemühen sich sehr bewusst nicht nur um soziale Netze, sondern auch um eine egalitäre Arbeitsteilung und gegengeschlechtliche Bezugspersonen für ihre Kinder, gegebenenfalls um den Kontakt zum Ex-Partner (Jansen/Steffens 2006, S. 649; Rauchfleisch 2006, S. 95). Bei den Kindern entsteht keine Identitätskonfusion, in ihren emotionalen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten unterscheiden sie sich nicht von Kindern in anderen Familien (Heenen-Wolff 2015, S. 598). Allerdings zeigt sich, dass sie aufgrund eines reflexiven Familienklimas häufig über ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl sowie Spiel- und Denkräume verfügen, die es ihnen erleichtern, Empathie gegenüber Anderen und Kritik von Ungerechtigkeit in ihre Identität zu integrieren (vgl. Rauchfleisch 2006, S. 90f.; Rupp/ Bergold 2009, S. 308; Bergold/Buschner 2017). Offenbar ist es nicht die formale Anwesenheit von »Mutter« und »Vater«, sondern die elterliche Fähigkeit zur Triangulierung, Fürsorge und Gabe von Zeit, die die kindliche Entwicklung fördert (vgl. Flaake 2013, S. 128).

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meist die Eltern, geprägt werden, »indem sie es mit bestimmten bewussten und unbewussten Aufgaben und Erwartungen ausstatten« – das Kind fungiert als Container für die Träume und Traumen seiner Bezugspersonen (Quindeau 2014, S. 97). Zwar wird es mit einem biologischen Geschlecht geboren, doch entsteht der geschlechtliche und sexuelle Körper durch den Blick, die Sprache und die Handlungen der Erwachsenen, die das Kind auf seine Weise übersetzt (Heenen-Wolff 2015, S. 592). Es sind die konkreten Erfahrungen von Unlust, Lust und Befriedigung, die den erregbaren Körper und die Wünsche des Kindes nach Angstfreiheit und Befriedigung erzeugen, gebunden an grundlegende Körperprozesse und Körpererfahrungen (Böllinger 2015, S. 624). In den ersten Lebensmonaten kann das Kind nur durch seine unmittelbaren Handlungen, durch sein Weinen, Schreien und körperliche Aktivität auf seine Bedürfnisse hinweisen. Es ist darauf angewiesen, dass seine primären Bezugspersonen bei der Regulierung der primären Affekte wie Angst, Wut, Freude, Ekel und Trauer maßgeblich helfen (vgl. Krause 1998, S. 28ff.). In unzähligen leibnahen Interaktionen tragen die Bezugspersonen mit ihrem Spiegeln und Sprechen, mit ihrer Pflege, ihrem Halten oder auch ihrer Grobheit mehr oder minder gelingend zur Affektregulierung und zur Ausbildung der kindlichen leibsymbolischen Interaktionsformen bei. Bereits in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres treten dann sinnlichsymbolische Interaktionsformen hinzu, die das Kind aus den vorgängigen Handlungen der Eltern verinnerlicht hat. Mit diesen kann das Kind durch sein Zeigen, Kopfschütteln, Lachen, durch Laute oder ein Übergangsobjekt aktiver als zuvor auf seine Bedürfnisse und Interessen hinweisen sowie zur Affektregulierung beitragen (Lorenzer 1988, S. 161f.). Im Laufe des zweiten Lebensjahrs kommt es dann zur Spracheinführung, zur Entwicklung von sprachsymbolischen Interaktionsformen, indem sich die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen partiell mit Sprache verkoppeln (ebd., S. 91). Auf diese Weise gewinnt das Kind zunehmend die Fähigkeit, seine Bedürfnisse zu versprachlichen sowie Probehandlungen innerlich durchzuspielen, zugleich steht es vor der Herausforderung, die mit der sozialen Dimension der Sprache aufkeimenden strukturellen Affekte wie Scham, Schuld, Stolz und Neid zu regulieren (vgl. Mittelsten Scheid 2012, S. 167). Bei all dem sind es die ebenso konkreten wie lebensgeschichtlich beschränkten, bewussten und unbewussten, geschlechtlich und sexuell durchwirkten Berührungen, Gesten, Mimiken, Blicke und Worte der Erwachsenen, die das Kind eigenlogisch verinnerlicht und daraus Repräsentanzen von Selbst und 242

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Objekt, von Geschlechtern, Lust und Unlust entwickelt. Dieser Prozess der Erzeugung von Sexualität und Geschlecht durch das elterliche Handeln ist insofern widersprüchlich als das Kind in der Interaktionspraxis eigene Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit gewinnt. Zugleich ist dieser Prozess strukturell rätselhaft, weil die narzisstische und libidinöse Besetzung des Kindes durch die Eltern von unbewussten Gegenbesetzungen, also lebensgeschichtlich Verworfenem begleitet wird, und weil das Kind sowohl die manifesten als auch die verschlüsselten Botschaften seiner Bezugspersonen aufnimmt und zu eigenen bewussten und unbewussten Interaktionsformen umarbeitet (vgl. Heenen-Wolff 2015, S. 596f.). In der heterosexuellen Matrix sind nun zwei Geschlechter vorgesehen, die wiederum durch eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung mehr oder minder familiennah platziert sind. Zugespitzt formuliert fehlen den Kindern die Väter, die sich bestenfalls hin und wieder mit explorativen Spielen den Kindern zuwenden. Die Mütter hingegen sind dann vor allem in den ersten Lebensmonaten rund um die Uhr zuständig, sie sind es, die wickeln, füttern, berühren, beruhigen, in den Schlaf wiegen, spielen, trösten und Wut regulieren, sodass mit Nancy Chodorow von einer matrisexuellen Phase gesprochen werden kann (Poluda 2007, S. 44). Darin erlebt der Säugling beim Saugen, Gehalten-, Gestreichelt- oder Getröstetwerden eben die mütterliche Bezugsperson, ihre Fantasien, ihren Körper oder auch ihre Ungeduld, ihre Trauer, ihre Angst und ihren Ärger. Darüber hinaus führt die Wahrnehmung der Kinder als Mädchen und Jungen tendenziell zu zweigeschlechtlich unterschiedenen Umgangsweisen und Entwicklungen. So ist das Verhältnis von Bindung und Exploration bei Mädchen eher zur Seite der Bindung hin verlagert, und im Hinblick auf die frühe Affektregulierung wird ihnen die Integration von Angst, aber weniger von Wut erleichtert, während Jungen größere Explorationsräume zugestanden werden, ihre Wut geduldet, ihre Angst jedoch eher verpönt ist (vgl. Bilden 1998, S. 284ff.; Quindeau 2014, S. 86). Auch erleben Kinder ihre Eltern in einer traditionellen Arbeitsteilung schon vorsprachlich als Mütter und Väter. Wenn etwa der Vater eines achtmonatigen Kindes sich gerade verabschiedet hat, um zur Arbeit zu fahren, wenn das Kind zur Bewältigung des Abschieds auf dem Arm der Mutter ein Spiel entwickelt, in dem es mit dem Vater »telefoniert«, und wenn dies eine alltagstypische Szene darstellt, dann gerät Weiblichkeit zum Symbol der Nähe und Abhängigkeit, während Männlichkeit zum Symbol der Abwesenheit und Unabhängigkeit avanciert (vgl. Datler et al. 2002, S. 132f.). Insgesamt ist also bereits die vorsprachliche 243

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

Entwicklung, das Körpergedächtnis, das prozedural Unbewusste sowie das sinnlich-symbolisch Darstellbare heteronormativ durchwirkt. In der prägenitalen Phase des zweiten und dritten Lebensjahrs entsteht dann eine erste Geschlechtsidentität. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Verkopplung von polymorph-perverser Sexualität und Autonomie-Abhängigkeits-Konflikten. Diese Konflikte entstehen, wenn das Kind nach dem narzisstisch-rauschhaften Erleben in der Übungsphase in die Wiederannäherungsphase gerät, also seiner existenziellen Abhängigkeit von den primären Bezugspersonen gewahr wird und versucht, diese trotzig zu leugnen und seine Autonomie zu behaupten (Mahler et al. 1999, S. 102). Befördert wird diese Dynamik durch die Koinzidenz von Spracheinführung und Wiederannäherungsphase, denn zur Lösung des Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts steht dem Kind nun zunehmend die Sprache zur Verfügung. So kann es das oft genug von den Bezugspersonen erfahrene »Nein« nun gegen sie einsetzen. Darüber hinaus ist das Kind ebenso in der Lage wie gezwungen, die heteronormative Sprache zur Konfliktlösung zu verwenden (vgl. Rohde-Dachser 1992, S. 225). So beginnt es, sich als Junge oder Mädchen zu bezeichnen und die Eltern als Vater und Mutter. Doch zugleich wird Weiblichkeit in Gestalt der anwesenden Mutter auch sprachsymbolisch mit Nähe und Abhängigkeit verknüpft, während Männlichkeit über den scheinbar aus freien Stücken gehenden und wiederkehrenden Vater zur Repräsentanz jener Autonomie wird, um die das Kind selbst ringt. In diesem Kontext beginnen Mädchen mit der zunehmenden weiblichen Identifizierung die Betonung von Bindung und die tendenzielle Preisgabe möglicher Autonomie zu entwickeln. Umgekehrt betont die sich anbahnende männliche Identifizierung beim Jungen den Aspekt der Autonomie und rückt Bindungswünsche in den Hintergrund (vgl. Benjamin 1990, S. 165). Im Rahmen dieser Arbeitsteilung ist auch der Raum für die frühe Triangulierung eingeengt. Positiv formuliert könnte das Kind durch die alltägliche Verfügbarkeit von (mindestens) zwei zugewandten, miteinander verbundenen und doch unterschiedlichen elterlichen Bezugspersonen auch heftige Affekte wie Wut und Angst besser bewältigen. Es muss dann weder befürchten, die Liebe eines Elternteils zu verlieren, wenn es wütend ist, noch muss es die Begegnung mit Neuem und Fremdem als allzu große Bedrohung wahrnehmen. Denn einerseits erlebt das Kind eine selbstverständliche Geborgenheit, die nicht verschlingend wirkt, und andererseits verfügt es durch die Erfahrungen mit einer*einem Dritten über die Gewissheit, dass Neues und Anderes mit attraktiven Herausforderungen verknüpft sein 244

5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

kann (Naumann 2011, S. 106). Wenn all dies aber kaum verfügbar ist oder gar fehlt, ist es für Kinder ungleich schwerer, »weibliche« und »männliche« Anteile zu integrieren, weil sie dann entweder ganz ähnlich oder ganz anders sein müssen als die anwesende mütterliche Bezugsperson. Begleitet sind die Autonomie-Abhängigkeitskonflikte in der prägenitalen Phase von einer infantilen Sexualität, die polymorph-pervers angelegt ist, also vielfältig, alle Sinne einschließend, aktiv wie passiv, ohne konkretes Ziel, außer Lust zu erzeugen (vgl. Heenen-Wolff 2015, S. 596). Das Kind spielt autoerotisch Fantasien durch, die auch aus den Interaktionserfahrungen mit den elterlichen Bezugspersonen samt deren Besetzungen und Gegenbesetzungen stammen (Poluda 2007, S. 44). Neben und mit der Funktion, Lust zu erzeugen, ist hier der Aspekt der Autonomie mitentscheidend. Deshalb ist es höchst bedeutsam für die kindliche Entwicklung, auf welche Weise Eltern die autoerotische Betätigung des Kindes zulassen und schützen, ignorieren oder sanktionieren.10 Dies betrifft nicht nur die klassische anale Thematik, wenn Kinder also bei der Zurückhaltung oder Freigabe ihres Stuhls Lust, Autonomie und Stolz erleben oder eher mit Ekel, Scham und Zwang konfrontiert sind. Auch weitere autoerotische Felder sind hier, mehr oder minder heteronormativ geleitet, von Bedeutung. So kommt etwa bei der Masturbation von Mädchen »sehr viel häufiger der Verdacht einer ungesunden Entwicklung auf und wird eher der Kinderarzt konsultiert« (Philipps 2005, S. 3). Die geschlechtliche und sexuelle Entwicklung in der prägenitalen Phase ist insgesamt eingelagert in weitere, nicht explizit geschlechtlich oder sexuell codierte Bereiche, wie etwa Geborgenheitswünsche und Autonomiebestrebungen, und sie ist von mehr oder minder ausgeprägter Empathie und Anerkennung durch die elterlichen Bezugspersonen begleitet (vgl. Schmidt 2014, S. 68f.). Das Spezifische dieser Phase ist, dass zunächst noch ein recht spielerischer Umgang mit Geschlechtsidentitäten vorherrscht. Selbst wenn 10 Diese polymorphen Fantasien spielen lebenslang eine bedeutende Rolle. Susann Heenen-Wolff schreibt: »Und es ist ja eben diese infantile polymorphe, offene Sexualität, die die Sexualität des Menschen erst humanisiert. Anders als beim instinktbestimmten Tier gründet sie auf Phantasien, die im Kindesalter im Austausch mit den Erwachsenen entstehen. Diese nicht gebundene ›Parasexualität‹ ist Grundlage und Voraussetzung von gebundener (narzisstischer und/oder objektbezogener) Sexualität des Erwachsenen; die ›genital‹ genannte Sexualität ist dementsprechend ebenfalls von Phantasien bestimmt […], und die ›sogenannten Partialtriebe und die entsprechenden prägenitalen Erlebnismodalitäten‹ bleiben erhalten« (Heenen-Wolff 2015, S. 592).

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

die Kinder mit etwa drei Jahren über emotionale Objekt- und somit auch Geschlechtskonstanz verfügen, bleiben sie gleich- und gegengeschlechtlich identifiziert und tragen bisexuelle Omnipotenzfantasien sowie die Vorstellung in sich, alles sein zu können, Junge wie Mädchen oder etwas von beidem (vgl. Rohrmann 2008, S. 64; Quindeau 2014, S. 54). Erst in der ödipalen Phase im Alter von etwa vier oder fünf Jahren kommt es zu einer Verhärtung der Geschlechtsidentität. Die Kinder nehmen nun die elterliche Beziehung als (reale oder imaginierte) sexualisierte Beziehung wahr, aus der sie ausgeschlossen sind, zugleich richtet sich die erogene Aufmerksamkeit der Kinder gezielter als zuvor auf die eigenen Genitalien. Um den Ausschluss ungeschehen zu machen, zielt die kindliche Objektwahl in der heterosexuellen Matrix besonders auf den gegengeschlechtlichen Elternteil, während zum gleichgeschlechtlichen Elternteil ein rivalisierendes Verhältnis aus dem Impuls heraus entsteht, an dessen Stelle zu treten. Doch damit keimen heftige und kaum zu bewältigende Affekte auf: Wut, Angst vor Strafe und Liebesverlust, Eifersucht, Schamund Schuldgefühle. Zur Regulierung dieser affektiven Turbulenzen dient dann die vereindeutigte Identifizierung des Jungen mit dem Vater und des Mädchens mit der Mutter – in der Erwartung, zukünftig einen vateroder mutterähnlichen Lebensentwurf verwirklichen zu können. Diese, mit Freud gesprochen, »positive« Seite der ödipalen Dynamik hat unweigerlich auch eine »negative« Seite, nämlich die gegengeschlechtliche Identifizierung und gleichgeschlechtliche Objektwahl, beide können prinzipiell in zahlreichen Mischformen auftreten (Heenen-Wolff 2015, S. 594).11 Heteronormativ müssen die gegengeschlechtliche Identifizierung und die gleichgeschlechtliche Objektwahl aber weitgehend aufgegeben werden, ohne freilich zu verschwinden. Innerpsychisch tritt dann an die Stelle der aufgegebenen Liebesbeziehung das Über-Ich, und zugleich bleibt diese Beziehung als Introjekt psychisch wirksam – die Verwerfung der gleichgeschlechtlichen Objektwahl und der gegengeschlechtlichen Identifizierung unterlegen die Geschlechtsidentität erstmals mit der besagten Melancholie, mit der verleugneten Trauer darüber, was in der heteronormativ erzeugten Geschlechtsidentität verworfen werden musste (Quindeau 2014, S. 54; Butler 2001, S. 127). Solche »Vereinseitigungen sind dann auf gesellschaft11 Ilka Quindeau schlägt vor, statt »von ›positivem‹ und ›negativem‹ Ödipuskomplex«, »lieber von einer gleich- und gegengeschlechtlichen Ausprägung« zu sprechen (Quindeau 2014, S. 86).

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5.3 Kindliche Entwicklung in der heterosexuellen Matrix

liche Tabus zurückzuführen, die erlebte Geschlechtsidentität dient der Abwehr von Ängsten vor Nichtzugehörigkeit« (Böllinger 2015, S. 618). Zweifellos sind die Kinder in der ödipalen Phase mit wegweisenden Entwicklungsthemen befasst. Sie müssen die Begrenztheit ihres Geschlechts und die Generationendifferenz anerkennen lernen (Quindeau 2014, S. 60), und erst so können sie sich mit ihrem Kleinsein versöhnen und zugleich eine Perspektive für ihren eigenen Weg gewinnen: »Die wesentlichen Momente dabei sind die Verzeitlichung, die Ausrichtung des Begehrens und der Entwurf des Ichs auf die Zukunft hin« (Perner 2010, S. 217). Darüber hinaus führt die ödipale Dynamik zu einem »Leben im Dreieck«, zu einer erweiterten Triangulierung durch die Akzeptanz der (realen oder imaginierten) Verbindung der Eltern, die dem Kind die Verortung in sozialen Netzwerken erlaubt, »zunächst innerhalb der Familie, dann darüber hinaus in gesellschaftlichen Zusammenhängen« (Quindeau 2015, S. 86). Während die psychische Strukturbildung somit ein dezentrisches Geschehen ist, das den Kindern soziale Räume und Zukunft öffnet, verläuft die sexuelle und geschlechtliche Identitätsbildung rezentrisch, als Konstruktion einer eigenen Identität (ebd.). Diese Struktur- und Identitätsbildung muss weder entwicklungslogisch noch gesellschaftlich heteronormativ sein (ebd.), sie kann nicht nur individuell unterschiedlich, sondern gerade heute auch höchst widersprüchlich ausfallen. Mitunter existiert ein unverbundenes Nebeneinander von starrer heteronormativer Identifizierung, von leidvollen Gefühlen des Mangels und Neids in der Geschlechterdichotomie sowie von spielerischem Überqueren der Geschlechtergrenzen und dem Wunsch nach Mehrdeutigkeit (vgl. Hoeltje 2006, S. 177f.; Schmauch 2008, S. 77f.). Diese potenzielle Genderfluidität kommt auch in folgendem Beispiel von Sarah Meyer zum Ausdruck: »So meinte ein Junge, der einen Malkittel trug, der ihn an ein Kleid erinnerte, zunächst, dass er im Rollenspiel nicht die Vaterrolle übernehmen könne. Dann fand er die Lösung, dass junge Väter auch Kleider tragen könnten« (Schaich 2020, S. 31). Wenn freilich eine starre heteronormative Identifizierung überwiegt, können aus den unbewussten Verwerfungen ernste psychosoziale Probleme folgen. So kann etwa die oben angesprochene Fähigkeit zur Triangulierung geschlechtlich eingeschränkt sein. Denn »die Triade schafft ein Ungleichgewicht und damit einen Entwicklungsanreiz, der Gewohntes und Bekanntes infrage stellt, während die Dyade mit der Vorstellung von Übereinstimmung und Harmonie verbunden ist« (Metzger 2009, S. 38). Fehlt allerdings der 247

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

»dreidimensionale Beziehungsraum«, weil schon den Eltern »der innerlich repräsentierte und anerkannte Dritte fehlt«, vermag auch das Kind keine triangulierenden Erfahrungen zu verinnerlichen, seine Fantasie und Symbolbildung bleibt auf das geschlechtlich Übereinstimmende reduziert (Ahlheim 2009, S. 23). In der heterosexuellen Matrix kann es somit zu einer dyadischen Verklebung mit dem weiblichen oder männlichen Geschlechterpol kommen. Das je andere Geschlecht muss klischeehaft verfremdet werden, weder kann dessen potenziell attraktives Anderssein anerkannt noch Eigenes darin wiedererkannt werden. Für Jungen folgt daraus häufig eine zwanghafte Überbetonung von Autonomie, das stille Leiden an der Unterordnung abweichender Bedürfnisse unter die Erfordernisse männlicher Dominanz sowie im Falle unbewältigter Konflikte die Abwehr bedrohlicher Affekte durch äußere Aktivitäten wie Unruhe oder Aggressivität. Mädchen hingegen neigen eher zur Überbetonung des Bindungsaspekts, haben größere Schwierigkeiten, ihre Autonomie zu behaupten, und richten ihre Abwehr schmerzhafter Affekte tendenziell eher auf das eigene Selbst und den Körper (vgl. Bilden 1998, S. 286). Nicht zuletzt bildet sich in diesem heteronormativen Kontext auch allzu leicht ein Verhältnis von Über- und Unterordnung zwischen Jungen und Mädchen. Gleich ob solche Ordnungen durch die hegemoniale Männlichkeit oder durch »weiblich« dominierte pädagogische Institutionen eher Jungen oder Mädchen privilegieren, sie schaden allen Kindern. Denn Kinder, »die sich anderen gegenüber als überlegen oder unterlegen fühlen, können sich nicht auf einer realistischen Grundlage gut mit sich selbst und mit anderen fühlen« (Wagner 2003, S. 40). Um solchen psychosozialen Problemen zu begegnen, gilt es, Kindern einen Raum zu sichern, in dem sie genügend angstfrei und selbstbestimmt vielfältige sinnliche und kommunikative Erfahrungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden machen können. Auch geschlechtlich triangulierende Erfahrungen mit vielfältigen weiblichen, männlichen und diversen Erwachsenen, die auch unterschiedliche Begehrensformen einschließen, können die Entwicklung begünstigen. Auf diese Weise kann das »nochnicht-Bewusste« (Lorenzer), etwa »männliche« Bindungswünsche oder »weibliche« Autonomiebestrebungen, zunehmend in die Wahrnehmung rücken und besser integriert werden. Auf dieser Grundlage fällt es den Kindern auch später in der Adoleszenz leichter, wenn sie sich als Jugendliche von den Eltern lösen und zunehmend ein eigenes gezieltes Begehren entwickeln, Umschriften ihrer Sexualität vorzunehmen, die weniger durch Tabus, Verwerfungen und Spaltungen gekennzeichnet sind. 248

5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita

5.4

Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita

5.4.1 Die Kita in der heterosexuellen Matrix

Eine pädagogische Institution wie die Kita bewegt sich zwangsläufig in heteronormativen Kontexten (Wagner 2008, S. 30; Henningsen 2015, S. 38). Wenn dann die Reflexion der sexuellen Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse ausbleibt, kommt es allzu schnell zur Reproduktion heteronormativer Klischees und destruktiver Prozesse (vgl. Kubandt 2015, S. 113).12 Diese können sich etwa als Diskriminierung von LGBTIQ-Familien oder von Kindern niederschlagen, die sich nicht ins Raster der Zweigeschlechtlichkeit einfügen lassen (vgl. Henningsen 2015, S. 38).13 Darüber hinaus drohen die destruktiven Tendenzen die Selbstbildungspotenziale aller Kinder zu kassieren: Statt lebendige Vielfalt zu integrieren müssen sie sich starren Klischees unterwerfen, statt sexueller Bildung erleben sie die Tabuisierung und Verleugnung ihrer kindlichen Sexualität. Eine grundlegende pädagogische Aufgabe besteht deshalb darin, die Heteronormativität kritisch zu hinterfragen, und zudem theoretische, reflexive und praktische Räume für sexuelle Bildung zu öffnen. Im Hinblick auf die sexuelle Bildung findet allzu häufig die Stilisierung eines »innocent hetero-normative child-at-risk« (Angelides), eines entsexualisierten Kindes, das vor allem geschützt werden muss. Demgegenüber sollte das »knowing child«, ein Kind mit einem sinnlich fühlenden 12 So fördern Studien, die sich etwa mit Fragen der Geschlechtersensibilität befassen, immer wieder die Erkenntnis zutage, dass Pädagog*innen in speziell angebahnten Situationen oder Projekten zum Thema durchaus geschlechtersensibel handeln, dass aber das vielfältige pädagogische Handeln im pädagogischen Alltag von Geschlechterstereotypen bestimmt ist (Kubandt 2015, S. 112; Schmauch 1993). 13 Sushila Mesquita und Eveline Y. Nay weisen darauf hin, dass auch innerhalb der LGBTIQCommunity Diskriminierungsgefahren bestehen. Sie konstatieren, dass im Kampf um soziale und rechtliche Anerkennung von Regenbogenfamilien der Fokus stark auf gleichgeschlechtliche Elternpaare gelegt wird, gleichsam orientiert am Glücksversprechen der heteronormativen Familie. Dies kann bis zu Homonormativität reichen, die andere LGBTIQ-Familien, wie etwa Familien bestehend aus einem lesbischen und einem schwulen Elternpaar, polyamouröse Gemeinschaften, Trans*Eltern, Eltern mit Behinderungen, Single-Lesben oder -Schwule, ausschließt (Mesquita/Nay 2015, S. 201f.). Auch kann es zu einem weißen »Homonationalismus« kommen, der Homophobie und Trans*phobie bestimmten Minderheiten rassistisch zuschreibt (ebd., S. 205).

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

Körper in den Fokus sexueller Bildung gerückt werden, damit Kinder ihren Körper, ihre Gefühle und Grenzen erforschen können (ebd.). Selbstverständlich müssen Kinder geschützt werden, und selbstverständlich brauchen Kitas Schutzkonzepte, damit die Kita ein Schutzort (und nicht Tatort) ist, an dem Signale erlittener sexualisierter Gewalt wahrgenommen werden und betroffene Kinder Hilfe erhalten (Rörig 2015). Zugleich aber sollte sexuelle Bildung pädagogisch-konzeptionell verankert werden – das selbstbewusste »Ja« zu sich selbst ist die Grundlage jeden »Neins« zu Grenzüberschreitungen (Henningsen 2015, S. 36). Im Hinblick auf eine heteronormativitätskritische Perspektive bietet der aus dem Anti-Bias-Ansatz stammende Begriff der Familienkultur eine gute Orientierung, weil er den Blick für konkrete Familien, Eltern und Kinder öffnet, ohne sie heteronormativ zu beurteilen. Familienkultur ist ein »Mosaik von Gewohnheiten, Deutungsmustern, Traditionen und Perspektiven einer Familie, in das auch ihre Erfahrungen mit Herkunft, Sprache(n), Behinderungen, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, sozialer Klasse usw. eingehen« (Wagner 2003, S. 42). Sicherlich beinhalten verschiedene Familienkulturen mehr oder minder große Spielräume für Triangulierung, Empathie und Kooperation sowie für die Konstruktion geschlechtlicher und sexueller Identitäten. Deshalb gilt es, die Familienkulturen anzuerkennen sowie Eltern und Kinder nicht zu beschämen, darüber hinaus aber in der gemeinsamen Arbeit spürbar zu machen, dass die Überwindung der starren Entgegensetzung von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Homo- und Heterosexualität, weitere Empfindungs- und Handlungsräume öffnet. Ganz praktisch kann dies bedeuten, über einen Elternaushang alle möglichen Familienkulturen, Geschlechterkonstruktionen und Begehrensweisen abzubilden, alle Eltern zur Teilhabe und Vernetzung einzuladen und die Kita damit zu einem Ort der »unterstützenden Matrix« (Stern) zu machen (Schmauch 2008, S. 86; Naumann 2011, S. 132). 5.4.2 Kind, Kindergruppe und die pädagogische Haltung

Für die Kinder sollte die Kita ein Ort sein, an dem sie ihre Neugier und Wissbegierde stillen können, der alle Sinne anspricht und selbstbestimmte Begegnungen in der Gleichaltrigengruppe ermöglicht. Ein Ort, an dem sie auch Beziehungen zu Erwachsenen erleben können, die ihnen Geborgenheit spenden, solange die Kinder dies wünschen, und die ihnen 250

5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita

auf dieser Grundlage einen Rahmen sichern, in dem sie Erfahrungen mit ihren Sinnen, ihrem Körper, ihren Beziehungen und mit der Welt machen können (vgl. Philipps 2005, S. 5). Deshalb sollten Räume und Materialien so beschaffen sein, dass sie den Kindern durch vertraute Symbole Anerkennung und Sicherheit spenden, keine heteronormativen Klischees und Barrieren festschreiben und schließlich herausfordernde Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen – auch als Vielfalt repräsentierter Geschlechter, mit denen die Kinder sich dann identifizieren können (vgl. Naumann 2014, S.  117; Hundegger 2020; Schaich 2020).14 Im besten Fall stehen den Kindern auch unterschiedliche Pädagog*innen zur Verfügung, die erlebbar machen, dass es etwa sehr unterschiedliche Erwachsene, Frauen und Männer gibt, die in ihren Liebesbeziehungen unterschiedliche Partner*innen haben können.15 In einem solchen Setting bestehen geschützte Räume, in denen die Kinder ihren Doktor*innenspielen nachgehen, Gleichheiten und Differenzen entdecken, Scham- und Identitätsgrenzen kennenlernen, ihr Selbst14 Zur Auseinandersetzung mit Vielfalt bietet sich beispielsweise auch der Medienkoffer »Familie und vielfältige Lebensweisen« der Bildungsinitiative QUEERFORMAT an, der unter anderem themenbezogene Bücher und das »Familienspiel« beinhaltet (dazu Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2013). 15 Sicherlich ist es im Sinne vielfältiger Erfahrungen und Identifizierungsmöglichkeiten der Kinder auch wünschenswert, wenn zunehmend gut qualifizierte, triangulierte und unterschiedliche männliche Fachkräfte in der Kita arbeiten – gerade weil in allzu vielen Familien Väter kaum präsent sind. Ich möchte hier auf die hochspannende tiefenhermeneutische Interpretation von Interviews hinweisen, die Josef Christian Aigner, Gerald Poscheschnik und Tessa Zeis mit männlichen Elementarpädagogen durchgeführt haben. Die Interpretation arbeitet im Hinblick auf das berufliche Handeln vier unterscheidbare Typen heraus: den eher unterworfenen Typus des weiblich Identifizierten, den relativ konfliktfrei egalitär Handelnden, den zwischen Mutteridentifikation und prekärer Männlichkeit schwankenden sowie den gegen die Frauendominanz ankämpfenden Typus (Aigner et al. 2012, S. 360). Gemeinsam ist nahezu allen interviewten Fachkräften, wie häufig im psychosozialen Feld, dass sie biografische Enttäuschungen durch eine altruistische Verarbeitung ebenso unbewusst wie prosozial zu bewältigen suchen. Sie möchten den Kindern förderliche Erfahrungen geben, die sie selbst schmerzlich vermisst haben, und sie versuchen das Vaterdefizit und eine nur brüchige Triangulierungsstruktur in der eigenen Geschichte zu kompensieren, indem sie den Kindern gerade im »weiblichen« Feld der Kita eine gute und triangulierende Vaterfigur sind (ebd., S. 380f.). Sinnvoll wäre auch hier, wie grundsätzlich in pädagogischen Kontexten, wenn Fachkräften Räume zur Reflexion ihrer biografisch und heteronormativ erzeugten Begrenztheit sowie ihrer konflikthaften Übertragungsbereitschaft zur Verfügung stehen würden.

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

wertgefühl stärken, Fragen entwickeln und daran ihre Sprachfähigkeit weiten können (Henningsen 2020, S. 39). Im Alltag haben Pädagog*innen die Aufgabe: ➣ solche Räume bereitzustellen und den Kindern empathisch und anerkennend zu begegnen, indem sie gegen Diskriminierung und für Vielfalt stehen; ➣ die geschlechtlichen Inszenierungen und Selbstdefinitionen anerkennen und transgressive Erfahrungen ermöglichen; ➣ gendersensibel und gendergerecht sprechen, sodass keine Kinder oder Gruppen unsichtbar oder diffamiert werden; ➣ die Gefühle der Kinder achten und benennen (helfen) (Hundegger 2020; Schaich 2020). Insgesamt können die Kinder in einem solchen Setting (auch) ihre geschlechtlichen und sexuellen Selbstbildungspotenziale, ihre Fähigkeiten zum Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln entfalten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die pädagogische Haltung. Auch hier ist es lohnend, sich den konkreten Familienkulturen der Kinder zu nähern, ohne vorschnell heteronormative Wertungen vorzunehmen, aber auch ohne bestimmten Kindern eine besonders rückständige patriarchalische Familie zuzuschreiben, sondern genau hinzusehen und den Kindern Spielräume für überschreitende Erfahrungen zu öffnen. Als Orientierung für eine solche vorurteilsbewusste Haltung können die vier Ziele des Anti-Bias-Ansatzes dienen, nämlich »Stärkung der Ich- und Bezugsgruppen-Identität«, »Respekt und Empathie für Vielfalt«, »Vorurteile kritisch betrachten« sowie »Aktiv werden gegen Ungerechtigkeiten« (Wagner 2003, S. 52ff.; 2020). Diese Ziele wiederum lassen sich besonders gut verwirklichen, wenn die Affektdynamik der Kinder und der Gruppe berücksichtigt wird. Denn wenn Affekte wie Angst und Wut, Neid, Schuld- und Schamgefühle, die besonders auch bei den Themen Geschlecht und Sexualität aufkeimen können, bedrohlich und unbewältigt bleiben, dann führen projektive Identifizierungen schnell zu Spaltungsprozessen in und zwischen den Kindern, Entwicklung wird blockiert. Kinder benötigen triangulierende Erfahrungen, die ihnen eine genügend angstfreie Begegnung mit Neuem und Anderem sowie dem geschlechtlich Verworfenen ermöglichen, also etwa mit »männlichen« Bindungs- und »weiblichen« Autonomiewünschen. In diesem Sinn brauchen die Kinder vor allem Spielräume, in denen sie ihre geschlechtlichen und auch sexuell aufgeladenen Dramen, Fragen, Fanta252

5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita

sien und Wünsche inszenieren können, in denen sie durch die Spielgruppe neue Erfahrungen machen und diese dann verinnerlichen können (Prengel 2011; Brandes 2012). Weil aber gerade bedrohliche Affekte in der Kindergruppe mitunter unbewältigt bleiben, müssen die pädagogischen Bezugspersonen auch die Gruppengrenze schützen, die unbewältigten Affekte containen und im szenischen Verstehen der Bedeutung der Affektdynamik nachspüren, um angemessene Antworten in der pädagogischen Beziehung geben zu können (Naumann 2014, S. 111ff.). In diesem Sinne haben Pädagog*innen die Aufgabe, sich den Kindern im Dienste von gelingenden Entwicklungs- und Bildungsprozessen unaufdringlich zur Verfügung zu stellen, indem sie eine affekt- und körperfreundliche Gruppenkultur stiften, Interaktion, Kommunikation und Partizipation in der Gruppe fördern, zur Bildung eines freundlichen Über-Ich beitragen und sich je nach Bedarf als Spielpartner*in, Übertragungsobjekt sowie als eigenständige erwachsene Bezugsperson, mit der neue oder auch korrigierende Beziehungserfahrungen im Hier und Jetzt möglich sind, verwenden lassen. Um eine solche pädagogische Haltung zu veranschaulichen, möchte ich die Geschichte von Lena und ihrer Kitagruppe schildern: Lena ist ein selbstbewusstes und lustiges Mädchen, als sie mit drei Jahren in die Kita kommt. Gerne spielt sie auch wilde Spiele und bei Streitereien kann sie sich gut durchsetzen. In der Kindergruppe ist sie als Freundin und Spielpartnerin hochgeschätzt. Am allerliebsten spielt sie Abenteuerspiele mit ihren gleichaltrigen Freund*innen und schlüpft gerne in die Rolle der Anführerin einer Piratenbande. Doch im Alter von vier Jahren beginnt sich die Stimmung in der Gruppe und auch Lena langsam zu verändern. Die Gruppe spaltet sich in eine Jungengruppe, die weiterhin gefährliche Abenteuer besteht, und eine Mädchengruppe, die vorwiegend aus Prinzessinnen besteht. Lena ist zunehmend ausgeschlossen. Die Jungen lassen sie nicht mehr mitspielen, schon gar nicht als Anführerin. Und auch zu den anderen Mädchen fällt die Kontaktaufnahme schwer, weil Lena keine Prinzessin sein möchte und für die anderen auch gar keine Prinzessin sein kann. Lena wirkt immer trauriger, zieht sich mehr und mehr zurück. Die Pädagog*innen nehmen diese Veränderung besorgt zur Kenntnis. Als die Pädagog*innen im szenischen Verstehen den Prozessen in der Gruppe nachspüren, entdecken sie heftige Affekte, die aus den Geschlechterinszenierungen stammen und die sich bislang nur destruktiv zeigen 253

5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

konnten, nämlich als geschlechterdichotome Spaltung der Gruppe und als Ausschluss Lenas mit ihren Wünschen nach Überschreitung. In der Szene sind verschiedenste Affekte zu finden: unter anderem Angst vor Beschämung und Ausschluss aus der Geschlechtergruppe, Trauer und Wut wegen der Aufgabe eigener Wünsche nach Überschreitung in der vereindeutigten Jungen- und Mädchengruppe oder auch Schuld und Scham wegen Lenas Ausschluss. Die Pseudolösung des geschlechtlichen Konflikts besteht darin, dass die ungestillten Wünsche nach Mehrdeutigkeit im Sinne einer projektiven Identifizierung aggressiv an Lena bekämpft werden. Aufgrund dieses Verstehens machen die Pädagog*innen der Gruppe den Vorschlag eines Malprojekts zum Thema Piraten. Ein Pädagoge malt beispielhaft ein Piratenschiff mit einer stolzen Piratin am Steuerrad. Einige Kinder reagieren empört, weil das mit der Piratin doch gar nicht ginge, andere widersprechen, das wäre wohl möglich, wieder andere sind eher still und nachdenklich. Die Kinder greifen sich nun Stifte und Papier und malen nach Kräften Piratenschiffe. Diese Begeisterung hält über Tage an, die Kinder malen immer neue Schiffe, bevölkert von Piraten, Piratinnen, Prinzessinnen und Prinzen, allesamt mal mit, mal ohne Schmuck, mal mit, mal ohne Waffen, manchmal bedroht von Seeungeheuern. Während des Malens und in den Gesprächen danach verständigen die Kinder sich darüber, dass Piraten und Piratinnen, Prinzen und Prinzessinnen ganz verschieden sein können und noch viel mehr, dass alle sich auch mal ausruhen und anlehnen müssen, und dass sie den Seeungeheuern gegenüber sowieso zusammenhalten. Nach diesem Erlebnis spielen Jungen und Mädchen zwar weiterhin auch mal für sich, doch Lena ist nicht mehr ausgeschlossen und die Spaltung der Gruppe überwunden (Naumann 2011, S. 134f.). 5.4.3 Selbstreflexion als Versöhnung mit Begrenztheit

Eine wichtige Bedingung für eine solche pädagogische Haltung ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion pädagogischer Fachkräfte. Doch auch hier gilt: Das ist leichter gesagt als getan, denn Pädagog*innen stehen heute unweigerlich vor vielfältigen Herausforderungen. Zunächst führen schon die zunehmende Ökonomisierung sowie der grassierende und individualisierende Förderwahn in Kitas dazu, dass das Gespür für kindliche Entwicklungs254

5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita

rhythmen, Gefühle und Bedürfnisse, auch im Hinblick auf Sexualität und Geschlecht, verlorenzugehen droht. Damit einher geht die Tabuisierung geschlechtlicher und besonders sexueller Themen in der Arbeit mit Kindern, was zur Folge hat, dass auch die Kinder diese Themen entwicklungshemmend mit Angst, Scham und Schuld besetzen. Umgekehrt begegnen Pädagog*innen Kinder, die mit ihren noch recht unverstellten Themen aus der matrisexuellen Phase, mit ihrer polymorph-perversen Sexualität oder ihrer ödipalen Dynamik an all den Themen rütteln, die die Pädagog*innen potenziell selbst aufrühren. Denn Pädagog*innen begegnen, ähnlich wie die Eltern, nicht nur dem realen Kind, sondern auch dem Kind, das sie selbst waren oder gerne gewesen wären. Darüber hinaus kommen sie über die Kinder und die Kindergruppe in Kontakt mit lebensgeschichtlichen Verwerfungen und liegengebliebenen Sehnsüchten, die bis ins pädagogische Hier und Jetzt der mehr oder minder integriert hineinwirken können. Umso bedeutsamer sind Selbstreflexionsräume bereits in Aus- und Weiterbildung. Denn diese eröffnen eine vielleicht auch nachholende innere Triangulierung, eine Versöhnung mit der unweigerlichen geschlechtlichen und sexuellen Begrenztheit sowie ein Kennenlernen der mitunter abgespaltenen homo- oder auch heterosexuellen Tendenzen (Hoeltje 2006, S. 185; Watson 2005, S. 77).16 Erst dann ist die Gefahr gebannt, die Kinder als Selbstobjekte zu nutzen, die mittels introjektiver oder projektiver Identifizierungen der Bestätigung einer ebenso starren wie prekären Identität dienen, indem bestimmte Jungen und Mädchen entweder als ganz ähnlich oder ganz anders verfremdet werden. Und erst dann können die realen Kinder in die Wahrnehmung rücken, mit ihren eigenen Konflikten, eigenen Wünschen und eigenen Entwicklungspotenzialen. Auf diese Weise wächst das Verständnis für die geschlechtlichen Inszenierungen und widerspenstigen Erprobungen der Kinder sowie ein vertieftes Verstehen der inszenierten Themen, weil diese nicht mit den eigenen Themen der pädagogischen Fachkräfte verwechselt werden (vgl. Schmauch 2008, S. 86f.). Es fällt dann leichter, die Kinder zu 16 Mit Ilka Quindeau kann hier vom »generativen Raum« als Ort gesprochen werden, »an dem bisexuelle, gleich- und andersgeschlechtliche Repräsentanzen sowie verschiedenste Lust- und Befriedigungsmodalitäten und -phantasmen Platz haben und nebeneinander bestehen bleiben können, ohne dass Fremdes und Anderes im Sinne einer eindeutigen dichotomen Geschlechtsidentität sowie sexuellen Identität ausgegrenzt und verworfen wird. Der generative Raum steht für die Anerkennung des Fremden im Eigenen« (zit. nach Böllinger 2015, S. 617).

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5 Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix

mentalisieren, sie können als Wesen gedacht und gefühlt werden, die eigene Bedürfnisse und Interessen haben und die ihren eigenen Weg hin zu ihren geschlechtlichen und sexuellen Identitäten finden werden – einen Weg, der auch anders, sogar glücklicher als jener der Pädagog*innen verlaufen darf. Nicht zuletzt ist eine solche mentalisierende Haltung, verbunden mit einem affekt-, körper- und kommunikationsfreundlichen Klima, ein wesentlicher Aspekt der Prävention sexualisierter Gewalt.17 5.4.4 Die Kita als Übergangsraum

Insgesamt sollte die Kita als Übergangsraum fungieren, in dem die Kinder genügend angstfrei auch ihre geschlechtlichen und sexuellen Themen inszenieren und auf eine Weise bearbeiten können, die ihnen nicht nur wachsende Kreativität, Symbolisierungsfähigkeit und Selbstbestimmung beschert, sondern auch eine flexiblere Integration »weiblicher« und »männlicher« Anteile. Pädagogische Theorie und Praxis zu queeren sollte dabei guttun. Literatur Adamczak, Bini (2019): Der liberale Patriarch. Eine Kritik der »dritten Geschlechtsoption«. https://jungle.world/artikel/2019/04/der-liberale-patriarch?page=all (20.04.2021). Ahlheim, Rose (2009): Elternschaft  – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential. In: Haubl, Rolf; Dammasch, Frank & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 15–35. 17 Zu den destruktiven Wirrungen der »sexuellen Revolution« gehörte auch, mitunter die sexuelle Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern zu missachten, bis hin zur Forderung der Entkriminalisierung der sogenannten Pädophilie (Schmidt 2014, S. 11). Dies scheint im Kontext von Selbstbestimmungsdiskursen und der Sensibilisierung für sexuelle Gewalt glücklicherweise obsolet zu sein (ebd.). Gleichwohl bleibt pädosexuelle Gewalt, nach wie vor mit überwiegend männlicher Täterschaft, ein für die betroffenen Kinder leidvolles und pädagogisch brisantes Thema. Nur sollte daraus wiederum nicht gefolgert werden, nun überall potenzielle Missbraucher zu vermuten und Sexualität in pädagogischen Feldern zu tabuisieren, wodurch das Thema für die Kinder, wie bereits bemerkt, unausgesprochen mit Angst, Ekel, Scham und Schuld besetzt wird (Sigusch 2014, S. 32f.; Philipps 2005, S. 1). Demgegenüber kann eine emanzipatorische Sexualpädagogik, getragen von einer mentalisierenden Haltung, die Kinder schützen und ihnen zugleich einen Raum für die selbstbestimmte Erforschung ihrer Bedürfnisse und Gefühle ermöglichen.

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5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita Aigner, Josef Christian; Poscheschnik, Gerald & Zeis, Tessa (2012): Tiefenhermeneutisch psychoanalytische Interpretation ausgewählter Interviews. In: Aigner, Josef Christian & Rohrmann, Tim (Hrsg.): Elementar – Männer in der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Opladen, Verlag Barbara Budrich, S. 357–412. Bambey, Andrea & Gumbinger, Hans-Walter (2006): »Neue Väter – andere Kinder?« Das Vaterbild im Umbruch. Zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und realer Umsetzung. Forschung Frankfurt 4/2006, 26–31. Beck-Gernsheim, Elisabeth (2000): Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München, C. H. Beck. Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main, Stroemfeld. Benjamin, Jessica (Hrsg.) (1995): Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter. Frankfurt am Main, Fischer. Bergold, Pia & Buschner, Andrea (2017): Kinder aus Regenbogenfamilien – Ergebnisse der BMJ-Studie. Frühe Kindheit 4/2017, 6–15. Bilden, Helga (1998): Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Geulen, Dieter  & Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim, Beltz, S. 777–812. Bildungsinitiative QUEERFORMAT (2013): Begleitmaterial zum Medienkoffer »Familien und vielfältige Lebensweisen« für Kindertageseinrichtungen. www.queerformat. de/fileadmin/user_upload/news/Begleitmaterial_Kita-Koffer.pdf. Bliersbach, Gerhard (2007): Leben in Patchwork-Familien. Halbschwestern, Stiefväter und wer sonst noch dazugehört. Gießen, Psychosozial-Verlag. Böllinger, Lorenz (2015): Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und neuen Beziehungsformen. Psyche 7/2015, 603–631. Brandes, Holger (2005): Gruppenmatrix und Theorie des Unbewussten. Über Bewegungen und Perspektiven in der gruppenanalytischen Theorie und Praxis. gruppenanalyse, 2/2015, 151–169. Brandes, Holger (2012): Die Kindergruppe als Lernort. Den selbstorganisierten Gruppen Raum geben. TPS 2/2012, 6–11. Bürgisser, Margret & Baumgarten, Diana (2006): Kinder in unterschiedlichen Familienformen. Wie lebt es sich im egalitären, wie im traditionellen Modell? Zürich, Rüegger. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Butler, Judith (2011): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Dammasch, Frank & Metzger, Hans-Geert. (2006): Einleitung. Engagierte Väter – verschwindende Väter. In: Dammasch, Frank & Metzger, Hans-Geert (Hrsg.): Die Bedeutung des Vaters. Psychoanalytische Perspektiven. Frankfurt am Main, Brandes & Apsel, S. 7–17. Datler, Wilfried; Steinhardt, Kornelia & Ereky, Katharina (2002): Vater geht zur Arbeit … Über triadische Beziehungserfahrungen und die Ausbildung triadischer Repräsentanzen im ersten Lebensjahr. In: Steinhardt, Kornelia; Datler, Wilfried & Gstach, Johannes (Hrsg.): Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 122–141. De Lauretis, Teresa (1991): Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities. Differences 3(2)/1991, 3–18.

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5.4 Pädagogische Konsequenzen am Beispiel der Kita Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietrig, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute. Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 95–117. Wagner, Petra (2003): »Anti-Bias-Arbeit ist eine lange Reise …«. Grundlagen vorurteilsbewusster Praxis in Kindertageseinrichtungen. In: Preissing, Christa  & Wagner, Petra (Hrsg.): Kleine Kinder, keine Vorurteile? Interkulturelle und vorurteilsbewusste Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Freiburg, Herder, S. 34–62. Wagner, Petra (2008): Gleichheit und Differenz im Kindergarten – eine lange Geschichte. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg, Herder, S. 11–33. Wagner, Petra (2020): Für alle heißt für alle – ohne Diskriminierung! Inklusion in der Kitapraxis mit dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Frühe Kindheit 4/2020, 30–37. Watson, Katherine (2005): Queer Theory. Group Analysis 1/2005, 67–81. Winker, Gabriele (2020): »Frauen wollen nicht nur Kinder gebären, damit andere sie betreuen«. Interview von Juliane Frisse. https://www.zeit.de/arbeit/2020-02/gabri ele-winker-care-arbeit-gender-pay-gap/komplettansicht (20.04.2021).

261

6

Erziehungspartnerschaft in der Kita Die Arbeit mit der Elterngruppe

6.1

Einführung

Elternarbeit in der Kita wird heute als Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften verstanden, in deren Zentrum das gemeinsame Interesse an gelingenden Entwicklungs- und Bildungsprozessen der Kinder steht.1 Schon in den §§ 22 und 22a SGB VIII wird darauf hingewiesen, dass die Kita sich an den Bedürfnissen der Familien orientieren, mit den Erziehungsberechtigten zusammenarbeiten und diese an wesentlichen Entscheidungen, die die Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder betreffen, beteiligen soll. Mithilfe pädagogischer Fachlichkeit können die Eltern bei der Gestaltung eines gelingenden Alltags mit ihren Kindern unterstützt werden. In diesem Kontext ist die Arbeit mit der Elterngruppe eine große Chance und zugleich eine besondere Herausforderung. Die Chance besteht darin, dass Eltern auch ihre konflikthaften Erziehungs- und Familienthemen in die Gruppe einbringen und im Austausch mit den Pädagog*innen und anderen Eltern auf eine Weise bearbeiten können, die ihre Empfindungs- und Handlungsfähigkeit erweitert. Die Herausforderung ergibt sich aus den heftigen Affekten, die mitunter in der Elterngruppe aufkommen. Schon die Begegnung mit einer Vielzahl von Eltern und pädagogischen Fachkräften löst bei manchen Eltern Verunsicherung aus, weil sie vielleicht taxierende Blicke oder gar Beschämungen fürchten. Darüber hinaus kommen die Eltern in der Bearbeitung von Erziehungs- und Beziehungsfragen unweigerlich auch in Kontakt mit aufwühlenden Themen ihrer Geschichte und aktuellen Lebenssituation. Auch manche Pädagog*innen sind angesichts 1 Wenn hier von Eltern gesprochen wird, sind alle Eltern gemeint, die für Kinder bedeutsame, verantwortliche Bezugspersonen sind – und alle heißt alle: leibliche Eltern, soziale Eltern, Co-Eltern, ob in traditionellen Familien, LGBTIQ-Familien, Einelternfamilien, Patchworkfamilien oder Pflegefamilien.

263

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

der Elterngruppe und ihrer affektiv hoch besetzten Themen verunsichert. Doch erst wenn die Affekte, Bedürfnisse und Konflikte der Eltern berücksichtigt werden, können die Potenziale der Arbeit mit der Elterngruppe zur Entfaltung kommen und durch lebendige Verständigungsprozesse zu einem gelingenden Alltag beitragen. Aus diesem Blickwinkel werden im Folgenden psychosoziale Themen der Elternschaft, zentrale Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik sowie Dynamiken der Elterngruppe am Beispiel des Elternabends dargelegt. Zum Schluss steht die Frage im Fokus, was die Pädagog*innen brauchen, um eine förderliche Elternarbeit zu verwirklichen.

6.2

Psychosoziale Themen der Elternschaft

6.2.1 Die Elternschaftskonstellation

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, begegnen die Eltern nicht nur dem realen Kind, sondern auch dem Kind, das sie selbst waren oder gerne gewesen wären. Über ihr Kind geraten die Eltern einerseits in Kontakt mit den guten Anteilen ihrer eigenen Kindheit und jenen der eigenen Eltern, mit dem Gefühl des Gehaltenwerdens oder der lustvollen Exploration der Welt. Andererseits aber kommen sie auch in Kontakt mit den schmerzhaften Erfahrungen und ungelösten Konflikten ihrer frühen Lebensgeschichte. Mit diesen aktualisierten Vorerfahrungen treten die Eltern in einen Raum, den Daniel Stern Mutterschaftskonstellation nennt, der aber unter Berücksichtigung aller elterlicher Bezugspersonen als Elternschaftskonstellation bezeichnet werden kann. Die Eltern sind in diesem Raum mit vier Themen konfrontiert, die sie vor dem Hintergrund ihrer Vorerfahrungen im Hier und Jetzt ihres sozialen Orts mehr oder minder gut bewältigen können. ➣ Das »Thema des Lebens und Wachstums« bezieht sich auf die elterliche Fähigkeit, das Überleben und Gedeihen des Babys zu gewährleisten; ➣ das »Thema der primären Bezogenheit« meint das Vermögen der Eltern, eine eigenständige und für sie selbst stimmige emotionale Beziehung zum Baby herzustellen, die diesem zugleich eine möglichst von affektiven Verzerrungen freie Entwicklung erlaubt; ➣ das »Thema der unterstützenden Matrix« wirft die Frage auf, inwiefern es den Eltern gelingt, sich gegenseitig in der Begleitung des 264

6.2 Psychosoziale Themen der Elternschaft



Kindes zu entlasten und zudem ein Netz mit weiteren Helfern zu knüpfen; das »Thema der Reorganisation der Identität« schließlich umfasst die Aufgabe der Eltern, ihre elterliche Rolle auf eine Weise in ihre Identität zu integrieren, die für die Beziehung zum Kind und die Schaffung einer unterstützenden Matrix förderlich ist (Stern 1998, S. 211).

6.2.2 Eltern und die Entwicklungsthemen der Kinder

Neben der Elternschaftskonstellation stellt das Kind die Eltern mit seinen entwicklungsspezifischen Themen und Bedürfnissen vor immer neue Herausforderungen.2 So ist die Zeit nach der Geburt sehr praktisch durch Schlafmangel, permanente Verfügbarkeit und etwaige Unsicherheit im Umgang mit dem Säugling verbunden. In eben dieser anstrengenden Zeit muss die primäre Bezugsperson, im Rahmen der herrschenden Arbeitsteilung noch immer meist die Mutter, die mitunter extremen affektiven Zustände ihres Babys aushalten und regulieren helfen.3 Zugleich muss sie Kontakt zur strukturierten Erwachsenenwelt halten, damit sie sich nicht in der entgrenzten Babywelt verliert (Pedrina 2008, S. 176). Wenn dies geschieht, kann die primäre Bezugsperson in eine prekäre Situation geraten. »Auf der einen Seite kann sie sich zu sehr mit der Verzweiflung und der Wut des Kindes identifizieren und sich von ihr anstecken lassen. Sie wird dann gefährliche, aggressive Gefühle auf andere Personen ihrer Umgebung verschieben oder sie sogar – wenn dieser Mechanismus versagt – gegen das 2 Auf entwicklungspsychologische Fragen kann hier nicht intensiver eingegangen werden, gleichwohl sind diesbezügliche Kenntnisse essenziell für die psycho- und gruppenanalytische Pädagogik (dazu ausführlich Naumann 2010; 2011). Allerdings habe ich eine »Checkliste Entwicklungspsychologie« erstellt, die wichtige Erkenntnisse der Bindungstheorie, der Theorie der Affektregulierung und Mentalisierung, der klassischen psychoanalytischen Entwicklungstheorien sowie der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse umfasst – diese Checkliste hat sich in hochschulischer Lehre, Fort- und Weiterbildung sehr bewährt, und ich stelle sie im Anhang dieses Textes den Leser*innen gerne zur Verfügung. 3 Zur Kritik an geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung und Heteronormativität möchte ich auf das vorangegangene Kapitel verweisen.

265

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

eigene Kind selbst wenden. Auf der anderen Seite könnte sich die Mutter zu sehr mit der regressiven Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des Kindes identifizieren, sich gehenlassen und vermehrt vom Partner oder anderen Personen abhängig werden« (ebd., S. 177).

Die Gefahr einer solchen Dynamik ist sicherlich geringer, wenn die primäre elterliche Bezugsperson, oder besser noch alle beteiligten Eltern, auf eigene Erfahrungen genügend guter und feinfühliger Begleitung durch ihre eigenen Eltern zurückgreifen können. Zudem sind hier die wechselseitige Entlastung der Eltern bei der Betreuung des Kindes sowie die Verfügbarkeit einer unterstützenden Matrix besonders wichtig. In der Folgezeit sind die Eltern mit ersten Trennungsprozessen und Autonomiekämpfen ihres Kindes konfrontiert. Manche Eltern, die die Nähe der ersten Lebensmonate des Kindes regelrecht genießen konnten, geraten nun in emotionale Turbulenzen. Einige können das Kind nur schwer in eine (erste) Unabhängigkeit begleiten, weil sie die unbedingte Nähe brauchen; andere zerschmettern die aufkeimenden trotzigen Autonomiebestrebungen, weil sie unbewusst zu sehr an die eigenen herrschsüchtigen Eltern erinnern; und wieder andere lassen das Kind vollständig gewähren, weil sie auf keinen Fall so autoritär sein wollen, wie sie ihre Eltern erlebt haben (Ahlheim 2009, S. 29). Die Aufgabe, das Kind je nach Situation flexibel loszulassen, zu beschützen und zu halten, können Eltern besonders gut bewältigen, wenn sie sowohl mit den Geborgenheits- als auch mit den Autonomiewünschen des Kindes identifiziert sind, und dies bedeutet, dass sie diese Wünsche auch in sich genügend gut miteinander vereinbaren konnten (Naumann 2011, S. 65). Nicht zuletzt kommen in der ödipalen Konstellation verstärkt die Themen Sexualität und Generationenverhältnis auf. Auch hier kann es passieren, dass Eltern, die die vorherigen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikte gut bewältigen konnten, hoch verunsichert reagieren, weil die Entwicklungsthemen der Kinder unbewältigte ödipale Konflikte der Eltern aktualisieren. So kann ein Elternteil, das soeben noch stolz auf sein selbstbewusstes Kind war, nun dessen Werben um das andere Elternteil als das eines erwachsenen Rivalen missverstehen und bekämpfen. Oder es kommt zur Idealisierung des Kindes und zu dessen Überforderung als Partnerersatz. Wenn die Eltern aber über eine hinreichend erwachsene geschlechtliche und sexuelle Identität verfügen, muss das kindliche Begehren weder verleugnet noch mit dem eines Erwachsenen verwechselt werden. Das Kind 266

6.2 Psychosoziale Themen der Elternschaft

wird somit als Kind entlastet, es kann sich mit den Eltern identifizieren und die Erfüllung seiner Wünsche mit einer eigenen Zukunftsperspektive verknüpfen (Perner 2010, S. 217). Wenn diese etwaigen Konflikte unbearbeitet bleiben, kann das reale Kind den mehr oder minder unbewussten Erwartungen der Eltern, etwa nach Wiedergutmachung oder Ergänzung, nie gerecht werden und zieht stattdessen narzisstische Wut auf sich. Die Beziehung zum Kind ist dann von unbewusster Aggression unterlegt, die nicht selten den eigenen Eltern gilt (Figdor 2006, S. 143f.). Wenn die Eltern hingegen mit ihrer durch die Beziehung zum Kind aktualisierten Lebensgeschichte genügend gut versöhnt sind, können sie auch das reale Kind als eigenständiges und geliebtes Wesen wahrnehmen und mentalisieren (vgl. Gerspach 2004, S. 56). 6.2.3 Elternschaft und gesellschaftliche Kontexte

Allerdings sind es nicht allein die biografisch gefärbten Themen der Elternschaft, sondern auch ihre gesellschaftlichen Kontexte, die sich in Alltagspraxis übersetzen. Eltern sind heute zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnissen, wachsendem Leistungs- und Konkurrenzdruck, fortschreitender sozialer Ungleichheit sowie immer geringeren Gestaltungsmöglichkeiten angesichts der Autorität einer globalisierten Ökonomie ausgesetzt (Decker et al. 2020, S. 204ff.). Überdies sind sie innerhalb der Geschlechterverhältnisse und interkulturellen Verhältnisse mit mehr oder minder verfügbaren Ressourcen und mit mehr oder minder leidvollen Belastungen verortet. Angesichts dieser Vielfalt von Herausforderungen stellt die Familie häufig ein letztes Refugium dar, das Glück, Lust, Geborgenheit und Handlungsfähigkeit verbürgen soll (Naumann 2010, S. 86). Doch diese Aufwertung der Beziehung zwischen Eltern und Kind geht mit ihrer potenziellen Überlastung einher, die die Kinder mit Erwartungen und Ansprüchen überfrachtet (Dornes 2007, S. 18). Einerseits werden Kinder im engeren Sinne nicht gebraucht. Sie sind ein handfestes Armutsrisiko und stehen den Selbstverwirklichungsansprüchen und Regenerationsbedürfnissen der Eltern im Wege. Auch können sich alltägliche Hektik, ökonomischer Druck oder Ängste vor sozialem Abstieg der Eltern als Scham- und Schuldgefühle den Kindern gegenüber niederschlagen, die dann wiederum abgewehrt werden müssen (Figdor 2006, S. 143). Andererseits aber fungieren Kinder geradezu als Sinnstifter eines häufig sinnentleerten Alltags. 267

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

Denn die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist wie keine andere soziale Beziehung durch Nähe und Abhängigkeit geprägt, hier können sich die Eltern noch als mächtig, liebevoll oder handlungsfähig erleben. Unter ungünstigen Bedingungen sind die Kinder dann extremen Entwertungs- oder Mittelpunktserfahrungen ausgesetzt, sie werden weggewünscht, herbeigesehnt und vor die unlösbare Aufgabe gestellt: »Geh weg! Du stehst mir im Wege« und »Bleib da! Ich brauche Dich« (Naumann 2010, S. 87). Dazu ein kurzes Fallbeispiel (ebd., S. 160): Die Pädagog*innen einer Kitagruppe nehmen wahr, dass eine alleinerziehende, gut gebildete und grundsätzlich sehr fürsorgliche Mutter beim Abholen ihrer beiden Kinder von Tag zu Tag immer ungeduldiger und ruppiger auftritt. Nichts kann schnell genug gehen, immer machen die Kinder irgendetwas falsch. Rasch wandelt sich der anfängliche Widerstand der Kinder in Tränen. Daraufhin laden die Pädagog*innen die Mutter zu einem Elterngespräch ein, das sie im Team reflexiv vorbereiten. Zu Beginn erzählt die Mutter von Termindruck aufgrund ihrer neuen beruflichen Situation, die sie ja schließlich auch wegen der materiellen Versorgung der Kinder auf sich genommen habe, zugleich beschwert sie sich über die Kinder, weil diese in der neuen Lage nicht gut genug mitspielten. Dieser Vortrag ist durch eine angespannte Körperhaltung und eine recht kalte, aber energische Stimmlage geprägt, mit einem bitteren Zug um den Mund. In der Gegenübertragung der Pädagog*innen werden daraufhin Wünsche nach Ruhe, nach Nähe zu den Kindern sowie Scham- und Schuldgefühle ihnen gegenüber spürbar. Als die Pädagog*innen versuchen, diese Gefühle zu spiegeln und dabei verdeutlichen, dass sie die Not und Anspannung der Mutter sehen, beginnt diese zu weinen. Während zuvor die Tränen ihrer Kinder Ausdruck unsagbarer Verzweiflung waren, sind diese Tränen nun symbolisierte Tränen als Ausdruck des wiedergewonnenen Kontakts zu den eigenen Gefühlen und den Gefühlen der Kinder. Damit ist zwar die berufliche Situation nicht entschärft, aber die gemeinsame Zeit mit den Kindern kann wieder liebevoll genossen werden. Es gibt wohlgemerkt keine perfekten Eltern. Im Sinne einer gelingenden Entwicklung der Kinder reicht es, wenn die Eltern genügend gute Eltern sind. Die Elternarbeit kann dabei einen förderlichen Beitrag leisten, indem sie den Eltern einen lebendigen und affektfreundlichen Raum zur Verfü268

6.3 Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik

gung stellt. Besonders in der Elterngruppe können die Eltern gemeinsam die Themen und Konflikte ihres Familien- und Erziehungsalltags bearbeiten, sich in der Verständigung mit anderen besser kennenlernen und die Kita als Ort der Vernetzung nutzen (vgl. Pedrina 2008, S. 179/191).

6.3

Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik

Weil in einer gruppenanalytisch orientierten Pädagogik »der Gruppenentwicklung großer Spielraum gelassen und einer Fixierung auf die Leiterautorität entgegengearbeitet wird, ist dieser Ansatz geradezu prädestiniert für Arbeitsfelder, in denen es um die Unterstützung von Identitätsbildung, die Förderung kommunikativer und sozialer Kompetenzen und die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbsthilfe geht« (Brandes 1999, S. 137).4 6.3.1 Der Mensch als Gruppenwesen

Nach S. H.  Foulkes, dem maßgeblichen Begründer der Gruppenanalyse, ist der Mensch kein isoliertes Individuum, das schlicht seinen Interessen oder Trieben folgt, sondern von Anbeginn des Lebens ein Gruppenwesen. Schon in der Familie, dann in der Kita, in der Schule, in Peergruppen, im Arbeitsleben und selbstverständlich auch in der Elterngruppe macht der Mensch Gruppenerfahrungen. Diese Erfahrungen werden einerseits bewusst und unbewusst in der psychischen Struktur verinnerlicht. Andererseits setzt der Mensch seine verinnerlichten, bewussten und unbewussten Gruppenerfahrungen in allen weiteren Gruppen in Szene. Weil dies aber für sämtliche Gruppenmitglieder gilt, ist die Gruppe mehr als die Summe ihrer einzelnen Mitglieder. Sie ist ein Netzwerk, in dem die Einzelnen Knotenpunkte bildet. Daraus folgt umgekehrt, dass jede Handlung der einzelnen Mitglieder eine Veränderung des Netzwerks der gesamten Gruppe bewirkt (Foulkes 1974, S. 33). 4 Gruppenanalytische Aspekte werden hier nur insoweit behandelt, wie es für diesen Text zur Arbeit mit der Elterngruppe erforderlich ist. In den folgenden Texten werden Theorie und Anwendungsfelder der Gruppenanalyse insbesondere im Hinblick auf die von mir entwickelte gruppenanalytische Pädagogik vertiefend dargelegt.

269

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

6.3.2 Gruppendynamik

Die Dynamik der Gruppe ergibt sich nicht allein durch das Zusammenwirken ihrer Mitglieder, sondern ist auch von gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten abhängig. Zum einen sind dies die mehr oder minder ähnlichen Erfahrungen der Menschen in ihrer soziokulturellen Welt, gruppenanalytisch auch »Grundlagenmatrix« genannt. So kommen etwa in einer Elterngruppe Eltern zusammen, die alle Erfahrungen mit vorherrschenden oder alternativen Erziehungsmustern, mit interkulturellen und Geschlechterverhältnissen sowie mit sozialer Ungleichheit und ökonomischen Zwängen gemacht haben (Naumann 2014, S. 53f.). Diese Erfahrungen sind Grundlage der Gruppe, sie können sich als Reproduktion von Konkurrenz oder Beschämung zeigen, sind aber auch die Basis gemeinsamer Verständigung. Zum anderen wird die Gruppendynamik durch ihren institutionellen Kontext beeinflusst, der als »institutionelle Matrix« bezeichnet werden kann. So entwickelt sich die Elterngruppe im Kontext der Kita mit ihrem gesetzlichen Auftrag im SGB VIII, ihrer konzeptionellen Ausrichtung sowie ihrer personellen und räumlichen Ausstattung. Erst innerhalb dieser gesellschaftlichen und institutionellen Kontexte entsteht die »dynamische Matrix«, die Veränderung der Gruppe und ihrer Mitglieder im Rahmen des gemeinsamen Prozesses (ebd., S. 60ff.; Potthoff 2008, S. 97). Der Beginn einer Gruppe oder das Neuankommen in einer Gruppe wird häufig als große Verunsicherung erlebt. Bisherige Gewissheiten, Handlungsweisen, Sicherheiten und Abwehrstrategien werden aufgestört. Dabei können alte Ängste aufkommen, etwa vor Ablehnung oder Beschämung, aber auch Hoffnungen auf glücklichere Erfahrungen der Anerkennung oder Geborgenheit. Unweigerlich reinszenieren die Mitglieder ihre bewussten und unbewussten Erfahrungen in der Gruppe und es kommt zu multiplen Übertragungen. Einerseits entstehen Übertragungsidentifizierungen, in denen andere Gruppenmitglieder auf ähnliche Weise wie vormals erlebte oder ersehnte bedeutsame Bezugspersonen wahrgenommen werden. Andererseits finden projektive Identifizierungen statt, bei denen an anderen Gruppenmitgliedern eigene Persönlichkeitsanteile erlebt, geschätzt oder bekämpft werden (Trescher 2001, S. 173ff.). Auf diese Weise erzeugen die Mitglieder wechselseitige Resonanzen, die zu gemeinsamen Themen heranwachsen, wie etwa Sehnsucht nach Gehalten- und Gesehenwerden oder Umgang mit Differenz und Rivalität. Dabei fungiert die 270

6.3 Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik

Gruppe als Spiegel für den Einzelnen, der entweder Bilder festgefahrener Gewissheiten bestätigt oder aber einen neuen Blick eröffnet, der bislang unverstandene Gefühle zu integrieren erlaubt und neue Entwicklungschancen ermöglicht (Behr/Hearst 2009, S. 229f.). 6.3.3 Gruppenleitung

Aus gruppenanalytischer Perspektive gilt jede Äußerung eines Mitglieds als bedeutsam für die ganze Gruppe, ob sie nun als konstruktiv oder destruktiv wahrgenommen wird. Auch Störungen, die zunächst Kommunikationsblockaden und Irritationen erzeugen, muss ein Sinn unterstellt werden. Die Aufgabe der Gruppenleitung ist dabei nicht etwa, heftige Affekte und Störungen klein zu halten, sondern vor allem, Interaktion und Kommunikation immer wieder in Gang zu halten, damit Störungen sich zeigen und im Gruppenprozess zunehmend auflösen können (Foulkes 1974, S. 34). Für die Gruppenleitung ist das Holding (Winnicott) und Containing (Bion) von besonderer Bedeutung. Holding meint das (Aus-)Halten jedweder Affekte in der Gruppe durch die Leiter*innen, was den Mitgliedern die Sicherheit und Geborgenheit spendet, von der aus sie weitere Entwicklungsprozesse wagen können. Containing meint die Fähigkeit, die noch unsagbaren Affekte der Mitglieder aufzunehmen und ihnen in »verdauter«, symbolisierter Form zur Verfügung zu stellen. Mithilfe des »szenischen Verstehens« (Lorenzer) schließlich kann die Bedeutung des Gruppenprozesses auch in seinen affektiven Dimensionen erschlossen werden. Es richtet sich nicht auf isolierte Verhaltensweisen oder scheinbar objektive Zusammenhänge, sondern auf den Sinn von Szenen, die sich im Netzwerk der Gruppe ereignen (vgl. Lorenzer 1973, S. 141ff.). Ein wichtiges Mittel ist dabei die Beachtung der Gegenübertragung, also die Wahrnehmung der Gefühle, die in Leiter*innen durch das Gruppengeschehen ausgelöst werden. Dadurch werden Affekte spürbar und verstehbar, die in der Gruppe zwar auftauchen, aber noch nicht versprachlicht werden können. So mag sich der*die Leiter*in einer Elterngruppe unfähig und beschämt fühlen, weil er*sie den Erwartungen der Eltern nicht zu genügen glaubt. Wenn dieses bedrohliche Gefühl abgewehrt wird, kann es schnell zu autoritärer Überaktivität kommen, um die Scham zu bewältigen. Die Eltern aber, die ihre noch unsagbare Scham, etwa weil sie in manchen Erziehungssituationen hoch verunsichert sind, im Leiter deponiert haben, fühlen sich 271

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

dann noch kleiner. Wenn dieses Gefühl stattdessen als Gegenübertragung verstanden und der Gruppe behutsam zurückgemeldet wird, können die Eltern ihre Schamgefühle besser integrieren und sich erleichtert auf weitere Gruppenprozesse einlassen. Gelingt ein solcher Prozess, kommt es zur wachsenden Identifizierung der Mitglieder mit der verstehenden Haltung der Leitung. Die Gruppe selbst bekommt eine Containingfunktion, ihre Mitglieder können sich nach Innen und Außen öffnen und bei all ihrer Unterschiedlichkeit wechselseitig unterstützen. Es entsteht eine affektfreundliche Gruppenkultur und stabile Gruppenkohäsion. Dieser Zusammenhang soll im nun folgenden Abschnitt anhand einer Kitaszene konkretisiert werden. 6.3.4 Die Gruppe als Übergangsraum

Mit Donald Winnicott kann die Gruppe als Übergangsraum verstanden werden. Ein Übergangsraum entsteht durch eine raumzeitlich geschützte Situation, dem kindlichen Spiel ähnlich, er ermöglicht der Gruppe den Abgleich von Fantasie und Realität, gleichsam ein Probefühlen und Probehandeln. Dabei werden durchaus ernste Themen, Bedürfnisse und Konflikte verhandelt, doch können sie sich auf eine genügend angstfreie und spielerische Weise zeigen (Brandes 2009). Dadurch werden sie der Bearbeitung zugänglich, die Mitglieder erhalten förderliche Antworten von der Gruppe und es werden Prozesse wachsender Kreativität und Symbolisierungsfähigkeit freigesetzt (vgl. Winnicott 2006, S. 25). Ein solcher Übergangsraum aber muss in pädagogischen Settings immer wieder gesichert werden. Beispielsweise ist in einer Kitagruppe nicht selten zu beobachten, dass wiederkehrende, heftige und unaussprechbare Wut aufflammt, dass sich die Gruppe in mächtig und aggressiv auftretende Kinder und solche spaltet, die sich eingeschüchtert zurückziehen oder Schutz bei den Pädagog*innen suchen. Jenseits der individuellen Konflikte der Kinder kann es dabei um die Aufspaltung entwicklungsspezifischer Themen der Autonomie und Abhängigkeit ebenso wie um Themen der Über- und Unterordnung gehen. Die übergriffigen Kinder behaupten eine aggressive Autonomie und projizieren ihre Abhängigkeitsängste, Ohnmachtsgefühle oder auch Nähebedürfnisse auf die zurückgezogenen Kinder. Diese wiederum werden ohnmächtig gemacht und projizieren ihre Autonomiewünsche auf die »starken« Kinder. Wenn nun schlicht auf das Einhalten der Regeln 272

6.3 Hilfreiche Aspekte gruppenanalytisch orientierter Pädagogik

gepocht wird, bleiben die Gefühle aller Kinder unbewältigt. Sicherlich müssen in gefährlichen Situationen die Kinder zunächst geschützt werden. Doch vor allem müssen die Kinder die Gewissheit haben, dass auch ihre heftigen Affekte ausgehalten werden. Im szenischen Verstehen können die Gegenübertragungsgefühle, wie die Wut auf das Kleinsein, Ohnmacht oder auch Wünsche nach Halt, Anerkennung und Geborgenheit, spürbar werden. Und dann können im Sinne des Containings Ideen entwickelt werden, wie die Kinder ihre Affekte gemeinsam erleben und zunehmend symbolisieren können (vgl. Naumann 2010, S. 151). So entsteht für die Kindergruppe ein Übergangsraum, wie er auch im folgenden Beispiel zum Ausdruck kommt (Naumann 2011, S. 49f.): In einer Kitagruppe herrscht schon länger ein Konflikt zwischen Kindern, die sich als stark, wütend und übergeordnet zeigen, und eingeschüchterten, sich unterordnenden Kindern. Im Team kommt die Idee auf, gemeinsam mit den Kindern ein Spiel zum Thema Wut und Angst zu entwickeln. Daraufhin spannt eine Pädagogin mit der Kindergruppe im Außengelände zwischen Bäumen kreuz und quer Seile, sodass ein enges Geflecht entsteht  – die Gruppe einigt sich darauf, dass dies ein Spinnennetz sei. Die nun entwickelte Spielidee sieht vor, dass die Kinder im Spinnennetz wohnen und die Pädagogin ein wildes Tier sei, das die kleinen Spinnen angreift. Zwei Kinder beunruhigt die Vorstellung, im Netz attackiert zu werden, sie wollen lieber im Windschatten der Pädagogin bleiben. Jetzt kann das Spiel beginnen. Das wilde Tier kreist um das Netz, versucht immer wieder eine Spinne zu schnappen, wird aber von den tapferen Spinnen in die Flucht geschlagen. Die Pädagogin ist dabei darauf bedacht, den Alsob-Charakter des wilden Spiels zu schützen, in dem sie ihre Bewegungen, Geräusche und Worte spielerisch moduliert, manchmal auch ihren beiden Gefährten beruhigende oder aufmunternde Blicke zuwirft. In einem finalen Angriffsversuch verstrickt sich das wilde Tier dann im Netz und wird von der Spinnengruppe überwältigt. Diese feiert ihren Sieg, die beiden kleineren wilden Tiere verwandeln sich in Spinnen, und gemeinsam wird das größere wilde Tier gepflegt. Schließlich erhalten alle ihren Platz im gemeinsamen Netz. Ein wenig später folgt ein Gespräch über das Spiel. Hier wird von den Gefühlen während des Spiels erzählt, manche Kinder berichten von Konflikten aus ihrem Alltag, und auch die Pädagogin gibt eine Rückmeldung zu 273

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

ihrem Erleben, etwa zu ihrer Bewunderung der Stärke der Spinnen oder zu ihrer Begeisterung, dass alle, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, ihren Platz im Netz finden konnten. Sicherlich steht bei Kindern das Spiel im Dienste ihrer Selbstbildung im Vordergrund, während das spielerische Moment in Erwachsenengruppen eher hintergründig mitschwingt (Brandes 2009). Gleichwohl bietet gerade auch die Elterngruppe einen Übergangsraum, in dem die Eltern sich zeigen und gemeinsam neue Empfindungs- und Handlungsweisen entdecken können.

6.4

Die Arbeit mit der Elterngruppe

Die hier skizzierten Merkmale von Gruppen und ihrer Veränderung gelten natürlich auch für die Arbeit mit einer Elterngruppe in der Kita. Die Eltern lösen in der Gruppe mit ihren biografischen und lebensweltlichen Themen wechselseitig Resonanz aus. Dies können etwa Wünsche nach Gesehenwerden in den alltäglichen Bemühungen der Haus-, Erziehungs- und Erwerbsarbeit sein, Wünsche nach Entlastung und Vernetzung, aber auch Ängste vor Beschämung, Unsicherheit in Erziehungskonflikten oder Rivalität um die kompetenteste Elternschaft. Multiple Übertragungen finden statt, wenn etwa andere Gruppenmitglieder wie die erlebten oder ersehnten eigenen Eltern wahrgenommen werden, oder wenn Selbstanteile in anderen Eltern oder den Pädagog*innen wohlwollend wiedererkannt oder auch bekämpft werden. So kommt es zu vielfältigen Spiegelungsprozessen, die destruktive Entwicklungen bestätigen können, bestenfalls aber neue und förderliche Entwicklungswege eröffnen. Was folgt daraus für die Gestaltung des Elternabends, dem zentralen Ort für die Arbeit mit der Elterngruppe? 6.4.1 Der Elternabend

Voraussetzung gelingender Elternabende ist die Anerkennung der Heterogenität der Elterngruppe sowie die Vermeidung von Beschämungen durch pädagogische Belehrungen oder durch die Festlegung der Eltern auf ihre vermeintliche soziale, geschlechtliche oder kulturelle Zugehörigkeit. Des Weiteren sollten die Eltern an der Vorbereitung und Durchführung von 274

6.4 Die Arbeit mit der Elterngruppe

Elternabenden partizipieren, ihre Interessen und Themen schon in die Planung einbringen können. Auch muss der zeitliche Rahmen des Elternabends klar abgesteckt sein, zumal damit die Rücksicht auf die elterlichen Zeitressourcen deutlich wird. Zugleich sollte der Elternabend nicht vollständig durchgeplant sein, weil sonst entmündigende und regressive Prozesse, Rückzug oder Trotz etwa, in Gang gesetzt werden – rein organisatorische Themen können kurz gegen Ende des Elternabends abgehandelt werden, ergänzt um einen Infobrief oder den Verweis auf einen entsprechenden Aushang (Figdor 2006, S.  147f.). Auf diese Weise geht der Elternabend von den Geschichten und Bedürfnissen der Eltern sowie vom gemeinsamen Alltag in der Kita aus, die Eltern kommen ins Sprechen, Zuhören, Fühlen, Nachdenken und Lachen (Sikcan 2008, S. 195). Natürlich hat jede Elterngruppe ihre eigenen Besonderheiten. Dennoch tauchen in der Praxis immer wieder typische Herausforderungen auf, die ich an einigen Beispielen verdeutlichen möchte: ➣ Besonders die Veränderung der Elterngruppe, wenn Familien die Kita verlassen und andere Eltern dazu stoßen, muss gut begleitet werden. So bringen manche Eltern, die neu in die Gruppe kommen, Ängste vor der ungewissen Situation oder übersteigerte Erwartungen mit. Die Restgruppe hat ihrerseits den Abschied von den vormaligen Mitgliedern zu verarbeiten und kann den Neuen unter ungünstigen Umständen begegnen, als seien sie störende kleine Geschwister. In diesem Kontext ist es sinnvoll, der Gruppe einen guten Abschied von den scheidenden Eltern zu ermöglichen, mit der verbleibenden Gruppe einen freundlichen Empfang der neuen Mitglieder vorzubereiten und vor allem einen Raum zu bieten, der zum Mitsprechen einlädt und in dem die etwaigen Gefühle der Trauer, der Angst und der Neugier im Prozess des Abschieds und des Ankommens zum Ausdruck kommen können (Naumann 2011, S. 130). ➣ Eine weitere Bedingung für die Entwicklung einer affektfreundlichen Gruppenkultur ist das Ansprechen etwaiger Ängste der Eltern, sich einer Gruppe anderer Eltern und pädagogischer Fachkräfte zu präsentieren. Besonders Pädagog*innen werden häufig als mächtig wahrgenommen, kommen sie doch scheinbar mühelos mit einer Gruppe von 20 und mehr Kindern zurecht, während zu Hause mit dem eigenen Kind immer wieder anstrengende Konflikte aufflammen. Bleibt dieses Thema tabuisiert, werden die Eltern zum Schweigen gebracht oder aber sie verkehren ihre Scham in trotzige Wut. Demgegenüber 275

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita







276

können die Eltern durch Aufklärung darüber entlastet werden, dass die Eltern-Kind-Beziehung mit ihrer großen Nähe auch ebenso intensive wie normale Konflikte mit sich bringt, dass Eltern keinesfalls Angst haben müssen, die Liebe ihrer Kinder zu verlieren, wenn diese ihre Pädagog*innen mögen, und dass auch Pädagog*innen im Alltag der Kita mit Konflikten und Unsicherheiten zu tun haben. Erst wenn die Eltern spüren, dass ihre Themen und Fragen Ausgangspunkt der Elterngruppe sind, können sie auch die Unterstützung durch andere Eltern und durch die Fachlichkeit der Pädagog*innen annehmen (Figdor 2006, S. 144ff.). Mitunter breitet sich in der Elterngruppe Schweigen aus, vielleicht weil die Themen des Elternabends sich immer weiter von den Bedürfnissen der Eltern entfernen oder weil die Gruppe von der Angst, durch unbewältigte Affekte überflutet zu werden, regelrecht gelähmt ist. Hier besteht die Gefahr, dass die aufkeimende Scham der Pädagog*innen, das Gefühl den Eltern nicht zu genügen, durch immer weitere, zunehmend belehrende Vorträge bekämpft wird. Dagegen kann es hilfreich sein, den Eltern diese Scham zurückzumelden, damit sie wieder in Kontakt mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Themen kommen (Naumann 2011, S. 130). In anderen Situationen können in der Gruppe Eltern auftreten, die sich als Musterschüler*innen gerieren, die den Pädagog*innen nach dem Mund reden, sie über Gebühr vor anderen Eltern verteidigen und offenbar um Anerkennung ringen. In solchen Fällen droht die Spaltung der Gruppe in jene Eltern, die vermeintlich die Normen der Kita repräsentieren, und andere, die sich nun abweichend fühlen und ihre Unzufriedenheit nur mehr subtil zum Ausdruck bringen. Hilfreich ist dann, freundliche Differenz zu markieren und eine Haltung zu kommunizieren, die den Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Eltern, die Wahrnehmung mehr oder minder ähnlicher Sorgen und Bedürfnisse sowie die Zuversicht spürbar macht, sich gemeinsam in der Gruppe über Bedingungen eines gelingenden Alltags zu verständigen (ebd., S. 131). Nicht zuletzt kann ein aufbrausender Elternteil mit pädagogischen Forderungen aufwarten, etwa endlich schulische Kompetenzen zu trainieren oder deutliche Sanktionen bei Regelverstößen der Kinder auszusprechen. Dem Rest der Gruppe verschlägt es möglicherweise immer mehr die Sprache. Wenn die Pädagog*innen abwiegeln oder

6.4 Die Arbeit mit der Elterngruppe

aber mit der ganzen verfügbaren Fachlichkeit im Rivalitätskampf zurückschlagen, ist die Situation nur scheinbar überwunden. Stattdessen bietet es sich an, die Wucht der Einlassung humorvoll anzusprechen und ein Gespräch über kindliche Erziehung und Bildung vorzuschlagen. In einem solchen Gespräch können dann unterschiedliche Themen auftauchen: die Belastungen des Erziehungsalltags, Erinnerungen an die Erfahrungen mit den eigenen Eltern, etwaige Schuldgefühle, nicht genügend für die Kinder da sein zu können, zu streng oder zu nachlässig zu sein, Ängste vor dem schulischen Konkurrenzkampf etc. Die Pädagog*innen können dabei auch ihre Eindrücke vom Gespräch moderierend zurückmelden oder die Eltern durch Aufklärung über kindliche Entwicklungs- und Selbstbildungsprozesse entlasten (vgl. ebd.). Wenn diese etwaigen Herausforderungen nicht berücksichtigt werden, bleiben bedeutsame Gefühle des Gruppengeschehens unsagbar und letztlich wird die gemeinsame Entwicklung blockiert. Die Konsequenz ist dann, dass Elternabende als lästig oder gar beängstigend erscheinen, dass sie immer seltener stattfinden und von den Eltern nur noch widerwillig, aus bloßem Pflichtgefühl oder gar nicht mehr besucht werden. Demgegenüber besteht die Chance, Elternabende zu einem gelingenden und freudvollen Ereignis zu machen, gerade weil die Pädagog*innen auch mit irritierenden Gefühlen rechnen und auf die Entwicklungspotenziale der Gruppe vertrauen. Die wichtigste Aufgabe der Pädagog*innen dabei ist, wie bereits bemerkt, Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu fördern. In diesem Sinne wäre eine direktive Gruppenleitung eher hinderlich, vielmehr bieten sich Interventionen an, die, wie in den oben genannten Beispielen, die Gruppenaffekte berücksichtigen und die Eltern zum Fühlen und Sprechen einladen: ➣ der Gruppe behutsam, respektvoll oder auch humorvoll die in der Gegenübertragung wahrgenommenen Gefühle zurückmelden, um den Eltern die Integration dieser Gefühle zu erleichtern; ➣ die Eltern durch die Aufklärung über kindliche Entwicklungsthemen, alltägliche Erziehungskonflikte etc. von etwaigen Scham- und Schuldgefühlen entlasten, damit Empfindungs- und Denkräume freigegeben werden; ➣ Themen für den gemeinsamen Austausch in der Gruppe vorschlagen, die bislang nur mitschwingen oder sich als Rivalität, Beschämung etc. zeigen; 277

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita



oder auch die Eltern ermuntern, weniger die Beiträge Anderer zu kommentieren oder gar zu bewerten, sondern vor allem von sich selbst zu sprechen.

6.4.2 Jenseits des Elternabends

Der Elternabend ist natürlich nicht die einzige Form der Elternarbeit in der Kita, aber er ist gleichsam ihr Angelpunkt. Besonders wenn Elternabende durch eine zugewandte, affektfreundliche Atmosphäre gekennzeichnet sind, können den Eltern hier weitere Möglichkeiten der Elternarbeit eröffnet werden: ➣ Über die Teilhabe am Elternabend hinaus, können die Eltern mit ihren Kochkünsten, ihren künstlerischen oder handwerklichen Fähigkeiten an den Belangen der Kita partizipieren. Sie machen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und Kooperation, erhalten soziale Anerkennung und erleben den Stolz ihrer Kinder (Naumann 2011, S. 129).5 ➣ An Elternabenden können im Dialog auch Themen für Fachvorträge diskutiert werden. Solche Vorträge entlasten die Eltern aufgrund 5 An dieser Stelle möchte ich wiederum auf den Begriff der Familienkultur hinweisen, der auch vor den Gefahren der Kulturalisierung bewahren kann. Dazu ein Beispiel von Petra Wagner zu »Kochkünsten«: »In einer Kita will das Team gerne den Kontakt zu den Familien verbessern. Es kommt die Idee auf, Eltern zu bitten, Rezepte ihrer ›landestypischen Speisen‹ mitzubringen. Diese Idee wird kritisch hinterfragt und verworfen. Alle Familien sind hier, in diesem Land. Wenn wir von ›landestypischen Speisen‹ sprechen, fühlen sich manche Familien nicht angesprochen. Wir wollen aber etwas machen, zu dem alle beitragen können. Uns interessieren die Familien, alle Familien, und ihr Alltag heute. Und weniger, was in den Herkunftsländern von manchen üblich war! Das Team beherzigt ein Prinzip im Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung zur Thematisierung von Unterscheiden, wonach der Ausgangspunkt eine Gemeinsamkeit ist, die alle Menschen teilen. Von hier aus werden die unterschiedlichen Varianten beschrieben, in denen die Gemeinsamkeit realisiert wird. Das Gemeinsame: Sicherlich hat jede Familie eine Speise, die besonders gerne gegessen wird. Die Fachkräfte bitten die Familien um das Rezept ihrer Familien-Lieblings-Speise. Alle sind angesprochen, alle können beitragen. Es entsteht ein Rezeptbuch, das hoch in der Gunst der Kinder steht. Hier ist etwas von ihrer Familie sichtbar, Familienmitglieder haben das Rezept illustriert oder ein Foto eingeklebt, sie vergleichen ihr Rezept mit dem der Freund*innen, finden Gemeinsamkeiten (vier Spaghetti-Rezepte!) und Unterschiede (Fleisch/kein Fleisch). Sie haben über das Rezeptbuch eine Verbindung zwischen sich, ihrer Familie und der Kita« (2020, S. 35).

278

6.5 Was brauchen Pädagog*innen?



ihres theoretischen Zugangs zu alltagspraktischen Fragen von den affektiven Verwirrungen in unmittelbaren Beziehungen und mildern damit etwaige Ängste. Ihre lebendige Gestaltung lädt die Eltern zum Mitschwingen ein, und der gemeinsame Austausch im Anschluss macht erfahrbar, dass alle Eltern mit mehr oder minder ähnlichen Fragen befasst sind (ebd., S. 132f.). Zudem sollte die Kita Zeiten und Räume bereitstellen, in denen sich die Eltern selbstbestimmt vernetzen können. Die Kita kann damit gerade heute, angesichts der Notwendigkeit für Familien, soziale Netze selbst zu konstituieren, zur Herstellung einer unterstützenden Matrix beitragen (Ahlheim 2009, S. 31f.). Hier sind die Pädagog*innen aufgefordert, an Elternabenden auf die Möglichkeit der Vernetzung in Kitaräumen hinzuweisen (Naumann 2011, S. 131f.).

Nicht zuletzt muss betont werden, dass der Elternabend in der Regel nicht der bevorzugte Rahmen ist, um massive Erziehungsprobleme oder manifeste psychische Schwierigkeiten einzelner Eltern zu besprechen. In solchen Fällen kann den Eltern ein Extratermin zur Beratung angeboten werden, bei dem den Eltern gegebenenfalls auch der Kontakt zu Erziehungsberatungsstellen, Sozialen Diensten oder Psychotherapeut*innen geebnet werden muss. Ein solcher Termin aber wird sicherlich eher angenommen, wenn die Eltern schon den Elternabend in einer angstfreien, empathischen und dialogischen Stimmung erleben (vgl. ebd., S. 140ff.).

6.5

Was brauchen Pädagog*innen?

6.5.1 Konzeptionelle Verankerung

Die Elternarbeit und besonders die Elternabende sollten unbedingt konzeptionell verankert sein. Dazu gehört einerseits die organisatorische Seite, etwa Zeitplanung inklusive Vor- und Nachbereitung, und andererseits die fachliche Seite, etwa Positionen zum Verständnis heutiger Elternschaft, zur Bedeutung der Elterngruppe und zu möglichen Kooperationspartnern wie Beratungsstellen, Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen. Für die Pädagog*innen ermöglicht ein solches Konzept Orientierung und Handlungssicherheit. Für die Eltern macht es die Chancen und Angebote der Elternarbeit transparent (ebd., S. 149). 279

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita

6.5.2 Weiterbildung

Angesichts der vielfältigen Bedürfnisse und Konflikte in der Elternschaft und ihrer sich rasant wandelnden gesellschaftlichen Kontexte ist Weiterbildung ein unabdingbarer Bestandteil der Elternarbeit. Die Inhalte der Weiterbildung hängen natürlich von den Interessen der Pädagog*innen einer konkreten Kita ab. Im Sinne des hier behandelten Themas liegen Fortbildungen zu psychosozialen Belastungen von Familien, zu unterschiedlichen Familienformen und zu Gruppendynamik in der Elternarbeit nahe. Zudem ist Weiterbildung in szenischem Verstehen zu empfehlen, damit auch das Affektive sowie die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in die Elternarbeit integriert werden kann (ebd.). 6.5.3 Supervision

Über Teambesprechungen hinaus brauchen Pädagog*innen regelmäßige Supervision. Diese dient gleichsam einer institutionellen Triangulierung durch die Einführung eines »exzentrischen Standpunkts«, der erweiterte Perspektiven auf Fragen der Elternarbeit eröffnet (vgl. Trescher 2001, S. 193ff.). In der Supervisionsgruppe bilden sich die verschiedenen Affekte und Dynamiken der Fälle szenisch ab, die die Pädagog*innen aus der Elterngruppe mitbringen. Supervisor*innen fungieren dabei als reflexive, aber unabhängige Instanz, die die Themen, Affekte und Dynamiken auf eine Weise hält und contained, die den subjektiven, intersubjektiven und institutionellen Sinn der Szenen zu rekonstruieren erlaubt (Barthel-Rösing/ Haubl 2017, S. 120). Dieses erweiterte Verstehen können die Pädagog*innen dann wiederum in die Gestaltung der Elternarbeit einbringen. 6.5.4 Selbstreflexion

Nicht zuletzt benötigen die Pädagog*innen genügend Räume zur Selbstreflexion. Denn besonders im vielfältigen Getümmel der Elterngruppe begegnen ihnen in Gestalt der realen Eltern auch die verinnerlichten eigenen Eltern, mit denen mehr oder minder heftige Konflikte offen sein können. Sicherlich haben einige einen pädagogischen Beruf ergriffen, weil sie ihren Reichtum guter Erfahrungen weitergeben möchten. Doch schon 280

6.5 Was brauchen Pädagog*innen?

hier können Idealisierungen der eigenen Kindheit und Eltern mitschwingen, die dazu dienen, erlebte Kränkungen und Verwerfungen abzuwehren. Andere haben den Beruf gewählt, um erlittenes Leid zu heilen, um sich von den eigenen Eltern zu unterscheiden und anderen Kindern solch leidvolle Erfahrungen zu ersparen. Wenn diese oder ähnliche Motive unverstanden bleiben, löst der Kontakt mit manchen realen Eltern Reaktionen aus, die diesen Eltern nicht gerecht werden. Je nach Disposition der Pädagog*innen können einige zur vorschnellen Idealisierung von Eltern neigen, die sie als machtvoll und beeindruckend wahrnehmen; andere begegnen Eltern von oben herab mit einem gut gemeinten Sendungsbewusstsein; und wieder andere reagieren auf bestimmte Eltern mit bodenlosen Ohnmachtsgefühlen, die dann durch Abwertung und Wut den Eltern gegenüber kompensiert werden müssen. Wenn es aber gelingt, die guten und schlechten Erfahrungen der eigenen Geschichte zu integrieren, erwächst daraus eine besondere Ressource für die Elternarbeit, nämlich die Fähigkeit, empathisch auf die realen Eltern einzugehen (Naumann 2011, S. 151). Abschließend lässt sich festhalten, dass auch Pädagog*innen von ihrer Kita genügend gut gehalten werden müssen. Dann kann eine Elternarbeit gedeihen, die ihre Potenziale und ihre Grenzen kennt, die Pädagog*innen gerade deshalb als meist freudvoll erleben und die so ihrem Auftrag gerecht wird, der Elterngruppe einen Übergangsraum für ihre Bedürfnisse, Konflikte und Kreativität im Sinne eines gelingenderen Alltags zur Verfügung zu stellen. Literatur Ahlheim, Rose (2009): Elternschaft  – Entwicklungsprozess und Konfliktpotential. In: Haubl, Rolf; Dammasch, Frank & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 15–35. Barthel-Rösing, Marita & Haubl, Rolf (2017): Was ist gruppenanalytische Supervision? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 04/2017, 118–137. Behr, Harold & Hearst, Liesel (2009): Gruppenanalytische Psychotherapie. Menschen begegnen sich. Eschborn bei Frankfurt am Main, Verlag Dietmar Klotz. Brandes, Holger (1999): Individuum und Gemeinschaft in der Sozialen Gruppenarbeit: der gruppenanalytische Ansatz. In: Effinger, Herbert (Hrsg.): Soziale Arbeit und Gemeinschaft. Freiburg, Lambertus, S. 113–140. Brandes, Holger (2009): Die Kindergruppe als Übergangsraum. Psychosozial 115, 49–60. Decker, Oliver; Schuler, Julia; Yendell, Alexander; Schließler, Clara & Brähler, Elmar (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feind-

281

6 Erziehungspartnerschaft in der Kita lichkeit. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 179–209. Dornes, Martin (2007): Frühe Kindheit: Entwicklungslinien und Perspektiven. Frühe Kindheit 06/2007, S. 15–21. Figdor, Helmuth (2006): Praxis der psychoanalytischen Pädagogik I. Gießen, Psychosozial-Verlag. Foulkes, S. H. (1974): Gruppenanalytische Psychotherapie. München, Kindler. Gerspach, Manfred (2004): Die Idee vom Kind und seine Behinderung. In: Mainkrokodile gGmbH (Hrsg.): Die gespiegelte Behinderung. Gelungene Integration in Krabbelstube und Kindergarten. Lüneburg, Dagmar Dreves Verlag, S. 9–100. Lorenzer, Alfred (1973): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Naumann, Thilo (2010): Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung. Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo (2011): Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte. Psychoanalytisch-pädagogische Elternarbeit in der Kita. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Pedrina, Fernanda (2008): Konflikte der frühen Elternschaft – Verarbeitungsprozesse in einer Mutter-Säugling-Gruppe. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.): Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 168–192. Perner, Achim (2010): Zur Bindung von Angst und Aggression im adoleszenten Ablösungsprozess. In: Ahrbeck, Bernd (Hrsg.): Von allen guten Geistern verlassen? Aggressivität in der Adoleszenz. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 213–236. Potthoff, Peter (2008): Mentalisierung und gruppenanalytische Behandlungstechnik. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.): Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 86–116. Sikcan, Serap (2008): Zusammenarbeit mit Eltern: Respekt für jedes Kind – Respekt für jede Familie. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg u.a, Herder, S. 184–202. Stern, Daniel N. (1998): Die Mutterschaftskonstellation. Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart, Klett-Cotta. Trescher, Hans-Georg (2001): Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 167–201. Wagner, Petra (2020): Für alle heißt für alle – ohne Diskriminierung! Inklusion in der Kitapraxis mit dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Frühe Kindheit 4/2020, 30–37. Winnicott, Donald W. (2006): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, Klett-Cotta.

282

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik Checkliste Entwicklungspsychologie

Zum Abschluss des Schwerpunkts »Psychoanalytische Pädagogik« finden Sie, liebe Leser*innen, hier im Anhang, wie versprochen, die Checkliste Entwicklungspsychologie. Diese erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, kann auch die intensive Beschäftigung mit den angerissenen Theorien und Begriffen nicht ersetzen, aber sie dient als Übersicht und Gedankenstütze zu wichtigen Aspekten psychoanalytischer Entwicklungspsychologie: ➣ Grundidee intersubjektiver psychoanalytischer Entwicklungspsychologie ➣ Bindungstheorie ➣ Theorie der Interaktionsformen, Affektregulierung und Mentalisierung ➣ Entwicklung von 0 bis 6 Jahren ➣ Psychische Probleme und Abwehr

Grundidee intersubjektiver psychoanalytischer Entwicklungspsychologie Die Grundidee intersubjektiver psychoanalytischer Entwicklungspsychologie ist, dass sich die psychische Entwicklung und Strukturbildung durch die Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen vollzieht. Dies zeigen schon die Wegbereiter des intersubjektiven Ansatzes: ➣ In der Bindungstheorie (Bowlby, Ainsworth) wird davon ausgegangen, dass in den inneren Arbeitsmodellen von Bindung sowohl das Selbst (mit seinen mehr oder minder ausgeprägten Fähigkeiten zur Exploration sowie dazu, die Bindungspersonen zu feinfühligen Antworten zu bewegen) als auch die Bindungspersonen (mit ihrer mehr oder minder ausgeprägten Feinfühligkeit) repräsentiert sind. ➣ Die Objektbeziehungstheorie (Klein, Kernberg, Winnicott) konzeptualisiert die Entstehung und Differenzierung von Selbst- und Objektrepräsentanzen. 283

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik







Daniel Stern spricht von Generalisierten Interaktionsrepräsentanzen (RIG  – Representation of Interactions which have been Generalized), die sich über die Phasen entwickeln: Auftauchendes Selbst (0–2/3 Monate), Kern-Selbst (ab 3–7 Monate), Subjektives Selbst (ab 7–9 Monate), Verbales Selbst (ab 15–18 Monate), Erzählendes Selbst (ab 3–4 Jahre). Alfred Lorenzer begreift die psychische Entwicklung besonders überzeugend als Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen, durch die organismische, sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen entstehen. Hans Bosse ergänzt diesen Ansatz aus gruppenanalytischer Perspektive: Als Gruppenwesen internalisieren die Menschen »nicht nur die Gruppe, sondern auch sich selbst als ›Teil der Gruppe‹« (Bosse). Die Interaktionsformen lassen sich demnach als Gruppenrepräsentanzen begreifen. Sie beinhalten zwei miteinander verknüpfte Pole, nämlich einerseits das Erleben des »Wir-im-Ich« und andererseits das Erleben des »Ich-im-Wir« (Bosse). Aus dieser psychischen Repräsentanz der Gruppe folgt, dass die gesamte psychische Struktur ein inneres Interaktionsnetzwerk bildet, in dem auch das »Unbewusste wie eine Gruppe strukturiert« (Kaes) ist.

Bindungstheorie (Bowlby, Ainsworth, Main, Brisch) Zentrale Erkenntnisse und Begriffe: ➣ Bindung als angeborenes Streben nach Sicherheit bei Ängstigung – Saugen, Schreien, Weinen, Lächeln, Anklammern, Nachfolgen ➣ Bindungsperson als »Sicherer Hafen« ➣ Bindung und Exploration – beide Systeme können nicht gleichzeitig aktiviert sein ➣ Feinfühligkeit – promptes, angemessenes und unverzerrtes Antworten der Bindungsperson auf die Signale des Kindes ➣ Im Zuge der Bindungsentwicklung entsteht ein inneres Arbeitsmodell von Bindung – repräsentiert das Selbst sowie die Bindungsperson ➣ Bindung zu mehreren Bindungspersonen ist möglich Bindungstypen: ➣ Sichere Bindung (B-Typ/60–70 %) 284

Bindungstheorie (Bowlby, Ainsworth, Main, Brisch)

➣ ➣ ➣

Unsicher-vermeidende Bindung (A-Typ/10–15 %) Unsicher-ambivalente Bindung (C-Typ/10–15 %) Desorganisierte Bindung (D-Typ/5–10 %)

Bindungsphasen: ➣ Vorphase: bis ca. 6 Wochen ➣ Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat ➣ Herausbildung von Bindungstypen: 7./8. bis 24. Monat ➣ Zielkorrigierte Partnerschaft/Phase reziproker Beziehungen: ab 2 bis 3 Jahren Bindungsstörungen nach ICD-10: ➣ Reaktive Bindungsstörung (mit Hemmung) – F94.1 ➣ Bindungsstörung mit Enthemmung – F94.2 ➣ Diagnose erst ab dem Alter von 8 Monaten (Achtmonatsangst), wenn Störung länger als 6 Monate andauert und in verschiedenen Systemen auftritt Bindungsstörungen nach Karl-Heinz Brisch: ➣ Ohne Bindungsverhalten ➣ Extrem klammernde Kinder ➣ Kinder mit erhöhtem Unfallrisiko ➣ Bindung in Aggression verkleidet ➣ Rollenumkehr Bindungstheoretisch orientierte Messverfahren, Diagnoseverfahren, Präventionsansätze: ➣ Fremde Situations Test (FST) ➣ Attachment Story Completion Task (ASCT), deutsche Adaption durch Gabriele Gloger Tippelt: Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 5- bis 8-jähriger Kinder (GEV-B) ➣ Manchester Child Attachment Story Task (MCAST) ➣ Adult Attachment Interview (AAI) ➣ Babywatching to reduce Anxiety and Aggression and promote Sensitivity and Empathy (B. A. S.E.) ➣ FAUSTLOS – Gewaltprävention in Kita und Schule ➣ Sichere Ausbildung für Eltern (SAFE) ➣ Steps Toward Effective Enjoyable Parenting (STEEP) 285

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik

Theorie der Interaktionsformen (Lorenzer), Affektregulierung und Mentalisierung (Fonagy) Interaktionsformen: ➣ Interaktionsformen sind psychische Repräsentanzen der Beziehungserfahrungen mit bedeutsamen Bezugspersonen – beinhalten narzisstische und libidinöse (Zepf ), bzw. selbst- und objektbezogene Tendenzen (Mentzos). ➣ Interaktionsformen bilden sich in Abhängigkeit von den kulturellen, geschlechtlichen und sozialen Sozialisationserfahrungen der Bezugspersonen und im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse. ➣ Im Wechselspiel von Interaktionen, Bildung von Interaktionsformen als Bedingung erweiterter Interaktion und deren neuerlicher Verinnerlichung vollzieht sich psychische Entwicklung. Vorgeburtlich und in den ersten Monaten: ➣ Leibsymbolische (organismische) Interaktionsformen – prozedurales Unbewusstes (Dornes) im somatopsychischen Modus ➣ Primäre Affekte: Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel  – als Ausdruck von Bedürfnissen und Beziehungssignal ➣ Markiertes Spiegeln der Affekte durch die Bezugspersonen – modulierte Antwort auf den kindlichen Affektausdruck ➣ Referenzielle Entkopplung und Verankerung – das Kind erkennt sich in der Antwort der Bezugsperson Zweite Hälfte des ersten Lebensjahrs: ➣ Sinnlich-symbolische Interaktionsformen – symbolisch Darstellbares (Dornes) ➣ Teleologischer (zielgerichteter) Modus ➣ Sinnlich-symbolische Interaktionsformen verbinden »die individuelle Erfahrung mit dem kollektiv Verbindlichen«, sie bilden die »Schaltstelle der Persönlichkeit« (Brandes) Im zweiten Lebensjahr: ➣ Sprachsymbolische Interaktionsformen  – deklaratives Wissen (Dornes) ➣ Doppelregistrierung von Erlebnisfiguren (affektiv besetzten Szenen der Lebenspraxis) und Sprachfiguren 286

Entwicklung von 0 bis 6 Jahren (Freud, Erikson, Winnicott, Mahler u. a.)

➣ ➣ ➣ ➣

Strukturelle Affekte: Neid, Verlegenheit, Empathie, Scham, Stolz, Schuld – stärker soziokulturell gebunden als die primären Affekte Äquivalenzmodus – inneres und äußeres werden als äquivalent erlebt oder Als-ob-Modus – spielerisches Erproben des Verhältnisses von Fantasie und Realität Einführung in das historisch-gesellschaftlich gewachsene, normensetzende Sprachsystem Sprachsymbolische Interaktionsformen ermöglichen das emotionale und kognitive Durchspielen von Probehandlungen, um in der äußeren Realität befriedigende Interaktionen anzustoßen

Ab ca. vier Jahren: ➣ Mentalisierung (Fonagy) als Fähigkeit, Affekte als Emotionen wahrzunehmen und mitzuteilen, sich in die mentalen Zustände anderer Menschen einzufühlen und das soziale Handeln dementsprechend zu gestalten ➣ In der Mentalisierung greifen der Ernst des Äquivalenzmodus und das Spielerische des Als-ob-Modus ineinander zur »Reflexion über sich selbst und den Anderen als getrennte Personen mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Absichten« (von Lüpke)

Entwicklung von 0 bis 6 Jahren (Freud, Erikson, Winnicott, Mahler u. a.) Entwicklungsphasen sind keine Norm – vielfältige individuelle Verläufe möglich. Das erste Lebensjahr: ➣ Orale Phase (Freud) – Mund als erogene Zone, die Welt wird über den Mund entdeckt ➣ »Ich bin, was ich bekomme«, »Urvertrauen vs. Urmisstrauen« (Erikson) ➣ Feinfühligkeit und markiertes Spiegeln zur Affektregulierung – Entwicklung im »Tanz« (Stern) zwischen Kind und primärer Bezugsperson ➣ Erste Differenzierung zwischen Selbst und Objekt – Beispiel »Objektpermanenz« (Piaget) und Achtmonatsangst 287

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik



»Übergangsobjekt« (Winnicott)  – selbst gewähltes Symbol für primäre Bezugsperson; Entwicklung von der gelungenen Illusion, befriedigende Erfahrungen mit der Bezugsperson selbst erzeugen zu können, zur gelungenen Desillusionierung

Das zweite und dritte Lebensjahr: ➣ Anale Phase (Freud) – der Anus als erogene Zone, Thema des Festhaltens und Loslassens, polymorph-perverse Sexualität ➣ »Ich bin, was ich will«, »Autonomie vs. Scham und Zweifel« (Erikson) ➣ Von der Übungsphase mit ihrem narzisstischen Rausch zur Wiederannäherungsphase (Mahler et al.)  – Kind wird seiner Abhängigkeit gewahr, Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt ➣ Höhepunkt ist die Wiederannäherungskrise (Mahler et al.), umgangssprachlich Trotzphase – das Kind versucht seine primären Bezugspersonen zu »zerstören« (Winnicott), um seine Autonomie, bzw. sein Größenselbst (Kohut) zu retten ➣ Bedeutsam zur Lösung des Konflikts: frühe Triangulierung (in triadischem Beziehungsnetz bedeutet Trennung nicht Alleinsein) und Spielen im Als-ob-Modus des Übergangsraums (Winncott): genügend angstfrei können auch affektiv bedrohliche Themen in Szene gesetzt und durchgespielt werden – wachsende Kreativität und Symbolisierungsfähigkeit ➣ Differenzierung der Selbst- und Objektrepräsentanzen in der »emotionalen Objektkonstanz« (Mahler et al.): das Selbst und die Objekte können mit ihren »guten« und »schlechten« Anteilen integriert werden Das vierte bis sechste Lebensjahr: ➣ Ödipale, bzw. frühe genitale Phase (Freud) – Genitalien als erogene Zone ➣ Wahrnehmung der elterlichen Beziehung als exklusiv und sexualisiert – Kind versucht, den kränkenden Ausschluss durch ödipales Rivalisieren ungeschehen machen ➣ Positiver und negativer Ödipuskomplex – bzw. mit gleich- und gegengeschlechtlicher Ausprägung (Quindeau) vor dem Hintergrund der ursprünglichen Bisexualität (Freud) ➣ Lösung unter heteronormativen Bedingungen zumeist: gleichgeschlechtliche Identifizierung 288

Psychische Probleme und Abwehr (Fonagy, Lorenzer, Mentzos)

➣ ➣

Verzeitlichung des Begehrens und Entwurf des Ichs auf die Zukunft hin (Perner), Akzeptanz der Generationengrenze sowie »Leben im Dreieck« und Verortung in sozialen Netzwerken (Quindeau) »Ich bin, was ich mir vorstellen kann«, »Initiative vs. Schuldgefühl« (Erikson)

Psychische Probleme und Abwehr (Fonagy, Lorenzer, Mentzos) Scheiternde Affektregulierung (Fonagy): ➣ Unmarkiertes Spiegeln – Beispiel: Wenn die Angst des Kindes bei der Bezugsperson eigene Panik auslöst, hält das Kind die Panik für die eigene und verinnerlicht sie als Grundlage eines falschen Selbst. ➣ Vermeidung des Spiegelns – Beispiel: Wenn die kindlichen Affekte nur als Hunger interpretiert werden, bleiben wesentliche Affekte ungespiegelt und das Kind verliert den Kontakt zu seinen Bedürfnissen. ➣ Markiertes, inkongruentes Spiegeln – Beispiel: Wenn die Bezugsperson zwar ausgiebig, aber unzutreffend markiert, kann das Kind kaum ein Gefühl für die Echtheit seiner Affekte entwickeln. Beschädigte Interaktionsformen (Lorenzer): ➣ Erlebnisfiguren als Erlebnisschablonen – Beispiel: Kinder, die bei Bedürftigkeit immer mit Essen abgespeist wurden, versuchen ihr affektives Gleichgewicht mit Nahrungszufuhr zu regulieren. ➣ Das »Noch-nicht-Bewusste« ist einsozialisiert, noch nicht versprachlicht, aber potenziell bewusstseinsfähig – Beispiel: Bindungswünsche in einer strikten männlichen Sozialisation. ➣ Das Nicht-mehr-Bewusste war versprachlicht und ist durch Konflikte verdrängt. Sprachsymbolische Interaktionsformen zerfallen in Sprachschablone und Verhaltensklischee – Beispiel: Der »kleine Hans« (Freud) verschiebt seine Angst vor dem Vater auf Pferde. Das Wort »Pferd« wird zur Sprachschablone und das Weglaufen vor Pferden zum Verhaltensklischee. ➣ Auf gesellschaftlicher Ebene erzeugt die »gruppen- und kollektivspezifische Lebenspraxis« ein »gruppen- und kollektivspezifisches Bewusstsein« – als Ideologie verweist es unbotmäßige, verpönte und affektiv besetzte Themen ins Unbewusste. 289

Anhang zur Psychoanalytischen Pädagogik

Abwehrmodi nach Mentzos: ➣ Affekte, die so ängstigend sind, dass sie das psychische Überleben bedrohen, müssen unbewusst bleiben, bzw. unbewusst gemacht werden – sie müssen abgewehrt werden. ➣ »Die Theorie der Abwehrmechanismen ist eine der fruchtbarsten und am meisten, auch außerhalb der Psychoanalyse, akzeptierten Teile der psychoanalytischen Theorie« (Mentzos). ➣ Abwehr und daraus entstehende Symptome, bzw. Dysfunktionalität haben immer eine Funktion, sie sind auch als zwar leidvolle, aber notwendige kreative Überlebensversuche in der Bipolarität zwischen selbst- und objektbezogenen Tendenzen zu verstehen. Abwehr nach Reifegraden: ➣ Psychotische Abwehr – Beispiel: psychotische Projektion im Verfolgungswahn ➣ Narzisstische Abwehr – Beispiel: narzisstische Projektion in der Idealisierung oder Entwertung ➣ Neurotische Abwehr – Beispiele: Rationalisierung, Intellektualisierung, Affektisolierung, Affektualisierung, Verschiebung, Reaktionsbildung ➣ Humor und Coping als reife Bewältigungsmuster Quer zur Reifelogik: ➣ Psychosomatische Abwehr  – Homologie zwischen psychischem Konflikt und körperlicher Symptomatik, bspw. unbewusste Versorgungswünsche und Magenulcus ➣ Psychosoziale Abwehr – Interpersonale Abwehr, bspw. wechselseitige projektive Identifizierung in einer kollusiven Paarbeziehung/Institutionalisierte Abwehr, wenn eine Institution bspw. zur Angstabwehr verhilft, wird zugleich ihr Überleben durch die Bindung gesichert

290

III Gruppenanalyse

7

Gruppenanalytische Pädagogik Zur Anwendung der Gruppenanalyse in pädagogischer Praxis, Supervision und Hochschulbildung »The particles, the fragments that we are, collect and possess meaning in the fact of the Group.« Saint-Exupéry (1986, S. 115)

7.1

Einführung

Der Mensch ist ein Gruppenwesen. Jeder Mensch verinnerlicht seine mehr oder minder geglückten Gruppenerfahrungen in Familie, Kita, Schule, Hochschule oder Arbeitsleben und setzt diese ebenso bewusst wie unbewusst verankerten Erfahrungen in neuen Gruppen unweigerlich wieder in Szene. Gruppen können einerseits Angst machen, weil Gruppenprozesse unvorhersehbar sind und die Befürchtung narzisstischer Kränkungen auslösen. Andererseits wecken Gruppen die Hoffnung auf korrigierende oder nachholende Begegnungen, die glücklichere Empfindungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Dieses Wechselspiel von Angst und Hoffnung gewinnt unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Tendenzen eine besondere Intensität. Einerseits gehen Individualisierung, Ökonomisierung und Optimierungsdruck ebenso wie soziale Ungleichheit, Sexismen und Rassismen mit diversen Ängsten einher, etwa Versagensängsten, Ängsten vor Beschämung oder vor Ausgrenzung. Andererseits sind Hoffnungen auf Gesehen- und Gehaltenwerden, nach Angstfreiheit und Anerkennung virulent. All diese Gefühle müssen im Rahmen einer konkreten Lebensgeschichte und eines gelebten Alltags abgewehrt werden, wenn sie das psychische Überleben bedrohen, zugleich werden sie in Gruppen unweigerlich aktualisiert. Gruppen werden demnach als Bedrohung eines notwendigen Abwehrarrangements erlebt, zugleich aber bewahren sie die Möglichkeit einer besseren Integration bislang abgespaltener Wünsche und Ängste. Gruppen sind heute wichtiger denn je. Pädagogische Prozesse finden nun nicht nur innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse statt, sondern vor allem in Gruppen. Zweifel293

7 Gruppenanalytische Pädagogik

los eröffnet die Gruppe, gerade in unseren unsicheren Zeiten, die Chance, genügend Schutz und Bindung zu erfahren, um so erst Entwicklungs- und Bildungsexperimente wagen zu können. Aber wie kann dies geschehen, welche praktischen und theoretischen Ansätze erlauben es, den Zusammenhang von Subjekt, Gruppe und Gesellschaft auch in seiner affektiven Tiefe zu verstehen und daraus praktische Orientierung zu schaffen? Hier bietet die Verknüpfung von Gruppenanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik vielversprechende Potenziale. In der frühen Psychoanalytischen Pädagogik wurde das Thema Gruppe eher randständig behandelt. Bereits 1936 hat Hans Zulliger den wunderbaren Aufsatz Über eine Lücke in der psychoanalytischen Pädagogik publiziert – er meinte dabei die fehlende Beachtung der Gruppe (Zulliger 1936). Hans-Georg Trescher und Christian Büttner konstatierten dann 1987, dass die von Zulliger benannte Lücke des fehlenden Gruppenverständnisses in der Psychoanalytischen Pädagogik noch immer bestehe (Büttner/Trescher 1987, S. 7). Das sukzessive Füllen dieser Lücke wurde erst möglich, als sowohl die Psychoanalytische Pädagogik als auch die Gruppenanalyse, die beide durch die Verheerungen der Naziherrschaft in diverse Winde verstreut waren, in den 1970er und 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum wiederaufgenommen und weiterentwickelt wurden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es in der Folgezeit besonders psychoanalytische Pädagog*innen mit einer gruppenanalytischen Ausbildung waren, die die Potenziale der Gruppenanalyse für die Pädagogik weiter ausloteten. Am Beispiel der regen, ebenso praxisorientierten wie theoretisch anspruchsvollen Publikationstätigkeit zum Thema Gruppenanalyse und Psychoanalytische Pädagogik lässt sich die Fruchtbarkeit dieser Verbindung verdeutlichen. So publizierten Christian Büttner und Hans-Georg Trescher Chancen der Gruppe. Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag (1987), Urte Finger-Trescher Grundlagen der Arbeit mit Gruppen – Methodisches Arbeiten im Netzwerk der Gruppe (2001/1993), Christian Büttner Gruppenarbeit. Eine psychoanalytisch-pädagogische Einführung (1997/1995) und Holger Brandes Individuum und Gemeinschaft in der sozialen Gruppenarbeit: der gruppenanalytische Ansatz (1999). Auch in der jüngeren Vergangenheit sind vielfältige Texte zur Verbindung von Gruppenanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik entstanden, etwa von Holger Brandes Selbstbildung in Kindergruppen. Die Konstruktion sozialer Beziehungen (2008) oder Die Kindergruppe als Lernort – den selbstorganisierten Gruppen Raum 294

7.1 Einführung

geben (2012), und von Urte Finger-Trescher Kinder – Gruppe – Leitung. Die horizontale und vertikale Ebene des Gruppenprozesses (2012a) sowie Psychoanalytisch-pädagogisches Können und die Funktion gruppenanalytischer Selbsterfahrung (2012b). Nicht zuletzt sollen hier auch die Arbeiten von Annelinde Eggert-Schmid Noerr genannt werden, etwa Professionalisierung von Pädagogik und Sozialer Arbeit im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik (2012), gemeinsam mit Heinz Krebs, und Das Kind als Außenseiter (2012). Mein Projekt, diese vorhandenen Fäden zum Verhältnis von Gruppenanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik im Sinne einer »Gruppenanalytischen Pädagogik« zu verknüpfen, ist vor dem skizzierten Hintergrund eingebettet in wissenschaftliche Traditionslinien, aktuelle fachliche Entwicklungen und praxisorientierte Überzeugungen.1 Die Gruppenanalyse widmet der Tiefendimension von Subjektivität und Sozialbeziehungen besondere Aufmerksamkeit und ist damit zur kreativen Begleitung von Entwicklungs- und Bildungsprozessen außerordentlich gut geeignet. S. H. Foulkes hat die Gruppenanalyse in intensiver Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, der Neurologie Kurt Goldsteins, der Figurationssoziologie Norbert Elias’ und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickelt (dazu Rothe 1991). Mit diesem interdisziplinären Blick wendet er sich explizit gegen die Dichotomisierung von Biologie und Kultur, Körper und Psyche sowie von Individuum und Gruppe (Foulkes 1974, S. 9). Foulkes versteht die Gruppe als Netzwerk, in dem die Einzelnen Knotenpunkte bilden (ebd., S.  33). Der gruppenanalytische Zugang ermöglicht dabei die Wahrnehmung der aktuellen Interaktionen, der Wiederbelebung biografischer Themen sowie der Beziehungen außerhalb der Gruppe (vgl. Hutz 2004, S. 6). Diese Definition verdeutlicht, dass Gruppenanalyse auch in außertherapeutischen Handlungsfeldern zur Anwendung kommen kann. Zwar ist sie vor allem im Kontext psychotherapeutischer Herausforderungen entstanden, doch schon Foulkes hat betont, dass »gruppenanalytische Beobachtungen und Konzepte […] natürlich in jeder beliebigen Gruppe von Bedeutung [sind]« (Foulkes 1974, S. 37), und dass die Gruppenanalyse ihre emanzipatorische Relevanz besonders auch in pädagogischen Kontexten entfalten kann (vgl. ebd., S. 8). Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst wichtige Positionen der jüngeren, gruppenanalytisch relevanten Theoriebildung rekapituliert, um auf dieser Grundlage schließlich die 1 Die Entwicklung einer Gruppenanalytischen Pädagogik habe ich bereits in zahlreichen Veröffentlichungen dargelegt (Naumann 2012; 2014a; 2014b; 2016; 2020a; 2020b).

295

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Potenziale der Gruppenanalyse für die pädagogische Arbeit, die Supervision in pädagogischen Praxisfeldern und die Hochschulbildung auszuloten.

7.2

Notizen zur gruppenanalytischen Theorie

Auch heute ist die Gruppenanalyse ein interdisziplinäres Unterfangen, das Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, der modernen Hirnforschung, der Säuglingsforschung und der Psychoanalyse zu integrieren sucht. Die Hirnforschung etwa hat in den letzten Jahren nicht zuletzt mittels sogenannter bildgebender Verfahren bahnbrechende Erkenntnisse hervorgebracht, die die gruppenanalytische Annahme bestätigen, dass unser Gehirn vor allem ein soziales Organ ist (vgl. Hüther 2004, S. 26). Die neuronalen Vernetzungen, die Bildung oder der Verfall von Synapsen, die Wirksamkeit von Botenstoffen wie Dopamin oder die Ausschüttung von Stresshormonen – immer sind es soziale Erfahrungen und deren psychische Erlebniseindrücke, die das Gehirn in biologische Signale verwandelt (Bauer 2009, S. 196; vgl. Naumann 2011, S. 44f.). Besonders beeindruckend ist auch die Entdeckung der Spiegelneuronen, die uns den affektiven Zustand eines anderen Menschen, gleichsam als Affektansteckung, fühlen lassen, und die damit die biologische Grundlage der Empathie bilden (Köhncke 2011, S. 10). Der Hirnforscher Joachim Bauer folgert aus alldem für Entwicklungs- und Bildungsprozesse: »Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation« (Bauer 2009, S. 197). In der Psychoanalyse wiederum vollzieht sich seit einigen Jahren eine »intersubjektive Wende«, die das Erkenntnisinteresse weniger auf eine vermutete Triebdynamik, sondern eher auf die Frage richtet, wie die Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen die psychische Struktur konstituiert (Altmeyer/Thomä 2006, S. 13ff.). Damit nähert sich auch die Psychoanalyse der Gruppenanalyse deutlich an, denn die Gruppenanalyse »war in ihrem Wesen immer interaktionell und intersubjektiv« (Hirsch 2008, S. 81). Schon Foulkes sagte: »Das ›Ich‹ kann sich nicht sehen, so wenig sich jemand selbst in die Augen sehen kann, außer mit Hilfe eines Spiegels« (zit. nach Dinger 2012, S. 146f.). Gleichwohl können die Erkenntnisse etwa zu den feinen Abstimmungsprozessen zwischen dem Säugling und seinen Bezugspersonen, zur Affektregulierung in einem intersubjektiven Raum, auch das gruppenana296

7.2 Notizen zur gruppenanalytischen Theorie

lytische Denken präzisieren (Mittelsten Scheid 2010, S. 93; Potthoff 2012, S. 411). Besonders die Theorie der Mentalisierung nach Fonagy und Target, die Theorie psychosozialer Abwehr nach Mentzos sowie die Theorie der Interaktionsformen nach Lorenzer, die im Text zur kritischen Subjekttheorie ausführlich dargestellt wurden, sind hier von besonderer Bedeutung. 7.2.1 Gruppenmatrix

Die gruppenanalytische Theoriebildung kann nun von diesen Erkenntnissen profitieren und sie zugleich erweitern. Alle Subjekte haben »nicht nur die Gruppe, sondern auch sich selbst als ›Teil der Gruppe‹ internalisiert« (Bosse 2005a, S. 14). Die Interaktionsformen, also die organismisch, sinnlich-symbolisch und sprachsymbolisch verinnerlichten Beziehungsrepräsentanzen, lassen sich demnach als Gruppenrepräsentanzen begreifen. Sie beinhalten zwei miteinander verknüpfte Pole, nämlich einerseits das Erleben des »Wir-im-Ich« und andererseits das Erleben des »Ich-im-Wir« (ebd., S. 15). Mit diesen gruppalen Vorerfahrungen treten die Teilnehmer*innen einer Gruppe zusammen und entfalten ein Netzwerk bewusster und unbewusster Interaktionen, die sogenannte Gruppenmatrix (Foulkes 1974, S. 33). Diese ist nicht allein Resultat der konkreten Interaktionen, sondern abhängig von gesellschaftlichen und institutionellen Faktoren. Die gesellschaftlichen Faktoren gehen in Form von Erfahrungen mit interkulturellen und Geschlechterverhältnissen, mit sozialer Ungleichheit und ökonomischen Zwängen in die »Grundlagenmatrix« (Foulkes) einer Gruppe ein (Brandes 1999). Sie ist zwar die Basis gemeinsamer Verständigung, in ihr kommt aber auch der »soziale Habitus« (Bourdieu) als das gesellschaftlich Unbewusste zum Ausdruck, das die »Teilnehmer verleiblicht in die Gruppe mitbringen« und dort als soziale Positionierung agieren (Brandes 2005, S. 162). Als institutionelle Matrix kann die Gesamtheit von gesellschaftlicher Funktion, Ausstattung, offiziellem Regelwerk, Kultur und institutionell Unbewusstem einer Institution verstanden werden, in der eine Gruppe stattfindet (vgl. Naumann 2012, S. 147). Die dynamische Matrix schließlich ist mit Grundlagenmatrix und institutioneller Matrix verwoben, bezeichnet aber die konkreten Begegnungen und Veränderungen der Teilnehmer*innen und der Gruppe im gemeinsamen Prozess (Potthoff 2008, S. 97). Sie ist besonders »in den sinnlich-symbolischen Kommunikationen verankert«, den über Körperhaltungen, Stimme, Gesten und Mimik szenisch kommu297

7 Gruppenanalytische Pädagogik

nizierten Bedeutungen, die die Grundlage der sprachlichen Kommunikation bilden (Brandes 2005, S. 161). Dies hat immense Bedeutung für einen gelingenden Gruppenprozess: Erst wenn sich »die Gruppenszene und die Position des Einzelnen innerhalb des szenischen Arrangements« verändern, können womöglich neue »Einsichten« versprachlicht werden (ebd., S. 165). Die Aufmerksamkeit für sinnlich-symbolische Kommunikationen ist deshalb wesentlich für gruppenanalytische Theorie und Praxis. 7.2.2 Resonanz, Spiegelreaktionen und multiple Übertragungen

Dynamische Veränderungsprozesse in Gruppen ergeben sich durch diverse Wirkfaktoren, die sich im Wechselspiel von gruppenanalytischer Theorie und Praxis als besonders bedeutsam erwiesen haben. So lösen die Teilnehmer*innen wechselseitige Resonanzen aus, gleichsam als spiegelneuronale Affektansteckung, die zu gemeinsamen Themen anschwellen wie etwa Wünsche nach Gehaltenwerden oder Umgang mit Differenz und Rivalität (vgl. Schultz-Venrath 2012, S. 124). Dabei kommt es zu vielfältigen Spiegelreaktionen, das zwischenmenschliche Spiegeln erzeugt einen intersubjektiven Raum, in dem gemeinsam interaktive Praxis und kommunikative Bedeutung erzeugt und verinnerlicht wird (vgl. Mittelsten Scheid 2010, S.  84). Die Gruppe fungiert als Spiegel für die*den Einzelne*n, die*der im Sinne malignen Spiegelns Bilder festgefahrener Gewissheiten bestätigt oder aber im Sinne benignen Spiegelns neue Blicke eröffnet, die bislang unverstandene Gefühle zu integrieren erlauben (Behr/Hearst 2009, S. 229f.; Hirsch 2008, S. 62f.). Befördert wird dieser Prozess durch multiple Übertragungen und projektive Identifizierungen, die im Hier und Jetzt der Gruppe als »gegenwärtigem Erinnerungskontext« agiert und zugleich als ebenso vergangenes wie gegenwärtiges Beziehungsgeschehen bearbeitet werden können (Mittelsten Scheid 2010, S. 99f.). Dabei auftretende individuelle Verhaltensweisen oder konkrete Konflikte zwischen Mitgliedern sind im Sinne des Figur-Grund-Phänomens Figuren, die nur vor dem Hintergrund der Gruppe als sinnvollem Ganzen verstanden werden können. Dazu ein Beispiel aus einer Kitagruppe (Naumann 2014a, S. 21ff.): Renée und Julia sind zwei knapp vierjährige Mädchen. Beide haben verlässliche und liebevolle Eltern, doch deren Liebe ist ebenso unterschiedlich wie das Auftreten der Mädchen in der Kitagruppe. Renée 298

7.2 Notizen zur gruppenanalytischen Theorie

wird immer ermuntert, stark zu sein und Belastungen auszuhalten. Die Eltern trauen ihr offenbar viel Autonomie zu, vielleicht zwingen sie ihr diese Autonomie aber auch ein wenig auf – Bindungswünsche werden nur im »Notfall« beantwortet. In der Kita wirkt Renée zunächst robust, Trennungen scheinen ihr nicht viel auszumachen und in Konfliktsituationen versucht sie sich auch körperlich durchzusetzen. Wenn allerdings ihre Kräfte schwinden, wenn die behauptete Autonomie bröckelt, bricht sie regelrecht zusammen. Erst dann, weinend, kann sie Bindung und Trost zulassen. Julia hingegen wächst mit eher überfürsorglichen Eltern auf, die sie vor jeglichem Unbill zu schützen suchen und damit vor allem Bindungsbedürfnisse spiegeln – Autonomiewünsche müssen zunächst auf der Strecke bleiben. Die Eingewöhnung in die Kitagruppe erlebt Julia als immense Belastung. Die ersten Wochen übersteht sie nur in großer Nähe zu den pädagogischen Bezugspersonen, aber auch später imponiert ihre Fähigkeit, Erwachsene zu Nähe und Schutz zu bewegen. Die Figur, von der ich hier berichten will, ist der immer wiederkehrende und heftige Streit zwischen den beiden Mädchen: Renée treibt Julia mit ihren Attacken auf den Schoß einer Bezugsperson, bleibt dann aber meist in Sichtweite. Julia wiederum provoziert Renée verbal vom sicheren Schoß aus, bis diese früher oder später verzweifelt zu weinen beginnt. Die manifeste Figur des Streits lässt sich psychodynamisch als beidseitige projektive Identifizierung verstehen, die Mädchen sind psychisch regelrecht miteinander verhakt. Renée spürt und bekämpft an Julia eine Bindungsfähigkeit, die sie selbst noch nicht integrieren konnte, während Julia an Renée eine Unabhängigkeit erlebt und verächtlich macht, die sie sich noch nicht zutraut. Allerdings spielt sich der Streit immer vor dem Hintergrund der Gruppe ab, welche Bedeutung hat also die Figur im Hinblick auf die Gruppe als Ganzes? Zunächst verdichten sich im Streit entwicklungsspezifische Themen, mit denen alle Kinder auf je eigene Weise beschäftigt sein dürften. Zudem löst die Gruppe mit ihrer Vielfalt an unvorhersehbaren Prozessen, potenziellen Zurückweisungen oder auch offenen Entwicklungsräumen unweigerlich Wünsche und Ängste aus, die sich als unausgesprochene innere Fragen übersetzen lassen: Finde ich genügend Beachtung, Schutz und Trost – so wie in meiner Familie? Finde ich vielleicht sogar endlich eine Zuwendung, die mir bislang 299

7 Gruppenanalytische Pädagogik

immer vorenthalten wurde – und wenn ja, halte ich das überhaupt aus? Oder: Wie viel Kraft und Wut darf ich zeigen – verliere ich die Verbundenheit mit der Gruppe oder gewinne ich (endlich) Anerkennung für meine Kraft und meine Wut? In der konkreten Gruppe ist zunächst auffällig, dass der Streit die gesamte Gruppe bewegt. Manche Kinder sind eher empathisch mit Renée identifiziert, andere mit Julia. Und wieder andere, eher ältere Kinder machen sich einen bitter-verzweifelten Spaß daraus, den Streit anzufachen und sich dann, je nach psychischer Disposition, über eines der Mädchen lustig zu machen. Als die Pädagog*innen das Wechselspiel von biografischen und Gruppenthemen verstehen, schlagen sie vor, gemeinsam das Bilderbuch »Blauer Hund« von Nadja zu lesen (Nadja 2004). Die Geschichte dreht sich um das Mädchen Charlotte, das einen großen, doch verlassen wirkenden blauen Hund trifft. Sie spricht mit ihm, sie krault sein Fell und sie gibt ihm von ihrem Essen ab. Die Eltern allerdings verbieten ihr den Umgang. Als sich Charlotte beim Familienpicknick im Wald verirrt und der mächtige Nachtgeist sie bedroht, erscheint der blaue Hund und besiegt den Nachtgeist. Charlotte kehrt nach Hause zurück, die Eltern sind überglücklich und von nun an darf der blaue Hund für immer bei Charlotte bleiben. In eindrucksvollen Bildern greift diese Geschichte ebenso die kindlichen wie die Gruppenthemen auf: die Abhängigkeit von den Eltern, die Angst vor dem Alleinsein sowie, in der Beziehung zwischen Charlotte und dem blauen Hund, Fürsorge und Stärke. Erst die Anerkennung von Fürsorge und Stärke, symbolisiert durch die elterliche Erlaubnis, den (imaginären) blauen Hund zu behalten, eröffnet Charlotte die Möglichkeit, diese Gefühle zu integrieren und Beziehungen zu gestalten, die Verbundenheit und Individuation einschließen. Die Kinder der Kitagruppe sind begeistert, immer wieder wollen sie die Geschichte hören und entwickeln sie spielerisch weiter. Ausgehend von diesem Gruppenprozess lösen sich auch die Spannungen zwischen Renée und Julia, weil sie die zuvor auf die je Andere projizierten Selbstanteile zunehmend als zu sich gehörig erleben und integrieren können. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass beide bis heute eng befreundet sind. Das Gruppensetting stellt für solche dynamischen Prozesse sowohl einen dyadischen Modus zur Verfügung, der das Erleben von Übereinstimmung 300

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

oder auch Angst vor Verschlingung auslöst, als auch einen triadischen Modus, der das Erleben von Relativierung, Differenz und Herausforderung ermöglicht (Hirsch 2008, S. 82). Insgesamt bildet die Gruppe einen intersubjektiven Möglichkeitsraum, in dem die Teilnehmer*innen ihre verinnerlichten Beziehungen und Affekte im Hier und Jetzt der Gruppe in Szene setzen, »fruchtbare Irritationen« (Lorenzer) erzeugen und korrigierende Erfahrungen hin zu Individuation, Verbundenheit und Mentalisierung machen können (vgl. ebd.; Winnicott 2006a; Mittelsten Scheid 2010, S. 95f.).2 Gruppe und Gruppenleiter*in fungieren dabei als Container, der die Affekte in sich aufnimmt, verarbeitet und den Teilnehmer*innen in verdaulicher Form zur Verfügung stellt (Staehle 2009, S. 117). Die Bedeutung dieser hier rekapitulierten Erkenntnisse für pädagogische Gruppenprozesse sowie für die Leitung pädagogischer Gruppen, auch in Differenz zu psychotherapeutischen Gruppen, wird im nun folgenden Abschnitt dargelegt.

7.3

Gruppenanalytische Pädagogik

7.3.1 Zur Differenzierung von gruppenanalytischer Pädagogik und Therapie

Gruppenanalytische Pädagogik teilt mit gruppenanalytischer Psychotherapie das Gruppenverständnis sowie das Interesse an gelingenden Entwicklungsprozessen, gleichwohl müssen die Unterschiede reflektiert werden. Das klassische psychotherapeutische Setting ist gekennzeichnet durch eine klare raumzeitliche Begrenzung und die Heterogenität der Gruppenteilnehmer*innen; es gibt keine realen Abhängigkeiten zwischen den Teilnehmer*innen sowie zwischen Teilnehmer*innen und Leiter*in; und nicht 2 Mentalisierung meint, in den Worten von Ulrich Schultz-Venrath und Helga Felsberger, die »intentionale Fähigkeit, das Handeln anderer und das eigene in Begriffen von Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten zu verstehen« (zit. nach Gingelmaier et al. 2018, S. 14). Wie schon in vorangegangenen Texten bemerkt, ist auch in pädagogischen Gruppenbeziehungen entscheidend, den Teilnehmer*innen eigene mentale Zustände, Gedanken, Gefühle, Intentionen und Entwicklungspotenziale zuzuschreiben, die sich von jenen der Gruppenleiter*innen unterscheiden können. Die Fähigkeit zur Mentalisierung der Teilnehmer*innen (durch die Leiter*innen) erzeugt gleichsam die Mentalisierungsfähigkeit der Teilnehmer*innen (ebd., S. 15).

301

7 Gruppenanalytische Pädagogik

zuletzt existiert kein institutioneller Auftrag außer der Förderung von Heilungsprozessen. Geschützt durch die Schweigepflicht entfaltet sich die freie Gruppenassoziation, Übertragungsbereitschaft und Regression werden im Dienste des Heilungsprozesses begünstigt, um eine konflikthafte und leidvolle Lebensgeschichte zu aktualisieren sowie korrigierende Beziehungserfahrungen zu erleben und zu verinnerlichen – gruppenanalytische Therapeut*innen arbeiten somit eher in der Übertragung (vgl. Brandes 1999). Die gruppenanalytische Pädagogik fokussiert eher die Verwirklichung von Selbstbildungspotenzialen der Einzelnen und der Gruppe, muss dabei aber etwaige affektive Konflikte als Lernblockaden berücksichtigen und deshalb auch eine nachholende Affektbildung ermöglichen. Im Unterschied zur Therapie finden derlei Bildungsprozesse in einem institutionellen Rahmen statt, der zumeist homogene Gruppen vorsieht und mit einem institutionellen Bildungsauftrag verknüpft ist, etwa Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kita oder Nachsozialisation in den Hilfen zur Erziehung nach §§ 27ff. SGB VIII. Gruppenanalytisch gesprochen ist die dynamische Matrix pädagogischer Gruppen dichter in eine institutionelle Matrix verwoben. Diese institutionelle Matrix umfasst neben dem gesetzlichen Auftrag einerseits die personelle und räumliche Ausstattung, die Teamstrukturen und Hierarchien, die Konzeption und das offizielle Regelwerk, die Finanzierung und Leistungsvereinbarungen, die Evaluationsverfahren und Supervisionsangebote sowie nicht zuletzt die alltäglichen Abläufe. Andererseits enthält die institutionelle Matrix das institutionell Unbewusste, also auch die institutionalisierte Abwehr in der gewordenen und aktuellen Kultur einer Einrichtung. Diese dient der Indienstnahme der Abwehr der Einzelnen für den Bestand der Institution und zugleich hilft sie den Einzelnen bei der Abwehr von bedrohlichen Affekten, indem sie sie an alltägliche, handhabbare Szenen und Routinen bindet (Eberhard 2012, S. 98; Bartsch 2012, S. 116). Die institutionell abgewehrten Affekte können dann allerdings weder von den Pädagog*innen noch in der Gruppe integriert werden und blockieren mögliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse. So kann die Idealisierung einer Einrichtung die Belastungen der pädagogischen Tätigkeit zum Verschwinden bringen; die Homogenisierung der institutionellen Umgangsweisen oder eine oberflächlich-heitere Kommunikation können der Verleugnung von Differenz und Aggression dienen; in wiederkehrenden heftigen Auseinandersetzungen kann die Abwehr von Nähebedürfnissen zum Ausdruck kommen; oder in einem Klima der Intellektualisierung wird jegliche lebendige Affektivität dem Er302

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

leben ferngehalten (Eberhard 2012, S. 101). Deshalb ist es aus gruppenanalytischer Perspektive entscheidend, auch das institutionell Unbewusste immer wieder im Spiegel einer Supervisionsgruppe zu erforschen, um die Entwicklungspotenziale der pädagogischen Gruppe ausschöpfen zu können. Auch das pädagogische Setting innerhalb der institutionellen Matrix ist nicht wie in der Psychotherapie, die auf spezifische Arrangements wie den Stuhlkreis zurückgreifen kann, einfach vorgegeben, sondern muss selbst gestaltet und immer wieder überprüft werden (vgl. Müller/Krebs 1998, S. 27ff.). Dabei ist es gekennzeichnet durch reale Abhängigkeiten und einen intensiven Alltagsbezug mit zahlreichen unvorhersehbaren Begegnungen, Konflikten und Handreichungen (dazu auch Sprondel 2020). Das pädagogische Setting muss an die affektiven Themen der Gruppe anschließen und dazu die sozialen Lebensbedingungen, also den »sozialen Ort« (Bernfeld) der Teilnehmer*innen berücksichtigen, damit die Gruppe darin die Bedeutung einer »fördernden Umwelt« (Winnicott) erlangen kann, die dem Ort seine etwaige, durch Leistungszwänge oder Deprivation erzeugte Düsterkeit, soweit pädagogisch möglich, nimmt (vgl. Winnicott 2006b, S. 235). Die dynamische Matrix, also die konkreten Entwicklungs- und Bildungsprozesse entfalten sich dann innerhalb der institutionellen Matrix und des raumzeitlich arrangierten Settings. Grundsätzlich erzeugen die Gruppe sowie die behandelten Bildungsthemen entweder Angst vor der unwägbaren Konfrontation mit Neuem oder lustvolle Neugier zur Selbstund Welterforschung. Wenn die Angst überwiegt, wenn die Fähigkeit, die innere und äußere Welt zu erforschen, gestört ist, ist dies zumeist Ausdruck von gestörten Beziehungen (Gerspach 2007, S. 288). Solche Störungen können einerseits aus den Beziehungen im Hier und Jetzt der Gruppe stammen, die wiederum durch das behandelte Bildungsthema oder durch aktuelle Beziehungsprobleme der Teilnehmer*innen gefärbt sind, die sie in die Gruppe hineintragen. Wenn etwa ein von Aggression und Entwertung geprägtes Klima vorherrscht, ist die Gruppe viel zu sehr mit dem psychischen Überleben beschäftigt, als dass sie sich auf lustvolle Bildungsprozesse einlassen könnte. Andererseits können die Störungen in der Gruppe von lebensgeschichtlich unbewältigten und verinnerlichten Konflikten einzelner Teilnehmer*innen herrühren, die in der Gruppe wiederbelebt und inszeniert werden. Wenn beispielsweise die Erfahrung verinnerlicht wurde, dass die Begegnung mit Neuem, mit abrupten Tren303

7 Gruppenanalytische Pädagogik

nungen von den primären Bezugspersonen etwa, stets überwältigend und ängstigend ist, dann kann die Aufforderung, sich neuen Bildungsthemen zuzuwenden, als »szenischer Auslösereiz« für die früh verinnerlichte Angst und Ohnmacht erlebt werden (vgl. Trescher 1987, S. 150). Um die Angst zu bewältigen, kann der Konflikt dann zunächst nur agiert werden, etwa als Unruhe, Aggression oder resignierter Rückzug (Gerspach 2007, S. 270). In der gruppenanalytischen Pädagogik geht es also weniger um die Rekonstruktion biografischer Verwerfungen wie im psychotherapeutischen Setting, sondern um die Ermöglichung neuer benigner Beziehungserfahrungen im Hier und Jetzt der Gruppe. In diesem Sinne arbeitet der*die Pädagog*in auch nicht in der Übertragung, sondern mit den multiplen Übertragungen, um mithilfe der Gegenübertragung die noch unbewältigten affektiven Themen aufzuspüren. Diese Themen können dann im Sinne des Containings der Gruppe in entgifteter Form, als sprachsymbolische Rückmeldung und pädagogisches Beziehungshandeln zur Verfügung gestellt werden, damit die Einzelnen und die Gruppe diese Themen zunehmend zu integrieren vermögen (vgl. Gerspach 2007, S. 272). Sicherlich lässt sich all dies im Gewimmel des pädagogischen Gruppenalltags nie vollständig berücksichtigen und umsetzen. Gleichwohl kann die im Schaubild (Abb. 1) dargestellte Differenzierung von vier Beziehungsebenen das pädagogische Wahrnehmen und Handeln immer wieder orientieren helfen (Naumann 2014a, S. 109).3 Auf der linken Seite des Schaubilds ist angedeutet, dass die institutionelle Matrix in die dynamische Matrix hineinwirkt und im Sinne gelingender Entwicklungs- und Bildungsprozesse beachtet werden muss. Auf der rechten Seite sind die vier Beziehungsebenen mit ihren verstehenden und förderlichen Potenzialen abgebildet – von der eher institutionsnahen Settingebene, über das gemeinsame Bildungsthema einer Gruppe und das 3 Die Unterscheidung von vier Ebenen der Bildung habe ich einem Text von Dieter Katzenbach entlehnt. Allerdings befasst sich Katzenbach mit verschiedenen Dimensionen individueller Lernstörungen: »Fehlende Passung zwischen Lernangeboten und Lernvoraussetzungen«; »Fehlende Sinnhaftigkeit des Lerngegenstandes«; »Subjektive Funktion des Nicht-Lernens im Hier und Jetzt des Beziehungsgeflechts des Kindes«; und »Reinszenierung früh gebildeter Beziehungsmuster: Nicht-Lernen begründet sich aus biographischen Erfahrungen« (Katzenbach 2004, S. 85). Ich habe diese Unterscheidung positiv gewendet und auf die Gruppe übertragen, eben im Sinne der Bedingungen für gelingende Entwicklungs- und Bildungsprozesse.

304

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

Abb. 1: Ebenen gelingender Entwicklung und Bildung in der Gruppe

Hier und Jetzt der Gruppenbeziehungen bis hin zum Umgang mit biografischen Belastungen, die in eine Gruppe eingebracht werden. 7.3.2 Entwicklungsbündnis und Optimalstrukturierung

Gruppenanalytische Pädagogik kann auf bewährte Konzepte der jüngeren psychoanalytischen Pädagogik zurückgreifen, insbesondere auf die Begriffe des Entwicklungsbündnisses, der Optimalstrukturierung und des szenischen Verstehens. Diese Begriffe sollten jedoch gruppenanalytisch erweitert werden, um der Individualisierung pädagogischer Praxis vorzubeugen und die Entwicklungspotenziale der Gruppe zur Entfaltung bringen (Finger-Trescher 2001, S. 218). Im Hinblick auf das Entwicklungsbündnis können Leiter*innen davon ausgehen, dass sich die oben dargelegten Gruppenphänomene natürlich auch in pädagogischen Gruppen abspielen. Unvermeidlich finden Resonanz, Spiegelreaktionen, multiple Übertragungen und projektive Identifizierungen sowie Abwehrprozesse statt, die sich etwa als Spaltungstendenzen oder als maligne Aggression und Regression zeigen können. Im Dienste des Entwicklungsbündnisses geht es darum, hinderliche oder gar destruktive Gruppenprozesse bearbeitbar zu machen und umgekehrt förderliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse zu ermöglichen. Die von Hans-Georg Trescher für das psychoanalytisch-pädagogische Entwicklungsbündnis beschriebene Haltung, nämlich sich im Dienste der Entwicklung der Klient*innen verwenden zu lassen und die Klient*innen nicht zu verwenden, bedeutet gruppenanalytisch betrachtet, dass der*die Leiter*in sich der Gruppe unaufdringlich und empathisch zur Verfügung stellt, ohne die Gruppe zur Befriedigung eigener liegengebliebener Bedürfnisse zu benut305

7 Gruppenanalytische Pädagogik

zen (vgl. Trescher 2001, S. 182f.). Die Leiter*innen fungieren im Entwicklungsbündnis gleichsam als Spielertrainer*innen (Schultz-Venrath 2012, S. 122): Sie sollten sich in den Gruppenprozess verwickeln lassen, auch auf sie gerichtete Übertragungen annehmen, zugleich sind sie in besonderer Weise für gelingende Prozesse und den Erhalt der Gruppe verantwortlich (Finger-Trescher 2012a, S. 25f.). Auf horizontaler Ebene fungieren Gruppenleiter*innen als Interaktionspartner*innen im Spiel, im Gespräch und überhaupt im Gruppenalltag mit seinen Freuden und Zwängen, auf vertikaler Ebene sind sie aufgrund der Leitungsfunktion in besonderer Weise Übertragungsfiguren und real intervenierende Bezugspersonen im Hier und Jetzt der Gruppe (ebd., S. 26). Im gruppenanalytischen Entwicklungsbündnis gelten alle Äußerungen der Teilnehmer*innen als bedeutsam für die ganze Gruppe. Auch Störungen, die zunächst Kommunikationsblockaden und Irritationen erzeugen, muss ein Sinn unterstellt werden. Die Aufgabe der Gruppenleiter*in ist nicht etwa, heftige Affekte und Störungen kleinzuhalten, sondern vor allem, Interaktion und Kommunikation immer wieder in Gang zu halten, damit auch Störungen sich zeigen und im Gruppenprozess auflösen können (Foulkes 1974, S. 34; Naumann 2012, S. 148). Entscheidend ist hier eine mentalisierende Haltung, die die Teilnehmer*innen als gleichzeitig getrennte und verbundene, abhängige und selbstbestimmte Subjekte wahrzunehmen erlaubt, deren Verhalten immer sinnhaft ist, auch wenn es zunächst destruktiv oder verrückt erscheint.4 Um diesen Sinn zu erschließen, müssen Gruppenleiter*innen zwischen innerer und äußerer Realität, zwischen Figur und Grund, zwischen den Einzelnen und der Gruppe pendeln (Brandl 2017, S. 338ff.). Eine solche Haltung ist Voraussetzung für das Holding (Winnicott) jedweder Affekte in der Gruppe – auch solch belastender Affekte wie Wut, Angst, Scham oder Schuld. Dies spendet die Sicherheit, von der aus die Teilnehmer*innen weitere Entwicklungsschritte wagen können. Ebenso ist sie die Voraussetzung für das Containing (Bion) als Fähigkeit, die noch unsagbaren Gruppenaffekte in sich aufzunehmen und der Gruppe in bekömmlicher, symbolisierter Weise zur Verfügung zu 4 Die Literatur zu mentalisierungsbasierter Psychotherapie und Pädagogik wächst in den letzten Jahren stetig an. Exemplarisch empfehlen möchte ich hier das Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik, herausgegeben von Stephan Gingelmaier, Svenja Taubner und Axel Ramberg (2018) sowie Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen von Maria Teresa Diez Grieser und Roland Müller (2018).

306

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

stellen (vgl. Naumann 2012, S. 149). Nicht zuletzt begründet sie Interventionen im Wissen darum, dass Interventionen mit Einzelnen immer Botschaften an die ganze Gruppe sind und dass gruppenbezogene Interventionen immer Resonanzen in einzelnen Mitgliedern auslösen.5 Ganz praktisch können etwa Themen, Gespräche oder Projekte vorgeschlagen werden, die an die affektiven und institutionellen Gruppenthemen anschließen und diese im Sinne der Verständigung über das Selbst, die Gruppe und die Welt vertiefen helfen. Dabei bieten sich beispielsweise kreatives Arbeiten, Gefühlsprojekte oder auch erlebnispädagogische Angebote an, weil diese ein mediales Drittes bilden, in dem sich die Gruppenthemen spiegeln können. Auch das Verknüpfen von scheinbar disparaten Gruppenthemen, etwa bei Autonomie-Abhängigkeitskonflikten, kann hilfreich sein, ebenso das Konfrontieren mit den äußeren Realitäten in den Gruppenbeziehungen oder allgemein das zugewandte und haltbare Benennen von schweren Affekten wie Angst und Wut, Schuld und Scham, die in der Gruppe bislang vielleicht weder gedacht noch gefühlt werden konnten. Insgesamt trägt diese Haltung im pädagogischen Entwicklungsbündnis dazu bei, dass die Einzelnen und die Gruppe einander zunehmend selbst zu containen vermögen, dass die Abhängigkeit von einer Leitungsautorität immer weiter gemildert wird und sich die Gruppe so eine gemeinsame Norm erschafft, die Verbundenheit erlebbar macht und zugleich Raum gibt für individuelle Abweichungen und Vielfalt (Naumann 2014a, S. 116). In einem solchen affektfreundlichen, lebendigen und genügend angstfreien Klima können sich die Teilnehmer*innen auf korrigierende, nachholende Beziehungen einlassen und sich ihren Selbstbildungsprozessen in und durch die Gruppe zuwenden (ebd.; Brandes 2012, S. 8f.).6 5 In einer misslingenden Gruppenpädagogik werden allzu häufig einzelne Mitglieder, die sich vermeintlich ungehörig verhalten, beschämt, isoliert und ausgegrenzt  – dies ist nicht nur eine Form psychischer Gewalt, sondern obendrein eine unausgesprochene und massive Botschaft an alle, sich an eine unhinterfragbare Gruppennorm zu halten. Konträr dazu, haltend und inklusiv, ist das gruppenanalytische Vorgehen, grundsätzlich nach Sinn zu suchen – auch wenn es nicht immer gleich klappt – und dies im Hinblick auf die Teilnehmer*innen und die Gesamtsituation der Gruppe zu kommunizieren. 6 Die psychoanalytisch-pädagogischen Grundbegriffe werden hier wiederaufgenommen und gruppenanalytisch erweitert. Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass auch der Anti-Bias-Ansatz, der bereits in Kapitel 4 integriert wurde, sehr gut zum gruppenanalytischen Blick auf die pädagogische Gruppe passt, weil beide den Fokus auf Individuation und Verbundenheit, Partizipation und Vielfalt richten.

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7 Gruppenanalytische Pädagogik

Im Hinblick auf die Optimalstrukturierung muss die institutionelle Matrix daraufhin überprüft werden, ob sie das Entwicklungsbündnis mit der Gruppe begünstigt oder eher behindert (vgl. Trescher 2001, S. 187ff.). Hier sind zunächst die gesellschaftlichen Bedingungen kritisch in den Blick zu nehmen. Wenn etwa die fortschreitende Ökonomisierung den pädagogischen Alltag zu durchsetzen droht, kann es zwingend sein, politischen Widerstand zu organisieren. Des Weiteren sollte das konkrete pädagogische Setting im Hinblick auf Abschiede, Neuaufnahmen und Zusammenstellung der Gruppe sowie auf Material, Zeiten und Räume immer wieder reflektiert werden, um Ängste zu mildern und Übergangsräume für die Gruppe zu gewährleisten. Auch Weiterbildungen, deren Inhalte sich aus der pädagogischen Alltagspraxis herleiten, können zur Optimalstrukturierung beitragen. Nicht zuletzt müssen die Pädagog*innen selbst genügend gut contained sein. Dafür ist eine gruppenanalytische Supervision unerlässlich, die den Zusammenhang von Einzelfall, Gruppe, Team und Institution zu bearbeiten erlaubt (Barthel-Rösing 2005, S. 122f.). Gruppenanalytisch fallen all diese Maßnahmen unter den Begriff der »dynamischen Administration«. Dynamische Administration bedeutet nicht nur anzuerkennen, dass mit dem vermeintlich bloßen Verwaltungshandeln bedeutsame psychosoziale Themen verknüpft sind, die auf mehr oder minder förderliche Weise in das Interaktionsnetzwerk eingehen, sondern das eigene rahmenbezogene Handeln dementsprechend feinfühlig zu gestalten (Behr/Hearst 2009, S. 52ff.). Kurzum gilt es, die Gruppengrenzen zu sichern und Vertrauen zu stiften, damit förderliche Gruppenprozesse gedeihen können (Schultz-Venrath 2012, S. 126). Exemplarisch für die dynamische Administration in der Optimalstrukturierung kann die Raumgestaltung betrachtet werden. Räume wirken sich in erheblicher Weise auf das Verhalten und Erleben der Gruppenteilnehmer*innen aus (Staats 2012, S. 363). Die Räume können sinnlich ansprechend oder sachlich wirken, Einladungen aussprechen oder Ängste erzeugen, sie können zur Partizipation auffordern oder autoritäre Verhaltensregeln vermitteln. In jedem Fall konstellieren Räume die Begegnungen, Interaktionen und Kommunikationen in der Gruppe, und damit öffnen oder schließen sie Entwicklungschancen für sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionen. Vor diesem Hintergrund sollte bei der Raumgestaltung zweierlei beachtet werden: Erstens sollten die äußeren pädagogischen Räume nicht vollständig die inneren Räume der Gruppenleiter*innen widerspiegeln, weil so bloß die Herkunft und die habituellen 308

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

Muster der Pädagog*innen reproduziert werden und weil vor allem die potenziellen Teilnehmer*innen mit ihrem möglicherweise anderen Habitus den Eindruck gewinnen müssen, dass sie in diesen Räumen weder willkommen sind noch einen sicheren Platz erhalten. Zweitens sollten die Räume nicht vollkommen an die vermuteten Erwartungen der gegenwärtigen oder kommenden Teilnehmer*innen angepasst werden, weil sie so gegebenenfalls ihren Aufforderungscharakter verlieren und ihre Entwicklungschancen einbüßen (ebd., S. 363f.). Aus diesen beiden kritischen Hinweisen lassen sich nun einige positive Leitlinien für die Raumgestaltung gewinnen. Wenn die Räume hinreichend an die habituellen Muster der Teilnehmer*innen und den sozialen Ort der Gruppe anschließen, entsteht zunächst einmal Vertrautheit und ein angstmilderndes Klima – gleich ob der Ort ein stabiler oder eher ein düsterer ist. Zugleich aber ist von besonderer Bedeutung, dass schon der Raum ein Wechselspiel von Halten und Zumuten, von Sicherheit und Herausforderungen eröffnet. Jedenfalls sollte der Raum zur Partizipation, zum Mitsprechen, Mithandeln und Mitgestalten einladen. Auf diese Weise kann die Gruppe den Raum zu ihrem eigenen machen, in dem Selbstwirksamkeit erlebbar ist, in dem sich die Bedürfnisse, Konflikte und Fähigkeiten der Teilnehmer*innen zeigen können und in dem sich die Gruppe spiegeln und entdecken kann. Insgesamt entsteht so tatsächlich ein Übergangsraum für förderliche Beziehungen, Vielfalt und Bildungsprozesse an einem fördernden Ort. 7.3.3 Szenisches Verstehen

Das szenische Verstehen ist ein Erkenntnisverfahren, das zur Verwirklichung von Entwicklungsbündnissen und Optimalstrukturierung ungemein hilfreich ist. Das Verfahren wurde von Alfred Lorenzer maßgeblich entwickelt und stammt aus seiner intersubjektiv angelegten, sozialisationstheoretischen Rekonstruktion der psychoanalytischen Situation. Das szenische Verstehen will nicht nur logisch vorgehen, dies wäre eine objektivistische Verkürzung, auch will es nicht nur psychologisches Verstehen sein, dies käme einer individualistischen Verkürzung gleich, sondern es richtet die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Patient*in und Analytiker*in (Lorenzer 1973, S. 141f.). Denn in der psychoanalytischen Situation werden auch die unbewältigten verinnerlichten Beziehungserfahrungen wiederbelebt, und zwar als »Wiederholung einer erlebten oder die Erdich309

7 Gruppenanalytische Pädagogik

tung einer ersehnten Szene«, in die der*die Analytiker*in hineingezogen wird (ebd., S. 143). Besonders die aktivierten beschädigten Interaktionsformen transportieren dabei das Noch-nicht-Bewusste sowie das Nicht-mehrBewusste in die therapeutische Beziehung, und der*die Analytiker*in kann diese unbewältigten Themen in der Gegenübertragung wahrnehmen und so zu deren Durcharbeitung und Integration im gemeinsamen Prozess beitragen. Hans-Georg Trescher hat das szenische Verstehen dann für die psychoanalytische Pädagogik adaptiert. Wenn beispielsweise ein Kind von verinnerlichten und unbewältigten Konflikten geplagt ist, kann es diese nicht versprachlichen, sondern muss Thema und Dynamik des Konflikts auf der Handlungsebene als konflikttypische Szene inszenieren (Trescher 1987, S. 156). Pädagog*innen, die sich in diese Beziehungsdynamik verstricken lassen, können dann ihre spontanen Reaktionen, gleichsam ihre Gegenübertragung, als zur Szene gehörig verstehen, den Konflikt entschlüsseln und auf dieser Grundlage pädagogische Beziehungsangebote machen, die die Chance für korrigierende Erfahrungen und zur Konfliktbewältigung eröffnen (ebd., S. 159). So löst etwa ein überbordend aggressives Kind in einem*einer Pädagog*in bodenlose Ohnmachtsgefühle aus. Mithilfe des szenischen Verstehens kann diese Ohnmacht als projektive Identifizierung verstanden werden, also als Ohnmacht, die das Kind als schrecklich erlebt hat, niemals mehr spüren möchte und durch seine Aggression zu bewältigen sucht – die Ohnmacht ist nicht aus der Szene verschwunden, sondern nun in dem*der Pädagog*in deponiert (vgl. Trescher 2001, S. 173ff.). Wenn diese*r daraufhin die Erfahrung ermöglicht, dass er*sie durch die Aggression nicht vernichtet wird, dass in Beziehungen nicht automatisch Ohnmacht erzeugt wird, sondern Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit und Freude erlebbar sind, stehen dem Kind nachholende und neue Entwicklungen offen. Aus gruppenanalytischer Perspektive muss das szenische Verstehen nochmals erweitert werden, um der Bedeutung der pädagogischen Institution für die Gruppe sowie der Gruppe für die Entwicklung der Einzelnen gerecht zu werden. Demgemäß muss sich das szenische Verstehen auf die Rekonstruktion des Sinns von Szenen richten, die sich zwischen Teilnehmer*innen einer Gruppe in einem bestimmten institutionellen Rahmen abspielen (vgl. Naumann 2011, S.  53). Ausgangspunkt des szenischen Verstehens ist die dynamische Matrix, in der die oben benannten vier Beziehungsebenen zwar zusammenwirken, die aber analytisch unterschieden 310

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

werden können (Naumann 2014a, S. 128): die verinnerlichten und wiederbelebten Beziehungserfahrungen der Teilnehmer*innen; die realen Beziehungen im Hier und Jetzt der Gruppe, in die auch die aktuellen sozialen Beziehungen außerhalb der Gruppe hineinspielen; die Beziehung zum gegenwärtigen Bildungsthema der Gruppe, das mehr oder minder lustvoll besetzt oder auch ängstigend sein kann; und die Beziehungen im Hinblick auf das pädagogische Setting und die institutionellen Bedingungen. Auf allen vier Beziehungsebenen kommt es zu Übertragungen, und zwar nicht einfach nur als individuelle Wiederholungen, sondern als »Dramatisierung von realistischen Wahrnehmungen und folglich als Interaktionseffekt« im realen Hier und Jetzt der Gruppe (Haubl zit. nach Finger-Trescher 2012b, S. 42). In diesem komplexen Geschehen formieren sich unweigerlich auch konflikthafte Szenen, die durch unbewältigte affektiv besetzte Themen geprägt sind, die wiederum Entwicklung und Bildung blockieren können. Diesen Themen gilt es in der Gegenübertragung nachzuspüren, um ihre affektive Dynamik und Verortung auf den vier Ebenen zu verstehen und angemessene pädagogische Antworten geben zu können. Das szenische Verstehen im Dienste des Entwicklungsbündnisses bezieht sich zunächst vor allem auf die ersten drei Ebenen. Dabei ist natürlich wiederum mit Resonanzen, Spiegelreaktionen, multiplen Übertragungen und projektiven Identifizierungen zu rechnen. Folgende erkenntnisleitende Fragen bieten sich hier an: Welche Affekte sind in der zu verstehenden Szene noch unsagbar und unbewältigt, zeigen sich nur atmosphärisch, in irritierendem Verhalten oder sinnlich-symbolischen Kommunikationen? Sind mit den virulenten Affekten eher kränkende Selbstanteile oder eher bedrohliche Objektanteile verbunden? Zu wem gehören die Affekte in der Szene, zu Einzelnen, Subgruppen oder zur Gesamtgruppe, wirken sie eher horizontal zwischen Gruppenmitgliedern oder vertikal in der Beziehung zu den Gruppenleiter*innen (vgl. Finger-Trescher 2012b, S. 43ff.)? Darüber hinaus muss sich das szenische Verstehen in pädagogischen Gruppen auch auf die institutionellen Aspekte der Gruppenbeziehungen richten, also besonders auf die vierte der oben genannten Ebenen. Da die Gruppenszenen unweigerlich durch die institutionelle Matrix mitkonstelliert werden, ist die Analyse der institutionellen Gegenübertragung im Dienste der Optimalstrukturierung unerlässlich. Damit kann untersucht werden, auf welche Weise Rahmen und Setting entwicklungshemmend, ängstigend oder gar retraumatisierend in die Gruppenbeziehungen hineinwirken. Positiv formuliert kann das szenische Verstehen im Hinblick 311

7 Gruppenanalytische Pädagogik

auf Rahmen und Setting dazu beitragen, die pädagogische Institution als Ort zu gestalten, der ein genügend gutes Holding gewährt, der Übergangsräume eröffnet und so zur Stiftung von nachholender Entwicklung, Neugier und Bildungslust beiträgt. Mit einem weiteren Fallbeispiel aus der Kita möchte ich die Potenziale szenischen Verstehens in der Gruppe illustrieren (Naumann 2011, S. 55ff.): Der zweijährige Ben wird in einer Kita eingewöhnt. Er hat ein freundliches Wesen und ist immer adrett gekleidet. Er ist das einzige Kind eines jungen, gut ausgebildeten Paares. Allerdings fallen seine etwas plump und schlaff anmutenden Bewegungen auf. Auch kann er sich in Konflikten, wenn es etwa um begehrtes Spielzeug geht, kaum wehren, er beginnt sehr schnell zu weinen und gibt dann ein geradezu jämmerliches Bild ab, mit rotzverschmiertem Gesicht und sonst fast bewegungslos. Immer häufiger steht er abseits der Gruppe, einzelne Kinder machen sich zunehmend über ihn lustig oder spielen ihm verletzende Streiche. Die Pädagog*innen nehmen diese verblüffend rasante Entwicklung durchaus wahr und reagieren, indem sie sich um Ben kümmern, ihn beschützen, auf den Schoß nehmen, die Nase immer und immer wieder abputzen. Dies führt jedoch nicht dazu, dass sich an Bens Zustand etwas ändert. Dies ist der Zeitpunkt, an dem sich die Pädagog*innen entscheiden, den Fall in ihre Supervision einzubringen. Dort ergeben sich im szenischen Verstehen zunächst folgende Prozesse. Als die Pädagog*innen ihren Gefühlen nachspüren, entdecken sie eine doppelte Scham. Sie schämen sich, weil all ihre Bemühungen um Ben bislang scheiterten, und schlimmer noch, weil sie Ben für seine bewegungslose, rotzverschmierte Jämmerlichkeit verachten. Ihre Bemühungen, so wird deutlich, bewegten sich auf einer rein pflegerischen, routinemäßigen Ebene, während das Affektive gänzlich unbemerkt die Szene beherrschte. Dieses Affektive kann jetzt besser verstanden werden. Ben hat die Pädagog*innen durch seine Übertragung offenbar zu einem ähnlichen Verhalten bewegt, wie er es von seinen Eltern kennt. An dieser Stelle fallen den Pädagog*innen auch wieder Szenen von Bring- und Abholsituationen, von Elternabenden und Elterngesprächen ein. Die Eltern wirken durchaus liebevoll, aber ängstlich, überfürsorglich und somit kaum in der Lage, ihrem Kind Trennung und Autonomie zuzugestehen. Es kommt die begründete Vermutung auf, dass Ben, als er ganz klein war, ein freundliches und zufriedenes 312

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

Baby war, dass er aber die Größenfantasien der Übungsphase kaum auskosten und die Autonomiekämpfe der Wiederannäherungsphase gar nicht erst führen durfte. Gleichwohl dürften die Eltern ihr Kind gerade im Vergleich zu robusteren Gleichaltrigen in der Kita als immer weniger selbstständig erleben und sich dafür schämen. Diese Scham aber ist verknüpft mit dem eigenen Erziehungshandeln und darf nicht bewusst werden. Sie wird kompensiert durch das schicke, dem Alter eher unangemessene Styling Bens sowie durch die vertrauten Fürsorgerituale. Auf diese Rituale kann Ben sich zwar verlassen, wenn er wieder mal weder ein noch aus weiß, doch sind sie zunehmend von elterlicher Aggression unterlegt. Vor diesem Hintergrund wird den Pädagog*innen klarer, dass sie scheitern mussten, denn ebenso wie die Eltern haben sie ihre Scham durch routinemäßige Zuwendung kompensiert und Ben damit in seiner Position arretiert. Nach diesem Verstehensprozess geraten nun weitere Gefühle in die Wahrnehmung. Zunächst wird wirkliche mitfühlende Zuneigung zu Ben spürbar. Darüber hinaus kommen progressive Fantasien auf, Ben regelrecht mitzureißen, ihn in seiner Autonomieentwicklung zu unterstützen. Nicht zuletzt sehen die Pädagog*innen nicht nur die »Schuld« der Eltern, sondern auch ihre Liebe und ihre Not. Vor diesem Hintergrund kann das Entwicklungsbündnis mit Ben stabiler geschmiedet werden. Die Pädagog*innen nehmen eine mentalisierende Haltung ein, die die Anlehnungsbedürfnisse und die zukünftige Autonomieentwicklung Bens einschließt. Dieser kann die Zuwendungen der Pädagog*innen als wirklich zugewandt annehmen und antwortet immer öfter mit einem vertrauensvollen Lächeln. Zudem vermag er auf dieser Basis und infolge der Herausforderungen, die ihm zugemutet werden, zunehmend für seine Bedürfnisse einzustehen, auch mal ein »Nein« zum Einsatz zu bringen und ins Spiel mit anderen Kindern zu finden. Mit den Eltern wird auch gearbeitet. Sie spüren, dass die Pädagog*innen auch mit ihrer Liebe und ihrer Sorge identifiziert sind, und so können sie nach und nach von ihrer Scham und Enttäuschung sprechen. Erst als diese Scham durch die aufklärende, verstehende Rede der Pädagog*innen ein wenig gemildert ist, gerät ihr Kind als geliebte und doch eigenständige Persönlichkeit wieder in den Blick, die selbstverständlich die elterliche Fürsorge und Liebe braucht und zugleich die Fähigkeit und das Recht eigener Autonomieentwicklung hat. 313

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Allerdings ist der Fall mit dem bestenfalls gelingenden Entwicklungsbündnis noch nicht erschöpfend bearbeitet. Denn wenn die Pädagog*innen es dabei bewenden lassen, wird Ben als Problemkind etikettiert, während die Rahmenbedingungen und die Gruppendynamik dem Verstehen entzogen werden. Deshalb möchte ich abschließend weitere Überlegungen im Sinne der Optimalstrukturierung skizzieren. Es handelt sich bei Bens Kita um eine selbstverwaltete Einrichtung, die der Geschichte antiautoritärer Erziehung verbunden ist. Ihre Gründung war von sozialen Auseinandersetzungen und politischen Widerständen begleitet, die Anfangsjahre standen im Zeichen intensiven persönlichen Engagements der Mitarbeiter*innen sowie der existenziellen Bedrohung infolge knapper finanzieller Mittel. Inzwischen ist die Existenz zwar gesichert, ein anspruchsvolles Konzept wurde entwickelt und es findet regelmäßige Supervision statt, und doch hat die konflikt- und entbehrungsreiche Geschichte in der institutionellen Kultur Spuren hinterlassen. Selbstbestimmung wird hochgeschätzt und auch Geborgenheit wird natürlich gewährt, vor allem, wenn sie kraftvoll eingefordert wird. Unbewusst verpönt sind hingegen Zeichen richtungs- und hilfloser Abhängigkeit, wie sie Ben repräsentiert, weil sie das vormals überlebensnotwendige psychosoziale Arrangement bedroht. Es kommt so zu einer institutionalisierten Abwehr von Wünschen zwanglosen Gehaltenwerdens, die letztlich auch in die Kindergruppen hineinwirkt. Denn selbstverständlich sind auch die Kinder und Kindergruppen Teil der Institution mit ihrem offiziellen und unbewussten Regelwerk. In der Kita werden Mädchen wie Jungen darin unterstützt, ihre Themen und Bedürfnisse selbstbewusst einzubringen und zu verteidigen. Wenn dann ein Junge wie Ben auftaucht, der nicht nur zu den Kleinsten gehört, sondern geradezu haltlos daherkommt, werden auch bei den Kindern Resonanzen erzeugt, Wünsche nach Kleinsein getriggert und gleichzeitig abgewehrt. Es kommt zu einem malignen Spiegeln, denn die Kinder erkennen sich in Ben wieder, ohne sich zu finden. Vielmehr müssen sie die in Ben erkannten Selbstanteile in Form von verletzenden Streichen bekämpfen. Hier ist es die große Chance szenischen Verstehens und zugleich die Verantwortung der Pädagog*innen, das Abwehrbündnis zwischen Institution, Fachkräften und Kindergruppe zu durchbrechen und die bislang unbewussten Affekte in die Alltagspraxis lebendig zu integrieren. 314

7.3 Gruppenanalytische Pädagogik

Das Schmieden von Entwicklungsbündnissen, die Öffnung von Übergangsräumen, die Beachtung der Optimalstrukturierung und das szenische Verstehen in der Gruppe sind ungemein hilfreich für das gruppenanalytisch-pädagogische Wahrnehmen und Handeln. In Abbildung 2 sind die wichtigsten Grundbegriffe und das Vorgehen gruppenanalytischer Pädagogik als zirkulärer Prozess dargestellt (Naumann 2014a, S. 134).

Abb. 2: Gruppenanalytische Pädagogik

Auf der rechten Seite des Schaubilds ist der*die Gruppenleiter*in hervorgehoben, und zwar in Beziehungen zu den Einzelnen, zur Gruppe und zur Institution. Mithilfe des szenischen Verstehens, darunter platziert, können die in diesen Beziehungen virulenten, affektiv besetzten und mitunter unbewältigten Themen erschlossen werden, die gelingenden Entwicklungs- und Bildungsprozessen möglicherweise entgegenstehen. Dabei ist zu beachten, dass das szenische Verstehen kaum im Getümmel des pädagogischen Gruppengeschehens stattfinden kann, sondern immer wieder zwischengeschaltet werden muss. Auf diese Weise dient das szenische Verstehen der Verfeinerung von Wahrnehmung und Haltung der Leiter*innen, und es bildet den Ausgangspunkt für Ideen zum gruppenanalytisch-pädagogischen Handeln. Dieses Handeln wiederum zielt auf die förderliche 315

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Gestaltung des Entwicklungsbündnisses und auf die Optimalstrukturierung, es ermöglicht neue Beziehungserfahrungen und trägt damit zur Entwicklung der institutionellen Matrix, der dynamischen Matrix und der verinnerlichten Matrix der Teilnehmer*innen bei. So schreitet dann der Gruppenprozess weiter voran. Das szenisch Verstandene behauptet freilich keine objektive Wahrheit, sondern erweist sich nur dann als zutreffend, wenn die damit verfeinerte Haltung und daraus folgende Praxis tatsächlich zu förderlichen Prozessen beitragen. Dafür benötigen Gruppenleiter*innen selbst einen genügend guten institutionellen Halt sowie sichere Räume zur Reflexion des Gruppengeschehens – dazu dient das Team und natürlich gruppenanalytische Supervision.

7.4

Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern

Gruppenanalytische Supervision muss sich mit der pädagogischen Gesamtsituation befassen, also mit der sozialen Realität und dem Auftrag einer pädagogischen Institution ebenso wie mit den affektiven Prozessen im Hier und Jetzt der Gruppe (Dinger 2012, S. 155; Mittelsten Scheid 2012, S. 177). Unbewältigte und allzu bedrohliche Affekte können zu institutionalisierter, gruppenspezifischer oder interpersonaler Abwehr führen und die Erfüllung der primären Aufgabe unterminieren (vgl. Eberhard 2012, S. 105). Im Sinne des Latenzschutzes neigen Mitglieder einer Organisation dazu, all das Fühlen, Denken und Handeln abzuwehren, »von dem sie eine nicht zu bewältigende Destabilisierung des Teams befürchten« (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 128). Um solche Widerstände wahrnehmen, verstehen und auflösen zu können, ist gruppenanalytische Supervision in erster Linie Beziehungsanalyse, nämlich derjenigen Beziehungen, die mit einem Fall, mit dem Team oder mit der Institution verknüpft sind (vgl. Mittelsten Scheid 2012, S. 175). Ziel muss es sein, die Erfüllung der primären Aufgabe, also Entwicklungs- und Bildungsprozesse zu begleiten, (wieder) zu ermöglichen (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 122). Zentral ist sicherlich die Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Fall sowie dessen Rekonstruktion in der Supervision. Entweder kann ein Fall in der Gruppe oder auch die Gruppe selbst als Fall in den Blick genommen werden, stets kommt es dabei zum direkten Spiegeln der Falldynamik 316

7.4 Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern

in der Supervisionsgruppe (Volhard 2002, S. 30). Auf diese Weise wird der Fall in der Supervisionsgruppe erlebbar und kann auch in den noch unsagbaren Facetten zunehmend verstanden werden. Darüber hinaus ist aber zu beachten, dass auch indirekte Spiegelphänomene auftreten können, die das Verstehen eines Falls durchwirken oder gar blockieren. So können es liegengebliebene biografische Themen der Supervisand*innen sein, schwelende Teamkonflikte oder ungelöste institutionelle Konflikte, die sich potenziell in der Supervisionsgruppe spiegeln (ebd.). Auch diese indirekten Spiegelphänomene müssen wahrgenommen und bearbeitet werden, damit die primäre Aufgabe erfüllt werden kann. Aus diesem Grund werden in der gruppenanalytischen Supervision Fall- und Teamsupervision im Kontext der konkreten institutionellen Verhältnisse integrierend betrachtet (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 127).7 Die Anfrage gruppenanalytischer Supervision in pädagogischen Praxisfeldern erfolgt meistens durch Einrichtungen, die nicht hierarchiefrei und selbstverwaltet arbeiten, sondern durch die Arbeitsteilung zwischen Leitung und pädagogischen Teams gekennzeichnet sind. In diesen Fällen müssen alle Beteiligten, also die Leitung als Auftraggeber und die Teams als potenzielle Supervisionsgruppe, bereits in der Anbahnung über die Grundregeln gruppenanalytischer Supervision aufgeklärt werden. Dazu zählen vor allem der verstehende Blick auf das Zusammenwirken von Falldynamik, Teambeziehungen und institutionellen Themen sowie die freie Kommunikation in der Supervisionsgruppe, die erst den Zugang zu verborgenen affektiven Themen eröffnet. Kommt es dann zur Auftragsvergabe, wird ein Dreieckskontrakt zwischen Team, Leitung und Supervisor*in geschlossen (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 129).8 7 Etwaige biografische Spiegelungen sollten wahrgenommen, aber nicht in der Supervision bearbeitet werden – es geht um die Bewältigung der primären Aufgabe und nicht um die Rekonstruktion und Deutung biografischer Erfahrungen (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 122; Mittelsten Scheid 2012, S. 177). Die Grenzen der pädagogischen Supervisionsgruppe müssen geschützt sein, bei Bedarf kann auf geeignete psychotherapeutische Räume verwiesen werden (vgl. Volhard 2005, S. 254). 8 Diese Transparenz zum Vorgehen gruppenanalytischer Supervision ist außerordentlich wichtig, um der Erwartung entgegenzuarbeiten, Supervision bringe schlicht vermeintliche Störungen zum Verschwinden: »vom Team als Wunsch die Störungen zu beseitigen, die durch die Organisationsstruktur entstehen, von Seiten der Organisation sollen die Störungen beseitigt werden, die mit der psychischen Struktur der Teammitglieder verbunden sind. Der Wunsch nach Flexibilisierung der jeweils eigenen Strukturen ist häufig

317

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Wenn es dann zur gruppenanalytischen Supervision kommt, hat das das Setting eine immense Bedeutung. Grundlage ist die Einladung zu freier Kommunikation, etwa mit dem Satz: »Alles, was Sie im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit bewegt, hat Raum hier« (ebd., S. 127). Die freie Kommunikation ist die Voraussetzung dafür, dass sich auch jene unbewältigten affektiven Themen in Szene setzen können, die möglicherweise die Erfüllung der primären Aufgabe behindern, erst dadurch können sie erlebt, verstanden und ins pädagogische Gruppenhandeln integriert werden. Gleichzeitig aber löst die freie Kommunikation besonders zu Beginn des Prozesses Verunsicherungen und Ängste aus, die bislang im Latenzschutz gebunden waren – beispielsweise Ängste davor, von unsagbaren Aggressionen überflutet zu werden, in Kontakt mit bodenloser Verzweiflung zu geraten oder ungestillte Versorgungswünsche zu spüren. Damit all diese Affekte im Netz der Supervisionsgruppe gehalten werden können, damit Abwehr sich zunehmend verflüssigen kann, muss die Supervision als geschützter Spielraum etabliert werden (Bartsch 2012, S. 125; Eberhard 2012, S. 105). Ein solcher Spielraum kann sich öffnen, wenn spürbar wird, dass die Supervision keinen fremdbestimmten Sollzustand durchsetzen will, sondern vor allem dem Verstehen des Istzustandes einer pädagogischen Gruppe in ihrem institutionellen Kontext dient, um darauf aufbauend kreative und förderliche Ideen für die Gestaltung des Gruppengeschehens zu entwickeln (vgl. Bartsch 2012, S. 125). Je sicherer das Setting ist, desto mehr Konflikte können als haltbar erlebt und bearbeitet werden (Barthel-Rösing/Haubl 2017, S. 130). Das Team kann sich dann als Gruppe erfahren, die über Verstehens- und Handlungsressourcen verfügt, deren Mitglieder wechselseitig zur Regeneration beitragen und deren Heterogenität als hilfreich zur Bewältigung der primären Aufgabe erlebt wird (ebd., S. 123ff.). Bevor ich auf die Rolle und Haltung gruppenanalytischer Supervisor*innen zu sprechen komme, möchte ich die Potenziale gruppenanalytischer Supervision anhand eines Fallbeispiels aus der Kinder- und Jugendhilfe verdeutlichen (Naumann 2014a, S. 130ff.): Das Fallbeispiel spielt sich in einer Jugendhilfeeinrichtung ab, die vom Jugendamt hochgeschätzt und immer wieder mit Fällen betraut wird, die in anderen Einrichtungen als untragbar gelten. Das Annicht existent – kein Wunder, dass oft Organisationsentwicklung oder Psychotherapie als scheinbar wirkmächtigere Auswege erscheinen« (Mittelsten Scheid 2012, S. 177f.).

318

7.4 Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern

gebot umfasste bislang vor allem Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 und Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII. Nun wird zum ersten Mal eine Gruppe im Sinne der Sozialen Gruppenarbeit nach § 29 SGB VIII installiert. Im Fokus der Fallrekonstruktion steht die Anbahnung und Anfangsphase dieser Gruppe sowie ihre Entwicklung als Ganzes im Spiegel der Supervision – auf die Entwicklung der Einzelnen wird dabei nicht näher eingegangen. Die Gruppe besteht aus einem gemischtgeschlechtlichen Leiter*innenpaar und Jugendlichen, die alle circa 17 Jahre alt und unter äußerst schwierigen Lebensumständen aufgewachsen sind. In den Vorgesprächen mit den Jugendlichen wird deutlich, dass ihre Familien auf unterschiedliche Weise mit Unterversorgung, psychischen Problemen, unbewältigten Migrationserfahrungen und Gewalt belastet sind, und dass die Jugendlichen selbst, neben ihren vielfältigen Entwicklungsproblemen, unter erheblichen Schulproblemen bis hin zur Schulverweigerung leiden. Die meisten zeigen entweder einen resignativen Rückzug oder völlig unangemessene Größenfantasien, die regelmäßig an der äußeren Realität zerschellen und dann umso trotziger wiederaufgerichtet werden müssen. Beim Leiter*innenpaar entsteht im szenischen Verstehen der Vorgespräche der Eindruck, dass basale Bedürfnisse nach Versorgung und Zutrauen bei diesen Jugendlichen offengeblieben sind und in der Gruppe bedient werden müssen, um Kohäsion herzustellen und darauf aufbauend weitere Entwicklungen zu ermöglichen. An dieser Stelle sei auch schon erwähnt, dass es sehr schwierig für das Leiter*innenpaar ist, einen geeigneten Raum zu finden, der in Größe und Ausstattung das Balancieren von Nähe und Distanz sowie das Wechselspiel von Sicherheit und Lebendigkeit eröffnet. Das erste Gruppentreffen ist dann durch das behutsame, vom Leiter*innenpaar moderierte Kennenlernen gekennzeichnet. Dabei löst das Anliefern der bestellten Sitzgelegenheiten – alle sollen ihren Platz bekommen – überwältigende Freude in der Gruppe aus. Auf den Sofas und Sitzsäcken lümmelnd wird gemeinsam die Idee geboren, die folgenden Sitzungen mit Kochen und Essen zu füllen. Im geschützten Raum der Gruppe können somit auf eigenaktive Weise die ungestillten Versorgungswünsche bedient werden. Und tatsächlich zeigen die folgenden Sitzungen die Dringlichkeit dieses Themas. 319

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Bereits beim Zubereiten kommt es zu vielfältigen, nahezu eruptiven Kommunikationen über Familientraditionen, Vorlieben und Fähigkeiten im Hinblick auf das Essen. Besonders imponiert dann auch das unersättliche Herunterschlingen der gemeinsam zubereiteten Speise sowie das Überziehen der vereinbarten Zeit als Ausdruck der momentanen Glückseligkeit und der Wucht bislang unerfüllter Bedürfnisse. In der folgenden Gruppenphase kommt es zur zunächst hoch irritierenden Erfahrung, dass immer wieder andere Jugendliche der Gruppe fernbleiben, ohne sich, wie in den Vorgesprächen verabredet, zu entschuldigen. Das Leiter*innenpaar reagiert ärgerlich, beklagt die mangelnde Wertschätzung und behilft sich vorläufig mit der Interpretation, dass die Jugendlichen vielleicht einen adoleszenten Ablösungswunsch agieren. Nachdem sich aber das Fernbleiben fortsetzt, spürt das Leiter*innenpaar in der Supervision szenisch verstehend der eigenen Gegenübertragung nach. So rückt wieder in die Wahrnehmung, dass es sich um eine Gruppe schwer belasteter Jugendlicher handelt, die erst eine nachholende Entwicklung benötigen, bevor sie sich auf benigne Weise ablösen können. Nun wird einerseits spürbar, dass die Gruppe für die Jugendlichen Nähe, Versorgung und Teilhabe erfahrbar macht – Erfahrungen, die sie bislang nur diffus ersehnen konnten und die sie jetzt umso schmerzlicher auf ihre erlebten Versagungen zurückwerfen. Andererseits wird spürbar, dass die Gruppe bei den Teilnehmer*innen auf biografisch besondere Weise negative Geschwister- und Elternübertragungen ausgelöst haben muss. Durch ihre Absenz versuchen sich die Jugendlichen offenbar vor diesem affektiven Schlamassel zu retten und dabei einer bedrohlichen Lage, ähnlich wie bei der Schulverweigerung, durch eine zwar traurige, aber wenigstens verfügbare Handlungsfähigkeit zu entkommen. Vor diesem Hintergrund können die Affekte, die im Leiter*innenpaar aufgestiegen sind, in der Supervision gemeinsam als projektive Identifizierung verstanden werden. Während der Gruppenleiter eher mit der Wut identifiziert ist, die für die Jugendlichen und in der Gruppe noch unsagbar ist, ist die Gruppenleiterin eher in Kontakt mit Ohnmacht und Entwertungsgefühlen, die aufgrund der Vorerfahrungen der Teilnehmer*innen bislang ebenso wenig bewältigt werden konnten. Mit diesem vertieften Verstehen gewinnt das Leiter*innenpaar die notwendige mentalisierende Haltung wieder, es kann im Sinne 320

7.4 Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern

des Containings die Gruppe in sich halten, die virulenten Affekte entgiften und damit Ideen für weitere Interventionen entwickeln. Einerseits konfrontieren Leiterin und Leiter die Jugendlichen damit, dass ihre Absenz für die Gruppe ebenso bedauerlich wie ärgerlich ist. Andererseits bemühen sie sich nachdrücklich um die Jugendlichen, werben um die weitere Teilnahme. Auf diese Weise erleben die Teilnehmer*innen, dass sie erwünscht sind, dass sie gesehen werden und dass sie als Persönlichkeiten ebenso wie ihre schweren Themen in der Gruppe haltbar sind. In der Folgezeit sind dann neue Entwicklungsschritte in der Gruppe möglich. Gemeinsam werden Projekte für die kommenden Treffen besprochen und es kommt die Idee auf, Slacklining auszuprobieren. Für das nächste Treffen wird das dazu nötige Balancierseil besorgt. Als der Termin gekommen ist, wird das Seil in einem Park zwischen zwei Bäumen gespannt, um darauf zu balancieren. Die Jugendlichen sind zunächst sehr verunsichert, das Balancieren will nicht klappen, neuerliche Enttäuschungen und Kränkungen drohen. Doch dann geschieht etwas höchst Bedeutsames. Den Teilnehmer*innen gelingt es, sich wechselseitig Hilfestellung zu geben, die Hand zu reichen und auch Hilfe anzunehmen. Freude und Begeisterung breiten sich aus. Als die ausgemachte Zeit sich dem Ende zuneigt und sich das Seil erst nicht vom Baum lösen lässt, befürchtet das Leiter*innenpaar leise einen Rückschlag. Doch die Gruppe arbeitet beharrlich und letztlich erfolgreich daran, das Seil und mithin das Problem zu lösen. Im szenischen Verstehen zeigen sich vor allem Affekte wie Erleichterung und Stolz. Offenbar war es den Jugendlichen im Übergangsraum der Gruppe möglich, endlich Ohnmacht, Kränkung und Scham angesichts der Herausforderung durch die Slackline auszuhalten, Unterstützung zu geben und anzunehmen sowie ihre Fähigkeiten und Selbstwirksamkeit zu spüren. Damit war die affektive Basis geschaffen, von der aus die Jugendlichen Bildungsaufgaben auch jenseits der Gruppe besser bewältigen können. Allerdings war dieser gelingende Prozess nur möglich, weil zugleich auch immer wieder der institutionelle Kontext der Gruppe in der Supervision reflektiert wurde. In der Einrichtung war es zunächst unklar, welche Bedeutung die Gruppe für die Kolleg*innen sowie für das institutionelle Gefüge hat. Denn bislang stand die intensive Einzelfallhilfe im Vordergrund, verbunden mit einer gewissen Idealisie321

7 Gruppenanalytische Pädagogik

rung der eigenen Einrichtung, in der ja tatsächlich selbst schwierigste Fälle durch sozialpädagogische Zweierbeziehungen begleitet wurden. Doch die Gruppe schien nun einige Irritationen auszulösen, die sich zunächst nur szenisch zeigten. Dies manifestierte sich einerseits an der Raumfrage. Das Leiter*innenpaar hatte es schwer, einen geeigneten und sicheren Raum für die Gruppe zu erhalten, die Bedeutung des Gruppenraums wurde heruntergespielt, etwa mit den Worten »Ihr könnt ja die Räume wechseln«, und nicht zuletzt wurde eine der Sitzgelegenheiten, die extra für die Gruppe angeschafft wurden, beschädigt und nicht ersetzt. Andererseits war ein eigentümlicher Umgang mit der Gruppe zu konstatieren. Es gab nur wenig Austausch über die Gruppe, und Fragen zu ihrer Bedeutung wurden entweder mit Schweigen oder mit der Aussage beantwortet, man habe kein Problem damit. Das Leiter*innenpaar erlebte dies zunächst als unbestimmte affektive Anspannung und als Entwertung der vielen Bemühungen rund um die Gruppe. Erst das Durcharbeiten dieser Irritationen brachte eine institutionelle Öffnung. Es wurde spürbar, dass die Entwertung der Gruppe einen neidvollen Affekt transportierte, nämlich Neid auf die vermutete Lebendigkeit der Gruppenprozesse und die Kooperation des Leiter*innenpaars. Darunter noch zeigte sich die immense Belastung in der Einzelfallhilfe, das isolierte Arbeiten in der sozialpädagogischen Zweierbeziehung, das Aushalten von sozialem und psychischem Leid der Klient*innen, konfrontiert mit der Ohnmacht, dieses Leid vollständig zu beheben. Auf diese Weise setzten die Vorgänge rund um die Gruppe letztlich eine institutionelle Triangulierung in Gang, die den vorsichtigen Austausch über Belastungen, Herausforderungen und notwendige Bedingungen in der Einzelfallhilfe und in der Gruppenarbeit eröffnete. Supervisor*innen sind Teil der Supervisionsgruppe und zugleich an der Grenze der Gruppe positioniert. Als Teil der Gruppe lassen sie sich in das intersubjektive Geschehen verwickeln, um die szenische Dynamik erleben zu können (vgl. Barthel-Rösing 2005, S. 125ff.). Aus diesem Verwickeln heraus können dann im Sinne szenischen Verstehens jene Themen aufgespürt werden, die die Supervisand*innen aus ihrer Praxis mitgebracht haben und noch nicht hinreichend integrieren konnten. In diesem Sinne haben Supervisor*innen einerseits die Verantwortung, die Grenze der Gruppe zu schützen, Ängste zu mildern und Halt zu geben. Diese schüt322

7.4 Gruppenanalytische Supervision in pädagogischen Praxisfeldern

zende, anerkennende und haltende Funktion stützt die Arbeitsfähigkeit der Gruppe und ist gerade im pädagogischen Feld mit seinen alltäglichen Verunsicherungen und Kränkungen von besonderer Bedeutung (Volhard 2002, S. 28). Andererseits fördern sie auf der Grundlage genügend guten Halts nicht nur die Kommunikation, wenn sie stockt, sondern muten der Gruppe mit ihren Interventionen auch die im szenischen Verstehen gewonnenen Erkenntnisse zu, übersetzen das sinnlich-symbolische Interaktionsgeschehen in sprachsymbolische Kommunikation, konfrontieren mit bislang Unsagbarem oder stellen Verknüpfungen her, etwa zwischen fallspezifischen und institutionellen Themen (vgl. ebd., S. 29; Dinger 2012, S. 156). Supervisor*innen fungieren gleichsam als Spiegel, die ihre Neutralität, Abstinenz und professionelle Identität repräsentiert, in dem sich aber zugleich die affektiven Dynamiken der Supervisionsgruppe und ihrer Themen reflektieren und der damit Empathie, Verstehen sowie affektive und kommunikative Kompetenz fördert (Volhard 2002, S. 27). Insgesamt dient Supervision dem Containing pädagogischer Teams und der institutionellen Triangulierung (Barthel-Rösing 2005, S. 135; Volhard 2005, S. 262). Gruppenanalytische Supervisor*innen repräsentieren eine ebenso haltende wie reflektierende Kompetenz, und im Supervisionsprozess können sich die pädagogischen Fachkräfte zunehmend mit dieser containenden Haltung identifizieren, selbst Containingfunktion übernehmen und diese auch in die pädagogische Praxis hineintragen (Volhard 2002, S.  29; Barthel-Rösing 2005, S.  130f.).9 Besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen der Ökonomisierung und Entgrenzung pädagogischer Praxis ist die Entschleunigung sowie die Orientierung an Prozessen und Beziehungen in der Supervision ein unbezahlbares Gut. Christine Morgenroth schreibt dazu: »Entgrenzung geht auch mit Individualisierung, Vereinzelung und Isolation einher. Das verletzt ein menschliches Grundbedürfnis nach Begegnung, Kontakt und Ich-Werdung in der Auseinandersetzung mit dem anderen. Er9 Selbstverständlich brauchen Supervisor*innen selbst innere Spielräume und eine innere Triangulierung, um den Supervisand*innen neue Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen (Mittelsten Scheid 2012, S. 176). Bei der Gelegenheit sei auch bemerkt, dass gruppenanalytische Supervision natürlich ebenso in Einzelsupervision zur Anwendung kommen kann, weil die Aufmerksamkeit für das Wechselspiel von Subjekt, Gruppe und Institution in jedem Fall von grundlegender Bedeutung ist.

323

7 Gruppenanalytische Pädagogik

fahrungen im geschützten Raum einer Gruppe, Erfahrungen von Vertrauen und Halt, ja von Containment  […] stellen alternative Erfahrungsräume bereit, in denen unter Bedingungen schutzbietender, verlässlicher Grenzen Menschen sich selbst im anderen, in den Reaktionen der anderen buchstäblich wiederfinden können, in denen die in der Simultanität auseinander gebrochenen Ich-Anteile wieder zusammenfinden können und der Sinn für das Mögliche eine Entwicklungschance bekommt. Darin liegt eine subversive und letztlich systemsprengende Kraft, die das Subjekt stärkt« (2015, S. 209).

Wunderbar sind immer wieder die Aha-Erlebnisse in der gruppenanalytischen Supervision, wenn affektive Knoten platzen, wenn sich vertieftes Verstehen einstellt. Sicherlich begegnen uns in der pädagogischen Praxis auch extrem schwere psychosoziale Themen und nicht alle Probleme lassen sich lösen, nicht jedes Leid lässt sich lindern. Aber manchmal erzeugt das in der Supervision gewonnene tiefe Verstehen eine erweiterte Wahrnehmung und Haltung den Einzelnen und der gesamten Gruppe gegenüber, die in der Praxis auch ohne großartige pädagogische Kniffe ungeahnte Entwicklungsräume und Freude an einer lebendigen Beziehungsarbeit freigeben.

7.5

Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

Wie aber können gruppenanalytische Kenntnisse und Kompetenzen erworben werden? Neben den gruppenanalytischen Weiterbildungsinstituten sind vor allem die Hochschulen für angewandte Wissenschaften ein hervorragender Ort für eine theoretisch fundierte und praxisorientierte Vermittlung und Aneignung der Gruppenanalyse. Insbesondere Studierende der Sozialen Arbeit benötigen hochschulische Bildungserfahrungen, die über Theorieaneignung und Reflexionsprozesse die Fähigkeit begründen, sozialpädagogische Beziehungen an konkreten sozialen Orten verstehen, halten und förderlich gestalten zu können. Solche Bildungserfahrungen führen bestenfalls zu emotionaler Bewusstheit in Beziehung zu Einzelnen, Gruppen und Institutionen (vgl. Eggert-Schmid Noerr/Krebs 2012, S. 110). Dazu gehört einerseits, sich empathisch zuwenden, zuhören und das Gehörte und Erlebte in der Verständigung mit den Klient*innen oder der Gruppe rückmelden zu können. Andererseits braucht es die Fähigkeit, 324

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

fachlich begründete Gedanken, Wünsche und Ziele auf entwicklungsfördernde Weise in die gemeinsame Verständigung einzufädeln (ebd.). Nur wenn sich Theorie durch Evidenzerfahrungen in der Haltung der künftigen Fachkräfte ablagert, nur wenn theoretisches Wissen und Affektbildung gemeinsam voranschreiten, können die Studierenden emotionale Bewusstheit, wachsende Beziehungs- und Mentalisierungsfähigkeit entwickeln. Die Anwendung der Gruppenanalyse in der Hochschulbildung muss dabei die spezifischen institutionellen Kontexte für hochschulische Gruppenprozesse berücksichtigen. Potenziale einer solchen Anwendung sollen nun am Beispiel des Seminars, der Praxisreflexion und der Selbsterfahrung im Rahmen von Studiengängen der Sozialen Arbeit verdeutlicht werden. 7.5.1 Seminararbeit und gruppenanalytische Haltung

Im Seminar kommen Teilnehmer*innen und Dozent*in an der Hochschule zu einem bestimmten Thema zusammen. Dabei bildet sich eine Gesamtsituation, bestehend aus institutionellem Kontext, raumzeitlich arrangiertem Setting, Thema und Gruppe. Innerhalb dieser Gesamtsituation konstellieren sich konkrete Lernszenen, die durch themen- und gruppenspezifische Resonanzen geprägt sind (Hutz 2012, S. 32f.). Dabei werden unausweichlich biografische und institutionelle Vorerfahrungen aktualisiert, Spiegelreaktionen, projektive Identifizierungen und multiple Übertragungen ausgelöst (vgl. Hutz 2008, S. 83). In der Gruppe spiegeln sich demnach nicht nur die Seminarthemen, sondern auch die biografischen und hochschulischen Erfahrungen der Teilnehmer*innen. Lehrende fungieren in der sich bildenden Gruppenmatrix als Teil der Gruppe und fachliche Autorität, als Übertragungsobjekt sowie als Repräsentant*innen der Hochschule, eines Lernortes also, den die Teilnehmer*innen womöglich als Freiraum, vielleicht aber auch als Zwangsapparat wahrnehmen. Wenn die Bedeutung der Gesamtsituation für die Gruppenmatrix nicht reflektiert wird, kann es zu ernsten Blockaden des Lernprozesses kommen. Schon durch die hochschulische Sozialisation sind solche Blockaden in den üblichen Lehr-Lern-Arrangements angelegt. Denn aufseiten der Lehrenden verlockt die einsam-erhabene Sprechposition zu Grandiositätsfantasien, die rückseitig mit einer besonderen Kränkbarkeit einhergehen. Aufseiten der Studierenden drohen, infolge der ihnen servierten, vermeintlich objektiven Erkenntnisse, passive Abhängigkeit sowie die Abspaltung 325

7 Gruppenanalytische Pädagogik

von Affekten im Lernprozess (vgl. Trescher 1993, S. 100). Neben diesen hochschulspezifischen Hindernissen können auch thematische und gruppenspezifische Resonanzen den Lernprozess blockieren. Wenn etwa in einem entwicklungspsychologischen Seminar das Thema »Holding« nach Winnicott behandelt wird, aktualisiert dies nicht nur biografische Vorerfahrungen der Teilnehmer*innen, sondern wirft auch die Frage nach dem Halt in der Gruppe und der Hochschule auf. Erleben Studierende ihren Hochschulalltag als überwiegend vereinzelnd, kränkend und leistungsorientiert, kann es passieren, dass sie dem Thema gegenüber in der Gruppe einen Widerstand entwickeln, der nicht allein aus etwaigen biografischen Verletzungen, sondern vor allem aus dem haltlosen Hier und Jetzt resultiert. Bestenfalls kommt es dann noch zu einem bloßen »Dazu-Lernen« von Begriffen, die in der Prüfung reproduziert werden (vgl. Katzenbach 2004, S. 91). Mithilfe einer gruppenanalytischen Haltung hingegen kann die emotional-kognitive Dimension des Lernprozesses berücksichtigt und damit in der Aneignung des Themas ein »Um-Lernen« befördert werden (ebd.; Hutz 2008, S. 82). Dazu gehört beispielsweise das Zusammenführen von innerem Erleben und äußeren Erfahrungen im Lernprozess, die kommunikative Überwindung von Fremdheit in der Auseinandersetzung mit Thema, Gruppe und Institution, sowie das wohlwollende Benennen von unterschiedlichen Aneignungsweisen der Teilnehmer*innen (vgl. EggertSchmid Noerr/Krebs 2012, S. 117; Hutz 2012, S. 27). In diesem Sinne sollten Lehrende schon das raumzeitliche Setting affekt- und kommunikationsfreundlich gestalten. Auf diese Weise kann sich das Thema szenisch in der Gruppe entfalten und das Lernen an und in Szenen wird gefördert (Hutz 2012, S. 34). Um dabei auch die virulenten Affekte wahrnehmen und in den Lernprozess integrieren zu können, sollten Lehrende auf die sinnlich-symbolische Kommunikation und ihre Veränderung achten, der eigenen Gegenübertragung nachspüren und Verknüpfungen mit den kognitiven Verarbeitungsformen herstellen. Darüber hinaus ist es hilfreich, nicht nur gelingende Aneignungsprozesse hervorzuheben, sondern auch auf Lernhindernisse zu achten, die sich horizontal in der Gruppe oder vertikal in der Beziehung zur Leiterin zeigen können (ebd., S. 31). Aus gruppenanalytischer Perspektive ist es zur Erfüllung der primären Arbeitsaufgabe – nämlich Hochschulbildung zu ermöglichen – besonders dienlich, weniger direktiv vorzugehen, sondern Kommunikation zu fördern und dem Prozess der Gruppe zu folgen (ebd., S. 38). Insgesamt ist es für den Lernprozess der Gruppe außerordentlich förderlich, wenn 326

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

die Leiter*innen neben der thematischen Fachkompetenz eben auch über Gruppenkompetenz verfügen (ebd., S. 34). Diese eher allgemeinen Hinweise zur gruppenanalytischen Haltung im Seminar lassen sich in Rekurs auf die Überlegungen von Pieter Hutz praktisch konkretisieren. Grundsätzlich ist es lohnend, den Zusammenhang von Thema und Gruppenprozess anzusprechen und immer wieder zu bearbeiten – besonders wenn der Lernprozess ins Stocken zu geraten droht. Dies kann sich beispielsweise in der Tendenz zum Intellektualisieren, als Switchen in einen Selbsterfahrungsmodus oder auch als affektives Ausweichen vor einem Thema zeigen (ebd., S. 30). So mag eine Gruppe etwa beim Thema »Autonomie-Abhängigkeits-Konflikte« ein auffälliges Schweigen entwickeln. Wenn nun eine Seminarleiterin ihrer Gegenübertragung nachspürt und womöglich Ärger auf die untätige Gruppe, eigene Insuffizienzgefühle oder gar Ohnmacht entdeckt, kann sie diese Wahrnehmung der Gruppe als Ausdruck des Themas zur Verfügung stellen, also als Spaltung der Gruppe in eine scheinbar autonome Dozentin und eine abhängige Gruppe mit wechselseitigen Gefühlen des Ärgers und der Ohnmacht. Auf diese Weise werden Lernhindernisse interpretiert, Spannung gemildert, Neugier geweckt, und die Teilnehmer*innen kommen ins Denken und Fühlen (Hutz 2008, S. 83). Des Weiteren können irritierendes Verhalten, Störungen und »falsche« Beiträge der Teilnehmer*innen als Ausdruck der Resonanz des Themas in der Gruppe verstanden werden. So sollten etwa beim Thema »Wiederannäherungskrise« aufkommende Beiträge von Studierenden, die die Notwendigkeit autoritären »Grenzsetzens« beschwören, nicht als wenig feinfühlig zurückgewiesen, sondern gemeinsam bearbeitet werden. Die Bearbeitung solcher Gefühle und Beiträge als Teil des Aneignungsprozesses hat angstmindernde Wirkung und eröffnet ein vertieftes Durcharbeiten des Themas. Umgekehrt gilt es, die Erkenntnisschritte der Gruppe zu unterstreichen und selbstverständlich auch, als Dozent*in fachlich Position zu beziehen (ebd., S. 84f.). Nicht zuletzt müssen die Grenzen der Seminargruppe geschützt werden. Hier stellt sich zunächst die Frage, welche Themen und Prozesse im raumzeitlichen Setting und im institutionellen Kontext der Hochschule überhaupt gehalten werden können. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass die Gruppensituation ebenso wie die Themen der Sozialen Arbeit Biografisches zum Klingen bringen und in die Seminargruppe einspeisen. Soweit Biografisches themenbezogen verhandelt werden kann, bleiben die Gren327

7 Gruppenanalytische Pädagogik

zen der Seminargruppe gewahrt. Wenn aber Selbsterfahrungswünsche aufkeimen, sollten Seminarleiter*innen empathisch die Grenzen des Seminars benennen und gegebenenfalls auf verfügbare Selbsterfahrungsräume an der Hochschule verweisen (ebd., S. 84). Grundsätzlich gilt auch hier, dass Interventionen, die sich auf die Gruppe als Ganzes beziehen, die Einzelnen in ihrer etwaigen Kränkbarkeit schützen, Angst mildern und von der Gruppe besser angenommen werden (vgl. Hirsch 2008, S. 59). Insgesamt trägt eine solche gruppenanalytische Haltung im Seminar dazu bei, »einen Erlebnisraum zu schaffen, in dem die Gruppe als schützend und ermunternd erfahren werden kann und so zur kreativen Auseinandersetzung mit einem Thema einlädt« (Hutz 2008, S. 85). 7.5.2 Gruppenanalytische Praxisreflexion

In vielen Studiengängen Sozialer Arbeit sind Praxiserfahrungen und Praxisreflexion in die Studienordnung integriert. Für die Praxisreflexion bietet sich hier eine Kombination von Balint-Gruppe und gruppenanalytischer Supervision an. Aus der Balint-Gruppe lässt sich das Prinzip übernehmen, dass Praktiker*innen aus verschiedenen Einrichtungen, hier der Sozialen Arbeit, zusammenkommen, um Fälle ihres Arbeitsfeldes gemeinsam zu untersuchen (Haubl 1994, S. 295). Mit Prinzipien der gruppenanalytischen Supervision kann diese Arbeit weiter vertieft werden. Diese berücksichtigt den Zusammenhang zwischen Fall, Team und Institution, und wie sich die in einem Fall eingeschriebenen, unbewussten Konflikte in der Reflexionsgruppe abbilden (Hutz 2004, S. 21; Barthel-Rösing 2005, S. 122). Auch in der Praxisreflexion kommt es zum direkten Spiegeln der bewussten und unbewussten Aspekte eines Falls in der Gruppe sowie zum indirekten Spiegeln der institutionellen Dimensionen des Falls, womöglich auch zum indirekten Spiegeln unbewältigter biografischer Themen der Teilnehmer*innen (Volhard 2002, S. 30). Gruppenleiter*innen stellt sich somit eine anspruchsvolle Aufgabe. Gerade im Hinblick auf das Aufkeimen biografischer Konflikte der Teilnehmer müssen sie etwaige Selbsterfahrungswünsche behutsam zurückweisen (ebd.). Um die Gruppe und ihr Arbeitsbündnis zu erhalten, sollten regressive Prozesse begrenzt werden. Vor allem muss der*diejenige, der*die einen Fall mitsamt der je eigenen Fragen und Unsicherheiten einbringt, geschützt werden (Haubl 1994, S. 297). Hier bietet sich eine direktivere und aktivere Haltung an als sie etwa in einer Selbsterfahrungsgruppe praktiziert 328

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

würde. Damit ist freilich nicht gemeint, die Teilnehmer*innen zu belehren oder gar zu therapeutisieren, sondern den Rahmen zu halten und den Prozess zu begleiten: Gruppenanalytische Leiter*innen sind in erster Linie Experten für Gruppenprozesse (ebd., S. 298). In Fragen des konkreten Falls sind sie ebenso wie die anderen Teilnehmer*innen Lernende in der gemeinsamen Praxisforschung (ebd.). Das praktische Vorgehen kann demnach folgendermaßen aussehen: Am Anfang steht auch hier die Einladung: »Alles was Sie im Zusammenhang mit Ihrer sozialpädagogischen Tätigkeit beschäftigt, hat Raum in der Praxisreflexion« (Barthel-Rösing 2005, S. 121). Die Teilnehmer*innen werden über die besagten direkten und indirekten Spiegelphänomene aufgeklärt. Sie werden ermuntert, bei ihren Reaktionen auf eine Falldarstellung die Aufmerksamkeit besonders auf primäre Affekte wie Angst, Wut, Ekel, Trauer und Freude sowie auf strukturelle Affekte wie Neid, Verlegenheit, Empathie, Scham, Stolz und Schuld zu richten. Diese können sich im Körper (Magendrücken, Halsdrücken, Kopfschmerzen, Schwindel), an der Haut (Schwitzen, Frieren, Erröten, Gänsehaut), im optischen Feld (Vereinigungsimpuls, Flucht- oder Kampfbereitschaft) oder in der Erinnerung (Erleichterung, Sehnsucht) zeigen und geben bedeutsame Hinweise auf unbewusste Dimensionen des Falls (Bosse 2005b). Es wird betont, dass es in der Praxisreflexion nicht um die klügste kognitive Interpretation geht, sondern dass die Verständigung über alle Gefühle und Einfälle in der Gruppe ein vertieftes Fallverstehen erst ermöglicht. Nicht zuletzt kann es besonders in der Praxisreflexion mit Studierenden ungemein entlastend sein, die Fähigkeit, sich verunsichern zu lassen, als sozialpädagogische Ressource zu benennen, Ängste vor Beschämung zu mildern und den Mut anzuerkennen, die eigenen Gefühle mitzuteilen. Der Prozess der Praxisreflexion lässt sich, eng angelehnt an Balint-Gruppen, fünfstufig strukturieren: 1. In der Anfangsrunde berichten die Teilnehmer*innen von ihrem Befinden sowie von Fällen, die sie möglicherweise in die Sitzung einbringen möchten. Als Fälle gelten dabei Arbeitsbeziehungen innerhalb des institutionellen Kontextes einer sozialpädagogischen Einrichtung, bei denen Klärungsbedarf besteht. Nachdem sich die Gruppe auf einen Fall geeinigt hat, tragen die Fallreferent*innen frei vor, ein Fall erster Ordnung wird konstituiert, während der Rest der Gruppe in gleichschwebender Aufmerksamkeit folgt, ohne die Referent*innen zu unterbrechen. Auf diese Weise setzt schon die Rede 329

7 Gruppenanalytische Pädagogik

2. 3.

4.

5.

die sinnlich-symbolische Kommunikation in Gang und fungiert als Übertragungsangebot, auf das die anderen Teilnehmer*innen mit ihren Gegenübertragungen reagieren (Haubl 1994, S. 295). In der Folge wird somit ein vertieftes Fallverstehen, ein Fall zweiter Ordnung erzeugt. Zunächst besteht die Möglichkeit, ausgehend von den ersten Eindrücken und Informationen, ergänzende und vertiefende Rückfragen an die Fallreferent*innen zu richten. Danach verständigen sich die bislang zuhörenden Teilnehmer*innen in freier Assoziation und Kommunikation über ihre Gegenübertragungsreaktionen, während die Fallreferent*innen bloß zuhören, damit die Dynamik nicht durch Rechtfertigungsdruck zu stocken beginnt. Im Gruppenprozess erhält der Fall dadurch eine szenische Gestalt, in der die unterschiedlichen affektiven Reaktionen der Teilnehmenden Bedeutung und Zuordnung gewinnen. Die Gruppe widmet sich den Fragen »Was empfinde ich in der Szene?«, »Wer bin ich in der Szene?« (etwa Kind, Sozialpädagoge oder Elternteil in einer Kitaszene) und »Um welche Wir-Szene handelt es sich?« (etwa Kindergruppe, Team oder Familie) (Bosse 2005b). Die vorrangige Aufgabe des*der Gruppenleiter*in ist dabei, Verknüpfungen herzustellen und gemeinsam mit der Gruppe die sich konturierende szenische Gestalt zu formulieren (Haubl 1994, S. 296f.). Vor dem Hintergrund der erarbeiteten Eindrücke setzen die Fallreferent*innen ihren Bericht fort, etwa in Bezug auf durchgeführte oder erwogene Handlungen in der berichteten Arbeitsbeziehung. Anschließend verständigt sich die Gruppe gemeinsam über Handlungsalternativen im Hinblick auf Entwicklungsbündnis, Optimalstrukturierung und potenziell notwendige soziale oder gesundheitliche Hilfesysteme. In der Schlussrunde haben die Fallreferent*innen und alle anderen Teilnehmer*innen die Gelegenheit, ihrem Befinden, ihren Erkenntnissen und ihren verbliebenen Irritationen Ausdruck zu verleihen.

Ein weiteres Fallbeispiel soll diesen Reflexionsprozess veranschaulichen (Naumann 2014a, S. 150f.): Eine Studierende, Frau M., berichtet von einer typischen Szene mit dem fünfjährigen Nick in einer Kita. Sie schildert Nick als klein 330

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

und schmal. Gerne erzählt Nick Geschichten über seine Größe und seinen unglaublichen Besitz. Nachdem die anderen Kinder ihm diese Geschichten nicht glauben, beginnt Nick zu schlagen und zu schubsen. Auch als Frau M. eingreift, wird sie von Nick attackiert. Sie selbst empfindet die Attacke nicht als bedrohlich, doch die erfahrenen Kolleginnen zwingen Nick, sich bei Frau M. zu entschuldigen. Ihr Unbehagen in dieser Szene möchte sie gerne in der Gruppe bearbeiten. Die Rückfragen ergeben weitere Informationen. Die Mutter von Nick wirkt sehr groß und stark. Sie kümmert sich recht intensiv um den zweijährigen Bruder, der die gleiche Kita besucht. Nick zeigt manchmal eine große Freude, wenn seine Mutter zum Abholen kommt, obgleich sie überwiegend mit dem kleinen Bruder beschäftigt ist. Ein Vater scheint nicht präsent zu sein. Die Gruppe erfährt aber, dass die Mutter nach Nicks Geburt an einer postpartalen Depression gelitten hat. Nick bringt immer sein Plüschtier in die Kita und pflegt es, auch ist er im Spiel mit Frau M. gerne ein Hund, der sich bemuttern lässt. In den Gruppenassoziationen ist Aggression zunächst nicht spürbar. Vielmehr breiten sich tiefe Traurigkeit und Leere aus, die erst Nick, dann auch seiner Mutter zugeordnet werden. Danach schwillt Ärger an, der zunächst auf den Entschuldigungszwang in der Kita gerichtet ist und der als Übergehen der kindlichen Bedürfnisse von Nick gedeutet wird. Doch anschließend formulieren einige Teilnehmer*innen auch ihre Wut auf die Mutter, die ihren großen Sohn offenbar nicht genügend gut bemuttert. Andere aber zeigen ihr Mitgefühl mit der belasteten Mutter und sind in Kontakt mit schwer auszuhaltenden Schuldgefühlen Nick gegenüber. Dieser scheint mit der großen und den Bruder versorgenden Mutter identifiziert zu sein. Auch Nick muss offenbar groß sein, während er die ungestillten Bedürfnisse nach Bemutterung in Pflegespielen sowie die unsagbare Wut infolge der erlebten Belastungen in den verzweifelt aggressiven Handlungen inszeniert, wenn die anderen Kinder seine notwendigen Omnipotenzfantasien nicht bestätigen. Offenbar darf die Geschwisterrivalität nicht bearbeitet werden, Nick fehlt überdies gerade in der ödipalen Phase eine triangulierende Bezugsperson und vor allem bleibt die Frage offen, wie Nick die frühkindlichen Erfahrungen mit einer depressiv abwesenden Mutter verkraften konnte. In der Gruppe wird die Fantasie erwogen, dass die Mutter sich schuldig fühlt wegen 331

7 Gruppenanalytische Pädagogik

ihrer Depression, dass sie vielleicht sogar Nick als monströsen Auslöser ihrer Depression empfindet, was wiederum noch heftigere Schuldgefühle evozieren dürfte, und dass sie letztlich ihr psychisches Überleben sichert, indem sie den kleinen Bruder, mit dem offenbar alles in Ordnung ist, ihre Fürsorge zukommen lässt. In der Kita wird das Problem noch verschärft, weil hier kindliche Aggression verpönt ist und Nicks Übergriffe durch den Entschuldigungszwang zur Bestätigung der institutionellen Normen benutzt werden. Vielleicht fühlen sich die Pädagog*innen auch selbst nicht genügend gut bemuttert und agieren in der Forderung zur Entschuldigung bei Frau M., der Praktikantin, den Wunsch, in ihrer Belastung gesehen zu werden. Auf dieser Grundlage entwirft die Gruppe Ideen, wie Frau M. zu einem förderlichen Umgang mit den Beteiligten beitragen könnte. Für das Entwicklungsbündnis mit Nick tauchen Bilder auf, seine Wünsche nach Fürsorge verwirklichen zu helfen und ihm spielerische Erlebnisse im Als-ob-Modus zu ermöglichen, in denen er seine Wut zeigen und bearbeiten kann. Im Hinblick auf die Kindergruppe könnte es förderlich sein, die Tabuisierung von Aggression durch das unter den Kindern sehr beliebte Wrestling spielerisch in einem geschützten Raum zu durchbrechen. Dazu wäre es hilfreich, wenn sich die Verantwortlichen in der Kita wieder für besondere und allgemeine kindliche Entwicklungsthemen öffnen und der Frage des eigenen Containments widmen dürften. Nicht zuletzt könnte die Mutter von einem Beratungsgespräch profitieren, in dem ohne Vorwürfe ein Raum zur Verfügung steht, der die Wahrnehmung der eigenen Wut und Schuld sowie vor allem der Bedürfnisse Nicks eröffnet. Die Gruppe und vor allem Frau M. ist am Ende der Sitzung erschöpft, aber auch spürbar entlastet. Tatsächlich werden die Anregungen von Frau M. in der Kita dankbar aufgenommen, die Arbeitsbeziehungen können fortan zugewandter und förderlicher gestaltet werden. In der Praxisreflexion werden die Teilnehmer*innen darauf hingewiesen, dass sich erst in der sozialpädagogischen Praxis erweist, ob die erarbeiteten Erkenntnisse zutreffend sind. Auch müssen der psychosoziale Druck und Ohnmachtsgefühle im Hinblick auf die Praxis gemildert werden, die viele Teilnehmer*innen als Studierende und Praktikant*innen empfinden – als solche tragen sie nicht die volle pädagogische Verantwortung und verfügen nur über begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten. Gleichwohl erleben sie 332

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

im Containing der Gruppe und durch die Einladung, neben dem Denken auch das Fühlen zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen, am eigenen Leib den Zusammenhang von Beziehung, Gruppe und Institution. Sie machen im besten Sinne Erfahrungen »vitaler Evidenz« in der Gruppe als Zusammenwirken von rationaler Einsicht, emotionaler Erfahrung und leibhaftigem Erleben in sozialer Bezogenheit (Petzold 2004, S. 694). Und mit dem vertieften Verstehen öffnen sich für die sozialpädagogischen Arbeitsbeziehungen weitere Evidenzerfahrungen, mit Hans-Georg Trescher gesprochen: »Wer versteht, kann (manchmal) zaubern« (Trescher 1982). 7.5.3 Gruppenanalytische Selbsterfahrung

Gruppenanalytische Selbsterfahrungsangebote für Studierende der Sozialen Arbeit sind aus mindestens drei Gründen ungemein hilfreich: Erstens bietet die Selbsterfahrungsgruppe die Möglichkeit, lebensgeschichtlich unbewältigt gebliebene Konflikte und die eigene Übertragungsbereitschaft kennenzulernen und durchzuarbeiten – diese Themen müssen dann nicht in künftigen Arbeitsbeziehungen destruktiv ausagiert werden. Zweitens macht die Selbsterfahrungsgruppe das Selbsterleben und das affektive Geschehen im Netzwerk der Gruppe spürbar – auf diese Weise können Affektbildung, Introspektion, Empathie und Konfliktfähigkeit der Studierenden gedeihen, zugleich festigt, vertieft und öffnet sich dadurch ihre Haltung als Leiter*innen gegenwärtiger oder kommender pädagogischer Gruppen (Finger-Trescher 2012b, S.  39/49). Drittens kann die Markierung des hochschulischen Kontextes der Selbsterfahrung für die Bedeutung institutioneller Strukturen im Hinblick auf die Themen und Dynamiken von Gruppenprozessen sensibilisieren. Im Seminar und in der Praxisreflexion müssen Selbsterfahrungswünsche der Arbeitsaufgabe gemäß begrenzt werden. Doch gerade an Hochschulen besteht auch die Möglichkeit, durch die Institutionalisierung von Selbsterfahrungsangeboten zur Professionalisierung der künftigen Sozialpädagogen beizutragen. Aus gruppenanalytischer Perspektive gilt es dabei, die institutionelle Matrix, die Gestaltung des Settings sowie die gruppenanalytische Technik sorgsam zu beachten und zu gestalten (vgl. Rohr 2012, S. 207). Die institutionelle Matrix einer Selbsterfahrungsgruppe an der Hochschule besteht aus dem Netzwerk von Lehrenden, Mitarbeiter*innen und Studierenden, der gewachsenen institutionellen Kultur sowie aus den 333

7 Gruppenanalytische Pädagogik

bewussten und unbewussten Vorstellungen zu diesem Bildungsort. Die Matrix ist gerade heute von Ökonomisierungstendenzen sowie von wachsendem Prüfungs- und Konkurrenzdruck geprägt, und sie ist materialisiert in der räumlichen und personellen Ausstattung sowie in der konkreten Studien- und Prüfungsordnung. Des Weiteren kommt es im alltäglichen Lehrbetrieb zu vielfältigen Begegnungen, sowohl in der hierarchischen Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden als auch in den Kontakten der Studierenden untereinander. Vor diesem Hintergrund ist die Freiwilligkeit der Teilnahme eine wichtige Voraussetzung gruppenanalytischer Selbsterfahrung an der Hochschule. Für die Gestaltung des Settings ist ein verlässlich verfügbarer und geeigneter Raum unabdingbar, in dem sich eine Gruppe kontinuierlich treffen kann. Zudem muss das Setting frei von Prüfungsleistungen sein, weil die Verquickung der Rollen als Gruppenleiter*in und Prüfer*in aus gruppenanalytischer Perspektive nicht tragbar ist. Nicht zuletzt sind bei der Settinggestaltung die persönlichen Vorgespräche bedeutsam. Hier erhalten die Interessent*innen einerseits Informationen zu den Grundregeln der freien Kommunikation und Schweigepflicht, zu den Vereinbarungen bei Absage von Sitzungen oder vorzeitigem Abschied aus der Gruppe, zum Umgang mit Prüfungsleistungen sowie zu den Kriterien, die einer Teilnahme entgegenstehen. Andererseits erhalten sie einen Raum, in dem sie von ihrem biografischen Hintergrund, ihrer aktuellen Lebenssituation und ihrer Motivation zur Teilnahme an der Gruppe erzählen können (Behr/Hearst 2009, S. 64ff.). Im Anschluss sollten die Eindrücke aus den Vorgesprächen protokolliert werden. So werden lebensgeschichtliche Daten, Ereignisse und Brüche festgehalten, die Motivation zur Teilnahme reflektiert und vor allem der Gegenübertragung nachgespürt, um erste Gedanken zu den Entwicklungsperspektiven der Teilnehmer*innen in der Gruppe zu gewinnen. Die Gruppe selbst ist dann insofern homogen, als alle Teilnehmer*innen Studierende der Sozialen Arbeit sind. Dennoch sollte die Gruppe genügend heterogen zusammengesetzt sein, damit sich die Teilnehmenden im fremd erscheinenden Anderen spiegeln, erkennen und auch unterscheiden können. Auch im Hinblick auf die gruppenanalytische Technik müssen die institutionellen Kontexte bedacht werden. Wenn nämlich die institutionellen Kontexte und die darin eingeschriebenen Affekte abgewehrt werden, treten die infantilen Themen der Teilnehmer*innen und eine Tendenz zur Therapeutisierung in den Vordergrund (Trescher 1993, S.  108; Rohr 2012, 334

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

S. 206). Die etwaigen institutionell bedingten Affekte, etwa Ängste und Aggressionen, werden dann unreflektiert in die Gruppe oder die Einzelnen verschoben und entfalten dort, gleichsam am falschen Ort, eine maligne Wirkung. Demgegenüber gilt es in hochschulischen Selbsterfahrungsgruppen, die Prozesse immer wieder an die primäre Aufgabe, also die Professionalisierung künftiger Sozialpädagog*innen, sowie an die institutionelle Matrix zu koppeln. Auch in einer hochschulischen Gruppe sollen natürlich Setting, Schweigepflicht und freie Kommunikation zur Entfaltung von Resonanz, Spiegelreaktionen und multiplen Übertragungen beitragen – und aus der Perspektive der Gruppenleiter*innen das Arbeiten in der Übertragung befördern. Zugleich aber ist zu berücksichtigen, dass die Teilnehmer*innen ihre hochschulischen Vorerfahrungen, etwaige Konkurrenz- und Leistungsnormen sowie ihre alltäglich möglichen Begegnungen im Hochschulalltag mit in die Gruppe bringen. Deshalb ist mit besonderen Ängsten in der Gruppe zu rechnen und Regression muss auf ein Maß begrenzt werden, das in einer solchen Selbsterfahrungsgruppe gehalten werden kann. In Sinne der Angstmilderung und Regressionsbegrenzung bieten sich Interventionen an: ➣ die besonders zu Beginn des Gruppenprozesses Aggression und Übertragung nur sehr zurückhaltend deuten; ➣ die eine eher aktive Leitung repräsentieren, weil eine überbetonte Abstinenz zu maligner Regression und einem ungünstig ansteigenden Angstlevel führen könnte; ➣ die auf der Grundlage einer mentalisierenden Haltung eine nachholende Affektregulierung unterstützen sowie Selbstoffenbarung und Ratschläge der Teilnehmer*innen nicht als bloßen Widerstand abtun (Potthoff 2008, S. 103ff.); ➣ die dabei helfen, die Gruppenerfahrungen in ihrer Bedeutung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu mentalisieren sowie zwischen dem Hier und Jetzt der Gruppe und der äußeren, also auch institutionellen und gesellschaftlichen Realität zu oszillieren (vgl. Karterud 2012, S. 390f.)10; 10 Diese technischen Hinweise stammen aus der Integration des Mentalisierungskonzepts in die gruppenanalytische Psychotherapie, beziehungsweise aus der Verknüpfung von Gruppenanalyse und mentalisierungsbasierter Gruppentherapie – teils mit traumatisierten Patient*innen (dazu Karterud 2012; Potthoff 2008/2012). Sie sind aber auch in den nichttherapeutischen hochschulischen Selbsterfahrungsgruppen außerordentlich

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7 Gruppenanalytische Pädagogik

und die damit immer wieder dazu beitragen, Aspekte der institutionellen Matrix zu symbolisieren.



Sicherlich ist jede Gruppe besonders und hat ihren eigenen Verlauf. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die Prozesse gruppenanalytischer Selbsterfahrungsgruppen an der Hochschule gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. In der Anfangsphase überwiegt zumeist ein eher dyadischer Modus. Hier kann die Gruppe durchaus als Wiederkehr belastender früher Beziehungserfahrungen erlebt werden, wenn etwa die Imago einer intrusiven primären Bezugsperson oder Repräsentanzen wenig feinfühliger Eltern auftauchen. Ausgehend von den sinnlich-symbolischen Kommunikationen und mithilfe wechselseitiger markierter Spiegelungen wächst jedoch das Vertrauen in die haltenden Fähigkeiten der Gruppe. Dazu tragen auch die besagte Zurückhaltung von Übertragungsdeutungen sowie die Unterstützung der nachholenden Affektregulierung durch den*die Gruppenleiter*in bei. Die Teilnehmer*innen können somit das Wagnis der Verbundenheit und Individuation eingehen (Mittelsten Scheid 2010, S. 95). In der folgenden Arbeitsphase kann die Gruppe dann häufig in einem eher triadischen Modus arbeiten. Auf der Grundlage der haltgebenden Erfahrungen werden zunehmend Differenzen, Konflikte, Übertragungen oder auch projektive Identifizierungen in der Gruppe gezeigt, erlebbar und symbolisch integriert. Mit einem Fallbeispiel aus dieser Arbeitsphase möchte ich die Potenziale hochschulischer Selbsterfahrungsgruppen greifbar machen (Naumann 2014a, S. 156ff.): Im Fokus der Fallrekonstruktion stehen die Entwicklung eines Teilnehmers, Herr K., sowie die Bedeutung eines von ihm eingebrachten Konflikts für die Gruppe als Ganzes. Herr K. ist ein sicher auftretender junger Mann mit einem ausgesprochen einnehmenden Wesen. Am Fachbereich und in der hochschulischen Selbstverwaltung ist er sehr engagiert und geschätzt. Aus dem Vorgespräch ist bekannt, dass er aus einer Stadt stammt, die sehr weit vom Hochschulstandort entfernt liegt. Kurz erwähnt er seine glücklich verheirateten Eltern, die er immer wieder besucht, sowie sein soziales Engagement, teils an weit entlegenen Orten. Die Gruppe möchte er zur weiteren Profeshilfreich, weil sie eben eine angstmindernde und regressionsbegrenzende Wirkung entfalten und obendrein die institutionelle Matrix zu mentalisieren erlauben.

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7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

sionalisierung nutzen. In der Gegenübertragung entdeckt der Gruppenleiter zunächst eine Irritation ob der Diskrepanz zwischen der Beschreibung harmonischer Familienbeziehungen und der Suche nach möglichst entfernten Orten. Zudem fühlt er sich durch Herrn K. zu einem wechselseitigen narzisstischen Spiegeln eingeladen, das Anerkennung und Souveränität reflektiert. Vielleicht muss Herr K. bei einer Abweichung von diesem Bild, wenn er in Kontakt mit Kränkbarkeit und Bedürftigkeit kommt, das Weite suchen. Während der ersten Gruppentreffen ist Herr K. zunächst sehr still. Als er darauf angesprochen wird, sagt er erst, dass er meist nur spricht, wenn er etwas gefragt wird. Sodann hebt er zu einem eindrucksvollen Vortrag an, in dem er von seiner guten Beziehung zu seinen Eltern sowie seinen sozialpädagogischen Tätigkeiten und seinem sozialen Engagement berichtet. Nur in kleinen Nebensätzen erwähnt er eigene Schwierigkeiten, etwa die intrusive Fragerei seiner Mutter, seine Irritation darüber, dass er manchmal wichtige Ereignisse vergisst, und seine Vorbehalte, andere Menschen etwas Persönliches zu fragen, weil er Angst hat diese zu bevormunden. In der Gruppe erntet er jedoch vor allem Interesse und Bewunderung, besonders von Teilnehmer*innen, die zwar bedrückt, aber doch sehr klar über ihre eigenen Unsicherheiten sprechen können. Offenbar musste sich Herr  K. im Sinne seines psychischen Überlebens nach innen und außen verschließen, während die liegengebliebenen Affekte durch seine beeindruckenden Tätigkeiten sowie durch projektive Identifizierungen agiert werden. Ohne diesen Zusammenhang zu deuten, fragt der Leiter zu Beginn der nächsten Sitzung Herrn K., wie es ihm denn nach dem letzten Treffen ergangen ist. Er antwortet: »Ich habe halt Glück gehabt«. Der Leiter entgegnet, dass das auch für ihn stimmig klingt, dass Herr K. sich aber dennoch gestatten darf, sich mit seinen Bedürfnissen und Unsicherheiten zu zeigen, die spürbar geworden sind. In den folgenden Sitzungen ist Herr K. aufmerksam, aber auch sehr ruhig. Auffällig ist besonders, dass er bei Weitem am häufigsten die Sitzposition wechselt. Als er in der Arbeitsphase erstmals direkt neben dem Gruppenleiter »landet« und dieser ihn darauf anspricht, antwortet Herr K. zunächst, dass er im Sinne seiner Professionalisierung verschiedene Perspektiven in der Gruppe ausprobieren wolle. Als dies in der Gruppe Irritationen auslöst, platzt es aus Herrn  K. 337

7 Gruppenanalytische Pädagogik

überraschend affektiv heraus: Erst bringt er seine Wut zum Ausdruck, dass sonst »immer« auf Positionswechsel in der Gruppe reagiert würde – eine Wut, die sich gegen die Gruppe und wohl vor allem gegen den »unaufmerksamen« Gruppenleiter richtet. Dann spricht er von seinem Neid auf die anderen Teilnehmer*innen, die ihre Gefühle zeigen und auch weinen können. Das Erstaunen, das die Verletzlichkeit dieses starken Mannes in der Gruppe auslöst, führt zu weiteren fürsorglichen Nachfragen. Herr K. kommt beim Antworten in Kontakt nicht nur mit verletzenden Erfahrungen in der Schulzeit, sondern auch mit der Wut auf seine intrusive Mutter und seinen prinzipienreitenden Vater. Jetzt wird die Dynamik in der Gruppe besser verstehbar. Die anfängliche Stille von Herrn K. war wohl Folge der Angst vor neuerlicher Intrusion, nun in der Gruppe, zugleich erkennt er in anderen, »schwachen« Teilnehmer*innen das bedürftige und umsorgte Kind, das er selbst gerne gewesen wäre, und vom Gruppenleiter erhofft er sich die Anerkennung durch eine empathischere Vaterfigur – eine Hoffnung, die zugleich durch eine negative Vaterübertragung und die damit verknüpfte Befürchtung neuerlicher Maßregelungen zu platzen droht. Zudem erscheinen seine Kompetenzaneignung und sein Engagement als kreative Bewältigung der erlittenen Verunsicherung. Der Gruppenleiter bietet Herrn K. die Deutung an, dass sein fortwährendes Heimkehren und Flüchten anzeigen könnte, dass bislang noch schmerzhafte Anteile seiner Beziehungserfahrungen ungelöst geblieben sind, und dass es nun vielleicht besser gelingen kann, die schönen und die schmerzhaften Aspekte seiner Erfahrungen mit seinen Eltern zu integrieren. Vermutlich hat dieser Kontakt mit der eigenen Verletzlichkeit im Spiegel der Gruppe dazu beigetragen, dass Herr K. auch seine sozialpädagogische Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit erweitern konnte. Darüber hinaus aber war der Konflikt für die Gruppe als Ganzes bedeutsam. Zuvor war die Gruppe gespalten in eine größere Subgruppe von Teilnehmer*innen, die ihre Unsicherheit, ihre Traurigkeit oder ihre Selbstzweifel gut zeigen konnten, und eine kleinere Subgruppe, die aus betont souverän wirkenden Teilnehmer*innen bestand. Hier waren wechselseitige projektive Identifizierungen am Werk, die einerseits Stärke und Unabhängigkeit, andererseits Schwäche, Abhängigkeit und auch Empfindsamkeit in der je anderen Subgruppe deponierten. Neben diesen Aspekten in der dynamischen 338

7.5 Gruppenanalyse in Studiengängen der Sozialen Arbeit

Matrix musste aber auch der Einfluss der institutionellen Matrix bedacht werden, um förderliche Prozesse zu ermöglichen. Denn in dieser Gruppe von angehenden Sozialpädagog*innen war unweigerlich auch die Frage, wer in den Augen der Gruppe, des Leiters, der Hochschule und des Arbeitsmarkts als kompetente*r Sozialpädagog*in gelten kann: Ist es professionell, Gefühle zu zeigen und sich berühren zu lassen? Oder gehört dazu nicht eher eine distanzierte Souveränität? Oder lässt sich auch beides zu einer stabilen und feinfühligen sozialpädagogischen Haltung integrieren? In diesem Sinne war es erst die Verknüpfung von persönlichen, gruppenspezifischen und institutionellen Aspekten, die die Rücknahme von Spaltung und projektiven Identifizierungen und damit neue Entwicklungsräume in der Gruppe eröffnete. Prozesse wie in diesem Fallbeispiel unterstützen Gruppenleiter*innen durch Verknüpfungen, durch eine szenisch angemessene Sprache oder auch durch konfrontierende Zumutungen. Vor allem aber sollten sie dem Prozess der Gruppe folgen und die Kommunikation fördern, weil damit die Teilnehmer*innen ihre Fähigkeiten zum Fühlen und Denken entfalten und sich von ihrer Abhängigkeit der Leiterautorität gegenüber entwöhnen können. Die Abschiedsphase schließlich kündigt sich nicht selten auf der sinnlich-symbolischen Ebene an, indem die Teilnehmer*innen zum Beispiel auffällig Sitzpositionen wechseln oder sich eine atemlose Bedürftigkeit ausbreitet, offengebliebene Themen zu bearbeiten. Besonders wenn der*die Gruppenleiter*in die in der Gegenübertragung spürbaren Bedürfnisse und Gefühle der Trauer nicht abwehrt, sondern symbolisieren hilft, zeigt sich ein gelingender Gruppenprozess in ausgeprägten Fähigkeiten zur Mentalisierung. Diese beziehen sich etwa auf die Wahrnehmung der Entwicklung von sinnlich-symbolischen zu sprachsymbolischen Kommunikationen in der Gruppe sowie vor allem auf die denkende und fühlende Verständigung über die Veränderungen der Einzelnen und der Gruppe im gemeinsamen Prozess. Im Kontext einer Selbsterfahrungsgruppe für Studierende der Sozialen Arbeit können aber auch die Bedeutung der Gruppenerfahrung im Rahmen des Studiums sowie das gruppenanalytische Vorgehen im Hinblick auf die eigene sozialpädagogische Gruppenpraxis Themen der Verständigung sein. Insgesamt möchte ich im Hinblick auf Selbsterfahrungsgruppen mit Studierenden festhalten, dass Gruppenleiter*innen gemeinsam mit der 339

7 Gruppenanalytische Pädagogik

Gruppe das in Szene gesetzte Gruppengeschehen erforschen, und zwar im Hinblick auf die Interaktionen im Hier und Jetzt der Gruppe, auf wiederbelebte verinnerlichte Gruppenerfahrungen sowie auf den institutionellen Rahmen der Hochschule. Auf diese Weise können die Empfindungs- und Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen und der Gruppe wachsen – nicht nur im Sinne der Versöhnung mit biografischen Konflikten, die dann nicht in sozialpädagogischen Beziehungen ausagiert werden müssen, sondern auch als vertieftes Verständnis für das Wechselspiel von Subjekt, Gruppe und Institution in sozialpädagogischen Praxisfeldern. Letztlich wird damit der Grundstein für eine gruppenanalytisch-pädagogische Haltung gelegt, wie sie oben ausführlich entfaltet wurde. Eine solche Haltung kann den künftigen Sozialpädagog*innen ermöglichen, sich in Gruppenbeziehungen verstricken zu lassen und auch heftige Affekte zu containen, sie erlaubt, die zunächst nur sinnlich-symbolisch agierten Botschaften zu verstehen und im Hier und Jetzt der Gruppe Konfliktlösungen und Selbstbildungsprozesse anzubahnen. Und im Sinne dieser primären Aufgabe schließt sie die Gestaltung eines förderlichen Settings unter Beachtung des institutionellen Rahmens ein (vgl. Finger-Trescher 2012b, S. 49).

7.6

Ausblick

Gerade weil die Gruppenanalyse die Tiefendimension von intersubjektiven, Gruppen- und Sozialbeziehungen berücksichtigt, eröffnet sie nicht nur Entwicklungs- und Bildungspotenziale, sondern hilft obendrein, Wurzeln des Destruktiven in Bildungsinstitutionen zu entdecken und zu bekämpfen (vgl. Hutz 2004, S. 20). Gruppenanalytische Pädagogik ist gleichsam die Kunst, die eigenen Affekte nicht als vermeintliche Erkenntnisstörung abzuwehren, sondern als Erkenntnisquelle zu nutzen. Auf diese Weise können Resonanzen, Spiegelreaktionen, multiple Übertragungen und Gegenübertragung in die Wahrnehmung rücken – die mögliche Bedeutung der im szenischen Verstehen wahrgenommenen Affekte für individuelle, gruppale und institutionelle Prozesse kann rekonstruiert werden, um haltgebende pädagogische Beziehungen und förderliche Interventionen zur Verfügung zu stellen, die Entwicklungs- und Bildungsräume öffnen. Gruppenanalytische Pädagogik befördert eine demokratische Gruppenkultur und kann Entwicklungen von gesellschaftspolitischer Relevanz in Gang setzen (ebd.). Sie öffnet intermediäre Räume für eine gelebte Be340

7.6 Ausblick

ziehungsästhetik, in der das Zusammenwirken von biografisch entstandenen und gesellschaftlich bewirkten Affekten gemeinsam erforscht, in der Leid, Wut und Angst geteilt und in der transgressives Fühlen und Handeln, glücklicheres Fühlen und Handeln entfaltet werden können. Wenn Bildung in einem emphatischen Sinn die Aneignung und Gestaltung der Welt im Dienste der je eigenen und der allgemeinen Bedürfnisse meint, dann ist ihre Bedingung die gelingende Integration von Fühlen und Denken sowie die hoffnungsvolle Zuversicht, das Wagnis der Individuation und der Verbundenheit eingehen zu können (Mittelsten Scheid 2010, S. 95f.; Jaenicke 2006). Und wenn es gelingt, eine Gruppennorm zu entwickeln, von der die Einzelnen möglichst weit abweichen dürfen, können Bedürfnisse entdeckt, Differenzen anerkannt und Vielfalt integriert werden – als Voraussetzung für tiefgreifende emanzipatorische Bildungsprozesse. Besonders heute, in Zeiten der Vereinzelung und Ökonomisierung sowie dominanzkultureller Über- und Unterordnungen ist es auch pädagogisch dringlich, nicht nur »ohne Angst verschieden« (Adorno 1969, S. 131), sondern zugleich ohne Angst verbunden sein zu können (Naumann 2014a, S. 162). Gruppenanalytische Pädagogik kann dazu einiges beitragen. Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Altmeyer, Martin & Thomä, Helmut (2006): Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität. In: Altmeyer, Martin & Thomä, Helmut (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart, Klett-Cotta, S. 7–31. Barthel-Rösing, Marita (2005): Gruppenanalytische Supervision als Integration von Fallarbeit und Teamentwicklung. In: Haubl, Rolf; Heltzel, Rudolf & Barthel-Rösing, Marita (Hrsg.): Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 121–140. Barthel-Rösing, Marita & Haubl, Rolf (2017): Was ist gruppenanalytische Supervision? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 2/2017, 118–137. Bartsch, Erdmute (2012): Containment. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, S. 108–129. Bauer, Joachim (2009): Spiegelung: Der Kern der pädagogischen Beziehung. In: Haubl, Rolf; Dammasch, Frank & Krebs, Heinz (Hrsg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 196–203. Behr, Harold & Hearst, Liesel (2009): Gruppenanalytische Psychotherapie. Menschen begegnen sich. Eschborn, Verlag Dietmar Klotz.

341

7 Gruppenanalytische Pädagogik Bosse, Hans (2005a): Die Bedeutung des Wir in der Gruppenanalyse. gruppenanalyse 1/2005, 13–40. Bosse, Hans (2005b): Drei Zugänge zum Abgewehrten. Unveröffentlichtes Manuskript. Brandes, Holger (1999): Individuum und Gemeinschaft in der Sozialen Gruppenarbeit: der gruppenanalytische Ansatz. In: Effinger, Herbert (Hrsg.): Soziale Arbeit und Gemeinschaft. Freiburg, Lambertus, S. 113–140. Brandes, Holger (2005): Gruppenmatrix und Theorie des Unbewussten. Über Bewegungen und Perspektiven in der gruppenanalytischen Theorie und Praxis. gruppenanalyse 2/2005, 151–169. Brandes, Holger (2008): Selbstbildung in Kindergruppen. Die Konstruktion sozialer Beziehungen. München, Ernst Reinhardt Verlag. Brandes, Holger (2012): Die Kindergruppe als Lernort. Den selbstorganisierten Gruppen Raum geben. TPS 2/2012, 6–11. Brandl, Sarah Yvonne (2017): Gruppenanalytische Perspektiven des Mentalisierens für pädagogische Professionalisierungsprozesse. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 4/2017, 323–345. Büttner, Christian (1997): Gruppenarbeit. Eine psychoanalytisch-pädagogische Einführung. Mainz, Matthias Grünewald Verlag. Büttner, Christian & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.) (1987): Chancen der Gruppe. Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag. Mainz, Matthias Grünewald Verlag. Diez Grieser, Maria Teresa & Müller, Roland (2018): Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart, Klett-Cotta. Dinger, Wolfgang (2012): Paradigmen gruppenanalytischer Arbeit. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, S. 146–157. Eberhard, Hans-Joachim (2012): Kompromissbildung und institutionelle Abwehr. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, S. 95–107. Eggert-Schmid Noerr, Annelinde (2012): Das Kind als Außenseiter. In: Heilmann, Joachim; Krebs, Heinz & Eggert-Schmid Noerr, Annelinde (Hrsg.): Außenseiter integrieren. Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 25–46. Eggert-Schmid Noerr, Annelinde & Krebs, Heinz (2012): Professionalisierung von Pädagogik und Sozialer Arbeit im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik. In: Datler, Wilfried; Finger-Trescher, Urte & Gstach, Johannes (Hrsg.): Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln – Aneignen – Anwenden. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 106–120. Finger-Trescher, Urte (2001): Grundlagen der Arbeit mit Gruppen – Methodisches Arbeiten im Netzwerk der Gruppe. In: Muck, Mario & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 205–236. Finger-Trescher, Urte (2012a): Kinder – Gruppe – Leitung. Die horizontale und vertikale Ebene des Gruppenprozesses. TPS 2/2012, 22–26. Finger-Trescher, Urte (2012b): Psychoanalytisch-pädagogisches Können und die Funktion gruppenanalytischer Selbsterfahrung. In: Datler, Wilfried; Finger-Trescher, Urte & Gstach, Johannes (Hrsg.): Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln – Aneignen – Anwenden. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 34–52.

342

7.6 Ausblick Foulkes, S. H. (1974): Gruppenanalytische Psychotherapie. München, Kindler. Gerspach, Manfred (2007): Vom szenischen Verstehen zum Mentalisieren. Notwendige Ergänzungen fürs pädagogische Handeln. In: Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Finger-Trescher, Urte & Pforr, Ursula (Hrsg.): Frühe Beziehungserfahrungen. Die Bedeutung primärer Bezugspersonen für die kindliche Entwicklung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 261–307. Gingelmaier, Stephan; Taubner, Svenja & Ramberg, Axel (Hrsg.) (2018): Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, Rolf (1994): Außer-therapeutisches Analyseinstrument. In: Haubl, Rolf & Lamott, Franziska (Hrsg.): Handbuch Gruppenanalyse. Berlin, München, Quintessenz, S. 292–304. Hirsch, Mathias (2008): Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie traumatisierter Patienten. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.): Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 34–85. Hüther, Gerald (2004): Woher kommt die Lust am Lernen? Neurobiologische Grundlagen intrinsisch und extrinsisch motivierter Lernprozesse. In: Dammasch, Frank & Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt am Main, Brandes & Apsel, S. 17–32. Hutz, Pieter (2004): Gibt es Neues in der Gruppenanalyse? www.hutz.org/d/Gibt_es_ Neues_in_der_Gruppenanalyse.pdf (10.03.2014). Hutz, Pieter (2008): Praxis der gruppenanalytischen Theorie- und Fallarbeit im Seminar. gruppenanalyse 1/2008, 82–85. Hutz, Pieter (2012): Unterrichten und Lernen als gruppenanalytischer Prozess. gruppenanalyse 1/2012, 26–39. Jaenicke, Chris (2006): Das Risiko der Verbundenheit – Intersubjektivitätstheorie in der Praxis. Stuttgart, Klett-Cotta. Karterud, Sigmund (2012): Konstruieren und Mentalisieren der Matrix. Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse 4/2012, 379–396. Katzenbach, Dieter (2004): Wenn das Lernen zu riskant wird. Anmerkungen zu den emotionalen Grundlagen des Lernens. In: Dammasch, Frank & Katzenbach, Dieter (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt am Main, Brandes & Apsel, S. 83–104. Köhncke, Dietlind (2011): Vom Eigen-Sinn der Gruppe. gruppenanalyse 1/2011, 6–23. Lorenzer, Alfred (1973): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Mittelsten Scheid, Brigitte (2010): Die Bedeutung der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse für die Gruppenanalyse. gruppenanalyse 1/2010, 82–102. Mittelsten Scheid, Brigitte (2012): Die Bedeutung der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse für eine gruppenanalytische Supervision. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, S. 161–184. Morgenroth, Christine (2015): Gesellschaftskrankheiten: Entgrenzung und beschädigte Subjektivität. In: Waldhoff, Hans-Peter; Morgenroth, Christine; Moré, Angela & Kopel, Michael (Hrsg.): Wo denken wir hin? Lebensthemen, Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 197–211.

343

7 Gruppenanalytische Pädagogik Müller, Burkhard & Krebs, Heinz (1998): Der psychoanalytisch-pädagogische Begriff des Settings und seine Rahmenbedingungen im Kontext der Jugendhilfe. In: Müller, Burkhard; Krebs, Heinz & Finger-Trescher, Urte (Hrsg.): Jugendhilfe und Psychoanalytische Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 15–40. Nadja (2004): Blauer Hund. Frankfurt am Main, Moritz-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2011): Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte. Psychoanalytischpädagogische Elternarbeit in der Kita. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2012): Die Arbeit mit der Elterngruppe. In: Hess, Simone (Hrsg.): Grundwissen Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen und Familienzentren. Berlin, Cornelsen, S. 142–156. Naumann, Thilo Maria (2014a): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2014b): Notizen zur Anwendung der Gruppenanalyse in der Hochschulbildung. Seminararbeit, Praxisreflexion und Selbsterfahrung in Studiengängen der Sozialen Arbeit. In: Gerspach, Manfred; Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Naumann, Thilo Maria & Niederreiter, Lisa (Hrsg.): Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis. Stuttgart, Kohlhammer, S. 53–73. Naumann, Thilo Maria (2016): Grundzüge gruppenanalytischer Pädagogik. gruppenanalyse 2/2016, 86–111. Naumann, Thilo Maria (2020a): Gruppenanalytische Pädagogik – Individuation und Verbundenheit in haltenden Beziehungen. gruppenanalyse 1/2020, 37–55. Naumann, Thilo Maria (2020b): Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität – Freud, Butler und Queer Theory im Spiegel gruppenanalytischer Reflexion. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 3/2020, 266–291. Potthoff, Peter (2008): Mentalisierung und gruppenanalytische Behandlungstechnik. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.): Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 86–116. Potthoff, Peter (2012): Gruppenanalytische Praxis heute: relationale und intersubjektive Perspektiven. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 4/2012, 397–413. Rohr, Elisabeth (2012): Ein Praktikum in Afrika und seine supervisorische Aufarbeitung in einem universitären Seminar. In: Dinger, Wolfgang (Hrsg.): Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln. Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel, university press, 200–216. Rothe, Sabine (1991): Frankfurter Schule und Gruppenanalyse – Einige Aspekte gemeinsamer Anfänge. gruppenanalyse 2/1991, 21–39. Saint-Exupéry, Antoine de (1986): Flight to Arras. San Diego u. a., Harcourt, Brace & Company. Schultz-Venrath, Ulrich (2012): Gruppenanalyse. In: Strauß, Bernhard & Mattke, Dankwart (Hrsg.): Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis. Berlin u. a., Springer, S. 119–130. Sprondel, Tilman (2020): Grenzen in der sozialpädagogischen gruppenanalytischen Arbeit oder: Der wandernde Reisepass und die missbrauchte Salatschüssel. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 2/2020, 136–150. Staats, Hermann (2012): Innerer Raum und äußere Räume. Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse 4/2012, 355–365.

344

7.6 Ausblick Staehle, Angelika (2009): »Sich selbst erkennen im Angesicht des Anderen«. Nichtsprachliche, expressive Elemente und ihre Rolle für die Entwicklung von Bedeutung in der gruppenanalytischen Situation. In: Roth, Wolfgang Martin; Shaked, Josef & Felsberger, Helga (Hrsg.): Neue Wege in der Gruppenanalyse – ein Paradigmenwechsel? Wien, Facultas, S. 93–121. Trescher, Hans-Georg (1982): Wer versteht, kann (manchmal) zaubern. Kindheit 4/1982, 77–90. Trescher, Hans-Georg (1987): Bedeutung und Wirkung szenischer Auslösereize in Gruppen. In: Büttner, Christian & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Chancen der Gruppe. Erfahrungen aus dem pädagogischen Alltag. Mainz, Matthias Grünewald Verlag, S. 150–161. Trescher, Hans-Georg (1993): Gruppenanalyse in der Ausbildung zur sozialen Arbeit. In: Büttner, Christian; Finger-Trescher, Urte & Scherpner, Martin (Hrsg.): Psychoanalyse und soziale Arbeit. Mainz, Matthias Grünewald Verlag, S. 97–109. Trescher, Hans-Georg (2001): Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Muck, Mario & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 167–201. Volhard, Cornelia (2002): Spiegelphänomene in der gruppenanalytischen Supervision. gruppenanalyse 1/2002, 25–42. Volhard, Cornelia (2005): Gruppenanalytische Supervision in Pädagogischen Institutionen. In: Haubl, Rolf; Heltzel, Rudolf & Barthel-Rösing, Marita (Hrsg.): Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 249–271. Winnicott, Donald W. (2006a): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, Klett-Cotta. Winnicott, Donald W. (2006b): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen, Psychosozial-Verlag. Zulliger, Hans (1936): Über eine Lücke in der psychoanalytischen Pädagogik. Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 6/1936, 337–359.

345

8

Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

8.1

Einleitung

Als Einstieg in das Thema Aggression in der pädagogischen Arbeit habe ich das Kinderbuch Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak gewählt. Es erzählt auf feinfühlige und zauberhafte Weise die Geschichte von Max, seinen wilden Spielen und Gefühlen sowie der Beziehung zu seiner Mutter: »An dem Tag als Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte schalt seine Mutter ihn: ›Wilder Kerl!‹ ›Ich fress dich auf‹ sagte Max und da musste er ohne Essen ins Bett. Genau in der Nacht wuchs ein Wald in seinem Zimmer – der wuchs und wuchs bis die Decke voll Laub hing und die Wände so weit wie die ganze Welt waren. Und plötzlich war da ein Meer mit einem Schiff nur für Max und er segelte davon, Tag und Nacht und wochenlang und fast ein ganzes Jahr bis zu dem Ort wo die wilden Kerle wohnen. Und als er dort ankam, wo die wilden Kerle wohnen, brüllten sie ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen bis Max sagte: ›Seid still!‹ und sie zähmte mit seinem Zaubertrick: Er starrte in alle ihre gelben Augen ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Da bekamen sie Angst und nannten ihn den wildesten Kerl von allen und machten ihn zum König der ganzen wilden Kerle. ›Und jetzt‹, rief Max, ›machen wir Krach!‹ ›Schluss jetzt!‹ rief Max und schickte die wilden Kerle ohne Essen ins Bett. Und Max, der König aller wilden Kerle, war einsam und wollte dort sein, wo ihn jemand am allerliebsten hatte. Da roch es auf einmal um ihn herum nach gutem Essen und das kam von weither quer durch die Welt.

347

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Da wollte er nicht mehr König sein, wo die wilden Kerle wohnen. Aber die wilden Kerle schrien: ›Geh bitte nicht fort – wir fressen dich auf – wir haben dich so gern!‹ Und Max sagte: ›Nein!‹ Die wilden Kerle brüllten ihr fürchterliches Brüllen und fletschten ihre fürchterlichen Zähne und rollten ihre fürchterlichen Augen und zeigten ihre fürchterlichen Krallen. Aber Max stieg in sein Schiff und winkte zum Abschied. Und er segelte zurück fast ein ganzes Jahr und viele Wochen lang und noch einen Tag bis in sein Zimmer, wo es Nacht war und das Essen auf ihn wartete – und es war noch warm« (Sendak 1967).

Seinen ganzen Zauber entfaltet das Buch natürlich erst zusammen mit all den wunderbaren Bildern und besonders beim Vorlesen. Dennoch möchte ich einige Aspekte hervorheben, die die Bedeutung der Geschichte für das Thema Aggression zeigen. Die Beziehung zwischen Max und seiner Mutter bildet den Rahmen für die Reise zu den wilden Kerlen. Schon zu Beginn wird deutlich, dass Max viel Raum zum Spielen und Gestalten gewährt wird: Jemand hat ihm seinen Wolfspelz genäht, er darf die Wohnung für seine Abenteuer umgestalten und es hängen von Max gemalte Bilder an der Wand. Offenbar findet er für seine Wünsche, Ideen und Gefühle, auch die aggressiven, Anerkennung. Erst als er heftigen Unfug treibt, das wilde Spiel seinen Spielcharakter zu verlieren droht und er kurz davor ist, den Hund zu verletzen, weist seine Mutter ihn zurecht mit einem liebevollen, aber klaren: »Wilder Kerl«. Auf diese Zurechtweisung hin will er sie auffressen. Doch wenn Max die Mutter fressen möchte, was niemand in der Realität wollen kann, muss er ohne Essen ins Bett. All diese aufregenden Erfahrungen bearbeitet Max dann auf seiner Reise zu den Wilden Kerlen. Er kommt in Kontakt mit seinen aggressiven Größenfantasien, mit der Einsamkeit als König, mit der Liebe von und zu seiner Mutter sowie mit seiner Sehnsucht nach Geborgenheit. Als er schließlich nach Hause in die Wirklichkeit zurückkehrt, stellt er trotz leiser Befürchtungen erleichtert fest, dass seine Mutter ihn in eben dieser Realität nicht ohne Essen ins Bett schickt. Max hat einerseits eine haltende, schützende, versorgende und mentalisierende Mutter, andererseits steht ihm ein Spielraum zur Verfügung, der ihm das Erleben, Erproben und Integrieren intensiver Gefühle erlaubt. Die Geschichte zeigt, dass kindliche Entwicklung sich notwendig in Beziehungen vollzieht, dass darin viele intensive Gefühle aufkommen und 348

8.1 Einleitung

dass es gemeinsam gelingen kann, diese genügend gut zu regulieren, sodass Autonomie und Verbundenheit erlebbar werden. Aggression kann dabei ebenso dazu dienen, die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen, wie dazu die eigenen Grenzen zu schützen. Mit dieser Betonung der konstruktiven Seite der Aggression will ich aber nicht verhehlen, dass es schwere aggressive Auseinandersetzung sind, die im pädagogischen Alltag als besondere Herausforderung erlebt werden und mit Gefühlen der Verstörung, Ohnmacht und Verzweiflung einhergehen. Schlimmstenfalls wird eine destruktive Dynamik in Gang gesetzt, bei der etwa ein überbordend aggressives Kind Ohnmacht bei den Pädagog*innen auslöst, die wiederum aggressiv reagieren, um die Ohnmacht zu bewältigen (vgl. Heinemann 2013).1 Allzu schnell wird das Kind pathologisiert, ihm wird gleichsam eine Störung attestiert, die als nicht haltbar gilt, begleitet durch die wechselseitige Delegation der Schuldfrage zwischen Eltern und Fachkräften. Und nicht selten mündet dies in einer tragischen Komplettierung der Exklusionserwartungen des Kindes durch die Exklusionswünsche der Pädagog*innen (Ramberg/Gingelmaier 2016). In einem solch tragischen Abwehrarrangement können die bedeutsamen Beziehungen des Kindes mit ihren biografischen, familiären, pädagogischen und gesellschaftlichen Färbungen, in denen die Aggression erst erzeugt und dann vom Kind agiert werden musste, nicht gesehen und schon gar nicht verstanden werden. Aus gruppenanalytisch-pädagogischer Perspektive sollte das Zusammenwirken von Aggression und Beziehung demgegenüber differenziert betrachtet werden, etwa im Hinblick auf konstruktive und destruktive Aggressionsformen sowie auf das Zusammenwirken von biografischen, gruppalen und gesellschaftlichen Faktoren. Vor diesem Hintergrund geht es zunächst um die unausweichliche Aggression in Erziehungsbeziehungen und eine förderliche Haltung in pädagogischen Gruppen. Sodann wird mit dem Bipolaritätsmodell nach Mentzos eine Theorie vorgestellt, die es erlaubt, konstruktive und destruktive Aggression zu unterscheiden, immer auf der Suche nach ihren Funktionen, ihrer Bedeutung für die involvierten Menschen, ihre Beziehungen und ihre sozialen Erfahrungen. Schließlich werden die Konsequenzen der gewonnenen Erkenntnisse für die gruppen1 Im Buch Aggression: Verstehen und Bewältigen von Evelyn Heinemann findet sich auch eine sehr gute Übersicht über klassische Aggressionstheorien von der Ethologie nach Lorenz, über die Frustrations-Aggressions-Theorie nach Dollard und Berkowitz, die Lerntheorie nach Skinner und Bandura bis hin zu Freuds Triebtheorie (2013).

349

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

analytische Pädagogik erörtert und anhand eines ausführlichen Fallbeispiels veranschaulicht.

8.2

Aggression, Erziehung, Beziehung

Aggression ist ein recht diffuser Begriff. Was als aggressives Verhalten gilt, hängt von den inneren Erlebnismaßstäben der Betrachter*innen sowie von institutionellen Normen ab. So erleben manche Pädagog*innen ein Kind als aggressiv, das lautstark »Ich will das aber!« kundtut, vielleicht untermauert durch Zupacken oder Wegstoßen, während andere dies als Ausdruck besonders ausgeprägter Durchsetzungsfähigkeit schätzen. Umgekehrt lösen subtilere Verhaltensweisen – wenn Kinder sich über andere lustig machen, wenn ein Kind sich passiv zurückzieht oder permanent über Bauchschmerzen klagt – bei den einen Pädagog*innen Aggressionen und bei anderen Wohlwollen oder Fürsorge aus (vgl. Figdor 2006, S. 113). Im Kontext institutioneller Normen wird Aggression nach einem offiziellen oder heimlichen Regelwerk bemessen (wenn zum Beispiel Rangeleien oder Anschreien verpönt sind) und gegebenenfalls unterbunden und sanktioniert. So kann es passieren, dass ein sozial extrem angepasstes Kind, das in der einen Gruppe als Musterbeispiel gelungener Entwicklung gilt, in einer anderen Gruppe, in der Konfliktfähigkeit und Selbstregulierung der Kinder selbstverständlich sind, als auffällig gilt, weil es Aggressionen nur nach innen zu wenden scheint (vgl. ebd., S. 115). Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Aggression nur im Zusammenhang mit einem Beziehungsgeschehen verstanden werden kann. Demnach sollte ein Verhalten, das als angriffslustig wahrgenommen wird, auch nicht vorschnell pathologisiert werden. Die Frage ist nicht so sehr, ob ein Verhalten nun aggressiv ist oder nicht und was ich als Pädagoge dagegen tun kann, sondern vielmehr, was genau das Kind eigentlich tut und was in ihm vorgeht: »Ist es enttäuscht? Hat es Angst? Will es etwas weghaben? Wünscht es sich etwas? Möchte es sich irgendwo durchsetzen? Hat es Lust daran, irgendjemandem was anzutun oder etwas zu zerstören? Ist es wütend?« (ebd., S. 114). Greift ein Kind ein anderes tatsächlich gefährlich an, muss selbstverständlich eingegriffen werden. Darüber hinaus können sich pädagogische Reaktionen aber nicht auf einen objektiven Sachverhalt beziehen, sondern müssen als empathische Antworten auf Themen, Fragen und Konflikte der Kinder im Gruppenkontext verstanden 350

8.2 Aggression, Erziehung, Beziehung

werden, Antworten, die bestenfalls innerhalb einer tragfähigen pädagogischen Beziehung und institutionell gesicherter Reflexionsräume gegeben werden. Es sind allerdings nicht nur die Aggressionen der Kinder, die im Alltag wirken, sondern ebenso die Aggressionen der Erwachsenen. Im pädagogischen Gruppenalltag mit seinen unvorhersehbaren und vielfältigen Bedürfnissen und Interessen braucht es zweifellos sinnvolle und bestenfalls gemeinsam ausgehandelte Regeln, die die Kinder ebenso wie die erwachsenen Bezugspersonen schützen – pädagogisches Alltagsgeschehen ist unweigerlich von Aggression durchsetzt (vgl. ebd., S. 118ff.). Die Pädagog*innen müssen den Rahmen für förderliche Gruppenprozesse halten, die Kinder schützen, und können dabei nicht umhin, die Kinder im Alltag immer wieder zurückzuweisen. An sich ist das auch gar kein Problem, wenn die Zurückweisung wohlwollend vorgetragen wird. Vielmehr hilft eine zugewandte Konfrontation mit der äußeren Realität den Kindern, sich mit den Grenzen ihres eigenen Wünschens zu versöhnen, und bietet Anlässe für Selbstbildungsprozesse, diese Realität zu verstehen und mitzugestalten. Es ist auch kein Problem, wenn Kinder gegen Einschränkungen und Zurückweisungen protestieren oder geradezu wütend werden, sondern angemessen, widerständig und gesund. Ein Problem ist hingegen, wenn diese Wut mit der verbreiteten pädagogischen Illusion kollidiert, gute Erziehung müsse die Kinder vor jedweder Frustration bewahren, zur Befriedigung all ihrer Bedürfnisse beitragen können und könne dann mit dankbaren Kindern rechnen. Aus Angst vor der Wut der Kinder und dem Platzen der eigenen Illusion neigen manche Pädagog*innen dazu, bis zur Selbstaufopferung alle Wünsche der Kinder zu erfüllen. Das Resultat ist, dass sie entweder irgendwann zusammenbrechen oder die Illusion in ihr Gegenteil verkehren, in Wut auf die undankbaren Kinder. Diese erscheinen nur noch als verwöhnt und renitent und müssen demnach stärker sanktioniert und begrenzt werden. Diese Grenzsetzung ist aber nichts anderes als eine pädagogisch rationalisierte destruktive Aggression (vgl. ebd., S. 121). Hier hilft die Haltung der verantworteten Schuld. Diese weiß darum, dass Pädagog*innen den Kindern gegenüber durch Verbote und Versagungen »schuldig« werden, der Alltag lässt schlechterdings die Befriedigung aller Bedürfnisse nicht zu. Aber diese Schuld ist verantwortbar, wenn Pädagog*innen mit dem Kind identifiziert bleiben, mit seinem Bedürfnis und mit seiner Wut, wenn dieses nicht gestillt werden kann – und wenn die 351

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse nach Autonomie und Bindung unbeschadet bleiben. Die Kunst der Pädagog*innen besteht dabei darin, sich mit dem Kind auch gegen sich selbst, gegen die eigenen spontanen Wünsche und Bedürfnisse zu identifizieren – dafür braucht es natürlich Rückhalt und Reflexionsräume in der pädagogischen Einrichtung. Wenn dies gelingt, bleibt der feinfühlige Kontakt zu den Kindern erhalten, ein »Nein« hat keine beschämende Wirkung, weil es die Kinder nicht entwertet, sondern ihnen die Angemessenheit ihrer Wünsche und das Bedauern signalisiert, dass diese im Moment nicht befriedigt werden können. Ein solches »Nein« hat vielmehr verbindende Wirkung, weil die Kinder sich anerkannt fühlen, und weil zugleich die Zwänge des geteilten Alltags kommuniziert, ins Fühlen, Sprechen und Handeln aufgenommen werden können. Nicht zuletzt bleiben Wiedergutmachungsimpulse spürbar, die es nahelegen, nach einer konflikthaften, unbefriedigenden Episode auch wieder freudvolle gemeinsame Situationen zu anzubahnen (vgl. ebd., S. 122). Fehlt eine solche Haltung, ist der Alltag zunehmend von Kampf, Enttäuschung und steigender Aggression auf allen Seiten bestimmt – kann sie aufrechterhalten werden, entsteht eine Beziehungsatmosphäre, in der die Bedürfnisse aller Anerkennung finden, auch wenn sie nicht immer befriedigt werden können (ebd., S. 187f.). Im Hinblick auf die gruppenanalytische Pädagogik spreche ich gerne von einer affektfreundlichen Gruppenkultur, in der die Kinder die Gewissheit haben, sich mit all ihren affektiv besetzten Themen zeigen zu können. Wenn es gelingt, ein positives Klima zu etablieren, auch Machtdynamiken zwischen Erwachsenen und Kindern zu kommunizieren und ritualisierte Reflexionsräume für die Gruppe zur Verfügung zu stellen, in denen über eigene und gemeinsame Gefühle nachgedacht und gesprochen werden kann, ist viel zur Bewältigung destruktiver Aggression, zur Affektregulierung und Selbstbildung getan (Diez Grieser/Müller 2018, S. 202).2 Was dabei allerdings noch zu wenig berücksichtigt wird, ist die tiefe Not, die manche Kinder in ihrem aggressivierten Verhalten zeigen, ebenso wie die Aggression, die aus struktureller Gewalt und Diskriminierungser2 Sicherlich sind hier Präventionsprogramme wie FAUSTLOS zur Prävention von Gewalt oder auch B. A. S.E. (Babywatching to reduce Anxiety and Aggression and promote Sensitivity and Empathy) potenziell hilfreich – aber es darf auch auf die Kreativität von Pädagog*innen zur Schaffung von Reflexionsräumen mit ihrer konkreten Kindergruppe vertraut werden.

352

8.3 Aggressionstheorie – zur Funktionalität konstruktiver und destruktiver Aggression

fahrungen stammt. Deshalb soll nun eine Aggressionstheorie vorgestellt werden, die auch diese Dimensionen der Aggression zu fassen vermag.

8.3

Aggressionstheorie – zur Funktionalität konstruktiver und destruktiver Aggression

Wie in Kapitel 1 ausgeführt, ist das menschliche Leben existenziell durch die Bipolarität von Autonomie und Bindung, Liebe und Freiheit gekennzeichnet. Da jeder Mensch auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen ist, vollzieht sich die psychische Entwicklung als Dynamik der Bewertung, Verarbeitung und Verinnerlichung der Beziehungserfahrungen. Wenn das Kind feinfühligen Bezugspersonen begegnet, wenn diese das Kind mentalisieren und dessen Affekte angemessen markiert spiegeln können, kann auch die Affektregulierung gelingen.3 Das Kind ist dann nicht nur in der Lage, angstfrei Bindungen einzugehen, weil es diese als nicht bedrohlich erlebt und verinnerlicht hat, sondern auch, für seine Bedürfnisse und Interessen einzustehen, weil es als potenziell autonom und selbstwirksam gespiegelt wurde. Somit entsteht zunehmend die Fähigkeit, die eigenen mentalen Zustände von denen anderer zu unterscheiden, innere und äußere Realität zu differenzieren, und die Bedürfnisse nach Autonomie und Bindung zu balancieren. Aggression dient dabei dazu, auf die Durchsetzung und Befriedigung von eigenen Bedürfnissen zu dringen, und sie hilft, sich gegen äußere Zumutungen zur Wehr zu setzen. Anders gesprochen: Konstruktive Aggression ist ein primäres Phänomen (Mentzos 2013, S. 42)! Destruktive Aggression entsteht entwicklungslogisch erst sekundär, wenn das Kind wiederkehrend misslingende Affektregulierung, Kränkung, Ohnmacht, Gewalt oder Verschlingung erfährt, während es seine Fähigkeiten, die Bezugspersonen zu befriedigenden Interaktionen zu bewegen, als ungenügend erlebt. Die Verinnerlichung dieser destruktiven Beziehungserfahrungen führt dann entweder zur erzwungenen Aufgabe von Autonomie 3 Brockmann und Kirsch definieren Mentalisierung als die Fähigkeit »sich selbst von außen zu sehen und den anderen von innen« (zit. nach Ramberg/Gingelmaier 2016, S. 81). Dabei trägt die Fähigkeit zur Mentalisierung von Erwachsenen, die eigenständigen Affekte, Wünsche, Motive und Potenziale des Kindes genügend unverzerrt wahrzunehmen, wesentlich zu dessen zunehmender Mentalisierungsfähigkeit bei (ebd., S. 92).

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8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

und Freiheit oder zum tragischen Verzicht auf Bindung und Liebe (ebd.) – ein leidvoller Prozess, der sich in der Familie ebenso wie in pädagogischen Einrichtungen abspielen kann. Durch die innerpsychische Verankerung der unbewältigten Konflikte entsteht nicht nur eine verzerrte Wahrnehmung der äußeren Realität und eingeschränkte Mentalisierungsfähigkeit (Ramber/Gingelmaier 2016, S. 88f.),4 sondern auch eine nicht versiegende Quelle innerer Aggression, weil die zugrundeliegenden leid- und angstvollen Dynamiken psychodynamisch weiterwirken. Im Falle der erzwungenen Überbetonung der Autonomie zeigt sich die Aggression eher nach außen, um sich das ebenso ersehnte wie bedrohliche Objekt vom Leib zu halten oder um die eigene Pseudoautonomie durch die gewaltvolle Unterwerfung Anderer zu retten: ➣ So kann im Sinne einer projektiven Identifizierung an einem anderen Kind die erlebte Ohnmacht oder die ersehnten Zuwendungen aggressiv bekämpft werden – das andere Kind wird hilflos gemacht und seine im Grunde beneideten Erfahrungen entwertet; ➣ in anderen Fällen wird das erlebte Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins, der erlittenen Passivität in frühen Beziehungserfahrungen, als allgemeine Aggression in Aktivität gewendet, um die Ohnmacht nie mehr spüren zu müssen; ➣ in wieder anderen Fällen steht die Identifikation mit dem Aggressor im Vordergrund, also die Verarbeitung erlebter Gewalt durch die gewaltvolle Unterwerfung von Kindern, die als schwächere wahrgenommen werden – gleichsam als Weitergabe des Traumas. Bei der Überbetonung des Bindungspols hingegen richtet sich die Aggression eher nach innen auf das eigene Selbst, um das dringend benötigte Objekt nicht durch die bodenlose eigene Wut zu verlieren (ebd., S. 43). Auch diese destruktive Aggression kann unterschiedliche Formen annehmen: 4 So übersehen »beziehungsgestörte Kinder« in ihren Beziehungen mitunter beruhigende und zugewandte Hinweise und sind auf Zeichen der Feindseligkeit fokussiert (Ramberg/ Gingelmaier 2016, S. 88f.). In besonders leidvollen, schweren Fällen, wenn Kinder völlig außer sich geraten, kann die »Mentalisierungstreppe« (nach Bateman/Fonagy) Orientierung geben: auf der ersten Stufe ist bedingungsloses Holding notwendig; auf der zweiten Stufe können Emotionen erkundet werden; auf der dritten Stufe geht es darum, diese gemeinsam zu mentalisieren; und auf der vierten Stufe können die Affekte im Hinblick auf bedeutsame Beziehungen mentalisiert werden (Diez Grieser/Müller 2018, S. 205).

354

8.3 Aggressionstheorie – zur Funktionalität konstruktiver und destruktiver Aggression



➣ ➣ ➣

Sie können ebenfalls als projektive Identifizierungen agiert werden, aber in diesem Fall als Projektion der Autonomiewünsche auf idealisierte andere Kinder oder Erwachsene, von denen sich das Kind abhängig macht; manche Kinder entwickeln selbstverletzendes Verhalten, wenden die Schuld einer destruktiven Beziehungsdynamik gegen sich, um die Hoffnung auf ein gutes Objekt nicht endgültig aufgeben zu müssen; bei einigen Kindern treten psychosomatische Symptome wie starke Bauchschmerzen immer in Situationen auf, die ihre Autonomie herausfordern, obgleich Bindungsbedürfnisse nicht gestillt sind; nicht zuletzt verzichten extrem überangepasste Kinder notgedrungen auf mögliche Selbstbestimmung, erhoffen sich im Gegenzug die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Bezugspersonen, während die Aggression ob des Verzichts nur mehr im leisen Triumph über andere Kinder zum Ausdruck kommt.

Diese eher subtilen und leicht zu übersehenden Aggressionen möchte ich mit einem Fallbeispiel aus der Kitapraxis veranschaulichen: Tim ist als Frühchen im siebten Schwangerschaftsmonat zur Welt gekommen, die ersten Tage waren durch eine existenzielle Bedrohung geprägt. Die Eltern sind sehr liebevoll, aber auch überängstlich, was wegen der tiefen Sorge um das Überleben Tims nicht verwunderlich ist. Sie behüten Tim soweit sie nur können. Als Tim mit drei Jahren in die Kita kommt, fallen sofort sein sonniges Gemüt und seine einnehmende, freundliche Art auf. Zugleich wirkt Tim etwas tapsig, vor allem zeigt er massive Ängste. Einerseits hat er Angst vor Höhe, vor Aufzügen und U-Bahnschächten, andererseits hat er Angst, am Essen zu ersticken. Sicherlich keimen dabei tief ins Körpergedächtnis eingegrabene Erinnerungen an die Maßnahmen zur Rettung seins Lebens auf. Zudem aber hat die Überängstlichkeit der Eltern zu einer Überbetonung der Bindung beigetragen, während Tim keine autonome Handlungsfähigkeit entwickeln durfte. Die folgende Aggression bleibt unsagbar und zeigt sich nur verdreht als Angst und immer weitere Selbstbeschränkung. So kommt in den tapsigen Bewegungen die fehlende Erfahrung zum Ausdruck, sich selbst und den eigenen Körper zu erproben, weil die Eltern etwa auf dem Spielplatz jede ansatzweise gefährliche Situation unterbinden. Die Ängste signalisie355

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

ren, in der Beziehung zu den überbehütenden Eltern verschlungen zu werden, daran gleichsam zu ersticken. Die Eltern reagieren zunächst darauf, indem sie Tim nur noch Brei zubereiten und alle ängstigenden Situationen vermeiden. Doch damit müssen Tim seine Ängste vollkommen real erscheinen und die Bindung an die Eltern als einzige Rettung. Als die Eltern in Kooperation mit den Pädagog*innen über ihre Ängste und auch über die Wut, dass Tim ihnen so viele Sorgen bereitet, sprechen können, kommen sie in Kontakt mit dem Wunsch, selbst ein Stück unabhängiger von der permanenten Sorge zu werden, und vor allem auch mit Tims Autonomiewünschen. In der Folge werden Tim sowohl in der Familie als auch in der Kita behutsam Herausforderungen zugemutet, die er erst in Begleitung und dann immer selbstständiger bewältigt. Der Erfolg dieser nachholenden Entwicklung zeigt sich deutlich, als Tim, inzwischen 5-jährig, voller Stolz strahlend von der Toilette kommt und den pädagogischen Bezugspersonen zuruft: »Ich habe einen Haifisch gekackt!« Nun traut sich Tim endlich zu, sogar ein so starkes, unabhängiges, gefährliches Tier hervorzubringen (Naumann 2011, S. 138). Der Nutzen dieses Aggressionsbegriffs liegt zunächst darin, nicht nur konstruktive Aggression als wichtige Ressource zu würdigen, sondern auch die Funktion destruktiver Aggression als erzwungene, leidvolle und gleichwohl kreative und notwendige Überlebensstrategie anzuerkennen, deren Bedeutung verstehend erschlossen werden kann. Destruktive Aggression ist dabei daran zu bemessen, wie leidvoll sie sich entweder gegen das eigene Selbst richtet oder andere zu schädigen droht. Im pädagogischen Alltag ist damit zu rechnen, dass alle Kinder ihre konstruktiven und destruktiven Aggressionspotenziale zeigen. Damit besteht die Chance, ihnen förderliche und korrigierende Beziehungserfahrungen zur Anerkennung und Integration aggressiver Impulse zu ermöglichen, die zur Balancierung von Autonomie und Bindung beitragen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass der pädagogische Alltag eigene Frustration, Anpassungszwänge, Enttäuschungen und Konfliktpotenziale birgt, die sich mit den verinnerlichten Erfahrungen der Kinder zu einem komplexen Netzwerk verweben. Auch hier ist der Ansatz von Mentzos von großem Nutzen, weil er die Aggression in Gruppen und Institutionen sozialpsychologisch zu verstehen erlaubt. Wenn beispielsweise in einer Kita dominanzkulturelle Verstrickungen nicht kritisch re356

8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

flektiert werden, kommt es unweigerlich zu Diskriminierung als destruktiv-aggressive Praxis, zu Beschämung und reaktiver Aggression. Darüber hinaus bringen alle Beteiligten, Kinder, Eltern und Pädagog*innen, ihre Erfahrungen mit Über- und Unterordnungen aus ihrer jeweiligen Familienkultur und aus der Verortung in dominanzkulturellen Verhältnissen in das gemeinsame Netzwerk ein. Auf diese Weise kann eine institutionelle Matrix entstehen, in der Pseudo-Wir-Bildungen vorherrschen, die ihre Homogenität nur behaupten können, indem sie Angehörige anderer Gruppen durch unterordnende Zuschreibung von Geschlechtern, kulturellen Zugehörigkeiten oder abweichenden Verhaltens aggressiv verfremden. Wie demgegenüber destruktiver Aggression kritisch-verstehend begegnet werden kann, wie die Kita zu einem Ort werden kann, der konstruktive Aggression zur Förderung von Autonomie und Solidarität nutzbar macht, soll nun aus gruppenanalytisch-pädagogischer Perspektive untersucht werden.

8.4

Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Aggression kann in ihren destruktiven und konstruktiven Formen auf allen Beziehungsebenen entstehen, die in Kapitel  7 differenziert wurden: der Ebene des institutionellen Rahmens und des Settings, der Bildungsthemen, der Beziehungen im Hier und Jetzt und der verinnerlichten Vorerfahrungen der Kinder. So kann das Setting durch institutionalisierte Abwehr, dominanzkulturelle Setzungen, Autorität, Druck und Zwang destruktive Aggression erzeugen oder durch Reflexionsräume, Vielfalt und Partizipation zur gemeinsamen Gestaltung einer förderlichen Umwelt beitragen. Auch die Beziehungen, die über die Bildungsthemen der Gruppe konstelliert werden, können destruktiv wirken, wenn sie autoritär bestimmt werden, manche Kinder beschämen, ängstigen und isolieren. Oder sie können zur Selbstbildung einladen, indem die Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend sich selbst in der Welt gemeinsam erforschen können. Die Beziehungen im Hier und Jetzt können von Kampf und Flucht sowie von Spaltung zwischen Subgruppen geprägt sein, oder von einer affektfreundlichen Kultur, in der Autonomie und Verbundenheit erfahrbar sind, getragen von der Haltung der verantworteten Schuld und kritischer Reflexion dominanzkultureller Zuschreibungen. Und selbstverständlich bringen Kinder mitunter auch verinnerlichte destruktive Aggressionen mit, die in der Kita 357

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

unverstanden bleiben, zu Beschämung, Ausschluss oder gar Retraumatisierung führen können, oder aber von Pädagog*innen und der Gruppe contained werden können. Zur Verdeutlichung des Umgangs gruppenanalytischer Pädagogik mit Phänomenen der Aggression in der Kita möchte ich nun einen von Finger-Trescher ausführlich dokumentierten Fall aufgreifen (Finger-Trescher 2001). Hier zeigen sich verschiedene Spielarten der Aggression ebenso wie die Potenziale szenischen Verstehens im Hinblick auf das Entwicklungsbündnis mit den Kindern und die Optimalstrukturierung: Den Ausgangspunkt bildet eine durchaus typische Situation in der Kindertageseinrichtung: Ein Kind »stört, verletzt Regeln und treibt die Pädagoginnen zu ohnmächtiger Wut und Verzweiflung« (ebd., S. 215). Moritz ist knapp vier Jahre alt und wird in einer Kindertageseinrichtung eingewöhnt. Den durchweg weiblichen Pädagoginnen fällt auf, dass Moritz kaum spielt. Auch nach mehreren Wochen sucht er nur und zumeist körperlichen Kontakt zu den Pädagoginnen. Die von ihnen angeregten Kontakte zu anderen Kindern erschöpfen sich im Stören der Spiele, lautstarken Angriffen, Spucken und Beißen. Die Kinder beginnen Moritz zu verspotten und schließen ihn zunehmend aus. Er erhält somit viel Aufmerksamkeit in Form des Kontakts mit den Pädagoginnen, die ihn dauernd bremsen und schützen müssen (vgl. ebd., S. 215f.). Die Eltern erleben ihren Sohn zu Hause nicht als schwierig. Gleichwohl ist die familiale Situation belastet. Moritz ist das jüngste von drei Kindern. Er wird geboren, als die Ehe der Eltern zu scheitern droht. Der Vater ist mit seinem Beruf und einer Freundin außer Haus, die Mutter bekämpft ihre Schlafstörungen mit Alkohol, bis sie, Moritz ist zehn Monate alt, ihre Kinder nicht mehr versorgen kann. Sie verlässt ihren jüngsten Sohn für Stunden, um sich mit einem Mann, in den sie sich verliebt hat, zu treffen. Moritz’ Schlafstörungen und Nahrungsverweigerung werden vom Vater als Renitenz gedeutet und mit Schlägen beantwortet. Auch zwischen den Elternteilen kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Als Moritz zwei Jahre alt ist, begeben sich die Eltern in eine Paartherapie und stehen nach und nach ihren Kindern wieder als ausreichend gute Eltern zur Verfügung. Nur konnte Moritz die traumatischen Erfahrungen nicht verarbeiten (vgl. ebd., S. 216f.). 358

8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Vor diesem Hintergrund wird sein Verhalten in der Kindertageseinrichtung verständlich (s. Tab. 1). Tab. 1: Moritz, Vorerfahrungen in der Familie, Verhalten in der Kindertageseinrichtung (vgl. ebd., S. 217) Moritz’ Verhalten

Traumatische Familiensituation

Moritz spielt nicht

Weder Eltern noch Geschwister stehen Moritz zur Verfügung. Ihm fehlt die Sicherheit und Geborgenheit, in der er sich erlauben könnte zu spielen. Er muss permanent auf der Hut sein und alle Kraft aufwenden, um nicht von seiner Angst, seiner Wut und Verzweiflung überflutet zu werden

Moritz wendet sich nur an die Pädagoginnen, manchmal auch an fremde Mütter, er sucht Körperkontakt wie ein Baby

Moritz sehnt sich nach der Mutter oder dem Vater. Er möchte wieder so klein sein wie damals, als er noch viel auf Mutters Arm getragen wurde und sie auf seine Bedürfnisse noch reagieren konnte. Er möchte wieder Baby sein und alles andere vergessen können

Moritz schlägt, beißt und bespuckt andere Kinder, zerstört ihre Spiele

Moritz erlebt die Kommunikation der Eltern miteinander als aggressive gewalttätige Auseinandersetzung. Dieses Beziehungsmuster ist ihm vertraut. Er wird auch selbst vom Vater und von den älteren Geschwistern, die ebenfalls überfordert sind, geschlagen. Seine Hilferufe (Schlafstörungen, Nahrungsverweigerung) werden mit körperlicher Gewalt beantwortet

Dieser Ansatz erfasst zweifellos wichtige Aspekte von Moritz’ Verhalten, seine innere Konfliktlage im Kontext seiner Lebensgeschichte, die er in der Kita in Szene setzt. Problematisch wäre aber, wenn es bei diesem verstehenden Zugang bliebe. Denn dann würde Moritz als ausschließlicher Auslöser der Schwierigkeiten in der Kindergruppe erscheinen, er würde als Problemkind etikettiert, das im Fall, dass Erziehungsberatung und pädagogische Interventionen nicht helfen, zum Schutz der Gruppe ausgesondert werden muss. Was dem Blick in der allein kindzentrierten Perspektive entgleitet, sind die gruppenspezifischen Vorgänge, die in der Überzeugung, die Gruppe vor Moritz schützen zu müssen, kulminieren können. Hier drängt sich die Frage auf, welche Anteile die Pädagoginnen und anderen Kinder sowie das pädagogische Setting an der konflikthaften Dynamik haben. Ergänzende Beobachtungen des Geschehens, in der dritten Spalte in Tabelle 2 zusammengefasst, geben darüber weiteren Aufschluss. 359

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Tab. 2: Moritz, Vorerfahrungen in der Familie, Verhalten in der Gruppe (vgl. ebd., S. 222f.) Moritz’ Verhalten in der Kita

Traumatische Familiensituation

Verhalten in der Gruppe Anna sieht Moritz an der Eingangstür und läuft weinend zur Erzieherin, sie flüchtet vor dem »bösen« Moritz und lässt sich auf dem Schoß der Erzieherin trösten

Moritz wird von der Mutter bis zur Eingangstür gebracht und verabschiedet Weder Eltern noch Geschwister stehen Moritz zur Verfügung. Ihm fehlt die Sicherheit und Geborgenheit, in der er sich erlauben könnte zu spielen. Er muss permanent auf der Hut sein und alle Kraft aufwenden, um nicht von seiner Angst, seiner Wut und Verzweiflung überflutet zu werden

Anna und Sarah sitzen auf dem Schoß der Pädagoginnen, die anderen Kinder spielen in einer Ecke und beachten Moritz nicht. Die Jungen raufen miteinander, einige Mädchen spielen »Krankenhaus« mit Puppen

Moritz wendet sich nur an die Erzieherinnen, manchmal auch an fremde Mütter, er sucht Körperkontakt wie ein Baby

Moritz sehnt sich nach der Mutter oder dem Vater. Er möchte wieder so klein sein wie damals, als er noch viel auf Mutters Arm getragen wurde und sie auf seine Bedürfnisse noch reagieren konnte. Er möchte wieder Baby sein und alles andere vergessen können

Moritz versucht, auf dem Schoß der anderen Pädagogin Zuflucht zu finden. Diese muss sich aber um Sarah, ihre Tochter kümmern, die morgens regelmäßig weint, wenn sie die Mutter verlassen und in eine andere Gruppe gehen soll. Sie schiebt Moritz weg und »ermuntert« ihn, mit den anderen Kindern zu spielen

Moritz schlägt, beißt und bespuckt andere Kinder, zerstört ihre Spiele

Moritz erlebt die Kommunikation der Eltern miteinander als aggressive gewalttätige Auseinandersetzung. Dieses Beziehungsmuster ist ihm vertraut. Er wird auch selbst vom Vater und von den älteren Geschwistern, die ebenfalls überfordert sind, geschlagen. Seine Hilferufe (Schlafstörungen, Nahrungsverweigerung) werden mit körperlicher Gewalt beantwortet

Die anderen Kinder wenden sich von Moritz ab: Die Jungen hänseln ihn als »Baby«, die Mädchen wollen ihn nicht mitspielen lassen: Sie verstecken sich in der Puppenecke und wollen mit den Jungen nichts zu tun haben. Auf Moritz’ wütende Ausbrüche reagieren sie mit lautem Weinen und werden von den Erzieherinnen getröstet

Moritz spielt nicht

Mithilfe dieser Beobachtungen lässt sich das Geschehen in der Kindergruppe auf allen vier gruppenanalytisch-pädagogischen Beziehungsebenen 360

8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

szenisch verstehen, um auf dieser Grundlage kreative Handlungsmöglichkeiten im Sinne von Entwicklungsbündnissen und Optimalstrukturierung zu entwickeln. 8.4.1 Bildungsthema und Beziehungen im Hier und Jetzt

Das Bildungsthema ist im Fallbeispiel eng mit den Beziehungen im Hier und Jetzt der Gruppe verquickt. Auf der manifesten Ebene ist das Bildungsthema durch das Einhalten von Regeln sowie Sanktions- und Exklusionsdrohungen für diejenigen Kinder geprägt, die die Regeln nicht befolgen. Latent zeigen sich freilich potenziell förderliche Bildungsthemen, die von Kindern und Pädagoginnen zunächst nur unbewusst und destruktiv agiert werden: Wie kann ein kreativer Umgang mit Aggression und Geschlechterfragen gelingen? In Moritz’ Gruppe scheint Aggression als männliches Phänomen imaginiert zu sein, Männlichkeit jedoch ist in dieser Gruppe kaum und schon gar nicht vielfältig repräsentiert. So agieren die anderen Jungen in der Gruppe eine männliche Identifikation, raufen in geduldetem Maß an entlegenen Orten, ohne auf ihre Männlichkeitsfragen eine differenzierende Antwort zu erhalten, während sie ihre Anlehnungsbedürfnisse nur im Hänseln von Moritz als »Baby« zum Ausdruck bringen können. Die Mädchen hingegen zeigen einen gehemmten Umgang mit Aggression, ziehen sich beleidigt zurück und bescheiden sich mit masochistisch anmutenden Äußerungen zu ihrer Angst vor Moritz’ Aggression. Weil nun auch die Pädagoginnen eine männliche Identifikation und die gleichgesetzte Aggression noch nicht zu integrieren vermögen, kommt es zu unbemerkten Allianzen zwischen den Pädagoginnen und den ängstlichen Mädchen, die verständnisvoll getröstet werden (vgl. ebd., S. 221f.), und zur Spaltung zwischen einer Mädchen- und Jungengruppe. Moritz erfüllt eine besondere Aufgabe für die ganze Gruppe, die freilich ein Abwehrarrangement zementiert und Entwicklung blockiert. Den Jungen wird am Beispiel von Moritz vor Augen geführt, was denjenigen droht, die aggressiv über die Stränge schlagen, während die Mädchen scheinbar berechtigt in ihrer passiven Position verharren. Auf diese Weise wird sein Verhalten ebenso wie sein drohender Ausschluss aus der Gruppe zur Stabilisierung eines unausgesprochenen Gruppenkonsenses missbraucht, der Entwicklungs- und Selbstbildungsräume für alle zu kassieren droht. 361

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Die in der Reflexion gewonnenen Erkenntnisse bilden den Ausgangspunkt für Überlegungen, wie aus dem aktuellen Beziehungsgeschehen ein Bildungsthema werden könnte, das von den Fragen der Kinder rund um Gefühle, Aggression und Geschlecht ausgeht: ➣ Kann ich meine Versorgungswünsche zeigen, darf ich auch manchmal, wie Moritz, wie ein Baby sein? ➣ Wohin mit meinen Verlassensängsten, wer darf auf den Schoß der Pädagoginnen, wenn die Eltern weg sind? ➣ Wohin mit meiner Wut, wie weit darf ich gehen, meine Wut oder meine Bedürfnisse zu zeigen? ➣ Wie ist das, Junge oder Mädchen sein zu müssen, wie ängstlich und wütend darf ich sein? Ist das gleich, ähnlich oder ungerecht? Wie in Kapitel 5 ausgeführt, sollten anhand solcher Fragen Räume für Gefühle und Bedürfnisse, für Vielfalt und Partizipation eröffnet werden, in der die Kinder sich selbst und einander zugewandt kennenlernen, ihre Gefühle integrieren und ihre Bedürfnisse zur Gestaltung einer solidarischen gemeinsamen Welt nutzen können. 8.4.2 Verinnerlichte Vorerfahrungen in der Gruppe

Im Hinblick auf verinnerlichte Vorerfahrungen, die Kinder mit in die Gruppe bringen, wirkt schon das feinfühlige Wahrnehmen und Gestalten der Gruppenprozesse angstmildernd, anerkennend und inklusiv. Für Moritz etwa führt die Überwindung des Abwehrarrangements zur Entlastung, weil die unbewältigten Gruppenthemen nicht länger auf ihn als »Sündenbock« verschoben werden müssen. Auch er vermag dann die Gruppe als Entwicklungsraum zu nutzen, und zugleich kann von den Bezugspersonen im Entwicklungsbündnis die Not verstanden werden, die Moritz in der Gruppe szenisch wiederholt. Er überträgt seine sehr frühen guten Erfahrungen ebenso wie die darauffolgenden traumatischen Erfahrungen, nur auf unterschiedliche Weise. In der Gegenübertragung kann das Suchen körperlicher Nähe als Aktivierung einer fürsorglichen Bezugsperson verstanden werden und als eine verfügbare Ressource, ein Schutzfaktor in Moritz’ Entwicklung. Zugleich wird in der Gegenübertragung auf Moritz’ aggressive Durchbrüche die Ohnmacht und Verzweiflung spürbar, die er angesichts seiner Erfahrungen von Vernachlässigung und 362

8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Gewalt selbst nicht mehr ertragen kann. Aus dem szenischen Verstehen können dann pädagogische Antworten folgen. So kann Moritz die Möglichkeit zur »Regression im Dienst des Ich« eröffnet werden, der stabilisierende Kontakt mit seinen Erfahrungen, gehalten zu werden. Auf dieser Grundlage ist es denkbar, dass ihm im Spiel, im Gestalten oder im Vorlesen Erfahrungen und Symbole zur Verfügung gestellt werden, die er zur Integration seiner Wut, aber auch seiner Traurigkeit verinnerlichen kann, um schließlich wieder von Angst entlastet ins Spiel und die Exploration zu finden. Und auch die anderen Kinder können in ihren einschränkenden Erfahrungen und ihrer destruktiv-aggressiven Not gesehen werden, beispielsweise Anna, die sich weinend auf den Schoß der Erzieherin flüchtet, als Moritz gerade mal einen Schritt in die Gruppe getan hat. Sie scheint zunächst schlicht schutzbedürftig zu sein. Doch ist begründet anzunehmen, dass sie in Moritz eine Aggression erkennt und bekämpft, die sie sich selbst nicht zutraut. In der Gegenübertragung auf Annas Verhalten kann die Wucht ihrer Aggression spürbar werden, mit der sie auf Moritz reagiert und ihn auszuschließen versucht (vgl. ebd., S. 222). Auch hier könnten erweiterte Spielräume die Differenzierung von Annas Aggression und Schutzbedürfnissen befördern – warum soll sie nicht eine mal bedürftige, mal Schutz spendende, mal aber auch gefährliche Raubkatze sein können? 8.4.3 Institutioneller Rahmen und Setting

Schließlich kann das szenische Verstehen auch im Hinblick auf den institutionellen Rahmen und das Setting destruktive Dynamiken aufdecken helfen und Handlungsideen für die Optimalstrukturierung liefern. Im Fallbeispiel ist schon die allmorgendliche Bringsituation von Spannungen bestimmt. So scheint kein empathisches, auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmtes Willkommensritual zu existieren, und zugleich werden durch die wiederkehrende Szene des Trennungsschmerzes von Sarah, der Tochter einer Pädagogin, die Verlassensängste der ganzen Gruppe aktualisiert. Hier wäre es ratsam, eine Veränderung der morgendlichen Verabschiedung und Begrüßung vorzunehmen, damit alle Kinder gut in ihrer Gruppe ankommen können. Des Weiteren sollte die fehlende Repräsentation geschlechtlicher Vielfalt überwunden werden. Die alltäglich erfahrbare Vielfalt an Materialien, Büchern, Räumen und Bezugspersonen 363

8 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

fördert die innere Triangulierung, die dem vielfältigen »Anderen« einen wichtigen Platz im inneren Erleben und in der Praxis der Kindergruppe zu gewähren erlaubt. 8.4.4 Nicht nur zum Schluss: Reflexionsräume

Wohlgemerkt geht es weder in der Fallrekonstruktion von Urte Finger-Trescher noch in meinen Überlegungen darum, den im Fall handelnden Kolleginnen fehlende Empathie, Reflexionsfähigkeit und pädagogisches Versagen vorzuwerfen. Im Gegenteil: Sie haben offenbar wahrgenommen, dass etwas nicht stimmt, dass Selbstbildungsräume eingeengt sind, sie haben die Verunsicherung zugelassen und sich in einen intensiven Reflexionsprozess begeben. Die Themen der Aggression, geschlechtlicher Zuschreibungen und Identifizierungen sind aufwühlend, ebenso wie viele andere existenzielle Themen, die uns in der pädagogischen Praxis begegnen. Zur Bewältigung solcher Herausforderungen sind aus der Perspektive gruppenanalytischer Pädagogik sichere Reflexionsräume erforderlich, die es ermöglichen: ➣ äußere und innere Geschlechterverhältnisse ebenso wie Aggressionsbereitschaft oder Aggressionsgehemmtheit zu reflektieren; ➣ immer wieder zur Haltung der verantworteten Schuld zu finden (Figdor 2006); ➣ das genuine Interesse am inneren Erleben der Kinder aufrechtzuerhalten, Verunsicherungen und Nicht-Wissen auszuhalten und dem Sinn von gruppalen Affekten nachzuspüren (Ramberg/Gingelmaier 2016; Diez Grieser/Müller 2018); ➣ familien- und dominanzkulturelle Über- und Unterordnungen wahrzunehmen und in der pädagogischen Institution nicht zu reproduzieren, sondern sie zu überwinden helfen; ➣ reflexiv zwischen einzelnen Kindern und der Gesamtgruppe zu pendeln, um Themen, Bedürfnisse und Konflikte in der Kindergruppe zu mentalisieren (Brandl 2017); ➣ eine affektfreundliche Gruppenkultur zu schaffen, in der sich Sicherheit und Vielfalt ebenso wie Autonomie und Verbundenheit entfalten können (Naumann 2014); ➣ Rekreation und Regeneration in der Kolleg*innengruppe zu erleben, damit die verantwortungsvolle und lebendige Arbeit freudvoll, humorvoll und neugierig verrichtet werden kann. 364

8.4 Zum Umgang mit Aggression in der gruppenanalytischen Pädagogik

Literatur Brandl, Sarah Yvonne (2017): Gruppenanalytische Perspektiven des Mentalisierens für pädagogische Professionalisierungsprozesse. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 4/2017, 323–345. Diez Grieser, Maria Teresa & Müller, Roland (2018): Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart, Klett-Cotta. Figdor, Helmuth (2006): Praxis der psychoanalytischen Pädagogik I. Gießen, Psychosozial-Verlag. Finger-Trescher, Urte (2001): Grundlagen der Arbeit mit Gruppen – Methodisches Arbeiten im Netzwerk der Gruppe. In: Muck, Mario & Trescher, Hans-Georg (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 205–236. Heinemann, Evelyn (2013): Aggression. Verstehen und Bewältigen. Berlin u. a., Springer. Mentzos, Stavros (2013): Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Naumann, Thilo Maria (2011): Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte. Psychoanalytischpädagogische Elternarbeit in der Kita. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Ramberg, Axel & Gingelmaier, Stephan (2016): Mentalisierungsgestützte Pädagogik bei Kindern, die Grenzen verletzen. In: Rauh, Bernhard & Kreuzer, Tillmann F. (Hrsg.): Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung. Opladen u. a., Verlag Barbara Budrich, S. 79–98. Sendak, Maurice (1967): Wo die wilden Kerle wohnen. Zürich, Diogenes.

365

9

Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität Freud, Butler und Queer Theory im Spiegel gruppenanalytischer Reflexion

9.1

Einführung

Sexuelle Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse sind Strukturmerkmale moderner Gesellschaften und damit auch Querschnittsthemen in gruppenanalytischen Arbeitsfeldern. Diese Themen wiederum sind eingebettet in eine Dominanzkultur, deren Leitbilder dazu führen, »dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1998, S. 22).1 Im Hinblick auf sexuelle und Geschlechterverhältnisse kann mit Judith Butler von der Dominanz einer heterosexuellen Matrix gesprochen werden, in der Heteronormativität das vorherrschende Muster bildet: also die naturalisierte Verkopplung von Zweigeschlechtlichkeit und heterosexuellem Begehren (Butler 2001, S. 128). Hinzu kommt eine hegemoniale Männlichkeit, die sich als aktiv, autonom und überlegen imaginiert, während Weiblichkeiten und abweichende Männlichkeiten als untergeordnet gelten. Sicherlich sind die Spielräume für Geschlechteridentitäten und Begehrensformen in den vergangenen Jahren gewachsen, dennoch strukturiert die Heteronormativität gesellschaftliche Verhältnisse, sie formiert zwischenmenschliche Beziehungen und wirkt über unzählige alltägliche Akte bis in die psychische Strukturbildung hinein. Dabei besteht die Gefahr, dass sich geschlechtliche und sexuelle Verwerfungen zwischen und in den Menschen destruktiv festsetzen. Damit sich destruktive Tendenzen nicht in Gruppen reproduzieren, sondern emanzipatorische Potenziale freigesetzt werden können, muss die 1 Einige Aspekte und Passagen zur Heteronormativitätskritik aus Kapitel 5 sind im vorliegenden Kapitel nochmals aufgenommen und gruppenanalytisch rekontextualisiert. Selbstverständlich muss auch in diesem Rahmen die Gefahr der Reifizierung berücksichtigt werden.

367

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

Heteronormativität kritisch hinterfragt werden. Die Gruppenanalyse als interdisziplinäre Theorie und Methode, die u. a. Neurobiologie, Psychodynamik, Sozialpsychologie, Kommunikationstheorie und Soziologie integriert, ist zur Kritik und Überschreitung der Heteronormativität geradezu prädestiniert. Im folgenden Fallbeispiel aus einer Selbsterfahrungsgruppe für Studierende der Sozialen Arbeit sollen diese Potenziale angedeutet werden, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. Das Fallbeispiel soll zeigen, wie schon die Widersprüche und Vielfalt zweigeschlechtlicher Identifizierung durch die Heteronormativität leidvoll eingehegt zu werden drohen, und wie die Wahrnehmung und Symbolisierung zunächst bloß nonverbaler Kommunikationen flüssigere Identifizierungen sowie die Integration von Widersprüchen und Vielfalt ermöglichen. Im Blickpunkt stehen die psychodynamischen Konflikte und Identitätsfragen eines jungen Mannes, Herrn T., die in der Gruppe inszeniert werden, aber zugleich werden Geschlechterfragen der ganzen Gruppe, Verunsicherungen und neue Möglichkeiten des Fühlens und Denkens sichtbar (Naumann 2014, S. 66ff.). Die Gruppe besteht überwiegend aus weiblichen Teilnehmerinnen, wie häufig in Studiengängen der Sozialen Arbeit. Herr T. ist neben dem Gruppenleiter der einzige männliche Teilnehmer. Für die weitere Darstellung sind folgende biografische Hintergründe bedeutsam. Herr T. stammt aus einer ländlichen Gegend, die eine gehörige Strecke vom Hochschulstandort entfernt liegt. Der Vater scheint in der Familie eher eine randständige Position einzunehmen, während die Mutter das Familienregiment führt. Die Beziehung zwischen Herrn T. und seiner Mutter ist sehr eng, durchaus liebevoll, aber auch von einer aggressivierten Nähe geprägt. An nahezu jedem Wochenende reist Herr T. in seinen Heimatort, um bei der Familie zu sein, aber auch um seinem Leistungssport nachzugehen. Zu Beginn der Gruppe ist er sehr still und zurückhaltend. Manchmal blitzen aber auch eine scharfe Auffassungsgabe und ein feinsinniger Humor auf. Auf der körperlichen Ebene ist ihm eine starke Anspannung anzumerken. Offenbar ruft die Gruppe schon aufgrund der räumlichen Nähe und der weiblichen »Übermacht« eine negative Mutterübertragung aus, in der Befürchtung, vor zu großer Nähe und etwaigen Attacken nicht genügend geschützt zu sein. In der Folgezeit verständigt sich die Gruppe, vor allem durch Beiträge 368

9.1 Einführung

der weiblichen Teilnehmerinnen, über auch schmerzhafte Erfahrungen mit mehr oder minder fürsorglichen Müttern und mit häufig abwesenden Vätern. So wird zunehmend spürbar, dass heftige Affekte wie Scham, Angst und Wut in der Gruppe gezeigt und gehalten werden können. Durch dieses Erleben entlastet und angestoßen durch interessierte Fragen verschiedener Teilnehmerinnen, berichtet nun auch Herr T. von diversen Schwierigkeiten. Einerseits erzählt er von der immer schon exklusiven Beziehung zu seiner Mutter sowie von den giftigen wechselseitigen Angriffen, die seit dem Beginn des Studiums angewachsen sind und beide in Rat- und Sprachlosigkeit zurücklassen. Andererseits erwähnt er die ihn plagende Neurodermitis. Seine Rede ist dabei aber zunächst eigentümlich affektarm. Die noch kaum zugänglichen Affekte sind aber in der Gruppe. Verschiedene Teilnehmerinnen spiegeln Herrn T. die Liebe ebenso wie die Wut, die sie angesichts der sich in der Gruppe abbildenden Beziehung spüren. An dieser Stelle unternimmt der Gruppenleiter den Versuch einer Verknüpfung. Er bietet die Deutung an, dass möglicherweise die Neurodermitis der Bewältigung ungeklärter Beziehungsfragen dient. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Neurodermatiden unterschiedliche Botschaften versenden: »Sieh’ mich, wie ich wirklich bin«, »Pfleg’ mich« und auch »Bleib’ mir vom Leib«. Zudem steckt im Kratzen der juckenden Haut eine Aggression, die gut als Trennungsaggression zu gebrauchen wäre, um aus einer zu eng gewordenen dyadischen Beziehung herauszukommen. Herrn T. scheint diese Verknüpfung noch nicht wirklich tief zu erreichen, vermutlich aufgrund einer negativen Vaterübertragung, da der real erlebte Vater in der Familie eher randständig erscheint und wenig triangulierende und schützende Funktionen übernimmt. Doch dürfte diese Deutung eine bedeutende Tür zu einem neuen Fühlen und Denken wenigstens einen Spalt weit geöffnet haben, wie sich später herausstellt. Diese neuen Möglichkeiten erhalten einen weiteren Schub während einer Gruppenphase, in der die Gruppe mit großer Kohäsion arbeitet. Herr T. bringt einen Konflikt in die Gruppe ein, in dem es um seine zeitlichen und finanziellen Aufwendungen geht, die er seinem Sportverein Wochenende für Wochenende gibt, ohne dass es eine entsprechende Würdigung gäbe. Nach diesem Bericht nimmt die Gruppe Fahrt auf, indem sie Herrn T. alle möglichen Ratschläge erteilt, sich zu separieren bis er die verdiente Anerkennung erhält. 369

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

Dieser wird jedoch angesichts der wuchtigen Rede immer stiller und kleiner. Dem Leiter scheint, dass die (Frauen-)Gruppe ihn einerseits zu einem kleinen Jungen macht und andererseits verlangt, dass er wie ein ganzer Mann auf den Tisch haut und Konsequenzen zieht. An dieser Stelle interveniert der Leiter: »Ich sehe die Versuche der Gruppe, Herrn T. die berechtigte Enttäuschung und Wut zu spiegeln, ihn zu unterstützen. Aber vielleicht können wir zunächst versuchen, die Bedeutung, die der Sport für ihn hat, zu verstehen«. Schon die erste Frage einer Teilnehmerin bringt den Prozess voran: »Wie kriegst Du denn das zusammen, also den Leistungssport und das Studium der Sozialen Arbeit?«. Herr T. erzählt nun einerseits von der Freude an seinen sportlichen Fähigkeiten, dabei wirkt er fast schamhaft, aber zugleich zeigt er eine straffere Körperhaltung und seine Augen leuchten. Andererseits spricht er von der weitgehenden Trennung dieser beiden Lebensbereiche. Im Verein befürchtet er, dass seine Vereinskameraden nichts mit der Sozialen Arbeit anfangen können, sich vielleicht sogar über ihn lustig machen. Umgekehrt glaubt er, mit dem Leistungssport unter den Studierenden der Sozialen Arbeit eher Irritationen auszulösen. Zu seiner Überraschung erntet er nun aber in der Gruppe Neugier und Bewunderung. Eine weitere Teilnehmerin bringt es auf den Punkt: »Jetzt sehe ich Dich das erste Mal!«. Der Gruppenleiter bietet ihm die Deutung an, dass er den Konflikt im Sportverein vielleicht ähnlich erlebt wie die Verwicklung mit seiner Mutter (nicht gesehen zu werden in seinen Autonomie-, Versorgungsund Anerkennungswünschen), und dass er sein »neues« Leben (das eher weiblich codierte Studium der Sozialen Arbeit) von seinem »alten« Leben (der eher männlich codierte Sport) abspaltet. Diese Intervention scheint einen neuen Empfindungs- und Denkraum geöffnet zu haben. Gemeinsam mit der Gruppe beginnt Herr T. die aufgespaltenen Persönlichkeits- und Lebensbereiche im Sinne einer feinfühligen und flexibleren männlichen Identität zu verknüpfen und sich damit probeweise im Übergangsraum der Gruppe zu zeigen. Diese Erfahrung muss ihn offenbar entlastet und ermutigt haben. Tatsächlich berichtet er im weiteren Verlauf des Gruppenprozesses davon, dass er im Verein erstmals über sein Studium gesprochen hat und einige Vereinskameraden sich hochinteressiert an Themen der Sozialen Arbeit zeigten. Und später noch berichtet er, dass er sich besser und ohne die zuvor verspürte Wut von seiner Mutter abgren370

9.1 Einführung

zen kann. Diese Fähigkeit, sich kenntlich zu machen, führt letztlich auch dazu, dass sich die Mutter nun auch für die Lebensbereiche zu interessieren beginnt, die über die Mutter-Sohn-Beziehung hinausreichen und in denen Herr T. sich sein Leben als junger Mann und Sozialpädagoge aufbaut. Auch in der Gruppe fällt sein konturierteres Auftreten sowie seine offensichtlich gemilderte Neurodermitis auf. Doch nicht nur Herr T. konnte von diesem Gruppenprozess profitieren, sondern auch die ganze Gruppe. Anhand der Figur des Konflikts von Herrn T. wurde das Grundthema Geschlechterverhältnisse unmittelbar erlebbar. Von Herrn T. wurde der Gruppenleiter als ersehnte väterliche Bezugsperson erlebt, die ihm Schutz bietet vor seiner verinnerlichten und in der Gruppe aktivierten Weiblichkeitsfantasie, die ihn als konkreten, erwachsenen Mann übersieht, ihn zu klein oder zu groß machen will – eine Bezugsperson, die ihm aber auch nicht die Pseudolösung aufdrängt, seine Männlichkeit durch die heteronormative Preisgabe der Verbundenheit zu retten. Für die weiblichen Mitglieder der Gruppe war es förderlich, dass neben dem abstinenten Gruppenleiter eine konkreter erlebbare Version von Männlichkeit auftreten konnte. Auf diese Weise konnten die weiblichen Mitglieder in der Gruppeninteraktion die durchaus widersprüchliche Konstituierung männlicher Identität beispielhaft kennenlernen und damit rückseitig etwaige Fixierungen ihrer heteronormativen Männlichkeits- und Weiblichkeitsfantasien lockern. Insgesamt wurde erfahrbar, dass jedwede geschlechtliche Identifizierung sich aus vielfältigen »weiblichen« und »männlichen« Anteilen speist. Das Fallbeispiel vermittelt einen Eindruck davon, wie selbst im System der Zweigeschlechtlichkeit durch die Wirkmacht der Heteronormativität Widersprüche und Vielfalt kassiert zu werden drohen, und wie herausfordernd, ängstigend und lohnend die Kommunikation über Ungesagtes, szenisch Agiertes und Affektives sein kann. Darüber hinaus müssen natürlich auch weitere Themen, die heteronormativ subordiniert werden, in den Blick gerückt werden, etwa homosexuelles Begehren, Intersexualität, Transgender oder Queerness. Diese Themen vielfältiger und heteronormativ eingeschränkter Geschlechter und Sexualitäten werden auch in der Gruppenanalyse, trotz der besagten Potenziale, eher randständig behandelt – zwei der wenigen Texte zum Thema sind meines Wissens Queer Theory von Katherine Watson (2005) und The Group as an Object of Desire. 371

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

Exploring Sexuality in Group Therapy von Morris Nitsun (2006). Demgegenüber findet in den letzten Jahren eine rege Debatte zwischen Psychoanalyse und Queer Theory statt, die einen sozialen Raum jenseits der psychoanalytischen Domäne intrapsychischer Prozesse öffnet – einen Raum, den die Gruppenanalyse eigentlich mit dem Begriff der Gruppenmatrix längst konzeptualisiert hat. Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst die fruchtbare Begegnung von Psychoanalyse und Queer Theory nachzeichnen, sodann eine zeitdiagnostische Einschätzung gegenwärtiger Heteronormativität vornehmen, um schließlich eine gruppenanalytische Perspektive zu formulieren, die sich selbstbewusst ihrer Begrifflichkeiten versichert und zugleich die neueren Erkenntnisse zur Heteronormativität zu integrieren vermag.

9.2

Psychoanalyse und Queer Theory

9.2.1 Von Freud zu Butler und Queer Theory

Die Psychoanalyse hatte bereits in ihren Anfängen Potenziale, die Heteronormativität zu hinterfragen, aber in ihrer folgenden Entwicklung waren, und sind bis heute, immer wieder homophobe und sexistische Tendenzen zu konstatieren (vgl. Hutfless 2014; Quindeau 2015, S.  658; Rendtorff 2019, S. 43). Freud selbst war hier durchaus ambivalent: Einerseits hat er den Geschlechterdualismus mit der Annahme der ursprünglichen Bisexualität des Menschen dekonstruiert und überwunden, andererseits hat er ihn essenzialisiert, etwa im Hinblick auf die unterschiedliche psychosexuelle Entwicklung von Jungen und Mädchen, den Phallozentrismus oder die besondere Bedeutung des Vaters für die Kulturentwicklung (vgl. Brunner et al. 2012, S. 48; Mentzos 2013, S. 34). Jüngst hat Barbara Rendtorff dazu gesagt: »Man kann Freud eigentlich nicht vorwerfen, dass er nicht deutlich genug gesagt hätte, was das Typische und Unhintergehbare der Sexualität sei: dass sie zu Psyche und Soma gehöre, jedoch nicht nur zu einer Seite; dass beide auch gesellschaftlichen und Beziehungseinflüssen unterliegen und dieses spannungsreiche Verhältnis sich nicht auflösen lässt; dass weiblich und männlich in dieser Gemengelage bestimmte und bestimmbare Positionen sind, die nicht allein aus biologischen Gegebenheiten ableitbar sind, weil

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9.2 Psychoanalyse und Queer Theory

deren Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit nicht restlos stillgestellt werden kann. Was man ihm aber vorwerfen kann, ist die Tatsache, dass er diese Erkenntnisse nicht durchgehend eingehalten hat, dass er immer wieder hinter sie zurückfällt, in Widerspruch mit sich selbst, und sich verleiten lässt, aus der Körperausstattung abgeleitete festlegende Zuschreibungen zu formulieren« (Rendtorff 2019, S. 42).

So schreibt Freud 1925 in seiner Selbstdarstellung, dass Homosexualität auf die »konstitutionelle Bisexualität« zurückzuführen sei und er führt aus: »[…] durch Psychoanalyse kann man bei jedermann ein Stück homosexueller Objektwahl nachweisen« (Freud 1948, S. 63f.). Und 1923, in Das Ich und das Es spricht er, im Hinblick auf den Ödipuskomplex, von der »ursprünglichen Bisexualität des Kindes, d. h. der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche feminine Einstellung zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen den Vater« (Freud 1940a, S. 261).

Im gleichen Text aber schwingt bereits ein heteronormativer Kippmoment mit, wenn Freud die ödipale Dynamik bei gegengeschlechtlicher Objektwahl und darauffolgender gleichgeschlechtlicher Identifizierung als »positiv« und den umgekehrten Fall als »negativ« bezeichnet« (ebd.).2 Gänzlich verloren scheint die Freud’sche Vorstellung von Mehrdeutigkeit hingegen im Aufsatz Zum Untergang des Ödipuskomplexes aus dem Jahr  1924. Hier dreht sich die ausgesprochen phallozentristische Argumentation um den Besitz oder Nichtbesitz eines Penis und die Kastrationsangst. Der Junge begehre (ausschließlich) die Mutter, rivalisiere mit dem Vater und dann keime die Kastrationsangst auf – dieses Dilemma würde durch die Identifizierung mit dem Vater gelöst und damit zugleich das Über-Ich errichtet als Repräsentanz des väterlichen Gesetzes und kultureller Normen (Freud 1940b, S. 398ff.). Beim Mädchen aber fehle der Penis, die »Anatomie ist das Schicksal« (ebd., S.  400). Daraus folgert Freud: »Die feministische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter 2 Ilka Quindeau schlägt vor, statt »von ›positivem‹ und ›negativem‹ Ödipuskomplex«, »lieber von einer gleich- und gegengeschlechtlichen Ausprägung« zu sprechen (Quindeau 2014, S. 86).

373

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

trägt hier nicht weit, der morphologische Unterschied muß sich in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern« (ebd.). Irgendwann fände sich das Mädchen mit dem Fehlen eines Penis ab, somit entfalle aber auch die Kastrationsangst und damit auch »ein mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs« (ebd., S. 400f.). Der Verzicht auf einen Penis werde dann kompensiert durch den Wunsch, vom Vater ein Kind zu erhalten, der weibliche Ödipuskomplex gehe dann einfach langsam unter, weil sich dieser Wunsch nie erfülle (ebd., S. 401). »Die beiden Wünsche nach dem Besitz eines Penis und eines Kindes bleiben im Unbewußten stark besetzt erhalten und helfen dazu, das weibliche Wesen für seine spätere geschlechtliche Rolle bereit zu machen« (ebd.). Dieser patriarchalischen und durchaus sexistischen Argumentation entgegen schreibt Freud immerhin am Ende des Textes: »Im ganzen muß man aber zugestehen, daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge beim Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind« (ebd.). In der Zeit nach Freud neigte sich die psychoanalytische Theoriebildung häufig eher in Richtung einer weiteren Essenzialisierung. In den Worten von Hélène Tessier: »Mit dem normativen Festhalten an der traditionellen Familie, an der heterosexuellen Verteilung der Elternfunktion, den Geschlechtsstereotypen, mit der Verachtung für Forderungen nach Gleichheit, mit den abstrakten, apolitischen und archaischen Bezügen auf ein höheres Gesetz ist die Psychoanalyse lange jeder kritischen Analyse mit Hochmut begegnet« (zit. nach Heenen-Wolff 2015, S. 600).

Die Überwindung dieser Haltung wurde in den vergangenen rund 30 Jahren nicht nur, aber besonders aus der Perspektive einer feministisch, intersubjektiv und sozialkritisch orientierten Psychoanalyse ermöglicht. Beispielhaft seien hier Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht von Jessica Benjamin (1990) sowie Expedition in den dunklen Kontinent: Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse von Christa Rohde-Dachser erwähnt (1992).3 In jüngerer Vergangenheit wird diese Debatte durch die Verbindung von Psychoanalyse und Queer Theory 3 Beide Autorinnen setzen sich in ihren Werken kritisch u. a. auch mit den problematischen Aspekten Freuds Vorstellung der psychosexuellen Entwicklung auseinander, die oben angerissen wurden, und entwerfen eigene, feministisch-psychoanalytische Entwicklungs-

374

9.2 Psychoanalyse und Queer Theory

bereichert. Eine wichtige theoretische Referenz bilden dabei die poststrukturalistischen Arbeiten Judith Butlers. Einige ihrer Grundannahmen sind, dass Geschlecht, Sexualität und Begehrensformen durch herrschende Diskurse konstruiert werden, dass dabei alles Abweichende verworfen werden muss und potenzielle Vielfalt kassiert wird, und dass das Verworfene durch Dekonstruktion der herrschenden Diskurse und »Resignifikation« (Butler) der Verwerfungen »wieder in den Horizont subjektiver Erfahrungsfähigkeit« gerückt werden kann (Naumann 2000, S. 40). Ein durchaus psychoanalytischer Gedanke  – Butler selbst hat sich in den letzten Jahren immer intensiver mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt, etwa mit Freud, Lacan und vor allem mit dem intersubjektiven Ansatz Jessica Benjamins (Butler 2001; 2011). Umgekehrt wird nicht nur in der feministisch orientierten psychoanalytischen Debatte zunehmend auf poststrukturalistische und queere Erkenntnisse Bezug genommen (Benjamin 1995; König 2012; Wagner 2012; Quindeau 2014; Hutfless 2014).4 Auch ich meine, dass die Verknüpfung von Psychoanalyse und Queer Theory beträchtliche theoretische und emanzipatorische Potenziale birgt. Queer bedeutet eigentlich sonderbar oder fragwürdig. Der Begriff hat sich von einem homophoben Schimpfwort zur Selbstbezeichnung von politischen Bündnissen gewandelt, deren Akteur*innen sich mit ihren lesbischen, schwulen, bisexuellen, transidenten oder auch heterosexuellen Identitätskonstruktionen der heteronormativen Logik zu entziehen trachten ( Jagose 2001, S. 13ff.).5 In wissenschaftlichen Kontexten ist der Begriff namensgebend für die Queer Studies oder eben Queer Theory, erstmals verwendet im Aufsatz Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities von Teresa de Lauretis (De Lauretis 1991; vgl. Watson 2005, S. 71). Im Wesentlichen zielt Queer Theory auf die kritische Auseinandersetzung mit der Entgegensetzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Hetero- und Homosexuatheorien. Gegenwärtig sind zu diesem Thema, aus meiner Sicht, auch die vielfältigen Publikationen Ilka Quindeaus sehr zu empfehlen, etwa Sexualität (2014). 4 Esther Hutfless ist auch Mitbetreiberin der hochinteressanten Internetseite Queering Psychoanalysis (Hutfless et al. o. J.) sowie Mitherausgeberin des umfassenden Werks Queering Psychoanalysis. Psychoanalyse und Queer Theory – Transdisziplinäre Verschränkungen (Hutfless/Zach 2017). 5 Demnach können auch eher heterosexuell orientierte Menschen als »Straight Allies« an der queeren Bewegung teilhaben, indem sie reflektieren, dass es queere Menschen gibt, die weitaus größeren Diskriminierungsgefahren ausgesetzt sind, und solidarisch Kritik an den destruktiven Folgen der Heteronormativität üben.

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9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

lität, sowie mit der Pathologisierung von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten, die aus hegemonialer Sicht als abweichend gelten (vgl. Watson 2005, S. 74). Vor diesem Hintergrund kann die Psychoanalyse von Queer Theory erheblich profitieren, wenn sie sich auf deren Erkenntnisse zur Komplexität, Breite und Offenheit von Geschlechtern, sexuellen Identitäten und Orientierungen einerseits und zu geschlechtlichen und sexuellen Entwertungsund Exklusionsprozessen andererseits einlässt (Hutfless 2014): »Umgekehrt wäre es für queer-theoretische Ansätze fruchtbar, sich mit der komplexen Art und Weise zu befassen, in der die Psychoanalyse Subjektwerdung als Phänomen denkt, das über Identität und Identifizierung hinausgeht, in dem unbewusste Prozesse eine Rolle spielen und Verwerfungen und Ausschlüsse nicht nur gesellschaftlich, sondern auch intrapsychisch eine Rolle spielen« (ebd., o. S.).

Erkenntnistheoretisch folgt aus der Verknüpfung von Queer Theory und Psychoanalyse einerseits die Dekonstruktion der Heteronormativität, die mit ihren diskursiven Vereindeutigungen das Vielfältige und Rätselhafte von Geschlecht und Sexualität der Verwerfung anheimgibt, und andererseits die Rekonstruktion von Geschlecht und Sexualität im Sinne einer psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen »Hermeneutik des Leibes«, die die eigenlogische Vergesellschaftung des Körpers zu deuten vermag (Lorenzer 1988a, S. 1059f.; vgl. auch Rendtorff 2019, S. 49f.).6 9.2.2 Dekonstruktion und Rekonstruktion am Beispiel von Hetero- und Homosexualität

Queer Theory und Psychoanalyse treffen sich in ihrer Kritik der Heteronormativität, die, wie schon bemerkt, Geschlechtszugehörigkeit an sexuelle Aktivitäten koppelt und damit ein männliches und ein weibliches Geschlecht mit heterosexueller Orientierung naturalisiert, während rück6 Die Psychoanalyse kann dabei »als Diskurs an dem lebendigen Schnittpunkt von Semantischem und Somatischem« verstanden werden, als Diskurs zur Rekonstruktion (auch) von Geschlecht und Sexualität »als ein semantisches Gebiet, auf dem es dem Körper gelingt oder mißlingt, zur Sprache zu kommen« (Eagleton 1994, S. 276).

376

9.2 Psychoanalyse und Queer Theory

seitig die Vielzahl anderer sozialer Geschlechter und Begehrensweisen verleugnet oder ausgegrenzt wird (Pimminger 2012, S. 140f.; Quindeau 2014, S. 85). Aus dekonstruktivistischer Perspektive sind Geschlecht und Sexualität zu unterscheidende, aber sozio-historisch verflochtene und sich verändernde Kategorien (Engel 2002, S. 45). Die Heteronormativität bildet hier ein Machtregime, das gesellschaftliche Institutionen, Diskurse, Beziehungsformen und Subjektivitäten strukturiert (ebd., S.  46). Zugespitzt formuliert dient das Geschlechtsdispositiv eher der Zuordnung zu Gruppen und Hierarchisierung von Beziehungen, etwa in der Familie oder der Arbeitswelt, während das Sexualitätsdispositiv eher auf die Herstellung eines Körpers und eines Begehrens zielt, das die Subjekte als ihr Innerstes und Eigenes betrachten, das aber letztlich auch im Dienste der Reproduktion hegemonialer gesellschaftlicher Verhältnisse steht (vgl. Ott 1998, S. 179). Das potenziell Vieldeutige und Transgressive der Sexualität wird damit eingehegt in die heteronormative Vereindeutigung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität, »eine eindeutige, hierarchisierbare Ordnung des Habens, des Mehr oder Weniger, auch der Überlegenheit, die Orientierung verspricht und an die man sich halten kann« (Rendtorff 2019, S. 47). Diese Dekonstruktion der Heteronormativität sollte nun ergänzt werden durch eine psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Rekonstruktion der Entstehung von Geschlechtern und Sexualitäten, um die Tiefendimension, Ambivalenz und Konflikthaftigkeit dieses Geschehens auszuloten. Am Beispiel der Sexualität lässt sich dies gut zeigen: Jedes Subjekt samt seiner Sexualität wird, mit Alfred Lorenzer gesprochen, in unzähligen leibsymbolischen, sinnlich-symbolischen und sprachsymbolischen Interaktionen hergestellt, die als Interaktionsformen verinnerlicht und dann in neuerliche Interaktionen eingebracht werden (Lorenzer 1988b; Böllinger 2015, S. 623). Die Sexualität konstituiert sich somit durch konkrete Erfahrungen in einem sozialen Kontext, also durch eine Körper-, Bedürfnis-, Beziehungs- und Geschlechtsgeschichte (Schmidt 2014, S. 68), im Zusammenspiel von anatomischen Strukturen, physiologischen Prozessen, Beziehungserfahrungen und Fantasien (Quindeau 2014, S. 87). Dies ist aber kein konfliktfreier Prozess, der die Subjekte schlicht zum Objekt der heteronormativen Hegemonie macht. Zwar wird das Begehren in intersubjektiven und gesellschaftlichen Interaktionen und Kommunikationen erst erzeugt, doch vermitteln diese Interaktionen und Kommunikationen nicht nur durchaus widersprüchliche Botschaften und Erfahrungen. Oben377

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

drein werden diese Erfahrungen – und mithin das Begehren – im Subjekt sinnlich und psychisch eigenlogisch umgearbeitet. Einerseits erzeugt die hegemoniale Heteronormativität unweigerlich gegenhegemoniale, etwa queere Diskurse und Praktiken, zudem gerät sie immer wieder in Widerspruch zu individualisierenden, flexibilisierenden und ökonomisierenden Tendenzen in neoliberalen Gesellschaften. Andererseits führt die psychodynamische Eigenlogik der Subjektbildung dazu, dass alle Regungen, die in bedeutsamen Interaktionen nicht angemessen gespiegelt wurden oder als allzu angstbesetzt und tabuisiert erlebt werden, unbewusst bleiben oder verdrängt werden müssen. Doch damit sind diese Regungen, Wünsche, Bedürfnisse und Konflikte nicht verschwunden, sie müssen sich andere, mitunter verdreht und skurril erscheinende Ausdrucksformen suchen. Daraus folgt, dass die heteronormative Einhegung, etwa der polymorph-perversen Sexualität und der ursprünglichen Bisexualität, unweigerlich psychosoziale Folgen zeitigt, die sich als melancholische oder aggressive Überanpassung, als einsam auftrumpfende Über- und beschämende Unterordnung, als individualisiertes psychosoziales und psychosomatisches Leiden, als kontraphobisches sexuelles Agieren oder auch als gegenhegemoniale Praxis von Widerspruch und Kreativität zeigen können (vgl. Heenen-Wolff 2015, S. 595; Böllinger 2015, S. 623). Kurzum, die heteronormativ strukturierten Subjekte wirken überangepasst, dysfunktional oder widerständig, jedenfalls strukturierend, auf die gesellschaftlichen Diskurse und Institutionen zurück. Offenbar wird Sexualität zwar immer auch gesellschaftlich und diskursiv konstruiert, aber zugleich auf biografisch besondere Weise sinnlich erlebt und psychisch verarbeitet. Nach Lorenzer ist Sexualität grundsätzlich »der Zentralpunkt, an dem sich das Kommunizieren und Interagieren mit der Umwelt bündeln«, sie ist »die zentrale Stelle, an der die Körperlichkeit ihre soziale Formung zeigt« (Lorenzer 1980, S. 324f.). Hier überlappen sich sämtliche sinnlich-psychischen Entwicklungspunkte einer ebenso subjektiven wie kulturell konstituierten Begehrensgeschichte.7 Sexuali7 So spielen etwa die polymorphen Fantasien der Kindheit eine lebenslang eine bedeutende Rolle. Susann Heenen-Wolff schreibt: »Und es ist ja eben diese infantile polymorphe, offene Sexualität, die die Sexualität des Menschen erst humanisiert. Anders als beim instinktbestimmten Tier gründet sie auf Phantasien, die im Kindesalter im Austausch mit den Erwachsenen entstehen. Diese nicht gebundene ›Parasexualität‹ ist Grundlage und Voraussetzung von gebundener (narzisstischer und/oder objektbezogener) Sexualität

378

9.2 Psychoanalyse und Queer Theory

tät als Körperpraxis ist dabei nicht genital oder geschlechtlich festgelegt, sondern kann verstanden werden als »verhältnismäßig offener Prozeß sexueller Strukturierung, der vom Wandel und von den Zufälligkeiten in der Innen- und Außenwelt des Subjekts überdeterminiert ist« (De Lauretis 1996, S. 221). Im Hinblick auf Homo- und Heterosexualität kann mit Christa Rohde-Dachser festgehalten werden, dass beide dazu dienen, im Rahmen einer konkreten Lebensgeschichte und innerhalb gegebener gesellschaftlicher Kontexte Lust zu erzeugen und möglichst angstfreie, befriedigende Beziehungen zu leben (vgl. Rohde-Dachser 1994, S. 835ff.). Noch weiter gefasst ist jedwede sexuelle und geschlechtliche Identität, ob hetero-, homo-, bi- oder asexuell, ob männlich, weiblich, trans- oder intersexuell, kein Ausdruck bloßer Natur, sondern ebenso biografisch konkret wie kulturell überformt und im Sinne von »Umschriften« lebenslang veränderbar (Quindeau 2014, S. 98). Wenn überhaupt muss bei aufkeimenden psychosozialen Problemen in jedem konkreten Einzelfall, also auch bei heterosexueller Orientierung, genau und offen hingesehen werden – die sexuelle Orientierung sagt schlichtweg nichts über psychische Gesundheit (Böllinger 2015, S. 619; Heenen-Wolff 2015, S. 593).8 Daraus folgt umgekehrt, dass die hegemoniale Naturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität sowie die Subordination oder gar Pathologisierung von Homosexualität nur durch die vorherrschende Heteronormativität erklärt werden kann. Um solchen Verwerfungen entgegenzuwirken, schlägt Quindeau vor, Weiblichkeit und Männlichkeit, Passivität und Aktivität sowie Hetero- und Homosexualität nicht als Gegensatzpaare, sondern als Pole zu verstehen, die Kontinuen mit unterschiedlichsten Zwischenstufen und Ausprägungen umschließen (Quindeau 2014, S. 84). Insgesamt wäre anzustreben, Räume für vieldeutige und flexiblere Konstruktionen geschlechtlicher und sexueller Identitäten zu eröffnen (ebd., S. 135; Jagose 2001, S. 125f.). des Erwachsenen; die ›genital‹ genannte Sexualität ist dementsprechend ebenfalls von Phantasien bestimmt […], und die ›sogenannten Partialtriebe und die entsprechenden prägenitalen Erlebnismodalitäten‹ bleiben erhalten« (Heenen-Wolff 2015, S. 592). 8 Der wunderbare Psychoanalytiker Stavros Mentzos hat bereits in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass es ebenso glückende Homo- wie Heterosexualität gibt, und dass beide natürlich auch Abwehr- und Kompensationscharakter haben können – die psychoanalytische Krankheitslehre müsse demnach entweder beide oder keine der Varianten thematisieren (Mentzos 2011, S. 234).

379

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

9.3

Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven

Wie aber wirkt nun die Heteronormativität in die Alltagspraxis, die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die psychische Struktur- und Identitätsbildung aus einer psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen und queer-theoretischen Perspektive hinein? Und existieren gegenwärtig nicht auch Diskurse und Praktiken der Vielfalt von Geschlechtern und Sexualitäten, die die Wirkmacht der Heteronormativität in Zweifel ziehen? 9.3.1 Heteronormativität heute

Schon ökonomisch müssen wir von der Fortdauer geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung ausgehen. Trotz der gegenwärtigen Individualisierung und Pluralisierung, trotz der formalen Gleichheit von Frauen und Männern in demokratischen Gesellschaften scheinen Männer eher einen Platz in der öffentlichen Sphäre der Erwerbsarbeit, der Politik und Verwaltung zu erhalten, während Frauen noch immer eher für die private Sphäre der Haus- und Erziehungsarbeit zuständig zu sein scheinen – hier steigt männliche Beteiligung nur in geringem Maße, und eine Umschichtung findet eher zwischen Frauen statt, etwa durch die Anstellung von weiblichen Haushaltshilfen oder Kindermädchen in bessergestellten Haushalten. Darüber hinaus finden Frauen besonders in feminisierten Berufen selbstverständlichen Zugang, in denen weiblich codierte Fähigkeiten der Pflege und Kommunikation gefragt sind; weiterhin erhalten Frauen seit Jahren hartnäckig über 20 Prozent weniger Lohn als Männer; sie arbeiten weitaus häufiger in Teilzeit; und sie sind es zumeist, die die Doppelbelastung von Familie und Beruf bewältigen müssen.9 Mit dieser Arbeitsteilung ist zugleich ein binäres zweigeschlechtliches Symbolsystem verwoben, in dem Weiblichkeit und Männlichkeit als Gegensatzpaar konstruiert ist. Auf sprachlicher Ebene ist das Wort »Männlichkeit« verknüpft mit Zeichen der Autonomie, der Rationalität und Aktivität, während »Weiblichkeit« im Zeichen von Abhängigkeit, Passivität 9 An dieser Stelle soll auch daran erinnert werden, dass das Recht auf eigenständige Erwerbsarbeit von Ehefrauen in der BRD erst 1977 eingeführt wurde, und dass das Vergewaltigungsverbot in der Ehe erst seit 1997 besteht.

380

9.3 Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven

und Emotionalität zu stehen scheint (vgl. Naumann 2000, S. 163). Allerdings wirkt das binäre Symbolsystem nicht nur auf der sprachsymbolischen, sondern auch auf der sinnlich-symbolischen Ebene des »doing gender«. Hier werden durch alltägliche Interaktionserfahrungen Geschlechter erzeugt, die sich im Lachen, Gehen und Fühlen, in Sprechweisen und ästhetischen Vorlieben unterscheiden. Auf diese Weise bildet sich ein geschlechtlicher »Habitus« (Bourdieu) heraus, eine »verleiblichte, in den Körper eingeschriebene Ordnung«, die »die Zuordnung der Geschlechter zueinander, das Verhältnis von Unterordnung und Durchsetzung, von Nähe und Distanz, von Ordnung und Unordnung oder von Aktivität und Passivität« reguliert und damit geschlechterhabituelle Zugehörigkeiten und Hierarchiebildungen inszeniert (Brandes 2005, S. 158ff.; Naumann 2014, S. 57). Diese heteronormativen Erfahrungen in der alltäglichen Arbeits- und Beziehungswelt hinterlassen letztlich auch in der inneren Struktur und Psychodynamik sowie im sexuellen Begehren ihre Spuren.10 So ist Sexualität grundsätzlich zwar eine mögliche Quelle von großer Nähe, Bindung und intensiver Lust, zugleich löst sie gerade deshalb auch Ängste vor Kontroll- und Selbstverlust aus – Ängste, die dann mitunter auf destruktive Weise bewältigt werden müssen (Mentzos 2013, S. 271). Besonders unter heteronormativen Bedingungen kann die Sexualität starre und destruktive Formen annehmen. Denn die heteronormative Kopplung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität führt meist dazu, dass sich die anfänglich bisexuelle Orientierung der Menschen über die Verdrängung homosexuellen Begehrens hin zum heterosexuellen Begehren wandelt (Quindeau 2014, S. 88). Sicherlich eröffnet die heterosexuelle Objektwahl auch lustspendende Erfahrungen und Beziehungen. Doch, wie Butler verdeutlicht, unterlegt eine strikte Aufgabe der gleichgeschlechtlichen Objektwahl die Geschlechtsidentität und das heterosexuelle Begehren potenziell mit einer Melancholie, mit einer verleugneten Trauer über all das, was in der geschlechtlichen und sexuellen Vereindeutigung verloren gegangen ist. In der Melancholie wird der starr heterosexuelle Mann gleichsam zu dem Mann, den er nie lieben oder dessen Verlust er nie betrauern konnte, 10 Wie bereits angedeutet, spielt die psychosexuelle Entwicklung in der Kindheit auch für das erwachsene Erleben von Geschlecht und Sexualität eine bedeutsame Rolle. Wie problematisch diese Entwicklung unter heteronormativen Bedingungen verläuft und welche Folgerungen daraus für gelingende Entwicklungen gezogen werden können, habe ich in Kapitel 5 untersucht.

381

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

zugleich begehrt er die Frau, die er niemals sein würde. Umgekehrt wird die starr heterosexuelle Frau zu der Frau, die sie nie lieben oder betrauern konnte, und sie begehrt den Mann, der sie niemals sein durfte (Butler 2001, S. 129ff.). Dies ist freilich kein Spezifikum einer starren heterosexuellen Identität. Butler verweist darauf, dass selbstverständlich auch homosexuelles Begehren, besonders in der Behauptung einer kohärenten homosexuellen Identität, melancholisch unterlegt sein kann, nämlich als Verwerfung heterosexuellen Begehrens (ebd., S.  140). Allgemeiner noch macht sie deutlich, dass Identität und Autonomie grundsätzlich nur in Abhängigkeit von unverfügbaren Beziehungen und diskursiven Kontexten existieren, und dass die Verwerfung dieser Abhängigkeit ein melancholisches Erleben etabliert. Erst die Akzeptanz der »Spur des anderen« im Inneren, erst die Trauer um Autonomieverlust eröffnet die Versöhnung mit der existenziellen Ambivalenz und Begrenztheit jedweder Identität (ebd., S. 182; Naumann 2015, S. 205).11 Darüber hinaus trägt die heteronormative Praxis psychodynamisch auch zur geschlechtlichen Spaltung von Autonomie und Bindung bei. Zugespitzt formuliert beruht Männlichkeit auf der unangemessenen Größenfantasie, unabhängig und rational handlungsfähig zu sein. Die zweifellos vorhandene Abhängigkeit von anderen Menschen und all die Wünsche nach Geborgenheit und Nähe, die in diesem Selbstbild nicht integriert sind, müssen sich dann andere Abfuhrbahnen suchen. Im Kontext der hegemonialen Männlichkeit ist die naheliegende Abfuhrbahn die Projektion der Ängste und Wünsche auf Weiblichkeit, die als Symbol der Abhängigkeit verachtet und als Symbol der Nähe und Sinnlichkeit idealisiert werden kann. Weiblichkeit gerät so zu einem Behälter, in dem die männlich verleugneten Gefühle deponiert und gefahrlos aufgesucht werden können (vgl. Rohde-Dachser 1992, S. 97ff.; Böllinger 2015, S. 618). Weil umgekehrt in der Geschlechterdichotomie für Weiblichkeit keine männ11 Nicht nur vor diesem Hintergrund erweisen sich die rüden Angriffe gegen Butler, wie sie etwa von Psychoanalytikern wie Reimut Reiche und Hans-Geert Metzger vorgetragen werden, als peinlich und entlarvend. So schreibt Reiche »Judith Butler wird verfolgt vom bösen elterlichen Koitus« und Metzger meint, Butler agiere eine »Aggressivität gegen die Heterosexualität« (Reiche 2004, S. 137; Metzger 2015). Offenbar verstehen beide den Unterschied zwischen gelebter Heterosexualität und der Kritik an der Heteronormativität nicht, und offenbar ist ihre Butler-Lektüre arg selektiv – aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls sind solch theoretische Verdrehungen, obendrein verbunden mit persönlichen Attacken, »wissenschaftlich absolut unseriös« (Hutfless 2015).

382

9.3 Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven

lich codierte Autonomie vorgesehen ist, entsteht die Tendenz, unerfüllte Autonomiewünsche auf Männlichkeit zu projizieren, um so am vermeintlichen Glanz idealisierter männlicher Unabhängigkeit teilhaben zu können.12 Auf diese Weise wird das Verhältnis von Autonomie und Bindung geschlechtlich polarisiert, es kommt zur Sprachschablone »Männlichkeit« mit dem Verhaltensklischee einer überbetonten Autonomie und zur Sprachschablone »Weiblichkeit« mit dem Verhaltensklischee einer überbetonten Bindung. Eine förderliche Entwicklung sollte demgegenüber die Balance von Autonomie und Bindung ermöglichen innerhalb und zwischen den Subjekten gleich welchen Geschlechts und welchen Begehrens. 9.3.2 Neosexuelle Revolution?

Nun drängt sich die Frage auf, ob die Heteronormativität tatsächlich so wirkmächtig ist? Leben wir denn nicht in einer Welt der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt? Heute existieren in den Queer und Gender Studies, in der Psychoanalyse und Sexualwissenschaft vielfältige transgressive, emanzipatorische und gesellschaftskritische Ansätze. Zudem sind diese 12 Darüber hinaus zeigt sich die heteronormative Destruktivität aber auch als Gewalt innerhalb sexueller Beziehungen. Mentzos nennt hier das Beispiel einer aggressivierten Sexualität, die meist von Männern agiert wird, und die als Pseudolösung des bipolaren Konflikts zwischen Autonomie und Bindung verstanden werden kann (2013, S. 271). In solchen Fällen repräsentiert das Sexualobjekt, also die Partnerin, eine ersehnte Attraktion, Lust und Nähe, die aber zugleich die mühsam errichtete männliche Autonomie bedroht, sodass Lust und Nähe nur durch die gewaltvolle Unterwerfung der Anderen realisierbar erscheint. Demgegenüber sollten Bedingungen dafür geschaffen werden, dass in sexuellen Beziehungen der Wunsch, erreicht zu werden, ebenso wie der Wunsch, die*den Andere*n zu entdecken, für alle Beteiligten zur wechselseitigen Erfüllung kommen können (Benjamin 1990, S. 73). »Die Aufgabe wäre also, die Flüssigkeit und Vieldeutigkeit von Sexualität zurückzugewinnen, und ein Begehren zu entwickeln, welches nicht auf ein – so und so beschaffenes – Objekt zielt, sondern sich an der Wechselseitigkeit von Begehren und begehrt werden entzünden kann – so sehr, daß es auf diese Wechselseitigkeit nicht mehr verzichten kann oder mag. Ein Begehren, das ohne Erwiderung abebbt, das aus dem erfüllten und erlebten Verlangen des Gegenüber erst Feuer fängt und brennt – dies ist die Vision einer Sexualität, die gewaltfrei sein kann, weil sie durch Gewalt ihre intensivste Lust verlieren müßte und dies auch weiß« (Hagemann-White 1995, S. 158f.).

383

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

theoretischen Bemühungen flankiert von sozialen Bewegungen, die sich besonders in Großstädten etwa als feministische, lesbische, schwule und queer Communities zeigen, und überdies immer wieder politische und rechtliche Fortschritte anstoßen. In den Medien kursieren vielfältige Bilder von Hetero- und Homosexualität, zudem werden Themen wie Transgender und Intersexualität sichtbarer  – eine Entwicklung, die ein breiteres Spektrum von Geschlechteridentitäten und Begehrensweisen zur Identifizierung anbietet. Im Bereich der Erwerbsarbeit werden »weibliche« Fähigkeiten der Kommunikation und Kooperation aufgrund der zunehmend vernetzten Arbeitswelt immer gefragter. Auch eröffnen flexible Arbeitszeitmodelle zumindest die Möglichkeit, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren. Unterstützt werden diese Prozesse durch Gendermainstreaming, um Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Zudem existieren heute vielfältige Familienformen und erweiterte Spielräume für die Gestaltung eines durch Kooperation und Empathie getragenen Familienalltags (vgl. Naumann 2010, S. 93). Nicht zuletzt weiten sich Potenziale einer »Verhandlungsmoral« in sexuellen Beziehungen, die wechselseitige Lust fördern und Destruktivität eindämmen können (Schmidt 2014, S. 8). Insgesamt ist, mit Volkmar Sigusch gesprochen, für die letzten Jahre bis heute eine »neosexuelle Revolution« zu konstatieren, die sich zunächst durch die Vervielfältigung von Geschlechtern, Begehrensund Lebensformen kennzeichnen lässt (Sigusch 2014, S. 34ff.). Sigusch macht allerdings auch deutlich, dass der nicht zu leugnende Autonomiezuwachs und die neuen Freiheiten auch mit neuen Problemen einhergehen (ebd., S. 28). In Zeiten eines globalisierten Neoliberalismus, der ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit immer weiter kassiert, können den Menschen ohne weiteres größere geschlechtliche und sexuelle Freiheiten zugestanden werden. Darüber hinaus ist die Rede von sexuellen und geschlechtlichen Freiheiten geradezu gesellschaftlich funktional, wenn die neoliberalen Tendenzen zur technischen Machbarkeit, Flexibilisierung und Selbstoptimierung bis in sexuelle Regungen und Körperverhältnisse hineinreichen und die Menschen gerade dadurch vermeinen, die Freiheit sei wirklich (ebd., S. 37; Schmidt 2014, S. 31). Für die einzelnen Menschen sind die Konflikte rund um Sexualität und Geschlecht damit aber nicht gelöst (Heenen-Wolff 2015, S.  587). So wird etwa mit einer selbstoptimierten, technisierten Sexualität zwar die Angst vor dem Rauschhaften der Sexualität, auch vor Nähe und Abhängigkeit, kontraphobisch durch einen neuerlichen Leistungsbeweis abgewehrt, die Angst vor Beziehungslosigkeit 384

9.3 Heteronormativität oder neosexuelle Revolution – zeitdiagnostische Perspektiven

und die Sehnsucht nach Verbundenheit bleiben aber virulent (Böllinger 2015, S. 612/615).13 Insgesamt ist eine widersprüchliche Situation zu konstatieren. Zwar wird die Heteronormativität durch die mehr oder minder gelingenden, jedenfalls vielfältigen Gestalten der neosexuellen Revolution herausgefordert, doch bleibt sie ökonomisch, symbolisch und psychosozial vorherrschend mit der institutionalisierten Heterosexualität, der hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit und hegemonialen Männlichkeit (ebd., S.  626). Verschärft wird diese Dynamik durch die Verunsicherung, die die Sichtbarkeit von nonkonformen Geschlechterentwürfen und Begehrensformen auslöst – eine Verunsicherung, die das Unbehagen in der neoliberalisierten Welt weiter vertieft. Um die Verunsicherung zu bewältigen, müssen dann alle Tendenzen, bislang naturalisierte Geschlechter- und Sexualitätsgrenzen zu überschreiten, mit Hass verfolgt werden. Besonders rechtspopulistisch verstrickte Menschen scheinen sich verzweifelt ihrer selbst vergewissern zu müssen, indem sie ihre Not durch antifeministische, homo- und transphobe Wut kompensieren (Naumann 2018, S.  213; Höcker et al. 2020, S. 267). Neben dieser heteronormativen Hegemonie existieren Diskurse von geschlechtlicher und sexueller Freiheit, von Machbarkeit und Selbstoptimierung – eine erzwungene Freiheit, die bestimmte Menschen letztlich auf ihre Funktion in einer individualisierten und entgrenzten Welt einschwört. Subjektiv dienen diese Diskurse und daraus folgende Praktiken der Abwehr virulenter Ohnmachtsgefühle und unerfüllter Bindungswünsche, sie hinterlassen aber auch eine einsame Beziehungslosigkeit. Wenn solch brüchige Abwehrarrangements in krisenhafte Prozesse geraten, besteht die Gefahr, dass das erschütterte Selbst durch den Rückgriff auf die real verfügbare Heteronormativität restabilisiert werden muss. Möglich scheint hier ebenso die Wiederbelebung der destruktiven Dynamik von Über- und Unterordnung in zwischenmenschlichen Beziehungen wie das Wiedereinfügen in die hegemoniale Heteronormativität, die wenigstens 13 Mit Nancy Fraser kann diese Form der Sexualität als Ausdruck der Ideologie des »progressiven Neoliberalismus« verstanden werden. Der progressive Neoliberalismus verleibt sich Diskurse der Vielfalt und Selbstbestimmung ein, die aus den Neuen sozialen Bewegungen stammen. Damit eröffnet er die Diversifizierung kapitalistischer Teilhabe und gibt dem neoliberalen Kapitalismus den Anstrich eines Projekts zur Verwirklichung von Egalität und Diversität (Fraser 2017). Auf subjektiver Seite zeigen sich allerdings Gefahren, als Abwehr von Nähebedürfnissen, in Form von Erschöpfungssymptomen und als Risiko reaktiver Erkrankungen (Uhlendorf et al. 2016, S. 33).

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9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

irgendeine Form der Individuation, Verbundenheit, Lust und Handlungssicherheit verspricht (Naumann 2018, S. 213). Nicht zuletzt bestehen gerade heute im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität auch erweiterte Spielräume für gelingende Identitäten und Beziehungen. Diese überschreiten die Logik sich strikt ausschließender Gegensätze, also entweder männlich oder weiblich, entweder hetero- oder homosexuell, entweder autonom oder verbunden sein zu können. Auf diese Weise können beweglichere geschlechtliche und sexuelle Identitäten entstehen, die um ihre unweigerliche Begrenztheit wissen, und die sich der destruktiven Dynamik von Spaltung, Dissoziation und Projektion, von Über- und Unterordnung entziehen, weil sie keine verächtlich gemachten Anderen benötigen, um sich selbst zu stabilisieren. Entscheidend dabei ist, dass Männer, Frauen, intersexuelle und transidente Menschen, mit ihren unterschiedlichen Begehrensformen, Erfahrungen machen können, die ihnen, wie oben schon bemerkt, die Balance von Autonomie und Bindung ermöglichen – sowohl im inneren Erleben als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen (ebd., S. 214).

9.4

Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

Diese zwischenmenschlichen Beziehungen sind nun aus gruppenanalytischer Perspektive überwiegend gruppal verfasst. Die Gruppenanalyse als interdisziplinärer Ansatz zum Verstehen und Gestalten von Gruppenprozessen hat mit dem Begriff der Gruppenmatrix ein Instrumentarium zur Verfügung, das die psychoanalytischen und queertheoretischen Erkenntnisse zur Heteronormativität zu integrieren erlaubt und zugleich von diesen Erkenntnissen im Sinne einer ebenso theoretischen wie praktischen Verfeinerung profitieren kann. 9.4.1 Grundlagenmatrix, Diskurs und Habitus

Geschlechter und Sexualitäten sind, mehr oder minder bewusst, als Grundton in jeder Gruppe präsent. Gruppenanalytisch gesprochen treten die Teilnehmer*innen einer Gruppe (auch) mit ihren geschlechtlichen und sexuellen Vorerfahrungen zusammen und entfalten ein Netzwerk bewusster und unbewusster Interaktionen, die sogenannte Gruppenmatrix (Foulkes 386

9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

1974, S. 33). Die Gruppenmatrix ist dabei nicht allein Resultat der konkreten Interaktionen, sondern abhängig von gesellschaftlichen ebenso wie von biografischen und psychodynamischen Faktoren. Die gesellschaftlichen Faktoren zeigen sich als Verortung in der »Grundlagenmatrix« (Foulkes). Diese umfasst die gesellschaftlichen Verhältnisse, also interkulturelle Verhältnisse, Verhältnisse sozialer Ungleichheit und eben auch geschlechtliche und sexuelle Verhältnisse, in denen die Teilnehmer*innen einer Gruppe auf unterschiedliche Weise sozialisiert wurden (Brandes 1999, S. 10) – die eingangs erwähnte heterosexuelle Matrix nach Butler (2001) lässt sich demnach bestens in diesem Konzept der Grundlagenmatrix integrieren. Die dynamische Matrix einer Gruppe ist demgegenüber zwar mit der Grundlagenmatrix verwoben, bezeichnet aber die konkreten Begegnungen und Veränderungen der Teilnehmer*innen und der Gruppe im gemeinsamen Prozess, in den freilich auch die biografischen und psychodynamischen Besonderheiten eingehen (Potthoff 2008, S. 97). Im Hinblick auf die Grundlagenmatrix ist entscheidend, wie die affektiv besetzten Themen des Geschlechtes und der Sexualität im Kontext der hegemonialen diskursiven Praxis überhaupt versprachlicht werden können oder ob sie eher verworfen werden müssen. Einerseits sind die gesellschaftlich verfügbaren Sprachfiguren zu Männlichkeit, Weiblichkeit und sexueller Orientierung eine Grundlage zur Verständigung in der geteilten Welt, in der bestimmte Formen von Geschlecht und Sexualität Anerkennung finden. Andererseits kommen sie als Sprachschablonen daher, die unbewältigte Affekte ins gesellschaftliche Unbewusste verweisen, beispielsweise in Form der Übertonung »männlicher« Autonomie bei rückseitiger Abwehr von Bindungswünschen, oder der Hierarchisierung zwischen gesellschaftlichen Gruppen, etwa durch die Pathologisierung von Homosexualität. Allerdings ist es nicht allein die Dynamik von Sprache und Verwerfung, die in der Grundlagenmatrix wirken, sondern darüber hinaus auch die sinnliche und symbolische Körperpraxis. Gesellschaftliche Verhältnisse schlagen sich über das »doing culture«, »doing class« und eben »doing gender« und »doing sexuality« performativ in der Körperpraxis der Menschen nieder (vgl. Flaake 2006, S. 105). Mit Bourdieu gesprochen werden auf diese Weise die »feinen Unterschiede«, also die unterschiedliche Positionierung in den sexuellen Verhältnissen und Geschlechterverhältnissen als Habitus einsozialisiert (Bourdieu 1987). Entlang der gesellschaftlichen Unterschiede zeigt sich der Habitus, wie bereits bemerkt, in ästhetischen Vorlieben, in Mimik und Gestik, im Lachen und Weinen, in Körperprä387

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

senz oder auch in Sprachtakt und Sprachmelodie. Er bringt alltäglich »regelhafte Improvisationen« hervor, er ist »einverleibte Geschichte« und Träger des »geschichtlich entstandenen Unbewussten« (Bourdieu zit. nach Zander 2012, S. 151/154). Dabei ist der Habitus weniger dynamisch verdrängt, sondern eher prozedural unbewusst und symbolisch dargestellt (vgl. ebd., S. 155), und er sorgt für das Gefühl scheinbar selbstverständlicher Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen (Brandes 2005, S. 162). Andererseits verwenden die einzelnen Menschen den Habitus meist unbewusst zur Positionierung in sozialen Kontexten, und insbesondere in Gruppen, indem sie Hierarchiebildungen (auch) entlang der Kategorien von Geschlecht und Sexualität inszenieren (ebd.). Hier stellen sich gruppenanalytisch bedeutsame Fragen, etwa »Wer okkupiert wie selbstverständlich eine starke Sprechposition in der Gruppe?« oder »Wer ist wieder einmal zum Schweigen verdammt oder wird zum Schweigen gebracht?« Spätestens an dieser Stelle wird die eingangs erwähnte Dominanzkultur wieder bedeutsam, die Selbst- und Fremdbilder in Kategorien von Überund Unterordnung fasst. Diese Kategorien verlaufen entlang der Konstruktion und Bewertung von sozialer und kultureller Herkunft, Generation, Behinderung, und eben Geschlecht und sexueller Orientierung, sie erzeugen ein Verhältnis von Bemächtigung und Entmachtung verschiedener Bevölkerungsgruppen (vgl. Reinert/Jantz 2001). Sozialpsychologisch betrachtet führt die dominanzkulturelle Logik zu »Pseudo-Wir-Bildungen« (Mentzos), zur Homogenisierung der je eigenen Bezugsgruppe über deren innere Widersprüche und Konflikte hinweg. Die Homogenität der je eigenen Bezugsgruppe kann dabei nur als imaginäres Konstrukt behauptet werden, weil alle Affekte, die aufgrund ungelöster Konflikte in dieser Gruppe unbewältigt bleiben, auf eine als anders oder fremd konstruierte Gruppe projiziert und dort destruktiv bearbeitet werden (Mentzos 2002, S. 130). Auf diese Weise entstehen beispielsweise heteronormative PseudoWir-Bildungen, übergeordnete männliche und untergeordnete weibliche Pseudo-Wir-Bildungen, die ihre ungelösten Dilemmata der Aufspaltung von Autonomie und Bindung projektiv an der gegengeschlechtlichen Gruppe bearbeiten, und die sich zudem als übergeordnete heteronormative Pseudo-Wir-Bildung in der Abgrenzung zur Homosexualität vereinen und stabilisieren (Naumann 2018, S. 213).14 14 Im Hinblick auf die Ermächtigung und Entmachtung, je nach habitueller Zugehörigkeit zu geschlechtlichen und sexuellen Gruppen, kann mit Louise Derman-Sparks hier von

388

9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

Die Vorerfahrungen von Gruppenteilnehmer*innen in der Grundlagenmatrix, also ihre diskursive Position, ihr habituelles Agieren und ihre Position in Pseudo-Wir-Bildungen, können sich selbstverständlich auch in der dynamischen Matrix mehr oder minder destruktiv zeigen. Dabei sind die gemeinsamen Interaktionen in der Gruppe nicht nur von gesellschaftlicher Unbewusstheit durchsetzt, sondern auch vom Unbewussten der Einzelnen, das aus deren biografisch besonderen Gruppenerfahrungen samt unbewältigt gebliebener Konflikte resultiert. Auf diese Weise entsteht neben der bewussten Gruppenkommunikation ein gruppales Unbewusstes und die Abwehr all jener affektiven Themen, die die Einzelnen in der Gruppe oder die Gruppe als Ganzes bedrohen. Dieses Zusammenwirken von gesellschaftlichem, individuellem und gruppalem Unbewussten ist sicherlich Grundlage jeder Gruppe, doch wenn es unzugänglich bleibt, droht sich die gesellschaftliche, heteronormative und biografische Destruktivität, nun im Namen der Gruppe, ein weiteres Mal zu reproduzieren. Notfalls muss das Überleben (in) der Gruppe dann durch den Ausschluss von Mitgliedern, die als untragbar gelten, oder durch die Abwehr affektiver Themen, die als zu ängstigend erscheinen, gesichert werden – der Preis ist freilich eine verhärmte und ausgedünnte Erfahrungsfähigkeit im inneren, gruppalen und gesellschaftlichen Raum (Naumann 2014, S. 57f.). 9.4.2 Emanzipatorische Potenziale in der dynamischen Matrix

Glücklicherweise sind in jeder Gruppe auch potenzielle Entwicklungsräume angelegt, gerade weil die Gruppe auf sprachliche und habituelle Verständigung in der gemeinsam geteilten Welt zurückgreifen kann, und gerade weil unbewusste Konflikte sich in der Gruppe immer wieder in Szene setzen müssen. Erstens ist schon die Heteronormativität mit gegen»internalisierter Überlegenheit« und »internalisierter Unterdrückung« innerhalb dominanzkultureller Verhältnisse gesprochen werden (Derman-Sparks 2001, S. 10). Bei der internalisierten Unterdrückung kommt es zu wiederkehrenden Diskriminierungserfahrungen, die in das Selbstbild sickern und gegebenenfalls durch eine Überbetonung des aufgezwungenen Andersseins kompensiert werden. Bei der internalisierten Überlegenheit hingegen kann kein angemessenes Selbstbild entstehen und der Kontakt zu all jenen Wünschen geht verloren, die auf eine untergeordnete Fremdgruppe projiziert und dort in verstellter Form entwertet und bekämpft werden müssen (vgl. Rommelspacher 1998, S. 172f.).

389

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

hegemonialen Tendenzen konfrontiert, und zweitens werden die heteronormativen Erfahrungen immer biografisch gebrochen und psychodynamisch vielfältig umgearbeitet – mit offenem Ausgang. Die damit in der dynamischen Matrix notwendig verankerten Potenziale möchte ich nun anhand der sprachlichen und sinnlich-symbolischen Kommunikation verdeutlichen. Zunächst zur Widersprüchlichkeit der Sprache. Die gesellschaftlich verfügten Sprachfiguren und die sprachsymbolischen Interaktionsformen der konkreten Subjekte in Gruppen sind zwei Seiten desselben, nämlich der ebenso gesellschaftlichen wie biografisch besonderen und affektiv besetzten Sprachpraxis des Menschen. Diese Praxis lässt sich aus den folgenden Gründen niemals vollständig gesellschaftlich hegemonialen Zwecken unterwerfen: ➣ All jene affektiven Themen und Konflikte, die in der einsozialisierten Sprachpraxis verworfen werden mussten, entwickeln im Unbewussten eine Eigenlogik, die sich als Kommunikationsblockade oder irritierendes Verhalten zeigt. Gerade weil sich solche Störungen zeigen müssen, können sie wahrgenommen und bearbeitet werden – dies gilt besonders für die Themen Geschlecht und Sexualität. ➣ Die in den sprachsymbolischen Interaktionsformen vermittelten denotativen Bedeutungen sind von mehr oder minder ausgeprägten konnotativen Spielräumen für Assoziationen, Fantasie und Humor, von Dialekten und privatsprachlichen Abweichungen begleitet (Brandes 2005, S. 163). ➣ Nicht zuletzt existieren in einer pluralisierten Gesellschaft schon auf der denotativen Ebene vielfältige widersprüchliche Diskurse. Die Wahrnehmung dieser Widersprüche, etwa zwischen der hegemonialen Heteronormativität und der gleichzeitig zu hörenden Forderung nach Vielfalt, eröffnet die Chance, die Wirkmacht sprachlich gesetzter Normen zu hinterfragen und sogar darunter verborgene Bedürfnisse wiederzuentdecken (Naumann 2000, S. 85f.). Die Gruppe ist nun aufgrund ihrer sinnlichen Nähe und kommunikativen Potenziale ein besonders geeigneter Ort dafür, das Verhältnis von Sprache und Unbewusstem, die Bedeutung der Fantasie sowie die gesellschaftlichen Widersprüche erlebbar zu machen. Ähnliches gilt für die sinnlich-symbolische Praxis. Auch der Habitus und die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind zwei Seiten desselben, nämlich des gesellschaftlich und über 390

9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

Gruppenbeziehungen konkret einsozialisierten symbolisch Darstellbaren. Besonders in diesen körpernahen Kommunikationsformen ist ein Zugang zu erweiterten oder gar emanzipatorischen Erfahrungen angelegt: ➣ Der Habitus als gesellschaftliche Seite und die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen als subjektive Seite des symbolisch Darstellbaren verklammern die individuelle Affektivität des Menschen mit sozialer Bedeutung und bilden die »Tiefenschicht der Persönlichkeit« (Brandes 2005, S. 157). Aufgrund der im Vergleich zur Sprache größeren Nähe zum Unbewussten eröffnet das symbolisch Darstellbare auch den Weg zu gesellschaftlich und biografisch liegengebliebenen, bislang nur sinnlich-symbolisch repräsentierten Wünschen und Ängsten, beispielsweise im Hinblick auf bislang verworfenes sexuelles Begehren. ➣ Gerade weil die symbolische Körperpraxis noch nicht sprachlich eingehegt ist, transportiert sie habituelle Abwandlungen und eine reiche Vieldeutigkeit, deren Wahrnehmung zur Grundlage neuer und affektiv bedeutsamer Erfahrungen avancieren kann (ebd., S. 163), etwa zur Integration der Sehnsucht nach »männlicher« Bindung und Wünschen »weiblicher« Autonomie. In der Gruppe spielt die sinnlich-symbolische Kommunikation eine wesentliche Rolle, weil die szenisch kommunizierten Bedeutungen die Grundlage der sprachlichen Kommunikation bilden (ebd., S. 161). Daraus folgt, dass erst, wenn sinnlich-symbolische Bewegung in die Gruppe kommt, wenn sich »die Gruppenszene und die Position des Einzelnen innerhalb des szenischen Arrangements« verändern, womöglich auch neue »Einsichten« versprachlicht werden können (ebd., S. 165). Insofern ist die dynamische Matrix wesentlich in den sinnlich-symbolischen Kommunikationen der Gruppe verankert (ebd., S. 161), verbunden mit der Chance, selbst den eigenen Habitus zu reflektieren und transgressive Möglichkeiten zu erproben. Insgesamt sind in der Gruppe aufgrund der vielfältigen gemeinsamen, ebenso verbalen wie nonverbalen Kommunikationen »fruchtbare Irritationen« (Lorenzer) angelegt, die das Unbewusste sowie die Wahrnehmungsund Kommunikationsfähigkeit der Einzelnen und der Gruppe als Ganzes in Bewegung bringen. Dabei werden die gesellschaftlich durchwirkten und verinnerlichten Gruppenerfahrungen der Einzelnen mit all ihren Möglichkeiten und Beschädigungen wiederbelebt, im Hier und Jetzt der Gruppe 391

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

aber auf eine Weise modifiziert und umgearbeitet, die eine förderliche Wiederverinnerlichung eröffnet (Potthoff 2012, S. 404). Dazu aber ist ein entsprechendes Klima, eine genügend gute Gruppenkohäsion notwendig. Von Foulkes stammt der Satz, dass die Gruppe die Norm konstituiert, von der die Einzelnen mehr oder minder abweichen (Foulkes 1974, S.  39). Wenn nun diese Norm »affektfreundlich« ausfällt (Naumann), wenn die individuellen Abweichungen ein breites Spektrum umfassen dürfen, dann eröffnet die Gruppe Erfahrungen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ebenso wie die Integration heteronormativ erzeugten Schmerzes, und avanciert zu einem wesentlichen Ort für die Verwirklichung von Individuation und Verbundenheit (vgl. Schubert 2010, S. 26). 9.4.3 Geschlechter, Sexualitäten und gruppenanalytische Haltung

Um die soeben formulierten emanzipatorischen Ziele zu realisieren, muss die Affektdynamik der Teilnehmer*innen und der Gruppe berücksichtigt werden. Denn wenn Affekte wie Angst und Wut, Neid, Schuld- und Schamgefühle, die besonders bei den Themen Geschlecht und Sexualität aufkeimen können, bedrohlich und unbewältigt bleiben, dann führen projektive Identifizierungen schnell zu Spaltungsprozessen in und zwischen den Teilnehmer*innen, dann wird Differenz zur Bedrohung und Entwicklung blockiert. Teilnehmer*innen in gruppenanalytischen Gruppen benötigen triangulierende Erfahrungen, die ihnen eine genügend angstfreie Begegnung mit Neuem und Anderem sowie dem geschlechtlich und sexuell Verworfenen ermöglichen, etwa mit »männlichen« Bindungsund »weiblichen« Autonomiewünschen oder mit bislang verworfenem gleich- oder gegengeschlechtlichem Begehren. In diesem Sinn brauchen die Teilnehmer*innen vor allem Spielräume, in denen sie ihre geschlechtlichen und sexuell aufgeladenen Dramen, Fragen, Fantasien und Wünsche inszenieren können, und in denen sie durch die Gruppe neue Erfahrungen machen und diese dann verinnerlichen können. Auf diese Weise kann die Versöhnung mit der biografisch unabdingbaren Begrenztheit geschlechtlicher und sexueller Erfahrungen ebenso wie die Exploration transgressiver Wünsche gelingen. Für Leiter*innen gruppenanalytischer Gruppen folgt daraus  – auch im Hinblick auf Geschlechter und Sexualitäten – die Gruppengrenze zu schützen, die unbewältigten Affekte zu containen und im szenischen Ver392

9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

stehen der Bedeutung der Affektdynamik nachzuspüren, um angemessene Antworten in der Gruppe geben zu können (Naumann 2014, S. 111ff.). In diesem Sinne haben Leiter*innen die Aufgabe, eine affektfreundliche Gruppenkultur zu ermöglichen, Kommunikation in der Gruppe zu fördern, besonders wenn sie ins Stocken gerät, und nicht zuletzt eine mentalisierende Haltung zur Verfügung zu stellen, die jedweden Äußerungen in der Gruppe einen subjektiven und gruppalen Sinn zuschreibt, um letztlich Differenz, Schmerz, Vielfalt und Verbundenheit erlebbar zu machen. Ich selbst habe in vielen Gruppen zu spüren bekommen, wie schambesetzt und schmerzhaft Themen des Geschlechts und der Sexualität erlebt werden, und wie befreiend die Kommunikation im Sehen und Gesehenwerden, im benignen Spiegeln von projektiven Identifizierungen, Differenz und Gleichheit wirken kann. Sowohl für die Gruppe als auch für die Einzelnen bedeutet es eine Erweiterung des Fühlens, Denkens und Handelns, wenn ein Comingout in der Gruppe gelingt, und wenn sich die psychosoziale Abwehr lösen darf, mit der starre geschlechtliche Identifizierungen meist verbunden sind. Zur Entfaltung solch förderlicher Prozesse ist eine genügend gute Haltung notwendig, die immer auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion des*der Gruppenanalytiker*in einschließt. Der*die Gruppenanalytiker*in kommt über die Themen der Gruppe zu Geschlecht und Sexualität unweigerlich auch in Kontakt mit eigenen lebensgeschichtlichen Verwerfungen und liegengebliebenen Sehnsüchten, die bis ins alltägliche Hier und Jetzt und die Aufgabe als Gruppenleiter*in mehr oder minder integriert hineinwirken. Umso bedeutsamer sind Selbsterfahrungsräume (nicht nur) in der Ausbildung von Gruppenanalytiker*innen, denn diese eröffnen eine vielleicht auch nachholende innere Triangulierung, eine Versöhnung mit der unweigerlichen geschlechtlichen und sexuellen Begrenztheit sowie ein Kennenlernen der mitunter abgespaltenen homo- oder auch heterosexuellen Tendenzen (Watson 2005, S. 77).15 Erst mit der Selbstreflexionsfähigkeit ist die Gefahr gebannt, die Teilnehmer*innen als Selbstobjekte zu nutzen, die mittels introjektiver oder projektiver Identifizierungen der Bestätigung einer etwaigen verunsicherten Identität von Leiter*innen dienen, indem 15 Wahrscheinlich wäre hier die Formulierung angemessener, dass die affektiv hoch aufgeladenen Themen der Geschlechter und Sexualitäten in der gruppenanalytischen Ausbildung als existenzielle Themen stärker berücksichtigt werden sollten. Meiner Einschätzung nach findet dies zu wenig statt – mit erheblichen Ausbaumöglichkeiten.

393

9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität

bestimmte Teilnehmer*innen entweder als ganz ähnlich oder ganz anders verfremdet werden. Und erst dann können die realen Gruppenmitglieder in die Wahrnehmung rücken, mit ihren eigenen Konflikten, eigenen Wünschen und eigenen Entwicklungspotenzialen. Auf diese Weise wächst ein vertieftes Verstehen für die geschlechtlichen und sexuellen Inszenierungen der Teilnehmer*innen, weil diese nicht mit den eigenen Themen der Leiter*innen verwechselt werden. Es fällt dann leichter, die Gruppenmitglieder zu mentalisieren, sie können als Wesen gedacht und gefühlt werden, die eigene Bedürfnisse und Interessen haben, und die ihren eigenen Weg hin zu ihren geschlechtlichen und sexuellen Identitäten finden  – einen Weg, der auch anders, vielleicht sogar glücklicher als jener der Leiter*innen verlaufen darf. Insgesamt geht es, mit Ilka Quindeau gesprochen, um die Schaffung eines »generativen Raums«, in dem sowohl der wohlwollende Umgang mit Differenz als auch die Symbolisierung des Fremden im Eigenen gelingt (Quindeau 2008, S. 204f.). Vielleicht ist die Gruppe ein besonders geeigneter Ort zur Öffnung eines solchen Raums, »an dem bisexuelle, gleich- und andersgeschlechtliche Repräsentanzen sowie verschiedenste Lust- und Befriedigungsmodalitäten und -phantasmen Platz haben und nebeneinander bestehen bleiben können, ohne dass Fremdes und Anderes im Sinne einer eindeutigen dichotomen Geschlechtsidentität sowie sexuellen Identität ausgegrenzt und verworfen wird. Der generative Raum steht für die Anerkennung des Fremden im Eigenen. Das macht es möglich, mit den fremden Anteilen sowohl in der eigenen Person als auch bei anderen Personen gelassener umzugehen und sie nicht zu entwerten oder zu bekämpfen« (Quindeau 2008, S. 205).

Vereindeutigungen, gerade auch im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität, führen immer zu Spaltungen und schränken das Denken und Fühlen ein. Das Zulassen von Fragen, Rätselhaftem, Irritationen und potenzieller Vielfalt, ebenso wie das gemeinsame Bewältigen von bedrohlichen Affekten wie Angst, Scham und Wut in der Gruppe, ermöglichen hingegen Kreativität, neue Individuation und Verbundenheit sowie differenziertere Symbolisierungen (vgl. Rendtorff 2019, S. 51). Die Gruppenanalyse als interdisziplinäre Theorie ebenso wie als praktisches Feld multipler Dynamiken bietet dafür differenzierte Möglichkeiten – Queering Group Analysis kann dazu beitragen, diese weiter zu verwirklichen. 394

9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse

In den Unterschied der vor uns liegt Tret ich ein Weil eine Gruppe möcht ich sein Eine Gruppe, ja (Ja, Panik)16 Literatur Benjamin, Jessica (1990): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main, Stroemfeld. Benjamin, Jessica (Hrsg.) (1995): Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter. Frankfurt am Main, Fischer. Böllinger, Lorenz (2015): Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und neuen Beziehungsformen. Psyche 7/2015, 603–631. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Brandes, Holger (1999): Individuum und Gemeinschaft in der Sozialen Gruppenarbeit: der gruppenanalytische Ansatz. In: Effinger, Herbert (Hrsg.): Soziale Arbeit und Gemeinschaft. Freiburg, Lambertus, S. 113–140. Brandes, Holger (2005): Gruppenmatrix und Theorie des Unbewussten. Über Bewegungen und Perspektiven in der gruppenanalytischen Theorie und Praxis. gruppenanalyse 2/2005, 151–169. Brunner, Markus; Burgermeister, Nicole; Lohl, Jan; Schwietring, Marc & Winter, Sebastian (2012): Psychoanalytische Sozialpsychologie im deutschsprachigen Raum. Geschichte, Themen, Perspektiven. Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie 3/4/2012, 15–78. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Butler, Judith (2011): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main, Suhrkamp. De Lauretis, Teresa (1991): Queer Theory: Lesbian and Gay Sexualities. Differences 3(2)/1991, 3–18. De Lauretis, Teresa (1996): Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Derman-Sparks, Louise (2001): Anti-Bias-Arbeit mit jungen Kindern in den USA. https://situationsansatz.de/publikationen/anti-bias-arbeit-mit-jungen-kindern -in-den-usa/ (28.10.2021). Eagleton, Terry (1994): Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie. Stuttgart, Weimar, Metzler. Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt am Main, Campus. 16 Zeilen aus dem Song Die Gruppe vom 2021 veröffentlichten gleichnamigen Album.

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9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität Flaake, Karin (2006): Geschlechterverhältnisse – Adoleszenz – Schule. Männlichkeits- und Weiblichkeitsinszenierungen als Rahmenbedingung für pädagogische Praxis. gruppenanalyse 2/2006, 103–117. Foulkes, S. H. (1974): Gruppenanalytische Psychotherapie. München, Kindler. Fraser, Nancy (2017): Vom progressiven Neoliberalismus zu Trump. https://adamag.de/ nancy-fraser-progressiver-neoliberalismus-trump (05.10.2020). Freud, Sigmund (1940a): Das Ich und das Es (1923). Gesammelte Werke chronologisch geordnet, dreizehnter Band. Frankfurt am Main, S. Fischer, S. 235–289. Freud, Sigmund (1940b): Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924). Gesammelte Werke chronologisch geordnet, dreizehnter Band. Frankfurt am Main, S. Fischer, S. 393–402. Freud, Sigmund (1948): »Selbstdarstellung« (1925). Gesammelte Werke chronologisch geordnet, vierzehnter Band. London, Imago Publishing, S. 31–95. Hagemann-White, Carol (1995): Was tun? Gewalt in der Sexualität verbieten? Gewalt sexualisieren? In: Düring Sonja & Hauch, Margret (Hrsg.): Heterosexuelle Verhältnisse. Stuttgart, Enke, S. 145–159. Heenen-Wolff, Susann (2015): Normativität in der Psychoanalyse. Psyche 7/2015, 585–602. Höcker, Charlotte; Hellweg, Nele & Decker, Oliver (2020): Antifeminismus – das Geschlecht im Autoritarismus? Die Messung von Antifeminismus und Sexismus in Deutschland auf der Einstellungsebene. In: Decker, Oliver & Brähler, Elmar (Hrsg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 249–282. Hutfless, Esther (2014): Psychoanalyse und Queer Theory. Ein Versuch der Annäherung. https://queeringpsychoanalysis.wordpress.com/2014/08/29/psychoanalyse-und -queer-theory-ein-versuch-der-annaherung/ (28.10.2021). Hutfless, Esther (2015): Vom Ankommen im Mainstream und dessen unangenehmen Antworten – zur aktuellen Gender-Debatte. https://queeringpsychoanalysis.wordpress. com/2015/09/23/vom-ankommen-im-mainstream-und-dessen-unangenehmen -antworten-zur-aktuellen-gender-debatte/ (28.10.2021). Hutfless, Esther; Müller Morocutti, Anke & Zach, Barbara (o. J.): About. https://queering psychoanalysis.wordpress.com/ (22.03.2018). Hutfless, Esther & Zach, Barbara (Hrsg.) (2017): Queering Psychoanalysis. Psychoanalyse und Queer Theory – Transdisziplinäre Verschränkungen. Wien, Verlag Zaglossus. Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory. Eine Einführung. Berlin, Querverlag. König, Julia (2012): Triebnatur in Question. Alfred Lorenzers historisch-materialistische Psychoanalyse meets Judith Butlers Queer Theory. In: Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietrig, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute. Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 119–143. Lorenzer, Alfred (1980): Die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen. Zur Interpretation der psychoanalytischen Erfahrung jenseits von Soziologismus und Biologismus. Ein Gespräch mit Bernard Görlich. In: Görlich, Bernard; Lorenzer, Alfred & Schmidt, Alfred (Hrsg.): Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur KulturismusKritik. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 297–349. Lorenzer, Alfred (1988a) Freud: Die Natürlichkeit des Menschen und die Sozialität der Natur. Psyche 5/1988, 426–438 Lorenzer, Alfred (1988b): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt am Main, Fischer.

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9.4 Geschlechter, Sexualitäten und Gruppenanalyse Mentzos, Stavros (2002): Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Mentzos, Stavros (2011): Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt am Main, Fischer. Mentzos, Stavros (2013): Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Metzger, Hans-Geert (2015): Conchita Wurst und die Illusionen in den Gendertheorien. https://www.psychoanalyse-aktuell.de/artikel-/detail?tx_news_pi1%5Baction %5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D= 149&cHash=7c0ebc893dff2b6295f08f7da1be1ca8 (28.10.2021). Naumann, Thilo Maria (2000): Das umkämpfte Subjekt. Subjektivität, Hegemonie und Emanzipation im Postfordismus. Tübingen, edition diskord. Naumann, Thilo Maria (2010): Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung. Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Naumann, Thilo Maria (2015): Kindliche Entwicklung, Familie und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix. In: Aigner, Josef Christian & Poscheschnik, Gerald (Hrsg.): Kinder brauchen Männer. Psychoanalytische, sozialpädagogische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 201–223. Naumann, Thilo Maria (2018): Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld. In: Naumann, Thilo Maria & Krause-Girth, Cornelia (Hrsg.): Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Erinnerungen an Stavros Mentzos. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 170–223. Nitsun, Morris (2006): The Group as an Object of Desire. Exploring Sexuality in Group Therapy. London, Routledge. Ott, Cornelia (1998): Die Spur der Lüste. Sexualität, Geschlecht und Macht. Opladen, Leske & Budrich. Pimminger, Irene (2012): Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Normative Klärung und soziologische Konkretisierung. Opladen, Barbara Budrich. Potthoff, Peter (2008): Mentalisierung und gruppenanalytische Behandlungstechnik. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.): Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 86–116. Potthoff, Peter (2012): Gruppenanalytische Praxis heute: relationale und intersubjektive Perspektiven. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 4/2012, 397–413. Quindeau, Ilka (2008): Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud. Stuttgart, Klett-Cotta. Quindeau, Ilka (2014): Sexualität. Gießen, Psychosozial-Verlag. Quindeau, Ilka (2015): Der Umgang mit dem homophoben Erbe (Kritische Glosse). Psyche 7/2015, 648–658. Reiche, Reimut (2004): Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche. Frankfurt am Main, New York, Campus. Reinert, Ilka  & Jantz, Olaf (2001): Inter, Multi oder Kulti? Inwiefern die geschlechtsbezogene Pädagogik die interkulturelle Perspektive benötigt. In: Rauw, Regina;

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9 Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität Jantz, Olaf; Reinert, Ilka & Ottemeier-Glücks, Franz Gerd (Hrsg.): Perspektiven geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen Gender, Politik und Bildungsarbeit. Opladen, Leske & Budrich, S. 89–110. Rendtorff, Barbara (2019): Psychoanalyse, Geschlecht und die Pädagogik. In: Ahrbeck, Bernd; Dörr, Margret & Gstach, Johannes (Hrsg.): Der Genderdiskurs in der Psychoanalytischen Pädagogik. Eine notwendige Kontroverse. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 42–55. Rohde-Dachser, Christa (1992): Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin, Springer. Rohde-Dachser, Christa (1994): Männliche und weibliche Homosexualität. Psyche 9/10/1994, 827–840. Rommelspacher, Birgit (1998): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin, Orlanda Frauenverlag. Schmidt, Gunter (2014): Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen. Gießen, Psychosozial-Verlag. Schubert, Inge (2010): Die Gruppe als Möglichkeitsraum – sexuelle Entwicklung in der Pubertät. gruppenanalyse 1/2010, 23–52. Sigusch, Volkmar (2014): Sexualität und Geschlecht in den letzten Jahrzehnten. In: Schweizer, Katinka; Brunner, Franziska; Cerwenka, Susanne; Nieder, Timo O.  & Briken, Peer (Hrsg.): Sexualität und Geschlecht. Psychosoziale, kultur- und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 27–40. Uhlendorf, Niels; Schreiber, Julia; King, Vera; Gerisch, Benigna; Rosa, Hartmut & Busch, Katarina (2016): »Immer so dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein«. Optimierung und Leiden. Psychoanalyse im Widerspruch 1/2016, 31–50. Wagner, Greta (2012): »Ja, was könnte ich noch ändern?« Subjektivierung weiblicher Adoleszenz – Annäherungen zwischen Psychoanalyse und Poststrukturalismus. In: Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietrig, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute. Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 95–117. Watson, Katherine (2005): Queer Theory. Group Analysis 1/2015, 67–81. Zander, Michael (2012): Im Schutze der Unbewusstheit. Ansätze zu einer psychologischen Fundierung des Habitusbegriffs im Werk Pierre Bourdieus. In: Brunner, Markus; Lohl, Jan; Pohl, Rolf; Schwietrig, Marc & Winter, Sebastian (Hrsg.): Politische Psychologie heute. Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 145–160.

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Epilog: Ohne Angst verschieden und ohne Angst verbunden

Der Wunsch, einen Zustand anzustreben, in dem die Menschen »ohne Angst verschieden« (Adorno) und ohne Angst verbunden sein können, ist für alle in diesem Buch behandelten Themen hoch bedeutsam (Adorno 1969; Naumann 2014). Individuation und Verbundenheit balancieren zu können, ist für gesellschaftliche, gruppale und intersubjektive Begegnungen eine existenzielle emanzipatorische Perspektive. Zu ihrer Verwirklichung habe ich eine Beziehungsästhetik vorgeschlagen, die Begegnungen mit genügend Halt und Angstfreiheit ermöglicht, um auch die schweren Affekte wie Ohnmacht, Scham, Angst und Wut wahrzunehmen, die aus der Verquickung von biografischen und gesellschaftlichen Erfahrungen stammen – und um zu entdecken, dass das Private politisch ist. Wenn wir erzählen können, was uns gemacht hat, wie wir geworden sind, als eigene Geschichte, in der Affekte und Konflikte integriert sind, dann können wir in der geteilten Welt tieferes Glück und weitere Möglichkeiten zum Fühlen, Denken und Handeln verwirklichen. Es geht um das Zusammenspiel von Versöhnung mit Geschichte und daraus erwachsender Widerständigkeit als Grundlage für aktives Gestalten dieser Welt: für pädagogische und gruppale Begegnungen, die Verbundenheit, Vielfalt, Partizipation und Kreativität erlauben; für politische Begegnungen der Anerkennung, Umverteilung und bedingungslosen Solidarität; und für sozialökologische Begegnungen, die zum Erhalt der menschlichen Lebensgrundlagen beitragen – »entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung« (Zelik 2020, S. 15). Wir haben nichts mehr zu verlieren, nur das Glück und das sagt Wir (Blumfeld)1 1 Zeile aus dem Song Eintragung ins Nichts vom 2001 veröffentlichten Album Testament der Angst.

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Epilog: Ohne Angst verschieden und ohne Angst verbunden

Literatur Adorno, Theodor W. (1969): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main, Suhrkamp. Naumann, Thilo Maria (2014): Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen, Psychosozial-Verlag. Zelik, Raul (2020): Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Frankfurt am Main, Suhrkamp.

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Textnachweise

Kapitel  1: Gekürzte und aktualisierte Fassung des Originaltextes: Die universelle Bipolarität des Menschen – destruktive Tendenzen und schöpferische Potenziale im psychosozialen Feld (2018). In: Naumann, Thilo Maria & Krause-Girth, Cornelia (Hrsg.): Psychoanalytisches Verstehen – von Liebe beseelt und von Wissen geleitet. Erinnerungen an Stavros Mentzos. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 170–223. Kapitel 2: Originaltext in Rekurs auf: Subjektivität in der Postmoderne. Theoretische und zeitdiagnostische Überlegungen der kritischen Theorie des Subjekts (2002). psychosozial 1/2002, 105–121 sowie Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus (2003). In: Demirovic, Alex (Hrsg.): Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven Kritischer Theorie. Stuttgart, Weimar, J. B. Metzler, S. 266–289. Kapitel 3: Originaltext Kapitel 4: Originaltext in Rekurs auf: Ökonomisierungsdruck? Eine andere Pädagogik ist möglich! (2015). In: Seifert-Karb, Inken (Hrsg.): Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck. Entwicklungspsychologische und familientherapeutische Perspektiven. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 133–142 sowie Ökonomisierung und die Hegemonie der Individualisierung – emanzipatorische Perspektiven psychoanalytischer Elementarpädagogik (2018). gruppenanalyse 02/2018, 130–156. Kapitel 5: Aktualisierte Fassung des Originaltextes: Kindliche Entwicklung und Pädagogik in der heterosexuellen Matrix (2017). In: Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Heilmann, Joachim & Weißert, Ilse (Hrsg.): Unheimlich und verlockend. Zum pädagogischen Umgang mit Sexualität von Kindern und Jugendlichen. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 17–50. Kapitel 6: Originaltext in Rekurs auf: Die Arbeit mit der Elterngruppe (2012). In: Hess, Simone (Hrsg.): Grundwissen Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen und Familienzentren. Berlin, Cornelsen, S. 142–156. Kapitel 7: Originaltext in Rekurs auf: Notizen zur Anwendung der Gruppenanalyse in der Hochschulbildung. Seminararbeit, Praxisreflexion und Selbsterfahrung in Studiengängen der Sozialen Arbeit (2014). In: Gerspach, Manfred; Eggert-Schmid Noerr, Annelinde; Naumann, Thilo Maria & Niederreiter, Lisa (Hrsg.): Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule. Theorie, Selbstreflexion, Praxis. Stuttgart, Kohlhammer, S. 53–73 sowie Grundzüge gruppenanalytischer Pädagogik (2016). gruppenanalyse 2/2016, 86–111. Kapitel 8: Originaltext Kapitel 9: Aktualisierte Fassung des Originaltextes: Gruppenanalyse, Geschlecht und Sexualität – Freud, Butler und Queer Theory im Spiegel gruppenanalytischer Reflexion (2020). Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 3/2020, 266–291.

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Psychosozial-Verlag Thilo Maria Naumann

Gruppenanalytische Pädagogik

Eine Einführung in Theorie und Praxis

2014 · 170 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2247-9

Wie können in pädagogischen Gruppen Entwicklungs- und Bildungspotenziale freigesetzt werden?

Fast immer finden pädagogische Prozesse in Gruppen statt. Damit die Entwicklungs- und Bildungspotenziale der Gruppe zur Entfaltung kommen können, muss das Fühlen, Denken und Handeln der Einzelnen im Netzwerk der Gruppe beachtet werden. Die Gruppenanalyse eröffnet dafür einen interdisziplinären Zugang, der die affektive und soziale Dimension der Gruppe integriert. Aus Erkenntnissen der psychoanalytischen Pädagogik sowie neueren Entwicklungen der psycho- und gruppenanalytischen Theoriebildung entwirft der Autor das Konzept einer gruppenanalytischen Pädagogik. Zunächst wird anhand der Themen Affektregulierung, Gruppenprozess und Gruppenleitung die theoretische Basis gelegt. Auf dieser Grundlage arbeitet der Autor die Anwendung der Gruppenanalyse in pädagogischen Settings heraus, etwa im Hinblick auf die Gestaltung einer affektfreundlichen Gruppenkultur oder auf das szenische Verstehen in der Gruppe. Zahlreiche Praxisbeispiele aus Supervision, Psychotherapie und Pädagogik veranschaulichen die Argumentation.

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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Eltern heute – Bedürfnisse und Konflikte

Psychoanalytisch-pädagogische Elternarbeit in der Kita

2011 · 164 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2142-7

Von der klassischen bis zur Regenbogenfamilie – ein psychoanalytisch-pädagogischer Blick auf heutige Eltern mit praktischen Konsequenzen für eine dialogische Elternarbeit.

Elternschaft ist ein intensives Beziehungsgeschehen, das gerade heutzutage mit vielfältigen Bedürfnissen und Konikten verknüpft ist. Die Eltern begegnen nicht nur dem realen Kind, sondern auch dem Kind, das sie selbst waren oder gerne gewesen wären. Zugleich müssen sie Familie, iebe und Arbeit miteinander vereinbaren. Elternarbeit in der Kita kann den Eltern einen bergangsraum für diese biografischen und alltäglichen Themen eröffnen. m Fokus steht dabei die gelingende Entwicklung der Kinder. Vor diesem Hintergrund geht es eingangs um die Bedeutung der Eltern und pädagogischen Bezugspersonen für die kindliche Entwicklung. m zweiten Teil werden wichtige Themen heutiger Elternschaft, psychosoziale Belastungen sowie verschiedene Familienformen untersucht. Schlie lich werden praktische Konseuenzen für die Elternarbeit erörtert. Zahlreiche Praxisbeispiele veranschaulichen die Argumentation.

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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Beziehung und Bildung in der kindlichen Entwicklung Psychoanalytische Pädagogik als kritische Elementarpädagogik

2010 · 194 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2041-3

Das Buch ermöglicht ein umfassendes Verständnis für die lebendige und anspruchsvolle Arbeit in Kindertageseinrichtungen.

Was sind die Voraussetzungen, damit Entwicklungs- und Bildungsprozesse bei Kindern gelingen? Welche Beziehungsangebote und institutionellen Bedingungen sollten Kindertageseinrichtungen dafür zur Verfügung stellen? Der Beantwortung dieser Fragen widmet sich Thilo M. Naumann im vorliegenden Buch. Zunächst wird eine Vorstellung kindlicher Entwicklung entfaltet, die besonders die Bedeutung von Affektregulierung und Verinnerlichung der Interaktionserfahrungen von Kindern bis zu sechs Jahren berücksichtigt. Weil kindliche Entwicklung zugleich innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Kontexte stattfindet, folgt eine kritische Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, um dann die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern sowie deren psychosoziale Folgen zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund schließlich werden auf der Grundlage Psychoanalytischer Pädagogik weiterführende elementarpädagogische Positionen dargelegt, etwa zu den Themen Selbstbildung und Verständigung, Prävention psychosozialer Störungen, pädagogisches Setting und pädagogische Haltung, Elternarbeit, Situationsansatz und dialogische Qualitätsentwicklung.

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