Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie [1 ed.] 9783666400063, 9783525400067


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Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie [1 ed.]
 9783666400063, 9783525400067

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Hermann Staats

Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie

Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Hermann Staats

Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Paul Klee, Individualized altimetry of stripes/akg-images/ De Agostini Picture Lib. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-641X ISBN 978-3-666-40006-3

Inhalt

Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorbemerkungen und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1 Gruppen im Alltag: Ein wenig beachteter Aspekt unseres Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Gruppen als Grundlage menschlichen Lebens . . . . . . . . . 16 1.2 Wir-Gefühl als eine Form des In-Beziehung-Seins: dyadische, triadische und Gruppenbeziehungen . . . . . . . 20 1.3 In- und Outgroups . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.4 Identität als ein Ergebnis von Gruppenzugehörigkeiten .27 1.5 Digitale Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.6 Wenn Gruppen schaden: Rollenfixierung, Sünden­ bocksuche, Mobbing, Bullying . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2 Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse: Modelle und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1 Was hilft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2 Modelle: Gruppenleitung, Teilnehmende an Gruppen und »die Gruppe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3 Das Konzept der Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.4 Klein- und Großgruppenprozesse: Teams, Stationen, Kliniken und Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

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3 Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1 Was ansprechen? Beschreiben und konfrontieren . . . . . . 48 3.2 Wie ansprechen? Sich wundern, antworten und deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.3 Normen und Regeln in Gruppen aushandeln . . . . . . . . . . 53 3.4 Mentalisieren in Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.5 Übertragungen mentalisieren in Gruppen . . . . . . . . . . . . 59 3.6 Wann ansprechen? Den Verlauf einer Gruppe berück­ sichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.7 Vorbereitung und Beginn einer Gruppenpsycho­therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4 Über Gruppen nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.1 Geschichte der Gruppenpsychotherapie und aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.2 Gruppen leiten lernen – Ausbildungsmodelle . . . . . . . . . 70 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

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Inhalt

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll D ­ iskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modell­ vorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Be­­ handlung von Patienten und Patientinnen hervorgebracht. In den ­letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die ­klassische Kon­ zepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag f­ ruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in ­verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen. Themenschwerpunkte sind unter anderem: Ȥ Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung. Ȥ Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schema­­­ therapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, inter­ 7

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net­basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen. Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen. Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-­ Kleinkind-Psychotherapie. Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Von Geburt an ist das Kind auf ein beziehungsvolles Umfeld an­­ gewiesen, es kann gleichsam nur in der Gruppe seiner wichtigsten Bezugspersonen überleben. Die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeit »für unser Leben, Erleben und Verhalten« kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gruppen geben Sicherheit, ermöglichen Anerkennung und Eingebundenheit, Gruppen haben evolutions­ biologisch eine Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Kultur. Sie erzeugen ein Wir-Gefühl und können sogar tiefgreifende Einflüsse auf die Identitätsentwicklung des Individuums ausüben. Die Regulierung narzisstischer Bedürfnisse in und zwischen Gruppen ist »mit der Bildung von Zugehörigkeiten und Ausschlüssen verbunden«. Auch digitale Gruppen haben in der Form sozialer Netzwerke enormen Einfluss auf das Individuum und erzeugen Resonanz als eine Art soziales Kapital für den Einzelnen. Gruppen können aber auch Konformitätsdruck ausüben und die »individuellen Fähigkeiten des Denkens und Urteilens« als Kompetenzen des Ichs schwächen. Demgegenüber bieten sich besondere Möglichkeiten, durch das Zusammenarbeiten in Gruppen den »tatsächlichen Sachverhalten« im Sinne einer »Schwarmintelligenz« immer näher zu kommen. Gruppenprozesse können also nur durch ein dialektisches Verständnis »günstiger und ungünstiger Folgen« realistisch erfasst werden. In der Psychoanalytischen und psychodynamisch o ­ rientierten Psychotherapie gibt es mehrere Modelle und Konzepte für die Be­­ handlung in Gruppen. Gruppenanalyse umfasst dabei nach Hermann Staats unterschiedliche Vorgehensweisen, die für die Arbeit mit 9

Gruppen fruchtbar sind. Dabei werden »psychoanalytische, gruppendynamische und sozialpsychologische Konzepte« benutzt, die mit den Erkenntnissen der Psychotherapieforschung sowie der Lern- und Entwicklungspsychologie verbunden werden und so eine methodische Grundlage für unterschiedliche Einsatzgebiete in Psychotherapie, Pädagogik oder Organisationsentwicklung bilden. Die Veränderungen von interpersonellen Bezie­hungen sowie Veränderungen der Beziehung zu sich selbst bleiben dabei zentrale Anliegen einer Arbeit mit Patientinnen und Patienten. Psychische Störungen und persönlicher Leidensdruck werden in ihrer engen Verbindung mit Beziehungsstörungen zum Ausgangspunkt der Interventionen. Diese Beziehungsstörungen stellen sich in der Gruppe dar und können dort bearbeitet werden. Das Erleben von Kohäsion in Gruppentherapien umfasst einen Beziehungsaufbau der Teilnehmenden zueinander und zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin, wobei Anteilnahme und Teilhabe am Leben in einer Gemeinschaft bedeutungsvoll sind. Die Rolle des Gruppenleiters oder der Gruppenleiterin kann unterschiedliche Formen annehmen: Bei der »Therapie der Gruppe« steht der Gruppenleiter der Gruppe »gegenüber«. Gruppenprozesse können gut beobachtet werden, dyadische Beziehungsmuster zwischen Gruppe und Therapeuten werden gefördert. Bei der »Therapie durch die Gruppe« verteilen sich die Aufgaben zwischen Mitgliedern und Therapeuten, wobei stereotype Rollenübernahmen und ihre biografischen Wurzeln zum Thema werden können. Die »Therapie in der Gruppe« konzentriert sich auf die Arbeit mit einem Patienten oder einer Patientin in der Gruppe »wie in einer Einzeltherapie« in Anwesenheit anderer. Die individuellen Übertragungen einzelner Gruppenmitglieder auf den Leiter und auf andere Gruppenmitglieder können so bearbeitet werden. Das Konzept der therapeutischen Matrix sieht das Individuum in seinen Verbindungen mit anderen. Jede Störung des Einzelnen ist auch eine Störung im Netzwerk, »das Soziale konstituiert erst das

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Vorwort zum Band

Persönliche«. So wird das Individuum innerhalb eines Netzwerks beständig »neu konstruiert und dekonstruiert«. Viele Psychotherapeutinnen und -therapeuten erleben ebenfalls »die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Intervisionsgruppen als zentralen Teil ihrer beruflichen Arbeit und als eine wichtige Entlastungs-, Lern- und Korrekturmöglichkeit«, auch für Einzeltherapeutinnen und -therapeuten ist es bedeutsam, die unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten für das Erleben ihrer Patientinnen und Patienten zu verstehen. Stationäre Psychotherapien sind dabei immer mehr oder minder auch Gruppentherapien, weil die Betroffenen sich untereinander beeinflussen. Mit Gruppen zu arbeiten kann man lernen. »Zur Technik des Arbeitens in und mit Gruppen gehören zunächst die auch in der Einzeltherapie geforderten Qualitäten«. Darüber hinaus gehende Kriterien werden im Buch anschaulich dargestellt. Was wird wann und wie vom Gruppenleiter angesprochen? Antworten und Deuten, das Aushandeln von Normen und Regeln, das Mentalisieren in Gruppen und die Bearbeitung von Übertragungen werden ausführlich beleuchtet. Das letzte Kapitel gibt einen kurzen Einblick in die Geschichte der Gruppentherapie und stellt Ausbildungsmodelle zum Erwerb von theoretischem Wissen und Kompetenzen für die Arbeit als Gruppentherapeutin und -therapeut vor. Ein wichtiger Überblick über ein immer noch zu wenig beachtetes Feld der Psychotherapie, das in der neuen Weiterbildung eine zuneh­ mende Rolle spielen wird, und damit eigentlich unverzichtbar für alle, die im therapeutischen Kontext tätig sind. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

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Vorbemerkungen und Einführung

Gruppentherapeutinnen und Gruppentherapeuten beginnen ihre Arbeit mit Gruppen oft an Kliniken. Sie dürfen – oder »müssen« – Gruppen leiten, bevor sie eine qualifizierte Ausbildung in Gruppenpsychotherapie begonnen oder abgeschlossen haben. Für sie bietet dieses Buch eine komprimierte Einführung in das Arbeiten mit Gruppen. Es soll helfen, für die eigenen Erfahrungen in der Klinik Theoriebausteine und für Überlegungen aus Supervisionen einen integrierenden Rahmen zu bieten. Bezugspunkt dieses Rahmens ist das »Göttinger Modell der Gruppenpsychotherapie« (ausführlicher in Staats, Bolm u. Dally, 2014). Übergreifende Modelle, Grundlagen und wissenschaftliche Befunde zum Arbeiten mit Gruppen sind gut lesbar zusammengefasst bei Strauß (2022). Hier finden sich auch Angaben zur empirisch überzeugend belegten Wirksamkeit von Gruppentherapien. Inzwischen ist die empirische Prüfung und die Integration unterschiedlicher theoretischer Konzepte in einen Gesamtzusammenhang ein Kennzeichen moderner gruppentherapeutischer Modelle. Aus der englischsprachigen Literatur sind dazu zum Beispiel die Bücher von Susan Barlow (2013), Steinar Lorentzen (2014) und John Schlapobersky (2016) zu nennen. Vor diesem Hintergrund kann der Text auch für erfahrene Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter eine interessante neue oder erweiternde Perspektive bieten. Noch für eine weitere Gruppe von Leserinnen und Lesern kann das Buch von Interesse sein. Es richtet sich auch an Menschen, die mit ihren Patientinnen und Patienten überwiegend in Einzel­therapien arbeiten, zu zweit also. Hier vermittelt es Wissen über Psychotherapien in Gruppen. So kann eine gute Indikationsstellung gelingen. Wird 12

»Gruppe« gekannt und geschätzt, bekommen mehr Menschen die Chance, aus den unterschiedlichen gruppentherapeutischen Angebo­ ten Nutzen zu ziehen. Einzeltherapeutinnen und Einzeltherapeuten arbeiten mit Patienten, die ihnen von ihren Erfahrungen in und mit Gruppen berichten – dem Aufwachsen in der Ursprungsfamilie, in Kindergarten und Schule, ihren Konflikten am Arbeitsplatz und in ihrer eigenen Familie, Ausschlusserfahrungen in gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen. Wenn in Therapien Erzählungen mit Gruppeninteraktionen ausbleiben, ist dies diagnostisch ein wichtiger Befund. Und um Entwicklungsprozesse in Gruppen erkennen und verstehen zu lernen, sind Kenntnisse über das Funktionieren von Gruppen notwendig. Sowohl Einzel- als auch Gruppenpsychotherapeuten stehen dabei vor einer besonderen Herausforderung: Wir sind in unserer Kultur gewohnt, vom Individuum her zu denken. Das Soziale, Beziehungen, Familien, Kultur sind dann Ergebnisse der Interaktion von Individuen. Vor diesem Hintergrund ist in der Psychoanalyse die innere Welt von Patienten das Zentrale. Die äußere Welt wird nach dem Vorbild innerer Vorstellungen von Individuen gestaltet – theoretische Modelle wie der Wiederholungszwang, Charakter oder Übertragung betonen diese Sichtweise. Ein radikales Verständnis von Gruppenphänomenen kehrt diese Perspektive um: Hier ist das Soziale das Primäre – es formt und gestaltet auch unsere Innenwelt. Der Einzelne, individuell wie er sich fühlt, kann mit Gewinn als abhängig von seinen Gruppenzugehörigkeiten und seinen Positionen in Gruppen verstanden werden. S. H. Foulkes spricht von Individuen als »Knotenpunkten« innerhalb eines sozialen Netzes – je nach Fokussierung und Sichtweise kann der oder die Einzelne oder aber das Gesamtnetz der Beziehungen in den Vordergrund (oder Fokus) treten. In dieser Konzeptualisierung bleibt das jeweils andere stets als Hintergrund erhalten (Foulkes, 1964/1974). Einzeltherapie wird vor diesem Hintergrund als eine »Variante der Gruppenanalyse« beschrieben – eine sportliche Ansage! Eine solche Konzeption steht im Gegensatz zu der üblicheren Beschreibung Vorbemerkungen und Einführung

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von Gruppentherapie als Anwendung von für die Einzeltherapie entwickelten Methoden in einem anderen Setting und kontert sie (siehe dazu auch Kapitel 4). Die Gruppen der Frauen und der Männer sind erste große Gruppen, denen wir zugeordnet werden und denen wir uns – mehr oder weniger  – zugehörig fühlen können. Etwas von der Vielfalt und Uneindeutigkeit von Gruppenzugehörigkeiten soll auch im sprachlichen Umgehen mit der Frage der Gendergerechtigkeit sichtbar werden. Wenn Sie im Text auf Gruppenleiterinnen oder Gruppentherapeuten stoßen, sind andere Geschlechter stets eingeschlossen.

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Vorbemerkungen und Einführung

1 Gruppen im Alltag: Ein wenig beachteter Aspekt unseres Erlebens »Human beings are born into groups, educated in groups, and belong to many groups, yet routinely attribute individual motives to their actions when in fact group-influenced behaviors are the more likely culprit. The theory, research, and practice of group dynamics, group psychology, and group psychotherapy illuminate useful ways for us to learn group skills and to better understand how we are influenced by groups« (Barlow, 2013).

Barlow beschreibt die hohe Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten für unser Leben, Erleben und Verhalten. Patienten leben in Gruppen; sie erzählen von ihren Erfahrungen in den verschiedenen Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen, von ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen, ihren Teams, Familien, den Erfahrungen in sozialen Netzwerken und anderen Gruppen. Auch Gruppen, denen Patientinnen und Patienten sich explizit nicht zugehörig fühlen oder fühlen wollen, sind häufig von hoher individueller Bedeutung. Hier kann das untergebracht werden, was in dem eigenen Selbstbild nicht (oder noch nicht) untergebracht werden kann, was intrapsychisch oder auch im Rahmen konkret ablehnender Handlungen (interpersonale Abwehr, siehe Kapitel 1.6) abgewehrt wird. Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, »In-Groups«, sind für das Stabilisieren des Selbsterlebens bedeutsam, ebenso aber auch Gruppen, von denen wir uns abgrenzen und auf die wir unerwünschte, mehr oder weniger bewusste Aspekte unseres Lebens entlastend projizieren. In- und Outgroups beeinflussen individuelle Haltungen, Normen und Vorurteile. Auch das »Wie« in Beziehungen, die Art und Weise des Aushandelns von Konflikten, die Toleranz gegenüber Unsicherheit und Verschiedenheit ist nicht nur ein individuelles Merkmal. Unterschiedliche Gruppen verhalten sich hier unterschiedlich und nehmen einen deutlichen Einfluss auf ihre Mitglieder. 15

Individuelle Autonomie gegenüber Gruppen, denen wir uns zu­­ ge­hö­rig fühlen, ist daher beschränkt. Sie bleibt immer relativ, kon­ text­abhängig und muss oft gegen innere und äußere Widerstände erarbeitet werden. Vielleicht ist es gerade diesem Bemühen um Autonomie geschuldet, dass wir uns in unserer Kultur als individuelle Akteure sehen und sehen wollen – manchmal erschrocken, wenn wir in alten Fotoalben feststellen, wie sehr wir »Kinder unserer Zeit« und einer Kohorte zugehörig sind, wie deutlich wir einer nationalen Gruppe angehören (bei Auslandsaufenthalten) und wie ausgeprägt wir durch unsere soziale Schicht und Zugehörigkeit zu Gruppen geprägt sind. In der Regel bemerken und bedenken wir das wenig – wir fühlen uns in unseren Gruppen vertraut, »ein Fisch im Wasser«, und nehmen dieses unser Umfeld als gegeben hin. Ein Erleben von Sicherheit wird damit im Alltag aufrechterhalten. Menschen neigen dazu, Gruppenidentitäten zu schaffen, um sich in einer solchen Gruppe der Zugehörigkeit sicher und angenommen zu fühlen. Urteile der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, werden oft ohne Prüfung übernommen, um diese Sicherheit zu gewährleisten. Dies ist auch in Psychotherapie hilfreich – neue, adaptivere Normen (etwa etwas von sich zu erzählen) können so in Gruppen etabliert und ausprobiert werden.

1.1  Gruppen als Grundlage menschlichen Lebens Evolutionsbiologisch sind Menschen auf das Zusammenleben in einer Gruppe gut vorbereitet. In den Horden und Gruppen, in denen sich die Menschen entwickelten, war das Überleben der Gruppe entscheidend für die Weitergabe genetischen Materials. Viele Aspekte des Lebens in Gruppen können und müssen wir daher als genetisch verankert betrachten. Altruismus – bezogen auf Menschen, die als der eigenen Gruppe zugehörig erlebt werden – trägt zur Weitergabe dieser genetischen Disposition bei, die Hilfe für andere verbessert Überlebenschancen in der Gruppe, selbst wenn es Einzelne gefährden kann. Loyalität zu einer Gruppe ist daher Teil unseres genetischen 16

Gruppen im Alltag

Erbes: Das Überleben des Einzelnen war in der Anthropogenese an das Überleben der eigenen Gruppe und an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gebunden. In einer Gruppe gibt es kein einfaches »Survival of the fittest«. Diversität ist hier wichtig – nicht alle Gruppenmitglieder sollen gleich sein. Vorsichtige und risikofreudige Mitglieder werden gebraucht, Anführer und auf sozialen Ausgleich bedachte Mitmacher, beziehungsorientierte und eher unabhängig Urteilende, damit die Gruppe als Ganzes vielfältigen Risiken gewachsen ist. Diversität ist vor diesem Hintergrund eine Voraussetzung für Erfolg und Resilienz. Aus ethnologischer Sicht beschreibt Hrdy (2010) die Bereitschaft von Müttern, ihre Kinder der Betreuung anderer Mütter zu überlassen und ihnen damit unterschiedliche Erfahrungen zu bieten, als die Grundlage der Entwicklung menschlicher Kultur. Hiermit kann auch die Entwicklung sozialen Lernens, das Vertrauen in die Informationen anderer Menschen, verknüpft werden  – epistemisches Vertrauen als ein für die menschliche Kultur zentrales Merkmal. Zugehörigkeit zu einer Gruppe bietet Sicherheit vor konkreten Gefahren, die gemeinsam besser als allein durchgestanden werden – besonders deutlich wird dies am Beispiel der Familie, aber auch an Gruppen Gleichaltriger, die eine Entwicklung aus der Familie hinaus in gesellschaftliche Gruppen ermöglichen. Über den konkreten physischen Schutz hinaus sichern Gruppen auch die psychische Beständigkeit eines Einzelnen. Werte und verhaltensregulierende Normen einer Gruppe helfen ihren Mitgliedern bei Entscheidungen, die nicht immer wieder selbst und neu bedacht zu werden brauchen. Die Identität des Einzelnen ist abhängig von seiner Zugehörigkeit zu Gruppen, die über seine individuelle Lebensgeschichte hinausreichen  – etwa einer Glaubensgemeinschaft, einer Berufsgruppe, sozialen Klasse oder Familie. Um das Zusammenleben in Gruppen als eine Grundlage menschlichen Lebens zu beschreiben, sind daher mehrere Perspektiven notwendig: Ȥ Die Integrationskraft einer Gruppe muss berücksichtigt werden – die Bindung an andere und an die Gesellschaft wird durch sie Gruppen als Grundlage menschlichen Lebens

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gesichert, den Gruppenmitgliedern ein subjektiver »Sinn« ihres Handelns (»für die Gemeinschaft«) vermittelt. Ein Verlust dieser Eingebundenheit löst bei einem einzelnen (dann ehemaligen) Gruppenmitglied oft tiefe Verzweiflung bis hin zur Suizidalität aus. Ȥ Sicherheit wird nicht nur physisch über die Gegenwart vertrauter Anderer gewährleistet. Sicherheit wird auch in Hinsicht auf Werte, Handlungsbereitschaften und soziale Normen hergestellt. Als Mitglied einer für mich wichtigen Gruppe muss ich nicht für alltägliche Herausforderungen eigene Lösungen suchen – diese Lösungen werden sozial vorgeprägt und vermittelt. Allport (1954) hat die große Bedeutung von Gruppenmitgliedschaften für Vorurteile (hier rassistische) und deren Veränderung untersucht. Ȥ Auch die scheinbar ganz individuelle Identität kann als Ergebnis von Gruppenzugehörigkeiten beschrieben werden (siehe Kapitel 1.4). Für ein Individuum wichtige Gruppen können als »groups of belonging« oder als »Bezugsgruppen« beschrieben werden – als Gruppen, an die wir uns anpassen und mit denen wir Übereinstimmung und das Erleben von Zugehörigkeit herstellen wollen. Foulkes (1964/1974) hat versucht, die verschiedenen Perspektiven auf Gruppen in seinem Konzept der Matrix einer Gruppe zu fassen, und dabei gruppendynamische und psychoanalytische Begriffe verbunden (siehe Kapitel 2.3). Gruppenzugehörigkeiten wirken sich auf viele Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens aus. Ergebnisse von Gruppenprozessen werden vor diesem Hintergrund unterschiedlich bewertet – oft entweder enthusiastisch positiv oder aber skeptisch ablehnend. Beide Sichtweisen haben eine längere Tradition. In der Tradition von Le Bon und Freuds Aufsatz »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (Freud, 1921) werden Auswirkungen von Gruppenprozessen auf das Individuum als die Geschichte eines Verlusts von Fähigkeiten beschrieben. In Gruppen – Freud zeigt dies am Beispiel von Kirche und Heer – gehen individuelle Fähigkeiten des Denkens und Urteilens (Kompetenzen des Ich) verloren oder werden an andere abgegeben. In Gruppen handeln Menschen oft so, wie sie es allein nicht täten. Große 18

Gruppen im Alltag

Gruppen werden aufgrund des in ihnen zu beobachtenden Konformitätsdrucks mit einer Einschränkung von Kreativität verbunden. Die Stärke des Ich zeigt sich dann gerade darin, eigene Entscheidungen auch dann fällen zu können, wenn die Gruppe, in der man sich befindet, anders entscheidet – in einer relativen Unabhängigkeit von Gruppen. Innere Repräsentanzen, die innere Zugehörigkeit zu – anderen – Gruppen, deren Werte und Normen überdauernd »im Kopf« präsent sind, tragen zu dieser Stärke wesentlich bei. Nicht nur Einschränkungen durch Gruppenprozesse, sondern auch besondere Möglichkeiten werden beschrieben, die sich durch das Zusammenarbeiten in einer Gruppe bieten. So entstehen besondere Leistungen. Die individuellen Urteile vieler Menschen nähern sich – wenn integriert – dem tatsächlichen Sachverhalt zunehmend an – ein Aspekt, der als »Schwarmintelligenz« bezeichnet wird. Gut zusammen arbeitende kleine Gruppen haben vielfältige Möglichkeiten der Reaktion auf Veränderungen und sind in besonderer Weise resilient. Burrow (1926) hat in Verbindung zu Freud und in Abgrenzung von ihm diese besonderen Möglichkeiten von Gruppen beschrieben und ist damit zu einem der Väter der Gruppenanalyse geworden (SchultzVenrath, 2015). Eine in Stellenanzeigen gesuchte und in Bildungsprozessen geförderte »soziale Kompetenz« im Sinne der Fähigkeit der Anpassung an unterschiedliche Gruppen (z. B. als »Teamfähigkeit«) steht oft im Konflikt mit einer ausgeprägteren Unabhängigkeit des individuellen Urteils. Dieses dialektische Verständnis von Gruppenprozessen kann in der empirischen Forschung bis heute verfolgt werden. Für »günstige« und »ungünstige« Folgen von Gruppenprozessen gibt es vielfältige Beispiele und experimentelle Belege. »Schnelle Lösungen in Gruppen« behindern oft das Finden neuer, kreativer Wege (z. B. Carell, 2009). Auch große, vor allem wenig strukturierte Gruppen behindern Entscheidungsprozesse – gute Ideen stammen eher aus kleineren Teams. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Abgrenzung von dieser Gruppe sollten daher immer wieder neu und kreativ ausbalanciert werden. Gruppen als Grundlage menschlichen Lebens

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Für Therapiegruppen hat Foulkes dies als »zentrifugale und zen­­ tripedale Kräfte« einer Gruppe beschrieben und – witzig überzeich­ nend – als Analogie zum Couchsetting einen Gruppenraum entworfen: Der Raum sollte sich zur Mitte hin trichterförmig vertiefen, sodass alle Gruppenmitglieder auf ihren Stühlen den (zentripedalen) Sog zum Zusammenrücken physisch erleben und ihm beständig, durch eigene (zentrifugale) Anstrengung widerstehen müssen (Foulkes, 1969).

1.2 Wir-Gefühl als eine Form des In-BeziehungSeins: dyadische, triadische und Gruppenbeziehungen Das individuelle Leben und Erleben in Gruppen ist vergleichsweise wenig klar konzeptualisiert. Entwicklungspsychologisch haben wir Beschreibungen für verschiedene Formen des »In-Beziehung-Seins« – die auch in Gruppen auftreten können, das spezifisch »Gruppale« aber noch wenig einfangen (ausführlicher z. B. in Staats, 2021): Ȥ Monadisch (die paradox erscheinende Vorstellung von einer »Ein­ zelbeziehung«): Sie wird mit dem Konzept einer »autistischen Phase« beschrieben, manchmal auch mit der Vorstellung, den eigenen Körper wie ein Beziehungsobjekt (z. B. als »letzten Verbündeten«) zu behandeln. Ȥ Für dyadische Beziehungen stehen uns die in der Bindungstheorie beschriebenen Modi zur Erklärung von Erleben und Verhalten zur Verfügung: • der Äquivalenzmodus: Innere und äußere Welt sind hier nicht voneinander getrennt – für das Kind ist der Bademantel an der Tür im Dunkeln ein Gespenst; für den Erwachsenen ist die eigene Überzeugung eine Tatsache und kann nicht in Zweifel gezogen werden. • der Als-ob-Modus: Innere und äußere Welt sind getrennt – für das Kind ist ein Schuh, mit dem es spielt, gleichzeitig ein 20

Gruppen im Alltag

»Schuh« und ein »Auto«; der Erwachsene kann Erlebens- und Verhaltensweisen voneinander weitgehend oder vollständig trennen – es wird in der Gruppe »über« etwas geredet, aber die Themen sind wenig oder nicht mit emotionalen und persönlichen Reaktionen der Gruppenmitglieder verbunden. Ȥ Triadisch (für Dreierbeziehungen und die im Kopf hergestellte Triangulierung, in der aus einer »dritten Position« über das eigene Verhalten in einer dyadischen Interaktion nachgedacht wird): Hier entstehen Möglichkeiten, aus einer Situation von Macht oder Ohnmacht, Anpassung oder Rebellion auszusteigen und nachzudenken – andere, neue Lösungen zu finden. Einsicht, Selbstanalyse, Triangulieren und Mentalisieren beschreiben diese entwicklungspsychologisch dramatische Veränderung der Beziehungen. Die­ se dritte Position (»Mentalisieren«) muss immer wieder neu erarbeitet werden. Sie geht unter Stress häufig verloren. Der Ausdruck »robust mentalizing« kennzeichnet die Fähigkeit, auch unter Belastungen, wie etwa regressiven Gruppenprozessen, Mentalisieren aufrechtzuerhalten. Diese Modi des In-Beziehung-Seins können alle auch in Gruppen auftreten. Bion (1961/2001) hat »Kampf und Flucht«, »Abhängigkeit« und »Paarbildung« als dyadische Muster des Erlebens und Verhaltens in Gruppen beschrieben. Hier wird die Gruppe als Einheit konzeptualisiert, die dem Leiter gegenübersteht – wie in der Tradition Freuds (1921) für die Regression auf eine »Masse« am Beispiel von Kirche und Heer beschrieben. Wie aber ist das Erleben in nicht primär hierarchisch organisierten, gut funktionierenden Gruppen beschreibbar? Gibt es spezifische Konzepte für das »Gruppale«, ein Wir-Gefühl des In-BeziehungSeins? Diese individuell unterschiedliche Erlebensweise eines Wir wird geprägt durch Erfahrungen in der Familie, mit Geschwistern, in Kita, Schule und Sportverein. Sie macht sich bemerkbar in dem Erleben von Teams und Arbeitsgruppen. Wir-Gefühle werden, wie Bindungsmuster, wenig reflektiert. Bei einer Annäherung an diese Wir-Gefühl als eine Form des In-Beziehung-Seins

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Gruppenprozesse helfen die Wirkfaktoren Yaloms (1970/2019), insbesondere die Kohäsion in Gruppen (siehe Kapitel 2.1), die Sicht auf die Gruppe und auf den Leiter (siehe Kapitel 2.2), die Übertragung familiärer Modelle auf Gruppen und das Konzept der Matrix einer Gruppe (siehe Kapitel 2.3). Anders als in einer Zweierbeziehung werden in Gruppen Äußerungen und Handlungen nicht allein privat an den Interaktionspartner gerichtet. Sie sind mehr oder weniger zentral auch an die anderen Gruppenmitglieder, eine Öffentlichkeit, gerichtet. Von diesen werden sie gehört und auch beantwortet. Der individuelle Status eines Einzelnen in der Gruppe, die Gestaltung von Beziehungen – all das ist abhängig davon, was andere dazu sagen oder in der Vorstellung des Einzelnen sagen könnten. Viele Äußerungen sind daher erst verständlich, wenn auch die Reaktion der Zuhörer bedacht und einbezogen wird. Kommunikation in Gruppen kann hier von privater Kommunikation unterschieden werden. Dieser Aspekt ist besonders deutlich in politischen Prozessen zu beobachten (siehe Kapitel 1.3) und kennzeichnet Interaktionen in sozialen Netzwerken. Hier sind Äußerungen oft kaum noch privat an den Adressaten gerichtet, sondern ausschließlich auf andere Zuhörer, die die eigene Position etwa durch Likes bestätigen sollen (siehe Kapitel 1.5). Die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen hat vielfältige entwicklungsfördernde Funktionen. Kinder benötigen Beziehungen zu mehreren, miteinander und mit ihnen verbundenen Menschen für bestimmte Entwicklungsschritte wie die Triangulierung und die Entwicklung von Mentalisieren. Erfahrungen in Gruppen gehen aber noch darüber hinaus: Sie schaffen eigene Repräsentationen des Zusammenseins mit anderen. Geschwister, Peergruppen, Kindergruppen, Schulklassen, Vereine, Chöre, Familientreffen in der Großfamilie (und Weiteres) tragen zur Entwicklung eines Gefühls der Zugehörigkeit, eines Wir-Gefühls, bei. Das Erleben, wichtiger Teil einer für einen selbst wichtigen Gruppe zu sein, wird als »Gruppenkohäsion« beschrieben. Es verstärkt die Interdependenz der Beziehungen in einer Gruppe – der Einzelne kann Einfluss neh22

Gruppen im Alltag

men auf »seine« Gruppe, er wird aber auch in und von ihr selbst beeinflusst. Hier sind Erfahrungen in der Adoleszenz von besonderer Bedeutung. Peergruppen unterstützen eine Distanzierung von den Eltern. Die Regulation der eigenen Affekte wird unabhängiger von der Familie, »horizontale« Beziehungen, die auf Wechselseitigkeit und Gemeinsamkeit ausgerichtet sind, werden erprobt. Da oft eine größere Anzahl von Personen – die Peergruppe – von hoher Bedeutung ist, wird eine geringere Abhängigkeit von einer einzelnen Person erlebt. Sichere Bindungsrepräsentationen hängen nicht allein mit dem Erleben in den ersten Lebensjahren zusammen. Sie werden überarbeitet in engen Freundschaften, einer guten Integration in der Peergruppe und einer gelungenen Emotionsregulierung in Partnerschaften. Sich auf Freundschaften verlassen zu können, hat positive Auswirkungen auf die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Entwicklung der Persönlichkeit (Übersicht z. B. in Spitzer, 2018). Dass es vergleichsweise wenig theoretische Modelle zum Erleben und Verhalten in Gruppen gibt, ist aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit erstaunlich. Andererseits: »Man kann die Fische nicht zum Wasser fragen.« Gruppenkontexte sind für Menschen möglicherweise so selbstverständlich, dass eine Reflexion selten erfolgt. Foulkes (1964/1974, S. 33) beschreibt die Matrix einer Gruppe als »die Basis, die letzten Endes Sinn und Bedeutung aller Ereignisse bestimmt und auf die alle Kommunikationen, ob verbal oder nicht verbal, zurückgehen«. Gruppenanalyse in diesem Sinn lenkt die Aufmerksamkeit auf die Abhängigkeit des Einzelnen von den Beziehungen in den Gruppen, denen er angehört. Selbstreflexion bedeutet hier wesentlich die Reflexion der eigenen Rolle in Abhängigkeit von den Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen. Das Erleben und die Reflexion dieser Interdependenz, der eigenen Abhängigkeit von einer Gruppe, kann als Analyse der Matrix einer Gruppe beschrieben werden (siehe Kapitel 2.3).

Wir-Gefühl als eine Form des In-Beziehung-Seins

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1.3  In- und Outgroups Gruppen betonen das Gemeinsame ihrer Mitglieder. Sie können den Einzelnen dazu einladen, sonst vorhandene Kompetenzen, etwa in dem Finden eigener Positionen und Entscheidungen, vorübergehend ruhen zu lassen und – beispielsweise bei Fußballspielen – »hemmungslos parteiisch« sein zu dürfen. Mit ihrer die Kraft eines einzelnen Gruppenmitglieds übersteigenden Macht können Gruppen zu Trägern von Hoffnungen, Heilserwartungen und Ängsten werden. Veränderungen in Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, nehmen vielfältig Einfluss auf unser Befinden, unser Selbstverständnis und auf Symptome, die wir entwickeln. In ihrem aktuellen individuellen Verhalten orientieren sich Menschen an dem Verhalten anderer Menschen, das sie wahrnehmen: In einem sauberen und ordentlichen Umfeld werfen Menschen weniger leicht Müll auf Straßen als dort, wo schon Müll sichtbar ist, andere dies auch schon gemacht haben – viele ähnliche Befunde sind gesammelt in Spitzer (2009). Das Umgehen mit Regeln wird auch auf andere Bereiche (als etwa die Sauberkeit von Straßen) übertragen – auch andere Regelverletzungen kommen in einem unordentlichen Umfeld häufiger vor. Alltagskultur nimmt hier klar erkennbar Einfluss. Auch langfristig und unabhängig vom aktuellen Umfeld wirkt sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf das Verhalten und Erleben aus. Allport (1954) hat gezeigt, dass sich Vorurteile (in seinen Untersuchungen rassistische Einstellungen) kaum durch Informationen oder individuelle Bildung verändern ließen; veränderte Einstellungen entstanden dann, wenn eine Gruppe (etwa eine Gemeinde, ein Verein) die Normen des Umgehens mit Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe deutlich veränderte. Die Mitglieder dieser Gruppe (dieses Vereins) zeigten auch dann weniger rassistisches Verhalten, wenn sie allein und an anderen Orten waren – die verinnerlichte Zugehörigkeit zu einer als wichtig erlebten Gruppe hatte hier räumlich und zeitlich überdauernden Einfluss. In Gruppen erleben Gruppenmitglieder mit, was andere erleben. Sie müssen sich anstrengen, wenn sie dieses Erleben von sich fern24

Gruppen im Alltag

halten und sich nicht anpassen möchten. Ängstigendes, nicht Toleriertes oder Abgewehrtes wird nach außen verlagert und auf andere Gruppen projiziert – »so wie die sind wir nicht!«. Die Konstruktion von Innen- und Außengruppen (»Fremde«, »Rechte« oder »Linke«, Fußballfangruppen …) verringert Ambivalenz und Ambiguität. Gruppen grenzen sich daher in der Regel klar und oft scharf von anderen Gruppen ab. Die Konstruktion von Gruppen der eigenen Zugehörigkeit geht somit einher mit der von anderen Gruppen, denen die Teilnehmer nicht und oft »auf keinen Fall« angehören möchten. Der Ausschluss aus einer Gruppe, der man angehört, ist dann oft mit starker Angst und manchmal dem subjektiven Erleben von Vernichtung verbunden. Gerade in Situationen von Unsicherheit stabilisieren solche Zu­­ schreibungen (»links« und »rechts«; »Ost« und »West«) äußeres Verhalten und inneres Erleben. Kriege, aber auch politische Auseinandersetzungen (deutlich bei so komplexen Fragen wie dem Brexit, dem Umgehen mit Einschränkungen aufgrund der Coronapandemie oder Migrationsfolgen) können dann zu einer sich selbst verstärkenden Polarisierung führen. In unserer reisefreudigen und vernetzten Welt sind viele unterschiedliche Kontakte möglich  – sodass reale Beziehungen solche Zuschreibungen und Vorurteile reduzieren sollten. Dies geschieht jedoch wenig. Dazu trägt auch eine zunehmende Abschottung unterschiedlicher Gruppen in unserer Gesellschaft bei – räumlich (Land und Stadt), gesellschaftlich (Schulen und Wohnviertel) sowie besonders deutlich in sozialen Netzwerken. Selbst bei räumlicher Nähe existieren infolge der Möglichkeit vielfältiger und frei wählbarer Kontakte häufig »soziale Blasen«, die wenig Austausch miteinander haben. Der Einfluss digital abrufbarer Informationen (in denen selektiv für diesen Nutzer »maßgeschneiderte« Informationen ausgewählt werden) verstärkt diese Polarisierung und die Bildung stabiler Inund Outgroups. Algorithmen, die personalisiert Informationen entsprechend den Vorlieben der Nutzerin auswählen, tragen so zu einem Auseinanderfallen von Gruppen bei. Die Bitterkeit, mit der etwa Auseinandersetzungen um den Brexit geführt werden, wird auch auf die starke Isolation der beiden gegnerischen Lager zurückgeführt. Sie wird In- und Outgroups

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verstärkt durch die »digitale Blase«, in der sich die unterschiedlichen Gruppen bewegen, ohne sich zu begegnen (Weiteres siehe Kapitel 1.5). Ein Beispiel soll hier eine Brücke zwischen Gruppenprozessen in der Gesellschaft und einer therapeutischen Kleingruppe aufzeigen: In einer therapeutischen Kleingruppe sind sich die Gruppenmitglieder einig darin, besser und kompetenter entscheiden zu können, als es die Politiker »da oben« tun. Die Therapeutin konfrontiert nach einer Weile mit einem »Ich bin mir da nicht sicher, ob ich mit so vielen Menschen zusammenarbeiten könnte, die ganz andere Inte­ressen haben als ich, die ich vielleicht persönlich gar nicht mag – und mit denen ich auskommen muss«. In der Gruppe wird ü ­ berlegt, wie schwer es gewesen ist, die wechselseitigen Abhängigkeiten in der Gruppe zu akzeptieren – etwa schon bei der Frage nach der zeitlichen Verlegung einer Gruppensitzung. Gemeinsame und indivi­duelle Schwierigkeiten des Aushandelns praktikabler und auch vorläufiger Lösungen in Beziehungen sind dann Thema der Gruppe.

Eine vielfach beschriebene Demokratiekrise hängt auch mit der Unübersichtlichkeit und der Zumutung von Aushandlungsprozessen in komplexen, globalen Gesellschaften zusammen. Eine Gruppe mit starker Leiterin und klaren Positionen verspricht hier Sicherheit. Verschwörungserzählungen in Gruppen helfen dabei, Unsicherheit möglichst weitgehend zu vermeiden. Ein – trügerisches – Sicherheitsgefühl entsteht mit der Überzeugung, zu »wissen, wie es tatsächlich ist«. Entwicklungspsychologisch entspricht dies einer regressiven Aktivierung des Äquivalenzmodus (»meine Überzeugungen sind ein genaues Abbild der äußeren Welt«). Für den politischen Raum wird hier das Konzept des »Groupthink« verwendet (Janis, 1972). Ein Bemühen um Übereinstimmung mit anderen geht einher mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gruppe. Entscheidungen werden dann mit großer Überzeugungskraft vertreten, Unsicherheit und Ambiguität auf andere Gruppen ausgelagert (ausführlicher z. B. bei Dalal, 1998). 26

Gruppen im Alltag

Aus gruppenanalytischer Sicht stellt sich die Frage, ob ein Erleben von Sicherheit auch anders als über eine Anpassung an Gruppennormen oder – als Gegenposition – über eine betonte Unabhängigkeit von Gruppenprozessen erreicht werden kann. Mit Sicht auf demokratische Entscheidungsprozesse kann etwa gerade durch eine wechselseitige Abhängigkeit in einer – vielfältigen – Gruppe und über Kooperation mit anderen Sicherheit erreicht werden. Eigene Gruppenzugehörigkeiten von außen zu reflektieren, bleibt ein hoher Anspruch  – bei Auseinandersetzungen (z. B. über politische und gesellschaftliche Fragen) geht diese Fähigkeit oft rasch verloren.

1.4 Identität als ein Ergebnis von Gruppenzugehörigkeiten »Identität« ist ein ambivalenter, konfliktbeladener Begriff. Er verweist auf das – oder etwas –, was als zentral für ein Individuum betrachtet wird. Manchmal wird dies als »Kern« der Persönlichkeit beschrieben. Verbunden damit ist die Vorstellung von Beständigkeit. Diese Be­stän­ digkeit wird in der Regel positiv gewertet. Wenn sich etwas nicht ändern soll, auch wenn die Bedingungen, der Kontext, die Herausforderungen sich ändern, wird »Identität« aber auch dysfunktional – und kann dann als eine zentrale »Ideologie« beschrieben werden. Der Begriff »Identität« wird verwandt, um seelische Strukturen zu beschreiben (z. B. Kernberg, 1975; OPD, 2014), berufliche Haltungen zu legitimieren (z. B. als »psychoanalytische Identität«) oder wechselseitige Zuschreibungen mit der Konstruktion von Zugehörigkeiten zu Gruppen zu gestalten (Dalal, 2018). Wird Identität noch von dem kleinen Kind als etwas erlebt, das man hat, weil es einem zugefallen ist (»Kind von …«), erleben Jugendliche die Notwendigkeit, eine eigene Identität erst entwickeln zu müssen. Entscheidungen aus einer großen Auswahl an Möglichkeiten sind zu treffen. Identitäten entwickeln sich durch Aktivitäten und die damit verbundenen Zugehörigkeiten – Sport (»Langläufer«), Kultur (»Nerd«) und Sexualität Identität als ein Ergebnis von Gruppenzugehörigkeiten

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(»Freund von …«). Sie entstehen bei der Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen und der Integration psychosexueller und psycho­ sozialer Veränderungen und führen idealtypisch zu einer zuneh­men­ den Konsistenz des Selbstbildes. Hier ist Identität nicht mehr etwas, das einem zugefallen ist, sondern etwas, das es zu erwerben gilt – das man dann aber »hat«. Historisch kann eine Veränderung des Identitätskonzepts in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen beschrieben werden. Hier folgt auf eine Identität qua Geburt (»Edelmann bleibt Edelmann, Bauer bleibt Bauer«) eine Identität durch Verdienst und Erwerb (»mein Auto, mein Haus, …«) und eine Identität, die durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen definiert ist. Mitglieder erwarten in der Regel selbstverständlich eine Bestätigung dieser Gruppenzugehörigkeit in ihren Interaktionen. Bindungen eines Einzelnen an seine Gruppen prägen dann das Bild, das andere sich von ihm machen und das er selbst im Umgang mit diesen anderen von sich entwickelt. Stärker als früher sind diese Gruppen heute frei gewählt und ermöglichen ein Spielen mit unterschiedlichen Identitäten. Altmeyer (2011) beschreibt die Regulierung narzisstischer Bedürfnisse in und zwischen Gruppen, die mit der Bildung von Zugehörigkeiten und Ausschlüssen verbunden sind. In dieser postmodernen Fassung ist Identität abhängig von einer Zugehörigkeit zu Gruppen, die zumindest teilweise als selbst gewählt betrachtet werden. Innere Überzeugungen und die Gestaltung von Beziehungen sind dann durch die Zugehörigkeit zu Gruppen und durch die zu diesen Gruppen bestehenden Loyalitäten geprägt. In unterschiedlichen Beziehungen erleben wir uns – und sind wir – unterschiedlich. Bei vielen Menschen – besonders für die, die in größeren Städten leben – haben die verschiedenen Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen, untereinander nur wenig Kontakt: Freundeskreis, Familie, Arbeitskollegen, der Chor, eine digitale Gilde – Menschen, die einander in vielen oder gar allen Gruppenzugehörigkeiten kennen, sind selten. Habermas (1976) hat herausgearbeitet, dass Menschen durch die fehlenden sozialen Verbindungen zwischen den verschiedenen Grup28

Gruppen im Alltag

pen in ihren jeweiligen unterschiedlichen Gruppen tatsächlich auch unterschiedlich sind. Eine mit der Urbanisierung verbundene Trennung von Lebensräumen in unterschiedliche Orte und Beziehungsgruppen gehe so mit der Entwicklung unterschiedlicher Identitäten einher, die nur von einer übergreifenden Funktion, der »Ich-Identität«, zusammengehalten werden. Identität ist hier also nicht mehr etwas, das eine Einzelperson »hat«, sondern eine Funktion, die es ermöglicht, das Erleben von Identität immer wieder neu in Interaktionen mit anderen herzustellen. Als »postmoderne Identität« kann sie als die Fähigkeit beschrieben werden, unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten zu integrieren. Dabei soll sich ein subjektives Erleben von »Das bin ich« entwickeln. Hier finden sich die Verbindungen zu den oben beschriebenen Bildungen von In- und Outgroups. Die eigene Identität wird auch in dem Abgrenzen von anderen Gruppen (»so wie die bin ich/sind wir nicht«) stabilisiert. Veränderungsprozesse sind oft mit einer Trennung von identitätsstiftenden Gruppenzugehörigkeiten verbunden und bieten auch dadurch besondere Schwierigkeiten.

1.5  Digitale Gruppen Es ist manchmal nicht unmittelbar verständlich, dass digital vermittelte Beziehungen von vielen Menschen nicht von physischen unterschieden werden. Gruppenbildungen sind hier besonders deutlich: Menschen können Ziel eines Shitstorms werden oder von Cybermobbing betroffen sein. Sie reagieren auf negative soziale Situationen im digitalen Bereich »real« bis hin zu Suiziden (Heim, 2015). Digitale Welt und reale Welt sind hier nicht mehr unterschieden. Eine Bezeichnung digitaler Beziehungen als »virtuell« geht damit an der Lebenswelt vorbei. Vielfach erfolgt eine soziale Kontrolle im Rahmen des Einsatzes digitaler Medien – beispielsweise über das Wissen, wann jemand das letzte Mal online gewesen ist, das Orten anderer über ihr Handy Digitale Gruppen

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oder das Miterleben von Veränderungen im »Status« und in der Präsentation von Bildern. Diese Einschränkung oder Aufgabe eines persönlichen, privaten Raums wird meist mit geringem Bedauern angenommen. Die mit einer hohen Sichtbarkeit verbundene soziale Kontrolle ermöglicht es dem Einzelnen auch, eigene Kompetenzen der Steuerung an andere abzugeben – an selbst gewählte Netzwerke oder auch an wirtschaftliche und staatliche Institutionen. Dies führt zu einer Auslagerung von Kompetenzen. Soziale Kontrolle ersetzt Aspekte der Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle, die nicht erlernt oder über Geräte ersetzt werden – zum Beispiel dann, wenn Schlafen, Essen oder Bewegung über »Gesundheitsapps« registriert und rückgemeldet werden. In besonderem Maße gilt das für ein Erleben sozialer Resonanz und die Regulation des Selbstwertgefühls: In vielen sozialen Netzwerken werden Posts gelöscht, wenn sie nicht die gewünschten Interaktionen erzielen – etwa zu wenige »Likes« oder zu viele negative Kommentare erhalten. Menge und Art der Reaktionen in sozialen Netzwerken fungieren als soziales Kapital. Wer besonders viele Likes für ein Profilbild bekommt, gilt als besonders schön und beliebt. In vielen sozialen Netzwerken kann ein Vorherrschen von Kom­ munikationsmechanismen beobachtet werden, die als Großgruppenphänomene beschrieben werden. Es treten rasch starke Affekte auf, die eine Reflexion der Position des Anderen erschweren oder ausschließen. Die Beteiligten treten weniger in einen Diskurs mit einem Anderen ein, den sie verstehen möchten. Sie sind überwiegend als Vertreterinnen oder Vertreter ihrer Position »unterwegs«. Für dieses Vertreten erhalten sie innerhalb ihrer Subgruppe Bestätigung. Der Wunsch, in dieser Öffentlichkeit zu gefallen und Anerkennung und Resonanz (Likes) zu erhalten, geht mit dem Risiko eines hohen Konformitätsdrucks einher, der wenig Raum für Ambivalenzen und Verständigung lässt – die Bestätigung von Identität wird Ziel. Viele Menschen fühlen sich etwa verpflichtet oder angehalten, bei Aufrufen gegen Missstände schnell zuzustimmen, auch ohne sich vorher persönlich kundig zu machen. Wer nicht »sofort« mitmacht, ist bereits verdächtig und gerät in sozialen Netzwerken in Gefahr: Die Zuge30

Gruppen im Alltag

hörigkeit zu einer normativ erlebten (Subgruppen-)Normalität wird Ziel in einer digitalisierten und globalisierten Welt (z. B. Koppetsch, 2015). Eine andauernde Notwendigkeit, sich darzustellen, führt zu einem bleibenden starken Begehren, von der Gemeinschaft anerkannt und gelobt zu werden: dazuzugehören. Die Angst, abgelehnt und ausgeschlossen zu werden, wird vor diesem Hintergrund häufig als vernichtend erlebt. Kompensatorisch wird die Kohäsion der Gruppe durch ständiges gegenseitiges Loben in der Erwartung gestärkt, auch selbst von der Gemeinschaft gelobt zu werden und dazuzugehören. Cybermobbing und -bullying entsteht vor diesem Hintergrund als Ausdruck des Macht- und Anerkennungsstrebens einiger, die Regeln für das Arbeiten der Gruppe aufstellen und diejenigen ausschließen, die diese Regeln nicht einhalten (Katzer, 2019). Während Gewalt­ anwendungen zwischen Avataren in Spielen toleriert werden, ist das Erleben von Sexualität im Netz stärker von öffentlicher Empörung begleitet (ausführlicher in Staats, Ackermann u. Sarrar, 2019).

1.6 Wenn Gruppen schaden: Rollenfixierung, Sündenbocksuche, Mobbing, Bullying Die Vorstellungen, wie das Zusammensein mit anderen in einer Gemeinschaft ist oder sein sollte (das Wir-Gefühl), sind ein Teil des impliziten Beziehungswissens von Menschen. Sie tragen dazu bei, wie wir uns in Gruppen verhalten, welche Erwartungen wir wahrnehmen und wie bereit wir sind, diese zu erfüllen. Die Übernahme von Erwartungen in Gruppen (etwa als Anführer, Mitläufer oder Außenseiter, siehe Kapitel 2.2), aber auch das Einnehmen unglücklicher Positionen (etwa als »Sündenbock« einer Gruppe) sind mit solchen Vorstellungen verbunden. Positionen innerhalb einer Gruppe können aus gruppendynamischer Sicht als Rollen beschrieben werden. Ungünstig für Entwicklungsprozesse ist die Fixierung auf eine Rolle, die in Gruppen immer wieder stereotyp übernommen wird. Soziale Erfahrungen sind dann begrenzt. Wenn Gruppen schaden

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Gruppendynamisch dient die Zuweisung der Rolle eines Sündenbocks oft einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls der Gruppe angesichts des Erlebens von Schuld oder Versagen. Wenn sich die Gruppe in einer solchen Rollenzuweisung einig ist, kann das, was schiefgeht, auf den »Sündenbock« zurückgeführt werden. Eine solche Gruppenkonstellation ermöglicht das Aufrechterhalten von Größenideen und Ideologien der Gruppe insgesamt und kann so deren Kohäsion verstärken. Sie findet sich häufig in Teams und kann Anlass für die Suche nach Supervision sein (Bakhit u. Staats, 2021). Wird die Festschreibung solcher Rollen in Gruppen nicht erkannt, können nur eingeschränkte Erfahrungen mit der Bewältigung von Konflikten und neuen Rollen gemacht werden. Wichtige weitere Gruppenphänomene sind Bullying (die Einschüchterung eines Menschen durch einen oder mehrere andere) und Mobbing (feindselige Handlungen vieler Gruppenmitglieder gegenüber einem Mitglied mit dem Ziel, dieses aus der Gruppe herauszudrängen). Bullying demon­ striert Macht. Es zielt damit auf die Reaktion von Zuschauerinnen und Mitläuferinnen und lebt von deren »Mitspielen«. Durch Eingreifen oder auch durch ein Verlassen des Ortes (der Gruppe der Zuschauenden) kann es häufig beendet oder reduziert werden. Der Begriff »Mobbing« wird heute in einem weit gefassten Sinn für ganz unterschiedliche Formen feindseliger Handlungen benutzt. Ursprünglich beschreibt er einen gruppendynamischen Prozess. Hier entsteht Mobbing aus dem Erleben von Ohnmacht und/oder aus der Lust an der gemeinsamen Macht einer Gruppe. Mitmachende bei Mobbing-Aktionen sind sich ihrer Teilnahme an einem solchen Vorgehen in der Regel nicht bewusst. Sie erleben ihr Verhalten meist als angemessen, als »nicht so schlimm« oder als durch die Umstände gerechtfertigt. Der andere ist »schuld« und wird nicht als Opfer eines Mobbing-Prozesses gesehen. In der Regel ist der Betroffene zunehmend verunsichert. In seinen Versuchen, die Situation zu verändern, bestätigt er oft den Eindruck der Gruppe, »irgendwie merkwürdig« zu sein. Mobbing und Bullying werden so auch als Versuch beschrieben, sich in wenig strukturierten Gruppen über den Aus32

Gruppen im Alltag

schluss oder die Demütigung anderer einen sicheren, anerkannten Platz zu verschaffen. Vorgegebene klare Hierarchien haben dann eine Schutzfunktion vor Ausschluss- und Kränkungsprozessen. Sündenbocksuche, Bullying und Mobbing können als gemeinsame, interpersonale Abwehr einer Gruppe oder als Bewältigungsversuch von Gruppenkonflikten verstanden werden. Dies kann bei der Prävention solcher Ausschluss- und Demütigungsprozesse helfen. Eine Übersicht zu Schädigungen in und durch Gruppenpsychotherapien findet sich bei Strauß und Eckert (2001).

Wenn Gruppen schaden

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2 Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse: Modelle und Konzepte

Beim Erleben einer Gruppensitzung reagieren sowohl Mitglieder als auch externe Beobachter in der Regel zunächst mit einem Gefühl der Verwirrung. Worauf ist zu achten? Woran kann ich mich in einem Hin und Her zwischen verschiedenen Personen orientieren? Das Geschehen in Gruppen wirkt komplex und unübersichtlich. Theorien versuchen, diese Komplexität abzubilden. Sie heben dazu bestimmte Aspekte aus dem komplexen Geschehen in einer Gruppe heraus und vereinfachen so. In diesem Kapitel werden einige dieser Theorien dargestellt – die in Gruppen besonders deutlichen Wirkfaktoren (Kapitel 2.1), unterschiedliche Modelle zu den Rollen der Gruppenteilnehmer, der Gruppenleiter und zum Verständnis von »Gruppe« (Kapitel 2.2) sowie das Konzept der Matrix (Kapitel 2.3). Überlegungen zu Gruppenprozessen in Kleingruppen (wie Teams) und Großgruppen (z. B. einer Klinik) und zur Supervision in Gruppen wenden einige dieser Modelle an (Kapitel 2.4). Gruppenleiterinnen mit psychodynamischer Ausbildung s­ tehen unterschiedliche Konzepte für die Reduktion der Komplexität von Gruppen zur Verfügung. Indem sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des Geschehens in der Gruppe fokussieren, machen diese Konzepte es leichter, Gruppen auf dem Boden einer praxisrelevanten Handlungstheorie zu gestalten. Unterschiedliche Gruppen (etwa im Hinblick auf ihre Größe, Zusammensetzung oder das Setting) erfordern Differenzierungen der für das therapeutische Vorgehen genutzten Modelle. Gruppen können unterschieden werden in Hinsicht auf das Konzept der Gruppe (Gruppe als Ganzes, Gruppe und 34

Individuum, Einzeltherapie in der Gruppe), die Rolle des Leiters, die Tiefe der Regression, in der gearbeitet wird, und das Umgehen mit der Entwicklung einer Gruppe, dem Gruppenprozess. Die Beschränkung auf einen – zentralen – Faktor in der Theoriebildung ist angesichts der Komplexität des Geschehens in Gruppen attraktiv und oft notwendig. Es ist möglich, sich weitgehend auf eine Theorie (»Schule«) zu beziehen. In einer psychotherapeutischen Praxis muss die Gruppenleiterin dann gezielt nach solchen Patientinnen und Patienten suchen, für die diese Theorie und die damit verbundenen Gruppen geeignet sind. Die Begriffe »Gruppenpsychotherapie«, »analytische Gruppenpsychotherapie« und »Gruppenanalyse« werden nicht einheitlich verwendet. Gruppenanalyse meint in diesem Buch eine unterschiedliche Vorgehensweisen einschließende Form des Arbeitens mit Gruppen. Sie nutzt psychoanalytische, gruppendynamische und sozialpsychologische Konzepte und verbindet sie mit Ergebnissen der Psychotherapieforschung, der Lern- und Entwicklungspsychologie und Grundlagenwissenschaften. Gruppenanalyse ist dann eine Methode, die in ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern eingesetzt werden kann – nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in der Pädagogik, sozialen Arbeit, Organisationsentwicklung und weiteren Feldern. Übergreifendes Anliegen ist es, auf das Verhalten von Menschen Einfluss zu nehmen. Es geht um Beziehungen – interpersonelle Beziehungen zu andern Gruppenmitgliedern oder zu Menschen, von denen in der Gruppe erzählt wird, um die Beziehungen zu sich selbst und deren Regulation in der Gruppe oder um die Beziehungen zur Umwelt. Ohne einen therapeutischen Anspruch werden Gruppen im Kindergarten, als Klassenverbände in Schulen oder als Wohngemeinschaften für Bildungsprozesse in der Pädagogik und sozialen Arbeit eingesetzt. Auch hier geht es um die Veränderung von Verhalten, um Lernen. Die Schulklasse und die ihr eigene Atmosphäre werden meist länger und eindrucksvoller erinnert als einzelne Lehrer. Therapeutische Gruppen erleichtern solche Veränderungen, indem sie Schutz und einen besonders geeigneten Rahmen für Veränderungen zur VerGruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

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fügung stellen. Gruppenpsychotherapie kann dann als eine Form des Arbeitens mit Patienten und als eine »Anwendung« von Gruppenanalyse betrachtet werden.

2.1  Was hilft? Gruppen bieten spezifische Zugangswege zur Behandlung psychischer Störungen. Ein Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass psychische Störungen eng verbunden sind mit Beziehungsstörungen, die sich in der Gruppe darstellen und dort bearbeitet werden (Gruppendynamik). Dieser Gesichtspunkt spielt in psychodynamischen Gruppentherapien eine größere Rolle als in verhaltenstherapeutischen Gruppen. Dort werden die gerade nicht im Mittelpunkt stehenden Teilnehmer beispielsweise als Helfer bei Rollenspielen oder Verhaltensübungen vom Therapeuten einbezogen. Aber auch in diesen vom Konzept her einzelfall- und problemorientiert vorgehenden Gruppen werden gruppenspezifische Aspekte wirksam. Therapeutische Gruppen bieten ein Spielfeld an, auf dem Unvertrautes im eigenen Erleben und im Umgang mit anderen Menschen erlebt, ausprobiert und geübt werden kann. Sie ermöglichen neue Erfahrungen in Interaktionen – und eine Reflexion dieser Erfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Nordma, Monsen, Höglend und Solbakken (2021) zeigten für schwer kranke Patientinnen und Patienten in zeitlich über lange Zeiten laufenden Gruppentherapien einen linearen Verlauf der Verbesserung – auch nach langer Zeit in einer Gruppe verbesserten sich Patientinnen und Patienten in fortgeschrittenen Phasen der Therapie weiterhin deutlich. Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Formen von Gruppenpsychotherapie suchte Yalom (1970/2019) nach Gemeinsamkeiten im Erleben der Gruppenteilnehmer und erfasste elf therapeutische Faktoren. Seine Beschreibungen schärfen die Aufmerksamkeit für die in Gruppen realisierbaren therapeutischen Mittel und Wege. Zen­tral für Gruppenpsychotherapie ist vor allem sein Konzept der Kohä36

Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

sion geworden. Das Erleben von Kohäsion in Gruppentherapien entspricht der Entwicklung von Beziehung in einer Einzeltherapie und erweitert es um Anteilnahme und Teilhabe am Leben einer größeren Gemeinschaft. Auch die Auseinandersetzung mit existenziellen Faktoren (z. B. Erfahrungen, dass das Leben ungerecht ist, dass man sterben wird, dass die letzte Verantwortung für die Art, wie das eigene Leben gelebt wird, von einem selbst übernommen werden muss) wird in Gruppen besonders deutlich erlebbar. Die Auseinandersetzung mit existenziellen Faktoren in der Gruppe fördert idealerweise eine Haltung von relativer innerer Autonomie und als befriedigend erlebter Interdependenz. Der gemeinsame Ausgangspunkt psychodynamischer ­Therapien in Gruppen ist die Vorstellung, dass psychische Störungen eng verbun­ den sind mit Störungen in Beziehungen. Diese Beziehungsstörungen werden in Gruppen deutlich und können dann bearbeitet werden. Zentrale Konzepte zu Wirkfaktoren, wie das der Kohäsion, sind klinisch formuliert, auf unterschiedliche Theorien bezogen und für empirische Untersuchungen schwer operationalisierbar (Marquet, 2008). Viele Wirkfaktoren haben in unterschiedlichen Formen von Gruppenpsychotherapie und für unterschiedliche Patienten unterschiedlich starke Bedeutung. Zugespitzt kann man formulieren: Aus dem Angebot veränderungswirksamer Faktoren in Gruppen suchen sich Patienten die aus, die für sie in dieser Gruppe passend sind. Der Einfluss der Gruppe kann dabei explizit angesprochen werden (deutlich z. B. in analytischen Psychotherapiegruppen). Dies ist aber nicht unbedingt notwendig. Wirkfaktoren werden auch ohne eine bewusste Reflexion wirksam – sie ermöglichen neue Erfahrungen, wie etwa eine gelingende Zugehörigkeit oder eine erfolgreiche Einflussnahme auf andere. Für den Erfolg von Projektgruppen im Arbeitsfeld, für symptomhomogene Patienten- oder Selbsthilfegruppen oder für psychoedukative Gruppen sind die oben beschriebenen gruppenbezogenen Faktoren von hoher Bedeutung, auch wenn sie nicht explizit zum Thema gemacht werden.

Was hilft?

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2.2 Modelle: Gruppenleitung, Teilnehmende an Gruppen und »die Gruppe« Das Erleben des Zusammenseins mit anderen in einer Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl, trägt als ein Teil des impliziten Beziehungswissens zu den Erwartungen an Gruppen und zu einer persönlichkeitstypischen Übernahme von Aufgaben in Gruppen bei. Positionen wie die eines »Anführers«, eines »Fachmanns« oder »Außenseiters« werden vielfach schon in den ersten Gruppenerfahrungen eingeübt und bleiben ein persönlichkeitsspezifisches Merkmal des Lebens in Gruppen. Für das Zusammenarbeiten in einer Gruppe sind alle die im Folgenden genannten Rollen wichtig (Schindler, 1969): Ȥ Alpha: »Leiter« und Repräsentant der Gruppe, der Interessen der Gruppe nach außen vertritt. Mitglieder einer Gruppe identifizieren sich mit Alpha. Ȥ Beta: Berater von Alpha, »Experte« – in Gruppen oft weniger be­­ liebt. Er oder sie hat eine Schlüsselposition für Entscheidungen. Ȥ Gamma: Als »Mitläufer« zentral für die Bildung einer Gruppe. Ohne ihn und seine Kolleginnen und Kollegen Gamma ist keine Gruppe zu gestalten. Ȥ Omega: Als Gegenspieler von Alpha, Außenseiter oder »Störer« vertritt diese Position oft abgewehrte, für die Gruppe aber wichtige Inhalte. Aus der Omegaposition heraus kann Alpha bekämpft und ersetzt werden. Entwicklungspsychologisch unglücklich ist die Fixierung auf eine Rolle, die in Gruppen stereotyp übernommen wird. Soziale Erfah­ rungen sind dann begrenzt. In therapeutischen Gruppen wird mit diesen Rollenübernahmen unterschiedlich umgegangen. Welche Beziehungs- und Übertragungsmuster sich ausbilden, hängt auch vom Konzept der Gruppenleiterin ab. Je nach ihrer Auffassung von Gruppe werden sich Leiterinnen und Leiter unterschiedlich positionieren. Sie können als Leitfigur ganz in den Vordergrund treten; Beziehungen der einzelnen Gruppenmitglieder untereinander wer38

Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

den dann als weniger wichtig betrachtet. Sie laufen – bildlich gedacht sternförmig – über die Gruppenleitung. In anderen Konzepten sind die Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander zentral; die Leitung im Hintergrund sorgt vorwiegend für die Rahmenbedingungen der Gruppentherapie (z. B. die Uhrzeit der Gruppentreffen und den Raum). Als »Leiterin« wird sie wenig erkennbar. Dieses Konzept bewährt sich zum Beispiel in der Struktur der »Anonymen Alkoholiker«. In verhaltenstherapeutischen Gruppen nimmt die Gruppenleitung die Rolle einer Expertin oder Lehrerin ein, die verschiedene Techniken gezielt auswählt, um ihr Fachwissen zu vermitteln. Für psychotherapeutische Gruppen werden die Rolle des Gruppenleiters und seine Aufgaben in drei deutlich unterscheidbaren Modellen beschrieben: Ȥ Therapie der Gruppe: In diesem Modell steht die Gruppe dem Grup­­ penleiter gegenüber. Äußerungen der Mitglieder werden überwiegend vor dem Hintergrund einer Beziehung zwischen Gruppe und Gruppenleiter gesehen – die individuellen Rollen der Teilneh­ merinnen bekommen demgegenüber weniger Bedeutung. Die Grup­pe spricht mit oder zu dem Gruppenleiter. Entwicklungen in der Gruppe, Gruppenprozesse, können hier besonders gut beob­achtet werden. Diese Auffassung von »Gruppe« fördert das Auftreten von dyadischen (auf das Erleben in einer Zweiersituation bezogenen) Beziehungsmustern. Hier kommt es zu Übertragungen auf den Therapeuten, wie sie aus Einzeltherapien vertraut sind, und zu regressiven Verhaltensmustern wie Kampf, Flucht oder Abhängigkeit. Ȥ Therapie durch die Gruppe: In diesem Modell verteilen sich Aufgaben zwischen Therapeuten und Mitgliedern. Übertragungen auf Geschwister und Eltern in unterschiedlichen Entwicklungsphasen werden hier besonders deutlich. Stereotype Rollenübernahmen und ihre biografischen Wurzeln werden explizit Thema. Ȥ Therapie in der Gruppe: Hier wird auf einige Aspekte des Arbeitens mit Gruppen verzichtet. Therapeuten, die mit einem Patienten in der Gruppe wie in einer Einzeltherapie in Anwesenheit anderer arbeiten, nutzen die Beziehungen innerhalb der Gruppe und ein Modelle

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Erleben im Hier und Jetzt der Gruppe wenig. So entstehen individuelle Übertragungen der einzelnen Gruppenmitglieder auf den Leiter und auf andere Gruppenmitglieder. Diese werden beispielsweise mit Konzepten der Schematherapie oder mit verhaltenstherapeutischen oder psychodynamischen Modellen bearbeitet. Die meisten heute angewandten psychodynamischen Verfahren weisen Gruppenleitern eine zwischen diesen Extremen stehende Rolle zu, aus der sie flexibel unterschiedliche Positionen beziehen können. Als wünschenswert für das Arbeiten in psychodynamisch geleiteten therapeutischen Gruppen wird heute meist angesehen, dass Leiterinnen auf die Rolle reagieren, die ihnen eine Gruppe zuweist – und dies dann ansprechen und in seiner Bedeutung analysieren. Je nach Entwicklung einer Gruppe können Positionen wie die des Führers der Gruppe, eines Experten, eines Außenseiters oder sogar eines Gegners der Gruppe übernommen werden. In vielen therapeutischen Gruppen wird Verhalten der Gruppenmitglieder vor dem Hintergrund ihrer Sozialisationserfahrungen in ihren Familien verstanden (z. B. Schindler, 1969). Deutungen beziehen sich daher regelmäßig auf eine Vorstellung, nach der sich Erfahrungen in der Primärfamilie in therapeutischen Gruppen wiederholen und darstellen. Die Gesamtgruppe wird in regressiven Gruppen dann wie die Mutter der ersten Lebensjahre erlebt. Bindungswünsche und -erfahrungen werden reaktualisiert. Die Gruppe hat bergende und behütende Qualitäten. Sie ist größer und mächtiger als der Einzelne. Sie kommt und geht. Die einzelnen Gruppenmitglieder sind mit ihr verbunden, sie teilen Aspekte ihres Erlebens mit ihr. Demgegenüber werden väterliche Zuschreibungen und Übertragungen häufig auf den Gruppenleiter oder auch die Gruppenleiterin gerichtet. Er oder sie steht der Gruppe (Mutter) gegenüber, übt Einfluss aus, konfrontiert und kann auch einzelne Gruppenmitglieder schützen, wenn das nötig ist. Der Gruppenleiter strukturiert die Gruppe, setzt Anfang und Ende der Zeit fest, entscheidet über die Mitgliedschaft, das Umgehen mit Verspätungen oder dem Fehlen von Mitgliedern 40

Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

und anderes mehr. Mit seinen Interventionen bringt er Neues in das Erleben der Gruppenmitglieder und trägt zu einem Triangulieren des Erlebens der Teilnehmenden bei. So können regressive Gruppen mit Übertragungen auf die Gesamtgruppe (Mutter), den Gruppenleiter (Vater) und die anderen Gruppenteilnehmer (Geschwister) mit dem Modell einer Familie verstanden werden.

2.3  Das Konzept der Matrix Foulkes (1964/1974) entwickelte für die Gruppenanalyse das Konzept einer Matrix, bei dem der Einzelne stets in ein Netz aus Beziehungen eingebunden ist – und erst aus diesen Beziehungen heraus als ein Einzelner zu verstehen ist. Dieses Beziehungsnetz wird durch die gegenwärtige und vergangene Kommunikation in der Gruppe gebildet. Handlungen wirken sich als kommunikative Aktivität auf das ganze System aus. Der Einzelne kann dann als ein Knotenpunkt in der Matrix einer Gruppe beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund sind psychische Störungen auf Störungen des Netzwerks zurückzuführen, die in und durch den Einzelnen sichtbar werden – das Soziale konstituiert erst das Persönliche. Foulkes unterscheidet zwischen 1. individueller Psychodynamik (individueller Matrix) – verstehbar als individuelle psychische Innenwelt mit ihren Bestandteilen aus internalisierten Objektbeziehungserfahrungen; 2. dynamischer Matrix, die aus der aktuellen Interaktion innerhalb einer Gruppe hervorgeht. Foulkes meint damit das Gesamt der unbewussten und bewussten Kommunikations- und Beziehungsprozesse der Gruppenmitglieder untereinander. Jede Gruppe entwickelt ein spezifisches Netz an Interaktionen und Kommunikationen miteinander, in das die einzelnen Gruppenmitglieder, die Inhalte ihrer Begegnungen mit den anderen Teilnehmern der Gruppe und Merkmale des umgebenden Kontextes (z. B. der Klinik bei einer stationären Psychotherapie) miteinfließen, und der Das Konzept der Matrix

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3. Grundlagenmatrix als Behälter aller kulturellen unbewussten und bewussten Bilder und Kommunikationen der zugrunde liegenden Kultur und Gesellschaft. Sie kann als Summe der bewussten und unbewussten Elemente des umgebenden sozialen Kontextes beschrieben werden. Alle drei Matrizes enthalten bewusste und unbewusste Teile. Aus einer im Sinne von Foulkes verstandenen Gruppenanalyse wird das Verhalten eines Einzelnen in einer Gruppe als Ausdruck der unterschiedlichen Matrizes verstanden. Innere Veränderungen sind daher eng mit äußeren verbunden – »willst du dich ändern, musst du deine Freunde verlassen« (Henry Miller). Es ist eine Herausforderung, in der Betrachtung von Verhalten nicht vom Individuum auszugehen, sondern die aktuellen und vergangenen Beziehungen in einer Gruppe als das Primäre zu betrachten. Das individuelle Ich wird hier innerhalb eines Netzwerks von Bezie­ hungen beständig neu konstruiert und dekonstruiert. Bewusste und nicht bewusste, vergangene und aktuelle Beziehungserfahrungen und -erwartungen innerhalb einer Gruppe bestimmen die Interaktion. Hopper (2003) beschreibt den Einfluss dieser Faktoren als das »soziale Unbewusste«. Auch individuelle Übertragungen von Gruppenmitgliedern in Gruppen können so als ein Versuch verstanden werden, die ursprüngliche Matrix ihrer Erfahrungen in einem für sie neuen Kontext (der aktuellen Gruppe) wieder herzustellen. In dieser neuen Matrix ist das Persönliche der Ausdruck sozialer Beziehungen. Ein Gegensatz zwischen Individuum und Gruppe, wie ihn Freud wiederholt beschrieben hat, ist für Foulkes nur Ausdruck der Betrachtungsweise des Beobachters – verbunden durch einen Wechsel der Fokussierung auf den Vordergrund und Hintergrund des Geschehens. Gesundheit ist in diesem Modell freie Kommunikation, Krankheit ist gestörte Kommunikation. Zwei Beispiele mögen dabei helfen, das Konzept einer Matrix von Gruppen zu verdeutlichen: 42

Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

In einer studentischen WG bleibt es trotz sorgfältigem »Casting« neuer Mitbewohner dabei, dass der Bewohner des einen Zimmers sich immer wieder als ein »Arschloch« entpuppt. Er geht im Streit, aber auch die Nachfolger »sind wieder so«. Nach deren Auszug entwickeln sich die Beziehungen wieder unproblematisch und wenig konflikthaft. Der Umzug einer erfahrenen Gruppenanalytikerin nach Berlin führte zu einer professionellen Selbstwertkrise – die neuen Gruppen »laufen« nicht, »Berliner« scheinen ganz anders zu sein als die Patientinnen und Patienten am Ursprungsort. Liegt es an einer besonderen »Grundlagenmatrix« in dieser Stadt? Dieses Erleben verändert sich erst nach einiger Zeit und Anstren­ gung. Die Gruppenanalytikerin überlegt, inwieweit die vorherige »leichte« und »gute« Arbeit in ihren Gruppen auch eine Folge der lange bestehenden therapeutischen »Matrix« der einzelnen Gruppen war: Neue Patientinnen und Patienten lernten so selbstverständlich die therapeutische Arbeit in einer Gruppe von ihren Mitpatientinnen und bekamen selbstverständlich eine entsprechende, förderliche Rolle in der Gruppe zugewiesen. Die Gruppenanalytikerin bedenkt den hohen Wert einer gut funktionierenden Gruppe – und den hohen Aufwand, eine solche Gruppe sich entwickeln zu lassen bzw. sie zu entwickeln.

»Selbst«reflexion wird in diesem Konzept zu einem Reflektieren der jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten und einem Prüfen der Auswirkungen dieser Zugehörigkeiten. Anwendungen dieser Sicht sind hilfreich für ein Verstehen der Trennung von Erlebenswelten in »Blasen« oder »digitale Welten« (siehe Kapitel 1.5), die Verständigung schwer machen. Ein »Mentalisieren der Matrix« stellt vor vielfältige gruppendynamische Herausforderungen wie etwa die, nicht schnell Partei in Konflikten zu beziehen, sondern sich – auch – der Gesamtgruppe der Beteiligten zugehörig zu fühlen und die eigene Zugehörigkeit zu einer der Konfliktparteien zu berücksichtigen. Das Konzept der Matrix

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2.4 Klein- und Großgruppenprozesse: Teams, Stationen, Kliniken und Supervision Die Fähigkeit, in Gruppen zu arbeiten, ist von großer Bedeutung. Sie wird heute in vielen professionellen Zusammenhängen gefordert und durch spezifische Hilfen für dieses Zusammenarbeiten gefördert. Supervision von Teams trägt dazu bei, Arbeitsbelastungen zu erken­ nen, zu reflektieren und sie besser zu bewältigen. Zugleich findet Supervision meist in Gruppen statt. »Supervision in Gruppen« (­Bakhit u. Staats, 2021) bietet besondere Möglichkeiten des Erlebens und Lernens. Auch informelle Gruppen bieten bereits etwas von diesen Möglichkeiten. Der fachliche Austausch in einer Gruppe mit Kolleginnen und Kollegen wird von fast allen (Einzel-)Psychotherapeutinnen geschätzt. Freud hat Psychoanalyse als einen »geselligen Prozess« beschrieben und mit diesem scheinbaren Paradox auch die Bedeutung einer Einbettung in fachliche Gruppen und Gesellschaften betont. Sie ist von sehr hohem Wert für die Qualität der Arbeit. Und sie ist auch eine Frage der eigenen Verortung, der Suche nach einem Platz in der Matrix: Wo will ich dazugehören? Wie gehe ich um mit den Abhängigkeiten und den Problemen der Verbindung? Viele Psychotherapeutinnen und -therapeuten erleben die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Intervisionsgruppen als zentralen Teil ihrer beruflichen Arbeit und als eine wichtige Entlastungs-, Lern- und Korrekturmöglichkeit. Die sichere Zugehörigkeit zu einer als wichtig angesehenen Gruppe spielt eine große Rolle bei der Bewältigung von Belastungen. »Es steht und fällt mit dem Team« – deutlich etwa bei der Bewältigung von Problemen und Konflikten durch eine Pandemie. Unterschieden werden können Kleingruppen, intermediate groups und Großgruppen. Sie alle haben ihre unterschiedlichen Herausforderungen, Regeln und Bedingungen. Ȥ In Kleingruppen (typischerweise etwa fünf bis zwölf Mitglieder) besteht ein direkter Kontakt der Gruppenmitglieder untereinander, der zu einer selbstverständlichen, verbal und nonverbal vermit­ 44

Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

telten Abstimmung führt. Die einzelnen Gruppenmitglieder können die anderen Gruppenmitglieder einzeln mental repräsentieren und auf sie individuell Bezug nehmen. Dieses Format der Gruppe ist typisch für das therapeutische Arbeiten in Gruppen. Ȥ In mittelgroßen Gruppen (intermediate groups) (etwa 15 bis dreißig Teilnehmer) finden sich differenzierte Beziehungen – einige Gruppenmitglieder kennt man gut, andere werden nicht mehr individuell wahrgenommen, sondern überwiegend oder nur als Teil der Gruppe, mit dem man meist über eine gemeinsame Arbeit, eine Aktivität oder Aufgabe mehr oder weniger dicht verbunden ist. Ein großer Stuhlkreis ist eine typische Anordnungsform. Dieses Gruppenformat ist typisch für Schulklassen oder Seminare in der Weiterbildung oder an Hochschulen. Ȥ In Großgruppen (ab dreißig bis zu vielen Hundert Mitgliedern) wird eine Wahrnehmung der anderen als Individuen nicht mehr möglich. Nicht mehr alle Mitglieder der Gruppe können gleichzeitig gesehen, wahrgenommen oder gekannt werden. Die Beziehung zur »Gruppe« wird zentral und prägt die Art des Umgehens miteinander und die dabei auftretenden Konflikte. Gruppenleitende wechseln hier zwischen den Rollen eines »ge­fähr­lichen Provokateurs« und des »Garanten für die Stabilität der Gruppe« (­Shaked, 2010). Sie stören und stabilisieren aktiv je nach Situation der Gruppe. Für die Bearbeitung von schwierigen Aufgaben spielt die Gestaltung der Gruppe eine große Rolle – besteht die Möglichkeit zu einem differenzierten Kennenlernen von anderen Positionen (wie in der Kleingruppe), auch wenn viele Menschen beteiligt sind (etwa bei einer Betriebsversammlung oder der Reorganisation eines Instituts oder einer Klinik)? Hier besteht die Gefahr, dass Großgruppenprozesse mit dem Erleben eigener Hilflosigkeit, dem Verschwinden von Differenzierungen in der Wahrnehmung anderer und basalen Abwehrprozessen (wie der Projektion eigener Wünsche) zu unglücklichen Entwicklungen führen. Die Wahl geeigneter Gruppenformate kann diese Entwicklungen verhindern. Klein- und Großgruppenprozesse

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Mit der »Fishbowl-Technik« kann beispielsweise auch mit großen Gruppen in einem Kleingruppenformat gearbeitet werden. Bei einer Besprechung zur Umstrukturierung einer Klinik sind alle Mitarbeiter im Raum; ein Stuhlkreis mit acht Stühlen in der Mitte des Raums ist zunächst mit Vertretern der verschiedenen Berufsgruppen besetzt, die ihre Sicht einbringen. Ein Stuhl bleibt aber immer frei – jeder aus der Großgruppe kann sich in die Kleingruppe begeben, dort eine Weile dabei sein und sich Gehör verschaffen bzw. von allen gehört werden. Dieses Format trägt dazu bei, auch in größeren oder großen Organisationen viele oder alle Betroffenen auch beteiligen zu können. Es behindert die Entstehung des Eindrucks, den Entwicklungen und Planungen »von oben« (mit den entsprechenden Projektionen) hilflos (wie in einer Großgruppe) ausgeliefert zu sein. Für Einzeltherapeutinnen und -therapeuten ist es auch von Interesse, die Bedeutung der unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten und Gruppenformate für das Erleben ihrer Patientinnen und Patienten zu verstehen. Eine stationäre psychotherapeutische Behandlung etwa ist – im Wesentlichen – »immer« eine Gruppentherapie. Die Pa­­ tien­ten leben in einer Stationsgemeinschaft mit ihren verschiedenen Untergruppen (z. B. der Gruppe der Bewohner eines Zimmers oder der Gruppe der Raucher). Die Erfahrungen in diesen Beziehungen sind für den Erfolg einer stationären Behandlung ein, wenn nicht der entscheidende Faktor. Was half? »Die Mitpatienten und der Kontakt zu denen« ist hier die häufigste Antwort. Die eigentliche (Klein-)Gruppentherapie innerhalb einer Klinik nimmt daher vorwiegend Einfluss darauf, wie Patienten in den zahlreichen informellen Gruppensituationen ihrer freien Zeit miteinander umgehen. Sie versucht, in der Kleingruppenarbeit eine Atmosphäre zu erhalten, in der gute Erfahrungen mit verschiedenen anderen Menschen möglich sind, und dazu die Werkzeuge zu vermitteln.

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Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse

3  Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

Zur Technik des Arbeitens in und mit Gruppen gehören zunächst die auch in der Einzeltherapie geforderten Qualitäten. Interventionen sollten zutreffend, kurz, taktvoll und gut vorbereitet sein, die aktuellen Beziehungen in der Gruppe berücksichtigen und zum richtigen Zeitpunkt erfolgen. Darüber hinaus ergeben sich in Gruppen zusätzliche Kriterien: Leiter oder Leiterin einer Gruppe entscheiden, ob sie die Gruppe ansprechen oder ein einzelnes Gruppenmitglied; ob sie sich auf die beobachtbare Interaktion in der Gruppe beziehen und/ oder auf etwas, das Gruppenteilnehmerinnen von sich berichten; ob eher Gemeinsames aufgegriffen wird oder Unterschiede betont werden (Staats, 2022). Deutlicher als in der Einzeltherapie stellt sich die Frage nach der Rolle des Leitenden, aus der heraus er zum Gruppengeschehen beiträgt: Übernimmt er die Rolle eines Fachmanns, arbeitet er im Rahmen einer Einzeltherapie in der Gruppe, spricht er überwiegend die Gruppe als Ganzes oder die Erfahrungen der einzelnen Gruppenmitglieder in Gruppen an? Hierzu liegen bisher kaum empirische Ergebnisse vor. Immerhin bieten klinisch-theoretische Modelle bewährte Überlegungen, an denen sich Gruppentherapeutinnen mit ihren Interventionen orientieren können. Integratives Modell ist das Bild einer Geburtshelferin (»der beste Platz für die Hände des Geburtshelfers sind die eigenen Hosentaschen«): Ein abwartendes »Vertrauen in die Gruppe« muss verbunden sein mit der Bereitschaft, rasch, zielgerichtet und entschieden Einfluss zu nehmen, wenn dies notwendig ist. In psychodynamischen Gruppen stehen unterschiedliche Konzepte zur Reduktion der Komplexität zur Verfügung. Indem Gruppenleitende ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf einen Aspekt des 47

Geschehens in der Gruppe richten, fokussieren sie die Arbeit der Gruppe. So fällt es leichter, sich zu orientieren. Handlungsorientierte Konzepte zur Leitung von Gruppen – unterschiedliche Methoden – werden in diesem Kapitel zusammengefasst dargestellt unter den für sie jeweils besonders charakteristischen Gesichtspunkten: Ȥ Was ansprechen? (Kapitel 3.1, Methode der Themenzentrierten Interaktion – TZI); Ȥ Wie ansprechen? (Kapitel 3.2, Gruppenanalyse, mentalisierungsbasierte Therapie und psychoanalytisch-interaktionelle Methode); Ȥ Normen und Regeln in Gruppen (Kapitel 3.3, Göttinger Modell der Gruppenpsychotherapie); Ȥ Mentalisieren in Gruppen (Kapitel 3.4, mentalisierungsbasierte Therapie und psychoanalytisch-interaktionelle Methode); Ȥ Übertragungen mentalisieren in Gruppen (Kapitel 3.5, Gruppenanalyse, psychoanalytische Gruppenpsychotherapie). Mit der Darstellung dessen, was in den einzelnen gruppenthera­peu­ tischen Methoden besonders klar konzeptualisiert und damit hervorgehoben ist, soll sich zugleich ein Gesamtbild der Psychotherapie in Gruppen ergeben – keine der oben genannten Methoden kann auf ein Merkmal reduziert werden, auch wenn sie eins besonders hervorhebt. Abschnitte zur zeitlichen Gestaltung des Verlaufs einer Gruppe (Kapitel 3.6) und zur Vorbereitung auf eine Gruppenpsychotherapie (Kapitel 3.7) runden diesen Abschnitt zur Gruppenpsychotherapie ab.

3.1  Was ansprechen? Beschreiben und konfrontieren Eine erste Aufgabe von Gruppenleiterinnen ist die Beschreibung dessen, was in einer Gruppe geschieht – eine Arbeit, die in Analogie zur Einzeltherapie als »Konfrontieren« bezeichnet werden kann. Aus der Fülle dessen, was in einer Gruppe beobachtet werden kann, heben Gruppenleiter etwas hervor, das ihnen für die Entwicklung der Gruppe wichtig erscheint. So lenken Sie die Aufmerksamkeit in der 48

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

Gruppe. Der Physiker Max Planck (o. J.) formulierte: »Wenn Sie die Art und Weise ändern, wie Sie die Dinge betrachten, ändern sich die Dinge, die Sie betrachten.« Eine erste handlungswirksame Differenzierung von Gruppen geschieht über die Richtung der Aufmerksamkeit der Therapeutinnen. Sie kann sich auf die Gruppe, den Einzelnen oder auf die Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern richten: Richten Gruppenleitende ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppe als Ganzes, so betrachten sie individuelle Beiträge der Gruppenmitglieder vorwiegend als Äußerungen eines einzelnen Objekts (der »Gruppe«), das ihnen gegenübertritt (z. B. Bion, 1961/2001). Was einzelne Grup­ penmitglieder von sich erzählen, wird in erster Linie als ein Beitrag zum Verlauf der Gruppe aufgefasst. Die Reduktion der Komplexität des Geschehens in der Gruppe ermöglicht die Anwendung von Konzepten aus der dyadischen Situation einer psychoanalytischen Einzeltherapie. Leiterinnen und Leiter beschreiben und deuten, was in der Gruppe passiert. Menschen, die an einer so geleiteten Gruppe teilnehmen, stellen sich auf diese Form der Behandlung ein. Sie beziehen sich auf das, was die Therapeutin anspricht und damit für wichtig erklärt. In diesen Gruppen berichten Mitglieder eher seltener aus ihrem Leben außerhalb der Gruppe. Die Betonung der aktuellen Situationen des Miteinanders der Gruppenmitglieder im Hier und Jetzt der Gruppe fördert die spielerische Freiheit der Gruppenmitglieder. Zugleich besteht die Gefahr, dass Patientinnen und Patienten sich mit ihren aktuellen Sorgen in der Gruppe wenig aufgehoben fühlen, wenn auf ihre Erzählungen nur als Ausdruck des Geschehens in der Gruppe Bezug genommen wird. Eine andere Möglichkeit, die Komplexität des Geschehens in Gruppen zu reduzieren, ist die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Gruppenmitglied, die sogenannte Einzeltherapie in der Gruppe. Leiter oder Leiterin richten ihre Aufmerksamkeit und ihre Interventionen auf die individuelle Geschichte eines Gruppenmitglieds. Andere Gruppenmitglieder hören zu, nehmen Anteil und können ihre eigenen Auffassungen beitragen. Interventionen Was ansprechen?

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aus der Einzelpsychotherapie werden mit geringen Modifizierungen übernommen. Sehr deutlich vertritt dieses Modell zum Beispiel die Schematherapie, die auch in Gruppen angewendet wird (Farell u. Schaw, 2013). In diesem Konzept nehmen Gruppenmitglieder über ein Erproben unterschiedlicher Identifizierungen an den Geschichten anderer teil und ziehen daraus Nutzen. Die Position des Beobachters und die Vernachlässigung der Beziehungen innerhalb der Gruppe und der Situation im Hier und Jetzt führen allerdings oft zu einer geringeren emotionalen Beteiligung der Gruppenmitglieder, die dann durch besondere Aktivität des Therapeuten ausgeglichen werden muss, der zum Beispiel immer wieder einzelne Gruppenmitglieder anspricht und so in die Gruppe »hineinholt«. In den im engeren Sinn gruppenanalytischen Konzepten richten Gruppenleitende ihre Aufmerksamkeit auf die Interaktionen in der Gruppe. Dieses Modell reduziert Komplexität weniger. Integrative Modelle von Gruppenpsychotherapie sehen diese drei Konzepte als unterschiedliche Perspektiven auf das Gruppengeschehen. Gruppenleitende sollen hier jede dieser Perspektiven einnehmen können. So ergibt sich ein umfassenderes Bild des Geschehens in einer Gruppe. Kurz und präzise hat die Methode der Themenzentrierten Interaktion (TZI; Cohn, 1975/2021) diesen Aspekt des Betrachtens von Gruppen zu einer zentralen Leitschnur gemacht: Gruppenleitende haben hier die Aufgabe, das Thema einer Gruppe, das Wir (die Gruppe) und das Ich (die einzelnen Mitglieder) gleichermaßen im Blick zu haben und dann zu intervenieren, wenn dieses Dreieck (Thema, Wir und Ich) in der Gruppenarbeit aus dem Gleichgewicht gerät. Sie weisen dann auf das hin, was fehlt, fragen danach oder ergänzen (z. B.: »Mir fällt auf, dass wir sehr über ein Thema diskutieren – wie geht es den einzelnen Teilnehmern dabei?«; »Frau M. hat von ihrer Partnerschaft erzählt, wie sind wir in der Gruppe damit umgegangen?«). Die beiden Hauptregeln der TZI – »Ich bin mein eigener Steuermann« (ich entscheide selbst, was und wie ich mich in der Gruppe äußere) und »Störungen haben Vorrang« (wenn mich etwas daran hindert, mich aktiv an der Gruppe zu beteiligen, ist das das Wichtigste und soll benannt 50

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

werden) – greifen zugleich den gruppentypischen Konflikt zwischen Autonomie und wechselseitiger Abhängigkeit (Interdependenz) auf. Diese von Gruppenleitenden eingeführten und direkt vertretenen Regeln ermöglichen es einer Gruppe oft rasch, ein gemeinsames Arbeiten zu entwickeln. Es entsteht ein einfaches und zugleich differenziertes Modell dazu, worauf die Gruppe ihre Aufmerksamkeit richten und wie sie arbeiten kann.

3.2 Wie ansprechen? Sich wundern, antworten und deuten Mit der Art ihrer Interventionen nehmen Gruppenleitende Einfluss auf das »Wie« des Arbeitens in einer Gruppe. Sie entscheiden sich, ob sie die Gruppe ansprechen oder ein einzelnes Gruppenmitglied; ob sie sich auf die beobachtete Interaktion in der Gruppe beziehen oder auf etwas, das Gruppenteilnehmer von sich berichten; ob sie eher Gemeinsames aufgreifen oder Unterschiede betonen. Mögliche Interventionen können als ein Sichwundern, Klären (mit Fragen verbunden), Antworten und Deuten beschrieben werden. In im engeren Sinn psychoanalytischen Gruppen wird Regression gefördert: Gruppenleitende zeigen wenig von sich als Person, bemühen sich, die Gruppe wenig zu strukturieren, greifen bevorzugt Gemeinsames der Patienten auf und nehmen Zuschreibungen der Gruppenmitglieder an. Dies gibt der Gruppe Freiraum für gemein­ same Phantasien und Interaktionen. Die Gruppe wird dann manchmal wie ein mütterliches Objekt der frühen Kindheit wahrgenommen. Auf diesem Hintergrund stellen sich vor allem präödipale Verhaltensmuster deutlich dar. Das Erleben der wechselseitigen Bezogenheit in der Gruppe, des geteilten Erlebensraums mit gemeinsamen Phantasien ist zentral. Deutungen beziehen sich vorwiegend auf die Gruppe als Ganzes. In analytisch orientierten und im engeren Sinn gruppenanaly­ tischen Gruppen (Foulkes, 1964/1974) wird Regression weniger Wie ansprechen?

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gefördert. Die Arbeit erfolgt an Konflikten, wie sie ähnlich auch in den Alltagsbeziehungen der Gruppenmitglieder auftreten. Gruppenanalyse eignet sich daher gut für die Veränderung von habituellen Beziehungsmustern, die Teil des Charakters geworden sind. Chronische Schwierigkeiten in Partnerschaften oder mit anderen Menschen am Arbeitsplatz stellen sich für viele Patienten überraschenderweise auch innerhalb der Gruppe dar. Therapeutinnen weisen in diesen Gruppen auf solche Interaktionen hin, sie klären und konfrontieren. Deutungen beziehen sich vorwiegend auf Abwehrphänomene. Sie greifen Beziehungen der Gruppenteilnehmer untereinander und zur Gruppenleiterin auf, um möglichst günstige Arbeitsbedingungen für die Gruppe zu erzielen. Mit einer entwicklungspsychologischen Konzeptualisierung stehen die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM) als Modelle für Entwicklungsstörungen im Bereich der Dyade (z. B. narzisstische Störungen) anderen Gruppenverfahren gegenüber, die für Störungen konzipiert wurden, die in einem triadischen Bereich entstanden sind – den »klassischen neurotischen« Störungen. In Gruppen, die Triangulierung, Mentalisierung und das Erleben von Alterität fördern wollen, gehen Therapeuten weniger auf die Dynamik der Gruppe als Ganzes ein. Sie treten in direkte Interaktion mit einzelnen Gruppenmitgliedern, stellen sich etwa als »mitspielender Sparringspartner« »selektiv authentisch« zur Verfügung (Staats, Bolm u. Dally, 2014). Eine direkte Rück­­meldung über das, was Patientinnen bei ihren Therapeutinnen bewirken (»Antwort«), bietet eine Erfahrung der Anerkennung. Eine Antwort im Sinne dieser Rückmeldung fördert die Ich-Funktion der Unterscheidung von Innen und Außen, von Selbst und Objekt und die Fähigkeit zur Antizipation der eigenen Wirkung. Entwicklungspsychologisch bietet sie das, was in der Eltern-Kind-Interaktion als ein »markiertes Spiegeln« beschrieben wird. Die Präsenz der anderen Gruppenmitglieder spielt für die Nutzung einer solchen Interaktion eine wichtige Rolle. Es kommt zu Perspektivenwechseln. Andere Gruppenmitglieder tragen aus ihrer 52

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

Sicht zum Geschehen bei und treten in Interaktion. Dies erleichtert den Wechsel in eine beobachtende oder mentalisierende Position. Manche Patienten leiten diesen Übergang nach einiger Zeit selbstständig ein, etwa mit einem »Ich glaube, jetzt ist es mir erst mal genug«. In anderen Situationen kann die Präsenz der teilnehmenden Gruppenmitglieder für die Entwicklung triadischer Beziehungen und für das Mentalisieren in der Gruppe genutzt werden. Fragen nach den Reaktionen der anderen Gruppenmitglieder sind verbunden mit einer Haltung, die an Verschiedenheit interessiert ist und diese aufzeigt. So können sich Mitglieder einer Gruppe ihrer eigenen Subjektivität bewusster werden. Wenn Gruppenmitglieder eine Interaktion in der Gruppe, die sie beobachtet haben, sehr unterschiedlich schildern, ruft das zunächst oft Erstaunen hervor. Manche Gruppenmitglieder können kaum glauben, dass ihre Sicht der Situation nicht die einzig richtige ist. Die Präsenz der anderen Gruppenmitglieder bringt dabei noch eine weitere Besonderheit mit sich. Äußerungen zu einem anderen Gruppenmitglied sind nicht mehr – nur – »privat«, sie geschehen auch »öffentlich«. Andere Menschen hören sie, reagieren auf sie, kommentieren. Und sie tun dies auf ihre individuelle, oft sehr unterschiedliche Weise. Auf diesen Aspekt einer Gruppe kann in einer Gruppentherapie oft mit Gewinn hingewiesen werden.

3.3  Normen und Regeln in Gruppen aushandeln Besonders in den ersten Sitzungen einer Gruppe geht es darum, Re­­ geln für die gemeinsame Arbeit in der Gruppe so mitzugestalten, dass möglichst alle Patienten gute Entwicklungsmöglichkeiten vorfinden. Die Gruppenleiter zeigen unaufdringlich, wie eine Gruppe funktioniert. Das Sprechen darüber, wie die Arbeit in der Gruppe für alle gut gelingen kann, ist bereits ein zentraler Bestandteil der Gruppentherapie. Gemeinsam wird etwas »ausgehandelt« – und dabei für die Gruppentherapie und für den Alltag außerhalb der therapeutischen Kleingruppe Wichtiges vermittelt. Gruppenleitende richten dabei ihre Normen und Regeln in Gruppen aushandeln

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Aufmerksamkeit auch auf Aspekte, mit denen das Geschehen in der Gruppe jenseits des Offensichtlichen verstanden werden kann. In kurzen psychoedukativen Gruppen werden Therapeutinnen klare Verhaltensregeln vorgeben und die Aufmerksamkeit ganz überwiegend auf die Vermittlung von Informationen und Lerninhalten legen. Auch verhaltenstherapeutische Gruppen sind deutlich über Regeln und Vorgaben strukturiert. In den ersten Sitzungen wird so Angst vermindert. Gruppenleitende stellen sich in ihrer Funktion in der Gruppe vor, Gruppenteilnehmenden werden vertraute Aufgaben gestellt. Die Gruppenmitglieder werden begrüßt und vorgestellt oder gebeten, sich einander vorzustellen. Gruppenregeln werden erläutert, für verbindlich erklärt (z. B. Umgang mit Weinen oder Herauslau­ fen, mit Schweigepflicht, Feedback, Pünktlichkeit, Beziehungen zu Gruppenteilnehmern außerhalb der Gruppensitzung) und eventuell ausgehändigt oder im Gruppenraum ausgehängt. Es entwickelt sich eine durch die Einnahme sozialer Rollen geprägte Arbeitsatmosphäre, die vielen Menschen vertraut ist und Sicherheit bietet. Diese Arbeitshaltung kann zusätzlich dadurch gefördert werden, dass Therapeuten in der Gruppe gemeinsame Aufgaben stellen – zum Beispiel mit der Frage nach dem, was die einzelnen Teilnehmer dazu beitragen können, dass eine gut zusammenarbeitende Gruppe entstehen wird. In im engeren Sinn analytischen Gruppen nehmen Gruppenleitende eine abwartende Haltung ein. Sie beobachten das Gruppengeschehen und beschreiben auftauchende Konflikte mit den Beiträgen und Bewältigungsversuchen der einzelnen Mitglieder. Damit schaffen sie eine Situation, in der die Gruppenmitglieder sich selbst als Gruppe organisieren müssen – eine »Minimal-« oder »Optimalstrukturierung« (König u. Lindner, 1991). Den einzelnen Gruppenmitgliedern wird eine Situation größerer Unsicherheit zugemutet. Die Gruppenmitglieder reagieren auf diese – anfangs auch belastende – Situation mit ihren charakteristischen Bewältigungsformen im Umgang mit Neuem, mit Beziehungen und mit Bindung. Gruppenleitende schauen darauf, wie die verschiedenen Gruppenmitglieder mit dieser Situation umgehen, und nutzen dies als Spielfeld, um 54

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

unterschiedliche Möglichkeiten zu zeigen. Es wird nicht (nur) über Verhalten gesprochen; eigene und andere Muster werden in ihren Auswirkungen erlebt und verschiedene Möglichkeiten gemeinsam ausprobiert und ausgehandelt. In diesen weniger stark strukturierten Gruppen richtet sich die Aufmerksamkeit der Gruppenleitenden auf die das Verhalten bestim­ menden Regeln, die sich die Gruppe – meist ohne explizite Formulierung – gibt. Diese Regeln wirken sich auf die Gruppe als Ganzes und die einzelnen Gruppenmitglieder aus. Sie sind meist bewusst, oder sie werden über ein Ansprechen ohne größere Schwierigkeiten bewusst (vorbewusstes Wissen). Für die einzelnen Gruppenmitglieder haben normative Verhaltensregeln in der Regel eine Funktion. Sie stellen einen Kompromiss zwischen Wünschen an andere und mit diesen Wünschen verbundenen Ängsten dar – eine interpersonale Form von Abwehr, die als »psychosoziale Kompromissbildung« (Heigl-Evers u. Heigl, 1973) beschrieben wird. Eine solche Verknüpfung von eigenen Wünschen und dem Verhalten in Beziehungen zu anderen ist in der Regel nicht bewusst; das eigene Verhalten in einer solchen interpersonalen Abwehr wird oft ganz selbstverständlich als Teil des impliziten Beziehungswissens (etwa: »So ist doch die Welt«) geschildert. Ein Beispiel: Eine häufige psychosoziale Kompromissbildung in Gruppen ist die Aufteilung in eine »Patientin« und viele »Helferinnen«: In jeder Gruppensitzung stellt sich ein Gruppenmitglied mit seinen Symptomen oder Konflikten in der Rolle eines Patienten zur Verfügung; die anderen Gruppenmitglieder gehen in die Rolle beratender, helfender Beziehungspartner. Rollen und Aufgaben in der Gruppe sind so einvernehmlich geregelt und klar. Die Helfenden sind in einer sicheren Position. Auch die »Patientin« kann sicher sein, sich nach »überstandener« Sitzung zunächst einmal erleichtert zurücklehnen zu können. Sie »war dran« und hat damit etwas für die Gruppe geleistet. Die spezifischen Wirkfaktoren von Gruppenpsychotherapie (freie Interaktion, Inszenierung und Bearbeitung von Beziehungsmustern, soziales Lernen …) kommen nur eingeschränkt zum Tragen. Normen und Regeln in Gruppen aushandeln

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Für die langfristige Entwicklung einer Gruppe ist es hilfreich, wenn Gruppenleitende die von der Gesamtgruppe abgelehnten Inhalte oder Mitglieder (»Omega-Position«; Schindler, 1969) besonders aufmerksam und wertschätzend betrachten. Hier zeigt sich oft ein abgewehrter Aspekt eines Konflikts in der Gruppe, der über die Integration abgewehrter Aspekte Weiterentwicklungen ermöglicht. So wird auch Sicherheit für das Erkunden von Beziehungen vermittelt. Beziehungen in der Gruppe und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit können über Beschreibungen der Gruppe als Ganzes und ihre Differenzierungen gefördert werden – Gruppenleitende erkunden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gruppenmitgliedern. Erst dann, wenn die Gruppenmitglieder füreinander Bedeu­ tung gewonnen haben, wird das Teilen inhaltlicher Aspekte wirksam. Wie viel der Therapeut von dem, was er verstanden zu haben glaubt, mitteilt, hängt von der Zielsetzung der Gruppe ab. Vor allem in längeren Gruppen ist es oft hilfreich, wenn der Therapeut sich zurückhält und den Gruppenteilnehmern nicht Arbeit abnimmt, die diese selbst leisten können. Seine Aufgabe ist es dann eher, Hemmnisse zu benennen, die einer Bewältigung dieser Aufgaben im Weg stehen. Gruppenleitende richten ihre Aufmerksamkeit daher stark auf den Prozess des Aushandelns, nicht in erster Linie auf das Ergebnis, sie beachten das »Wie«, weniger das »Was« (Streeck, 2007). Sie werben damit auch dafür, Einfühlung in die verschiedenen Seiten eines Konflikts zu entwickeln und damit verbundene Affekte zu benennen und zu verstehen. Gelingt es, auch die abgewehrte Seite im Erleben eines Patienten oder der Gruppe (z. B. eigene Aggressivität) anzusprechen und in einen Zusammenhang mit dem Geschehen in der Gruppe zu bringen, fördert dies Sicherheit und Offenheit in der Gruppe. Zugleich wird das Ausmaß der Regression begrenzt, da die Gruppenmitglieder aufgefordert sind, Verbindungen zwischen konflikthaften Aspekten zu erkunden und damit selbst aktiv werden. Man kann dies als eine Förderung von Selbstwirksamkeit beschreiben.

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Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

3.4  Mentalisieren in Gruppen Gruppentherapie soll das Erleben mit anderen erfahrbar machen und die Fähigkeit fördern, sich selbst von außen und andere – einfühlsam – von innen zu betrachten. Dazu ist das Einnehmen einer dritten, Interaktionen beobachtenden »Position« erforderlich. Diese – äußere und innere – Positionierung kann immer wieder verloren gehen – etwa bei großer Angst, unter Stress oder bei Aktivierung des Bindungssystems. Gruppen sind in besonderer Weise geeignet, das Entstehen und Verlieren dieser Position zu erleben und Auswirkungen dieser Veränderungen auf das eigene Verhalten zu erfah­ ren. Die Fähigkeit, eine solche Position zu erreichen und sie auch unter belastenden Umständen beizubehalten, wird aus entwicklungspsychologischer Sicht mit den Begriffen »Triangulieren« und »Mentalisieren« beschrieben. In Deutschland sind zwei gruppentherapeutische Methoden ins­­beson­dere mit der Förderung dieser Fähigkeit verbunden. Die men­­ta­li­­sierungsbasierte Therapie (für Gruppen: Schultz-Venrath u. Felsberger, 2016) bietet ein Konzept, in dem die Förderung des Nachdenkens über sich selbst in Beziehungen zu anderen (»Mentalisieren«) im Mittelpunkt steht. Die psychoanalytisch-­interaktionelle Methode bietet Wege an, auch mit Patientinnen und Patienten zu arbeiten, bei denen die Triangulierungsfähigkeit und das Mentalisieren stark eingeschränkt sind oder noch fehlen (Staats, 2017). Auch andere gruppentherapeutische Modelle bemühen sich um eine Adaptation ihres Vorgehens für Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten zur Reflexion und Selbstreflexion – klassische gruppenanalytische Ansätze ebenso wie ihre Weiterentwicklungen (z. B. Barlow, 2013; Lorentzen, 2014). Die mentalisierungsbasierte Therapie (Bateman u. Fonagy, 2004; Bolm, 2009; Schultz-Venrath, 2013; Taubner, 2015) bietet ein Konzept, in dem die Förderung des Nachdenkens über sich selbst in Beziehungen zu anderen, das »Mentalisieren«, ganz im Vordergrund der therapeutischen Arbeit steht. Die genaue Beschreibung Mentalisieren in Gruppen

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der »Modi« »vor« dem Erreichen von Mentalisieren (siehe Kapitel 1.2) ist ein zentraler Verdienst der MBT. Die Beschränkung auf diesen einen – zentralen – Faktor in der Theoriebildung gibt Orientierung und ist in vieler Hinsicht anziehend. Die psychoanalytisch-­ interaktionelle Methode (PIM – Heigl-Evers u. Heigl, 1994; Streeck u. Leichsenring, 2015; Staats, Bolm u. Dally, 2014) ist eine der wenigen Psychotherapiemethoden, die zunächst und primär für das Arbeiten in Gruppen entwickelt wurden. Gemeinsam ist beiden Methoden die Förderung von Triangulierung, Mentalisierung und des Erlebens von Alterität in Gruppen. Gruppenleitende achten auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten in einer Gruppe. Das einzelne Gruppenmitglied ist wichtig – das, was »zwischen« den Gruppenmitgliedern geschieht, rückt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Therapeuten »wundern sich« wohlwollend und zeigen eine ausgeprägte Präsenz und ein Interesse daran, den Einzelnen in seiner Besonderheit wahrzunehmen. Vieles wissen sie nicht und fragen daher auch nach. Überwiegend dyadisch strukturierte Gruppenmitglieder erleben dies als eine neue, ihnen zunächst fremde Form der Objektbeziehung. Sie kann rasch ein Lernfeld für andere Beziehungen werden – innerhalb der Gruppe, aber auch bei Partnern, Arbeitskollegen oder Kindern. Eine direkte Rückmeldung über das, was Patientinnen bei ihren Therapeutinnen auslösen, stellt die interaktionelle Verbindung zwischen beiden besonders heraus. Damit bietet dieses Vorgehen eine Erfahrung der Anerkennung als ein »Anderer«, der wirksam wird mit dem, was er sagt oder tut. Das vor allem in der PIM beschriebene »Antworten« im Sinne einer solchen Rückmeldung fördert die Unterscheidung von Innen und Außen, von Selbst und Objekt und die Fähigkeit zur Antizipation der eigenen Wirkung auf andere. Über ein differenziertes Feedback und die Beteiligung an der Entwicklung und Veränderung der Gruppe steigt die Fähigkeit, Verhalten in Beziehungen zu steuern und so befriedigendere Beziehungen zu führen.

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Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

3.5  Übertragungen mentalisieren in Gruppen Als eine besondere Form des Mentalisierens kann das Mentalisieren von Übertragungen verstanden werden. Gruppen bieten zunächst einmal ein Erleben von Interaktionen – die Teilnehmenden machen Erfahrungen mit anderen. Geschilderte Erfahrungen aus dem Alltag oder auch gemeinsame Erfahrungen in der Gruppe werden individuell unterschiedlich erlebt. Indem sich die Gruppenmitglieder wechselseitig kennen- und verstehen lernen, stoßen sie darauf, wie sie selbst Ereignissen Bedeutung geben und wie dies andere auf andere Weise tun. Ein Beispiel: In einer Gruppe wird über einen Chef gesprochen, der unzureichend informiere und Mitarbeitende böswillig schikaniere. Viele Gruppenmitglieder tragen ähnliche Erfahrungen bei. Nach einer Weile regt der Gruppenleiter an, auch über andere Möglichkeiten des Betrachtens der Interaktion nachzudenken. Er fragt nach, bestätigt, was er meint, verstanden zu haben, und gibt auch zu bedenken, ob er im Zusammenhang mit einer organisatorischen Frage am Gruppenanfang die Wünsche der Gruppe nach Klarheit enttäuscht habe. In der Gruppe wird von mehreren Mitgliedern berichtet, wie sehr sie sich immer wieder mit Chefs in Konflikte begeben und dort in der Regel für sie unglückliche Erfahrungen machen. Einige Gruppenmitglieder beschreiben, wie sie mit ihrem Gruppenleiter hier andere Erfahrungen machen – es sei für sie immer wieder überraschend, hier nicht kritisiert und »kleingemacht« zu werden. Die Gruppe wendet sich dann den Erfahrungen mit den eigenen Vätern zu. Viele Gruppenmitglieder bedauern, keinen hilfreichen, sie unterstützen­den Vater gehabt zu haben. Die (nicht bewusste) Entwertung väterlicher Figuren (und der mit ihnen verbundenen Wünsche und Erwar­tungen) geht mit dem Mentalisieren (der eigenen Position als Kind, aber auch als Vater oder Mutter von Kindern) zurück und weicht einer bezogenen Traurigkeit in der Gruppe.

Ein Mentalisieren von Übertragungen in der Gruppe wird durch die wiederkehrende Erfahrung erleichtert, dass die einzelnen Mitglieder Übertragungen mentalisieren in Gruppen

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der Gruppe Situationen zugleich ähnlich, aber auch unterschiedlich erleben. Interesse an anderen entsteht und damit auch Interesse daran, eigene Sichtweisen nicht mehr selbstverständlich als »klar« oder »richtig« zu beurteilen, sondern auch auf die eigene Subjektivität neugierig zu werden – Übertragungen alter Erfahrungen also zu mentalisieren. Dies ist oft – wie in dem Beispiel oben – mit starken Emotionen verbunden. So wird etwa eigenes aggressives Handeln bewusster erlebt; mit diesem Handeln verbundene Erwartungen und Ansprüche können dann oft in Teilen aufgegeben und betrauert werden. Wie sehr in Gruppen auf ein Mentalisieren von Übertragungen fokussiert werden kann, hängt von den Fähigkeiten der Gruppenmitglieder ab – wie hoch kann das Ausmaß an Vieldeutigkeit (Ambiguität) in der Gruppe sein, ohne dass die Angst (zu) groß wird und ein Einfühlen in andere, ein Mentalisieren, einschränkt? In den im engeren Sinn psychoanalytischen Gruppentherapien fördern Gruppenleitende die Entwicklung von Übertragungen, indem sie wenig von sich als Person zeigen und Zuschreibungen der Gruppe (z. B. Idealisierungen oder Abwertungen) annehmen. Erinnerungen an andere Gruppenerfahrungen (bei der Arbeit, aber auch in der Familie, Schule …) und das damit verbundene Wir-Gefühl färben dann die Wahrnehmung des Geschehens in der Gruppe. Phantasien über soziale Zusammenhänge und die damit verbundenen Beziehungen zur Welt tauchen auf. Die Gruppenmitglieder füllen das Geschehen in der Gruppe mit Erinnerungsspuren und Phantasien aus und können beobachten, wie diese Muster ihre aktuellen Beziehungen in der Gruppe färben. Übertragungsverzerrungen werden deutlich und können verstanden und zurückgenommen werden. Zum Verstehen von Übertragungen in der Gruppe gehört die aufmerksame Selbstreflexion der Gruppenleitenden. Ihre emotionalen Reaktionen gegenüber einzelnen Mitgliedern der Gruppe oder der Gesamtgruppe können als unspezifische Affektansteckung, aber auch als – mehr oder weniger bewusste – Übernahme von Rollen verstanden werden. Die Beobachtung der eigenen Reaktionen auf das Geschehen in der Gruppe (der Gegenübertragung) ist eine 60

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

Informationsquelle, die Überlegungen zu Narrativen in der Gruppe oder zu der Verlaufsgestalt einer Sitzung ergänzt. Nicht alles, was Gruppenleitende in einer therapeutischen Gruppe bei sich wahrnehmen, hat etwas mit der Gruppe oder einzelnen Teilnehmenden zu tun. Es ist erstaunlich und wird manchmal als »geradezu unheimlich« beschrieben, wie stark sich eigene Themen der Gruppenleitenden in den von ihnen geleiteten Gruppen wiederfinden. Ein interessiertes Einräumen eigener bewusster und nicht bewusster Beiträge zum Gruppengeschehen durch Gruppenleitende (statt etwa eines Schweigens aus einer missverstandenen Vorstellung von Abstinenz) trägt dazu bei, Beziehungen in der Gruppe interessiert, kreativ und mit wenig Angst zu erkunden.

3.6 Wann ansprechen? Den Verlauf einer Gruppe berücksichtigen Gruppen haben eine eigene Gestalt. Wenn der Leiter die spontane Entwicklung einer Gruppe zulässt und nicht stark strukturierend eingreift, durchläuft sie in der Regel verschiedene Phasen, die schulspezifisch unterschiedlich beschrieben werden, aber viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Zentral ist die Entwicklung von Kohäsion – dem Erleben der Gruppenmitglieder, »wichtiges Mitglied einer wichtigen Gruppe« zu sein. Selbstöffnung, das Teilen der emotionalen Bedeutung der geschilderten Probleme und die Besserung von Symptomen sind eng verbunden mit Kohäsion in Gruppen. Tuckman (1965) beschreibt die Entwicklung von Gruppen anhand der Phasen »forming, storming, norming, performing und adjourning«. Er lenkt so die Aufmerksamkeit auf eine anfänglich notwendige Zeit für die Bildung eines Erlebens von Gruppenzusammen­ gehörigkeit (»forming«), die Differenzierung in der Gruppe mit einer Bearbeitung von Konflikten (»storming«), die Bildung von Normen der Zusammenarbeit mit der dann folgenden gesteigerten Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Gruppe (»performing«) und Wann ansprechen?

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auf die Abschiedsphase (»adjourning«) mit der Verinnerlichung der gemachten Erfahrungen. Ähnlich fasst MacKenzie (1997) für therapeutische Gruppen die Entwicklung unter den Phasen »Engagement, Differenzierung, interpersonale Arbeit und Beendigung« zusammen. Ein Modell für eine solche zeitliche Entwicklung von Gruppen gibt Gruppenleitenden Sicherheit. Die Auseinandersetzungen in der Diffe­ renzierungsphase einer Gruppe kommen als eine zu erwartende Herausforderung – sie stellen den Zusammenhalt und die Arbeit einer Gruppe dann nicht infrage. Ein Verständnis der Entwicklung von Gruppen trägt zugleich dazu bei, die wichtigen Aufgaben der Gruppe »im Blick« zu behalten und sie zeitgerecht anzusprechen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Gruppenteilneh­ mern wurden von der Gruppenleiterin schon bei der Zusammenstel­ lung der Gruppe beachtet. Sie sind in den ersten Sitzungen und auch im weiteren Verlauf von großer Bedeutung. Über Interaktionen in der Gruppe werden Differenzen konstruiert und dekonstruiert (Mies, 2007). Es ist in längeren Gruppen ein Ziel, dass die Gruppe (in der als »storming« beschriebenen Phase) Unterschiedlichkeiten zwischen ihren Mitgliedern zunehmend zu integrieren und zu nutzen versteht. Aus einer bindungstheoretischen Perspektive kann die Gruppe als »sichere Basis« verstanden werden (Strauß, 2007), die zu einer Exploration von Interaktionen und intrapsychischen Prozessen einlädt. Ȥ Mit dem Beginn einer Gruppe stehen zunächst Erwartungen und Ängste der Gruppenmitglieder im Vordergrund. Beziehungen unter den Gruppenteilnehmerinnen werden begründet, die Bezie­ hung aus den Vorgesprächen mit der Gruppenleiterin wird durch das Verdeutlichen von Zielen der Arbeit in der Gruppe gefestigt. Es lohnt, sich für diese Phase Zeit zu nehmen und als Gruppenleiterin nicht zu sehr auf inhaltliche Fortschritte in der Gruppe zu drängen. Ȥ Eine dann folgende Phase des »Haltens« der Gruppenteilnehme­ rinnen durch die Gruppenleiterin fördert die Motivation der Grup­­penmitglieder für die Arbeit miteinander. Abbruchstendenzen von Gruppenmitgliedern, denen eine Anbindung hier 62

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

nicht gelingt, sollten von Gruppenleitenden frühzeitig erkannt und bearbeitet werden. Ȥ Mit dem Etablieren fester Beziehungen entwickelt sich eine Phase der Vertiefung und Verbreiterung, in der die Gruppe an Konflikten arbeitet und die Gruppenmitglieder erste Erfolge ihrer Arbeit feststellen. Innerhalb dieser Phase kommt es häufig zu Konflikten in der Gruppe und zu Auseinandersetzungen mit dem Leiter. Die Gruppe macht sich zunehmend unabhängiger von ihm oder ihr und ist dann arbeitsfähig: Inhaltliche Themen der einzelnen Mitglieder und ihre Auswirkungen auf die Beziehungen in der Gruppe stehen im Vordergrund. Ȥ Rückblick und Beurteilung der Behandlung kennzeichnen die Schlussphase des Verlaufs. Enttäuschte Erwartungen sollten ihren Raum bekommen – nicht alles ist in und durch die Gruppe »heil« geworden. Ein Betrauern von Verlusten (auch von unrealistischen Erwartungen) und die Frage der Verantwortung für das eigene Leben werden Thema. Die Sicht auf die Gruppe – und idealerweise das Leben – ist realistischer geworden. Zugleich können Gruppenleiter damit rechnen, dass in der Zeit nach Beendigung der Behandlung oft ein weiterer Rückgang der Symptomatik eintritt. Diese allgemeine Beschreibung der Entwicklung von Gruppen bietet Raum für unterschiedliche Verläufe. Klarere Strukturierungen des zeitlichen Verlaufs von Gruppen finden sich in verhaltensthera­ peutischen und in störungsspezifischen psychodynamischen Kurzgruppen sowie in der Methode der intendierten dynamischen Grup­­­pen­­psychotherapie (IDG) (Übersicht in Sommer, 1997). Die inten­dierte Gruppentherapie betont in ihrem Konzept die Verlaufsgestalt der Gruppe. Therapeuten nehmen hier auf den Entwicklungsverlauf der Gruppe direkt Einfluss und ändern dazu in dieser Grup­ pen­­methode von Phase zu Phase aktiv ihr Verhalten. Unabhängig vom Wissen über den Verlauf von Gruppen – eine erste Gruppensitzung ist für alle Teilnehmenden eine Herausforde­ rung. Die sich noch nicht kennenden Gruppenmitglieder betreten Wann ansprechen?

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ihren Raum in der Regel mit einer ängstlichen Erwartung und verlassen ihn befreit mit einem Gefühl der Erleichterung. »So schlimm wie befürchtet« ist die erste Gruppensitzung in aller Regel nicht. Yalom (1970/2019) beschreibt daher die erste Gruppensitzung »immer« als einen Erfolg und nimmt damit auch dem Gruppenthera­peuten etwas von seiner Erwartungsangst. Häufig wird zunächst geschwie­ gen. Das Fehlen formaler Umgangsregeln trägt dazu bei, dass sich die einzelnen Gruppenmitglieder regressiv auf ihnen vertraute Muster der Kontaktaufnahme zurückziehen und sich damit rasch in einer sehr persönlichen Art und Weise vorstellen. Die Kommunikation in der Gruppe wird so als deutlich von der im Alltag unterschieden wahrgenommen. Therapeutinnen tragen dazu bei, dass die einzelnen Gruppenmitglieder untereinander Beziehung aufnehmen, und vermitteln über Rückmeldungen und erste Deutungen die Art der Arbeit in der Gruppe. Eine Reduktion von Angst und die Förderung von Vertrauen, Offenheit und Zusammenhalt in der Gruppe geschieht über eine akzeptierende, respektvolle und neutrale Haltung und die Fähigkeit der Gruppenleiterin, die Arbeit in der Gruppe treffend zu beschreiben und für die einzelnen Mitglieder nutzbar zu machen. Gruppenmitglieder lernen sich kennen und verabschieden sich wieder voneinander – zwei zentrale Punkte jeder Psychotherapie. In Gruppen aktivieren Abschiede wiederholt Angst vor dem Verlust von Objekten und vor der eigenen Trennungsaggression. Sie bieten damit große therapeutische Entwicklungsmöglichkeiten  – sowohl für die sich aktiv Trennenden als auch für Zurückbleibende. Abschiede aus einer Gruppe verunsichern. Häufig werden sie lange verdrängt, verleugnet oder auf andere Weise von der Wahrnehmung und Bearbeitung in der Gruppe ausgeschlossen. Gruppenleiter sollten früh – spätestens nach der Hälfte der erwarteten Zeit eines Mitglieds in der Gruppe – und regelmäßig das Ende der Zeit in einer Gruppe ansprechen. Bei einem vorzeitigen Beenden (Abbruch) empfiehlt es sich sehr, den Abschied in der Gruppe zu gestalten. So kann etwa mit allen Gruppenmitgliedern in den Vorgesprächen vereinbart werden, dass sie – nach Ankündigen ihres Ausscheidens in der Gruppe – noch 64

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

dreimal an einer Sitzung teilnehmen. Dies kann einleuchtend mit dem Schutz für das ausscheidende und zugleich dem Schutz der zurückbleibenden Gruppenmitglieder begründet werden. Viele Gruppentherapeuten nehmen auch über Bilanzgespräche auf den Verlauf einer Gruppe Einfluss. Im stationären Setting ist eine Kombination aus Gruppenpsychotherapie und Einzelgesprächen Standard. Aber auch die ambulante Gruppenpsychotherapie bietet Möglichkeiten, Patienten in Gruppenpsychotherapie zusätzliche Einzelgespräche anzubieten. Hier geht es um die Aufrechterhaltung und eventuell Modifikation des vereinbarten Behandlungsplans. Die Therapeutin gibt hier direkt Feedback, beschreibt, was sie beobachtet hat, und lenkt die Aufmerksamkeit auf Fortschritte und in der Gruppe deutlicher werdende Problembereiche. Ganz ähnlich berichtet der Patient dann von seinen Erfahrungen im Alltag und Veränderungen seit dem letzten Einzelgespräch. Gefragt wird danach, ob der Patient mit dem, was er in der Gruppe erlebt hat, in seinem Alltag etwas anfangen konnte. Dann ist die Therapeutin dabei behilflich, Verbindungen zwischen den Erfahrungen in der Gruppe und Veränderungen im Alltag herzustellen und auf diese Weise den Nutzen der Gruppentherapie zu steigern. Ziele für die nächsten Monate in der Gruppe, die Aussichten auf Erfolg, erkennbare Widerstände und mögliche Bewältigungsstrategien werden besprochen.

3.7 Vorbereitung und Beginn einer Gruppenpsychotherapie Die Zusammensetzung einer ambulanten Psychotherapiegruppe ist ein Schlüssel zu ihrem späteren Erfolg. Vergleichbar mit einer Einladung zu einem Fest gilt es, verbindende Gemeinsamkeiten und anregende Unterschiede zwischen den Gruppenteilnehmern zu bedenken. Über ein Teilen gemeinsamer Erfahrungen, zum Beispiel ein Symptom, erreichen homogene Gruppen meist rasch eine gute Gruppenkohäsion und damit früh eine Arbeitsfähigkeit. Wird Vorbereitung und Beginn einer Gruppenpsychotherapie

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dagegen eine Gruppe zusammengesetzt, in der primär unglückliche Beziehungsmuster, Übertragungsbereitschaften oder Auswirkun­gen von Persönlichkeitszügen bearbeitet werden sollen, ist es wünschenswert, die Gruppe mit möglichst unterschiedlichen Teilnehmerinnen zusammenzusetzen. So ergeben sich über lange Zeiträume der Therapie neue Anregungen. Bei aller Verschiedenheit der Gruppenteilnehmer muss zugleich darauf geachtet werden, dass ein Gruppenmitglied nicht in die Rolle eines Außenseiters gelangt, weil er gemeinsame Erfahrungen der anderen Gruppenmitglieder nicht teilen kann. Jedes Gruppenmitglied muss die Möglichkeit haben, zur Kohäsion der Gruppe beizutragen und von ihr zu profitieren. Für stationäre Gruppenpsychotherapie gelten diese Überlegungen zum Zusammenstellen einer Gruppe nicht oder nur eingeschränkt. Hier leben die die Patienten in einer Stationsgemeinschaft mit ihren verschiedenen Untergruppen. (Klein-)Gruppentherapie innerhalb einer Klinik nimmt hier Einfluss darauf, wie Patienten in ihren zahlreichen informellen Gruppensituationen des Klinikalltags miteinander umgehen – der zentrale Wirkfaktor stationärer Psychotherapie. Zukünftige Gruppenteilnehmerinnen haben zunächst meist kaum eine Vorstellung von der Arbeit in einer Gruppe. Sie wissen wenig dazu, wie sie daraus Nutzen ziehen werden. Der Beginn einer Gruppe kann erfolgreicher verlaufen, wenn die Gruppenmitglieder auf diese Arbeit vorbereitet werden. Die Vorbereitung der einzelnen Teil­neh­ menden (»pre-group treatment«) reduziert die Abbruchraten erheblich. In drei bis zehn Einzelsitzungen mit den Gruppenleitenden kann eine therapeutische Beziehung aufgebaut werden, die über anfängliche Schwierigkeiten in der Gruppe hinweghilft. Zukünftigen Gruppenmitgliedern wird die Art der Arbeit möglichst offen vorgestellt und erklärt. Es ist günstig, sich Befürchtungen deutlich schildern zu lassen (etwa: »Wie könnte es für Sie im ungünstigsten Fall in der Gruppe schlecht laufen?«) und die aufgrund der Psychodynamik zu erwartenden Schwierigkeiten detailliert vorzuüberlegen (z. B.: anam­nestisch häufige Abbrüche von Beziehungen bei Enttäuschungen, ohne dies dem Gegenüber mitzuteilen – wird dies auch 66

Mit Gruppen arbeiten und Gruppen leiten

in der Gruppe so werden? Können Patient und Therapeut etwas dazu beitragen, damit es in der Gruppe nicht dabei bleibt?). In psychodynamischen Gruppen wird mit den Informationen zur Arbeit in der Gruppe oft darauf hingewiesen, dass die geschilderten Schwierigkeiten mit anderen Menschen sich voraussichtlich auch in der Gruppe einstellen werden – mit den anderen Gruppenmitgliedern. Eine solche »Inszenierung« in der Gruppe ist aus therapeutischer Sicht – und im Gegensatz zu den Hoffnungen von Patientinnen und Patienten – wünschenswert. Wenn sich in der Gruppe die Konflikte darstellen, die die Teilnehmenden im Umgang mit anderen befürchten, können sie dort ihren Beitrag daran erkennen und andere, neue Bewältigungswege erproben. Auf diese Überlegungen aus dem Vorgespräch kann in der Gruppentherapie dann zurückgegriffen werden, wenn Konflikte mit viel affektiver Beteiligung auftreten und Teilnehmende stark belasten (ausführlicher: Staats, 2005). Barlow (2013) nennt als weitere Vorteile der Gruppenpsychotherapie die Möglichkeit, Hilfe zu geben und zu empfangen, das Lernen über Identifizierungen und über das Beobachten anderer. Verletzungen des Rahmens müssen bei Beginn einer Gruppe an­­ gesprochen werden. Dies richtet die Aufmerksamkeit der Gruppenmitglieder auf die Regeln des gemeinsamen Arbeitens. So wird auch Sicherheit vermittelt. Eine Konfrontation mit dem Verletzen von Rahmenbedingungen (z. B. dem Nutzen eines Handys) kann mit Antworten (»Ich kann nicht gut nachdenken, wenn Sie auf dem Handy tippen, das stört mich«) ergänzt werden. Gruppenmitglieder reagieren auf klare Rahmensetzungen in der Regel mit einer weiteren Selbstöffnung in der Gruppe, wenn die Leitenden respektvoll und mit dem erkennbaren Bemühen um die Gruppe und ihre Teilnehmer intervenieren.

Vorbereitung und Beginn einer Gruppenpsychotherapie

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4  Über Gruppen nachdenken

Psychotherapie wird oft in Gruppen gelernt – in Seminaren, Super­ visions- und Intervisionsgruppen, in Balintgruppen oder in der Selbsterfahrung in Gruppen. Lern- und Weiterbildungsgruppen werden im Rahmen dieses kurzen Buches nicht explizit behandelt. Eine ausführliche Darstellung der vielen Aspekte des Lernens in Gruppen und der kontroversen Diskussionen dazu finden Sie in dem Buch »Supervision in Gruppen. Gemeinsam lernen und erkennen« (­Bakhit u. Staats, 2021). In den zwei hier folgenden Abschnitten wird auf aktuelle theoretische und berufspolitische Diskussionen zu »Gruppe« und Gruppenpsychotherapie und auf Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung zum Gruppenpsychotherapeuten hingewiesen.

4.1 Geschichte der Gruppenpsychotherapie und aktuelle Herausforderungen Eine aktuelle Zusammenfassung der Geschichte der Gruppenpsychotherapie mit differenzierenden Verweisen auf weitere Darstellungen findet sich bei Strauß (2022). Er beschreibt eine starke Bezugnahme vieler Autorinnen und Autoren auf ihre eigene Schulrichtung. Nicht nur für die Geschichte der Gruppenanalyse, sondern auch für ihre theoretische und berufspolitische Weiterentwicklung stellt dies eine Schwierigkeit dar. Integrative Modelle der Gruppenpsychotherapie stehen heute neben stark auf eine Gründerpersönlichkeit oder ein spezifisches Konzept ausgerichteten Modellen. Neugier und Verständigung zwischen Forschern, Theoretikern und Praktikern ent68

wickelt sich; es gibt aber auch im Bereich der Gruppenpsychotherapie ein Beharren der Therapieschulen auf ihrer Eigenständigkeit, Überlegenheit und ihrer eigenen Sprache. Bezüge zu anderen Wissenschaften werden dann manchmal nur auszugsweise im Sinne der Bestätigung eigener Annahmen hergestellt. Die Wirksamkeit von Gruppenpsychotherapie ist inzwischen vielfach und umfassend belegt. Gruppenpsychotherapie ist effektiv, effizient und äquivalent zu einzeltherapeutischen Ansätzen (z. B. Yalom u. Lescsz, 2020). Vor diesem Hintergrund wird ihre Anwendung in der Versorgung in Deutschland gefördert. Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie haben sich auch theoretisch weiterentwickelt zu einer zunehmend eigenständigen Behandlungsmethode mit eigenen Konzepten und Modellen. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird vermehrt die Stellung und Einordnung von Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse innerhalb der verschiedenen Ansätze und Verfahren in der Psychotherapie diskutiert: Ist das Merkmal »Gruppe« für das psychotherapeutische Vorgehen entscheidend? Wird sich Gruppenpsychotherapie damit als ein eigenes Verfahren (auch im Sinne der Psychotherapierichtlinien) etablieren und die Verbindungen zu den Einzelverfahren (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie) lösen? Finden sich also stärkere Gemeinsamkeiten in dem Arbeiten mit Gruppen allgemein oder sind Gruppen stärker mit den jewei­ ligen Konzepten der Einzeltherapieschulen verbunden – handelt es sich also eher um eine Anwendung des Verfahrens in einem anderen Setting? Inhaltlich wird vonseiten der Anhänger einer stärkeren Unab­hän­ gigkeit von »Gruppe« vertreten, dass Gruppenanalyse die Auf­­merk­ samkeit auf die Abhängigkeit des Einzelnen von den Bezie­hun­gen in den Gruppen lenke, denen er angehört. Eine eigene grup­pen­ana­lytische Grundhaltung wird beschrieben, aus der heraus die Gemeinsamkeiten des Arbeitens mit Gruppen auch in unter­schied­lichen Verfahren herausgearbeitet werden. Die American Psychological Association (APA) hat »Gruppenpsychologie und Gruppenpsychotherapie« Geschichte der Gruppenpsychotherapie

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inzwischen als eine eigene berufliche Spezialisierung anerkannt. Barlow (2013) hat einen Katalog der für »Gruppenarbeit« (»group work«) notwendigen Kompetenzen vorgelegt und den breiten Anspruch dieses Verfahrens betont. Einige gruppenanalytische Vertreter gehen noch einen Schritt weiter und betrachten unter Bezug auf Foulkes Einzeltherapie als eine besondere Form der Gruppenanalyse – auch in einer Einzeltherapie gehe es um die konflikthafte Beziehung einer Person zur Gesellschaft und ihren Gruppen. In Auseinandersetzungen zwischen Einzel- und Gruppentherapeuten kann man diese Position als eine zugespitzte Antwort auf die häufiger vertretene Haltung lesen, Gruppentherapie (nur) als eine Anwendung von Methoden der Einzelpsychotherapie in einem anderen Setting zu betrachten. Diese Diskussion hat deutliche praktische Auswirkungen. Wenn »Gruppe« inhaltlich und berufspolitisch das entscheidende Krite­ rium für die Bestimmung als ein Verfahren wird, müssen sich Psycho­­ therapeutinnen in ihren Praxen auf Gruppen oder auf Einzeltherapien spezialisieren. Eine Ausbildung in Gruppenpsychotherapie als Schwer­­ punkt macht es dann voraussichtlich weniger leicht möglich, auch Einzeltherapien anzubieten. Einzeltherapie wäre eine weitere Qualifika­­ tion, die etwa im Rahmen eines »Zweitverfahrens« erlernt werden muss. Die Festlegung auf Gruppenanalyse oder Gruppenpsycho­ therapie als Verfahren einer Praxis stünde dann in einer gewissen Konkurrenz zu den bisherigen Verfahren (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie). In der Praxis wird dies voraussichtlich nicht zu einer flexiblen Versorgung von Patientinnen und Patienten beitragen.

4.2  Gruppen leiten lernen – Ausbildungsmodelle »Ziel einer Weiterbildung zum Gruppenpsychotherapeuten ist es, als Mitglied einer Gruppe Teil dieser Gruppe zu sein, in Interaktionen mit anderen Mitgliedern zu fühlen, zu denken und zu handeln, über diese Interaktionen und über die Gruppe als Ganzes in der Gruppe 70

Über Gruppen nachdenken

nachzudenken, Gruppenprozesse zu verstehen und dieses Verstehen den einzelnen Gruppenmitgliedern und der Gruppe in angemessener Form zur Verfügung stellen zu können« (Dally, 2014b, S. 391). Die meisten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten lernen Gruppenpsychotherapie in ihrer Ausbildungszeit an Kliniken kennen. In der stationären Psychotherapie werden zahlreiche unterschiedliche Gruppen angeboten – allerdings in der Regel ohne dass die Gruppenleitenden für diese Aufgabe vorbereitet, ausgebildet oder supervidiert werden. Kolleginnen und Kollegen übernehmen Gruppen, ohne zuvor erfahrene Gruppenleitende beobachtet und von ihrem Denken gehört zu haben. Diese Situation ist in vieler Hinsicht unglücklich. Sie steht auch in einem deutlichen Widerspruch zu den Anforderungen in der Weiterbildung von psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten. Hier sind in deren Weiterbildungsordnungen gruppenpsychotherapeutische Kompetenzen in den letzten Jahren stärker spezifiziert und verankert worden (z. B. Strauß, 2022). Wie also können die entsprechenden Kompetenzen erworben werden? Im deutschsprachigen Raum existieren zahlreiche gruppenanalytische Institute mit regionalen und überregionalen Angeboten. Sie sind in der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G, www.d3 g.org) organisiert. In ihren theore­ tischen Schwerpunkten und Ausbildungskonzepten unterscheiden sie sich oft deutlich. Dally (2014b), Strauß (2022) und andere kritisieren, dass vielfach Weiterbildungsteilnehmer in gruppenanalytischen Instituten zu wenig für die Arbeit in stationärer Psychotherapie ausgebildet werden. Hier haben sich inzwischen allerdings an und neben den In­sti­tuten der D3G Angebote entwickelt, über die Gruppentherapeuten in Kliniken schnell Basiskompetenzen in der Leitung stationärer Gruppen erwerben können. Wie in der Ausbildung zum Einzeltherapeuten umfasst die grup­­ pentherapeutische Aus- oder Weiterbildung Selbsterfahrung in der Gruppe, Theorie und die Supervision eigener Gruppenpsychotherapien. An einigen Instituten ist auch die Beobachtung von Gruppen, die von erfahrenen Therapeuten geleitet werden, Teil des CurGruppen leiten lernen

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riculums. Vielfach liegt der Schwerpunkt einer gruppenanalytischen Ausbildung auf der Selbsterfahrung in einer Gruppe von Weiterbildungsteilnehmenden. Dies ist ein zentraler Teil der Weiterbildung – eine zu einseitige Schwerpunktsetzung führt aber dazu, dass Weiterbildungsteilnehmer ein für die praktische Arbeit mit Patientinnen und Patienten wenig geeignetes Modell des Arbeitens mit Gruppen verinnerlichen. Viele Absolventinnen und Absolventen einer gruppenanalytischen Weiterbildung mit dieser Schwerpunktsetzung schätzen dann den persönlichen Gewinn ihrer Gruppenausbildung hoch ein. Sie bieten aber trotz abgeschlossener Qualifikation selbst später in ihren Praxen keine Gruppen an. Dieser Befund, dass viele Absolventinnen einer gruppenanaly­ tischen Ausbildung nicht selbst Gruppen in ihrer Praxis anbieten, wurde lange unter dem Aspekt einer unzureichenden Vergütung von Gruppen und des Aufwands der Organisation von Gruppen in einer Praxis betrachtet. Diese Hindernisse sind aber inzwischen zumindest teilweise beseitigt. Diskutiert wird daher auch die Frage, inwieweit die Gestaltung der Aus- und Weiterbildung Einfluss auf die spätere Tätigkeit als Gruppenpsychotherapeut/Gruppenanalytikerin hat (z. B. Staats, Falck, Dally u. Döring, 2014; Staats u. Pflichthofer, 2016). Die Supervision von eigenen Erfahrungen mit Gruppen – am besten in einer vertrauten eigenen Lerngruppe – ist zentral für das Erwerben gruppentherapeutischer Kompetenzen. Das Umgehen mit Angst vor der Offenheit des Geschehens in einer Gruppe, die Lust an den Herausforderungen und dem Erleben von »Gruppe« kann in einer Supervisionsgruppe erlebt und reflektiert werden. Das fördert die Identifikation mit der Rolle einer Gruppenleiterin oder eines Gruppenleiters – um Gruppen gut leiten zu lernen, braucht es eine Lerngruppe.

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Über Gruppen nachdenken

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