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German Pages 296 [312] Year 2023
Katharina Mairinger-Immisch Mehrdeutige Körper
Religionswissenschaft Band 35
Meiner Schwester Elisabeth für ihre stete Bereitschaft zu einem regen Gedankenaustausch. Meinem Mann Ralf für sein offenes Ohr und die liebevolle Unterstützung.
Katharina Mairinger-Immisch (Dr. theol.), geb. 1991, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Theologische Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und promovierte an der Universität Wien zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Seit 2020 arbeitet sie außerdem als Deutsch- und Religionslehrerin in Baden-Württemberg.
Katharina Mairinger-Immisch
Mehrdeutige Körper Über die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie und Kirche
Dissertation, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, 2022. Gutachter: Prof. Dr. Angelika Walser (Salzburg), Prof. Dr. Martin M. Lintner (Brixen) Die Autorin dankt folgenden Institutionen und Personen für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation: der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) dem Deutschen Akademikerinnenbund e.V. dem Bistum Essen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466520 Print-ISBN: 978-3-8376-6652-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6652-0 Buchreihen-ISSN: 2703-142X Buchreihen-eISSN: 2703-1438 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Inhalt
Vorwort und Danksagung ...................................................................... 7 Einleitung ......................................................................................9 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.
Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive........... 15 Medizinisch-biologische Grundlagen der Geschlechtsentwicklung .......................... 16 Medizinische Klassifikationen und Indikationen im Vergleich .............................. 34 Historische und zeitgenössische Denkformen, Umgangsformen und Behandlungspraxen ....47 Existenzielle Perspektiven und ethische Fragestellungen .................................. 69 Zusammenfassung erster Teil: bleibende Herausforderungen ............................... 81
2.
Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Intergeschlechtlichkeit im römisch-katholischen Feld .......................................................... 83 Grundlagen des Habituskonzepts und der Theorie der Männlichen Herrschaft............... 84 Anamnese: Charakterisierung des religiösen Feldes .......................................109 Historische Aufarbeitung: Wandel des Geschlechterhabitus und geschlechtsspezifischer Anerkennungsparadigmen im römisch-katholischen Feld .....132 Intersektionale Analyse: Auswirkungen symbolischer Gewalt auf intergeschlechtliche Menschen im römisch-katholischen Feld ......................... 151 Zusammenfassung zweiter Teil: Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen als theologisches und kirchliches Desiderat ....................................168
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
3.
Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie ........................................................................169 3.1. Intergeschlechtlichkeit als Thema der Theologie .......................................... 170 3.2. Grundlagen der theologischen Anthropologie Thomas Pröppers............................184 3.3. Freiheit und Kontingenz: kritische Diskussion der Theologie der Freiheit Thomas Pröppers ........................................................................ 197
3.4. Implikate einer Theologie der Freiheit für eine kontingenzsensible Geschlechteranthropologie ................................... 211 3.5. Zusammenfassung dritter Teil: Bedingungen und Möglichkeiten der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld .......... 250 4.
Resümee und theologisch-ethischer Ausblick: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik ......................................... 253
Allgemeines Abkürzungsverzeichnis......................................................... 261 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 263 Tabellenverzeichnis......................................................................... 265 Literaturverzeichnis ........................................................................ 267 Allgemeine Hilfsmittel ........................................................................ 267 Kirchliche Quellentexte ....................................................................... 267 Primärliteratur ............................................................................... 270 Sekundärliteratur ............................................................................ 272 Online Quellen................................................................................ 289 Film ......................................................................................... 294
Vorwort und Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde von der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien 2022 als Dissertation angenommen. Diese entstand im Rahmen meiner dortigen Anstellung am Institut für Systematische Theologie und Ethik als Universitätsassistentin (prae-doc). Für die auf diesem Weg entstandenen Gespräche, Vernetzungen und Freundschaften möchte ich mich bei zahlreichen Personen bedanken, die mich während der Promotionszeit begleitet, ermutigt und unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt. ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Marschütz, der das Projekt von den ersten konzeptuellen Entwürfen bis hin zu den letzten sprachlichen Feinschliffen formal und inhaltlich hervorragend betreut hat. Seine Strukturiertheit, Genauigkeit und Zuverlässigkeit haben die Art und Weise der Zusammenarbeit sehr bereichert. Durch seine konstruktiven Anmerkungen und Korrekturen, die beiläufigen und ausdrücklichen Literaturhinweise und die jederzeitige Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft erfuhr ich fachlich und persönlich jene Unterstützung, die zum Gelingen meiner Arbeit und meiner persönlichen Entwicklung beigetragen hat. Bedanken möchte ich mich außerdem für die wirklich differenzierte Auseinandersetzung mit und konstruktive Kritik zu meiner Arbeit seitens meiner zwei Gutachter*innen Prof. Dr. Martin M. Lintner (Brixen) und Prof. Dr. Angelika Walser (Salzburg). Für die kritische Lektüre des theologischen Teils gilt mein aufrichtiger Dank Jun.-Prof. Dr. Magnus Lerch (Köln) und Mag. Alexandra Palkowitsch (Wien), deren Expertise und Anregungen für meine Arbeit durchwegs sehr bereichernd waren. Bedanken möchte ich mich auch für das scharfe Auge von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß (Merseburg), welcher den medizinisch-biologischen Teil dieser doch primär theologischen Arbeit einer kritischen Prüfung unterzogen hat. Der Dank für eine vertiefte Auseinandersetzung und Diskussion rund um das Thema der Soziologie des Leibes von Pierre Bourdieu gilt Mag. Dr. Gerhard Unterthurner (Wien). Außerdem danke ich Mag. Martin Höhl für die kritische Auseinandersetzung mit meinem sozialphilosophischen Teil. Dem Verein Intergeschlechtliche Menschen Österreich, dem Verein Intersexuelle Menschen e. V. (Deutschland) sowie intergeschlechtlichen Privatpersonen danke ich für die zahlreichen Gesprächsmöglichkeiten, die kritischen Überprüfungen meiner Publikationen und Vortragstexte und die zuverlässige und bereitwillige Kooperation zu gemeinsamen Lehrveranstaltungen an den katholisch-theologischen Fakultäten der Universität Wien und Freiburg.
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Zum Gelingen der Arbeit haben außerdem die lebendigen Diskussionen und Fachgespräche am Fachbereich Theologische Ethik beigetragen. Die zahlreichen Anregungen, Ermutigungen und Förderungen, die mir hier zuteilwurden, haben mir geholfen, mein theologisches Profil zu schärfen und mich persönlich weiterzuentwickeln. Vielen Dank an Univ.-Prof. Dr. Sigrid Müller und ao. Univ. Prof. Dr. Gunter Prüller-Jagenteufel sowie Dr. Bettina Baldt, Claudia Bernal Diaz Bakk., Dr. Martina Besler, Dr. Rupert Grill, Dr. Stephanie Höllinger, Dr. Nenad Polgar, Mag. Birgit Rath und Mag. Mirijam Salfinger für die vielfältigen Gesprächs- und Diskussionsangebote, die Vermittlung von Tagungen und diverser Förderungs- und Publikationsmöglichkeiten, die Reise auf die Philippinen, den wertvollen, geteilten Erfahrungsschatz und die stets gute Laune am Arbeitsplatz! Eng verbunden und zu Dank verpflichtet bin ich auch jenen theologischen Wegbegleiter*innen und Freund*innen, Mag. Stephanie Bayer, Mag. Claudia Danzer, Ass.-Prof. Mag. Mag. Dr. Dr. Helmut Jakob Deibl, Pd., Marlene Deibl, PhD, Mag. Rafael Fesel, Brigitte Hafner, BSc, Magdalena Nöbauer, Magdalena Pittracher, BA BEd, Mag. Annika Schmitz sowie dem gesamten Redaktionsteam von https://y-nachten.de, die in vielen durchdringenden Gesprächen mein unablässiges Ringen nach den angemessenen Fragen ausgehalten und mich zu neuen denkerischen Tiefgängen angeregt haben. Darüber hinaus gebührt zahlreichen Theolog*innen und Forscher*innen anderer Wissenschaften Dank, welche sich vor allem in der Konzeptionsphase für einen intensiven Austausch über meine Dissertation Zeit genommen haben. Abschließend möchte ich meiner Familie einen großen Dank aussprechen, die mich wohlmeinend nach Wien geschickt hat, um dort meinen unaufhörlichen – und zugegeben auch manchmal schwierigen – Fragen auf den Grund gehen zu können. Sie waren mir in allen Phasen eine große emotionale Stütze. Schließlich danke ich meinem Mann, Ralf, der mich trotz der noch einmal durch die Anstellung in Wien verlängerten, räumlichen Trennung von Anfang an zu meinem Projekt ermutigt hat, dabei immer auch ein scharfsinniges Auge für die Konsekrationseffekte des römisch-katholischen Feldes bewahrte, um mir so manche katholische Selbstverständlichkeit in ein neues Licht zu rücken. Sein Kommentar zu Beginn meiner Anstellung in Wien, hat mich in so mancher mühsamen Stunde ermutigt: »Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Du hast den Willen, ich finde den Weg.« Vielen, vielen Dank! Nagold, 20.02.2023
Einleitung
Vielen wird die Erfahrung vertraut sein, dass man mit einem falschen Namen angesprochen, oder dass der eigene Name falsch geschrieben wird. Das verursacht zunächst etwas Irritation, die sich auch schnell in Ärger wandeln kann, wenn sich diese falsche Anrede wiederholt. Nun stelle man sich aber vor, es gäbe eine Person, die bei jeder Begegnung falsch bezeichnet wird. Persönliche Gespräche, behördliche Dokumente, sogar der Reisepass trägt den falschen Namen und so oft sich diese Person bemüht, ihren Namen richtig zu stellen, so oft wird sie daran scheitern. Man sagt ihr, dass dieser Name nicht schön klinge, dass er falsch geschrieben sei oder gar, dass man diesen Namen noch nie gehört hätte. Mit der Zeit wird diese Person tatsächlich denken, dass mit ihrem richtigen Namen irgendetwas nicht stimmt, oder ihm etwas Negatives anhaftet. Sie wird sich irgendwann aus Scham davor scheuen, ihn selbst auszusprechen. Diese hier noch harmlos erscheinende Eingangsbemerkung können Menschen, die sich selbst als intergeschlechtlich identifizieren, vermutlich gut nachvollziehen. Nicht der Name ist es allerdings, der ihnen falsch zugeschrieben oder gewaltsam eingeprägt wird, sondern ihr Geschlecht. Der Begriff Intergeschlechtlichkeit umfasst alle Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale weder mit der weiblichen noch mit der männlichen Norm übereinstimmen. Sie machen in vielen Lebensbereichen die Erfahrung, in ihrem Sosein nicht vollständig anerkannt zu sein. Pathologisierungen, Tabuisierungen und Stigmatisierungen intergeschlechtlicher Körper in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass das Wissen von einer intergeschlechtlichen Geschlechtsidentität lange Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden war. Alles von der Binarität Unterscheidbare geriet dadurch nur mehr als normative Abweichung in den Blick. Gleichzeitig wurde intergeschlechtlichen Menschen damit die Anerkennung in ihrem Sosein verwehrt. Der im sozialwissenschaftlichen Bereich vornehmlich verwendete Terminus Intergeschlechtlichkeit bzw. Intersexualität ist ein Sammelbegriff für das breite Spektrum von physischen Merkmalen, die keine eindeutige Geschlechtszuweisung innerhalb eines Zweigeschlechtermodells erlauben. Da die Prozesse der Geschlechtsentwicklung von vielen Faktoren wechselseitig beeinflussbar sind und infolgedessen auf vielfältigste Art verlaufen können, wird in der Medizin von »Varianten
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der Geschlechtsentwicklung (›differences of sex development‹, DSD)«1 gesprochen. Intergeschlechtliche Menschen weisen im Verhältnis zu den Polen Männlichkeit und Weiblichkeit auf unterschiedlichsten Ebenen Variationen von chromosomalen, hormonellen, gonadalen oder anatomischen Eigenschaften jeweils einzeln oder kombiniert auf. Damit ist Intergeschlechtlichkeit auch von Transidentität abgegrenzt, weil die mit letzterer zusammenhängende Geschlechtsbestimmung auf einer psychosozialen und emotionalen Komponente der Geschlechtsidentität basiert und eben nicht auf der körperlichen Ambiguität des Geschlechts. Forschungen zu Intergeschlechtlichkeit liegen aus sozialwissenschaftlicher, biologischer und medizinischer Sicht mannigfaltig vor2 , wenngleich noch immer Unstimmigkeiten darüber bestehen, wie Intergeschlechtlichkeit definiert werden soll, welcher Begriff diese jeweils stark differierenden Phänomene am besten subsummiert3 und wie die statistische Häufigkeit angegeben werden soll. Die Angabe des medizinischen Wörterbuchs Pschyrembel von »1 : 100 bis 1 : 500«4 ist jedenfalls relativ vage gehalten. Die zunehmende moralische Bewertung des biologischen Status’ in der Neuzeit einerseits und die medizinhistorischen Entwicklungen andererseits waren mit ein Grund dafür, dass Intergeschlechtlichkeit lange Zeit tabuisiert, stigmatisiert und pathologisiert wurde und immer noch wird. So war die plastische und kosmetische Chirurgie im 19. Jh. daran interessiert, diese als pathologisch diagnostizierten Phänomene den normativen
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Riedl, Stefan, Varianten der Geschlechtsentwicklung/DSD – Update Genetik, in: Journal für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel 11/2 (2018) 64–67, hier: 66. Vgl. dazu folgende Auswahl: Beier, Klaus M. u.a. (Hgg.), Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit, München 3 2021. Diamond, Milton – Sigmundson, H. K., Management of Intersexuality. Guidelines for Dealing with Persons with Ambiguous Genitalia, in: Archives of pediatrics & adolescent medicine 151/10 (1997) 1046–1050; Dreger, Alice D. – Herndon, April M., Progress and Politics in the Intersex Rights Movement. Feminist Theory in Action, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 15/2 (2009) 199–224; Fausto-Sterling, Anne, The Five Sexes. Why Male and Female Are Not Enough, in: The Sciences (1993) 20–25; Fausto-Sterling, Anne, The Five Sexes, Revisited, in: The Sciences July/August (2000) 18–23; Finke, Rainer u.a. (Hgg.), Intersexualität bei Kindern, Bremen 2008; Holmes, Morgan (Hg.), Critical Intersex (Queer interventions), Farnham 2009; Kessler, Suzanne J., The Medical Construction of Gender. Case Management of Intersexed Infants, in: Signs 16/1 (1990) 3–26; Kirchengast, Sylvia, Human Sexual Dimorphism. A Sex and Gender Perspective, in: Anthropologischer Anzeiger 71/1 (2014) 123–133; Klöppel, Ulrike, XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität (GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht 12), Bielefeld 2010; Prader, Andrea, Intersexualität. Habilitationsschrift der medizinischen Fakultät Universität Zürich zur Erlangung der Venia Legendi für Kinderheilkunde [Habilitation (Sonderdruck) Universität Zürich, Zürich], 1957; Schochow, Maximilian – Steger, Florian, Hermaphroditen. Medizinische, juristische und theologische Texte aus dem 18. Jahrhundert, Gießen 2016; Sytsma, Sharon (Hg.), Ethics and Intersex, New York 2006; Voß, Heinz-Jürgen, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 3 2011; Zehnder, Kathrin, Zwitter beim Namen nennen. Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung, Bielefeld 2014. Vgl. Jenkins, Tania M. – Short, Susan E., Negotiating Intersex. A Case for Revising the Theory of Social Diagnosis, in: Social science & medicine (1982) 175 (2017) 91–98, hier: 95. Bonfig, Walter, Intersexualität, 2017, 1. URL: https://www.pschyrembel.de/Intersexualität/ K0B01/doc/ [Abruf: 14. März 2023].
Einleitung
Erwartungen in Bezug auf das Geschlecht anzupassen. Bis heute finden sogenannte geschlechtsangleichende oder geschlechtszuweisende Operationen auf Basis der in den 1950er Jahren entwickelten Optimal Gender Policy5 statt. Diese zieht folgenschwere Konsequenzen nach sich: Die im Säuglingsalter behandelten Personen werden zum Großteil ihr Leben lang in Unkenntnis über ihren Zustand gelassen, darüber belogen, oder gemeinsam mit ihren Eltern zur Verschwiegenheit gemahnt. Ferner implizieren die medizinischen Behandlungsmethoden psychische Belastungen durch Traumatisierungen unterschiedlichster Art und physische Schmerzen nach Operationen.6 Die Optimal Gender Policy sieht sich daher scharfer Kritik ausgesetzt. Eine daran anschließende zentrale ethische Fragestellung ist diejenige nach der Autonomie intergeschlechtlicher Kinder und deren Recht auf körperliche Integrität im Gefolge der nachweislichen Gewalterfahrungen physischer wie psychischer Art, angefangen bei den Operationen, bis hin zu gesellschaftlichen Stigmatisierungen. Dies beinhaltet auch ethische Forderungen im rechtlichen Bereich nach Rechtsgleichheit durch die Dritte Option, im medizinischen Bereich nach Unterlassung von »IntersexGenitalverstümmelung[en]«7 sowie mehr Informations- und Beratungsangeboten und im bildungspolitischen Bereich nach Förderung von Geschlechtssensibilität. Gemeinsam ist allen Bereichen der Ausgangspunkt, dass intergeschlechtlichen Menschen unabhängig ihrer biologischen Konstitution Anerkennung zuteilwerden muss, um so die Grundbedingung für ein gelingendes Leben8 gewährleisten zu können. Die hier in Auswahl benannten ethischen Dringlichkeiten stellen unausweichlich auch Anfragen an religiöse Deutungssysteme, denen eine Mitschuld an der Pathologisierung, Tabuisierung und Stigmatisierung von intergeschlechtlichen Personen vorgeworfen wird.9 Bislang thematisieren aber nur wenige Theolog*innen aus dem englischsprachigen und deutschsprachigen Raum das Phänomen Intergeschlechtlichkeit überhaupt. Wenn es dazu kommt, bleiben die Möglichkeiten und Grenzen der Anerkennung intergeschlechtlicher Personen innerhalb einer spezifischen Konfession aber ausgespart. Eine fundierte Auseinandersetzung wird daher im Bereich der theologischen Ethik und Sozialethik 5
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Hechtl, Ruth, Über Inter*Kinder und Jugendliche. Forschungsdesiderate und Möglichkeiten Sozialer Arbeit, in: soziales_kapital 21 (2019) 74–88, hier: 77. Die These der Psychologen John Money, Joan Hampson und John Hampson sowie deren Kollegen an der John-Hopkins-Universität besagt, dass eine gesunde psychosoziale Entwicklung eines intergeschlechtlichen Kindes nur dann gewährleistet werden kann, wenn eine eindeutige Geschlechtszuweisung zu entweder einem Mann oder einer Frau erfolgt. Der soziale Rahmen wird also für die Entwicklung der Geschlechtsidentität als maßgeblich betrachtet. Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, Intersexualität – Intersex. Eine Intervention (Unrast transparent Geschlechterdschungel Band 1), Münster 2012, 51–55. VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus. Landstraßer Protokoll vom 02.10.2018, 2018, 14. URL: https://www.vhs.at/files/downloads/OTmXS4x94fLdmwZaA3VJmRnEp ZaRtcoiyjBSKo41.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1129), Frankfurt a.M. 8 2014, 275. Einen Einblick in die Begriffsgeschichte des Wortes Anerkennung bietet folgendes Werk: Vgl. Balzer, Nicole (Hg.), Spuren der Anerkennung, Wiesbaden 2014. Vgl. Gudorf, Christine. E., The Erosion of Sexual Dimorphism. Challenges to Religion and Religious Ethics, in: Journal of the American Academy of Religion 69/4 (2001) 863–891, hier: 868.
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ebenfalls vermisst. Dies ist umso prekärer, als damit keine Reflexion darüber angestellt wird, welchen spezifischen Beitrag die jeweiligen Konfessionen für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen allgemein leisten können. Liturgisch, religionswissenschaftlich, praktisch-theologisch und christlich-philosophisch liegen bislang ebenfalls noch keine einschlägigen Auseinandersetzungen mit Intergeschlechtlichkeit vor.10 Mit dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, dass für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in Theologie wie Kirche die Entfaltung einer gleichsam freiheitstheoretischen wie kontingenzsensiblen Perspektive notwendig ist. Nachgegangen wird folgendem Anspruch in der Forschungsfrage: Wie lässt sich die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theologisch-ethisch entfalten? Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf dem westlichen Kontext, da vor allem die Anerkennungsstrukturen des römisch-katholischen Feldes in europäischer Prägung untersucht werden sollen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die je spezifische Verkörperung und Einbettung von theologischen Anerkennungssystemen in Raum und Zeit entscheidend für die Beurteilung der Bedingungen und Möglichkeiten real vermittelter Anerkennung (vgl. Kap. 3.4.4). Interkulturelle und interreligiöse Beiträge zur Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen bilden demgegenüber ein eigenes Forschungsfeld, das es anhand der noch zuvor zu leistenden kontextspezifischen Untersuchungen entsprechend zu entfalten gilt. Der leitenden Forschungsfrage werden drei Thesen vorausgeschickt, die mittels der ihnen zugeordneten Teilfragen in den jeweiligen Teilen der Arbeit beantwortet werden sollen. Die erste These lautet: Durch Intergeschlechtlichkeit wird die binäre Systematik katholischer Geschlechteranthropologie herausgefordert, weil sie impliziert, dass Geschlechterkategorien der Theologischen Ethik nur als hermeneutische Denkwerkzeuge und nicht als heteronormativer Deduktionsgrund dienen können. Einfacher gesagt: Wenn es neben dem Männlichen und Weiblichen auch noch das Intergeschlechtliche gibt, können moralische Verpflichtungen nicht ausschließlich von den ersten beiden abgeleitet werden. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Geschlechterkategorien überhaupt als verlässlicher kriteriologischer Maßstab dienen können. Auch wenn es sich statistisch gesehen um ein relativ rares Phänomen handelt, ist die Beschäftigung der Theologie mit Intergeschlechtlichkeit und den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen dazu alles andere als irrelevant. Nur hier tritt die Frage nach der Vielfalt und Komplexität menschlicher Leiblichkeit so klar zu Tage, weil Intergeschlechtlichkeit eben nicht in ein dichotomes Schema von Frau und Mann eingeordnet werden kann. Das hat zugleich Konsequenzen für die im theologischen Diskurs bestehenden heterosexuellen Normen. Ob sich die Theologie auf den Dialog mit Intergeschlechtlichkeit einlässt, bestimmt mit, wie Körperlichkeit und Materialität wahrgenommen werden. Kontingente Freiheit und deren Anerkennung wird in der Theologie zu Unrecht marginalisiert und stellt sie vor
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Eine ausführliche Bestandsanalyse der bereits vorliegenden Forschung findet sich unter Kap. 3.1. Das erst kürzlich im Februar 2019 erschienene Dokument der Kongregation für das katholische Bildungswesen vermeidet in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit ebenfalls die Auseinandersetzung mit gängigen humanwissenschaftlichen Erkenntnissen: Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them. Towards a Path of Dialogue on the Question of Gender Theory in Education, Vatikan Stadt 2019 (02. Februar 2019). URL: http://www.educatio.va/ content/dam/cec/Documenti/19_0997_INGLESE.pdf [Abruf: 14. März 2023]
Einleitung
neue ethische Herausforderungen. Daraus ergibt sich zunächst folgende, im Medizinbereich zu verortende, erste Teilfrage: Wie fordert Intergeschlechtlichkeit die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien von Medizin und Gesellschaft heraus? Damit fokussiert der erste Teil das Phänomen Intergeschlechtlichkeit auf multidisziplinäre Perspektiven, welche zunächst von biologischen und medizinischen Definitionen und Klassifikationen ausgehen, um daran anschließend die historischen und zeitgenössischen Denkformate, Umgangsformen und Behandlungspraxen im Umfeld von Intergeschlechtlichkeit zu klären. Den Abschluss des ersten Teils bilden existenzielle Perspektiven und ethische Fragestellungen im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Die zweite These dieser Arbeit ist: Um die katholisch-theologischen Einschränkungen in der Anerkennung von materialer Freiheit erkennen zu können, bedarf es der Kenntnis von »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien«11 innerhalb des römischkatholischen. Feldes. Bisher nutzt die katholische Theologie die kritischen Potentiale des Sozialphilosophen Pierre Bourdieu nur sehr zögerlich.12 Es wird sich aber herausstellen, dass seine Konzepte eine Möglichkeit bieten, die im sozialen Raum wirksamen Produktions- und Reproduktionsmechanismen sozialer Anerkennungs- und Machtverhältnisse zu analysieren. Mit ihm ist eine Theologie nur in Auseinandersetzung mit Sozial- und Kulturwissenschaften denkbar13 , weil die strukturellen Wechselwirkungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche Anerkennungsprozesse mitbedingen. Der zweite Teil untersucht entlang des Habituskonzeptes, den darauf aufbauenden Untersuchungen zur männlichen Herrschaft und dem religiösen Feld das römisch-katholische Feld aus sozialphilosophischer Sicht und will die Frage beantworten: Wie wirkt sich die symbolische Ordnung des römisch-katholischen Feldes auf die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen aus? Die daraus gewonnenen Kategorien dienen im Anschluss an die Charakterisierung des römisch-katholischen Feldes der Analyse des religiösen Kapitals darin. Dies soll Aufschluss über die Wechselwirkungen zwischen strukturellen Gegebenheiten des römisch-katholischen Feldes und den darin historisch und gegenwärtig wirksamen Geschlechterkonzepten geben. Der damit erfolgte Einblick in die feldspezifische Generierung von Anerkennungsverhältnissen dient wiederum der Untersuchung der im benannten Feld gewährten bzw. verwehrten Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen. Die dritte These dieser Arbeit lautet: Freiheit als »philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik«14 muss die katholische Geschlechteranthropologie methodisch bestimmen, denn die formale Anerkennung einer Freiheit zu verwehren – gleich, auf welcher Basis menschlicher Bedingtheit diese Ablehnung legitimiert wird –, würde bedeuten, das einer Ethik vorausgehende Prinzip des freien Sich-Verhalten-Könnens zugunsten eines mechanistisch-deterministischen Menschenverständnisses aufzugeben. Eine 11 12 13
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Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1 1997, 153–217, hier: 159. Vgl. die ausführlichen Literaturangaben zum Forschungsstand in Kap. 2.2.1. Vgl. Striet, Magnus, Sich selbst als geworden beschreiben wollen. Theologie und Soziologie, in: Ders. (Hg.), »Nicht außerhalb der Welt«. Theologie und Soziologie (Katholizismus im Umbruch 1), Freiburg i.Br. u.a. 2014, 13–32. Vgl. dazu entsprechendes Kapitel in: Pröpper, Thomas, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2001, 6–22.
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Freiheit aber, die sich zu ihren Bedingtheiten nicht mehr verhalten kann, käme dann nur noch als Marionette deistischer Machenschaften in den Blick und bliebe – in der Absprache ihrer Gottebenbildlichkeit – beziehungslos.15 Im Unterschied dazu bietet der freiheitstheologische Ansatz der Theologischen Anthropologie16 Thomas Pröppers eine Alternative, weil er Freiheit als formale Kategorie bestimmt und sie als solche nicht als Deduktionsobjekt, sondern als hoffnungsstiftende Instanz für ethisches Handeln fungiert. Für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld ist also eine Anthropologie notwendig, die Anerkennung grundsätzlich als Freiheitsgeschehen zu akzeptieren bereit ist. Damit bindet der dritte Teil die sozialphilosophischen Erkenntnisse des zweiten Teils in den freiheitstheologischen Ansatz Thomas Pröppers ein und erörtert daran folgende Frage: Welche theoretischen und praktischen Voraussetzungen bedingen und ermöglichen die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld? Dazu wird der systematische Ansatz Pröppers in Grundzügen erläutert, insbesondere die Verhältnisbestimmung von formaler und materialer Freiheit vertiefend charakterisiert und die hierbei verbleibende Leerstelle in Bezug auf die Verkörperung und Einbettung materialer Freiheit thematisiert. Die kritische Würdigung des Freiheitsansatzes wird dessen Relevanz für das ethische Anerkennungsprogramm aufzeigen. Mit Rücksicht auf die Erkenntnisse des corporeal turn und material turn wird daher im Anschluss an Pröpper eine kontingenzsensible Analysemethode entwickelt, die anhand der Systematisierung von Materialisierungsprozessen kontingenter Freiheit nach Person, Raum und Zeit Handlungsspielräume für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen ausfindig macht. Die Arbeit schließt mit einem Resümee der Analysen und einem theologisch-ethischen Ausblick, der das Freiheitsparadigma als verbindliche Option und Ambiguitätstoleranz als einzufordernde Haltung in Bezug auf die ethische Theoriebildung im Allgemeinen und die katholisch-theologische Geschlechteranthropologie im Speziellen ausweist.
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Vgl. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 177–185. Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie, 2 Bde., Freiburg i.Br. 2011.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Dieser Teil sucht hermeneutische Zugänge zu empirischen Erkenntnissen aus der Biologie wie Medizin, um das Phänomen Intergeschlechtlichkeit im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft zu verorten. Damit soll die erste Teilfrage beantwortet werden: Wie fordert Intergeschlechtlichkeit die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien von Medizin und Gesellschaft heraus? Kap 1.1 beschäftigt sich zunächst mit den biologischen Grundlagen der Geschlechtsentwicklung, um einerseits auf deren Komplexität hinzuweisen, andererseits aber auch die darin angelegte Möglichkeit biologischer Vielfalt herauszustreichen. Daran anschließend folgen Erläuterungen zu den gängigen Nomenklaturen wie den empirischen Befunden zu Varianten der Geschlechtsentwicklung. Wie gezeigt werden wird, ist eine homologe Einteilung männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale durch die Variantenvielfalt intergeschlechtlicher Phänomene zu hinterfragen. Da letztere von Seiten der Medizin zumeist pathologisch bestimmt sind, analysiert Kap. 1.2 medizinische Klassifikationen und Indikationen, die auf das Consensus Statement 1 zurückgehen und vergleicht sie mit alternativen Klassifikationen wie etwa jener des Deutschen Ethikrats2 und dem Prader-Schema3 . Abschließend werden Kritikpunkte benannt, warum statistische Angaben zu Intergeschlechtlichkeit derzeit ungenau bleiben müssen. In Kap. 1.3 werden historische und zeitgenössische Denkformen, Umgangsformen und Behandlungspraxen in chronologisch-systematischer Aufzählung unterschieden, um den Weg von der Pathologisierung zur Entpathologisierung von Intergeschlechtlichkeit und die damit verbundenen Konsequenzen nachzuzeichnen. Die Unterscheidung umfasst Orientierungen an einer religiös-naturrechtlichen, symbolisch-sozialen, funktional-moralästhetischen und menschenrechtlich-fundierten
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Vgl. Lee, Peter A. u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders. International Consensus Conference on Intersex, in: Pediatrics 118/2 (2006) e488–e500. Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität. Stellungnahme vom 23. Februar 2012, 2012. URL: https ://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnIntersex_Deu_ Online.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Prader, Intersexualität.
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Geschlechterordnung und verweist auf die dynamischen Zusammenhänge zeitgebundener Denkformen mit medizinischen Behandlungspraxen. Kap. 1.4 behandelt schließlich existenzielle Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen im medizinischen und rechtlichen Kontext und unterzieht die Forderungen nach physischer, psychischer und sozialer Integrität ethischen Fragestellungen. Das letzte Kapitel schließt mit dem Ausblick, dass nicht nur die biologische Vielfalt, sondern auch existenzielle Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen dringliche ethische Anfragen an ein binäres Geschlechterkonzept stellen, das in vielen gesellschaftlichen Feldern eine zentrale Ordnungskategorie darstellt.
1.1. Medizinisch-biologische Grundlagen der Geschlechtsentwicklung Geschlechtsentwicklung ist ein komplexer Prozess, welcher verschiedenen Einflussfaktoren unterliegt. Eine Geschlechtsbestimmung erweist sich deshalb als ebenso komplex, weil sämtliche geschlechtlichen Merkmale eine derart große Bandbreite aufweisen, dass keine exakte Grenzziehung zwischen den Kategorien männlich und weiblich möglich ist. Wie noch deutlich werden wird, handelt es sich bei der Geschlechtszuweisung primär um ein soziales Ordnungsphänomen, welches durch die Biologie und Medizin lediglich Legitimation erfährt. In der Biologie wird zwischen Geschlechtsdetermination und Geschlechtsdifferenzierung unterschieden. Die Geschlechtsdetermination verweist auf die genetische Grundlage für die Ausbildung der Keimdrüsenanalagen, wohingegen der Begriff Geschlechtsdifferenzierung die Entwicklung der inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale eines Menschen beschreibt, die oft binär in männliche und weibliche eingeteilt sind.4 Der Phänotyp (äußere und physiologische Merkmale) kann sich also vom Karyotyp (gesamtgenetische Veranlagung) unterscheiden. Über die biologische Differenzierung hinaus werden weitere Aspekte von Geschlecht, nämlich das psychische, erotisch-emotionale und das soziale Geschlecht unterschieden, die allmählich auch in der Biologie – bisher vor allem im Teilbereich der Epigenetik – berücksichtigt werden. So bestimmen weder allein die genetische Disposition (Karyotyp), noch primäre, sekundäre oder tertiäre Geschlechtsmerkmale (Phänotyp), noch das psychische, noch das zugewiesene soziale Geschlecht über das Geschlecht eines Menschen. Es gibt aus verschiedenen Fachrichtungen den Versuch, Aspekte von Geschlechtlichkeit festzuhalten und diese mittels geschlechtsbestimmender Kriterien zu unterscheiden, wie in der folgenden Tabelle aufgeführt ist.
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Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 240.
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Geschlechterordnung und verweist auf die dynamischen Zusammenhänge zeitgebundener Denkformen mit medizinischen Behandlungspraxen. Kap. 1.4 behandelt schließlich existenzielle Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen im medizinischen und rechtlichen Kontext und unterzieht die Forderungen nach physischer, psychischer und sozialer Integrität ethischen Fragestellungen. Das letzte Kapitel schließt mit dem Ausblick, dass nicht nur die biologische Vielfalt, sondern auch existenzielle Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen dringliche ethische Anfragen an ein binäres Geschlechterkonzept stellen, das in vielen gesellschaftlichen Feldern eine zentrale Ordnungskategorie darstellt.
1.1. Medizinisch-biologische Grundlagen der Geschlechtsentwicklung Geschlechtsentwicklung ist ein komplexer Prozess, welcher verschiedenen Einflussfaktoren unterliegt. Eine Geschlechtsbestimmung erweist sich deshalb als ebenso komplex, weil sämtliche geschlechtlichen Merkmale eine derart große Bandbreite aufweisen, dass keine exakte Grenzziehung zwischen den Kategorien männlich und weiblich möglich ist. Wie noch deutlich werden wird, handelt es sich bei der Geschlechtszuweisung primär um ein soziales Ordnungsphänomen, welches durch die Biologie und Medizin lediglich Legitimation erfährt. In der Biologie wird zwischen Geschlechtsdetermination und Geschlechtsdifferenzierung unterschieden. Die Geschlechtsdetermination verweist auf die genetische Grundlage für die Ausbildung der Keimdrüsenanalagen, wohingegen der Begriff Geschlechtsdifferenzierung die Entwicklung der inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale eines Menschen beschreibt, die oft binär in männliche und weibliche eingeteilt sind.4 Der Phänotyp (äußere und physiologische Merkmale) kann sich also vom Karyotyp (gesamtgenetische Veranlagung) unterscheiden. Über die biologische Differenzierung hinaus werden weitere Aspekte von Geschlecht, nämlich das psychische, erotisch-emotionale und das soziale Geschlecht unterschieden, die allmählich auch in der Biologie – bisher vor allem im Teilbereich der Epigenetik – berücksichtigt werden. So bestimmen weder allein die genetische Disposition (Karyotyp), noch primäre, sekundäre oder tertiäre Geschlechtsmerkmale (Phänotyp), noch das psychische, noch das zugewiesene soziale Geschlecht über das Geschlecht eines Menschen. Es gibt aus verschiedenen Fachrichtungen den Versuch, Aspekte von Geschlechtlichkeit festzuhalten und diese mittels geschlechtsbestimmender Kriterien zu unterscheiden, wie in der folgenden Tabelle aufgeführt ist.
4
Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 240.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Tabelle 1: Differenzierungskriterien für die Geschlechtsbestimmung Bezeichnung des Geschlechts
Geschlechtsbestimmende Kriterien
Genetisches/chromosomales Geschlecht
Geschlechtschromosomen/Gonosomen
Gonadales Geschlecht
ovarielles und testikuläres Gewebe
Genitales/somatisches/anatomisches Geschlecht
primäre, sekundäre, tertiäre Geschlechtsmerkmale
Hormonelles Geschlecht
Östrogene und Androgene
Hirngeschlecht
Hirnstruktur, Hirnaktivität
Psychisches Geschlecht/Geschlechtsidentität
subjektiv psychisches Empfinden
Erotisch-emotionales Geschlecht
sexuelle Orientierung, emotionale Bindung
Soziales Geschlecht
sozial eingenommene Rolle
Die Bestimmung von Geschlecht erweist sich aber auch entlang der genannten Aspekte als schwierig, da die gewählten geschlechtsbestimmenden Kriterien je Individuum einer großen Variationsbreite unterliegen können, wie das bei Intergeschlechtlichkeit besonders offensichtlich ist. Intergeschlechtlichkeit ist daher nicht als Bestätigung der Regel durch wenige Ausnahmen zu interpretieren, sondern als Kategorisierungsproblem unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche. Was nämlich als männlich oder weiblich gilt, ist ein soziales Interpretament, das in die Klassifikationen eingearbeitet wird. Um aus biologischer und medizinischer Perspektive verstehen zu können, worum es sich bei Intergeschlechtlichkeit handelt, wird zunächst die embryonale Geschlechtsentwicklung erläutert. Die Zusammenfassung konzentriert sich hierbei auf die Geschlechtsdetermination durch das chromosomale Geschlecht und die Geschlechtsdifferenzierung im gonadalen und genitalen Geschlecht. Die Geschlechtszuweisung in diesem Stadium der Geschlechtsentwicklung erweist sich aber gerade für intergeschlechtliche Menschen als problematisch, weil hiermit oftmals maßgebliche Entscheidungen ohne deren Einwilligung getroffen werden (geschlechtszuweisende Operationen, soziale Rollenzuweisung usw.). Aufgrund dieser Problematik liegt der Fokus auf eben diesen drei genannten Aspekten von Geschlechtlichkeit. Es geht im Folgenden um keine abschließende Erfassung andrologischer und gynäkologischer Befunde, sondern um die Darstellung der eben schon angedeuteten komplexen Wechselwirkungen und Prozesse bei der Geschlechtsentwicklung. Die Schilderung der einzelnen Formen von Intergeschlechtlichkeit kann nur beispielhaft erfolgen und konzentriert sich auf die jeweils existenziellen Herausforderungen, denn diese unterscheiden sich je nach Ausprägung der Variante erheblich.
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1.1.1.
Geschlechtsdetermination und Geschlechtsdifferenzierung: chromosomales, gonadales, und genitales Geschlecht
Die Geschlechtsdetermination erfolgt durch eine Vielzahl von Chromosomen, wobei lange Zeit die Annahme bestand, dass die sogenannten Geschlechtschromosomen (Gonosomen) eines Menschen hier eine Vorrangstellung einnehmen. Je nach Karyotyp wurden sie dem männlichen (46,XY) oder dem weiblichen Geschlecht (46,XX) zugeordnet.5 Die Genetik hat seitdem viele weitere geschlechtsdeterminierende Gene ausgemacht, die sich nicht nur auf diesen Geschlechtschromosomen, sondern auch auf Körperchromosomen (Autosomen) befinden. Die Tatsache, dass an der Ausbildung der Genitaltrakte an die 1000 Gene beteiligt sind, von denen die meisten Autosome sind, lassen den Biologen Heinz-Jürgen Voß sogar daran zweifeln, ob überhaupt von Geschlechtschromosomen gesprochen werden kann.6 Zudem ist die Funktionsweise der Gene für die Geschlechtsentwicklung entscheidend: Durch Genexpressionen werden unterschiedlichste Zellen des menschlichen Organismus dazu stimuliert, somatische Gewebe zu produzieren oder zurückzubilden, Hormone zu produzieren und auszuschütten, oder aber die Hormonbildung zu hemmen. Dieses Zusammenspiel und zusätzlich neuronale Regulationen lassen beim Abschluss der Urogenitalentwicklung während der Embryogenese innere wie äußere Geschlechtsmerkmale entstehen. Bis zur Pubertät befinden sich diese in einer Art Schlummerzustand und gelangen erst durch Hormonstimulierungen zur vollen Reife. Mit dem Ende der Pubertät sind die Reifung der Keimzellen (Samen- bzw. Eizellen) ebenso wie das Wachstum der äußeren Geschlechtsorgane abgeschlossen.7 Die Geschlechtsentwicklung selbst kennt im späteren Erwachsenenalter allerdings noch weitere Veränderungsprozesse (z.B. im Klimakterium). Die folgende Beschreibung der Entwicklung innerer und äußerer Geschlechtsmerkmale, die aufgrund des hier vorliegenden Arbeitsschwerpunkts nur vereinfacht erfolgen kann, orientiert sich an einschlägiger medizinischer Fachliteratur8 und wird im nachfolgenden Kapitel durch sozialwissenschaftliche Einblicke9 ergänzt. Eine kompakte Zu-
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9
Zur Infragestellung dieser genetisch begründeten Dichotomie siehe Kap. 1.1.2. Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, Zur Geschlechterdetermination. Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes voraus …, in: Erik Schneider – Christel Baltes-Löhr (Hgg.), Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (transcript Gender Studies), Bielefeld 2 2015, 149–168, hier: 163–164. Für detailliertere Informationen zur neuroendokrinen Regulation der Pubertät vgl. Heger, Sabine, Neuroendokrine Regulation der Pubertät und ihre Störungen, in: Gynäkologische Endokrinologie 14/4 (2016) 233–238, hier: 233. Vgl. Finke u.a., Intersexualität bei Kindern; Moore, Keith L. u.a., Embryologie. Entwicklungsstadien – Frühentwicklung – Organogenese – Klinik (übers. v. Christoph Viebahn), München 6 2013; Sadler, Thomas W. – Langman, Jan, Taschenlehrbuch Embryologie. Die normale menschliche Entwicklung und ihre Fehlbildungen (übers. v. Ulrich Drews – Beate Brand-Saberi), Stuttgart – New York 12 2014; Ulfig, Norbert – Brand-Saberi, Beate, Kurzlehrbuch Embryologie, Stuttgart – New York 3 2017. Vgl. Voß, Making Sex Revisited.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
sammenfassung der Entwicklung der Gonaden bis hin zur Ausbildung der inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale findet sich außerdem im Kurzlehrbuch Embryologie10 . In der embryonalen Entwicklung finden Differenzierungen im Genitaltrakt statt, welche zu unterschiedlichen phänotypischen Ausprägungen führen. Der Entwicklungsverlauf wird üblicherweise in vier Stadien unterteilt, welche nach dem jeweiligen Endergebnis benannt sind: genetisches/chromosomales Geschlecht, gonadales Geschlecht, somatisches Geschlecht, psychisches Geschlecht.11 »In frühen Stadien der Entwicklung werden Embryonen entwicklungsbiologisch nicht geschlechtlich unterschieden.«12 Grund dafür ist die Gonadenanlage, die als bipotent bzw. indifferent bezeichnet wird und grundsätzlich das Potential in sich trägt, sich zu Hoden bzw. Eierstöcken zu entwickeln.13 Das grundlegende somatische Gewebe dieser Keimdrüsen in der Genitalleiste besteht aus »1. Zellen, die sich vom Coelomepithel der Gonadenleiste ableiten lassen, 2. Mesenchymzellen der Urogenitalleiste sowie 3. dedifferenzierte[n] Urnierenzellen, die während der Rückbildung der Urniere in das Gonadenblastem aufgenommen werden […].«14 Das mesenchymale Gewebe (Coeloempithel/Zölomepithel) ist ein embryonales Bindegewebe, vermehrt sich ab der vierten Schwangerschaftswoche und bildet die Gonadenanlage aus. In dieses somatische Gewebe wandern sogenannte Urkeimzellen (Primordialkeimzellen) ein, welche sich später weiter zu Samenzellen (Spermatogonien) bzw. Eizellen (Oogonien) entwickeln. Während der 6. Schwangerschaftswoche bilden sich die Wolffschen Gänge und die Müllerschen Gänge aus. Es hängt nun von der genetischen Determination und weiteren Einflussfaktoren ab, welche dieser beiden Gänge sich weiterentwickeln und welche zurückgebildet werden. Mit dem Vorliegen dieser Anlagen ist die Gonadenentwicklung abgeschlossen und die Geschlechtsdifferenzierung beginnt.15 Wie aus der noch folgenden Grafik (vgl. Abbildung 1: Entwicklung der inneren Geschlechtsmerkmale) abgelesen werden kann, wird die Geschlechtsentwicklung neuerdings stark vom genetischen Gesichtspunkt her erforscht.16 Dabei wurde lange Zeit angenommen, dass für die Hodenentwicklung das auf dem Y-Chromosom befindliche SRY-Gen alleinverantwortlich ist.17 Viel später wurde das Ovar determinierende Gen (WNT4) entdeckt, welches die Expression von DAX1 und weiterer noch nicht vollständig identifizierter Gene reguliert, um das Ovar ausbilden.18 Die in der Genitalleiste befindlichen Zellen durchlaufen also durch die je vorliegenden Gene einige Veränderung, die medizinisch homolog – je nach Karyotyp – beschrieben werden:
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Vgl. Ulfig – Brand-Saberi, Kurzlehrbuch Embryologie, 120–128. Vgl. Schultka, Rüdiger, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, in: Rainer Finke – SvenOlaf Höhne – Grigore Cernaianu (Hgg.), Intersexualität bei Kindern, Bremen 2008, 15–29, hier: 15. Voß, Making Sex Revisited, 242. Vgl. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 16. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 16. Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 242–243. Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 238. Vgl. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 15. Vgl. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 351–353.
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Liegt der Karyotyp 46,XY vor19 , entwickeln sich in der 8. Schwangerschaftswoche aus den somatischen Zellen, die sogenannten Sertoli-Zellen (Stützzellen), welche sich zu Keimsträngen und schließlich Hodensträngen organisieren. Hauptverantwortlich hierfür ist vor allem das SRY-Gen. Die Keimzellen, die in die Hodenstränge eingeschlossen worden sind, werden zu Spermatogonien, der Vorstufe der reifen Samenzellen, welche bis zur Pubertät in diesem Stadium verbleiben. Durch das Wachsen der von Blutgefäßen durchzogenen Bindegewebsschicht trennen sich ebenfalls in der 8. Woche die Hodenstränge ab. Diese Gewebsschicht bildet eine Bindegewebskapsel (Tunica albuiginea), welche sich um die Hoden und die Schwellkörper des Penis legt.20 Die Sertoli-Zellen produzieren nach der Expression von SRY angeregt durch das Gen SOX9 das Anti-MüllerHormon (AMH), welches die Rückbildung der Müllerschen Gänge21 bewirkt. Damit es zur Expression des Gens SOX9 kommt, benötigt es einen komplexen Prozess, in welchem das Gen NR5A1 und das von ihm stimulierte Protein SF1 eine entscheidende Rolle spielen. Aus den somatischen Zwischenzellen entstehen die Leydig-Zellen. Diese befinden sich zwischen den Hodensträngen und sezernieren ab der 8. Woche bis zur 18. bzw. 20. Schwangerschaftswoche die Testosteronbildung. Der Vorgang wird durch das Hormon Choriongonadotropin (hCG) ausgelöst. Das Luteinisierende Hormon (LH) der Hypophyse reguliert die Testosteron-Produktion. LH und hCG binden an den LH/hcG-Rezeptor (LHCGR) und aktivieren ihn, worauf vermehrt Testosteron ausgeschüttet wird. Die durch das Gehirn angeregte Hormonproduktion wie weitere Gene tragen dazu bei, dass sich die Wolffschen Gänge zu Nebenhoden, Samenleiter, Bläschendrüse entwickeln und die primären äußerlichen Geschlechtsmerkmale ausgebildet werden. Sobald das Testosteron in die Zielorgane gelangt, wird es zu Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt, welches gleich wie Testosteron durch den Androgen Rezeptor (AR) wirksam wird. Erst in der Pubertät nehmen die Organe an Größe zu und die Spermienproduktion beginnt.22 Liegt hingegen der Karyotyp 46,XX vor, bilden sich die Keimstränge zurück, die bei der Entwicklung der Hodenstränge entstehen und werden durch gefäßreiches Bindegewebe ersetzt. Die Keimzellen wandern dabei nicht in das somatische Gewebe der Gonadenstränge, sondern verbleiben vorerst im Rindenbereich der sich entwickelnden Gonade. Dort entstehen ab der 7. Woche sekundäre Keimstränge (Rindenstränge), die sich im 3. Monat in einzelne Zellgruppen aufteilen.23 Die darin enthaltenen Primordialkeimzellen (Oogonien) vermehren sich und werden mit einer einlagigen Schicht umgeben (Follikelepithelzellen). Das Ergebnis sind Primordialfollikel, deren Keimzelle im Zellteilungsstadium der Prophase (=1. Phase der Zellteilung) verbleibt und erst mit der Pubertät reift. Die Follikelepithelzellen, also die die Keimzelle umgebende äußere Schicht, reifen 19
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Bei Intergeschlechtlichkeit kann diese Entwicklung sich aus unterschiedlichsten Gründen dennoch verschieden gestalten. Mit den folgenden Beschreibungen, auch zu jener von Karyotyp 46,XX wird daher lediglich die statistische Mehrheit des Entwicklungsverlaufs festgehalten. Vgl. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 20–22. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 347–349. Aus diesen entstehen ansonsten Eierstöcke und weitere weibliche Geschlechtsmerkmale. Die Informationen des Absatzes entstammen aus: Vgl. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 360–363. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 366–367. Voß, Making Sex Revisited, 243–244. Vgl. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 22.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
weiter zu Granulosazellen. Während der Pubertät differenzieren sich die Primordialfollikel weiter in Primär-, Sekundär-, und schließlich Tertiärfollikel aus.24 Auch bei diesem Prozess ist die Hypophyse ausschlaggebend. Angeregt durch die Gene NR5A1, RSP01, WNT4 und das Protein β-catenin schüttet sie das Follikelstimulierende Hormon (FSH) aus. Gleichzeitig wird von β-catenin gemeinsam mit FST und FOXL2 die Expression von SOX9 gehemmt, um eine Rückbildung der Müllerschen Gänge zu verhindern. Das FSH sorgt nicht nur in der Pubertät für eine Reifung der Keimzellen, sondern bereits in der Pubertät für die Produktion des Enzymes Aromatase, welches das Hormon Testosteron in Östradiol umwandelt. Dieses den Östrogenen zugeordnete Hormon regt das Wachstum der Vagina, Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter an. Die somatischen Zellen in den sekundären Keimsträngen (Thekazellen) bilden eine Zellschicht, die den Follikel umgibt. Das Luteinisierende Hormon (LH) der Hypophyse regt die Thekazellen zur Bildung von Östrogenen an. Die weitere Ausbildung der Keimstränge zu Eierstöcken, Gebärmutter, Gebärmutterhals, oberer Vagina und äußerer primärer Geschlechtsmerkmale25 wird erst seit den 1990ern untersucht, weil davor davon ausgegangen wurde, dass der Prozess zur Verweiblichung nur ein passiver sei. Welche Faktoren also an der Ausbildung der genannten Organe beteiligt sind, muss weitgehend noch erforscht werden.26 Die schematische Darstellung im Anschluss zeigt auf Basis der bereits genannten Literatur die Wechselwirkungen zwischen Hormonen, Proteinen und Genen, welche auf die Zellentwicklung der Genitalleiste Einfluss nehmen und an der Ausbildung der inneren Geschlechtsorgane beteiligt sind. Für die graphische Umsetzung dienten außerdem die schematischen Übersichten von Riedl27 , Kiechle28 und Ohnesorg/Vilain/Sinclair29 als Grundlage. Auffällig bei allen Autor*innen ist die detailliertere Beschreibung der Hodenentwicklung im Vergleich zu den Ovarien, was auf die fehlenden Forschungen in diesem Bereich hinweist. Da die Abbildung der zitierten Autor*innen jeweils immer nur ein medizinisches Teilgebiet umfassen, folgt eine Zusammenschau der einzelnen graphischen Darstellungen in einer eigenständig entwickelten Grafik. Diese dient der Veranschaulichung der komplexen Wechselwirkungen von Hormonen, Proteinen, Genen sowie Zell- und Organentwicklung, stellt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Vgl. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 349–350. Vgl. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 363. Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 245. Zum aktuellen Stand der Forschung vgl. a. Rehnitz, Julia, Genetische Grundlagen bei Varianten der Geschlechtsentwicklung, in: Gynäkologische Endokrinologie 19/1 (2021) 11–18. Vgl. Riedl, Varianten der Geschlechtsentwicklung/DSD – Update Genetik, 65. Vgl. Kiechle, Marion, Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit über 237 Tabellen, München 2 2011, 16. Vgl. Ohnesorg, Thomas u.a., The Genetics of Disorders of Sex Development in Humans, in: Sexual development genetics, molecular biology, evolution, endocrinology, embryology, and pathology of sex determination and differentiation 8/5 (2014) 262–272.
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Abbildung 1: Entwicklung der inneren Geschlechtsmerkmale
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Die Herausbildung des genitalen Geschlechts hängt von den eben geschilderten Prozessen ab. Erfolgen sie nach diesem Schema, resultiert daraus die Entwicklung von Penisspitze, Penisschaft, Hodensack bzw. Klitoris, inneren Schamlippen, äußeren Schamlippen. Hier wird ebenfalls ein anfänglich indifferentes Stadium angenommen, das sich nach und nach differenziert. Der Genitalhöcker vergrößert sich bis zur sechsten Schwangerschaftswoche. Beim Embryo mit Karyotyp XY verschmelzen die Urethralfalten und bilden den Penisschaft, während sie beim Karyotyp XX geöffnet bleiben und zu den inneren Schamlippen ausgebildet werden. Aus den Labioskrotalwülsten entwickeln sich bei Karyotyp XY der Hodensack, bei Karyotyp XX die äußeren Schamlippen. Je nachdem, welche Hormone vorliegen, werden diese Prozesse unterschiedlich stark angeregt. Androgene bewirken eine Vermännlichung des Genitals, Östrogene eine Verweiblichung. Bei intergeschlechtlichen Menschen kann es zu Zwischenstufen kommen: Je nach chromosomalem Geschlecht wird dann entweder von einer vergrößerten Klitoris oder einem Mikropenis, halb geöffneten oder geschlossenen Urethralfalten gesprochen.30
Abbildung 2: Entwicklung der äußeren Geschlechtsmerkmale31
30 31
Vgl. Moore u.a., Embryologie, 347–348. Eine detaillierte Darstellung, an welche diese hier angelehnt ist, findet sich bei: Vgl. Moore u.a., Embryologie, 346.
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Die hohe Komplexität dieser Entwicklungsschritte verdeutlicht, dass der Prozess der Geschlechtsentwicklung je nach Zeitpunkt, Wirkung und Menge der vorhandenen Gene, Proteine und Hormone sehr unterschiedlich verlaufen kann – selbst, wenn exogene Faktoren noch nicht berücksichtigt sind. Die Vermutung liegt darum nahe, dass Intergeschlechtlichkeit häufiger als angenommen auftritt. Die ausbleibende Diagnostizierung wäre so dem Umstand geschuldet, dass vieles in der Geschlechtsentwicklung noch gar nicht erforscht ist und sich nicht so gravierend bemerkbar macht wie etwa bereits diagnostizierbare Varianten der Genitalentwicklung.
1.1.2. Kritikpunkte in Bezug auf die medizinisch-biologische Perspektive der Geschlechtsentwicklung In Bezug auf die bisher dargestellten medizinisch-biologischen Grundlagen lassen sich einige Kritikpunkte an der medizinischen Perspektive der Geschlechtsentwicklung formulieren.
1.1.2.1.
Behauptung einer Bipotenz der Gonaden
Die meisten Darstellungen der embryonalen Geschlechtsentwicklung folgen der Vorannahme, dass Gonaden bipotent bzw. indifferent seien. Der Biologe Heinz-Jürgen Voß kritisiert an dieser Charakterisierung, dass bereits hier von einem Entweder-Oder ausgegangen werde und Zwischenstufen in dieser Entwicklung nicht als normal, sondern nur als pathologisch in den Blick gelangen können.32 Dieser Fall trifft je nach Form in unterschiedlichen Ausprägungen auf intergeschlechtliche Menschen zu (vgl. Kap. 1.1.4), denn es kann sein, dass die äußeren Geschlechtsmerkmale weder als Penis noch als Vagina interpretiert werden können, oder eine Gonade sich weder zu Eierstöcken noch zu Hoden entwickelt.
1.1.2.2. Darstellung der Geschlechtsentwicklung als linearen Prozess Üblicherweise wird die Geschlechtsentwicklung in verschiedene Stadien eingeteilt, die mit dem Embryonalstadium beginnt und mit dem Ende der Pubertät als abgeschlossen gilt. Die genetische Anlage, die meist nicht als Disposition, sondern Determinante verstanden wird, gewinnt durch die raschen Fortschritte in der Genetik seit dem Ende des 20. Jh. an Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs. Das genetische bzw. chromosomale Geschlecht wird als maßgeblicher geschlechtsbestimmender Faktor angesehen, weshalb sich auch die Bezeichnung Geschlechtsdetermination durchgesetzt hat. Die Geschlechtsdifferenzierung von der Gonadenanlage bis zum somatischen Geschlecht nimmt dabei, wissenschaftstheoretisch gesehen, eine untergeordnete Rolle ein. Die Entwicklung des psychischen Geschlechts wird als letzte Entwicklungsstufe angesehen und soll maßgeblich von den biologischen Anlagen her bestimmt sein. Ob die Linearität dieser Entwicklung in dieser Form tragfähig ist, wird nicht nur durch Intergeschlechtlichkeit in Frage gestellt, zumal sich sowohl in der Pubertät als auch im Erwachsenenalter Änderungen des Geschlechts vollziehen, die somatische wie psychische Aspekte betreffen. Vielmehr muss sowohl von Wechselwirkungen geschlechtsdeterminierender und –differen32
Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 242.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
zierender Eigenschaften als auch von Wechselbeziehungen zwischen anderen Aspekten von Geschlecht ausgegangen werden. Damit öffnet sich das weite Forschungsfeld der Epigenetik, das in vielerlei Hinsicht erst in seinen Anfängen steht.
1.1.2.3. Strikt homologe Einteilung und Vorrangstellung des Männlichen Beinahe alle biologischen Darstellungen gehen von einem homologen Prinzip der Einteilung der Geschlechter in männlich und weiblich aus. Interessanterweise korreliert diese Einschätzung auch mit der von Pierre Bourdieu in der Sozialwissenschaft festgestellten homologen Einteilung der Geschlechter33 , wobei insbesondere das Prinzip aktiv/passiv zum Tragen kommt: Während die weibliche Geschlechtsentwicklung als passiv beschrieben wird34 – also dann geschieht, wenn kein SRY-Gen auf einem Geschlechtschromosom lokalisiert ist – wird der Vermännlichungsprozess mit aktiven Dynamiken umschrieben. »Die biologische ›Standardvorgabe‹ ist die Entwicklung zum weiblichen Phänotyp […]; die Differenzierung zum männlichen Phänotyp erfordert genetische und hormonelle Faktoren.«35 Das hat zur Folge, dass die männliche Entwicklung sehr viel detaillierter und häufiger untersucht wurde als die weibliche, weil man versuchte, »die gesellschaftlich vorgefundene Geschlechterordnung zu erklären – und dort dominierten Männer; ihre überlegene Position galt es wissenschaftlich zu begründen«36 . Beschreibungen in medizinischen Handbüchern zum männlichen Geschlecht sind deshalb durchschnittlich ebenfalls länger und komplexer.37 Pathologische Beschreibungen im Umfeld von Intergeschlechtlichkeit finden sich jedoch vorwiegend in der Gynäkologie.38 Die Suche nach unterscheidenden Merkmalen bei der Geschlechtsentwicklung unterschiedlichen Karyotyps führt zu einer homologen Systematisierung der Prozesse in der Biologie wie der Medizin mit je eigenen Begrifflichkeiten. Wenig Augenmerk liegt dabei auf den Gemeinsamkeiten der Entwicklung von unterschiedlichen Karyotypen wie den Unterschieden der Entwicklung von gleichen Karyotypen. Die sprachliche Differenzierung verschleiert zusätzlich, dass für die klare Trennung zwischen weiblich und männlich nicht die Biologie, sondern der die Medizin beeinflussende heteronormative Diskurs verantwortlich ist.
1.1.2.4. Vernachlässigung von Individualität Mit der Zuschreibung einzelner Phänomene an vorherbestimmte geschlechtliche Kategorien wird der biologischen Vielfalt ein Stück ihrer Komplexität genommen und indi-
33 34 35 36 37
38
Vgl. Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft (La domination masculine; übers. v. Jürgen Bolder) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2031), Frankfurt a.M. 1998 [2013], 18. Vgl. Krege, Susanne, Pathologische Befunde am äußeren Genitale/Intersex, in: Der Urologe. Ausg. A 49/12 (2010) 1490–1495, hier: 1491. Schultka, Genese und Entwicklung der Geschlechtsorgane, 15. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 161. Vgl. etwa die unterschiedlichen Darstellungen in folgenden Handbüchern: Vgl. Moore u.a., Embryologie; Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie; Ulfig – Brand-Saberi, Kurzlehrbuch Embryologie. Vgl. Malliou-Becher, Nefeli u.a., Varianten der Geschlechtsentwicklung in der Frauenheilkunde, in: Gynäkologische Endokrinologie 19/1 (2021) 2–10; Rall, Katharina K. u.a., Fehlbildungen des weiblichen Genitales und operative Therapie, in: Gynäkologische Endokrinologie 19/1 (2021) 19–29.
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viduelle Charakteristika geraten auf Kosten von Vereindeutigung in den Hintergrund. Voß kritisiert daran anschließend, dass auf diese Weise das Thema der je individuellen Geschlechtsentwicklung eines Menschen außen vor gelassen wird und hierdurch eine pathologisierende Sichtweise begünstigt wird.39
1.1.2.5. Pathologisierung von Varianten der Geschlechtsentwicklung Alle Entwicklungsstadien, die sich nicht in das zuvor benannte homologe Schema einteilen lassen, werden in Handbüchern als Störung und Abweichung in Nebenbemerkungen und farbig markierten Kästchen näher erläutert. Die Terminologie, die hier verwendet wird, charakterisiert intergeschlechtliche Phänomene deutlich als Krankheit. Folglich werden Behandlungsempfehlungen genannt, diese Entwicklungen operativ zu korrigieren, obwohl das in vielen Fällen therapeutisch nicht notwendig ist. Erst neuere Publikationen sind gegenüber Vorschlägen zu vorschnellen Operationen zurückhaltender geworden.40 Um diese Problemlage näher darzustellen, wird dieser fünfte Kritikpunkt im folgenden Kapitel eigens erläutert. Nach einer kurzen Begriffsdefinition wird hier auf die derzeit herrschenden Klassifikationen verwiesen, die diese Pathologisierung bis vor Kurzem noch gestützt haben und daher in der Praxis immer wieder operative Eingriffe ohne die Einwilligung der meist noch im Säuglingsalter befindlichen Kinder zur Folge hatten.
1.1.3. Gebräuchlichkeit der Nomenklaturen Noch bis vor wenigen Jahren wurde der Diskurs zum Thema Intergeschlechtlichkeit im Verborgenen geführt, obschon das Wissen darum, dass die anatomische Geschlechtsentwicklung variantenreich ist, schon lange im kollektiven Gedächtnis verankert ist.41 Damit ist der neue Begriff Intergeschlechtlichkeit eine Bezeichnung für ein altes Phänomen, das von Androgynität bis Zwittertum viele Namen kennt, einschließlich seiner moralischen Bewertung. Der Terminus Hermaphroditismus ist neben dem etwas selteneren Begriff Zwitter(tum) bis zum 20. Jh. die gängigste Bezeichnung für Intergeschlechtlichkeit. Hermaphroditos ist eine Gestalt antiker Mythologie und bezeichnet den Sohn der Aphrodite und des Hermes, welcher durch göttliches Wirken mit der in ihn verliebten Nymphe Salmakis verschmilzt. Auf diese Weise wird Hermaphroditos zu einem Zwitter mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsteilen. Ein weiterer antiker Mythos ist der fiktiv literarische Dialog Symposion des antiken Philosophen Platon, von welchem der Begriff Androgynität stammt. Darin lässt Platon den Komödiendichter Aristophanes als Erzähler auftreten, welcher eine Rede und Erklärung über den Ursprung des erotischen Begehrens (Eros) hält. Dem Mythos zufolge
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41
Vgl. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 163. Vgl. Krege, Susanne, Das adrenogenitale Syndrom beim Mädchen/junger Frau, in: Der Urologe. Ausg. A 53/2 (2014) 206–212; vgl. Riedl, Varianten der Geschlechtsentwicklung/DSD – Update Genetik. Vgl. Rolker, Christof, Der Hermaphrodit und seine Frau. Körper, Sexualität und Geschlecht im Spätmittelalter, in: Historische Zeitschrift 297/3 (2013) 593–620, hier: 592.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
seien Menschen ursprünglich kugelförmige Wesen mit je vier Händen und Füßen, sowie zwei Gesichtern (aber einem Kopf) gewesen und hätten aus Übermut versucht, den Himmel zu stürmen. Als Strafe trennte Zeus sie jeweils in zwei Hälften, die daraufhin wegen ihrer Unvollständigkeit dazu verdammt waren, die verlorene andere Hälfte wiederzufinden. Die Kugelmenschen waren teils rein männlich, teils rein weiblich, andere aber – androgynoi genannt – hatten einen männlichen und einen weiblichen Teil.42 In der Antike wird Androgynos (ανδρόγυνος) vorwiegend als Schimpfwort für einen verweiblichten Mann gebraucht. Das auf das althochdeutsche zwitarn/zwitorn zurückgehende Wort Zwitter meint zunächst »›Abkömmling von zwei Wesen unterschiedlicher Art‹ (besonders von einander nicht ebenbürtigen Eltern)«43 und erfährt erst im 13. Jh. eine Bedeutungsverschiebung hin zu einem Lebewesen mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen, niedere Tiere und Pflanzen mit eingeschlossen. Im Mittelalter werden außerdem die Begriffe hermaphroditos und androgynus synonym gebraucht.44 Anders als der Begriff Intergeschlechtlichkeit ist die Begriffsbestimmung bei Hermaphroditismus deutlich weniger von einer medizinischen Interpretation geprägt. Das Phänomen selbst ist seit der Antike bis ins 17. Jh. vorwiegend ein soziales, rechtliches und moralisches. Die Pathologisierung und Medikalisierung von Hermaphroditismus infolge der sich ausdifferenzierenden Klassifikationsschemata beginnt erst im 16./17. Jh. Die Auffassung über ein überzeitliches Naturgesetz, zu deren Ordnung nun auch die Vorstellung einer Binarität der Geschlechter gehört, verschärft sich im 18. und besonders im 19. Jh. Im 20. Jh. tritt aufgrund von neuen kosmetischen Operationsmöglichkeiten neben der sonst gebräuchlichen Unterscheidung von echtem Hermaphroditismus und Pseudohermaphroditismus auch der Begriff Intersexualität auf, der von dem Biologen Richard Goldschmidt 1915 geprägt wird.45 Sein Begriff befreit Intergeschlechtlichkeit zum einen von seiner mythisch-antiken Erblast, bildet aber andererseits den Nährboden für naturalistische Interpretationen von Zweigeschlechtlichkeit. Die moralische Bewertung des biologischen Status wird zunehmend an den sich in der Neuzeit herausbildenden sozialen Geschlechterkonzepten gemessen. Zwischen den Geschlechtern zu stehen, wird allmählich zu einer Gegebenheit, für die man sich zu schämen hat und die aus diesem Grund auch nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll. Der in dieser Arbeit gewählte Terminus Intergeschlechtlichkeit grenzt sich von dem ehemals bevorzugten Begriff Intersexualität insofern ab, als dieser nicht die Konnotation hervorruft, bei diesem Phänomen handle es sich um eine sexuelle Einstellung oder Orientierung. Er will das Bewusstsein schaffen, dass es neben den Optionen Frau und Mann, eine dritte Option gibt, wie etwa der österreichische Verfassungsgerichtshof im Zuge der
42 43
44 45
Vgl. Platon, Symposion. Griechisch und deutsch, hg. v. Franz Boll – Wolfgang Buchwald (Sammlung Tusculum), München 8 1989, 51–59. Pfeifer, Wolfgang, Art. Zwitter, in: Ders. (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, 1993. URL: https://www.dwds.de/d/wb-etymwb [Abruf: 14. März 2023], hier: 1. Vgl. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 600. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 226.
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Erweiterung des Personenstandsgesetzes um einen dritten Geschlechtseintrag am 29. Juni 2018 festhält.46 Diese verfassungsgemäße Interpretation des Personenstandsgesetzes bleibt für den gegenwärtigen Sprachgebrauch auch innerhalb von intergeschlechtlichen Vereinen umstritten, weshalb es weitere sprachliche Varianten Intersex, Intersex*, Inter* etc. wie auch Entwürfe für eigene Anreden, Personalpronomen und weitere sprachliche Umgangsformen gibt.47 Davon zu unterscheiden sind noch einmal die Fachtermini im medizinischen Bereich, wo die Bezeichnung disorder of sex development (DSD) in Anlehnung an das 2006 veröffentlichte Consensus Statement on the Mangement of Intersex Disorders48 gewählt worden ist. Es wird der terminologische Vorschlag gemacht: »The term ›disorders of sex development‹ (DSD) is proposed, as defined by congenital conditions in which development of chromosomal, gonadal, or anatomical sex is atypical.«49 Das Consensus-Statement unterscheidet unter dem Dachterminus DSD zwei Formen von Intergeschlechtlichkeit: jene, die von Geburt an sichtbar sind (Hermaphroditismus verus) und jene, die verborgen bleiben (Pseudohermaphroditismus femininus bzw. masculinus), weil die intergeschlechtlichen Merkmale sich im Körperinneren verbergen.50 Die Bezeichnung DSD steht allerdings unter der Kritik, eher die Interessen von Ärzt*innen als jene von intergeschlechtlichen Menschen zu repräsentieren, weil mit der Bezeichnung einer Störung erneut eine Pathologisierung erfolgt, die medizinische Eingriffe zu rechtfertigen scheint. Der Vorschlag Varianten der Geschlechtsentwicklung (VSD) wurde abgelehnt, weil sich diese Abkürzung im medizinischen Lexikon bereits unter Ventrikelseptumdefekt durchgesetzt hatte.51 Von manchen Aktivist*innen wird DSD aber positiv aufgefasst, weil damit gezeigt werde, dass es sich bei Intergeschlechtlichkeit um eine Störung wie jede andere handle und sie somit gegenüber anderen Störungen normalisiert werde. Begrüßt wird dabei, dass nun nicht mehr der Versuch unternommen wird, mit einem einzigen Begriff die gesamte Identität eines intergeschlechtlichen Menschen festzuschreiben.52 Die Nomenklatur im medizinischen Bereich ist allerdings weiterhin umstritten. Die ICD-11 (international classification of deseases, 11. Version) der WHO definiert Intergeschlechtlichkeit ebenfalls in Anlehnung an das Consensus Statement als disorder.53 Seit dem rechtlichen Diskurs in den letzten Jahren (vgl. Kap. 1.3.4) gibt es mittlerweile auch andere In46
47
48 49 50
51 52 53
Vgl. VfGH Österreich, Intersexuelle Menschen haben Recht auf adäquate Bezeichnung im Personenstandsregister. Presseinformation, 2018. URL: https://www.vfgh.gv.at/downloads/VfGH_Pr esseinfo_G_77-2018_unbestimmtes_Geschlecht.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Baumgartinger, Persson, Lieb[schtean] Les[schtean] [schtean] du das gerade liest… Von Emanzipation und Pathologisierung, Ermächtigung und Sprachveränderungen, in: Liminalis 2 (2008) 24–39. Vgl. Lee u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders. Hughes, Ieuan A. u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders, in: Advances in Neonatal Care 7/1 (2007) 554–563, hier: 554. Vgl. Diamond, Milton, Transsexualism as an Intersex Condition, in: Gerhard Schreiber (Hg.), Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven, Berlin – Boston 2016, 43–54, hier: 47. Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 94. Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 94. Vgl. WHO, ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics, 2019. URL: https://icd.who.int/browse11/ l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/565049612 [Abruf: 14. März 2023].
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
terpretationen dieser Abkürzung. Der österreichische Arzt Stefan Riedl formuliert sie so: »Varianten der Geschlechtsentwicklung (»differences of sex development«, DSD) sind angeborene Zustände mit einem chromosomal, gonadal oder anatomisch untypischen Geschlecht. Sie werden nach zugrunde liegendem Karyotyp eingeteilt (46,XX-DSD; 46,XY-DSD; chromosomale DSD). Neben seltenen ausgeprägten intergeschlechtlichen Zuständen (1:4500) werden nach dieser Definition auch die relativ häufigen Hypospadien (1:300) sowie numerische Chromosomenvarianten (45,X; 47,XXY) dazugezählt.«54 Auch wenn die aufkommende Sensibilität in der Bezeichnung ein wichtiger Schritt ist, bleiben pathologisierende und strittige Elemente in der Interpretation erhalten. Ausschlaggebend für die Diagnostik ist dementsprechend eine untypische Geschlechtsentwicklung, was in zweierlei Hinsicht interessant ist: Zum einen wird nicht erläutert, was genau im Gegensatz zum Typischen als untypisch zu definieren ist, zum anderen fehlt eine Referenzangabe, nämlich diejenige, über welche Merkmale das Untypische definiert wird (prozentuelle, phänotypische, ästhetische, standardnormative etc. Abweichung). Das heißt, es fehlt einerseits der Nachweis darüber, ob es die behauptete Polarität zwischen typisch und untypisch in dieser Klarheit überhaupt gibt und daher als dichotome Einteilung dienen kann, und zum anderen, woran die Polarität gemessen wird. Dass sich dieser Widerspruch bereits in der Definition von DSD auch in der späteren Klassifizierung der einzelnen Formen niederschlägt (vgl. Kap. 1.2.2), ist daher nicht verwunderlich. Auffällig ist allerdings in vielen Definitionen und Klassifikationssystemen, dass vorwiegend das Erscheinungsbild der äußeren Genitalien darüber entscheidet, ob ein Phänomen als DSD klassifiziert wird, oder nicht. Nach welchen Maßstäben Angleichungen erfolgen, obliegt offenbar dem ästhetischen Urteil von Ärzt*innen (vgl. Kap. 1.3.3).
1.1.4. Empirische Perspektiven zu Varianten der Geschlechtsentwicklung Ausschlaggebend für eine Klassifizierung als DSD sind neben sekundären (Haarwuchs, Brustbildung, …) und tertiären Geschlechtsmerkmalen (Körpergröße, Knochenbau, Verhalten, …) vor allem als ambivalent eingestufte primäre Geschlechtsmerkmale (Genitalien): vergrößerte Klitoris, verschmolzene Labien, Mikropenis, Hypospadie etc. Auch das Fehlen (Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom – Fehlen des Uterus), Verborgensein (Kryptorchismus – Hoden im Bauchraum) oder Fehlbildungen der Geschlechtsorgane (Kloakenekstrophie – verschmolzener Ausgang der Verdauungs-, Geschlechts-, und Exkretionsorgane) werden teilweise als intergeschlechtliches Phänomen diagnostiziert. Weit weniger diskutiert und erforscht ist die Fertilität dieser Menschen, oder wie diese befördert werden kann. Wohl auch aufgrund dessen, weil durch die Operationen im Kindesalter häufig Gonaden entfernt und damit eine Spermatogenese oder Oogenese grundlegend ausgeschlossen werden.
54
Riedl, Varianten der Geschlechtsentwicklung/DSD – Update Genetik, 66.
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Die folgende Beschreibung von Varianten der Geschlechtsentwicklung in drei Kategorien verzichtet bewusst auf die gängige Einteilung von DSD, sondern systematisiert die einzelnen Erscheinungsformen nach genetischen, hormonellen und exogenen Bedingungen, die jeweils mit Beispielen unterlegt sind. Dies dient einerseits dazu, um die noch in Kap. 1.2.4 folgende Kritik an herkömmlichen Klassifizierungsgrundlagen zu stützen, als auch dazu, auf Formen der Geschlechtsentwicklung aufmerksam zu machen, die üblicherweise nicht als intergeschlechtliches Phänomen bezeichnet werden, obwohl sie ebenso die dichotome Einteilung in Weiblichkeit und Männlichkeit untergraben.55
1.1.4.1.
Kategorie 1: genetisch bedingte Varianten der Gonadenentwicklung
Mit der genetisch begründeten dichotomen Einteilung in Mann und Frau liegt biologisch gesehen ein Kategorisierungsproblem vor. Die genetische Grundlage variiert bspw. bei manchen Formen von Intergeschlechtlichkeit derart, dass neben diesen beiden Varianten eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten bestehen, wie Chromosomen strukturell oder numerisch zusammengesetzt sind.56 So kann ein Teil des Chromosomenpaares vollständig fehlen (45,X; 45,Y = Monosomie). Es können auch drei oder mehrere Geschlechtschromosomen vorhanden sein (47,XXY; 47,XXX; 47,XYY = Polysemie), oder die Zusammenstellung unterscheidet sich von Körperzelle zu Körperzelle (46,XX/46,XY; 46,XX/45,X; 46,XY/45,X etc. = Mosaik/Chimäre). Außerdem ist es möglich, dass aufgrund einer Genmutation Teile eines Chromosoms fehlen oder zusätzlich bestehen (SRY+; dup. S0X9) und sich auf diese Weise das äußere Erscheinungsbild (Phänotyp) vom chromosomalen Befund (Karyotyp) unterscheidet. Im Fall der Gonadendysgenesie bei Chromosomensatz XY bedeutet das meist Hypospadie und Hodenhochstand. Die gemischte Gonadendysgenesie wiederum, deren Ursache meist ein Chromosomenmosaik ist (z.B. 46,XX/46,XY), ist durch ein völlig breites Spektrum an phänotypischen Merkmalen gekennzeichnet.57 Dabei können verschiedene Organe unterschiedliche Chromosomensätze haben, weshalb es auch zu voneinander unabhängigen Entwicklungen der linken und rechten Gonade kommen kann (z.B. Gonade mit testikulärer Struktur auf der einen Seite, dysplastische Gonade und verkümmerter Uterus auf der anderen Seite58 ). Ovotestes dagegen sind eine Mischform von testikulärem und ovariellem Gewebe, welche auch von Körperseite zu Körperseite unterschiedlich ausgeprägt sein können. Der Chromosomensatz weicht hier aber nicht von 46,XX oder 46,XY ab. Andere Varianten, wie etwa das Klinefelter Syndrom und Varianten (47,XXY) oder das Turner Syndrom (45,X) bedingen aufgrund des genetischen Status eine mehr oder weniger diverse Entwicklung der inneren wie äußeren Genitalien und werden je nach Klas-
55
56 57 58
Eine aktuelle und ausführliche Beschreibung von Varianten der Geschlechtsentwicklung findet sich in: Beier, Klaus M. u.a. (Hgg.), Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit, München 3 2021. Vgl. WHO, Gender and Genetics,. URL: https://www.who.int/genomics/gender/en/index1.html [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Hiort, Olaf, Gemischte Gonadendysgenesie, in: Uro-News 14/10 (2010) 24–28, hier: 26. Vgl. Hiort, Gemischte Gonadendysgenesie, 26.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
sifikation unterschiedlich bewertet (vgl. Kap. 1.2.2). Wieder andere Phänomene wie das XYY-Syndrom59 und das XXX-Syndrom60 , welche keine morphologischen Auffälligkeiten gegenüber den klassischen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aufweisen, werden nie als genetische Variante der Geschlechtsentwicklung angeführt.
1.1.4.2. Kategorie 2: hormonell bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung An der Steroidgenese, also der Herausbildung der Hormone, die für die Geschlechtsentwicklung zuständig sind, sind eine Reihe von Enzymen beteiligt (17-alpha-Hydroxylase, 17,20-Lyase, 17-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase, 5-alpha-Reduktase, 3-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase, 21-Hydroxylase, Aromatase, 11-beta-Hydroxylase). Bei einem Mangel, Fehlen oder einer Unterfunktion eines dieser Enzyme kommt es folglich zu einer Umverteilung des Hormonhaushalts, was Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsorgane im Embryonalstadium hat und somit Varianten hervorbringt.61 Weitere Indizien für eine veränderte Steroidsynthese sind unerwartete Virilisierungen und Feminisierungen62 im Pubertätsalter, etwa das Ausbleiben der Menstruation, Gynäkomastie (Brustwachstum) und Hirsutismus (starke Behaarung). Allerdings werden diese Phänomene nur dann als DSD diagnostiziert, wenn innere und äußere Geschlechtsorgane nicht mit den sekundären Geschlechtsmerkmalen zusammenpassen. Das erklärt auch, warum eigentlich als intergeschlechtlich interpretierbare Phänomene wie das Ausbleiben der Pubertät beim Noonan-Syndrom63 , oder der scheinbare Geschlechtswandel in der Pubertät beim Late-oneset-AGS64 meist nicht in den Klassifikationen aufscheinen. Es können also Feminisierungserscheinungen aufgrund eines AndrogenMangels und Virilisierungserscheinungen aufgrund eines Androgen-Überschusses unterschieden werden, ohne dabei den fließenden Übergang der jeweiligen Ausprägungen von Geschlechtsmerkmalen dichotom begründen zu müssen. Feminisierungserscheinungen beim Karyotyp 46,XY treten aufgrund eines Androgenmangels auf. Zu diesem Mangel kommt es, weil die für die Androgensynthese verantwortlichen Enzyme entweder zu wenig vorhanden sind, oder nicht entsprechend ihrer Funktion wirken können. Da Androgene während der Schwangerschaft und in der Pubertät die Virilisierung einleiten, bleibt letztere je nach Schweregrad des Enzymdefekts
59 60 61
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Vgl. Nieschlag, E. – Behre, H., Andrologie. Grundlagen und Klinik der reproduktiven Gesundheit des Mannes, Berlin – Heidelberg 2013, 222. Vgl. Moore u.a., Embryologie, 180. Die online verfügbare Grafik von Mikael Häggström gibt einen Überblick über die Steroidgenese und zeigt auf, welche Enzyme für die Umwandlungen der Geschlechtshormone zuständig sind. Vgl. Häggström, Mikael – Richfield, David, Diagram of the Pathways of Human Steroidogenesis, in: WikiJournal of Medicine 1/1 (2014) 1, hier: 1. Die Begriffe Feminisierung und Virilisierung werden aufgrund der besseren Verständlichkeit verwendet, ohne damit aber eine idealtypische Ausprägung der Geschlechtsmerkmale in einem binären Raster zu behaupten. Vielmehr sollen damit Tendenzen der Entwicklung zu entweder Penis, Hoden, Bartwuchs etc. oder Klitoris, Schamlippen, Eierstöcke, Brust etc. benannt werden. Vgl. Nieschlag – Behre, Andrologie, 222. Vgl. Breckwoldt, Meinert u.a. (Hgg.), Gynäkologie und Geburtshilfe. 361 Abbildungen 117 Tabellen, Stuttgart, New York 5 2008, 77.
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aus. Bei dem Steroid-5-alpha-Reduktase-Mangel kann Testosteron nicht zu Dihydrotestosteron umgewandelt werden, infolgedessen es trotz eines Karyotyps von 46,XY zu einem mehr oder wenig diversen Erscheinungsbild der Genitalien kommt: versteckte Hoden (Kryptorchismus), verkleinerter Penis bzw. vergrößerte Klitoris (Mikropenis bzw. Klitorishypertrophie) etc.65 Auch Resistenzen gegenüber Hormonen können bestehen. Im Fall der Androgeninsensivität (AIS), die je nach Schweregrad als komplett (CAIS) oder partiell (PAIS) bezeichnet wird, tauchen ebenfalls ambivalent erscheinende Genitalien und innenliegende Hoden auf.66 Nach der Pubertät kann die Synthese des Hormonhaushalts beim Karyotyp 46,XY weiterhin beeinflusst werden. Beim Vorliegen von Adipositas (Fettleibigkeit) werden bspw. die Androgene in den Fettzellen zu Östrogenen umgewandelt, was zu einer Gynäkomastie (Brustwachstum) führen kann.67 Virilisierungserscheinungen beim Karyotyp 46,XX hängen meist mit einem Androgenüberschuss zusammen, der auf das Fehlen oder den Defekt von Enzymen zurückzuführen ist, die sonst die Umwandlung von Androgenen in Östrogene und von Progestagenen in Glucocorticoide und Mineralocorticoide bewirken. Zusammengefasst werden diese unterschiedlichen Varianten der Androgensynthese unter dem Begriff Adrenogenitales Syndrom (AGS). Die statistisch häufigste Ursache für AGS ist ein 21-alpha-HydrolaxeDefekt. Dieses Enzym ist für die Hormonproduktion in der Nebennierenrinde verantwortlich. Neben zu vielen Androgenen und virilisierten äußeren Genitalien kann es auch zum Fehlen von Cortison und Aldosterol kommen, was eine Salzverlustkrise auslöst und für das Neugeborene lebensbedrohlich ist. Im Körperinneren sind allerdings Eierstöcke, Eileiter und eine Gebärmutter vorhanden, wodurch Fertilität gegeben ist.68 Auch abseits von AGS kommen beim Karyotyp 46,XX Veränderungen des Hormonhaushaltes und morphologische Veränderungen vor. In der Menopause kommt es durch einen Gestagenmangel zu einem Überschuss an Androgenen. Nach und nach verhindert dies einen regelmäßigen Menstruationszyklus, was allmählich zu dessen Erliegen führt. Begleiterscheinungen sind oftmals schütteres Haupthaar, Bartwachstum69 und eine Veränderung des Fettverteilungsmusters.70 Es ist keineswegs selbstverständlich, dass diese Entwicklungen als normal gelten. Noch 1928 gilt das Klimakterium als eine Krankheit, die behandelt werden muß71 , um 1954 als schwer korrigierbare psychische Störung72 und wird erst 1979 als natürliche Lebensperiode angesehen.73
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67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 41. Vgl. Grüters-Kieslich, Annette, Störungen der Geschlechtsentwicklung, in: Rainer Finke – SvenOlaf Höhne – Grigore Cernaianu (Hgg.), Intersexualität bei Kindern, Bremen 2008, 38–43, hier: 36. Vgl. Diemer, Thorsten u.a., Testosterontherapie, in: Der Urologe. Ausg. A 55/4 (2016) 539–548, hier: 542. Vgl. Grüters-Kieslich, Störungen der Geschlechtsentwicklung, 32. Vgl. Göretzlehner, Gunther u.a., Praktische Hormontherapie in der Gynäkologie, Berlin – Boston 6 2012, 329. Vgl. Göretzlehner u.a., Praktische Hormontherapie in der Gynäkologie, 330. Vgl. Panke-Kochinke, Birgit, Die Wechseljahre der Frau. Aktualität und Geschichte (1772–1996), Wiesbaden 1998, 65–78. Vgl. Panke-Kochinke, Die Wechseljahre der Frau, 94–100. Vgl. Panke-Kochinke, Die Wechseljahre der Frau, 132.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
1.1.4.3. Kategorie 3: durch exogene oder unbekannte Faktoren bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung Als weitere eigene Kategorie finden sich manchmal unter den Aufzählungen auch durch exogene oder unbekannte Faktoren bedingte Fehlbildungen des Urogenitalsystems. Diese sind nicht primär durch eine veränderte Androgensynthese sondern externe Faktoren wie etwa Tumore74 , Medikamente75 , Umweltgifte76 etc. verursacht. So treten auch hier Virilisierungserscheinungen bei Karyotyp 46,XX oder Feminisierungserscheinungen bei Karyotyp 46,XY auf, ohne dass die Ursache in den meisten Fällen dafür genau geklärt wäre. Davon noch einmal zu unterscheiden sind urogenitale Fehlbildungen, die tatsächlich ein gesundheitliches Problem für die Betroffenen darstellen und nicht unter DSD, sondern andernorts klassifiziert werden.77 Bestimmte Urogenitalfehlbildungen – meist einzelne Symptome – werden dennoch häufig dieser Kategorie zugeordnet, vermutlich weil sie als Begleiterscheinung anderer Formen von Intergeschlechtlichkeit auftreten – z.B. Hypospadie bei einer Androgeninsensivität. Dabei handelt es sich um eine »Hemmungsfehlbildung der Harnröhre, die eine nach unten offene Rinne bildet«78 , was zur Folge hat, dass die Harnröhre nicht aus der Penisspitze, sondern unterhalb des Penisschaftes nach außen mündet und zu Schwierigkeiten beim Harnlassen oder häufigen Entzündungen der Harnwege führen kann. Eine Mehrfachzuordnung intergeschlechtlicher Phänomene in unterschiedliche Kategorien ist daher möglich.
1.1.5. Zusammenfassung: Geschlechtsentwicklung als lebenslanger, komplexer Prozess Die Ergebnisse des Kap. 1.1 lassen sich wie folgt zusammenfassen: Geschlechtschromosomen determinieren die Geschlechtsdifferenzierung weder vollständig noch abschließend, da die Geschlechtsentwicklung als ganze ein lebenslanger, komplexer Prozess ist. Damit steht auch die Bipotenz geschlechtlicher Anlagen in Frage. Die Entwicklung hin zu einem Geschlecht kennt nämlich nicht nur zwei einander entgegengesetzte Entwicklungsverläufe, sondern je nach organischen, (epi)genetischen und hormonellen Faktoren eine Vielfalt an möglichen Varianten, welche die Rede von einem Geschlechtsspektrum angemessen erscheinen lassen. Die Darstellung des medizinischen Kenntnisstandes hat auch offenbart, dass in der Vergangenheit die homologe Einteilung der Geschlechter und die Vorrangstellung des Männlichen zu einem Ungleichgewicht bzgl. des Kenntnisstandes von davon unterschiedenen Geschlechtsentwicklungen geführt hat. Individuelle Entwicklungsverläufe gerieten so in den Hintergrund und Varianten der Geschlechtsentwicklung nur mehr unter dem Fokus der Pathologie in den Blick. 74 75 76 77 78
Vgl. Bulun, Serdar E., Aromatase and Estrogen Receptor α Deficiency, in: Fertility and sterility 101/2 (2014) 323–329, hier: 5. Vgl. Moore u.a., Embryologie, 195. Vgl. Popovici, Roxana M., Umweltgifte und ihre hormonelle Wirkung, in: Gynäkologische Endokrinologie 11/3 (2013) 213–221, hier: 216. Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 46. Krause, Ute, Hypospadie, 2018, 1. URL: https://www.pschyrembel.de/hypospadie/K0AFK/doc/ [Abruf: 14. März 2023].
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Die biologische Variationsvielfalt stellt insbesondere die Medizin vor die Herausforderung, wie mit dieser Komplexität praktisch umgegangen werden soll. Vermehrt ist in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit ein Bemühen um Vereinfachung und Vereindeutigung beobachtbar, welches auf Kosten von Individualität geht. Davon zeugen einerseits die Subsummierung einzelner Varianten unter den Dachbegriff DSD wie auch die Bemühungen um eine nachvollziehbare Klassifikation. Die Tendenzen der neu eingeführten Terminologie, Pathologisierungen zu begünstigen, wurde von Wissenschaftler*innen und InterAktivist*innen selbst kritisch kommentiert. Aber auch nicht als intergeschlechtlich diagnostizierte Personen weisen Varianten der Geschlechtsentwicklung auf, wie in Kap.1.1.4 gezeigt werden konnte, weil lebenslange hormonelle Entwicklungen, aber auch akute Einflüsse die Geschlechtsidentität mehr oder weniger stark beeinflussen können. Biologisch werden diese Veränderungen jedoch nicht zu den Varianten der Geschlechtsentwicklung gezählt, was den Eindruck verstärkt, dass Intergeschlechtlichkeit in der Biologie und in weiterer Folge auch in der Medizin einen pathologischen Aspekt enthält. So konnte festgestellt werden, dass Varianten der Geschlechtsentwicklung nur als solche benannt werden, wenn sie gleichzeitig auch phänotypische Auswirkungen haben und sich ein ambiges Genitale entwickelt (vgl. Kap. 1.1.4.1), oder wenn die sekundären Geschlechtsmerkmale nicht den Erwartungen entsprechen, die von der Gestalt der inneren Geschlechtsorgane abgeleitet wurden (vgl. Kap. 1.1.4.2). Zudem stellte sich heraus, dass einzelne Phänomene eine Mehrfachzuordnung erfahren, wenn exogene oder unbekannte Faktoren eine Variante von Geschlechtsentwicklung bedingen (vgl. Kap. 1.1.4.3). Zusammenfassend ist festzustellen, dass der lebenslange und komplexe Prozess der Geschlechtsentwicklung nicht auf eine Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit reduziert werden kann. Die vielen möglichen Zwischenstufen, die insbesondere am Phänomen Intergeschlechtlichkeit augenfällig werden, umfassen anatomische, hormonelle und genetische Varianten der Geschlechtsentwicklung und stellen berechtigte Anfragen an medizinische Klassifikationen und Diagnostiken, die ein binäres Geschlechterkonzept zu ihrer normativen Grundlage machen. Abschließend lässt sich daher festhalten, dass vom biologischen Standpunkt aus die Binarität von Geschlechtlichkeit ein unzureichendes Konstrukt ist, von welchem keine normativen Vorgaben abgeleitet werden können. Kurz gesagt: Die Idee von nur zwei Geschlechtern ist zu vereinfachend, wie Claire Ainsworth in ihrem Aufsatz deutlich macht.79 Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden die medizinischen Klassifikationsschemata zu betrachten.
1.2. Medizinische Klassifikationen und Indikationen im Vergleich Wie bereits ersichtlich wurde, ist Intergeschlechtlichkeit alles andere als ein einheitliches Phänomen, was seine Systematisierung und Klassifizierung umso schwieriger macht.
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Vgl. Ainsworth, Claire, Sex Redefined. The Idea of Two Sexes is Simplistic. Biologist Now Think There is a Wider Spectrum than that, in: Nature 518/19. Februar 2015 (2015) 288–291.
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Die biologische Variationsvielfalt stellt insbesondere die Medizin vor die Herausforderung, wie mit dieser Komplexität praktisch umgegangen werden soll. Vermehrt ist in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit ein Bemühen um Vereinfachung und Vereindeutigung beobachtbar, welches auf Kosten von Individualität geht. Davon zeugen einerseits die Subsummierung einzelner Varianten unter den Dachbegriff DSD wie auch die Bemühungen um eine nachvollziehbare Klassifikation. Die Tendenzen der neu eingeführten Terminologie, Pathologisierungen zu begünstigen, wurde von Wissenschaftler*innen und InterAktivist*innen selbst kritisch kommentiert. Aber auch nicht als intergeschlechtlich diagnostizierte Personen weisen Varianten der Geschlechtsentwicklung auf, wie in Kap.1.1.4 gezeigt werden konnte, weil lebenslange hormonelle Entwicklungen, aber auch akute Einflüsse die Geschlechtsidentität mehr oder weniger stark beeinflussen können. Biologisch werden diese Veränderungen jedoch nicht zu den Varianten der Geschlechtsentwicklung gezählt, was den Eindruck verstärkt, dass Intergeschlechtlichkeit in der Biologie und in weiterer Folge auch in der Medizin einen pathologischen Aspekt enthält. So konnte festgestellt werden, dass Varianten der Geschlechtsentwicklung nur als solche benannt werden, wenn sie gleichzeitig auch phänotypische Auswirkungen haben und sich ein ambiges Genitale entwickelt (vgl. Kap. 1.1.4.1), oder wenn die sekundären Geschlechtsmerkmale nicht den Erwartungen entsprechen, die von der Gestalt der inneren Geschlechtsorgane abgeleitet wurden (vgl. Kap. 1.1.4.2). Zudem stellte sich heraus, dass einzelne Phänomene eine Mehrfachzuordnung erfahren, wenn exogene oder unbekannte Faktoren eine Variante von Geschlechtsentwicklung bedingen (vgl. Kap. 1.1.4.3). Zusammenfassend ist festzustellen, dass der lebenslange und komplexe Prozess der Geschlechtsentwicklung nicht auf eine Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit reduziert werden kann. Die vielen möglichen Zwischenstufen, die insbesondere am Phänomen Intergeschlechtlichkeit augenfällig werden, umfassen anatomische, hormonelle und genetische Varianten der Geschlechtsentwicklung und stellen berechtigte Anfragen an medizinische Klassifikationen und Diagnostiken, die ein binäres Geschlechterkonzept zu ihrer normativen Grundlage machen. Abschließend lässt sich daher festhalten, dass vom biologischen Standpunkt aus die Binarität von Geschlechtlichkeit ein unzureichendes Konstrukt ist, von welchem keine normativen Vorgaben abgeleitet werden können. Kurz gesagt: Die Idee von nur zwei Geschlechtern ist zu vereinfachend, wie Claire Ainsworth in ihrem Aufsatz deutlich macht.79 Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden die medizinischen Klassifikationsschemata zu betrachten.
1.2. Medizinische Klassifikationen und Indikationen im Vergleich Wie bereits ersichtlich wurde, ist Intergeschlechtlichkeit alles andere als ein einheitliches Phänomen, was seine Systematisierung und Klassifizierung umso schwieriger macht.
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Vgl. Ainsworth, Claire, Sex Redefined. The Idea of Two Sexes is Simplistic. Biologist Now Think There is a Wider Spectrum than that, in: Nature 518/19. Februar 2015 (2015) 288–291.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
»In der mit heftigen Emotionen geführten öffentlichen Debatte über die ethisch richtige Behandlung von Kindern mit DSD stellen sich zwei grundsätzliche Verständigungsprobleme. Dasjenige der Abgrenzung: Welche Besonderheiten des Genitales sollen als DSD gelten? Und dasjenige der Variabilität: Kann man generell über Kinder mit DSD als eine einheitliche Entität sprechen?«80 Besonders die letzte Frage muss mit kritischem Blick auf das Ziel des Consensus Statements, nämlich »die zum Teil sehr unterschiedlichen Begriffsverwendungen in medizinischen Kontexten zu vereinheitlichen und zu vereinfachen«81 , noch einmal gestellt werden. Offenbar liegen dem Dokument mehrere Kriterien zugrunde, die teils miteinander kombiniert, teils gesondert betrachtet werden und so mitunter in Konkurrenz geraten können. Auf diese Weise werden Phänomene als DSD beschrieben, die durchaus nicht unbedingt als solche klassifiziert werden müssten, andere wiederum fehlen, die nach dem Systematisierungs-Schema eigentlich einzutragen wären. Eine tabellarische Übersicht des Vergleichs zweier Klassifikationssysteme findet sich am Ende von Kap. 1.2.2.
1.2.1. Consensus Statement: männlicher Phänotyp als verschleierte und fragwürdige Systematisierungsgrundlage Zunächst erschweren die unterschiedlichen Bezeichnungsmöglichkeiten für die jeweiligen Varianten bereits innerhalb einer Sprache die Systematisierung. Dabei können Definitionsarten in unterschiedlichen Sprachen zu unterschiedlichen Zeiten noch einmal zusätzlich voneinander abweichen. Bspw. wurden die meisten Formen, die auf Enzymstörungsfunktion basieren, im Englischen auch unter dem früher verwendeten Begriff congenital adrenal hyperplasia (CAH, kongenitale Nebennierenhyperplasie) zusammengefasst. Diese Bezeichnung betrifft die morphologische Beschreibung, während die nun seit dem Consensus Statement verwendeten Termini das Enzym benennen, das zu einer erhöhten oder verminderten Produktions- oder Wirkungsweise von Sexualhormonen führt (z.B. 21-Hydroxylase-Defekt). Im Deutschen gibt es daneben noch die Bezeichnung Adrenogenitales Syndrom (AGS). Für andere Varianten sind wiederum Bezeichnungen gängig, die nicht die Ursache oder ein Symptom benennen, sondern ein Kompositum aus Eigennamen bilden, z.B. Müller Gang Persistenz Syndrom. Gruppiert werden die Formen scheinbar nach Karyotyp, die einer binären Einteilung der Geschlechter in 46,XX-DSD und 46,XY-DSD Rechnung trägt. Da diese Einteilung aber durch Karyotypen unterwandert wird, die nicht in dieses System passen, gibt es die dritte Gruppe, die chromosomale DSD genannt wird. Würde man tatsächlich durchgängig nach genetischen Gesichtspunkten klassifizieren, müsste die letzte Gruppe entweder nach den jeweiligen Karyotypen (z.B. XXY-DSD,X0-DSD etc.) benannt, oder unter dem Sammelbegriff andere genetische Varianten zusammengefasst werden. Zudem müsste in der Gruppierung der genetischen Varianten auch die Formen der Testicular DSD (z.B.
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Kind, Christian, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, in: Bioethica Forum 7/2 (2014) 53–55, hier: 54. Voß, Intersexualität – Intersex, 10–11.
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Mehrdeutige Körper
SRY+; dup SOX9) und das Triple-X-Syndrom, aufgeführt werden, da es sich hier ebenfalls um genetische Varianten der Geschlechtschromosomen handelt. Dass sich Letztere nicht, wie nach der beschriebenen Einteilung zu erwarten wäre, bei den chromosomalen, aber unter der Klassifizierung von 46,XX-DSD befindet, zeigt indirekt zweierlei auf: Zum einen, dass bei der Klassifizierung dem Phänotyp ein Vorrang gegenüber dem Karyotyp gegeben wird und zum anderen, dass der männliche Phänotyp als normativer Referenzrahmen dient. Das wird anhand der Beispiele noch deutlicher, die beide unter der Kategorie 46,XX-DSD geführt werden: Bei der Testicular DSD SRY+ handelt es sich um eine Translokation des SRY-Gens auf ein X-Chromosom, welches sich sonst nur auf einem Y-Chromosom befindet, was zur Ausbildung männlicher Geschlechtsorgane bei dem Karyotyp 46,XX führt.82 Bei der Testicular DSD dup. SOX9 ist das Gen SOX9 doppelt vorhanden, was zu einer Ausbildung weiblicher Geschlechtsorgane bei Karyotyp 46,XY führt. Dieses Gen spielt für die männliche Geschlechtsdifferenzierung eine wesentliche Rolle.83 Beide Formen werden aber bei 46,XX-DSD angeführt. Aufgrund eines stark binär-phänotypischen Referenzrahmens fehlt dagegen das Triple-X-Syndrom in der Einteilung des Consensus-Statements völlig, denn die genetische Form des Geschlechts entspricht phänotypisch gesehen einer weiblichen Ausprägung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale eines Karyotyps 46,XX (Vagina, Ovarien, Brustbildung in der Pubertät etc.). Obwohl morphologische Varianten nicht explizit als Gruppe markiert sind, geben sie den entscheidenden Anstoß für die Systematisierung. Logisch konsistenter, aber wissenschaftlich viel umstrittener, wäre demnach eine Klassifizierung nach dem Prader-Schema (vgl. Kapitel 1.2.3). Dieses Schema bringt allerdings weitere Probleme mit sich. Mit dieser Diagnostik wird ausdrücklich die Vermännlichung des weiblichen Genitals in unterschiedlichen Abstufungen dargestellt;84 unbeachtet bleibt dabei, dass in umgekehrter Reihenfolge auch eine Verweiblichung des männlichen Genitals bei anderen Varianten der Geschlechtsentwicklung dargestellt werden könnte. Solche Schemata existieren aber nicht. Die Abbildungen würden sich dabei freilich nicht unterscheiden, aber die Rangfolge wäre eine andere und der implizit anklingende Anspruch des Männlichen als normative Vorgabe gemindert. Da die Kategorie Other bei 46,XX im Consensus Statement fehlt – diese wird erst später durch durch Hughes u.a.85 ergänzt – liegt es nahe, dass man sich auch hier primär am Männlichen orientiert hat. Diese Kategorie umfasst im Consensus Statement morphologische, aber weder chromosomale, noch hormonell bedingte Varianten der Genitalentwicklung beim Karyotyp 46,XX. Varianten der Urogenitalentwicklung, die nach dem Klassifikationsschema des Consensus Statements beim Karyotyp 46,XY aufscheinen müssten, werden also vorerst ausgeblendet. Schwere Hypospadien und die Kloakenekstrophie als phänotypische Varianten werden hier erst durch Hughes u.a. hinzu82
83 84 85
Vgl. Sharp, A. u.a., Variability of Sexual Phenotype in 46,XX (SRY+) Patients. The Influence of Spreading X Inactivation versus Position Effects, in: Journal of medical genetics 42/5 (2005) 420–427. Vgl. Huang, Bing u.a., Autosomal XX Sex Reversal Caused by Duplication of SOX9, in: American Journal of Medical Genetics 87/4 (1999) 349–353. Vgl. Grüters-Kieslich, Störungen der Geschlechtsentwicklung, 33. Vgl. Hughes, Ieuan A. u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders, in: Archives of disease in childhood 91/7 (2006) 554–563.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
gefügt. Im medizinischen Bereich wird der ergänzte Bericht als Grundlage für spätere Leitlinien gewählt. Zusammenfassend lässt das darauf schließen, dass das Consensus Statement deutlich stärker nach anatomisch-morphologischen Kriterien operiert, als es zunächst den Anschein macht, und dass es dabei vornehmlich um eine männlich geprägte Sichtweise geht. Anomalien werden in Referenz zum Männlichen hergestellt, was an der empfohlenen Verwendungsweise des Prader-Schemas86 (vgl. Kap. 1.2.3) wie auch der gänzlich fehlenden Beschreibung von Fehlbildungen des Urogenitalsystems (schwere Hypospadie, Kloakenekstrophie) beim Karyotyp 46,XY abzulesen ist. Die immer wiederkehrende, aber oftmals inkonsequente Referenz auf den jeweiligen Chromosomensatz kann mit der wissenschaftsdominierenden Fixierung auf Chromosome und Gene im 20. und 21. Jh. erläutert werden,87 welche hiermit offensichtlich einen Geltungsanspruch ästhetischer Deutungsmuster durchsetzen möchte. Im Vergleich dazu scheint der Deutsche Ethikrat in seiner Systematisierung konsequenter, aber auch hier dominiert vorwiegend ein phänotypisch orientierter Blick auf die Genitalien.
1.2.2. Deutscher Ethikrat: alternativer Systematisierungsvorschlag Der Deutsche Ethikrat klassifiziert DSD laut eigenen Angaben nach drei Gesichtspunkten, erwähnt aber neben (1) »DSD bei angeborener atypischer Ausprägung der Gonaden«, (2) »DSD bei angeborenen Störungen des Hormonhaushaltes mit Unterfunktion der Androgene« und (3) »DSD bei angeborenen Störungen des Hormonhaushaltes mit Überfunktion der Androgene« auch (4) »Fehlbildungen des Urogenitalsystems im Umfeld von DSD« und widmet ihm sogar einen eigenen Gliederungspunkt.88 Weil das ConsensusStatement aber gerade manche dieser Erscheinungen auch als DSD wertet, wurde es als eigene Kategorie in die Zusammenstellung aufgenommen. Dabei sind noch einige Anmerkungen zu machen: Wie bereits erwähnt, deckt Intergeschlechtlichkeit ein breites phänotypisches Spektrum ab, das vorwiegend an ästhetischen Maßstäben orientiert ist. Die Einteilung des Ethikrats lässt diese Sichtweise auf Intergeschlechtlichkeit in Punkt 1 und 4 erkennen. Dass für die weiteren beiden Kategorien der Androgenhaushalt als Hauptmerkmal für das Vorliegen von Intergeschlechtlichkeit benannt wird, scheint dagegen inkonsequent. Punkt 2 und 3 zeigen nämlich nicht das phänotypische Endresultat des Hormonüberschusses, sondern den Grund für die Veränderung. Würde konsequent nach einem ästhetischen Kriterium eingeteilt werden, müsste die Bezeichnung für Punkt 2 bspw. Feminisierungserscheinungen aufgrund einer Androgenunterfunktion und für Punkt 3 Virilisierungserscheinungen aufgrund einer Androgenüberfunktion lauten. Mit der jeweils unterschiedlichen Perspektivierung der Klassifikation soll aufgezeigt werden, dass sich sowohl das Consensus Statement als auch der Deutsche Ethikrat an phänotypischen Merkmalen orientieren, wenn auch teilweise implizit. Der Vergleich der beiden Systematisierungen zeigt ein zentrales Problem auf, welches für die statistische 86 87 88
Vgl. Lee u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders, 4. Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 238. Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 36–37.
37
38
Mehrdeutige Körper
Auswertung sehr bedeutsam ist: Die Anzahl an Einträgen je Kategorie variiert je nach kriteriologischer Grundlage und Differenzierung erheblich. lassen sich dadurch drei Problembereiche markieren, welche die Aussagekraft der bisherigen statistischen Erhebungen fraglich werden lassen:
1.2.2.1. Mehrfachzuordnung eines Phänomens in mehrere Kategorien Davon ist das Phänomen Ovotestes betroffen, welches gleich dreimal (Sex chromosome DSD; 46,XX-DSD; 46,XY-DSD) angeführt wird. Hier wird berücksichtigt, dass Ovotestes unterschiedliche Ursachen haben, allerdings kann diese Zuordnung irreführend sein, wenn man bedenkt, dass phänotypisch gesehen das Vorliegen beider Geschlechtsmerkmale möglich ist und die Einteilung in 46,XX und 46,XY wohl unpassend ist – als gäbe es weibliche und männliche Ovotestes.
1.2.2.2. Erwartbare Kategorien oder Phänomene fehlen Es findet sich, wie bereits beschrieben, keine Kategorie Other bei Karyotyp 46,XY-DSD. Der Ethikrat nennt hier die Kloakenekstrophie, andererseits fehlen dort die Müllerian, renal, cervicothoracic somite abnormalities (MURCS), sowie der Androgen biosynthesis defect (StAR), der beim Ethikrat wohl unter die Kategorie DSD aufgrund einer Androgenunterfunktion zuzuordnen wäre.
1.2.2.3. Die Klassifizierungen differenzieren einzelne Phänomene unterschiedlich genau Das Consensus-Statement unterscheidet eine Reihe von Gonadendysgenesien (Ovotesticular DSD jeweils nach Karyotyp; 45,X/46,XY [Mixed gonadal dysgenesis]; Complete gonadal dysgenesis [Swyer Syndrom]; Partial gonadal dysgenesis; Gonadal regression; Testicular DSD;), die der Deutsche Ethikrat unter dem genannten Begriff zusammenfasst. Turner Syndrom und Klinefelter Syndrom werden vom Deutschen Ethikrat gar »nicht dargestellt, weil sie anatomisch keine zwischengeschlechtlichen Merkmale aufweisen«89 . Begleiterscheinung des Klinefelter Syndroms können aber kleine Hoden sein. Während der (verzögerten) Pubertät kommt es gegebenenfalls bei beiden Syndromen zu leichten Feminisierungs- oder Virilisierungserscheinungen.90 Auch die partielle Gonadendysgenesie, die Gonadenregression und die testikuläre DSD werden hier nicht eigens benannt. Dagegen ist verwunderlich, dass das Adrenogenitale Syndrom bei 46,XY ohne zwischengeschlechtliches Erscheinungsbild in der Klassifizierung des Deutschen Ethikrats genannt wird. Auch mildere Formen von DSD, die prozentuell häufiger sind und erst später auftreten (Late-onset-DSD), werden mehr oder weniger ausgeklammert. »Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates konzentriert sich, wenn sie von AGS spricht, auf die ›klassische Form‹ von AGS.«91 Ebenfalls nicht aufgeführt werden zwei weitere Typen des Adrenogenitalen Syndroms bei 46,XX Karyotyp (Überschuss der Enzyme 3-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase, 17-
89 90 91
Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 38. Vgl. Sadler – Langman, Taschenlehrbuch Embryologie, 365. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 45.
Sex chromosome DSD Gemischte Gonadendysgenesie (meist mit Chromosomenmosaik, aber nicht ausschließlich) Ovotestikuläre DSD bei 45,X/46,XY Ovotestikuläre DSD bei 46,XX/46,XY
45,X/46,XY (mixed gonadal dysgenesis)
45,X/46,XY (MGD, ovotesticular DSD)
46,XX/46,XY (chimeric, ovotesticular DSD)
Gonadendysgenesie bei regulärem männlichen Chromosomensatz (reine Gonadendysgenesie, SwyerSyndrom) Partielle Gonadendysgenesie Gonadenregression Ovotestikuläre DSD bei 46,XY Müller Gang Persistenz Syndrom
Complete gonadal dysgenesis (Swyer Syndrome)
Partial gonadal dysgenesis
Gonadal regression
Ovotesticular DSD
s.u. Disorders of anti-Müllerian hormone […]
–
47,XXY (Klinefelter Syndrom und Varianten)
47,XXY (Klinefelter syndrome and variants)
Disorders of gonadal (testicular) development:
45,X (Turner Syndrom und Varianten)
46,XY-DSD
Müller Gang Persistenz Syndrom bei 46,XY-Karyotyp
s.o. Ovotestikuläre DSD
Gonadendysgenesie bei regulärem männlichen Chromosomensatz (reine Gonadendysgenesie; SwyerSyndrom)
–
Ovotestikuläre DSD bei 46,XX; 46,XY oder 46,XX/46,XY (früher echter Hermaphroditismus)
Gemischte Gonadendysgenesie
DSD aufgrund einer atypischen Ausprägung der Gonaden
Genetisch bedingte Varianten der Gonaden-Entwicklung
Sex chromosome DSD
45,X (Turner syndrome and variants)
Deutscher Ethikrat
Zusammenführung
Consensus Statement
Tabelle 2: Vergleich der Kategorisierungen intergeschlechtlicher Phänomene
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive 39
46,XX-DSD Gonadendysgenesie bei regulär weiblichem Chromosomensatz
Gonadal dysgenesis
17-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenasemangel Steroid-5-alpha-Reduktase-Mangel Androgen Biosynthesedefekt (StAR Mutationen) Androgeninsensivität (z.B. vollständige, partielle) Störung oder Blockade der Androgensynthese wegen Leydig-Zell-Agenesie oder -hypoplasie s.o. Müller Gang Persistenz Syndrom
Androgen biosynthesis defect (17-hydroxysteorid dehydrogenase deficiency)
Androgen biosynthesis defect (5αRD2 deficiency)
Androgen biosynthesis defect (StAR mutations)
Defect in androgen action (e. g. CAIS, PAIS)
LH receptor defects (Leydig cell hypoplasia, aplasia)
Disorders of anti-Müllerian hormone and antiMüllerian hormone receptor (persistent mullerian duct syndrome)
Hormonell bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung
Testikuläre DSD (z.B. SRY+, duplicate SOX9)
Testicular DSD (e. g. SRY+, duplicate SOX9)
Disorders in androgen synthesis or action
Ovotestikuläre DSD bei 46,XX
–
Disorders of gonadal (ovarian) development:
Ovotesticular DSD
Zusammenführung
Consensus Statement
46,XY-DSD
s.o. Müller Gang Persistenz Syndrom
Störung oder Blockade der Androgensynthese wegen Leydig-Zell-Agenesie oder -hypoplasie
Androgeninsensivität
Steroid-5-alpha-Reduktase-Mangel
17-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenasemangel
DSD aufgrund einer Androgenunterfunktion
Gonadendysgenesie bei regulär weiblichem Chromosomensatz
s.o. Ovotestikuläre DSD
–
Deutscher Ethikrat
40 Mehrdeutige Körper
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (3-betaHydroxysteroid-Dehydrogenase-Defekt)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (3-betaHydroxysteroid-Dehydrogenase-Defekt)
46,XX-DSD Fetoplazentare Virilisierung Aromatasemangel Fetoplazentare Virilisierung POR [P450 Oxidoreduktase] Maternale Virilisierung durch ein Luetom Maternale Virilisierung durch exogene Faktoren
Fetoplacental (aromatase deficiency)
Fetoplacental POR [P450 oxidoreductase]
Maternal (luteoma)
Maternal (exogenous)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XY-Karyotyp (ohne zwischengeschlechtliches Erscheinungsbild)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XY-Karyotyp (ohne zwischengeschlechtliches Erscheinungsbild)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (17-alpha- Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (17-alphaHydroxylase-Defekt) Hydroxylase-Defekt)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (11-betaHydroxylase-Defekt)
Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (11-betaHydroxylase-Defekt)
DSD aufgrund einer Androgenüberfunktion Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (21-alphaHydroxylase-Defekt)
Fetal (11-hydroxylase deficiency)
– Adrenogenitales Syndrom bei 46,XX-Karyotyp (21-alpha-Hydroxylase-Defekt)
Androgen excess
Deutscher Ethikrat
Fetal (21-hydrolaxe deficiency)
Zusammenführung
Consensus Statement
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive 41
MURCS [Aplasie der Müllerschen Gänge, Nierenaplasie und Dysplasie der zerviko-thorakalen Somiten] Andere Varianten
other syndromes
Persistierender Sinus urogenitalis
Persistierender sinus urogenitalis
MURCS [Müllerian, renal, cervicothoracic somite abnormalities]
Kloakale Ekstrophie
Kloakenekstrophie
Vaginale Atresie
Vaginalatresie/Scheidenatresie
Hypospadie
Cloacal Exstrophy
Hypospadie
Deutscher Ethikrat Fehlbildungen des Urogenitalsystems im Umfeld von DSD
Zusammenführung Exogen oder unbekannt bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung
Vaginal Atresia
Other
Consensus Statement
42 Mehrdeutige Körper
(keine chromosomale Zuordnung)
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
alpha-Hydroxylase). Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass sie noch seltener auftreten als die anderen zwei genannten (21-alpha-Hydroxylase-Defekt, 11-beta-HydroxylaseDefekt). Entsprechend wird auch der Androgen biosynthesis defect (StAR mutations) bei 46,XX DSD nicht erwähnt, wo zwar monatliche Blutungen stattfinden, aber die Eizellen wegen der Mutation des StAR-Proteins nicht zur vollständigen Reife gelangen.92 Auch das Adrenogenitale Syndrom bei 46,XY-Karyotyp (ohne zwischengeschlechtlichen Karyotyp z.B. bei 17aHydroxylase-Defekt) wird im Consensus Statement nicht erwähnt. Es lässt sich also neben der bereits erwähnten normativen Referenz zum Männlichen festhalten, dass es auch systematische Schwächen der Klassifizierungen gibt, welche eine seriöse statistische Auswertung enorm erschweren.
1.2.3. Prader-Schema: heteronormative Blickdiagnose Schon seit jeher birgt die Klassifikation von Intergeschlechtlichkeit mehrere Problematiken. Berühmt und bis heute verwendet ist das für die Diagnostik von AGS verwendete Schema des Schweizer Kinderarztes und Endokrinologen Andrea Prader, dessen Habilitationsschrift93 die unterschiedlichen Stufen genitaler Ausprägungen graphisch abbildet. Dieses Schema unternimmt eine Einteilung der äußeren Geschlechtsmerkmale, in welchen die Virilisierungserscheinungen einer Vagina in fünf Stufen bis zum äußerlichen Erscheinungsbildes eines Penis’ in der rein männlichen Form festgehalten werden.94 Wie dort ersichtlich, geht Prader von einer rein weiblichen und einer rein männlichen Form des Genitals aus, das im Falle einer Androgenüberfunktion oder -unterfunktion von diesen Reinformen abweicht. Die vielen schematischen Darstellungen, die sich sowohl in der Beschreibung des adrenogenitalen Pseudohermaphroditismus femininus als auch des Pseudohermaphroditismus masculinus finden, stellen jeweils die Besonderheiten der jeweiligen maskulinen wie femininen Formen dar, obwohl Prader selbst betont: »Äußerlich bietet sich die genau gleiche Formenreihe eines intersexuellen Genitale wie beim adrenogenitalen Pseudohermaphroditismus femininus […].«95 Dass dieses Schema Virilisierungserscheinungen schwerer gewichtet als Feminisierungserscheinungen und die normative Grundlage für die Beurteilung die männlichen primären Geschlechtsmerkmale sind, kann durch verschiedene Randbemerkungen Praders festgestellt werden. So werden vollständige Feminisierungen nicht als männliche Anomalie klassifiziert: »Obschon die Patientinnen genetisch männlich sind, sind sie aber für das praktische Leben durchaus als weibliche Individuen zu betrachten.«96 Liest man die Angaben zur Häufigkeit, wird wiederum von einer genetischen Grundlage der Weiblichkeit ausgegangen: »Fast die Hälfte aller Fälle von kongenitaler Intersexualität mit intersexuellem Genitale sind weibliche Individuen mit dem kongenitalen adrenogenitalen Syndrom. Die 92 93 94 95 96
Vgl. Kim, Chan J., Congenital Lipoid Adrenal Hyperplasia, in: Annals of pediatric endocrinology & metabolism 19/4 (2014) 179–183, hier: 180. Bei dieser Angabe handelt es sich um einen Sonderdruck, der das Thema Intersexualität gesondert herausgreift: Vgl. Prader, Intersexualität. Prader, Intersexualität, 651. Prader, Intersexualität, 656. Prader, Intersexualität, 659.
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Häufigkeit dieses Syndroms wird bei den Neugeborenen beider Geschlechter zusammen auf 1:67000 […] geschätzt, wobei jedoch nur die Mädchen eine Intersexualität aufweisen.«97 Praders Aussagen enthalten vielfach Wertungen, die auf die Norm hinweisen: »In einzelnen Fällen ist das äußere Genitale vollkommen normal männlich ausgebildet […]«98 . Außerdem gibt es bei ihm weder zu einem Mikropenis noch zu einer verkürzten Scheide Klassifikationsschemata.99 Alles also, was noch in das binäre System eingegliedert werden kann und vor allem äußerlich nicht auffällig ist, findet keine Erwähnung in den Klassifikationen.
1.2.4. Statistik der unterschiedlichen Formen von Intergeschlechtlichkeit Wie schon erwähnt wird im medizinischen Wörterbuch Pschyrembel die statistische Häufigkeit von Intergeschlechtlichkeit mit »1 : 100 bis 1 : 500«100 angegeben, was bei dem Bevölkerungsstand allein in Österreich von 2017 mit 8.773.686101 Einwohner*innen zwischen 17.547 und 87.736 Personen ausmacht. Zu den jeweiligen Formen der Intergeschlechtlichkeit gibt es kaum oder gar keine Angaben über eine statistische Häufigkeit aus medizinischer Perspektive. Gründe hierfür gibt es mehrere: a) Stark variierende und uneindeutige Klassifikationsschemata: Wie im Kapitel 1.2.2 aufgezeigt wurde, ist das Spektrum, was als intergeschlechtlich gilt, sehr breit und uneinheitlich: Was wird überhaupt zu Intergeschlechtlichkeit gezählt? Wie werden die Formen jeweils benannt? Wie werden diese unterschieden? Wie werden sie zugeordnet? Was dient als Richtwert für sogenannte Abweichungen von der Norm? Wer garantiert die Bedeutung dieser Richtwerte? usw. Die unterschiedlichen Herangehensweisen führen folglich zu mitunter stark variierenden statistischen Angaben. Zudem ist die in der medizinischen Fachliteratur angegebene Klassifikation nicht deckungsgleich mit dem ICD-10 bzw. ICD-11 Katalog. Letzterer gibt teilweise die statistische Häufigkeit in Zahlen an, aber auch nur für die Phänomene, welche klassifiziert sind. Andere fehlen in medizinischen Fachbüchern gänzlich, oder werden häufig nur mit selten oder sehr selten angegeben. Hinzu kommt, dass die Klassifikation in den meisten Fällen nach wie vor auf Blickdiagnosen beruhen, welche je nach Ärztin*Arzt stark variieren können. Die Hoffnung, dass »die Rate an molekular-genetischen Diagnosen von DSD kontinuierlich steigen wird« und »die genetische Diagnostik die bisherige klinische/hormonelle Ausgangsdiagnostik ablöst«102 , scheint ebenfalls das Klassifizierungsproblem nicht in die Reflexion einzubeziehen. 97 98 99 100 101
Prader, Intersexualität, 645. Prader, Intersexualität, 657. Vgl. Zehnder, Zwitter beim Namen nennen, 125. Bonfig, Intersexualität, 1. Wisbauer, Alexander – Fuchs, Regina, Pressemitteilung: 11.463-023/17, 2017. URL: https://statisti k.gv.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstand_un d_veraenderung/111433.html [Abruf: 14. März 2023]. 102 Riedl, Varianten der Geschlechtsentwicklung/DSD – Update Genetik, 66.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive b) Dokumentierte Einzelfälle reichen für eine statistische Auswertung nicht aus: Bei besonders seltenen Formen von Intergeschlechtlichkeit, von denen bisher keine vergleichbaren Einzelfälle dokumentiert werden konnten, erlaubt es schlicht die wissenschaftliche Redlichkeit nicht, von einer statistischen Häufigkeit zu sprechen. c) Ökonomische Orientierung medizinischer Forschung: Aus Mangel an finanziellen Mitteln wird nicht in die Forschung zu Intergeschlechtlichkeit investiert und so unterbleibt eine detailreichere und zuverlässigere Dokumentation von Fällen. Auch wenn die Medizin unter dem Leitsatz steht, für die Gesundheit eines Menschen oder einer Menschengruppe unabhängig ihrer finanziellen Lage da zu sein, spielt das ökonomische Prinzip eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für den Markt und die davon abhängigen Krankenanstalten etc. muss es sich auch aus Eigeninteresse und Ressourcenplanung rentieren, dass Forschungen über alternative Behandlungsmethoden und weitere Investitionen angestellt werden.103 d) Unwissen über die am eigenen Leib durchgeführten Behandlungen: Nachdem Intergeschlechtlichkeit trotz vermehrter Thematisierung bis heute ein gesellschaftliches und familiäres Tabu darstellt, gibt es nicht wenige Menschen, die von ihrer Intergeschlechtlichkeit gar nichts wissen und daher auch nicht in Statistiken aufscheinen. e) Erschwerter Zugang zu Daten: In engem Zusammenhang damit steht die Aufbewahrung von Krankengeschichten. Medizinisches Personal in Österreich wird bspw. rechtlich dazu verpflichtet:
»die Krankengeschichten mindestens 30 Jahre, allenfalls in Mikrofilmen in doppelter Ausfertigung oder auf anderen gleichwertigen Informationsträgern, deren Lesbarkeit für den Aufbewahrungszeitraum gesichert sein muss, aufzubewahren; für Röntgenbilder, Videoaufnahmen und andere Bestandteile von Krankengeschichten, deren Beweiskraft nicht 30 Jahre hindurch gegeben ist, sowie bei ambulanter Behandlung kann durch die Landesgesetzgebung eine kürzere Aufbewahrungsfrist, mindestens jedoch zehn Jahre vorgesehen werden;«104 Oftmals entstehen Schwierigkeiten, an die entsprechenden Daten zu gelangen, weil Eingriffe bereits im Säuglingsalter stattgefunden haben und die Personen erst im späten Erwachsenenalter – wenn überhaupt – erfahren, was in ihren ersten Lebensjahren passiert ist. Zusätzlich kann der Zugang dazu vom medizinischen Personal selbst erschwert werden. »Weltweit herrscht ein eklatanter Mangel an unabhängigen quantitativen und qualitativen Untersuchungen. Der medizinische Apparat ist in der Regel intransparent, etwa
103 Einen ersten Überblick über die Verantwortung von Ärzt*innen angesichts der zunehmenden Ressourcenknappheit im medizinischen Bereich verschafft folgender Beitrag: Vgl. Schaupp, Walter, Ressourcenknappheit. Welche Mitverantwortung gibt es für Ärztinnen und Ärzte?, in: Wolfgang Kröll – Johann Platzer (Hgg.), Gerechte Medizin?, Baden-Baden 2018, 91–110, hier: 91–110. 104 Bundeskanzleramt, Bundesrecht konsolidiert. Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz, 19. Juni 2018, §10, Abs. 3. URL: https://ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gese tzesnummer=10010285 [Abruf: 14. März 2023].
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im Hinblick auf die Zahl der pro Jahr durchgeführten Operationen an intergeschlechtlichen Menschen. Selbst die Einsicht in die eigene Krankenakte wird intergeschlechtlichen Menschen häufig mit fadenscheinigen Begründungen verwehrt (z.B. Brand, Wasserschaden etc.).«105 f) Erlebte Traumatisierungen und die damit verbundene Dunkelziffer: Viele Operationen und Behandlungsmethoden erfordern Folgeoperationen, Nachuntersuchungen und zahlreiche Aufenthalte in Krankenanstalten. Psychische Folgebelastungen machen es intergeschlechtlichen Personen schwer, sich erneut mit dem Thema auseinanderzusetzen und (für statistische Erhebungen) wieder ein Krankenhaus aufzusuchen. Außerdem zeigen Erfahrungsberichte von intergeschlechtlichen Personen, dass viele Untersuchungen nicht angemessen durchgeführt wurden und daher ein erhöhtes Misstrauen gegenüber dem ärztlichen Personal besteht (vgl. Kap. 1.3).
Trotz der genannten Schwierigkeiten, eine verlässliche statistische Angabe zu machen, sind vor allem Vereine und Verbände intergeschlechtlicher Personen daran interessiert, die Zahl von Intergeschlechtlichkeit möglichst hoch zu veranschlagen, d.h. von der Medizin nicht integrierte Phänomene zu integrieren. Es geht ihnen dabei weniger um eine Fälschung von Daten, sondern um eine identitätsstiftende und gruppendynamische Politik, die nach außen hin Sichtbarkeit schaffen will.106 Diese Intention ist angesichts der historischen Entwicklungen, die von Tabuisierung, Stigmatisierung und Pathologisierung von Intergeschlechtlichkeit geprägt sind, nicht verwunderlich.
1.2.5. Zusammenfassung: von der Notwendigkeit kritischer Kategorienbildung Wie festgestellt werden konnte, prägt auch die medizinische Klassifizierung intergeschlechtlicher Phänomene eine pathologisierende Sichtweise. Zwar werden die Bezeichnungen für die Klassifizierungen nicht offensichtlich nach äußeren Merkmalen gewählt, aber die Aufzählung dessen, was als intergeschlechtlich gilt, enttarnt eine verschleierte Orientierung an ästhetischen Kriterien mit dem normativen Referenzrahmen des Männlichen. Da bereits die sprachlichen Unterschiede und Doppelterminologien einen einheitlichen Zugang zu bestimmten DSD-Phänomenen erschweren und damit auch für Handlungsleitlinien keine brauchbare Orientierung bieten, versuchte sich das Consensus-Statement an einer einheitlichen Terminologie auf Basis des Karyotyps (vgl. Kap. 1.2.1). Da aber – wie in den vorangegangenen Untersuchungen bereits erläutert – die genetische Geschlechtsdetermination nur ein Faktor neben vielen ist, erweist sich dieser Klassifizierungszugang bei näherer Betrachtung als unzureichend, was auch mit der unspezifischen Kategorie other zusammenhängt. Diese umfasst alle Phänomene, die
105 Ghattas, Dan C., Menschenrechte zwischen den Geschlechtern. Vorstudie zur Lebenssituation von Inter*Personen. Im Auftrag und herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, 2013, 17. URL: https ://www.boell.de/sites/default/files/menschenrechte_zwischen_den_geschlechtern_2.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 106 Vgl. Dreger – Herndon, Progress and Politics in the Intersex Rights Movement, 204.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
in die bestehende Systematik nicht eingeordnet werden können. Darüber hinaus sind in den spezifischen Kategorien manche genetischen Varianten nicht abgebildet, obwohl sie eigentlich benannt werden müssten. Vielfach wird außerdem dem Phänotyp und nicht dem Karyotyp der Vorrang gegeben, wenn es darum geht, spezifische Phänomene 46,XX-DSD oder 46,XY-DSD zuzuordnen. Beim Vergleich des Consensus Statements mit dem alternativen Klassifikationsvorschlag des Deutschen Ethikrats (vgl. Kap. 1.2.2) zeigten sich Mehrfachzuordnungen eines Phänomens in mehreren Kategorien, zugleich aber auch die Abwesenheit erwartbarer Kategorien oder Phänomene und unterschiedliche Differenzierungen einzelner Phänomene. Aufgrund der nicht zufriedenstellenden Systematisierung wurde daher eine alternative Terminologie vorgeschlagen, welche die Varianten der Geschlechtsentwicklung nach ihrer Ursache benennt (genetisch bedingte Varianten der Gonaden-Entwicklung, hormonell bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung, exogen oder unbekannt bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung), ohne dabei eine Wertung vorzunehmen, welches ursprüngliche oder wahre Geschlecht der Variante zugrunde liegen könnte. Im Anschluss daran wurde auch das Prader-Schema, das die genitalen Varianten beim Adrenogenitalen Syndrom nach Stufen einteilt, hinsichtlich seiner Bedeutung für die Diagnostik und Behandlung geprüft (vgl. Kap. 1.2.3). Auch dieses ist stark heteronormativ geprägt und weist in vielen Fällen Wertungen auf, die ein binäres Geschlechterkonzept voraussetzen, an die das ambige Genital angepasst werden soll. Weder die Fertilität noch der Erhalt der Gesundheit stehen bei den meist nur kosmetischen Operationen vordergründig im Fokus. Außerdem wird eine Diagnose meist nur gestellt, wenn es sich um kongenitale Erscheinungen von Intergeschlechtlichkeit handelt. Aus mehreren Gründen sind daher verlässliche statistische Angaben über Intergeschlechtlichkeit schwierig. Dies betrifft die schon benannten Klassifikationsprobleme, das Vorliegen von lediglich wenigen Einzelfällen je spezifischer Variante, die ökonomische Orientierung medizinischer Forschung, die Tabuisierung von Intergeschlechtlichkeit, den erschwerten Zugang zu Daten, die Traumatisierung der Betroffenen und die damit verbundene Dunkelziffer (vgl. Kap. 1.2.4). Für politische Zwecke scheint es Aktivist*innen jedoch hilfreich, einen hohen Prozentsatz im öffentlichen Raum für Sichtbarkeit und Identifizierungsmöglichkeiten zu veranschlagen. Hiermit stellt sich die ethische Dringlichkeit, gängige Kategorien auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen und notwendigerweise zu ihrer Dekonstruktion durch Historisierung beizutragen.
1.3. Historische und zeitgenössische Denkformen, Umgangsformen und Behandlungspraxen Varianten der Geschlechtsentwicklung machen deutlich, dass die Grenzen der Normalität nicht klar umrissen werden können. Besonders für den westeuropäischen Kontext zeigt sich, dass die Versuche der Medizin, diese Variationen einzuteilen, äußerst uneinheitlich sind. Im Gegensatz zu anderen Regionen und Ländern, auf die hier nicht näher
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1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
in die bestehende Systematik nicht eingeordnet werden können. Darüber hinaus sind in den spezifischen Kategorien manche genetischen Varianten nicht abgebildet, obwohl sie eigentlich benannt werden müssten. Vielfach wird außerdem dem Phänotyp und nicht dem Karyotyp der Vorrang gegeben, wenn es darum geht, spezifische Phänomene 46,XX-DSD oder 46,XY-DSD zuzuordnen. Beim Vergleich des Consensus Statements mit dem alternativen Klassifikationsvorschlag des Deutschen Ethikrats (vgl. Kap. 1.2.2) zeigten sich Mehrfachzuordnungen eines Phänomens in mehreren Kategorien, zugleich aber auch die Abwesenheit erwartbarer Kategorien oder Phänomene und unterschiedliche Differenzierungen einzelner Phänomene. Aufgrund der nicht zufriedenstellenden Systematisierung wurde daher eine alternative Terminologie vorgeschlagen, welche die Varianten der Geschlechtsentwicklung nach ihrer Ursache benennt (genetisch bedingte Varianten der Gonaden-Entwicklung, hormonell bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung, exogen oder unbekannt bedingte Varianten der Geschlechtsentwicklung), ohne dabei eine Wertung vorzunehmen, welches ursprüngliche oder wahre Geschlecht der Variante zugrunde liegen könnte. Im Anschluss daran wurde auch das Prader-Schema, das die genitalen Varianten beim Adrenogenitalen Syndrom nach Stufen einteilt, hinsichtlich seiner Bedeutung für die Diagnostik und Behandlung geprüft (vgl. Kap. 1.2.3). Auch dieses ist stark heteronormativ geprägt und weist in vielen Fällen Wertungen auf, die ein binäres Geschlechterkonzept voraussetzen, an die das ambige Genital angepasst werden soll. Weder die Fertilität noch der Erhalt der Gesundheit stehen bei den meist nur kosmetischen Operationen vordergründig im Fokus. Außerdem wird eine Diagnose meist nur gestellt, wenn es sich um kongenitale Erscheinungen von Intergeschlechtlichkeit handelt. Aus mehreren Gründen sind daher verlässliche statistische Angaben über Intergeschlechtlichkeit schwierig. Dies betrifft die schon benannten Klassifikationsprobleme, das Vorliegen von lediglich wenigen Einzelfällen je spezifischer Variante, die ökonomische Orientierung medizinischer Forschung, die Tabuisierung von Intergeschlechtlichkeit, den erschwerten Zugang zu Daten, die Traumatisierung der Betroffenen und die damit verbundene Dunkelziffer (vgl. Kap. 1.2.4). Für politische Zwecke scheint es Aktivist*innen jedoch hilfreich, einen hohen Prozentsatz im öffentlichen Raum für Sichtbarkeit und Identifizierungsmöglichkeiten zu veranschlagen. Hiermit stellt sich die ethische Dringlichkeit, gängige Kategorien auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen und notwendigerweise zu ihrer Dekonstruktion durch Historisierung beizutragen.
1.3. Historische und zeitgenössische Denkformen, Umgangsformen und Behandlungspraxen Varianten der Geschlechtsentwicklung machen deutlich, dass die Grenzen der Normalität nicht klar umrissen werden können. Besonders für den westeuropäischen Kontext zeigt sich, dass die Versuche der Medizin, diese Variationen einzuteilen, äußerst uneinheitlich sind. Im Gegensatz zu anderen Regionen und Ländern, auf die hier nicht näher
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eingegangen werden kann107 , gewinnt sie seit dem 17. Jh. vermehrt Bedeutung für die Geschlechtsbestimmung. In der Konkurrenz zu Hebammen und anderen nicht-akademisch ausgebildeten Heilkundigen weitet die akademische Medizin ihre Definitionshoheit aus, indem sie ihre wachsenden Kenntnisse über Geschlechteranatomie für ihren eigenen Vorteil nutzt.108 »Speziell im Fall der hermaphroditischen Leiber wird die Etablierung des medizinischen Expertenwissens als Entscheidungsinstanz über das nun anatomisch reifizierte Geschlecht als spezifisch modern herausgehoben. Wann genau dieser Übergang stattfand, ist einigermaßen umstritten, aber für das Mittelalter scheint klar, dass es keinen vergleichbar engen Zusammenhang zwischen medizinischem Expertenwissen hier und gesellschaftlicher Produktion von Geschlecht dort gab.«109 Heutige wie damalige Geschlechtermodelle stehen in engem Zusammenhang mit religiösen, kulturellen, sozialen und rechtlichen Denkformen, welche in ihrer Wechselwirkung eine je spezifische Sicht auf Geschlechtlichkeit bedingen und sowohl vorderwie hintergründige Interessen einer Geschlechterpolitik erkennen lassen. Jede Zeit, aber auch jeder Umstand, kennt eigene Denkformen in Bezug auf das Geschlecht, die isoliert sind oder sich überlappen, wieder aufgegriffen oder fallen gelassen werden, kurz oder lang wirksam sind.110 Dieses Kapitel zeigt in einer systematisch-chronologischen Einteilung, wie sich die jeweiligen Umgangsformen und Behandlungspraxen durch jeweils dahinterliegende Denkformen verändert haben. Insgesamt lassen sich – bei aller Überschneidung – die Denkformen rund um Hermaphroditismus, Intersexualität, DSD usw.111 in zumindest vier Orientierungen einteilen, welche im Folgenden näher erläutert werden: • • • •
Orientierung an einer religiös-naturrechtlichen Geschlechterordnung Orientierung an einer symbolisch-sozialen Geschlechterordnung Orientierung an einer funktional-moralästhetischen Geschlechterordnung Orientierung an einer menschenrechtlich-fundierten Geschlechterordnung
107 Eine Liste geschlechtsvarianter Identitäten weltweit bietet folgende Quelle: Vgl. Gender-variant Identities Worldwide. URL: https://nonbinary.wiki/wiki/Gender-variant_identities_worldwid e [Abruf: 14. März 2023]. Zum Umgang anderer Religionen mit spezifisch intergeschlechtlichen Lebensweisen bietet dieser schon zitierte Beitrag eine erste Annäherung: Vgl. Gudorf, The Erosion of Sexual Dimorphism. 108 Vgl. Klöppel, Ulrike, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm. Biopolitische Regulierung von Intersex, in: Eva Sänger (Hg.), Biopolitik und Geschlecht. Zur Regulierung des Lebendigen (Forum Frauen- und Geschlechterforschung 35), Münster 2012, 220–243, hier: 226. 109 Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 596. 110 Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 227. 111 Die Darstellung verwendet je nach historischem Kontext und Denkform die damals mehrheitlich verwendete Bezeichnung.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
1.3.1. Orientierung an einer religiös-naturrechtlichen Geschlechterordnung Diese Denkform geht mit religiösen oder naturrechtlichen Annahmen einher, die ein dichotomes Geschlechterkonzept legitimieren. Intergeschlechtlichkeit wird hierin als unnatürliche Störung wahrgenommen, welche der göttlichen Schöpfungsordnung entgegensteht. Aufgrund dessen wird Intergeschlechtlichkeit moralisch abgewertet (Stigmatisierung), als Krankheit (Pathologisierung) oder missglückte Schöpfung (Exotisierung bzw. Dämonisierung) bezeichnet. Das harsche Vorgehen gegen intergeschlechtliche Körper steht dieser Denkform zufolge im Dienst der Aufrechterhaltung einer gottgewollten Ordnung und somit im Dienst der Zweigeschlechtlichkeit. Orientierungspunkt dafür bietet die Vorstellung einer in die Natur eingeschriebenen Ordnung, die im christlichen Kontext vor allem an die Schöpfungserzählungen im Buch Genesis rückgebunden wird.112 Bereits Kap. 1.1.3 weist auf die Bedeutung der griechischen Mythologie für Geschlechtermodelle hin. Die These Platons, dass es ursprünglich drei Geschlechter gegeben habe, ging mit der Zeit verloren und wird durch ein Zwei-Geschlechter-Modell ersetzt. Übrig vom Mythos der Kugelmenschen blieb in der Neuzeit nur der Gedanke der substanziellen Vermischung zweier Wesen in einem.113 Die Soziologin Ulrike Klöppel bezeichnet dieses Geschlechtermodell als hippokratisch-galenisches. Dieses geht von einem kontinuierlichen Übergang zwischen den Geschlechtern aus und klassifiziert Hermaphroditen als gemischtgeschlechtliche Wesen, als Zwischenstufe und Ergebnis von zwei miteinander gleich stark konkurrierenden Samen.114 Davon zu unterscheiden ist laut Klöppel das aristotelische Geschlechtermodell, welches Hermaphroditismus als lokale Abweichung von entweder dem weiblichen oder männlichen Prinzip klassifiziert.115 Ähnlich ist bei den Modellen jedoch die Begründung mittels der Hitzelehre, die den theoretischen Rahmen zur Erklärung von Hermaphroditismus bildet. Beide Modelle nehmen eine »metaphysische Bestimmung des Geschlechts anhand des Maßes an Hitze«116 vor und vertreten ein dynamisches Geschlechterverständnis. Höhere Temperaturen führen demnach zu einem Mann, niedrigere zu einer Frau. Die Hitze-Theorie bestimmt zugleich die Vorstellungen der Geschlechterhierarchie, weil davon ausgegangen wird, dass eine Entwicklung unter optimalen Umständen und ausreichend Hitze immer zu einem Mann führen würde. Die Besonderheit bei den antiken Philosophen Aristoteles und Diogenes von Apollonia ist jedoch, dass nach ihrer Theorie das Blut durch die Hitzeeinwirkung regelrecht verkocht wird und sich je nach Temperatur daraus dann ein weiblicher oder männlicher Same bildet. Es findet also tatsächlich ein 112
113 114 115 116
Alle Religionen kennen die Interpretation heiliger Texte als Rechtfertigungslehre für soziale Geschlechterordnungen. Vgl. dazu etwa: Winkel, Heidemarie, Religion und Geschlecht, in: Detlef Pollack – Volkhard Krech – Olaf Müller (Hgg.), Handbuch Religionssoziologie (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Berlin 2018, 885–909. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 161. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 143–144. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 145. Klöppel, XX0XY ungelöst, 146.
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Umwandlungsprozess statt.117 Im Gegensatz dazu berücksichtigt das hippokratischgalenische Geschlechtermodell Ähnlichkeiten der Geschlechtsmerkmale. Die Vagina gilt hier als ein nach innen gestülpter Penis. Der entsteht dieser Interpretation nach durch niedrige Temperaturen und mangelnde Körpersäfte, die sonst für die Ausbildung männlicher Geschlechtsorgane notwendig gewesen wären. Die Ende des 17. Jh. auftretenden Begründungsversuche der Präformationstheorie, auch Pangenesislehre genannt, gehen von zwei getrennten Geschlechtern aus und knüpfen an die Atomisten Leukippos von Millet und Demokritos von Abdera an. Ihre Vertreter, die Ovisten und Animalkulisten genannt werden118 , nehmen an, dass in den Samen der Eltern bereits alle Körperteile vollständig in winzigen Einheiten vorhanden – also präformiert – sind und mit der Entwicklung nur noch an Größe gewinnen müssen. Bei der Zeugung konkurrieren männliche und weibliche Samen miteinander, wobei sich der stärkere Same durchsetzt und auf diese Weise die Endgestalt des Kindes bestimmt.119 Damit verknüpfte sich ein religiös-weltanschauliches Bild: »Diese Präformationstheorien der Ovisten und Animalkulisten passten dabei gut in die Gesellschaftsordnung und zu den gesellschaftlich verbreiteten Deutungen. Es wurde davon ausgegangen, dass eine höhere Macht – ein Gott – zu einem konkreten Zeitpunkt die gesamte Welt geschaffen habe. Alles was existierte, existiert und jemals existieren wird, sei auf diesen Schöpfergott zurückzuführen. Entsprechend verknüpften einige der Gelehrten ihre Theorien der Vorbildung des Individuums im Samen bzw. im Ei mit den christlich-religiösen Vorstellungen der Schöpfung: Adam bzw. Eva sollten alle nachfolgend lebenden Menschen bereits enthalten haben.«120 Frühchristliche Deutungen vertreten dagegen ein Ein-Geschlechter-Modell, welches der Männlichkeit eine klare Vorrangstellung einräumt und davon abweichende geschlechtliche Varianten abwertet. Bei dem Kirchenvater Augustinus gelten die sogenannten »Monstren als Zeichen der Schöpferkraft Gottes und verborgenen Ordnung der Vielgestaltigkeit der Natur«121 , obschon auch in seiner Theorie eine klare Hierarchie vom vollkommenen Mann gegenüber allen anderen defizienten und damit weiblicheren Abstufungen vorherrscht. Der Scholastiker Thomas von Aquin schließt sich dieser Theorie an und versteht gemäß dem Zeitgeist des Mittelalters unter Hermaphroditen Menschen, die Geschlechtsorgane von Mann und Frau zugleich haben und sowohl zeugen als auch gebären können.122 Diese Wunderwesen sind nicht wie andere Wundervölker – wie etwa die Kynokephalen oder Skiapoden – von der restlichen Gesellschaft abgesondert, sondern befinden
117 118 119 120 121 122
Vgl. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 150. Vgl. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 150. Vgl. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 150. Voß, Zur Geschlechterdetermination, 151. Klöppel, XX0XY ungelöst, 137. Jüdische Exegesen zu Gen 1-2 gehen dagegen oft davon aus, dass der Mensch von Grund auf hermaphroditisch geschaffen sei und sich erst später die Aufteilung in Mann und Frau vollziehen würde. Vgl. DeFranza, Megan K., Sex Difference in Christian Theology. Male, Female, and Intersex in the Image of God, Cambridge 2015, 117; 125.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
sich inmitten der Gesellschaft. Zwar lassen sich für das Mittelalter keine Verfolgungen belegen, aufgrund der Zuordnung zu Wundervölkern oder Bestien in Enzyklopädien und Bestiarien sowie negative Konnotationen hinsichtlich ihrer übermäßigen sexuellen Aktivität legen nahe, dass ihnen grundlegend mit Skepsis begegnet wurde.123 Im 16. Jh. versteht man unter Monstrum ein Wesen, das zwei differente Dinge in sich vereint. Das setzt voraus, dass diese Vereinigung äußerlich sichtbar wird, ansonsten wäre sie nicht zu bestimmen. Die Einordnung von Hermaphroditen unter Monstrositäten zeigt auf, wie mit der Transgression einer behaupteten natürlichen Ordnung oder Schöpfungsordnung umgegangen wurde. Hermaphroditismus wird zur Herausforderung für die vernunftgemäße Interpretation der Natur und infolgedessen zur Bedrohung der religiösen Ordnung. Wie bereits bei dem römischen Historiker Plinius geschildert, gibt es auch aus dieser Zeit »mehrere gut dokumentierte Prozesse gegen Menschen mit uneindeutigen Körpern, die teilweise mit Todesurteilen enden«124 . Im 17. Jh. verschärft sich diese Sichtweise insofern, als man den Zustand von Hermaphroditen nun als Auswuchs der Sündhaftigkeit der Menschheit interpretiert.125 Klöppel sieht einen Grund dafür in der Geschlechterkonzeption des Christentums, welche für bestimmte sakramentale Handlungen eine eindeutige Zuordnung zu Mann oder Frau notwendig machte und über dies hinaus sexuelle Akte einer moralischen Bewertung unterzog. »Geschlecht hatte damit eine Relevanz für Ehe, Scheidung, Erben und Vererben – und nun auch hinsichtlich Legitimität und Illegitimität von Sexualität.«126 So wurden hermaphroditische Genitalien entweder als Zeichen für eine begangene Sündenschuld der Eltern gedeutet, oder aber der betroffene Mensch selbst wurde der Sodomie und sexueller Ausschweifungen beschuldigt.127 Aufgrund dessen macht die Theologin DeFranza auch die jüdisch-christliche Tradition für die Etablierung des binären Geschlechtermodells verantwortlich, wenngleich sie zugesteht, dass ebenso biblische Grundlagen für eine Ausweitung dieses Schemas bereitstehen würden, wie sie am Beispiel des Eunuchen verdeutlicht.128
1.3.2. Orientierung an einer symbolisch-sozialen Geschlechterordnung Im 18. Jh. verschiebt sich der Sonderstatus von Hermaphroditismus als eigene monströse Geschlechtskategorie hin zu einer sozialen Zwangseingliederung intergeschlechtlicher Menschen in die bereits bestehenden Kategorien von Mann und Frau. Im Unterschied zur ersten Denkform liegt das Interesse hier nicht vorwiegend in der Aufrechterhaltung der religiösen und/oder moralischen Ordnung, sondern in der Beständigkeit sozialer Rollenerwartungen. Durch die ausdifferenzierten Rollenerwartungen liegen immer konkretere Vorstellungen darüber vor, wie das soziale Zusammenleben geregelt
123 124 125 126 127 128
Vgl. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 598–606. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 614. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 137. Klöppel, XX0XY ungelöst, 133. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 158–159; Vgl. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 611. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 68. Ausführlichere Erläuterungen finden sich außerdem in Kap. 3.1.
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werden kann. Die patriarchale Sozialstruktur legitimiert nicht nur Machtansprüche für bestimmte geschlechtliche Personengruppen, sondern bestimmt über den je spezifischen Geschlechterhabitus129 im sozialen Raum. Wenngleich dieser sozialen Ordnung auch symbolische Qualität beigemessen werden muss, liegt der Unterschied zur ersten Denkform darin, dass gemäß diesem Format nicht mehr vordergründig mit der Wiederherstellung dieser symbolischen Ordnung argumentiert, sondern die Einbindung intergeschlechtlicher Menschen in das soziale Umfeld betont wird. Diese »sozialregulative Sorge«130 wird mehrfach begründet: »Die Reglementierung von Sexualität war auch immer ein Thema von Herrschaftsausübung, verschiedene Instanzen mit verschiedenen Motiven waren engagiert: die christlichen Kirchen mit ihrem Reinheits- und Sündenkonzept, die Obrigkeit, die über Moral- und damit eben auch Sexualitätspolitik ihre Herrschaft inszenieren konnte, sei es über eine konfessionelle Sündenstrafzucht oder später über eine Entpönalisierung außerehelicher Sexualität im Sinne kameralistischer Wirtschaftserwägungen oder die Medizin mit ihren jeweiligen Konzepten von Geschlechtskörpern und Fortpflanzung.«131 In der Antike scheint die Fortpflanzungsfähigkeit bzw. Beischlaffähigkeit keinen zwingenden Grund für die Gültigkeit einer Ehe darzustellen, denn es bestand die Möglichkeit einer Therapie132 und des Geschlechtswechsels133 . Die Bedeutung der in der Ehe eingenommenen Geschlechtsrolle steht auch im Mittelalter noch über der biologischen Geschlechtszuordnung. Der Historiker Christof Rolker sieht mit der niederschwelligen Institutionalisierung der Ehe in dieser Zeit ein Instrument, wie soziale Rollen sichergestellt werden konnten. Zwar gab es »eine Vielzahl von Ehehindernissen, die vor allem Strategien der sozialen Endogamie ernsthaft behindern konnten; die positiven Anforderungen an die Nuptienten hingegen waren ausgesprochen niedrig«134 . Nachträgliche Legitimierungen von irregulär zustande gekommenen Ehen sind daher häufig belegt. »Gerade wenn der Körper nicht als eindeutige Garantie der Geschlechtszugehörigkeit fungierte, wenn die anatomischen Anforderungen an das soziale Geschlecht eher niedrig waren, dann war die Ehe geeignet, auf Dauer das Geschlecht festzulegen. Ein Mensch, der mit einer Frau verheiratet war, war und blieb somit ein Mann, ob
129 130 131 132 133
134
Nähere Erläuterungen zu diesem Begriff vgl. Kap. 2.3. Klöppel, XX0XY ungelöst, 161. Klöppel, XX0XY ungelöst, 161. Vgl. Nussberger, Erika, Zwischen Tabu und Skandal. Hermaphroditen von der Antike bis heute. Zugl. Zürich Univ. Diss. 2012, Wien u.a. 2014, 45–46. Vgl. Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal, 45–46. Wie an einem von Nussberger dokumentierten Fall deutlich wird: Erst nach körperlichen Beschwerden begibt sich eine Person in ärztliche Behandlung. Sie hatte »nach der Hochzeit mit ihrem Mann während zwei Jahren auf ›unnatürliche‹ Weise verkehrt« weil sie nur eine Öffnung zur Urinausscheidung besaß. Die Untersuchung ergab innenliegende Hoden und einen nicht perforierten Penis, welcher vom Arzt freigelegt wurde. Die Person überstand den Eingriff gut, änderte ihren Namen und lebte von da an als Mann. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 611.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
sein Körper nun eindeutig männlich war oder nicht. Die mittelalterliche Ehe setzte keinen eindeutig zweigeschlechtlichen Körper voraus, aber sie produzierte eindeutige soziale Geschlechter. Wenn diese Interpretation stimmt, dann lautet die Frage weniger, warum Hermaphroditen heiraten durften, als vielmehr, ob sie wirklich eine Wahl hatten, nicht zu heiraten, sobald die Frage der Geschlechtszugehörigkeit einmal aufgekommen war.«135 Damit wird der Geschlechtswechsel im Mittelalter aus einem sozialen Zwang heraus geboren,136 allerdings ohne die Notwendigkeit einer chirurgischen Geschlechtskorrektur. Eine Performanz zum Mann war dann erfolgreich, wenn den ehelichen Pflichten auf »rechte Weise (legitime) und ›hinreichend‹ (sufficienter)« nachgegangen und die »opera rustica, also schwere bäuerliche Arbeit«137 verrichtet werden konnte. Die Anforderungen an eine Geschlechtsrolle beschreibt Rolker daher als »relativ niedrig«138 . In der Neuzeit verschärfen sich die Geschlechterkonzepte und die Anforderungen an das jeweilige Geschlecht. So wird z.B. die Kleiderordnung rechtlich festgelegt und mitunter biblisch argumentiert.139 Seine Rechte kann ein Hermaphrodit erst dann wahrnehmen, wenn er im Zuge der Eheschließung ein Geschlecht wählt und dieser Entscheidung treu bleibt. Das beinhaltet auch, dass er ausschließlich nach der Rolle, die er in der Ehe übernimmt, heterosexuellen Geschlechtsverkehr vollzieht. Andernfalls besteht die Gefahr, dass er »von Dritten denunziert, angezeigt oder verklagt«140 wird. Die Vorwürfe der Tribadie oder Sodomie verhindern Hermaphroditen in der Neuzeit außerdem den Zugang zum Ehesakrament: »Die Ehe zwischen Mann und Frau galt als die einzige gottgefällige Form für sexuelle Betätigungen. Sie war, auch in der negativen Form vielfältiger Ehebeschränkungen, die zentrale Institution zur Regelung des sittlichen Lebens und der Geschlechterordnung. Damit war sie eine wichtige Stütze der sozialen Ordnung, auch aufgrund der Funktion der Eheschließung zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Macht- und Besitzstrukturen.«141 Erst nach dem Vorwurf des Sittenverstoßes werden medizinische Geschlechtsbestimmer für eine Expertise zum wahren Geschlecht zu Rate gezogen. Mehrheitlich wird bereits von Ärzt*innen des 17. Jh. davon ausgegangen, dass dieses durch exakte medizinische Forschung zu entdecken sei.142 Gegen Ende des 17. Jh. erstarkt deren Deutungsmacht gegenüber Pfarrern und Richtern, denn allmählich wird nun auch die Unterscheidung wichtig, ob die Person zeugende oder gebärende Funktionen besitzt.143 135 136 137 138 139 140
Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 614. Vgl. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 612. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 608. Rolker, Der Hermaphrodit und seine Frau, 611. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 156. Schochow, Maximilian, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter. Eine Genealogie des Geschlechtsbegriffs, Berlin 2009, 155. 141 Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, 156. 142 Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 228. 143 Vgl. Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, 122.
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In dokumentierten Fällen des 18. Jh. wird die Frage nach der Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit nun ausschließlich anhand eines medizinischen Gutachtens durch eine*n Sachverständigen geklärt. Dabei dienen Informationen über die sichtbaren Genitalien und physiologischen Vorgänge hinaus – etwa bereits gezeugte Kinder – paradoxerweise nicht zwingend der Feststellung dieser Fähigkeiten. Nachdem die Untersuchung der inneren Organe für den Hermaphroditen lebensbedrohlich sein kann, findet die Observierung der Genitalien nur durch Ertasten und Vivisektion statt.144 Im Fall einer Scheidungsklage soll so eine Geschlechtsbestimmung vorgenommen werden können, um gegebenenfalls weitere Schritte für einen Geschlechtswechsel gemäß eherechtlichen Bestimmungen zu treffen. Die Vorrangstellung in der Geschlechtsbestimmung behält die Medizin bis zum heutigen Zeitpunkt. Indessen ändert sich in der Folgezeit durch immer weitere Erkenntnisse über mikrophysiologische Vorgänge nur, woran Geschlechtlichkeit gemessen wird. So werden im 19. Jh. die Gonaden (Hoden und Eierstöcke) als wichtigste Organe der Fortpflanzung ausgemacht.145 Zugleich stellt die Medizin ihre Erkenntnisse in den Dienst der sozialen Geschlechterstereotype: »Dazu beriefen sie sich nicht zuletzt auf die Funktion der Gonaden: Sie behaupteten, dass deren Aktivität nicht nur für die Ausprägung des körperlichen, sondern auch des psychischen Geschlechtscharakters sorgen würde. Abweichungen von der Norm erklärten sie umgekehrt mit einer gestörten Gonadenfunktion. Auf diese Weise erschienen die Gonaden als Inbegriff der Geschlechterdifferenz und als biologischer Garant eines gesunden Gattungserhalts. Menschen, die nicht den Geschlechternormen entsprachen wurden demgegenüber zu biologisch ›unvollkommenen‹ und ›nutzlosen‹ Existenzen degradiert.«146 Die Idee eines Geschlechterkontinuums wird im 19. Jh. wiederentdeckt, aber diese gipfelt nicht wie bei Aristoteles in der Männlichkeit, sondern in der vollständigen Differenzierung zu entweder Mann oder Frau. Abweichungen davon werden dem biopolitischen Ziel des Gattungserhalts nicht gerecht und dieser Denkform entsprechend als pathologisch bewertet.147 Intergeschlechtliche Abweichungen von diesem Zweiermodell benötigen nun vermehrt Erklärungen. Daher versucht man medizinisch zu erforschen, ob es eine geschlechtsneutrale oder weibliche embryonale Uranlage der Genitalien gibt. Während die einen behaupten, Hermaphroditismus wäre ein nicht voll ausgebildeter Mann, interpretieren andere das Phänomen wie schon in der Neuzeit als Verschmelzung weiblicher und männlicher Geschlechtsanlagen.148 Neue Terminologien werden im 20. Jh. in den Diskurs eingebracht, so jener der Intersexualität von Richard Goldschmidt, der 1915 den biologischen Typus eines Menschen beschreiben will, der zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit liegt. Medizinisch wird in
144 145 146 147 148
Vgl. Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, 122–123. Vgl. Voß, Intersexualität – Intersex, 30–31. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 229. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 237. Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 245–246.
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Folge neben dem echten Hermaphroditismus, bei dem beide Geschlechtsmerkmale äußerlich vorliegen sollen, ein sogenannter Pseudohermaphroditismus unterschieden, bei dem es zu Inkongruenzen von geschlechtsbestimmenden Faktoren kommt.149 In den 1920ern/1930ern entwickeln einige Ärzt*innen eine eugenische Überzeugung, die auf Goldschmidts Kreuzungsexperiment von Motten basiert. Hermaphroditen sind demnach die Folge von Rassenmischungen. Während der Zeit des Nationalsozialismus steigt die Gewalt gegen intergeschlechtliche Menschen aufgrund der durch die eugenische Fortpflanzungsselektion verstärkte negative Bewertung von Intergeschlechtlichkeit. Um ihre Heiratschancen nicht künstlich zu steigern, wurden Genitaloperationen zur Fertilitätssteigerung verweigert. Bestand bereits eine Ehe, sollte diese kinderlos bleiben, damit der Nachwuchs keine minderwertige Konstitution davontrage und das Volk nicht degeneriere.150 Ab den 1950ern kommen offizielle Gewaltakte gegen intergeschlechtliche Menschen kaum mehr vor, weiterhin praktiziert werden jedoch kosmetische Genitaloperationen, die sich in den 1960ern großflächig durchsetzen. »Gleichwohl gab es insbesondere seit dem 20. Jahrhundert auch Ansätze von Mediziner*innen, Intersex als eine nicht-pathologische Geschlechtsvariante in den Bereich des Normalen einzugliedern. Diese blieben allerdings in der Minderheit.«151 Weiterhin problematisch bleiben die vielfach durchgeführten Gonadektomien, die Klöppel als Fortführung des eugenischen Gedankens152 sieht. Ausgehend von der These der Psycholog*innen John Money, Joan Hampson und John Hampson153 sowie deren Kolleg*innen an der John-Hopkins-Universität in Baltimore, dass eine chirurgisch eindeutige Geschlechtszuweisung zu entweder Mann oder Frau für die psychosoziale Entwicklung eines intergeschlechtlichen Kindes besser sei, festigt sich ab den 1950er Jahren in der Medizin die Optimal Gender Policy.154 Diese geht 149 150 151 152 153 154
Vgl. Dreger – Herndon, Progress and Politics in the Intersex Rights Movement, 208. Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 231–233. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 227. Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 236. Money, John u.a., Imprinting and the Establishment of Gender Role, in: A.M.A. archives of neurology and psychiatry 77/3 (1957) 333–336. Vgl. Dreger – Herndon, Progress and Politics in the Intersex Rights Movement, 202. Berühmt wurde Money vor allem durch den Fall David Reimer. Aufgrund eines medizinischen Unfalls in der Kindheit wurde der Penis Reimers derart verbrannt, dass er amputiert werden musste. Die besorgten Eltern wandten sich damals an den klinischen Psychologen John Money, welcher der Überzeugung war, dass das äußere Geschlecht maßgeblich die geschlechtliche Identität bestimme. David wurde auf den Ratschlag Moneys hin nun als Brenda erzogen. Die Behandlung Moneys bestand darin, David immer wieder Bilder von Vaginen vorzuzeigen, damit er sich damit identifizieren könne und ließ ihn und seinen Bruder den Geschlechtsverkehr nachstellen. Die weibliche Geschlechtsrolle, mit der sich David nie richtig identifizieren konnte, und die zahlreichen psychisch belastenden Methoden Moneys führten zu starken Depressionen und schließlich zum Suizid beider Brüder. Öffentlich verschwieg Money jahrelang sein Scheitern, feierte seinen Erfolg mit dieser Geschlechtsumwandlung sogar, um die These stützen zu können, dass die biologische Kondition nicht schicksalshaft über die Geschlechtsidentität entscheidet. Noch heute machen ihn viele Organisationen intergeschlechtlicher Menschen für die unnötig kosmetischen Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern verantwortlich. Vgl. Butler, Judith, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1989), Frankfurt a.M. 2 2012, 100–103.
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davon aus, dass die psychosoziale Entwicklung durch soziale Prägungen (imprinting) beeinflusst wird und daher durch Erziehung gelenkt werden kann.155 Auffallend ist an den daran orientierten Behandlungspraktiken des 20. Jh., wenn auch als Heilbehandlungen bezeichnet156 , dass das medizinische Behandlungsziel für intergeschlechtliche Personen nicht darin liegt, deren Fertilität zu steigern oder herzustellen. Im Gegenteil, sie wird durch die nun forcierten geschlechtszuweisenden Operationen sogar gefährdet, nur um die betroffenen Personen erfolgreich in eine soziale Rolle von entweder Mann oder Frau einzupassen, weil andere »Lebenserscheinungen und -formen als lebensunwert oder minderwertig«157 gelten. Money bezieht sich damit wie seine Nachfolger*innen auf die Beobachtungen ontogenetischer Entwicklung, die nach seinem Verständnis in der fortpflanzungsfähigen Geschlechtsdifferenz gipfelt und so den Fortbestand der Menschheit sichert. »Die Zweigeschlechternorm erscheint durch die Verknüpfung mit dem Entwicklungskonzept als biologische Norm, d.h. als eine dem Leben inhärente Notwendigkeit; sie wird als Endpunkt und Ausgangspunkt der geschlechtlichen Entwicklung naturalisiert und ontologisiert. Umgekehrt setzt die Vorstellung der Geschlechtsentwicklung als einer sukzessiven Differenzierung die zweigeschlechtliche Einteilung voraus. Das Geschlechtsentwicklungsmodell und die Norm der Zweigeschlechtlichkeit stützen sich mithin wechselseitig.«158 Diese sogenannten geschlechtsangleichenden Operationen setzen sich zum Ziel, die Einbettung in das soziale Umfeld möglichst problemlos zu gewährleisten. Dazu wird als nötig erachtet, nur den engsten Verwandtschaftskreis – meist lediglich Vater und Mutter – darüber in Kenntnis zu setzen, was mit ihrem Kind geschieht. Oftmals bleiben die Operationen sogar den Kindern selbst verschwiegen und lassen das Gefühl von Scham zurück, welches Fragen über die eigene Identität für intergeschlechtliche Menschen selbst tabuisiert.159 Nicht nur aber die symbolische Orientierung gewinnt mit der Zeit an Bedeutung, auch moralästhetische Kriteriologien werden zunehmend für die Behandlungen wichtiger.
1.3.3. Orientierung an einer funktional-moralästhetischen Geschlechterordnung Obwohl im vorangegangenen Fallbeispiel weniger deutlich soziale Erwartungen an das äußere Erscheinungsbild artikuliert werden, begleiten medizinische Entscheidungen auch im 21. Jh. noch moralästhetische Überlegungen. Besonders seit der Neuzeit gewinnt soziale Distinktion durch Ästhetik immer mehr an Bedeutung und verfestigt sich bzw. fordert dort Korrektur, Angleichung oder Verschönerung, wo dem gängigen ästhetischen Ideal nicht ausreichend entsprochen wird. Der Fokus liegt besonders auf
155 156 157 158 159
Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 234–235; 321–324. Vgl. Voß, Making Sex Revisited, 218. Klöppel, XX0XY ungelöst, 105. Klöppel, XX0XY ungelöst, 105. Vgl. Zehnder, Zwitter beim Namen nennen, 234.
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der sozialen Zuordnung zu einer Rolle und die Festigung der psychosozialen Geschlechteridentität durch ein äußerlich eindeutiges Genital und damit zunächst der Vorrang der Ästhetik vor allen anderen Behandlungszielen.160 Dabei wird deutlich, dass weitere medizinische Behandlungsziele, wie etwa der Erhalt der Fertilität oder eine stabile Geschlechtsidentität, gerade wegen medizinischer Eingriffe in den meisten Fällen verhindert werden.161 Da in der frühen Neuzeit noch keine weiteren Möglichkeiten bestehen, ein Geschlecht außer an den äußeren Genitalen festzustellen, werden bereits an der Wende vom 16. zum 17. Jh. moralästhetische Gründe für die Bewertung herangezogen. Der Chirurg Aquapendente benennt als prominenten Grund für einen Eingriff, Männer von der »Unart des Harnlassens nach Weiber-Art«162 zu erlösen. Die Behandlung von Frauen dient dagegen der »Gewährleistung der Penetration, Verhinderung von sodomitischer oder tribadischer Lust sowie Produktion von Schamhaftigkeit, verstanden als Trennung der weiblichen Lust vom weiblichen Körper«163 . Außerdem soll alles verhindert werden, was der Gebärfähigkeit abträglich ist. Das zunächst auf die Geschlechter bezogene Spannungsverhältnis zwischen Funktionalität/Fertilität und moralästhetischen Gesichtspunkten, verschiebt sich über die Jahrhunderte geschlechtsunabhängig mehr und mehr zugunsten der Ästhetik. Aufgrund von Behandlungen durch Hebammen, die in der Zeit der Aufklärung in einem starken Konkurrenzverhältnis zu Mediziner*innen standen, fehlen besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Aufzeichnungen über Geschlechtszuweisungen und deren Begründung.164 Im gesamten Diskurs geht es vielmehr darum, die Kompetenz der Medizin vor Gericht hervorzuheben und damit gegenüber den Hebammen mehr Urteilskompetenz in Ehe-, Scheidungs- und Strafrechtsfragen beanspruchen zu können.165 Genitalkorrigierende oder –zuweisende Eingriffe haben daher vorrangig das Behandlungsziel, die Ehefähigkeit herzustellen. Eine Amputation der vergrößerten Klitoris wird folglich aus funktionalen Gründen vorgenommen: Das überflüssige Organ soll kein Hindernis beim Beischlaf darstellen.166 Im 19. Jh. werden immer mehr Kriterien entwickelt, anhand derer Weiblichkeit oder Männlichkeit festgestellt werden soll. Die meisten davon folgen äußerlichen Merkmalen: »Beschreibung und Klassifikation der anatomischen Verhältnisse, längerfristige Be160 Vgl. Schönbucher, Verena u.a., Heterosexuelle Normalität oder sexuelle Lebensqualität? Behandlungsziele im Wandel, in: Katinka Schweizer – Ralf Binswanger (Hgg.), Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen (Beiträge zur Sexualforschung), Gießen 2012, 207–223, hier: 209. 161 Vgl. Schweizer, Katinka – Richter-Appelt, Hertha, Behandlungspraxis gestern und heute. Vom »optimalen Geschlecht« zur individuellen Indikation, in: Katinka Schweizer – Ralf Binswanger (Hgg.), Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen (Beiträge zur Sexualforschung), Gießen 2012, 99–118, hier: 102. 162 Aquapendente, Hieronymus F., Chirurgische Schriften. Darinnen nicht allein alle Chirurgische Hand∼Griffe/sondern auch die Ursachen der Kranckheiten des Menschlichen Leibes auf das deutlichste angewiesen werden […], Nürnberg 1716, 197. 163 Schochow, Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter, 139. 164 Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 208–209. 165 Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 210. 166 Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 216.
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obachtung von Neigungen (besonders der Richtung des Geschlechtstriebes) und Feststellung der Menstruationsfähigkeit«167 . Nicht mehr nur die Erscheinung der primären Geschlechtsmerkmale stehen im Fokus der Behandlungsziele, sondern auch die der sekundären. Auffällig ist, dass sich auch noch im 20. Jh. der Vorrang des Männlichen gegenüber dem Weiblichen in der Medizin durchsetzt. Geschlechtszuweisende Operationen zum männlichen Geschlecht fallen eher korrektiv und weniger gravierend aus.168 Maßstab wird dabei daran genommen, ob der Penis eine angemessene Größe aufweist und es möglich ist, im Stehen zu urinieren.169 Außerdem sollte »der Mann penetrieren können.«170 Das Behandlungsziel bei weiblichen Geschlechtszuweisungen ist ebenfalls funktional auf den heterosexuellen Geschlechtsverkehr beschränkt und orientiert sich äußerlich nach ästhetischen Gesichtspunkten: »Bei Frauen sollen Vulva, Labia und Klitoris normal aussehen und die Vagina soll fähig sein, einen normalen Penis aufzunehmen.«171 Money u.a. beurteilten Klöppel zufolge vor einer Operation »ob sich das Genitale – ggf. nach entsprechender Korrektur – für den heterosexuellen Geschlechtsverkehr in der männlichen oder weiblichen Position besser eigne«172 . Denn es herrschte die Überzeugung, dass nur der penetrierende Sexualverkehr den Dienst der Befriedigung in ausreichendem Maß leiste. Auf die Gesundheit der Geschlechtsorgane wird dabei lange Zeit keine Rücksicht genommen. Schmerz-Traumata oder die Insensibilität des Genitalbereichs nach den Operationen werden in den meisten Fällen von Ärzt*innen oder Eltern eines intergeschlechtlichen Kindes zugunsten der Unauffälligkeit des Genitals in Kauf genommen, denn das Kind kann diesen Operationen im Alter von ein bis zwei Jahren nicht selbst zustimmen. Die Entscheidung, an welches Geschlecht angeglichen wird, fällt oft zugunsten dessen aus, was technisch einfacher oder überhaupt machbar ist. So verwundert es wenig, dass lange Zeit die meisten Operationen vaginale Angleichungen173 realisierten, weil es vermeintlich schwieriger war, einen sozial akzeptierbaren Penis herzustellen.174 Bereits in den 1920er und 1930er Jahren werden vorwiegend optisch ansprechende Neovaginen operativ konstruiert, deren Unterschied zu einer echten Vagina als unscheinbarer beurteilt wird als der Unterschied eines echten Penis im Vergleich zu einem künstlich verlängerten.175 Trotz des Trends, Klitorishypertrophien oder Mikropenisse bei intergeschlechtlichen Menschen zu korrigieren, sprechen sich dagegen schon in den 1930ern
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Neumann, Josef, Intersexualität bei Kindern: Fremder Körper und gesellschaftliches Verhalten. Versuch eines historischen Zugangs, in: Rainer Finke – Sven-Olaf Höhne – Grigore Cernaianu (Hgg.), Intersexualität bei Kindern, Bremen 2008, 44–54, hier: 52. 168 Vgl. Schweizer – Richter-Appelt, Behandlungspraxis gestern und heute, 100. 169 Vgl. Gildemeister, Regine – Robert, Günther, Geschlechterdifferenzierung in lebenszeitlicher Perspektive. Interaktion – Institution – Biografie, Wiesbaden 2008, 29. 170 Voß, Intersexualität – Intersex, 14. 171 Gildemeister – Robert, Geschlechterdifferenzierung in lebenszeitlicher Perspektive, 29. 172 Money u.a. zit.n.: Klöppel, XX0XY ungelöst, 315. 173 Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 317. Voß, Intersexualität – Intersex, 15. 174 Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 95. 175 Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 317.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Ärzt*innen aus, weil nicht absehbar sei, wie sich jene Kinder in der Pubertät entwickeln würden.176 Mit weniger invasiven Behandlungsmethoden ist auch im 21. Jh. noch vielfach ein ästhetisches Interesse verbunden, wie sich gemäß der Aussage der Kinderärztin Annette Richter-Unruh bestätigen lässt. Sie ist davon überzeugt, dass das Aussehen der Genitalien ausschlaggebend für die künftigen Behandlungsverläufe sein sollte, wobei sie sich indirekt auch auf die ausbleibende Entwicklung hin zu einem adulten äußeren Erscheinungsbild bezieht: »Bislang richtete sich das Vorgehen allein nach dem Phänotyp, also nach der äußeren Erscheinung. Dies scheint auch abgesehen von wenigen Ausnahmen, ein brauchbarer Weg für die Entscheidung des Vorgehens bei der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der verschiedenen Diagnosen und DSD-Formen zu sein.«177 Zwar ist für die Diagnose von Intergeschlechtlichkeit meist die angeborene Genitalentwicklung ausschlaggebend, allerdings kann es im Fall von unerwarteten Feminisierungs- oder Virilisierungserscheinungen in der Pubertät zu späteren Diagnosen kommen. In vielen Fällen ist die Medizin also auch auf Blickdiagnosen und ästhetische Kriterien angewiesen. Die zunehmende Ästhetisierung der Gesellschaft lässt sich auch an den steigenden Schönheitsoperationen ablesen. Wie die Statistik der ISAPS (International Survey on Aesthetic Cosmetic Surgery) veranschaulicht, stieg die Anzahl invasiver Schönheitsoperationen von 2014 auf 2018 um 15 %, die Anzahl nicht-invasiver um 24,5 %. Auffällig ist dabei der hohe Anteil an invasiven Veränderungen (davon insgesamt 36,8 %), welche primäre, sekundäre oder tertiäre Geschlechtsmerkmale betreffen. Platz eins aller durchgeführten Operationen, unabhängig von Geschlecht und Land nehmen dabei Brustvergrößerungen mit 17,6 % ein, Brustanhebung und Brustverkleinerung rangieren auf den Plätzen sechs und acht. Auf Platz elf mit 2,5 % aller durchgeführten Operationen befindet sich die Behandlung von Gynäkomastie, auf Platz 16 die Labioplastik (exklusiv Vaginalstraffung) mit 1,3 %.178 An der Statistik der DGÄPC (Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie) lässt sich außerdem ablesen, dass die Nachfrage nach einer Intimkorrektur auch bei Männern 2019 im Vergleich zu 2018 angestiegen ist. Sie rangiert mit 6,1 % auf
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Vgl. Klöppel, XX0XY ungelöst, 330. Richter-Unruh, Annette, Kritische Fragen der Hormontherapie bei XY-chromosomalen Störungen der Geschlechtsentwicklung. Off-Label-Use, Testosterongabe und Versorgungswiderstände, in: Katinka Schweizer – Ralf Binswanger (Hgg.), Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen (Beiträge zur Sexualforschung), Gießen 2012, 345–354, hier: 345. Vgl. International Society of Asthetic Plastic Surgery, ISAPS International Survey on Asthetic/Cosmetic Procedures performed in 2018, 2018, 9–10. URL: https://www.isaps.org/wp-content /uploads/2019/12/ISAPS-Global-Survey-Results-2018-new.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Die 36,8 % setzen sich zusammen aus: Brustvergrößerung 17,5 %, Brustanhebung 6,7 %, Brustverkleinerung 5,0 %, Gesäßvergrößerung 3,3 %, Gynäkomastiebehandlung 2,5 %, Labioplastik 1,3 % und Gesäßanhebung 0,4 %. Bei anderen Behandlungen wie etwa der Gesichtsknochenkonturierung, Fetttransplantation oder Fettabsaugung kann nur indirekt auf die Veränderung gemäß Geschlechtsmerkmalen geschlossen werden.
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dem sechsten Platz aller invasiv wie nicht-invasiv durchgeführten Operationen.179 »Als Grund für den Eingriff gaben 61,7 Prozent der Befragten einen ästhetischen Leidensdruck an. Besonders hoch war dieser bei Frauen, die sich für eine Brustvergrößerung entschieden hatten.«180 Diese allgemeine Tendenz lässt sich auch an der Behandlung intergeschlechtlicher Menschen nachverfolgen. »Ein Verdacht entsteht i.d.R. nicht aus möglicherweise abweichenden Chromosomen, sondern dann, wenn keine eindeutige Identifizierung der Genitalien möglich ist.«181 Die Diagnosen sind auf Blickdiagnosen und Ertasten der Geschlechtsorgane angewiesen, auf die oftmals chirurgische Eingriffe und eine Substitutionstherapie mit Sexualsteroiden folgt.182 Begründungsmuster orientieren sich in vielen Fällen auf das maligne Entartungsrisiko der Gonaden, obwohl sich dieses bereits laut dem Consensus-Statement aufgrund unklarer Terminologie und den Effekten der normalen Zellreifung als schwierig erweist183 : »Entscheidend für die Therapie war, dass sich das Mädchen mit der weiblichen Geschlechtsrolle identifizierte. Damit war eine Gonadektomie, die das Fortschreiten der Virilisierung verhindert, indiziert. Gleichzeitig wurde das Entartungsrisiko der Gonaden eingedämmt. Das weibliche Selbstwertgefühl der Patientin wurde gestärkt. Eine Klitorisreduktionsplastik wäre nur indiziert, wenn die Patientin sie wünschte.«184 Die Motivationslage und damit die Entscheidungsautonomie über den Behandlungsweg verschieben sich offensichtlich während des Behandlungsverlaufes in Richtung der Behandelnden. Dies kann durch folgende Tatsache unterstützt werden: Obwohl die Hormonersatztherapie ein sensibles Feld ist und je nach Individuum eigentlich speziell angepasst werden müsste, verweigern viele Ärzt*innen Testosterongaben an Personen mit Karyotyp 46,XX und das trotz der subjektiv empfundenen positiven Wirkung von Testosteron auf den Körper wie die Seele.185 Diese invasiven und nicht-invasiven Eingriffe in die körperliche Integrität intergeschlechtlicher Menschen führen Ende des 20. Jh. zu Bewegungen, welche die Selbstbestimmung über den eigenen Körper stärken möchten.
1.3.4. Orientierung an einer menschenrechtlich-fundierten Geschlechterordnung Wie gezeigt werden konnte, entwickelte sich in den letzten Jahren eine gewisse Sensibilität gegenüber körperlicher Integrität, die im medizinischen und rechtlichen Bereich be179
Vgl. Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, Statistik 2018–2019. Zahlen, Fakten und Trends der Ästhetisch-Plastischen Chirurgie (2019), Berlin 2019, 7. 180 Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, Statistik 2018–2019, 12. 181 Gildemeister – Robert, Geschlechterdifferenzierung in lebenszeitlicher Perspektive, 27. 182 Vgl. Cernaianu, Grigore u.a., Virilisierung in der Pubertät bei einer Patientin mit 17β-HSD3-Mangel, in: Rainer Finke – Sven-Olaf Höhne – Grigore Cernaianu (Hgg.), Intersexualität bei Kindern, Bremen 2008, 135–137, hier: 135. 183 Vgl. Lee u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders, 9. 184 Cernaianu u.a., Virilisierung in der Pubertät bei einer Patientin mit 17β-HSD3-Mangel, 136. 185 Vgl. Richter-Unruh, Kritische Fragen der Hormontherapie bei XY-chromosomalen Störungen der Geschlechtsentwicklung, 350.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
reits klare Anforderungen stellt. Christian Kind, Chefarzt der Pädiatrie im Kinderspital St. Gallen, ist zuversichtlich, dass sich künftig eine weitere Sensibilisierung der Behandlungspraxis gegenüber den psychischen, physischen und psychosozialen Bedürfnissen von intergeschlechtlichen Kindern als auch dem sozialen Umfeld einstellt, weil es bereits an vielen Orten grundlegende Änderungen des Vorgehens gegeben habe.186 Diese Perspektive ist jedoch noch lange keine Selbstverständlichkeit, zumal das Umdenken im medizinischen Bereich von rechtlichen Bestimmungen und insbesondere dem Menschenrechtsdiskurs abhängig ist. Schon vor 1794 stellen die Preußischen Staaten fest, dass nicht alle Neugeborenen eindeutig einem Geschlecht zugewiesen werden können. Der sogenannte »Zwitter-Paragraph« regelt in diesem Zusammenhang sowohl für das Kanonische Recht als auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, dass »ein Zwitter nach dem 18. Lebensjahr die freie Wahl [habe], in welchem Geschlecht er künftig leben wolle und genießt die entsprechenden Rechte«187 . Ab 1800 kommt es so zu einer vermehrten Dokumentation von Geschlechtswechsel in ärztlichen Berichten.188 Als die Gonaden allerdings nicht mehr als Geschlechtskriterium taugen, wird von Ärzt*innen im Personenstandsgesetz die Gesetzeslücke beklagt, dass nicht jedes Neugeborene so eindeutig einem Geschlecht zugewiesen werden könne. »Einige Ärzte schlugen vor, bei Geburt ›Geschlecht unbestimmt‹ einzutragen und die endgültige Zuweisung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht erst nach der Pubertät vorzunehmen. Andere forderten, das Geschlechtswahlrecht für erwachsene Hermaphroditen wieder einzuführen. Auch ein paar Juristen unterstützten diese Vorschläge, doch letztlich konnten sie sich nicht durchsetzen.«189 Da es zu keiner Lösung kommt, werden intergeschlechtliche Menschen auf rechtlicher Ebene immer unsichtbarer und im Verlauf des 19. Jh. zunehmend marginalisiert, da unfruchtbare Ehen für den Staat als nutzlos galten. Missbildungen mussten daher den Behörden gemeldet werden. Verschärft wurde diese rechtliche Abwertung durch die eugenische Fortpflanzungsselektion zur Zeit des Nationalsozialismus.190 Erst ab den 1970ern kommt es zu einer globalen Vernetzung von Bewegungen, die ihre Rechte einklagen.191 Ihr theoretischer Hintergrund nährt sich aus der aus den USA stammenden, sogenannten Queer Theory, welche sich demokratische Theorien zunutze macht, um alle weiteren unterdrückten Gendergruppen einzubeziehen.192 Die Unterscheidung von sex und gen-
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Vgl. Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 55. Schochow – Steger, Hermaphroditen, 7–24. Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 228. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 231. Vgl. Klöppel, »Leben machen« am Rande der Zwei-Geschlechter-Norm, 231–233. Vgl. Lenz, Ilse, Frauenbewegungen. Zu den Anliegen und Verlaufsformen von Frauenbewegungen als sozialen Bewegungen, in: Ruth Becker – Beate Kortendiek (Hgg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2010, 867–877, hier: 868. Vgl. Hark, Sibylle, Lesbenforschung und Queer Theorie. Theoretische Konzepte, Entwicklungen und Korrespondenzen, in: Ruth Becker – Beate Kortendiek (Hgg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2010, 108–115, hier: 110.
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der wird im Kontext von Intergeschlechtlichkeit zum Problem, denn Money interpretiert sie wie viele andere Zeitgenöss*innen so, dass das biologische Geschlecht durch das soziale vollständig formbar sei. Nichtsdestotrotz hat der Wandel geschlechtstypischer Rollenbilder einen entscheidenden Einfluss auf die Medizin.193 Milton Diamond, Professor für Anatomie und reproduktive Biologie an der University of Hawaii, gilt als Vorreiter einer Full Consent Policy. Gemeinsam mit dem Psychiater H. Keith Sigmundson194 hat er 1997 ein Dokument veröffentlicht, das auf die Notwendigkeit von Informationsvermittlung und geteilten Entscheidungsprozessen aufmerksam macht.195 Außerdem wird kritisch gegenüber Moneys Behandlungsmodell und der pathologisierenden Wirkung des Begriffes DSD Stellung bezogen. Dementsprechend werden frühe Operationen kritisiert, weil eine Geschlechtsbestimmung die Berücksichtigung vieler Faktoren verlangt, die mit dem Säuglingsalter noch nicht gegeben sind, und weil mit einer Operation die Autonomie und Integrität von intergeschlechtlichen Personen verletzt wird. Im deutschsprachigen Raum stellt der Vortrag Medizinische Intervention als Folter 196 von Michel Reiter bei der European Federation of Sexology im Juni 2000 eine erste medizinwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit im Sinne einer Full Consent Policy dar. Erst auf einer Konferenz in Chicago von 2005 widmet man sich den Fragen rund um Intergeschlechtlichkeit ausführlich. Das im Zuge der Konferenz erarbeitete Consensus Statement 197 stellt eine neue Ausrichtung medizinischer Auseinandersetzung mit dem Thema dar und möchte alternative Behandlungsmethoden entwerfen, die »psychosocial care, peer support, truth telling, informed consent«198 integrieren. Daraufhin entwickelt sich, wenn auch langsam, eine Sensibilität gegenüber Intergeschlechtlichkeit im wissenschaftlichen Diskurs, die Medizinethik eingeschlossen, die von Anfang an auch aktivistischer Arbeit zu verdanken ist. In den 1990er Jahren werden, angefangen in USA, erstmals kritische Gegenstimmen von Selbsthilfegruppen wie etwa den XY-Frauen laut, welche die Traumata ihrer Kindheit durch die Vernetzung mit anderen Gruppen im Internet an die Öffentlichkeit bringen und für eine Abschaffung geschlechtskorrigierender und -zuweisender Operationen eintreten. Die*der Aktivist*in Cheryl Chase wird auf die Publikationen von Anne FaustoSterling The five sexes199 und Susanne J. Kessler The medical construction of gender 200 aufmerksam und gründet mit ihnen gemeinsam die Intersex Society of North America. Die Verknüpfung menschenrechtlicher Fragen mit Fragen sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität hatte besonders durch die Erarbeitung der YogyakartaPrinzipien an Bedeutung gewonnen. Am 9. November 2006 fand in der indonesischen 193 194 195 196 197 198 199 200
Vgl. Wiesemann, Claudia, Ethische Aspekte der Versorgung von Kindern mit »disorders/differences of sex development«, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 167/7 (2019) 586–590, hier: 586. Dieser hatte ebenfalls den Fall David Reimer betreut. Näheres dazu in der Fußnote Nr. 154 ?? in diesem Abschnitt. Vgl. Diamond – Sigmundson, Management of Intersexuality. Vgl. Reiter, Michel, Medizinische Intervention als Folter, 2000. URL: http://www.gigi-online.de/i ntervention9.html [Abruf: 14. März 2023]. Lee u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders. Dreger – Herndon, Progress and Politics in the Intersex Rights Movement, 206. Vgl. Fausto-Sterling, The Five Sexes. Vgl. Kessler, The Medical Construction of Gender.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Stadt Yogyakarta eine Konferenz von 29 internationalen Menschenrechtsexpert*innen statt, welche 29 Prinzipien entwickelten, anhand derer die Anwendung der Menschenrechte auch in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität gesichert werden sollte. An jede Kurzbeschreibung eines der 29 Prinzipien schließen sich Empfehlungen zu deren rechtlichen Umsetzung für die Staaten an. Dabei wird betont, dass es kein Menschenrecht geben kann, »das unter dem Gesichtspunkt sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität irrelevant wäre«201 . Da sich das ursprüngliche Dokument vornehmlich auf LGBT-Anliegen beschränkt, werden 2017 von den Inter*Aktivist*innen Morgan Carpenter und Mauro Cabral Grinspan die Yogyakarta-Prinzipien +10202 entwickelt. Darin stellen sie zusätzlich die Frage nach körperlicher Integrität und rechtlicher Anerkennung, da der Schutz für Personen mit nicht-heteronormativen Identitäten (LGBT) keinen Schutz für Menschen bietet, deren Geschlechtsausdruck und Geschlechtscharakteristika als normative Abweichung begriffen werden. Mit der Definition der beiden Begriffe soll gewährleistet werden, dass auch die körperliche Integrität intergeschlechtlicher Menschen einem rechtlichen Schutz unterstellt werden muss. Lange werden die Vorschläge zur Verbesserung der Behandlungsmethoden in Europa nicht aufgegriffen, aber schließlich reagiert 2016 die CEDAW-Allianz zivilgesellschaftlicher Organisationen auf den UN-Ausschuss der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW)203 mit einem Alternativbericht 204 zu den Stellungnahmen der einzelnen Regierungen. Darin formulieren sie Aufforderungen an die jeweilige Bundesregierung, auch Maßnahmen zum Schutz für intergeschlechtliche Personen zu treffen. Wie die Menschenrechte intergeschlechtlicher Personen jeweils einzeln eingefordert und umgesetzt wurden, unterscheidet sich von Land zu Land erheblich.205 Für 201 Die Yogyakarta-Prinzipien. Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (Schriftenreihe der Hirschfeld-Eddy-Stiftung), Berlin 2008, 9. 202 Vgl. Cabral Grinspan, Mauro u.a., The Yogyakarta Principles plus 10. Additional Principles and State Obligations On the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation, Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics to Complement the Yogyakarta Principles, 2017. URL: http://yogyakartaprinciples.org/wp-content/uploads/2017/11/A5_y ogyakartaWEB-2.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 203 Dabei handelt es sich um ein durch die vier Weltfrauenkonferenzen in Mexiko-Stadt 1975, Kopenhagen 1980, Nairobi 1985 und Peking 1995 angeregtes internationales, rechtliches Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1979 (Inkrafttreten: 1981) zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women), das von allen Staaten der Vereinten Nationen eine Stellungnahme einfordert. 204 Vgl. CEDAW Allianz, Alternativbericht CEDAW. Bezug nehmend auf den kombinierten siebten und achten Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), 2016. URL: https://www. frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles/nachrichten/nachricht/cedaw-schattenbericht-veroeffentl icht.html?file=files/userdata/downloads/news/2014-oktober/CEDAW-Alternativebericht_2016_l ang_dt.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 205 Vgl. Auswahl: Althoff, Nina, Geschlechtervielfalt im Recht. Status quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt. Gutachten, 2017. URL: https://www.bmfsfj.de/blob/114066/8a02a557eab695bf7179ff2e92d0ab28/imag-band8-geschlechtervielfalt-im-recht-data.pdf [Abruf: 14. März 2023]; Ghattas, Menschenrechte zwischen den Geschlechtern; Guillot, Vincent, Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte, in: Erik
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alle Länder kann aber festgehalten werden, dass die Grundmotivation, eine dritte Option zu schaffen, die gleiche ist – nämlich die Erlangung von Autonomie und Anerkennung auf rechtlicher Ebene. Exemplarisch dazu lassen sich die Entwicklungen in Deutschland und Österreich aufzeigen: In Deutschland wurde am 17. April 2004 aus 14 Angehörigen der Selbsthilfegruppe XY-Frauen der Verein Intersexuelle Menschen e.V. gegründet. Seine Forderungen, die später als Internetdokument vorliegen,206 konzentrieren sich neben dem nichtkonsensuellen Operationsverbot bei intergeschlechtlichen Kindern auf grundlegende ethische wie menschenrechtliche Fragen. Nachdem der Verein wiederholt Kleine Anfragen und einen Schattenbericht 207 2008 an die deutsche Bundesregierung schickt, fordert der UN-Ausschuss 2010 die deutsche Bundesregierung auf, den Dialog mit intergeschlechtlichen Menschen zu suchen und Schutzmaßnahmen zu treffen. Diese beauftragt wiederum den Deutschen Ethikrat, eine Stellungnahme aus unterschiedlichen Perspektiven zu erstellen.208 Angeregt durch den hier entstehenden Diskurs wird im Februar 2014 der Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ) gegründet, welcher gemeinsam mit der Plattform Intersex Österreich (PIÖ) seinerseits ein Positionspapier 209 und entsprechende Forderungen zum Schutz intergeschlechtlicher Personen formuliert. In Anlehnung an die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 verfasst nun auch die deutsche Bundesärztekammer 2015 eine Stellungnahme210 mit wichtigen ethischen Prinzipien, die insbesondere bei Intergeschlechtlichkeit bedacht werden sollen, woraufhin die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 2017 zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen psychische Gesundheit und klinische Forschung211 folgt. »Die Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Menschen werden darin ausdrücklich als Intersex-Genitalverstümmelungen
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Schneider – Christel Baltes-Löhr (Hgg.), Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (transcript Gender Studies), Bielefeld 22015, 265–276; Petričević, Marija, Rechtsfragen zur Intergeschlechtlichkeit. Zugl. Wien Univ. Diss. 2015 (Juristische Schriftenreihe Band 261), Wien 2017. Vgl. Intersexuelle Menschen e.V., Forderungen Intersexuelle Menschen e.V., 2019. URL: http://w ww.im-ev.de/forderungen/ [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Intersexuelle Menschen e. V., Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), 2008. URL: http://www.im-ev.de/pdf/Schattenbericht_CEDAW_ 2008-Intersexuelle_Menschen_e_V.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Krämer, Anike – Sabisch, Katja, Inter*. Geschichte, Diskurs und soziale Praxis aus Sicht der Geschlechterforschung, in: Beate Kortendiek – Birgit Riegraf – Katja Sabisch (Hgg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Bd. 65, Wiesbaden 2019, 1213–1222, hier: 1218. Vgl. VIMÖ – PIÖ, Positionspapier, 2014. URL: http://vimoe.at/wp-content/uploads/2014/03/Positio nspapier-VIMO-PIÖ.pdf [Abruf: 25. Oktober 2021]. Vgl. Bundesärztekammer, Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD). Stellungnahme, in: Deutsches Ärzteblatt 30.01.2015 (2015) 1–12, hier: 3. Vgl. Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 2018 zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen psychischer Gesundheit und klinische Forschung, 2018. URL: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX :52017IP0028&from=EN [Abruf: 14. März 2023].
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
(IGM) bezeichnet.«212 Die Stellungnahme der österreichischen Bioethikkommission213 vom 28. November 2017 orientiert sich ebenfalls am Konzept der Full Consent Policy und mahnt zur Vorsicht bzgl. vorschneller Entscheidungen und Operationen. Am 9. Juni 2021 werden die bisher erlangten Fortschritte durch den Gleichbehandlungsausschuss des österreichischen Parlaments noch einmal nachgeschärft, wo man sich einstimmig für den Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor medizinischen Eingriffen ausspricht.214 Eine neue gesetzliche Grundlage, wie sie die Europäische Kommission215 im März 2021 gefordert hat, steht allerdings noch aus. Bislang wurde im österreichischen Gleichbehandlungsausschluss dem Entschließungsantrag im Oktober 2021 zum Schutz intergeschlechtlicher Kinder vor nicht-konsensuellen und medizinisch nicht notwendigen Behandlungen nur einstimmig zugestimmt. Deutschland hat dagegen einen dementsprechenden Gesetzesentwurf 216 bereits am 25. März 2021 angenommen. Parallel zu den medizinrechtlichen Fragestellungen verlaufen in den jeweiligen Ländern immer auch gerichtliche Verfahren hinsichtlich einer dritten Eintragungsmöglichkeit im Personenstandsgesetz. In Österreich wird die Entscheidung für den Geschlechts-
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Hechtl, Über Inter*Kinder und Jugendliche, 78. Vgl. Bioethikkommission des Bundeskanzleramts Österreich, Intersexualität und Transidentität. Stellungnahme, 2017. URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=w eb&cd=&ved=2ahUKEwjbqY3Uz9rxAhXXgf0HHZl0CJoQFnoECBsQAA&url=https%3A%2F%2Fw ww.bundeskanzleramt.gv.at%2Fdam%2Fjcr%3A33e9da27-f94c-4029-9541-070c9d2b64ff%2FInt ersexualitaet%2520und%2520Transidentitaet_BF.pdf&usg=AOvVaw2lXLdQsHnnt7ztGN5qPN6 Y [Abruf: 14. März 2023]. 214 Vgl. Pressedienst der Parlamentsdirektion, Gleichbehandlungsausschuss spricht sich einstimmig für den Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor medizinischen Eingriffen aus. Einstimmigkeit auch für das Verbot von Konversationstherapien gegeben, 2021. URL: https://ww w.ots.at/presseaussendung/OTS_20210609_OTS0233/gleichbehandlungsausschuss-spricht-sicheinstimmig-fuer-den-schutz-von-intergeschlechtlichen-kindern-vor-medizinischen-eingriffen-a us [Abruf: 14. März 2023]. 215 Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. EU-Kinderrechtsstrategie, 2021. URL: https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/1_de_act_part1_v2_1.p df [Abruf: 14. März 2023]. 216 Vgl. Deutscher Bundestag, Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, 2020. URL: https://dserver.bunde stag.de/btd/19/246/1924686.pdf [Abruf: 14. März 2023].
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eintrag divers217 mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention218 begründet, der mit der Achtung des Privat- und Familienlebens auch den Schutz der menschlichen Persönlichkeit garantiert. Hierunter fallen der Schutz der Identität, Individualität und Integrität.219 Der personenstandsrechtliche Status garantiert damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Beachtung in behördlichen Dokumenten und Stellenanzeigen, den Rechtsschutz vor Diskriminierung in öffentlichen Einrichtungen und mit dem Erlangen der Volljährigkeit das ethische wie legale Recht, über den Karyotyp, den gonadalen Status, die Behandlungen und die Fertilitätsprognosen informiert zu werden.220 Wie genau die Autonomie intergeschlechtlicher Menschen aus rechtlicher Sicht gewahrt werden soll, bleibt jedoch ein Problemfeld. Der Rechtswissenschaftlerin Eva Matt zufolge könne zwar eine Ethikkommission unter Berücksichtigung der künftigen Fertilität mit oder ohne Eingriffen eine Empfehlung ausformulieren, welche dann einem Gericht zur Entscheidung vorgelegt werden solle. Das Problem verschöbe sich ihrer Ansicht nach dann allerdings nur vom familiären auf den institutionellen Kontext.221 Vor diesem Hintergrund steht nicht nur sie der Dritten Option kritisch gegenüber, denn wie viele glaubt sie, »nicht, dass dadurch Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts (der Geschlechtsidentität) nicht mehr vorkommen würden«222 . Tatsächlich lässt sich vermehrt eine restriktive Umsetzung dieses Gesetzes beobachten, da in Österreich wie Deutschland zur Berechtigung der Änderung des Personenstandes erneut ein ärztliches Gutach-
217
Vgl. Sablatnig, Wolfgang, Presseinformation. Ein weiterer Geschlechtseintrag im Personenstandsregister neben weiblich und männlich?, 2018. URL: https://www.vfgh.gv.at/medien/Weiter er_Geschlechtseintrag_neben_weiblich_und_maennl.de.php. Vgl. VfGH Österreich, Ablehnung der Verfassungswidrigkeit des Personenstandsgesetzes gemäß § 2 Abs. 2 Z 3 PStG 2013 in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit, 2018. URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Vfgh/JFT_20180615 _18G00077_00/JFT_20180615_18G00077_00.pdf [Abruf: 14. März 2023]; VfGH Österreich, Prüfungsbeschluss zum Antrag auf Änderung des Personenstandsgesetzes auf Verfassungsgemäßheit nach § 2 Abs. 2 Z 3 PStG 2013 im Hinblick auf Intergeschlechtlichkeit, 2018. URL: https://www. ris.bka.gv.at/Dokumente/Vfgh/JFR_20180627_16E02918_01/JFR_20180627_16E02918_01.pdf [Abruf: 14. März 2023]; VfGH Österreich, Intersexuelle Menschen haben Recht auf adäquate Bezeichnung im Personenstandsregister 218 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), 1998, Art. 8. URL: https://www.ris.bka.gv.at/eli/bgbl/1958/210/A8/NOR12016939 [Abruf: 14. März 2023]. 219 Vgl. Sablatnig, Wolfgang, Presseinformation. Intersexuelle Menschen haben Recht auf adäquate Bezeichnung im Personenstandsregister. Personenstandsgesetzes, keine Aufhebung von Bestimmungen nötig, 2018, 1. URL: https://www.vfgh.gv.at/downloads/VfGH_Presseinfo_G_77-2018_un bestimmtes_Geschlecht.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 220 Vgl. Karkazis, Katrina – Rossi, Wilma C., Ethics for the Pediatrician. Disorders of Sex Development. Optimizing Care, in: Pediatrics in review 31/11 (2010) e82–e85. 221 Vgl. Matt, Eva, Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland. Stellungnahme, 2012, 5–6. URL: https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Stellungnahmen_Sachverstaen dige_Intersexualitaet/Matt_-_Expertenbefragung.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Weitere Ansätze zur Autonomie finden sich in: Vgl. Ghattas, Dan C., Protecting Intersex People in Europe. A Toolkit for Law and Policymakers, 2018. URL: https://oiieurope.org/wp-content/uploads/2019/05/Protecting _intersex_in_Europe_toolkit.pdf [Abruf: 13.01.2023]. 222 Matt, Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland, 7.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
ten eingeholt werden muss.223 Obwohl der menschenrechtliche Diskurs viele Entwicklungen zugunsten intergeschlechtlicher Menschen befördert hat, warten zentrale menschenrechtliche Fragestellungen wie die der Autonomie intergeschlechtlicher Menschen und der konkreten Umsetzung des nicht-konsensuellen Operationsverbotes weiterhin auf eine Lösung.
1.3.5. Zusammenfassung: Denkformen im Wandel der Zeit Dieses Kapitel hat aufgezeigt, dass die Bewertung nicht-binärer Körper stark von den zugrundeliegenden Denkformen abhängt. Dabei spielen historische Bedingungen zwar eine Rolle, sind aber nicht allein ausschlaggebend für die Bewertung von intergeschlechtlichen Phänomenen. Bewusst wurde daher auf eine streng chronologische Darstellung verzichtet. Vielmehr standen vier Denkformen im Blickfeld: a) Die religiös-naturrechtliche Geschlechterordnung zieht das Naturrecht, mythische oder religiöse Schriften zur Erklärung des Phänomens Intergeschlechtlichkeit heran und kommt je nach den darin vorausgesetzten Geschlechterkonzeptionen zu unterschiedlichen Urteilen darüber, wie Intergeschlechtlichkeit zu bewerten ist. Tendenziell fällt diese Bewertung negativ aus: Intergeschlechtliche Menschen werden als defizient, sündig und monströs gekennzeichnet, wenn ihre körperliche Verfassung oder ihre Fertilität die naturrechtlich, mythisch oder religiös legitimierte Zweigeschlechterordnung untergräbt. Als schicksalhaft vorgezeichnete Existenzweise ist damit jede Abweichung von den normativen Vorgaben des Männlichen oder Weiblichen verdächtig. Wenige sahen in ihnen auch gottgewollte Wunder. b) Die symbolisch-soziale Geschlechterordnung bewertet intergeschlechtliche Phänomene nach ihrem Einfluss auf das Sozialgefüge. Da Geschlechtlichkeit, Sexualität und Fertilität vor allem im Zusammenhang mit der Ehe eine Rolle spielen, nimmt mit der Institutionalisierung der Ehe auch die Reglementierung dieser Bereiche einen größeren Stellenwert ein. Geschlechtswechsel geschehen im Mittelalter vor allem aus einem sozialen Zwang heraus, verstehen sich dann aber auch als definitive Geschlechtsrolle, die intergeschlechtliche Menschen einnehmen sollen, um den ehelichen Pflichten gerecht zu werden. In der Neuzeit verschärfen sich diese Pflichten, und Verstöße dagegen werden strenger geahndet. Die vermehrten gerichtlichen Prozesse befördern schließlich auch die medizinische Forschung, da immer detailliertere Untersuchungsmethoden und -instrumente zur Geschlechtsfeststellung benötigt werden. Die Deutungsmacht der Medizin setzt sich gegenüber anderen Instanzen wie etwa der Kirche durch. Im 20. Jh. wird schließlich das von John Money entwickelte Balitmorer-Behandlungskonzept populär, das sich zur
223 Ausserer – Hoenes, Eine historische Chance vergeben. Gesetz zur Dritten Option, in: taz online (16. August 2018); Humer, Tobias – Matt, Eva, Dritter Geschlechtseintrag in Dokumenten: Innenministerium plant restriktive Umsetzung. Die Selbstvertretung intergeschlechtlicher Menschen in Österreich ist unzufrieden und fordert Selbstbestimmung statt erneuter Pathologisierung, 2018. URL: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20181025_OTS0112 [Abruf: 14. März 2023].
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Aufgabe macht, intergeschlechtliche Kinder durch geschlechtszuweisende Operationen sozial einzugliedern. Diese Behandlungsmethode führt aber im Gegensatz zu Moneys Annahme nicht dazu, dass intergeschlechtliche Menschen weniger soziale Diskriminierung erleiden, sondern führt sogar verstärkt zu deren Stigmatisierung, Tabuisierung und Pathologisierung ab den 1950er Jahren. c) Der funktional-moralästhetischen Geschlechterordnung liegt eine ästhetische Orientierung zugrunde, welche die sekundären und äußerlichen Geschlechtsmerkmale normativ nach ihrer Funktionalität für penetrativen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr und ästhetischen Kriterien bewertet. Zum einen werden damit andere Formen von Sexualität abgewertet, störende Organe aufgrund funktionaler Differenzen entfernt oder verändert; zum anderen verschärft sich die Bedeutung, dass das von der konstruierten Normativität Abweichende korrigiert, angepasst und verschönert werden muss. Da das Maß für einen sozial akzeptierbaren Penis in den 1920er Jahren offensichtlich höher lag, als für eine Vagina und das technische Know-How dafür adäquater eingeschätzt wurde, hatten viele Geschlechtszuweisungen unabhängig der Geschlechtsidentität der betroffenen Personen eine Vagina und Vulva zum Ziel. Die zunehmende Ästhetisierung des Genitalbereiches spiegelt sich zudem auch in den gegenwärtigen Statistiken zu Schönheitsoperationen vor allem bei Frauen wider. d) Die menschenrechtlich-fundierte Geschlechterordnung betrachtet medizinische Behandlungsformen und den sozialen Umgang mit intergeschlechtlichen Personen unter dem spezifischen Augenmerk der Menschenrechte. Nicht mehr länger bilden religiöse, soziale oder ästhetische Kriterien die Argumentationsquelle dafür, wie mit intergeschlechtlichen Personen umzugehen ist, sondern die allen Menschen gemeinsame Würde. Vereinsgründungen, politischer Aktivismus und schließlich rechtliche Neuregelungen unterstützen damit die Autonomie von intergeschlechtlichen Menschen und tragen zu einer erweiterten Bewusstseinsbildung der Gesellschaft bei. Auf Basis menschenrechtlicher Argumentation werden geschlechtszuweisende Behandlungsmethoden im Anschluss an John Money kritisch hinterfragt. Plädiert wird stattdessen für die Wahrung der körperlichen Integrität und Autonomie im Anschluss an die von Milton Diamond in den 1990ern entwickelte Full Consent Policy, um auf die Notwendigkeit von Informationsvermittlung und geteilten Entscheidungsprozessen im Behandlungsverlauf aufmerksam zu machen. Rechtlich kommen ab den 2010ern vor allem in europäischen Ländern einige Verfahren zur Einführung eines dritten Geschlechtseintrages in Gang, welcher den Schutz vor Diskriminierung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Schutz der Identität, Individualität und Integrität intergeschlechtlicher Menschen gewährleisten soll. Dieser Schritt ist angesichts der nur langsam nachholenden gesellschaftlichen Entwicklung, was geschlechtsinklusives Denken betrifft, jedoch nicht unumstritten. Befürchtet werden restriktive Umsetzungen der rechtlichen Vorgaben, die eine erneute Pathologisierung von intergeschlechtlichen Menschen zur Folge haben könnten. Es zeigt sich also, dass im Lauf der Zeit das Bewusstsein für die je eigens geschlechtlich bestimmte Körperlichkeit mit der Differenzierung biologisch-medizinischer Untersuchungsmethoden zunimmt. Zugleich verstärkt sich eine Tendenz zur Korrektur und
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Vereindeutigung nichtbinärer Körper zum Zweck der Geschlechtsbestimmung, die eine schrittweise Ästhetisierung des Geschlechts mit sich bringt. Was als normal und abnormal eingestuft wird, richtet sich nach der technischen Machbarkeit und den Schönheitsidealen der Zeit, die mit dem Aufkommen von Schönheitsoperationen noch einmal mehr den Wunsch nach einem idealen Körper in den Mittelpunkt stellen. Obschon keine Denkform über die Zeit hinweg völlig ihre Gültigkeit verliert, verschiebt sich die Gewichtung der Legitimation in Richtung der Ästhetik. Erst in den letzten Jahren wird ein Umdenken durch den menschenrechtlichen Diskurs angestrengt, welcher existenzielle Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen und deren Leidensdruck ernst nimmt, den dichotomen Geschlechteridealen nicht entsprechen zu können.
1.4. Existenzielle Perspektiven und ethische Fragestellungen Die individuellen Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen wurden in medizinischen Diskursen bislang ausgeblendet, zum einen durch die vergleichsweise späte Zusammenfassung der unterschiedlichen Diagnosen unter einen der Objektivierung dienenden Dachbegriff und zum anderen durch fehlende Untersuchungen. Der menschenrechtliche Diskurs und die Medienarbeit haben durch die Bekanntmachung des Phänomens zu einem größeren gesellschaftlichen Bewusstsein für intergeschlechtliche Lebensrealitäten geführt. Zudem tauschen sich intergeschlechtliche Menschen vermehrt über ihre Biografien aus und erfahren so eine Ermächtigung, die Stigmatisierungen und Tabuisierungen ihrer Vergangenheit zu durchbrechen. Dieses Kapitel stellt die Aufarbeitung existenzieller Belastungsfelder an den Anfang. Dann erst sind sich daraus ergebende ethische Fragestellungen in Bezug auf physische, psychische und soziale Integrität aufzuzeigen.
1.4.1. Existenzielle Belastungsfelder im medizinischen Kontext Im deutschsprachigen Raum gibt es insgesamt vier größer angelegte Studien, welche die Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen festhalten. Hierzu gehören (1) der von der Psychotherapeutin Eva Kleinemeier und der Humanbiologin Martina Jürgensen verfasste Zwischenbericht Klinische Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz224 , (2) die Hamburger Intersex-Studie225 , geleitet von der Psychologin und Sexualforscherin Hertha Richter-Ap-
224 Vgl. Kleinemeier, Eva – Jürgensen, Martina, Erste Ergebnisse der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz, Januar 2005 bis Dezember 2007. Für Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer und für Eltern, 2008. URL: http://kastrationsspital.ch/public/Bericht_Klinische_Evaluationsstudie.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 225 Vgl. Brinkmann, Lisa u.a., Behandlungserfahrungen von Menschen mit Intersexualität, in: Gynäkologische Endokrinologie 5/4 (2007) 235–242. Das Dokument fasst die Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes Katamnestische Untersuchung bei erwachsenen Personen mit verschiedenen Formen der Intersexualität und bei Transsexuellen von 2002–2007 zusammen.
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1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
Vereindeutigung nichtbinärer Körper zum Zweck der Geschlechtsbestimmung, die eine schrittweise Ästhetisierung des Geschlechts mit sich bringt. Was als normal und abnormal eingestuft wird, richtet sich nach der technischen Machbarkeit und den Schönheitsidealen der Zeit, die mit dem Aufkommen von Schönheitsoperationen noch einmal mehr den Wunsch nach einem idealen Körper in den Mittelpunkt stellen. Obschon keine Denkform über die Zeit hinweg völlig ihre Gültigkeit verliert, verschiebt sich die Gewichtung der Legitimation in Richtung der Ästhetik. Erst in den letzten Jahren wird ein Umdenken durch den menschenrechtlichen Diskurs angestrengt, welcher existenzielle Perspektiven intergeschlechtlicher Menschen und deren Leidensdruck ernst nimmt, den dichotomen Geschlechteridealen nicht entsprechen zu können.
1.4. Existenzielle Perspektiven und ethische Fragestellungen Die individuellen Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen wurden in medizinischen Diskursen bislang ausgeblendet, zum einen durch die vergleichsweise späte Zusammenfassung der unterschiedlichen Diagnosen unter einen der Objektivierung dienenden Dachbegriff und zum anderen durch fehlende Untersuchungen. Der menschenrechtliche Diskurs und die Medienarbeit haben durch die Bekanntmachung des Phänomens zu einem größeren gesellschaftlichen Bewusstsein für intergeschlechtliche Lebensrealitäten geführt. Zudem tauschen sich intergeschlechtliche Menschen vermehrt über ihre Biografien aus und erfahren so eine Ermächtigung, die Stigmatisierungen und Tabuisierungen ihrer Vergangenheit zu durchbrechen. Dieses Kapitel stellt die Aufarbeitung existenzieller Belastungsfelder an den Anfang. Dann erst sind sich daraus ergebende ethische Fragestellungen in Bezug auf physische, psychische und soziale Integrität aufzuzeigen.
1.4.1. Existenzielle Belastungsfelder im medizinischen Kontext Im deutschsprachigen Raum gibt es insgesamt vier größer angelegte Studien, welche die Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen festhalten. Hierzu gehören (1) der von der Psychotherapeutin Eva Kleinemeier und der Humanbiologin Martina Jürgensen verfasste Zwischenbericht Klinische Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz224 , (2) die Hamburger Intersex-Studie225 , geleitet von der Psychologin und Sexualforscherin Hertha Richter-Ap-
224 Vgl. Kleinemeier, Eva – Jürgensen, Martina, Erste Ergebnisse der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz, Januar 2005 bis Dezember 2007. Für Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer und für Eltern, 2008. URL: http://kastrationsspital.ch/public/Bericht_Klinische_Evaluationsstudie.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 225 Vgl. Brinkmann, Lisa u.a., Behandlungserfahrungen von Menschen mit Intersexualität, in: Gynäkologische Endokrinologie 5/4 (2007) 235–242. Das Dokument fasst die Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes Katamnestische Untersuchung bei erwachsenen Personen mit verschiedenen Formen der Intersexualität und bei Transsexuellen von 2002–2007 zusammen.
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pelt, (3) die Online-Erhebungen des Deutschen Ethikrats, die in der Stellungnahme226 zusammengefasst sind, und (4) die Untersuchungen von Ulrike Klöppel Zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter 227 samt der diese bekräftigenden Follow-Up-Studie228 . Je nach Studie werden die Teilnehmenden ganz unterschiedlich in schwer miteinander vergleichbare Gruppen eingeteilt, was wiederum auf die Komplexität der Klassifizierungen hinweist. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen AGS-Betroffenen und DSD-Betroffenen gibt, wenn es um die Zufriedenheit mit medizinischen Behandlungen229 , das eigene Körper- und Geschlechtsempfinden, die Erfahrung von Gewalt und die Einbindung in soziale Netzwerke geht: »DSD-Betroffene, die nicht unter die AGS-Diagnose fallen, geben an, häufig Diskriminierungen und Ausgrenzung zu erleben, unter der Tabuisierung des Themas zu leiden, Probleme mit der binären Geschlechtseinordnung zu haben und häufig körperliche Gewalt, Spott und Beleidigung sowie vielfältige Hürden im Alltag zu erfahren. AGS-Betroffene geben überwiegend an, solche Erfahrungen nicht zu machen und keine Hürden im Alltag zu haben.«230 Trotz der fehlenden Differenzierung einzelner Gruppen und der mangelnden Repräsentativität einzelner Befragungen für die allgemeine Situation hält der Deutsche Ethikrat die genannten Studien dennoch für geeignet, »qualitative Aussagen zur rechtlichen und ethischen Situation«231 intergeschlechtlicher Menschen treffen zu können. Untersucht wurden (1) Behandlungsmethoden, (2) Behandlungsverläufe, (3) Behandlungserfahrung und -zufriedenheit.
1.4.1.1.
Behandlungsmethoden
Die Hamburger Intersex-Studie hält fest, dass beinahe alle Befragten Hormonersatztherapien erhielten (96 %). Die häufigsten invasiven Eingriffe betreffen dieser Studie zufolge Gonadektomien (42 %), allerdings kaum bei AGS-Betroffenen, Klitorisreduktionen
226 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität; Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, Statistik 2018–2019; vgl. a. den Bericht zur Online Umfrage: Bora, Alfons, Zur Situation intersexueller Menschen. Bericht über die Online-Umfrage des Deutschen Ethikrats, 2012. URL: htt ps://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Studien/DER_StudieBora_Online.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 227 Vgl. Klöppel, Ulrike, Zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter (Bulletin Texte 42), Berlin 2016. 228 Vgl. Hoenes, Josch u.a., Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie, 2019. URL: https://www.bmfsfj.de/blob/136860/54ea839a1a28 94a58ba75db04c7be43b/studie-zu-normangleichenden-operationen-uneindeutiger-genitalien-i m-kindesalter-data.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 229 Vgl. Ahner, Romy – Gaterman, Dörthe, Geschlecht »divers«. Die Dritte Option in der Geschlechtsangabe, in: Wolfgang Gleixner (Hg.), Krank-Sein als existentielle Gestalt, Baden-Baden 2018, 503–510, hier: 506. 230 Wunder, Michael, Intersexualität: Leben zwischen den Geschlechtern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 62/20-21 (2012) 34–40, hier: 38. 231 Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 65.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
(38 %, hiervon 42 % bei AGS-Betroffenen) und Vaginaloperationen (33 %). Harnröhrenkorrekturen (13 %) und Brustentfernungen (Mastektomien) kommen dagegen sehr viel seltener vor.232 Tendenziell wird bei den geschlechtsangleichenden bzw. -zuweisenden Operationen – meist Feminisierungsoperationen – das Ziel verfolgt, penetrativen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr zu ermöglichen, was laut der*dem Kulturwissenschaftler*in Iain Morland auf die grundsätzliche Privilegierung männlicher Genitalien hinweist.233 Wie aus den Befragungen des Deutschen Ethikrats hervorgeht, werden plastisch funktionale Eingriffe wie auch Hormongaben ebenfalls vorwiegend mit dem Endziel einer Feminisierung vorgenommen. Penisrekonstruktionen oder Testosterongaben sind dagegen weitaus seltener.234
1.4.1.2. Behandlungsverlauf Laut der Befragung des Deutschen Ethikrats wurden bereits im Vorschulalter 70 % der Kinder operiert, im schulfähigen Alter (7 Jahre) steigt dieser Prozentsatz laut der Netzwerkstudie auf 86 %, beim Eintritt in das Erwachsenenalter (18 Jahre) auf 91 % der Befragten.235 »Bei der Hälfte der Operierten war eine Operation durchgeführt worden, bei einem Viertel zwei Operationen, bei 12 % drei Operationen, bei 10 % vier und mehr Operationen.«236 Bei einem Viertel der Operierten wurden Komplikationen nach der Operation festgestellt (Fistelbildung, Stenosen, Harnwegsinfekte, Miktionsbeschwerden u.a.). Die gesamtstatistische Auswertung der Follow-Up-Studie ergibt, dass es keinen Rückgang an maskulinisierenden oder feminisierenden Operationen zwischen 2005 und 2016 gegeben hat.237 Die Operationsverfahren sind allein bei Operationen an der Klitoris zurückgegangen, was vermuten lässt, dass es aufgrund der entstandenen Diskurse zu einer wachsenden Toleranz gegenüber virilisierten Genitalien gekommen ist, weil die Wichtigkeit eines intakten Sexualempfindens nun höher eingestuft wird.238 Auffällig ist jedoch, dass klassische Intersex-Diagnosen gegenüber anderen Diagnosen (wie etwa Fehlbildungen der Genitalien) rückläufig sind. Klöppel macht dafür »Veränderungen der Diagnosepraktiken und damit verbunden Verschiebungen zwischen den Diagnosegruppen«239 verantwortlich.
1.4.1.3. Behandlungserfahrung und -zufriedenheit Bemängelt wird in allen Studien, dass es zu wenig Aufklärung und Begleitung seitens der Medizin gäbe. Neben einer sprachlichen und fachlichen Unangemessenheit der Diagnosemitteilung werden auch mangelnde Empathie und fehlende Information als Kri232 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 66–67. 233 Vgl. Morland, Iain, Introduction. Lessons from the Octopus, in: GLQ (A Journal of Lesbian and Gay Studies) 15/2 (2009) 191–197, hier: 191. 234 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 68–69. 235 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 67. 236 Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 68. 237 Vgl. Hoenes u.a., Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie, 21. 238 Vgl. Hoenes u.a., Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie, 22. 239 Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen »uneindeutiger« Genitalien, 9.
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tikpunkte genannt. Außerdem seien Fehlbehandlungen oft Folge unzutreffender Diagnosen oder Prognosen, welche Ängste und Misstrauen gegenüber dem medizinischen Fachpersonal begünstigt haben. Dies betrifft auch die Hormonbehandlungen, in welche die Betroffenen nur zu einem Drittel angeben, gut über die Medikation aufgeklärt worden zu sein. Die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer oder psychologischer Betreuung liegt laut der Hamburger Intersex-Studie bei 45 %, wovon ein Viertel eine psychiatrisch-medikamentöse Behandlung und Psychotherapie, drei Viertel nur eine psychotherapeutische Behandlung erhielten.240 Außerdem wird scharfe Kritik an den medizinischen Behandlungsmethoden geübt, die, technisch wenig ausgefeilt, oftmals zu Komplikationen und Folgeoperationen und physischen und psychischen Belastungserscheinungen führen.241 Verschlimmert wird dies zusätzlich durch den unsensiblen Umgang mit den Patient*innen: Intergeschlechtliche Menschen erleben sich oft als Anschauungsobjekt für medizinische Fortbildungen und empfinden die Behandlungen mit Vaginalplastik bzw. das häufige Betrachten und Berühren ihrer Genitalien als sexualisierte Gewalt.242 Als Erwachsene stellen sie ihre Erfahrung oft mit Opfern von Genitalverstümmelungen243 gleich, an die sich psychische Traumata und eine Reihe von negativen Emotionen wie Wut und Hass noch Jahrzehnte nach den Ereignissen in der Kindheit binden.244 Da aber viele Behandlungswege bereits im Säuglingsalter durchgeführt werden, kennen viele intergeschlechtliche Menschen die wahre Ursache für ihre psychischen wie physischen Leiden nicht, denn eine bewusste Erinnerung wird mit den frühen Eingriffen seitens der Behandelnden intentional unterbunden. Das Schweigetabu der Behandelnden wie der Eltern trägt verschärfend dazu bei, dass die Traumata nicht angemessen verarbeitet werden können.245 Dabei scheint das Brechen des Tabus rund um Intergeschlechtlichkeit viel weniger problematisch als angenommen. So berichten laut der Netzwerkstudie nur 6 % der Erwachsenen von negativen Reaktionen, wenn die eigene Intergeschlechtlichkeit zum Thema wird. Das Sprechen mit den Eltern darüber wird jedoch von drei Viertel der Jugendlichen abgelehnt.246 Die Frage nach der Behandlungszufriedenheit bedarf nach dem Großteil der Expert*innen im Deutschen Ethikrat einer weiteren Klärung, weil durch die genannten drei Studien bereits mehrere Formen von Unzufriedenheit sichtbar gemacht wurden. Das betrifft die Zufriedenheit mit der Umgangsweise, die Zufriedenheit mit der Einbindung in medizinisch relevante Entscheidungen und die Zufriedenheit mit der Behandlungsaufklärung und den Behandlungsergebnissen. Dabei wäre eine Befragung
240 241 242 243
Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 69–71. Vgl. Voß, Intersexualität – Intersex, 51–55. Vgl. Hechtl, Über Inter*Kinder und Jugendliche, 78. Vgl. z.B. die Aussage von Luan Pertl im Zuge hermes Vortrages zu Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus explizit von »Intersex-Genitalverstümmelung« spricht. VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus, 14. 244 Vgl. Woweries, Jörg, Wer ist krank? Wer entscheidet?, in: Erik Schneider – Christel BaltesLöhr (Hgg.), Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (transcript Gender Studies), Bielefeld 22015, 105–124, hier: 110. 245 Vgl. Woweries, Wer ist krank? Wer entscheidet?, 110. 246 Vgl. Woweries, Wer ist krank? Wer entscheidet?, 116–117.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
intergeschlechtlicher Menschen ohne Behandlung als Kontrollgruppe von besonderem Interesse, denn bis heute besteht laut den Angaben des Deutschen Ethikrats ein Desiderat an wissenschaftlichen Erkenntnissen im psychosozialen Bereich.247 Die existenziellen Erfahrungen verweisen zumindest auf drei zentrale ethische Fragestellungen, an welche je konkrete Forderungen geknüpft werden können: Erstens muss danach gefragt werden, was eine Operation oder einen Eingriff zu welchem Zeitpunkt notwendig macht und welcher Grund die Verletzung physischer Integrität intergeschlechtlicher Menschen angemessen rechtfertigt. Zweitens ist zu erörtern, wie mit intergeschlechtlichen Menschen umgegangen werden soll, die einen Eingriff benötigen bzw. wünschen. Hierbei geht es besonders um die Wahrung psychischer Integrität. Drittens stellt sich die Frage nach der sozialen Verantwortung im Umfeld von Intergeschlechtlichkeit, denn bislang wird diese nicht auf unterschiedliche Gesellschaftsbereiche aufgeteilt, sondern liegt in den meisten Fällen allein bei der Medizin. Die Einbindung des sozialen Umfeldes garantiert im Umkehrschluss auch die gesellschaftliche Sensibilisierung mit dem Thema und eröffnet durch gezielte Bewusstseinsbildung zugleich die Erfahrung sozialer Integrität für intergeschlechtliche Menschen.
1.4.2. Wahrung physischer Integrität Insbesondere die Frage, ab wann ein Körper behandlungsbedürftig ist, verweist im Bereich Intergeschlechtlichkeit auf die Problematik medizinischer Kategorienbildung, die in der Praxis kaum reflektiert wird. Wegen Zeitmangels, ökonomischen Drucks und fehlender Information tendieren Mediziner*innen eher zu schnellen und pragmatischen Lösungen. Operationsindikationen in Form von mehr oder weniger nachvollziehbaren Klassifizierungen werden daher nicht auf ihre Dienlichkeit befragt, sondern als praktische Handlungsanweisung gelesen, die vermeintlich den bestmöglichen Umgang und die größtmögliche Behandlungszufriedenheit versprechen. Eine umfassende Betreuung in speziellen Kompetenzzentren bleibt dabei die Ausnahme.248 Forderungen und Maßnahmen, die im medizinischen Bereich umgesetzt werden können, sind vielfältig und schlagen sich in einer Vielzahl an Leitlinien und Empfehlungen249 nieder, die jedoch 247 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 81. 248 Vgl. Dahlmann, Christian – Janssen-Schmidchen, Gerda, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 167/7 (2019) 591–597, hier: 595. 249 Vgl. Auswahl: Bioethikkommission des Bundeskanzleramts Österreich, Intersexualität und Transidentität; Cools, Martine u.a., Caring for Individuals with a Difference of Sex Development (DSD). A Consensus Statement, in: Nature reviews Endocrinology 14/7 (2018) 415–429; Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e. V. u.a., S2k Leitlinie GeschlechtsentwicklungVarianten. AWMF-Register Nr. 174/001; Klasse S2k, 2016. URL: https://www.awmf.org/uploads/t x_szleitlinien/174-001l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01.pdf [Abruf: 14. März 2023]; Hiort, Olaf u.a., Von Varianten und Störungen, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 167/7 (2019) 584–585; Hughes u.a., Consensus Statement on Management of Intersex Disorders; Indyk, Justin A., Disorders/Differences of Sex Development (DSDs) for Primary Care. The Approach to the Infant with Ambiguous Genitalia, in: Translational pediatrics 6/4 (2017) 323–334; Heidinger, Martin u.a., Empfehlungen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung, 2019. URL: https://moodle.univie.ac.at/pluginfile.php/8761104/mod_resource/content/2/Empfehlunge
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kaum rezipiert werden. So formuliert Klöppel: »Als zentrales Ergebnis der Studie ist festzuhalten, dass die überarbeiteten medizinischen Leitlinien in der klinischen Praxis nur lückenhaft umgesetzt werden.«250 Zunächst ist daher an die Operationsindikation zu denken, welche je nach behandelndem Team stark variieren kann: »Zugegebenermassen gibt es unter Ärzten grosse Temperamentsunterschiede bezüglich Operationsindikation und die Erarbeitung verbindlicher Kriterien für den Einsatz solcher Behandlungen wäre sinnvoll.«251 Obwohl die Richtlinien des Consensus Statements von frühen Operationen bei dem Vorliegen von Intergeschlechtlichkeit abraten und Interventionen nur dann empfehlen, wenn es im Interesse der Patient*innen läge, wurde mit dem vereinheitlichenden Dachterminus DSD weiterhin die Vorstellung von Intergeschlechtlichkeit als einer Krankheit festgeschrieben.252 Die Indikation wird demnach in deutlichem Zusammenhang mit dem Erleben körperlicher Integrität begriffen: »Aus medizinischer Sicht bedeutet körperliche Integrität, dass der Körper als frei von Störungen seines Aussehens und Funktionierens beurteilt wird. Daraus folgt, dass die Bedeutung von körperlicher Integrität bei DSD davon abhängt, ob die bei Geburt vorliegende Auffälligkeit als biologische Variante oder als pathologische Störung gesehen wird. Im ersten Fall ist die körperliche Integrität erhalten und kann durch eine frühe Operation nur gestört werden, während im zweiten Fall die Integrität von Natur aus aufgrund einer unvollkommenen Entwicklung gestört ist und damit den Wunsch nach einer wiederherstellenden Operation wecken kann. Die Beurteilung, ob eine zu akzeptierende Variante oder eine zu korrigierende Störung vorliegt, kann aber von verschiedenen Standpunkten aus und zu unterschiedlichen Zeitpunkten konträr ausfallen.«253 Aufgrund dessen kam es zu einer Diskussion zwischen dem Deutschen Ethikrat und dem Verein Intersexuelle Menschen e.V. Während der Deutsche Ethikrat die Maßnahmen bei AGS-Betroffenen weniger gravierend gegenüber anderen DSD-Diagnosen einschätzte, mahnte der Verein ein, dass Hormonsubstitutionen und Klitorisreduktionen auch ohne Gonadenentfernung als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit gelten können. Der Deutsche Ethikrat nahm daraufhin die umfassendere Abwägung medizinischer, psychologischer und psychosozialer Umgebung und eine abwartende Behandlungspraxis in seine Vorschläge auf.254 Obwohl mit dem Vorliegen einer sich im Zwischenbereich befindlichen Gonade in den meisten Fällen keine Krankheit verbunden ist, werden intergeschlechtliche Keim-
250 251 252 253 254
n_Varianten_der_Geschlechtsentwicklung.pdf [Abruf: 14. März 2023]; Rolston, Aimee M. u.a., Disorders of Sex Development (DSD). Clinical Service Delivery in the United States, in: American journal of medical genetics. Part C, Seminars in medical genetics 175/2 (2017) 268–278; Wiesing, Urban – Parsa-Parsi, Ramin, Die neue Deklaration von Helsinki, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19/1 (2015) 253–276; Sandberg, David E. u.a., Introduction to the Special Section. Disorders of Sex Development, in: Journal of pediatric psychology 42/5 (2017) 487–495. Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen »uneindeutiger« Genitalien, 9. Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 55. Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 94. Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 54. Vgl. Wunder, Intersexualität, 39–40.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
drüsenanlagen meist als pathologisch diagnostiziert. Zwar gibt es Verweise, dass vor allem im Bauchraum verbleibende Gonaden oder Stranggonaden ein erhöhtes malignes Risiko in sich bergen, genauere Untersuchungen zum Entartungsrisiko sind allerdings erst im Gange.255 Meist verhält es sich sogar so, dass die vorhandenen Gonaden lebenswichtige Hormone sezernieren, die durch eine Entfernung lebenslang künstlich verabreicht werden müssen und bei weitem nicht die Ausgeglichenheit eines lebenden Organs ersetzen. Das Insistieren auf deren Entfernung ist umso erschütternder, als in einigen Bereichen der Hormonersatztherapie ebenfalls noch eklatanter Forschungsbedarf besteht.256 Dementsprechend kann die Entfernung von Gonaden bei intergeschlechtlichen Menschen nicht grundsätzlich als therapeutisches Mittel bezeichnet werden. Strittig ist ein generelles Operationsverbot, weil es keine bereitstehenden Auffangmechanismen für die ohnehin durch die Diagnose schon überforderten Fürsorgeberechtigten gibt und ein generelles Verbot einer Entmündigung gleichkäme. Da eine DSDDiagnose bspw. in Österreich und Deutschland als Grundlage für das Abrechnungssystem von Krankenkassen fungiert257 , wäre das Streichen von DSD-Diagnosen aus medizinischen Klassifikationen ebenfalls problematisch. Vorschläge zur Verbesserung der Situation gehen daher in Richtung einer rechtlichen Regelung, die irreversible Eingriffe mit höheren Hürden verbindet und so einer vorschnellen Entscheidung vorbeugt.258 Schließlich führt die Betrachtung der situativen Umstände dazu, künftig verstärkt die Entwicklung der psychischen Integrität näher in die Reflexionsprozesse rund um Operationen an intergeschlechtlichen Menschen einzubinden.
1.4.3. Wahrung psychischer Integrität In vielen Fällen, wo es keine quantitativ-empirische Evidenz gibt, ist medizinisches Personal mehr oder weniger auf die Erfahrungswerte Betroffener und das eigene Bauchgefühl angewiesen. Wie mit intergeschlechtlichen Menschen im medizinischen Kontext umgegangen wird, die eine Behandlung benötigen, ist noch nicht hinreichend geklärt. Um die Indikation nach tragfähigen Kriterien feststellen zu können, bedarf es laut den Aktivist*innen Katrina Karkazis und Wilma C. Rossi daher solcher, die zum Ziel haben, die Kinder vor Beleidigungen oder Stigmata zu beschützen, unnötige Interventionen zu vermeiden, Optionen im Hinblick auf Operationen und Geschlechtsidentität offen zu halten, das beste physische und psychische Ergebnis zu gewährleisten, die Ge-
255 Vgl. Deutscher Ethikrat, Intersexualität, 47. Eine aktuellere Einschätzung zum Malignitätsrisiko der Gonaden bei verschiedenen Formen von DSD liegt in folgendem Dokument vor: Vgl. Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e. V. u.a., S2k Leitlinie Geschlechtsentwicklung-Varianten, 21–22. Aber auch hier wird darauf hingewiesen, dass die mitunter geringe Fallzahlen eine genaue Schätzung des Risikos beeinträchtigen. 256 Vgl. Richter-Unruh, Kritische Fragen der Hormontherapie bei XY-chromosomalen Störungen der Geschlechtsentwicklung, 352. 257 Vgl. Woweries, Wer ist krank? Wer entscheidet?, 105. 258 Vgl. Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 597.
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sundheit des Kindes in Bezug auf Sexualitäts- und Geschlechtsidentitätsentwicklung zu unterstützen und die Fertilität zu bewahren.259 Obwohl »in den letzten Jahren auch innerhalb der Medizin eine zunehmende Sensibilisierung zu beobachten« ist und in Deutschland 2015 »die Bundesärztekammer für einen zurückhaltenden Umgang mit intersexuellen Kindern und Jugendlichen«260 plädiert hat, mangelt es weiterhin an Nachuntersuchungen und Vergleichen hinsichtlich der lebenslangen Auswirkungen von Eingriffen. Bislang gibt es kaum Forschungen dazu, wie sich frühe Operationen im Unterschied zu aufgeschobenen, oder ganz unterlassenen Eingriffen auf die psychosoziale Entwicklung auswirken.261 An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass »die gefühlte Sicherheit einer Prognose über die langfristige Entwicklung eines Säuglings oder Kleinkinds […] jedoch nur ein Schein, eine Wahrscheinlichkeit«262 und damit allgemein unsicher bleiben muss, weil sie auch unabhängig vom Geschlecht in sich das Risiko birgt, dass sich das Kind anders entwickelt, als von Fürsorgeberechtigten oder Ärzt*innen vermutet. Festzuhalten bleibt dennoch, dass eine ätiopathogenetische Klärung und Langzeitstudien notwendig sind, um optimale Behandlungswege zugunsten einer gesunden Entwicklung der Geschlechtsidentität zu ermöglichen.263 Daneben erweist sich die umfassende Aufklärung der Fürsorgeberechtigten durch Mediziner*innen als besonders wertvoll, weil so der ganze Mensch in lebenszeitlicher Perspektive mit seinen Bedürfnissen in den Blick genommen wird. Diagnose und Empfehlungen über das Vorgehen sollten daher in speziell eingerichteten Kompetenzzentren mit eigens dafür qualifizierten Mitarbeiter*innen stattfinden,264 wie es etwa von der »Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)«265 praktiziert wird. Gerade in dieser Interdisziplinarität finden auch Ansätze wie etwa jener des Shared Decision-Makings (SDM)266 Anwendung, der auf Basis gemeinsamer Entscheidungsfindung (von Eltern, Medizinier*innen, Psycholog*innen usw.) und in regem Austausch miteinander »standards of care«267 erarbeitet. Durch die im SDM-Prozess integrierte persönliche Wertesensibilisierung und –abwägung wird die psychosoziale Unterstützung der Eltern ermöglicht.268 Inkludiert ist darin eine entsprechende sprachliche Sensibilität gegenüber bestimmten Diagnosen, denn »[o]ffensichtlich wirkt sich die Ambivalenz des Begriffs der Störung für alle Beteiligten sehr direkt auf das Verständnis
259 260 261 262 263 264 265 266 267 268
Vgl. Karkazis – Rossi, Ethics for the Pediatrician, 3. Alle Zitate des Satzes aus: Ahner – Gaterman, Geschlecht »divers«, 506. Vgl. Woweries, Wer ist krank? Wer entscheidet?, 114. Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 592. Vgl. Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 54. Vgl. Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 597. Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 595. Vgl. Karkazis – Rossi, Ethics for the Pediatrician, 2. Ahner – Gaterman, Geschlecht »divers«, 507. Vgl. Karkazis – Rossi, Ethics for the Pediatrician, 2.
1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
der körperlichen Integrität aus«269 . SDM berücksichtigt darüber hinaus strukturelle Überlegungen, aus denen gefolgert werden kann, dass es bei der Werteabwägung nicht zu einer alleinigen Verantwortungsübertragung auf die Fürsorgeberechtigten kommen darf. Strukturelle Rahmenbedingungen müssen eröffnet werden, um jede Situation auch als existenzielle ernst nehmen zu können. Mehr Zeit im Tausch gegen weniger Entscheidungsdruck und ein bundesweiter Austausch von Selbsthilfegruppen mit den medizinischen Fachgruppen werden daher sowohl von Betroffenen wie Wissenschaftler*innen gefordert.270 Dennoch nehmen »Ärzte und Ärztinnen […] in dem Prozess des ›Case Managements‹ eine Schlüsselstellung ein, denn es ist vor allem der enorme Fortschritt von Operationstechniken und Endokrinologie, der ein solches Phänomen ›managebar‹ gemacht hat«271 . Eine strukturierte, transparente und systematisch konsistente Diagnosepraxis wird zu fordern sein, die weniger dem ästhetischen Urteil einzelner Personen unterliegt, sondern an anderen Parametern wie etwa physischer und psychischer Leidensminderung und dem Erhalt körperlicher Integrität orientiert ist.272 Die Wahrung psychischer Integrität ist also maßgeblich davon abhängig, wie sehr sich die Medizin auf die Leitlinien einlässt und intergeschlechtliche Personen in ihre Entscheidungsfindung mit einbindet. Nur auf diese Weise erfahren sich die betroffenen Personen nicht als passives Objekt der Behandlungswege, sondern erleben, dass sie selbst gemeinsam mit professioneller Beratung und Begleitung ihr Leben gestalten.
1.4.4. Wahrung sozialer Integrität Obwohl von Seiten der Medizin eine große Verantwortung besteht, muss zuvorderst die Tabuisierung und »gesellschaftliche Stigmatisierung«273 intergeschlechtlicher Menschen als zentrales ethisches Problem gelten, denn diese Prozesse festigen heteronormative Vorstellungen, welche intergeschlechtliche Körper als Abweichung markieren. Dies kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ein intergeschlechtliches Leben subjektiv wie objektiv als nicht lebenswert empfunden wird. Es besteht daher ein dringlicher Handlungsbedarf, die Bewusstseinsbildung im öffentlichen Raum voranzutreiben, damit sich intergeschlechtliche Menschen zum einen nicht alleingelassen fühlen und zum anderen, damit nicht nur der ausgewählte Bereich der Medizin sich für die Lösung der Herausforderungen für intergeschlechtliche Menschen in der Gesellschaft verantwortlich fühlt. Da bereits pränatal durch Amniozentese manche Formen von Intergeschlechtlichkeit festgestellt werden können, ist die Nutzung von In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik zur selektiven Interruptio von intergeschlechtlichen Personen274 oder prophylaktischen Behandlung von erblich bedingten Fällen von AGS ab der vierten 269 270 271 272 273
Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 54. Vgl. Wunder, Intersexualität, 39. Gildemeister – Robert, Geschlechterdifferenzierung in lebenszeitlicher Perspektive, 27. Vgl. Kind, Christian, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 53–55. Quindeau, Ilka, Geschlechtsidentitätsentwicklung jenseits starrer Zweigeschlechtlichkeit, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 63/6 (2014) 437–448, hier: 439. 274 Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 95.
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Schwangerschaftswoche mit vielen ethischen Fragestellungen verbunden, die sensible Diagnosemitteilungen und Beratungsangebote fordern, denn offen bleibt, »inwieweit es ethisch vertretbar ist, Eltern und Kinder diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Aufklärung neben der eigenen Betroffenheit aufzubürden und sie in ihrem Kampf um Akzeptanz allein zu lassen«275 . Auch nach der Geburt des Kindes werden die Fürsorgeberechtigten vor Entscheidungen gestellt: Sollen operative Eingriffe vorgenommen werden, oder nicht? Wie der Gesamtgesellschaft ist auch den meisten Fürsorgeberechtigten wenig über Intergeschlechtlichkeit bekannt. Sie werden darum durch die Diagnose stark verunsichert und emotional desorientiert, was durch das fehlende Beratungsangebot nicht aufgefangen werden kann. Gepaart mit dem Zwang oder Drang, eine Entscheidung zu treffen, sehen sich viele allein gelassen. Sie sind oft von Scham und Schuldgefühlen geplagt, unter anderem auch deswegen, weil sie sich für die Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes selbst verantwortlich fühlen.276 Die Bezeichnung Störung weckt das Bedürfnis, ein wahres Geschlecht bestimmen bzw. herstellen zu müssen. Da die Situation des Kindes als medizinischer Notfall erlebt wird, werden medizinische Lösungen verlangt, was zugleich eine hohe Investition der Fürsorgeberechtigten bedeutet, die Identität ihres Kindes nach der Operation entsprechend ihrer Entscheidung aufzubauen. So können auch sie dazu beitragen, dass Intergeschlechtlichkeit medikalisiert wird, umgekehrt können sie aber auch der Anstoß für eine Demedikalisierung sein, wenn die Operation hinausgezögert wird.277 Nachdem es noch kaum Erkenntnisse zu kosmetischen und funktionellen Langzeitergebnissen gibt, weil Diagnosen sehr individuell und damit selten sind, wenig darüber gesprochen wurde und es auch kaum Vergleichsgruppen gibt, die nicht operiert wurden,278 verbleiben Prognosen über die künftige Entwicklung eines Kindes ohnehin im Ungewissen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Erziehung, welche die Geschlechtseinordnung bis zum Jugendalter unterlässt, weniger Leid bedeutet, als frühzeitig festgelegte und traumatisch erlebte Operationen.279 Als Grundsatz hält Kind daher fest: »Auf jeden Fall sollten solche Behandlungen nur auf ausdrücklichen und wohlerwogenen Wunsch der sorgfältig und vollständig informierten Eltern und nach gewissenhafter Abwägung des möglichen Nutzens für das Kind gegenüber allen potentiellen Belastungen und Risiken erfolgen. Sobald es sich zuverlässig mitteilen kann, werden selbstverständlich die Meinung des Kindes und insbesondere seine allfällige Ablehnung der Operation entscheidend.«280
275 Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 594. 276 Vgl. Dahlmann – Janssen-Schmidchen, Operationsverbot bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bis zur Einwilligungsfähigkeit, 594. 277 Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 94–95. 278 Krege, Das adrenogenitale Syndrom beim Mädchen/junger Frau, 209. 279 Wunder, Intersexualität, 39. 280 Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 55.
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Für eine »Aufnahme des Themas in die Lehrpläne von Schulen und Berufsausbildungen«281 spricht, dass ein gesellschaftliches Umdenken an Orten der Bewusstseinsbildung stattfindet und nicht erst am Operationstisch. Wenngleich es auch im schulischen Kontext einige Hürden geben kann wie etwa der Drang in der Adoleszenz, »sich mit Altersgenossen zu vergleichen und ihnen gegenüber nicht negativ aufzufallen, sondern sich in geeigneten Situationen positiv auszuzeichnen […]«282 , stellt die grundsätzliche Akzeptanz einer angeborenen Besonderheit von Schüler*innen wie Lehrer*innen meist keine allzu große Herausforderung dar.283 Die Annahme, dass sich die Geschlechtsidentität erst dann gesund entwickeln könne, wenn das genitale Geschlecht den Erwartungen der Gesellschaft entspricht, ist also zu hinterfragen. »Vielmehr ist es die Einstellung des sozialen Umfeldes, die Kindern das Wohl-Gefühl vermitteln kann, einzigartig, wertvoll und besonders zu sein.«284 Die Rollenerwartungen an eine Frau und einen Mann bzw. ein Mädchen und einen Jungen prägen die frühkindliche Entwicklung entscheidend mit und sind vom jeweiligen zeitlichen Kontext abhängig. Intergeschlechtliche Menschen wachsen in heteronormativen Kontexten auf, weshalb es kaum verwunderlich ist, dass auch sie gegenüber der binären Klassifikation von Geschlecht unterschiedliche Meinungen vertreten. Die Geschlechtszuweisung erweist sich deshalb nicht nur für Ärzt*innen als komplexer und unsicherer Prozess, weil durch die Geschlechtsidentitätsentwicklung hindurch physiologische und soziokulturelle Einflüsse wirken.285 Einige wollen die Binarität aufrechterhalten, andere ganz verabschieden und manche ziehen es vor, eigene Kategorien zu schaffen. Strittig ist außerdem, welche Begriffe, Anreden und Pronomen verwendet werden sollen. In dieser Arbeit wird im Singular das Pronomen herm verwendet.286 Bezüglich der Begrifflichkeit beschreiben die einen Intersexualität/Intergeschlechtlichkeit als essentialistisch, während andere dies für DSD behaupten. Gemeinsam ist allen aber, dass sie sich von der klinischen Konnotation abgrenzen wollen287 und es daher umso wichtiger scheint, die Lebensdienlichkeit heteronormativer Kategorisierungen auf unterschiedlichsten Gesellschaftsebenen zu beleuchten. Von einem Schutz oder einer Wahrung der sozialen Integrität intergeschlechtlicher Menschen kann jedenfalls noch nicht gesprochen werden, da es bislang hierfür noch keine hinreichenden Anerkennungsparadigmen gab. Rechtliche Bestimmungen wie etwa die dritte Option stellen einen Anfang dar, weitere Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsformen müssen im Sinne der Anerkennung aber noch entwickelt werden.
281 282 283 284 285 286
Ahner – Gaterman, Geschlecht »divers«, 507. Kind, Geschlechtsidentität und körperliche Integrität, 54. Vgl. Ahner – Gaterman, Geschlecht »divers«, 507. Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Genitaloperationen »uneindeutiger« Genitalien, 2. Vgl. Karkazis – Rossi, Ethics for the Pediatrician, 2. Dieses Pronomen, das eine Kurzform des Begriffes Hermaphrodit darstellt, ist keineswegs umstritten, wird jedoch von einigen Mitgliedern des Vereins Intergeschlechtliche Menschen Österreich verwendet. Da weder der Verein intersexuelle Menschen Deutschland e.V. noch der schweizerische Verein Zwischengeschlecht Angaben zu geeigneten Pronomen machen, versteht sich die Verwendung hier als vorübergehende Lösung. Linguistische Vorschläge werden jedenfalls von den Vereinen noch nicht umgreifend rezipiert. 287 Vgl. Jenkins – Short, Negotiating Intersex, 95.
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1.4.5. Zusammenfassung: Existenzielle Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen als Anfrage an ein binäres Geschlechterkonzept Dieses Kapitel hat existenzielle Perspektiven in die biologisch-medizinische Perspektive eingebunden, da dies oftmals ein Desiderat darstellt. Dabei wurden zunächst die existenziellen Belastungsfelder intergeschlechtlicher Menschen anhand der dafür vorliegenden Studien referiert. Problematisch in diesem Zusammenhang sind die uneinheitlichen und ungeeigneten Klassifikationsschemata in der Medizin, welche eine Vergleichbarkeit der Studien erschweren. Zudem gibt es eklatante Unterschiede zwischen AGS-Betroffenen und anderen Formen von Varianten der Geschlechtsentwicklung, da sich erstere oftmals mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht identifizieren können und dadurch weniger Diskriminierungs- und Belastungsfeldern ausgesetzt sind wie Personen, die dies nicht können oder wollen. In der Auswertung zum Behandlungsverlauf wurde deutlich, dass bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres beinahe alle intergeschlechtlichen Personen zumindest einmal operiert wurden. Bei vielen folgten weitere, auch aufgrund der relativ hohen Anzahl (25 %) an Komplikationen nach den vorausgehenden Operationen. Psychische Belastungen und Traumata gehen zurück auf die mangelnde Empathie und Sensibilität der Behandelnden, die unzureichende Aufklärung und Informationsvermittlung, und die fehlende Einbindung einwilligungsfähiger Patient*innen in medizinisch relevante Entscheidungsprozesse. Dementsprechend kommt es vielfach zur Unzufriedenheit mit den Behandlungsergebnissen und durch die fehlenden psychotherapeutischen Angebote zu ernsthaften existenziellen Krisen. Da kein Rückgang geschlechtszuweisender Operationen zu konstatieren ist, scheint einerseits eine weitere Beschäftigung mit der Frage nach der Notwendigkeit von Operationen virulent, andererseits aber auch danach, wie die physische, psychische und soziale Integrität intergeschlechtlicher Personen gewahrt werden kann, wenn sie medizinische Behandlungen unterlaufen. Die Forderung nach einem grundsätzlichen Operationsverbot zur Wahrung körperlicher Integrität greift jedoch zu kurz, da manche Eingriffe im Umfeld von Intergeschlechtlichkeit notwendig und mitunter sogar lebensrettend sein können. Gleichzeitig geht es aber darum, die gegebene Operationsindikation sorgfältig danach abzuwägen, zu welchem Zeitpunkt welche Form von Behandlung erforderlich und sinnvoll erscheint. Statistische Angaben über das Entartungsrisiko von im Bauchraum verbleibenden Gonaden sind dieser kritischen Prüfung ebenfalls zu unterziehen. Damit soll vorschnellen Entscheidungen vorgebeugt werden und irreversiblen Eingriffen mehr entscheidungsrelevante Bedeutung zukommen. Um die psychische Integrität intergeschlechtlicher Menschen zu bewahren, legen empirische Untersuchungen nahe, die Sexualitäts- und Geschlechtsidentitätsentwicklung des Kindes vor unnötigen Interventionen, Stigmatisierungs- und Tabuisierungsmechanismen zu schützen. Desiderabel erscheinen bislang noch Langzeitstudien zur psychischen Entwicklung intergeschlechtlicher Kinder, die den Operationszeitpunkt aufgeschoben, oder ganz auf einen operativen Eingriff verzichtet haben. Die Einrichtung spezifischer Kompetenzzentren, welche von unterschiedlichen Fachrichtungen betreut werden, ist erstrebenswert, um eine optimale Betreuung gewährleisten zu können. Durch die interdisziplinäre Vernetzung darin könnte dem Ansatz des SDM und
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damit dem Thema Patient*innenautonomie zu mehr Geltung im medizinischen Kontext verholfen werden. Die psychische Leidensminderung und der Erhalt körperlicher Integrität stünde damit ebenfalls verstärkt im Fokus. Im letzten Unterkapitel wurde herausgestellt, dass die sich im medizinischen Kontext ergebenden ethischen Probleme entscheidend von der sozialen Integrität intergeschlechtlicher Menschen und Körper abhängen. So lange von Seiten der Gesellschaft heteronormative Vorstellungen an intergeschlechtliche Menschen herangetragen werden, tragen sie zu deren Stigmatisierung, Tabuisierung und Pathologisierung bei. In weiterer Folge verletzen sie damit nicht nur die soziale, sondern auch die psychische und physische Integrität. Damit wird deutlich, dass nicht nur Eltern die Verantwortung dafür tragen, ob ein intergeschlechtliches Kind sein Leben als gelingendes erfahren kann. Durch eine verstärkte Bewusstseinsbildung auch im weiteren sozialen Raum wird eine Enttabuisierung und Entpathologisierung des Phänomens angestrebt. Damit soll geltend gemacht werden, dass für die Entwicklung einer gelingenden sozialen Identität vor allem Wertschätzung und Anerkennung der Einzigartigkeit einer Person notwendig sind und nicht an heteronormative Maßstäbe angepasste Genitalien oder Geschlechterrollen. Die sozialen Gegebenheiten beeinflussen schließlich auch, wie sich intergeschlechtliche Menschen selbst zu den sie umgebenden normativen Vorstellungen verhalten. Der Respekt gegenüber den je individuellen Geschlechtsidentitäten muss daher auch in den sozialen Umgangsformen (z.B. in Form einer geschlechtsinklusiven Sprache) seinen Niederschlag finden können. Obschon Denkmodelle existieren, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen unter Rücksicht auf die jeweils notwendigen Behandlungen verhindern wollen, ist die Behandlungspraxis des 21. Jh. kaum von jener des vorangegangenen Jh. zu unterscheiden. Vielmehr lassen die ethischen Anfragen noch auf eine Umsetzung der Full Consent Policy warten und stellen die Medizin auf unterschiedlichsten Ebenen vor Herausforderungen. Nicht zuletzt ist sie auf die gesellschaftliche Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt angewiesen, um auch ihre derzeit tendenziell pathologisierende Perspektive auf Intergeschlechtlichkeit maßgeblich verändern zu können.
1.5. Zusammenfassung erster Teil: bleibende Herausforderungen Der multidisziplinäre Blick auf das Phänomen Intergeschlechtlichkeit hat gezeigt, dass die Denkform der Zweigeschlechtlichkeit an ihre Grenzen stößt, denn sie lässt sich weder biologisch noch medizinisch widerspruchsfrei aufrechterhalten. Die eingangs gestellte Frage nach den Herausforderungen kann daher wie folgt beantwortet werden: Schon allein die Komplexität biologischer Entwicklungsverläufe entlarvt die Binarität als Konstrukt, das an die biologischen Vorgänge herangetragen wird, um eine Systematisierung für praktische Handlungsleitlinien vorzunehmen. Die sich daran anschließenden medizinischen Klassifikationssysteme sind daher nicht in der Lage, diese Komplexität ausreichend abzubilden. Vielmehr sind sie es, die zu einer Tabuisierung und Pathologisierung von Intergeschlechtlichkeit verstärkt beigetragen haben und dies weiterhin tun werden, wenn die unschlüssigen Systematisierungen in den medizinischen Leitlinien unreflektiert bleiben. Als erste Herausforderung stellt sich, eine adäquate Klassifi-
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1. Situationsanalyse: Intergeschlechtlichkeit in multidisziplinärer Perspektive
damit dem Thema Patient*innenautonomie zu mehr Geltung im medizinischen Kontext verholfen werden. Die psychische Leidensminderung und der Erhalt körperlicher Integrität stünde damit ebenfalls verstärkt im Fokus. Im letzten Unterkapitel wurde herausgestellt, dass die sich im medizinischen Kontext ergebenden ethischen Probleme entscheidend von der sozialen Integrität intergeschlechtlicher Menschen und Körper abhängen. So lange von Seiten der Gesellschaft heteronormative Vorstellungen an intergeschlechtliche Menschen herangetragen werden, tragen sie zu deren Stigmatisierung, Tabuisierung und Pathologisierung bei. In weiterer Folge verletzen sie damit nicht nur die soziale, sondern auch die psychische und physische Integrität. Damit wird deutlich, dass nicht nur Eltern die Verantwortung dafür tragen, ob ein intergeschlechtliches Kind sein Leben als gelingendes erfahren kann. Durch eine verstärkte Bewusstseinsbildung auch im weiteren sozialen Raum wird eine Enttabuisierung und Entpathologisierung des Phänomens angestrebt. Damit soll geltend gemacht werden, dass für die Entwicklung einer gelingenden sozialen Identität vor allem Wertschätzung und Anerkennung der Einzigartigkeit einer Person notwendig sind und nicht an heteronormative Maßstäbe angepasste Genitalien oder Geschlechterrollen. Die sozialen Gegebenheiten beeinflussen schließlich auch, wie sich intergeschlechtliche Menschen selbst zu den sie umgebenden normativen Vorstellungen verhalten. Der Respekt gegenüber den je individuellen Geschlechtsidentitäten muss daher auch in den sozialen Umgangsformen (z.B. in Form einer geschlechtsinklusiven Sprache) seinen Niederschlag finden können. Obschon Denkmodelle existieren, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Menschen unter Rücksicht auf die jeweils notwendigen Behandlungen verhindern wollen, ist die Behandlungspraxis des 21. Jh. kaum von jener des vorangegangenen Jh. zu unterscheiden. Vielmehr lassen die ethischen Anfragen noch auf eine Umsetzung der Full Consent Policy warten und stellen die Medizin auf unterschiedlichsten Ebenen vor Herausforderungen. Nicht zuletzt ist sie auf die gesellschaftliche Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt angewiesen, um auch ihre derzeit tendenziell pathologisierende Perspektive auf Intergeschlechtlichkeit maßgeblich verändern zu können.
1.5. Zusammenfassung erster Teil: bleibende Herausforderungen Der multidisziplinäre Blick auf das Phänomen Intergeschlechtlichkeit hat gezeigt, dass die Denkform der Zweigeschlechtlichkeit an ihre Grenzen stößt, denn sie lässt sich weder biologisch noch medizinisch widerspruchsfrei aufrechterhalten. Die eingangs gestellte Frage nach den Herausforderungen kann daher wie folgt beantwortet werden: Schon allein die Komplexität biologischer Entwicklungsverläufe entlarvt die Binarität als Konstrukt, das an die biologischen Vorgänge herangetragen wird, um eine Systematisierung für praktische Handlungsleitlinien vorzunehmen. Die sich daran anschließenden medizinischen Klassifikationssysteme sind daher nicht in der Lage, diese Komplexität ausreichend abzubilden. Vielmehr sind sie es, die zu einer Tabuisierung und Pathologisierung von Intergeschlechtlichkeit verstärkt beigetragen haben und dies weiterhin tun werden, wenn die unschlüssigen Systematisierungen in den medizinischen Leitlinien unreflektiert bleiben. Als erste Herausforderung stellt sich, eine adäquate Klassifi-
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kationspraxis zu finden, welche den Sinn der Klassifikation kritisch nach ihrer Funktion für die Behandlungspraxis hinterfragt. Eine kritische Reflexion der eigenen und gesellschaftlichen Werthaltung gegenüber Varianten von Geschlechtlichkeit ist dabei unabdingbar. Hinzu kommt, dass die in der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein bestehenden Vorstellungen von Geschlecht und die an sie herangetragenen Erwartungen im Wandel der Zeit stehen und je nach Geschlechterordnung mehr oder weniger inklusive Konzepte von Geschlechtlichkeit entwickeln. Nachdem lange Zeit durch die Optimal Gender Policy die Vorstellung eines wahren Geschlechts vertreten wurde, gerieten existenzielle Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in den Hintergrund. Die Full Consent Policy versucht im Gegensatz dazu, gerade jene Prozesse der medizinischen Professionalisierung durch neue Behandlungsmodelle (case management, SDM usw.) adäquater zu gestalten und mehr Gewicht auf das Individuum im medizinischen Kontext zu legen. Dieses allmähliche Umdenken hat schließlich auch zu einer verstärkten medialen und öffentlichkeitswirksamen Präsenz von intergeschlechtlichen Menschen geführt, die seit den 2010ern auch rechtliche Verfahren zur sogenannten dritten Option eingeleitet haben. Letzteres soll deren Autonomie und Integrität im medizinischen wie sozialen Kontext sichern. Als zweite Herausforderung ist daher zu benennen, dass die sozialrechtlichen Weichenstellungen im Sinne der Full Consent Policy gestaltet werden. Die dritte Herausforderung formuliert sich wie folgt: Die Veränderung in der medizinischen Behandlungspraxis fordert die Wahrung von physischer, psychischer und sozialer Integrität intergeschlechtlicher Menschen. Damit verbundene ethische Fragestellungen dürfen im öffentlichen Diskurs nicht vernachlässigt werden. Für die Ablehnung und Diskriminierung intergeschlechtlicher Menschen kann daher nicht nur die Medizin verantwortlich gemacht werden, da sie nur bereichsspezifische Trägerin eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins ist. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Phänomen Intergeschlechtlichkeit wurde daher zu Recht auch als »sozialer Notfall«288 [Übers. d. Autorin] bezeichnet, da ein binäres Geschlechterkonzept gegenüber intergeschlechtlichen Personen die einfachste Form von Anerkennung – nämlich die bewusste Wahrnehmung – verweigert und unterdrückt. Ohne diese grundlegende Anerkennung fehlt jedoch jede Basis, die Autonomie und Integrität der Betroffenen in eine angemessene Relation zu Diskriminierungsfaktoren zu stellen. Die vierte Herausforderung besteht also darin, sowohl im sozialen Raum als ganzen als auch in den gesellschaftlichen Subfeldern nach Möglichkeiten der Anerkennung zu suchen und diese zu befördern. Inwiefern religiöse Deutungssysteme, insbesondere das des römisch-katholischen Feldes, dieses Vorhaben verhindern und in welchem Ausmaß die Erfahrungen symbolischer Gewalt von intergeschlechtlichen Menschen in der Gesellschaft auch auf sie zurückzuführen sind, wird im zweiten Teil behandelt. Der dritte Teil konfrontiert das römisch-katholische Feld abschließend mit dieser Herausforderung und analysiert die Voraussetzungen, unter denen die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen darin gelingen kann.
288 Vgl. Original »social emergency«: Karkazis, Katrina, Fixing Sex. Intersex, Medical Authority, and Lived Experience, Durham N.C. 2008, 7.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Intergeschlechtlichkeit im römisch-katholischen Feld
Der zweite Teil untersucht mit Pierre Bourdieu aus sozialphilosophischer Sicht das römisch-katholische Feld und dessen Anerkennungsstruktur. Leitende Fragstellung hierzu ist: Wie wirkt sich die symbolische Ordnung des römisch-katholischen Feldes auf die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen aus? Zunächst sollen in Kap. 2.1 theoretische Grundlagen des Habituskonzepts und die Theorie der männlichen Herrschaft in Grundzügen erläutert werden, um soziale Relationen in der Wechselwirkung mit geschlechtlichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, die sich im sogenannten Geschlechterhabitus bündeln, näher beschreiben zu können. Methodisch bietet Bourdieu ein aufschlussreiches System an Näherungsweisen: (1) die Anamnese verborgener Konstanten, (2) die historische Aufarbeitung des sozialen Wandels und (3) eine intersektionale Analyse verschiedener Herrschaftsstrukturen. Zur Anamnese verborgener Konstanten: Auf dieser methodologischen Basis wird in Kap. 2.2 eine Systematisierung zunächst des religiösen Feldes allgemein, dann in näherer Spezifizierung des römisch-katholischen Feldes vorgenommen. Die soziologische Annäherung begünstigt dabei einen Verfremdungseffekt gegenüber einer rein binnentheologischen Analyse des römisch-katholischen Feldes. Die je spezifischen Strukturbedingungen sollen über den katholischen Habitus Aufschluss geben und damit darüber, nach welcher Logik das religiöse Kapital das römisch-katholische Feld strukturiert. Die Analyse der in Folge als Heilsökonomie bezeichneten symbolischen Logik gibt wiederum Aufschluss darüber, welche Anerkennungsstruktur und damit verbundene Inklusionsund Exklusionslogiken dem römisch-katholischen Feld zugrunde liegen. Zur historischen Aufarbeitung des sozialen Wandels: Da männliche Herrschaft als übergreifendes Strukturierungsprinzip in unterschiedlichen Feldern, also auch dem religiösen, wirksam ist, beschäftigt sich Kap. 2.3 mit dem Einfluss emanzipatorischer Bewegungen seit den 1990er Jahren auf den Geschlechterhabitus des römisch-katholischen Feldes und der Infragestellung des daran gebundenen inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Ordnungssystems. Exemplarisch wird besonderes Augenmerk auf Bewegungen gelegt, die die Strukturierung des römisch-katholischen Feldes nach
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der Logik der männlichen Herrschaft kritisch in Frage stellen. Es wird hier zu zeigen sein, dass nicht etwa genuin theologische Motive für den sozialen Aufstieg und hohe Anerkennung im römisch-katholischen Feld maßgeblich sind, sondern klerikale Männlichkeit auch nach den Emanzipationsbewegungen als vorrangiger Distinktionsmarker operiert. Intersektionale Analyse verschiedener Herrschaftsstrukturen: In Kap. 2.4 integriert schließlich die relational-intersektionale Perspektive die Auswirkungen symbolischer Gewalt auf intergeschlechtliche Menschen und legt damit die Strukturbeziehungen und Anerkennungsverhältnisse des römisch-katholischen Feldes mit der männlichen Herrschaft beispielhaft offen. Die Zusammenfassung in Kap. 2.5 macht auf die Grenzen der sozialphilosophischen Erkenntnisse und der Inkorporationsthese nach Bourdieu aufmerksam, an welche sich im dritten Teil die theologischen Analysen anschließen.
2.1. Grundlagen des Habituskonzepts und der Theorie der Männlichen Herrschaft Der 1930 in der Provinz Béarn geborene französische Ethnologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu dokumentiert im Rahmen seines Militäraufenthaltes vor und während des Algerienkrieges das Leben der Menschen vor Ort. Anhand seiner zahlreichen und detaillierten Aufzeichnungen gelingt es ihm, eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die sich im sogenannten Habituskonzept konkretisiert. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die sich in den großen gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Kirche, Staat, Schule, Sport und Journalismus manifestieren. Seine strukturalistische Vorgehensweise wird ihm dabei oft zum Verhängnis, da man die aus seinen Feldforschungen entwickelte Feldtheorie allzu leicht als mechanistischen Determinismus verwirft. Dabei setzt er gerade implizit den möglichen Spielraum von sozialen Akteur*innen angesichts einschränkender Sozialstrukturen für seine Analysen voraus. Seine Aufforderung zur symbolischen Revolution1 , die impliziert, dass es bessere und schlechtere Strukturen gebe, trägt der Möglichkeit eines strukturellen Wandels Rechnung, wenngleich er selbiges aufgrund einer fehlenden Freiheitsphilosophie nicht entsprechend entfaltet.2 So spricht er in einem Interview davon, dass jede Person über einen kleinen Spielraum an Freiheit verfüge und jede Person alles daran setzen solle, aus den (die Freiheit einschränkenden) Gesetzen, Notwendigkeiten, Determinismen zu entfliehen: 1
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Darunter versteht Bourdieu eine willentlich und rasch herbeigeführte Umwertung eines für ein Feld charakteristischen Symbolsystems und den damit verbundenen Prinzipien, Normen, Handlungsschemata etc. Die Folge davon ist ein Bruch mit dem feldspezifischen Habitus (s. Kap. 2.1.3). Davon differenziert er den langwierigen Prozess einer Umwertung der historisch verfestigten Strukturen, der in der Adaption an veränderte Umstände besteht und sich über mehrere Generationen erstreckt. Vgl. Villa, Paula-Irene, Symbolische Gewalt und ihr potenzielles Scheitern. Eine Annäherung zwischen Butler und Bourdieu, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 36/4 (2011) 51–69, hier: 66.
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der Logik der männlichen Herrschaft kritisch in Frage stellen. Es wird hier zu zeigen sein, dass nicht etwa genuin theologische Motive für den sozialen Aufstieg und hohe Anerkennung im römisch-katholischen Feld maßgeblich sind, sondern klerikale Männlichkeit auch nach den Emanzipationsbewegungen als vorrangiger Distinktionsmarker operiert. Intersektionale Analyse verschiedener Herrschaftsstrukturen: In Kap. 2.4 integriert schließlich die relational-intersektionale Perspektive die Auswirkungen symbolischer Gewalt auf intergeschlechtliche Menschen und legt damit die Strukturbeziehungen und Anerkennungsverhältnisse des römisch-katholischen Feldes mit der männlichen Herrschaft beispielhaft offen. Die Zusammenfassung in Kap. 2.5 macht auf die Grenzen der sozialphilosophischen Erkenntnisse und der Inkorporationsthese nach Bourdieu aufmerksam, an welche sich im dritten Teil die theologischen Analysen anschließen.
2.1. Grundlagen des Habituskonzepts und der Theorie der Männlichen Herrschaft Der 1930 in der Provinz Béarn geborene französische Ethnologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu dokumentiert im Rahmen seines Militäraufenthaltes vor und während des Algerienkrieges das Leben der Menschen vor Ort. Anhand seiner zahlreichen und detaillierten Aufzeichnungen gelingt es ihm, eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die sich im sogenannten Habituskonzept konkretisiert. Sein Forschungsinteresse gilt vor allem unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die sich in den großen gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Kirche, Staat, Schule, Sport und Journalismus manifestieren. Seine strukturalistische Vorgehensweise wird ihm dabei oft zum Verhängnis, da man die aus seinen Feldforschungen entwickelte Feldtheorie allzu leicht als mechanistischen Determinismus verwirft. Dabei setzt er gerade implizit den möglichen Spielraum von sozialen Akteur*innen angesichts einschränkender Sozialstrukturen für seine Analysen voraus. Seine Aufforderung zur symbolischen Revolution1 , die impliziert, dass es bessere und schlechtere Strukturen gebe, trägt der Möglichkeit eines strukturellen Wandels Rechnung, wenngleich er selbiges aufgrund einer fehlenden Freiheitsphilosophie nicht entsprechend entfaltet.2 So spricht er in einem Interview davon, dass jede Person über einen kleinen Spielraum an Freiheit verfüge und jede Person alles daran setzen solle, aus den (die Freiheit einschränkenden) Gesetzen, Notwendigkeiten, Determinismen zu entfliehen: 1
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Darunter versteht Bourdieu eine willentlich und rasch herbeigeführte Umwertung eines für ein Feld charakteristischen Symbolsystems und den damit verbundenen Prinzipien, Normen, Handlungsschemata etc. Die Folge davon ist ein Bruch mit dem feldspezifischen Habitus (s. Kap. 2.1.3). Davon differenziert er den langwierigen Prozess einer Umwertung der historisch verfestigten Strukturen, der in der Adaption an veränderte Umstände besteht und sich über mehrere Generationen erstreckt. Vgl. Villa, Paula-Irene, Symbolische Gewalt und ihr potenzielles Scheitern. Eine Annäherung zwischen Butler und Bourdieu, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 36/4 (2011) 51–69, hier: 66.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
»On a une petite marge de liberté, chacun de nous, et il faut faire que chacun fasse, ce, tout (ce) qu’il peut, pour échapper aux lois, nécessités, déterminismes. Voilà, c’est, c’est, je dois développer ça!«3 Sein sozialpolitisches Engagement wie seine Forschung im Gesamten verstehen sich als Ermutigung zu Befreiungsakten, da der Sozialphilosoph auf die Bewusstmachung von Positionalität und Dispositionalität gemäß dem Grundsatz zielt: Nur wer seine eigenen Grenzen kennt, kann auch über sie hinausgehen. Dieser Grundsatz bildet auch das leitende Verständnis von Bourrdieus Sozialphilosophie in dieser Arbeit und möchte damit die von intergeschlechtlichen Menschen erfahrenen Begrenzungen, die sie an der Entfaltung ihrer Geschlechtsidentität hindern, gleichzeitig als deren Konstitutionsmöglichkeit begreifen (vgl. bes. Kap. 3.4.4). Im folgenden Abschnitt werden die Grundbegriffe des Habituskonzepts erörtert. Diese umfassen den Begriff des Feldes (vgl. Kap. 2.1.1), des Kapitals (vgl. Kap. 2.1.2) und des Habitus (vgl. Kap. 2.1.3). In der Darstellung wird darauf Wert gelegt, auch die wechselseitige Abhängigkeit der inhaltlichen Begriffsbestimmungen zu markieren. Diesen theoretischen Grundlagen folgt in Kap. 2.1.4 eine Charakterisierung der männlichen Herrschaft entlang des gleichnamigen Buches von Pierre Bourdieu. Alle Grundlagen zusammen bilden die Basis für die methodologische Vorgehensweise der Folgekapitel, welche in Kap. 2.1.5 erarbeitet wird.
2.1.1. Felder als symbolische Kampfplätze Um den Begriff des Feldes bei Bourdieu zu verstehen, muss man ihn in Zusammenhang mit seiner Theorie des sozialen Raumes betrachten, die er nach Abschluss seiner empirischen Erhebungen zur französischen Gesellschaft in den 1960er Jahren in seiner Studie Die feinen Unterschiede4 entwickelt. Darin liegt eine erste Zusammenschau seiner Sozialtheorie vor, in der er die Verbindungen von Feld, Habitus und Kapital zum ersten Mal systematisch erläutert. Den metaphorisch verwendeten Begriff des sozialen Raums beschreibt der Sozialphilosoph selbst als »abstrakte Darstellung, ein Konstrukt, das analog einer Landkarte einen Überblick bietet, einen Standpunkt oberhalb der Standpunkte, von denen aus die Akteure in ihrem Alltagsverhalten (darunter Soziologe wie Leser) ihren Blick auf die soziale Welt richten«5 . Es geht Bourdieu um die Relationen zwischen sozialen Positionen und individuellen Dispositionen (Lebensstilen): Das soziale Gefüge der Gesellschaft sieht er nicht in einer eindimensional hierarchischen Struktur von Über- und Unterordnung, sondern weitaus differenzierter.6 Der soziale Raum ist durch »drei Grunddimensionen: Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitliche Entwicklung dieser beiden Größen«7 struktu3 4
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La sociologie est un sport de combat, C.P. Productions; V. F. Film Productions [Dokumentation], Frankreich 2001. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (La distinction. Critique sociale du jugement; übers. v. Bernd Schwibs – Achim Russer) (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 658), Frankfurt a.M. 1979 [1987]. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 277. Vgl. Fröhlich, Gerhard – Rehbein, Boike (Hgg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – Weimar 2014, 220. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 195–196.
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riert, deren Überlagerungen die Abhängigkeitsbeziehung von sozialen Positionen, Lebensstilen und sozialem Wandel deutlich machen. Diese komplexe Zusammenschau ermöglicht es, relativ verlässliche Aussagen darüber zu machen, welche Verlagerungen einen sozialen Aufstieg begünstigen oder verhindern. Auffällig ist, dass Vertikalverlagerungen, also Änderungen der sozialen Position innerhalb eines Feldes, häufiger sind als Transversalverlagerungen, also Änderungen des Lebensstils und damit ein Wechsel von einem Feld in ein anderes.8 Konkret bedeutet dies, dass soziale Akteur*innen eher dazu neigen, in einem Feld um Anerkennung und eine höhere soziale Position zu kämpfen, bevor sie aufgrund von Benachteiligungs- oder Diskriminierungserfahrungen in Erwägung ziehen, überhaupt in ein anderes Feld zu wechseln. Beide Verlagerungsprozesse sind zudem abhängig von den Wandlungsprozessen der Gesamtgesellschaft, die Bourdieu in der zeitlichen Dimension verankert. So kann sich mit der Zeit die Strukturkonfiguration eines Feldes verändern und bspw. zu einem Prestigewandel von Berufen führen. Gerade die letzte Dimension wird in der Bourdieu-Rezeption oft vernachlässigt, was mitunter seiner vereinfachten und generalisierenden Darstellung des sozialen Raumes in Praktische Vernunft 9 geschuldet ist. Dies hat dazu beigetragen, seine Konzeption des Feldes als mechanistischen Ablauf sozialer Prozesse zu interpretieren, wogegen er sich entschieden wehrt (vgl. Kap. 2.1.3). Während der soziale Wandel bestimmter Berufsgruppen in Die feinen Unterschiede10 noch mit Vektoren dargestellt wird, bleibt er in Praktische Vernunft auf Kosten der Systematisierung und Generalisierung seiner Theorie ungenannt. Gleichwohl wird mit der Abstrahierung von Zeit die Verwendung seines theoretischen Entwurfes aber als kriteriologisches Modell ermöglicht. Dargestellt werden dort persönliche Präferenzen, die je nach Verteilung des ökonomischen und kulturellen Kapitals gehäuft miteinander auftreten. Dieses daraus entstehende Netzwerk an Dispositionen macht es Bourdieu schließlich möglich, entlang musikalischer, sportlicher oder kulinarischer Vorlieben auf das politische Wahlverhalten oder auf die Berufsgruppe einer Person zu schließen und umgekehrt, wenngleich diese Voraussagen immer nur deskriptiv und nicht normativ erfolgen. Mit den Darstellungen wird unabhängig der zeitlichen Komponente zweierlei möglich: Einerseits werden die empirisch dokumentierten Unterschiede und damit Distinktionsmarker eines Feldes festgehalten, andererseits aber auch die von den sozialen Akteur*innen aktiv unternommenen Unterscheidungen. In dieses Wechselverhältnis von objektiver Struktur und subjektivem Verhalten bettet Bourdieu seine Feldtheorie ein, die er im Anschluss an Die feinen Unterschiede konkretisiert.11 Die Definition seines Feldbegriffes bezieht er aus der Physik, weil er damit den Wirkungsgrad der sozialen Bezüge gleich einem Magnetfeld beschreiben, sich von »substanzialistischen Vorstellungen des Sozialen verabschieden und stattdessen Relationen in
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Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 220. Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (Raisons Pratiques – Sur la théorie de l’action; übers. v. Hella Beister) (Edition Suhrkamp 1985), Frankfurt a.M. 9 2015, 19. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 212–213. Vgl. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 99–100.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
den Mittelpunkt stellen«12 will. Das Zentrum eines Feldes wirkt dieser Vorstellung zufolge wie ein Magnet und übt eine besondere Strahlkraft auf die sozialen Akteur*innen aus. Je weiter diese vom Zentrum entfernt sind, desto weniger fühlen sie sich davon angezogen und an dessen normative Vorgaben gebunden. Das Ende der Anziehungskraft setzt Bourdieu gleich mit der Grenze eines Feldes. So stimmen die Grenzen eines Feldes nicht mit gesamtgesellschaftlichen Sektoren, Bereichen oder bestimmten Personenzahlen überein und können auch nicht wie im Strukturalismus üblich als Klassen oder soziale Lage bezeichnet werden. Vielmehr sind alle Bezüge nach außen wie nach innen Teil dieses Kräfteverhältnisses, das sich durch soziale Positionierung, Dispositionen und Kapital strukturiert. »Ein Feld ist daher kein völlig autonomer Sozialraum, sondern immer nur in Relation mit anderen Feldern zu sehen. Autonomisierung und Universalisierung stehen in ständigem Kampf miteinander. Die Ausdehnung von Feldprinzipien in andere Felder hinein ist nur mit Macht möglich.«13 Jedes Feld verfügt mittels eines eigenständigen Symbolsystems über seine Kräfteverhältnisse relativ autonom und produziert damit eine Inklusions- und Exklusionslogik, die Ähnliches integriert und Abweichendes ausschließt, solange kein sozialer Wandel eine Adaption dieser Logik notwendig macht. Auf diese Weise festigt sich ein »Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen«14 zu einem System von gefestigten Dispositionen15 , das Bourdieu als Habitus bezeichnet. Dieses System erhält seine Dynamik wie Stabilität durch beständige Produktions- und Reproduktionsakte sozialer Akteur*innen. Zum einen also trägt der Habitus zum Erhalt der Feldgrenzen bei, umgekehrt prägt die Zugehörigkeit zu einem Feld den Habitus aber auch, weil sich soziale Akteur*innen durch Anpassung an objektive Strukturen einen Vorteil in ihrer Positionierung erhoffen.16 Jedes Feld folgt daher einer eigenwilligen praktischen Logik bzw. einer Strategie, welche Bourdieu mit einer Spielmetapher veranschaulicht, die auch auf das römisch-katholische Feld übertragen werden kann. Wie bei einem Spiel ist es auch in einem Feld notwendig, nach gesetzten Regeln zu spielen, deren Gültigkeit man gewöhnlich nicht in Frage stellt. Je nach Ausgangslage und Ziel entwickeln die Spieler*innen eine Strategie, um zu gewinnen. »Wer von außen kommt, muss sich der Logik des Feldes und seiner Regeln unterwerfen.«17 Manche Strategien erweisen sich als günstig, andere als un-
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Fuchs-Heinritz, Werner – König, Alexandra, Pierre Bourdieu. Eine Einführung (UTB 2649), Konstanz 2 2011, 110. Saalmann, Gernot, De Bourdieu à dieu. Zur möglichen Rezeption von Bourdieus Theorie in der Theologie, in: Ansgar Kreutzer – Hans-Joachim Sander (Hgg.), Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (Quaestiones disputatae 295), Freiburg i.Br. u.a. 2018, 19–47, hier: 32. Bourdieu, Pierre u.a., Reflexive Anthropologie (übers. v. Hella Beister) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1793), Frankfurt a.M. 4 2017, 127. Vgl. Müller, Hans-Peter, Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Berlin 2014, 72. Damit erschließen sich zugleich die herrschaftstheoretischen Überlegungen Bourdieus: Den größten Einfluss auf die im Feld geltende praktische Logik hat demnach diejenige, welche mit dem meisten Kapital ausgestattet ist und die über die beste Strategie verfügt. Dieses zeichnet sich nicht nur durch finanzielle Mittel aus, sondern ist mehrdimensional bestimmt (vgl. Kap. 2.1.2). Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 70.
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günstig, allerdings nicht alleine sie entscheiden über den Gewinn. Eine Strategie kann noch so ausgefeilt und dennoch nicht gewinnbringend sein, wenn die Regeln gewisse Mitspieler*innen benachteiligen oder bevorteilen. Umgekehrt kann am Spiel aber nur teilnehmen, wer die Regeln als solche akzeptiert. So kann es zur Frustration kommen, wenn die objektiven Chancen auf einen Gewinn verschwindend gering scheinen (z.B. die Diskussion um die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare), oder aber die Spieler*innen versuchen, ihre Benachteiligung durch Tricks auszugleichen (z.B. unerlaubte kirchliche Segensfeiern). Scheint sogar dieses Unterfangen sinnlos, entwickeln sie ein Desinteresse und steigen aus (z.B. Kirchenaustritt). Für diejenigen, die von Anfang an nicht mit dem Spiel vertraut sind und noch nie Teil davon waren, kann das Verhalten der jeweiligen Mitspieler*innen sogar absurd anmuten (z.B. für kirchenferne homosexuelle Personen). Was in dieser Metapher so friedlich klingt, ist angewandt auf die Feldtheorie die Darstellung symbolischer Konkurrenzkämpfe um Anerkennung, Einfluss und Macht.18 Das Feld ist wie das Spielfeld gleichsam der Ort, an dem die symbolischen Kämpfe ausgetragen werden. In ihm herrscht eine Logik/Strategie, die bestimmte Lebensstile, Dispositionen etc. begünstigt und andere behindert. Eine vorteilhaftere soziale Positionierung hängt nämlich nicht nur von dem akkumulierten Kapital ab, sondern auch von der Strategie, mit welcher sie eingesetzt werden.19 Kultur verliert auf diese Weise »bei Bourdieu ihre politische Unschuld«20 , weil die Chancen auf dem Kampfplatz maßgeblich von der sozialen Position abhängen, in die man hineingeboren wird. Die Logik des Feldes fordert dabei keinesfalls eine spontane Willensentscheidung, sondern eine durch Geburt oder Kooption oder Initiation – gleich einer zweiten Geburt – hergestellte Glaubwürdigkeit der Mitspielenden. Umgekehrt gilt jedoch: Für den Zutritt in das Feld wird die Zustimmung zu den Regeln als »Eintrittsgeld«21 abverlangt, welche sozialen Akteur*innen überhaupt den Sinn der eigenen Beteiligung garantieren. Man kann also nicht Akteur*in eines sozialen Feldes sein, wenn man nicht an die Strukturprinzipien des Feldes glaubt. Dieser Glaube wird von Bourdieu illusio bzw. doxa genannt: »Als besonders exemplarische Form des praktischen Sinns als vorweggenommener Anpassung an die Erfordernisse eines Feldes vermittelt das, was in der Sprache des Sports als ›Sinn für das Spiel‹ (wie ›Sinn für Einsatz‹, Kunst der ›Vorwegnahme‹ usw.) bezeichnet wird, eine recht genaue Vorstellung von dem fast wundersamen Zusammentreffen von Habitus und Feld, von einverleibter und objektivierter Geschichte, das die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen ermöglicht. Als Ergebnis der Spielerfahrung, also der objektiven Strukturen des Spielraums, sorgt der Sinn für das Spiel dafür, daß dieses für die Spieler subjektiven Sinn, d.h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung, Zukunft bekommt. Mit ihrer Teilnahme lassen sie sich auf das ein, um was es bei diesem Spiel geht (also die illusio im Sin-
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Vgl. Sanks, T. Howard, Homo Theologicus. Toward a Reflexive Theology (With the Help of Pierre Bourdieu), in: Theological Studies 68/3 (2007) 515–530, hier: 521. Vgl. Fuchs-Heinritz – König, Pierre Bourdieu, 114. Kreutzer, Ansgar, Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programmes, Freiburg i.Br. 2017, 84. Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Le sens pratique; übers. v. Günter Seib) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1066), Frankfurt a.M. 10 2018, 124.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
ne von Spieleinsatz, Spielergebnis, Spielinteresse, Anerkennung der Spielvoraussetzungen – doxa).«22 Der Strategie ist also noch ein weiteres Element vorausgesetzt, nämlich die unhinterfragte Annahme, dass die feldspezifischen Regeln einfach hin gelten und vor allem sinnvoll sind. Demnach besteht die illusio/doxa aus enthistorisierten Selbstverständlichkeiten, welche das Ethos des jeweiligen Feldes umschreiben, also das, was sich gehört und was man tut: »Die illusio gehört nicht zu den expliziten Prinzipien, den Thesen, die man aufstellt und die verteidigt werden, sondern zum Handeln, zur Routine, zu den Dingen, die man halt tut und die man tut, weil es sich gehört und weil man sie immer getan hat.«23 Der Glaube an die feldspezifische Strategie wird für eine Mitgliedschaft im Feld umso notwendiger, je mehr Geltung man sich darin verschaffen will.24 Die illusio/doxa ist damit das theoretisch vorausgesetzte Bindeglind für das praktische Verhältnis von Habitus und Feld. Erst wenn die Regeln geklärt sind, nehmen die Spielenden ihre Rolle ein, entwickeln Interessen und Strategien und versuchen diese geschickt einzusetzen. Die Ökonomie der im Spiel verhandelten symbolischen Güter nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. Sie ist es, die bestimmten Formen der Zuwendung (materiell, sozial usw.) Geltung verleiht und sie zu symbolischen Tauschobjekten für Anerkennung macht.25 Da im Kampf entlang einer Markierung von Differenz unterschiedliche Güter strategisch eingesetzt werden, unterscheidet Bourdieu sogenannte Kapitalsorten, die nun näher erläutert werden.
2.1.2. Kapital als Tauschobjekt für Anerkennung und soziale Positionierung Allgemein gesprochen ist Kapital nach Bourdieu die »notwendige Ressource für jedes Handeln«26 . Wie alle seine Begriffe ist auch der des Kapitals vor allem durch eine Definition gekennzeichnet, welche die praktischen Relationen innerhalb eines Feldes darstellen will: »Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form«27 . So verwundert es nicht, dass auch hier Überschneidungen und unklare Abgrenzungen zwischen einzelnen Kapitalsorten auftreten. Dies ergibt sich daraus, dass Bourdieu mit dem Begriff vor allem beschreiben will, was im 22 23 24
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Bourdieu, Sozialer Sinn, 122. Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (Méditations pascaliennes; übers. v. Achim Russer), Frankfurt a.M. 2001, 129. Man bedenke als anschauliches Beispiel die vehemente Verteidigung einer bestimmten Struktur, Form, Aufbau, Methodik und Zitationsweise von wissenschaftlichen Arbeiten im Feld der Wissenschaft oder die impliziten Kleidungsvorschriften von Jurist*innen, Wirtschafter*innen u.v.m. Wer unüblich zitiert oder sich unüblich kleidet, wird schwieriger zu Akzeptanz im jeweiligen Feld finden, als die Person, die nach den Regeln spielt. »Die ursprüngliche doxa ist jenes unmittelbare Verhältnis der Anerkennung, das in der Praxis zwischen einem Habitus und dem Feld hergestellt wird, auf das dieser abgestimmt ist, also jene stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen, zu welcher der praktische Sinn verhilft.« Bourdieu, Sozialer Sinn, 126. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 135. Bourdieu, Pierre, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen 1983, 183–198, hier: 183.
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symbolischen Tauschgeschäft ausgetauscht wird, um infolge einer vermehrten Anerkennung eine höhere soziale Position einzunehmen. Dass sich die verhandelten Tauschobjekte je nach Feld unterscheiden und ineinander konvertierbar sind, bringt mit sich, dass eine Kapitalsorte immer vor dem Hintergrund der praktischen Logik und Dynamik, die sie überhaupt zu einem Tauschobjekt machen, betrachtet werden muss. »Der Austausch macht die ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung. Mit der gegenseitigen Anerkennung und der damit implizierten Anerkennung der Gruppenzugehörigkeit wird so die Gruppe reproduziert; gleichzeitig werden ihre Grenzen bestätigt, d.h. die Grenzen, jenseits derer die für die Gruppe konstitutiven Austauschbeziehungen (Handel, Kommensalität, Heirat) nicht stattfinden können.«28 Insofern scheint es nur schlüssig, die Anzahl der Kapitalsorten entsprechend der Anzahl der Felder zu bemessen,29 was jedoch nicht bedeutet, dass nicht mehrere Kapitalsorten in einem Feld vorkommen können. Durch die Überlappung der Felder ist es sogar sehr unwahrscheinlich, dass nur eine Kapitalsorte für einen sozialen Aufstieg ausreicht. Wie bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung des Feldes erläutert, dient das Kapital als sozialer Differenzierungsmarker und entscheidet über soziale Inklusion und Exklusion. Maßgeblich bestimmt ist diese Logik durch ökonomische, kulturelle und soziale Faktoren. Insgesamt unterscheidet Bourdieu vier »Grundformen«30 von Kapital: ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital31 und das sie umgreifende symbolische Kapital.
2.1.2.1. Ökonomisches Kapital Das ökonomische Kapital bezeichnet bei Bourdieu die Verfügungsgewalt über materiellen Besitz, der meist direkt in Geld konvertierbar ist. Diese Kapitalsorte dient dem Eigentumserwerb, wird im Eigentumsrecht institutionalisiert und ebenso wie die anderen Kapitalsorten dazu eingesetzt, die eigenen Anerkennung zu vergrößern und die soziale Positionalität im besten Fall zu erhöhen. Um eine hohe soziale Position einnehmen zu können, genügt ökonomisches Kapital allein allerdings nicht. Wissen, Kompetenz, Kreditwürdigkeit und Vertrauen lassen sich mit dieser Form des Kapitals nicht erkaufen. Aus diesem Grund ist für die Ökonomie ebenso das soziale und kulturelle Kapital von Nöten, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie etwa im Feld der Wissenschaft.32 Die Logik der Ökonomie fördert das Bestreben, die Reproduktion des Kapitals durch möglichst
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Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 192–193. Vgl. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 138. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 138. Die Verwendung des Begriffes Grundsorten wäre hier wohl treffender, da Bourdieu im Speziellen beim kulturellen aber auch religiösen Kapital noch einmal drei Formen, wie das Kapital auftreten kann, unterscheidet. Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Vgl. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 137.
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geringe Umwandlungskosten zu erreichen.33 Von allen Kapitalsorten ist das ökonomische jenes, das am wenigsten diffus und am leichtesten übertragbar ist. Dennoch können Transformationen des ökonomischen Kapitals nie ganz auf den ökonomischen Wert allein zurückgeführt werden, weil jede Kapitalsorte dann am wirksamsten ist, wenn ihre ökonomische Grundlage verkannt wird.34
2.1.2.2. Kulturelles Kapital Bourdieu unterscheidet des Weiteren das kulturelle Kapital, das in drei Formen existiert: »(1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivation, die deswegen gesondert behandelt werden muß, weil sie – wie man beim schulischen Titel sieht – dem kulturellen Kapital, das sie ja garantieren soll, ganz einmalige Eigenschaften verleiht.«35 Die Dreiteilung des kulturellen Kapitals weist eine Nähe zur Bestimmung des Habitus auf, denn gerade die inkorporierte Form des Kapitals ist »eng an die Person gebunden« und daher nicht übertragbar wie andere Kapitalsorten, weil »es vergeht und stirbt, wie sein Träger stirbt«. Der Erwerb dieses Kapitals (Wissen und Kompetenzen) kann sich daher »völlig unbewußt vollziehen«, weil es durch eine und in einer Person verkörpert wird: »aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden«36 . Die Voraussetzungen über das Gelingen oder Scheitern von Wissens- und Kompetenz-Bildung liegen nach Bourdieu allerdings nicht allein an redlichem Bemühen oder außerordentlichem Fleiß, sondern an der Primärsozialisation. Sie prägt nicht nur, welches Wissen und welche Kompetenzen dem Kind von Anfang an mitgegeben werden, sondern auch die Weltsicht und Einstellung gegenüber der öffentlich legitimen Bildung: »Wer am Erwerb von Bildung arbeitet, arbeitet an sich selbst, er ›bildet sich‹. Das setzt voraus, daß man ›mit seiner Person bezahlt‹ [coûte du temps37 ], wie man im Französischen sagt. D.h., man investiert vor allen Dingen Zeit, aber auch eine Form von sozial
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Bourdieu vergleicht dies mit dem Energieerhaltungssatz aus der Physik: Das Gesamtvolumen an Energie verschwindet nicht durch dessen Umwandlung, sondern findet sich nur in einer anderen Form wieder. Kapital geht bei einem Tauschgeschäft also nicht verloren, sondern wird im Tauschgeschäft in eine andere Sorte umgewandelt. Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 196. Zum Verkennungseffekt näher in Kap. 2.1.2.4. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 185. Vgl. alle Zitate des Absatzes aus: Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 187. Vgl. dazu den für die deutsche Übersetzung überarbeiteten französischen Originaltext: Bourdieu, Pierre, Les trois états du capital culturel, in: Actes de la recherche en sciences sociales 30/1 (1979) 3–6.
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konstituierter Libido, die libido sciendi, die alle möglichen Entbehrungen, Versagungen und Opfer mit sich bringen kann. […] Auch die Primärerziehung in der Familie muß in Rechnung gestellt werden, und zwar je nach dem Abstand zu den Erfordernissen des schulischen Marktes entweder als positiver Wert, als gewonnene Zeit und Vorsprung, oder als negativer Faktor, als doppelt verlorene Zeit, weil zur Korrektur der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden muß.«38 Das kostbare – aber immaterielle – Gut der Zeit ist somit das Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital. Insofern erfordert sein Erwerb einen hohen zeitlichen Aufwand, der zur Vergleichbarkeit am Arbeitsmarkt (etwa, wie viel Gehalt eine Person wert ist) in irgendeiner Form institutionalisiert werden muss. In institutionalisierter Form liegt kulturelles Kapital in Bildungstiteln, Abschlüssen und Zeugnissen vor, um den Arbeitgeber*innen von der Wertigkeit der Person zu überzeugen und ihnen gleichzeitig dessen Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu garantieren. Im Gegensatz zu Autodidakt*innen besteht für Absolvent*innen einer staatlichen Bildungseinrichtung kein Beweiszwang über die tatsächlich erworbene Bildung am Arbeitsmarkt und erleichtert so, wie jede andere Kapitalsorte auch, den sozialen Aufstieg. Umso prekärer gestaltet sich daher die Lage von jenen, die in diesem frühen Stadium der Sozialisation scheitern: »Nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip wird zwischen dem letzten erfolgreichen und dem ersten durchgefallenen Prüfling ein wesensmäßiger Unterschied institutionalisiert, der die offiziell anerkannte und garantierte Kompetenz vom einfachen Kulturkapital scheidet, das unter ständigem Beweiszwang steht. In diesem Fall sieht man deutlich, welche schöpferische Magie sich mit dieser institutionalisierten Macht verbindet, der Macht, Menschen zu veranlassen, etwas zu sehen und zu glauben oder, mit einem Wort, etwas anzuerkennen.« 39 In objektivierter Form findet sich kulturelles Kapital in Objekten wie Kunstgegenständen, Büchern, technischen Geräten, deren Wertigkeit sich nicht allein im materiellen Gehalt bemisst, obschon es materiell übertragbar wäre. Oftmals ist es gerade der sogenannte ideelle Wert eines Gegenstandes, der über die Bewertung eines Objektes in einem bestimmten Feld entscheidet. Für die strategische Nutzung dieser Art des Kapitals ist also eine symbolische Aneignung notwendig, welche einem Objekt einen arbiträren Wert beimisst. Die Anerkennung dieses Wertes wiederum stellt den adäquaten Gebrauch des Objektes in Form einer erworbenen Kompetenz sicher. Ob man mit klassischer Musik, Comics oder landwirtschaftlichen Geräten etwas anfangen kann, hängt also wiederum vom inkorporierten Kapital ab.40
2.1.2.3. Soziales Kapital Das soziale Kapital versammelt alle »aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehun38 39 40
Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 186–187. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 190. Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 189.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
gen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind«41 . Es festigt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und besteht darin, mit großem zeitlichen und/oder materiellen Aufwand persönliche Beziehungen zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Grundlage dafür sind symbolische und/oder materielle Tauschbeziehungen. Soziale Beziehungen sind für Bourdieu keine Selbstverständlichkeit, sondern bedürfen der »unaufhörliche[n] Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten«42 , um weiter zu bestehen. Die Übernahme eines gemeinsamen Namens erleichtert diese Verpflichtungen ein wenig, indem durch ihn die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe (Familie, Orden, Partei, Verein, Nation, …) garantiert und institutionalisiert wird. Soziales Kapital fungiert aufgrund seiner Vernetzung als zuverlässiger Multiplikator sämtlicher Kapitalien. Sein Umfang bemisst sich daher einerseits in der Ausdehnung des Netzes und andererseits im Umfang des Kapitals, mit dem man in Beziehung steht.43 Eine Institutionalisierung dieser Beziehungen (Ehevertrag, Handelsvertrag etc.) setzt sich zum Zweck, die wechselseitigen Verpflichtungen auf Dauer sicherzustellen, denn gerade durch diese angelegten Verbindungen kommt es zum Zugang zu Profiten. Diese äußern sich in moralischen Grundhaltungen und damit verbundenen Gefühlen (Anerkennung, Respekt, Brüderlichkeit etc.) oder Garantien (Rechtsansprüche auf Haus, Eigentum etc.). Profite bilden damit die Grundlage für Solidarität in materieller (Gefälligkeiten) wie symbolischer (Mitgliedschaften in erwählten Kreisen) Hinsicht.44
2.1.2.4. Symbolisches Kapital Auffällig ist, dass bei allen Beschreibungen der Kapitalsorten in der Sekundärliteratur immer dasjenige des symbolischen Kapitals als Ergänzung oder Metaebene der Gesamtheit der Kapitalsorten dargestellt wird.45 Dies mag einerseits an der fehlenden Systematisierung Bourdieus liegen, ist aber andererseits auch dem Umstand geschuldet, dass alle Kapitalsorten dazu neigen, symbolisch zu fungieren. Wirksam wird egal welche Art von Kapital ja nur dort, wo eine feldspezifische doxa dessen Wert für den symbolischen Tauschhandel bzw. Kampf festlegt. In dieser Hinsicht hält es Bourdieu sogar für angemessener, von symbolischen Wirkungen des Kapitals (»effets symbolique du capital«46 ) zu sprechen, die sich im Habitus manifestieren. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital sind damit in gewisser Weise immer auch schon symbolisch konvertiert. Insofern ist eine Abgrenzung des symbolischen Kapitals als eigene Kapitalsorte bei Bourdieu tatsächlich schwierig. Das symbolische Kapital ist daher keine besondere Art von Kapital, sondern das, was mit jeder Art von Kapital geschieht, wenn es als solches verkannt wird, d.h. als eine legitim anerkannte Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung (tatsächlich oder potenti41 42 43 44 45
46
Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 190. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 193. Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 191. Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, 191–193. Auch in Bezug auf das religiöse Kapital ist diese Überordnung zu beobachten: »Symbolic capital, the stock-in-trade of theologians, would seem to be a species of cultural capital, but Bourdieu distinguishes it as a separate genre of capital because of how it functions in social relations.« Sanks, Homo Theologicus, 522. Bourdieu, Pierre, Méditations pascaliennes (Points Essais 507), Paris 1997, 285.
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ell).47 Positiv ausgedrückt ist symbolisches Kapital die Anerkennung einer nicht auf Profit ausgerichteten ökonomischen Tauschbeziehung, die letztlich keinen materiellen Beweis für die Kreditwürdigkeit der am Tausch Teilnehmenden fordert. Als solches ist es »möglicherweise die kostbarste Akkumulationsform im Rahmen einer Gesellschaft«48 , da es sich am schwersten konvertieren lässt und vor allem in der Investition von Zeit für jemanden besteht. Die symbolische Dignität einer sozialen Handlung kann daher je nach Umstand immer auch als »Zeitgeschenk oder die Vergeudung von Zeit«49 beurteilt werden. So wird etwa die unentgeltliche Pflege kranker Personen im Familienkreis oftmals als Selbstverständlichkeit hingenommen. Die pflegenden Angehörigen, meist Frauen, erwarten dafür offiziell keine direkte Entlohnung (etwa die Überschreibung des Erbes), verurteilen diese Berechnung sogar. Im Gegenzug aber machen viele sich selbst schwere Vorwürfe, wenn sie ihre Angehörigen in professionelle Pflege geben, als hätten sie sich ihr Erbe durch die mangelnde Zeitaufwendung nicht verdient.50 Das symbolische Kapital fungiert daher wie eine »ehrlich gemeinte Fiktion eines uneigennützigen Tauschs«51 : Für eine Gabe wird keine Gegengabe erwartet. Symbolisch sind also alle Kapitalien, die stellvertretend für andere und nicht-intentional in einen Tausch eingebracht oder gewonnen werden. Dabei handelt es sich streng genommen nicht um ein So-tun-als-ob, sondern es verhält sich gerade so, dass der Gewinn durch den Einsatz von symbolischem Kapital erst dann von den sozialen Akteur*innen akzeptiert werden kann, wenn Vertrauenswürdigkeit, Anerkennung und Ehre interesselos gewonnen, gesteigert oder aufrecht erhalten werden. Eben so, als wäre der Tausch »bar jeder Berechnung«52 eingegangen worden.53 Jede Kapitalsorte ist damit mehr oder weniger notwendig von der Verschleierung der Funktion des Tausches abhängig. »[…] das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital (wobei Anerkennung im Sinne von Dankbarkeit für Wohltaten eine der Grundlagen dieser Anerkennung sein kann), das gewiß zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzig mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird.«54
47 48
49 50
51 52 53
54
Vgl. Bourdieu, Méditations pascaliennes, 285. Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle; übers. v. Cordula Pialoux – Bernd Schwibs) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 291), Frankfurt a.M. 4 2015, 349. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 350. Vgl. Caritas der Erzdiözese Wien, Meine Zeit für dich, meine Zeit für mich. Informationsbroschüre für pflegende Angehörige. Schwerpunkt Demenz, 2019, 24. URL: https://www.caritas-pfle ge.at/fileadmin/storage/wien/hilfe-angebote/pflege/pflegebeduerftig/hilfe-fuer-angehoerige/a ngehoerigenbroschuere.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Bourdieu, Sozialer Sinn, 205. Bourdieu, Sozialer Sinn, 206. So leben Ehrenämter davon, soziales Engagement als Selbstzweck zu stilisieren, obwohl es unweigerlich zu einer Steigerung sozialer Anerkennung beiträgt. Nicht umsonst lässt sich diese Art von Engagement so gut im Lebenslauf anführen, obwohl die Motivation von Engagierten sich nicht in vordergründiger oder bewusster Weise aus dieser Tatsache speist. Bourdieu, Sozialer Sinn, 215.
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Symbolisches Kapital ist damit ein »Kredit […] und dies im weitesten Sinne des Wortes, d.h. eine Art Vorschuß, Diskont, Akkreditiv, allein vom Glauben der Gruppe jenen eingeräumt, die die meisten materiellen und symbolischen Garantien bieten«55 . Die mit diesem Vorschuss eingeforderten mehr oder minder institutionalisierten Versprechen, Kredite, Garantien und Versicherungen erhalten ihren Wert durch die inkorporierten Eigenschaften der Personen wie etwa Charisma, Ehre und Vertrauenswürdigkeit. Je stärker die Kapitalverhandlungen symbolische Elemente einbinden, desto riskanter ist das eingegangene Tauschgeschäft und desto anfälliger wird sie für Heucheleien, deren Aufdeckung ganze Beziehungsgefüge gefährden kann: »Also ist das Wichtige am Gabentausch eben die Tatsache, daß beide am Tausch beteiligten Personen mit Hilfe des eingeschobenen zeitlichen Intervalls, ohne es zu wissen und ohne sich abzusprechen, an der Verschleierung oder Verdrängung der objektiven Wahrheit ihres Tuns arbeiten. Eine Wahrheit, die der Soziologe dann wieder aufdeckt, aber mit dem Risiko, daß er eine Handlung, die interessefrei sein will und auch als solche genommen werden muß, also als die Wahrheit, als die sie erlebt wird und die vom theoretischen Modell ebenfalls zur Kenntnis genommen und erklärt werden muß, als zynischen Akt beschreibt.«56 Eine Feldstrategie wird also nicht bloß gespielt, sondern in ihren Manifestationen förmlich gelebt. Das Zusammenspiel des persönlichen Engagements und symbolischer Tauschgeschäfte bezeichnet Bourdieu als Habitus. Zusammenfassend lassen sich für das symbolische Kapital folgende Eigenschaften festhalten: Es ist (1) ein »Kapital an Anerkennung«57 , das nicht nur den Anschein von Interesselosigkeit macht, sondern (2) tatsächlich nur interessefrei funktioniert. In diesem Sinn ist es (3) vom Glauben der am Tausch beteiligten Personen abhängig und hält (4) Sozialbeziehungen aufrecht, die (5) eine hohe Investition an Zeit notwendig machen. Aus diesem Grund lässt sich (6) symbolisches Kapital schwer in andere Kapitalsorten konvertieren, sondern schwingt (7) vielmehr in allen Tauschbeziehungen gleich welcher Art mit.
2.1.3. Habitus als inkorporierte, objektivierte und institutionalisierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata Der Begriff des Habitus bezeichnet bei Bourdieu »Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren«58 . Als solche sind sie den sozialen Akteur*innen eines Feldes einverleibt und produzieren bzw. reproduzieren symbolische Ordnungssysteme eines Feldes, welche zur sozialen Distinktion beitragen. In ihrer homologen Strukturierung bestimmen sie darüber hinaus über Integration und Exklusion, Über- und Unter-
55 56 57 58
Bourdieu, Sozialer Sinn, 218. Bourdieu, Praktische Vernunft, 164. Bourdieu, Praktische Vernunft, 173. Bourdieu, Sozialer Sinn, 98.
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ordnung, Anerkennung und Nichtanerkennung.59 Der Habitus fungiert als Bindeglied zwischen Struktur und Praxis, weshalb er weder allein durch das Eine noch durch das Andere erklärt werden kann. Vielmehr ist er eine historisch produzierte Form der Weltbegegnung, die sich in individuellen wie kollektiven Praktiken niederschlägt.60 Das Habituskonzept ist sehr stringent an Bourdieus Erkenntnistheorie angebunden, die er in Entwurf einer Theorie der Praxis in dem Kapitel Die drei Modi theoretischer Erkenntnis61 ausformuliert. Hier unterscheidet er die phänomenologische, objektivistische und praxeologische Erkenntnisweise. Die phänomenologische bezeichnet Wahrnehmungsschemata, die auf die Primärerfahrung mit der Welt zurückgehen. Die objektivistische ist die denkerische Systematisierungsgrundlage für die objektiven Relationen in der Welt und vermittelt so zwischen Primärerfahrung und gesellschaftlichen Strukturen. Die praxeologische Erkenntnisweise stellt dagegen die »dialektischen Beziehung zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen«62 dar. Im Habitus wirkt zudem »der doppelte Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität«63 , den Bourdieu in seiner handlungsreflexiven Inkorporationsthese näher ausführt. Seine Erkenntnistheorie verbindet die Logik des Wahrnehmens, Denkens und Handelns zu einem unablässigen Austausch, der sich im Habitus verdichtet. Der Habitus ist somit ein historisch produziertes, unbewusstes Zusammenspiel von individuellen wie kollektiven »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata«64 , dessen Erzeugungsbedingungen ihm selbst verschleiert sind. Dies deshalb, weil die Strukturierung der Weltbegegnung bereits mit dem Eintreten in das Leben und den dort vorfindlichen ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten beginnt. Anders gesprochen sind gerade die phänomenologischen Erfahrungen, die ein Individuum in den ersten Lebensjahren macht, die prägendsten und nachhaltigsten für seine Weltbegegnung und strukturieren sein Wahrnehmen, Denken und Handeln.65 Bourdieu wendet sich an dieser Stelle entschieden gegen ein mechanistisch-deterministisches Verständnis seines Habitusbegriffes, da er ihn aufgrund der praktischen Logik und der Feldtheorie immer im Zusammenhang mit den dort wirksamen Kräften betrachtet. Die theoretischen Erkenntnisebenen können auf unterschiedliche Weise Brüche erleben, einerseits, weil sie untereinander in Konkurrenz stehen, weil sie aber andererseits auch durch den praktischen Erkenntnismodus in Frage gestellt werden können. Weltbegegnung und Erkenntnis stehen damit in einem vielfältigen Beziehungsnetz, das sich je unterschiedlich auf die Einzelperson und das System auswirkt.66 Bourdieu selbst spricht daher von einer »Verinnerlichung der Äußerlichkeit«67 , die als Einverleibung dauerhaft und systematisch, nicht aber mechanisch ist: »Über den Habitus 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Bourdieu, Pierre, Genèse et structure du champ religieux, in : Revue Française de Sociologie 12/3 (1971) 295–334, hier : 298. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 101. Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 146–164. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 147. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 147. Bourdieu, Sozialer Sinn, 101. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 101. Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 147. Bourdieu, Sozialer Sinn, 102.
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regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind.«68 Der Habitus ist damit das Bindeglied zwischen homologen Oppositionspaaren wie »Determiniertheit und Freiheit, Konditioniertheit und Kreativität, Bewußtem und Unbewußtem oder Individuum und Gesellschaft«69 , weil er solche Gegensatzpaare in sich vereinigt. Er ist damit sowohl der Einzelperson wie auch dem gesamten Feld, in dem sich diese befindet, zuzuschreiben. Der Unterschied eines individuellen Habitus zum kollektiven Habitus besteht daher lediglich in einer strukturalen Variante des Gesamtsystems: »In Wirklichkeit jedoch werden die besonderen Habitusformen der verschiedenen Mitglieder derselben Klasse durch ein Verhältnis der Homologie vereinheitlicht, d.h. durch ein Verhältnis der Vielfalt in Homogenität, welches die Vielfältigkeit in der charakteristischen Homogenität ihrer gesellschaftlichen Produktionsbedingungen widerspiegelt: jedes [sic!] System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt.«70 Die bereits im Hinblick auf das Feld und auch das symbolische Kapital benannte Homologie spiegelt sich im Habitus wider. Darum eignen ihm folgende unvereinbar scheinende Eigenschaften, die aber untrennbar miteinander verbunden sind und sich wechselseitig beeinflussen71 :
Tabelle 3: Eigenschaften des Habitus nach Bourdieu Eigenschaften des Habitus Erkenntnismodus
phänomenologisch Wahrnehmung
68 69 70 71
strukturierend modus operandi
strukturiert opus operatum
individualisiert
sozialisiert
zukunftsorientiert
vergangenheitsorientiert
aktiv
reaktiv
subjektiv
objektiv
einverleibt
objektiviert
Bourdieu, Sozialer Sinn, 103. Bourdieu, Sozialer Sinn, 105. Bourdieu, Sozialer Sinn, 113. Die überblickshafte Zusammenstellung erfolgte auf Basis der folgenden Literatur: Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn; Bourdieu, Praktische Vernunft; Bourdieu, Die feinen Unterschiede.
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objektivistisch Denken
praxeologisch Handeln
kreativ
konservativ
improvisierend
systematisch
differenzierend
differenziert
angepasst
vereinheitlicht
praktischer Sinn
objektivierter Sinn
neuschaffend
bewahrend
wandelbar
dauerhaft
generativ
vorgegeben
Der Habitus ist die einverleibte strukturierte Struktur eines Symbolsystems von Unterscheidungen, um die Welt im Wahrnehmen, Denken und Handeln zu ordnen. Gleichzeitigt fungiert er aber auch als strukturierende Struktur, da die ihm innewohnenden Dispositionen nie einfachhin gegeben sind, sondern sich im Umgang mit der Welt ständig neu anpassen. Die Wahrnehmung – also die phänomenologische Begegnung mit der Welt – wird zunächst durch die Primärerfahrung und sekundär durch die Sozialisation strukturiert. Als Produkt einer individuellen Erfahrungsgeschichte wirkt die Wahrnehmung wie ein Filter. Die Vorausberechnungen von Chancen im sozialen Raum sowie Hoffnungen für die Zukunft richten sich nach den objektiven Erfahrungen aus, welche das Subjekt erlebt.72 Je nachdem, wie eingeschränkt oder frei sich das Subjekt in dieser Zeit vorfindet, desto enger oder weiter werden auch die eigenen Wahrnehmungsgrenzen gesteckt. Handlungsmotivationen, Freiheitsempfinden und viele weitere Merkmale der Identität werden als reale Erfahrung dem Körper individuell einverleibt. Die Sozialisation verstärkt und objektiviert diese individuellen Erfahrungen zu kollektiven, um das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Feld und damit dessen Fortbestand zu gewährleisten.73 Dazu ist es notwendig, dass die Wahrnehmung durch Reflexionsprozesse gestützt wird. Damit ist man bei einem großen Interessensgebiet von Bourdieu angelangt: der Bildung. Geht man vom Denken aus, ist der Habitus daher sowohl kreativ als auch konservativ, da er einerseits auf Änderungen in seinem Umfeld reagieren muss, gleichzeitig aber die gegebenen Symbolstrukturen bewahren will. Eine neue Information wird daher eher in ein schon bestehendes System integriert, als dass diese zur Aufhebung des Weltbildes oder Symbolsystems beitragen würde.74 Das Denken differenziert, systematisiert und vereinheitlicht daher vielfältige Eindrücke je nach Situation, um von der Komplexität zu
72 73 74
Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 147. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 106. Am Bildungswesen lässt sich diese Spannung besonders deutlich an den von außen immer aufs Neue geforderten Bildungsreformen nachvollziehen, die aufgrund des sozialen Wandels einerseits notwendig sind, andererseits intern zu Resignation oder gar Protest führen, weil der Wert der objektivierten Bildungsgüter in Frage gestellt wird. So stellen die meisten Versuche einer Aktualisierung des Bildungsangebotes lediglich kleinere strukturale Varianten des bereits bestehenden Systems dar.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
einer vereinfachten Ordnung zu kommen. Gleichzeitig etabliert es damit eine Inklusions- und Exklusionslogik75 , welche Ähnliches integriert und Abweichendes ausschließt. Die sich aus dem Wechselspiel von Wahrnehmung und Denken herausbildende Identität muss sich allerdings in der Praxis bewähren. Schließlich haben Wahrnehmen und Denken Einfluss auf das Handeln wie auch umgekehrt. Das Handlungsfeld objektiver Chancen bedingt einen praktischen Handlungsmodus (modus operandi) für ein entsprechendes Feld, das seinerseits klassenspezifisch Handlungsmöglichkeiten determiniert. Dieses kollektiv strukturierte Distinktionsprodukt (opus operatum) ist verhältnismäßig stabil und dauerhaft eingerichtet und dient dem individuellen Habitus als Vorgabe für die Anpassung. Das Handeln selbst ist jedoch wandelbar und bringt dann Korrekturen ein, wenn sich die objektiven Chancen aufgrund ökonomischer oder sozialer Bedingungen verändern; kurz: die Stabilität des Feldes auf dem Spiel steht.76 Der Habitus verfügt in diesem Sinn sowohl über Handlungsschemata (wie etwa Konventionen), die Halt bieten, ist aber dennoch zur Improvisation fähig, je drängender es die Umstände fordern. Je abrupter ein sozialer Wandel jedoch eintritt, desto träger verhalten sich Strukturen und die ihr zugehörigen Dispositionen dazu. Mit dem Begriff hysteresis77 erklärt Bourdieu die vielfach auftretenden, überkommenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster in einer bereits veränderten Umwelt. Da die Inkorporation auf Dauer angelegt ist, hinkt sie notwendigerweise den sozialen Umbrüchen immer etwas hinterher, behindert sie sogar, wie sich besonders deutlich an Geschlechterstereotypen aufzeigen lässt. Dies lässt sich bspw. daran beobachten, dass Vortragende, Politiker*innen, Lehrer*innen usw. eine gewisse Umgewöhnungsphase brauchen, ab dem Zeitpunkt, wo sie sich entschieden haben, eine geschlechterinklusive Anrede zu verwenden. Ausdruck dieser Umgewöhnungsphase sind daher die nicht selten medial zu hörenden, wiewohl befremdlichen Formulierungen wie »Liebe Bürgerinnen und Bürgerinnen!«. Zusammenfassend umgreift der Begriff Habitus die verkörperten Beziehungen zwischen sozialen Akteur*innen mit anderen in einem bestimmten Feld, die durch den Austausch von Kapital gefestigt werden. Damit ist der Habitus zugleich modus operandi – Modus des Handelns – als auch opus operatum – Produkt des Handelns, der sich je nach Raum, Zeit und personalem Umfeld reproduziert und neu adaptiert.
2.1.4. Strukturierung männlicher Herrschaft und die Wirkmächtigkeit homologer Ordnungsmuster Wie bereits am Begriff des Habitus gezeigt, ist Bourdieu darum bemüht, gängige homologe Ordnungsmuster zu dekonstruieren und sie als Produkt sozialer Vergesellschaftungsstrategien zu entlarven. Dass es vielerorts nicht möglich ist, anders als in Dichotomien zu denken, führt er eben nicht auf die Trennbarkeit objektiver Sachverhalte zurück, sondern auf die objektivierten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien, die
75 76 77
Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 102; 105; 107. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 102; 106–108. Vgl. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 127–129.
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dieser Einteilung zugrunde liegen. Häufig verdeutlicht er die Homologie von Schemata und Objektwelt anhand geschlechtlicher Differenzierungen. Mit seinem ersten kurzen Aufsatz von 1997 Die männliche Herrschaft 78 begibt er sich schließlich auf ein Gebiet, das damals vornehmlich von feministischer Forschung besetzt war. Dieser Aufsatz löste derart viel Kritik und Diskussion aus, dass er sich veranlasst sah, die Anwendung seiner Theorien auf die Geschlechterverhältnisse noch einmal klarer auszuformulieren. Ein Jahr später erscheint das Buch La domination masculine79 . Wenngleich er wie bei vielen seiner Begriffswerkzeuge keine klare Definition von männlicher Herrschaft vornimmt, kann sie doch unter folgenden Aspekten zusammengefasst werden: Bei der männlichen Herrschaft handelt es sich (1) um ein wechselseitiges Strukturverhältnis der Pole Weiblichkeit und Männlichkeit. Diese Pole werden (2) symbolisch aufgeladen, (3) inkorporiert und fungieren dadurch (4) als normative Kriterien, welche die Wahrnehmung, das Denken und Handeln sozialer Akteur*innen beeinflussen. Dem männlichen Kriterium werden (5) dabei vorwiegend positive und mit Herrschaft assoziierte Eigenschaften, dem weiblichen dagegen negative und mit Unterdrückung assoziierte Eigenschaften zugeschrieben. Die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, die auf sämtliche Lebensbereiche übertragbar sind, weil sie einen symbolischen Charakter aufweisen, positioniert soziale Akteur*innen schließlich (6) im Spannungsfeld zwischen herrschender Männlichkeit und beherrschter Weiblichkeit. Dadurch wird (7) diese Form der normativen Zuschreibung aber gleichsam auch als ein symbolischer Gewaltakt charakterisierbar, weil die mit dem Selbstempfinden einhergehende Selbstbestimmung mit der normativen geschlechtlichen Kategorisierung selten deckungsgleich ist. Umgekehrt wirken soziale Akteur*innen (8) an diesen Strukturen mit der Übernahme der ihnen symbolisch zugeordneten Dispositionen, Eigenschaften usw. aber auch mit, was später noch unter dem Begriff des Schicksalseffektes erläutert wird. Die Entstehungsbedingungen seines Buches sind nicht von ungefähr. Die zahlreichen Versuche feministischer Forschung, sich im wissenschaftlichen Diskurs Geltung zu verschaffen, waren vielfach missglückt, da sie allesamt selbst der männlichen Herrschaft zum Opfer fielen. Bourdieu hatte als angesehener Soziologie seiner Zeit einen entscheidenden Vorteil: Als Mann musste er die Geltung seiner Forschung im wissenschaftlichen Diskurs nicht wie seine Kolleg*innen vorab und vor allem in dem Ausmaß rechtfertigen. »Sein Erfolg belegt auf gewisse Weise die aufgestellte These von der männlichen Herrschaft. Natürlich spielt dabei das ›symbolische Kapital‹ des Autors eine Rolle und dessen geschlechtsunabhängig funktionierendes persönliches Talent. Aber auch seine hierarchische und männliche Position, die ihm eine besondere Aufmerksamkeit sichert. Seit fünfundzwanzig Jahren mühen sich die Frauen, von den Frauen und vom Geschlecht zu sprechen; sie tragen Artikel und Bücher zusammen, nehmen an Kolloquien teil, verfeinern ihre Konzepte, konstruieren ein Wissensgebiet, ein ›Feld‹ zweifellos, doch oft umgeben von großer Gleichgültigkeit, insbesondere von Seiten
78 79
Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft. Originaltext: Bourdieu, Pierre, La domination masculine, in: Actes de la recherche en sciences sociales 84/1 (1990) 2–31. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft.
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der Männer, die ihre unbedeutenden Vorschläge überhören oder die Schriften der Frauen nicht lesen, die alle den Stempel der Belanglosigkeit tragen.«80 Gleichzeitig stößt er mit seinem Buch auf viel Kritik, denn von feministischer Seite wird eingemahnt, er würde mit seinem Werk die bisher relevanten Artikel von Frauen nicht rezipieren81 und reproduziere mit seiner Methodologie eines Top-Down-Modells kultureller Produktion ungleiche Herrschaftsverhältnisse.82 »So unterscheidet Bourdieu beispielsweise nicht systematisch zwischen Gewalt, Macht und Herrschaft.«83 Diese Abgrenzung ist zum einen berechtigt, da Bourdieu tatsächlich wenig Referenzen zu feministischen Autor*innen herstellt bzw. in seine Theorie einbaut und zum anderen, weil diese damals Großteils ausschließlich eine Bewusstseinskonversion für die Verschiebung der diskriminierenden Verhältnisse fordern. Dieses Anliegen greift für Bourdieu zu kurz, da für seine epistemologischen Voraussetzungen neben den Wahrnehmungsschemata auch die Denk- und Handlungsschemata eine zentrale Rolle spielen.84 Er sollte damit der intersektionalen Analyse vorgreifen (vgl. Kap. 2.1.5), die in den damaligen feministischen Theorieentwürfen noch eine untergeordnete Rolle spielt. Bourdieu ist außerdem oftmals vorgeworfen worden, dass die ethnologische Herangehensweise bestehende Herrschaftssysteme eher reproduziere, als zu deren Dekonstruktion beizutragen. Für ihn ist allerdings entscheidend, dass der Bruch mit den unbewussten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata nur durch eine relationale Betrachtungsweise funktionieren kann, die am Ungewohnten den Anstoß für eine Reflexion des Gewohnten nimmt. Nur mittels »eines ganz besonderen Gebrauchs der Ethnologie«85 hält er es für möglich, die Effekte symbolischer Gewalt (s.u.) aufdecken zu können. Den »Umweg über eine fremdartige Tradition«86 rechtfertigt er mit dem hierdurch ermöglichten Entfremdungseffekt. Sein Vergleich der kabylischen Gesellschaft mit der französischen des 20. Jh. zielt auf eine Objektivierung der verschleierten Herrschaftsverhältnisse. Ein weiterer Vorwurf lautet, dass er den weiblichen Geschlechterhabitus als unbestritten von symbolischer Gewalt durchdrungen, damit klassenübergreifend konsistent sehe und weibliche Dispositionen nur Frauen zuschreibe.87 Dieser Vorwurf scheint aber unberechtigt, da bereits seine Beschreibung
80 81 82 83
84 85 86 87
Perrot, Michelle u.a., Dokumentation. Kontroversen über das Buch »Die männliche Herrschaft« von Pierre Bourdieu, in: Feministische Studien 20 (November)/2 (2002) 281–300, hier: 282. Vgl. McCall, Leslie, Does Gender Fit? Bourdieu, Feminism, and Conceptions of Social Order, in: Theory and Society 21/6 (1992) 837–867, hier: 851. Vgl. Dillon, Michele, Pierre Bourdieu, Religion, and Cultural Production, in : Cultural Studies ↔ Critical Methodologies 1/4 (2001) 411–429, hier : 412. Moebius, Stephan, Pierre Bourdieu. Zur Kultursoziologie und Kritik der symbolischen Gewalt, in: Stephan Moebius – Dirk Quadflieg (Hgg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Bd. 64, Wiesbaden 2011, 55–69, hier: 65. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 77–78. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 10. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 11. Vgl. McCall, Does Gender Fit?, 845.
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eines »Geschlechterhabitus«88 nicht einfach deckungsgleich mit dem biologischen Geschlecht der sozialen Akteur*innen ist. Geschlechterverhältnisse sind einer sozialen Gruppe sowohl als Ganzes wie jeder Einzelperson derart einverleibt, dass Bourdieu von einer »sexualisierte[n] Kosmologie«89 spricht. Dementsprechend gibt es nicht sexualisierte Aspekte des Habitus, sondern aus den Geschlechterverhältnissen heraus konstruiert sich ein Geschlechterhabitus und ist damit Produkt der »Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse«90 . Wiewohl es auch Kritikpunkte an diesem Konzept gibt, weil – wie vorhin erwähnt – Bourdieu nicht klar Herrschaft, Macht und Gewalt voneinander unterscheidet und daher manchmal hinterfragt wird, wie physische Gewalt in das Konzept symbolischer Gewalt einbezogen wird, sollen hier die herrschaftsanalytischen Potentiale des Konzepts genutzt werden, die auch seitens kritischer Stimmen geschätzt werden. Seine Replik zur Kritik betont daher als zentrales Anliegen, »die spezifisch symbolische Dimension der männlichen Herrschaft zu erfassen«91 , da er »in der männlichen Herrschaft und der Art und Weise, wie sie aufgezwungen und erduldet wird, das Beispiel schlechthin für diese paradoxe Unterwerfung«92 sieht, die er symbolische Gewalt nennt. Im Konzept der symbolischen Gewalt »entwirft Bourdieu eine Antwort auf die Frage, wieso unerträgliche soziale Existenzbedingungen von denen, die ihnen unterliegen, oft als akzeptabel, natürlich und selbstverständlich erlebt werden«93 . Da zur Zeit seines Schaffens verstärkt Frauen davon betroffen waren, werden sie auch häufiger für Beispiele zur symbolischen Gewalt herangezogen, was aber nicht bedeuten muss, dass nur sie davon betroffen wären. Symbolische Gewalt wirkt »vornehmlich durch die Sprache, Kommunikationsbeziehungen sowie durch Denk- und Wahrnehmungsschemata«94 . Ausgeübt und erfahrbar wird sie durch menschliche Interaktion, die einen gewissen Ritualisierungsgrad aufweist wie etwa Gesten oder Ausdrücke. Ritualisierte Praktiken tragen dazu bei, dass bestehende Machtverhältnisse verschleiert und naturalisiert werden, denn welche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata als angemessen, richtig und gut bewertet werden, bestimmen die Herrschenden. Gleichzeitig erfahren sich die Beherrschten durch diese Schemata von Vornherein als benachteiligt, weil sie der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaft dient. Weil auch die Beherrschten nur über dieselben Schemata verfügen, und weil diese sich gesellschaftlich durchsetzen und Teil der Bildung sind, sind sie mehr oder weniger bewusst gezwungen, diese auch auf sich selbst anzuwenden (s.u. die Erläuterungen zum Schicksalseffekt). Alles, was aus dem bestehenden Herrschaftsverhältnis fällt, wird daher als abnormal qualifiziert, selbst dann, wenn es die eigene Person betrifft. In zahlreichen Schriften macht er den Geschlechterhabitus vor allem an den inkorporierten Körper- und Geisteshaltungen sowie der geschlechtlichen 88
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Engler, Steffani, Habitus und sozialer Raum. Zur Nutzung der Konzepte Pierre Bourdieus in der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker – Beate Kortendiek (Hgg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 13, Wiesbaden 2010, 250–261, hier: 251. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 18. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 45. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 10. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 8. Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 231. Moebius, Pierre Bourdieu, 60.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
Arbeitsteilung fest. Seine graphische Veranschaulichung enthält überdies viele weitere Komponenten wie etwa den Zyklus des Arbeitsjahres, Metaphern usw. Zur Veranschaulichung wurden diese drei Bereiche auf Körper- und Geisteshaltung, Symbolsystem und Arbeitsteilung reduziert. Bourdieu weist männliche Herrschaft in nahezu allen Lebensbereichen auf. Die Einteilung der Welt nach homologen Oppositionspaaren entspricht dabei einer grundsätzlich positiven Bewertung des Männlichen und mit ihm Assoziierten gegenüber einer meist negativen Bewertung des Weiblichen. In dieser breiten Zuschreibung wird Geschlecht zu einer symbolisch objektivierten Ordnungskategorie, nach welcher bspw. Arbeitsaufgaben oder Körper- und Geisteshaltungen oft unbewusst eingeteilt werden. Auf wundersame Weise bzw. intuitiv können daher weibliche Eigenschaften in ein ganzes Symbolsystem eingeordnet werden. Attribute wie Stärke und Aktivität werden dem Männlichen, Schwäche und Passivität eher dem Weiblichen zugeschrieben. Alles scheint sich wie von selbst diesem System zu fügen, einer Logik oder Kosmologie zu gehorchen, die viele weitere Bereiche umfasst. Ein erhobener Blick wird von Männern erwartet, während es sich für Frauen in vielen Kulturen ziemt, den Blick zu senken. Auch in der Arbeitsteilung finden sich Oppositionspaare wie etwa die Frage nach aufregender, diskontinuierlicher Arbeit in der Öffentlichkeit und langwieriger, repetitiver Arbeit im privaten Bereich.
Abbildung 3: Homologe Systematisierung männlicher Herrschaft
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Die jeweils ausgewählten Bereiche der Körper- und Geisteshaltung, des Symbolsystems und der Arbeitsteilung geben einen Einblick in die jeweiligen Wirkungsweisen männlicher Herrschaft. Dabei ist die homologe Strukturierung all dieser Bereiche auffällig, die jeden Bereich des Habitus – also Wahrnehmen, Denken und Handeln – betreffen. Die hierarchische Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche bedingt zudem eine moralische Trennung. Dabei wird gekonnt ignoriert, dass es empirisch nachweisbar Frauen gibt, die größer und stärker als manche Männer sind, oder außerhäusliche Berufe ausüben. Anstatt diese Vielfalt oder Ambiguität geschlechtlicher Einteilungen jedoch in die praktische Logik zu integrieren, werden Abweichungen von der binären Ordnung entweder als Vermännlichung oder umgekehrt als Verweiblichung gebrandmarkt. Zwischenstufen erhalten keinen Eigenwert. Ein augenfälliges Beispiel hierfür ist die in Kap. 1.1.2.3 bereits beschriebene binärgeschlechtliche Einteilung der Genitalentwicklung. Mögliche Varianten intergeschlechtlicher Personen bekommen keinen eigenen Namen, sondern werden als entweder virilisiert oder feminisiert kategorisiert. Wie aber erhält eine solche Einteilung und Verfestigung eines Geschlechterhabitus ihre Gültigkeit? Bourdieu beschreibt in diesem Zusammenhang mehrere Effekte, warum männliche Herrschaft sich als so stabil erweist und erläutert so den Zusammenhang von objektiven Strukturen und individuellen Dispositionen: a) Der Geschlechterhabitus ist das Produkt von Inkorporation: Wahrnehmung, Denken und Handeln werden durch die männliche Herrschaft beeinflusst, enden und vollenden sich »in einer tiefgreifenden und dauerhaften Transformation der Körper (und des Geistes), d.h. in und durch eine praktische Konstruktionsarbeit, die eine differenzierte Definition der legitimen, vor allem sexuellen Gebrauchsweisen des Körpers aufzwingt«95 . Bourdieu zeigt anhand einer Reihe von Metaphern und Mythen der Kabylen eben diese Ordnungsschemata auf, die unvermeidlich zu einer Inklusionsund Exklusionslogik führen, welche in der »Hervorhebung bestimmter Unterschiede und Unterschlagung bestimmter Ähnlichkeiten«96 besteht. Dies belegt er weiters historisch mit der steigenden Differenzierung der äußeren Geschlechtsorgane97 , wie es in dieser Arbeit bereits in Kap. 1.3 schon ausführlich geschildert wurde, und der Darstellung der Sexualbeziehung als Herrschaftsverhältnis.98 b) Der Geschlechterhabitus entsteht infolge der Verkennung der »geschichtlichen Verewigungsarbeit«99 : Die Inkorporation geschieht unbewusst zunächst durch die Primärerfahrungen im Kindesalter und später durch die Sozialisation. Dadurch kommt es zu einer Verkehrung von Ursache und Wirkung: Biologische Unterschiede werden durch die Perspektive der männlichen Herrschaft als Grundlage für soziale Unterschiede begriffen und nicht umgekehrt.100 Nachdem die Geschlechtertrennung
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Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 45. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 29. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 29–31. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 40–41. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 144. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 47.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
in vielen sozialen Gruppen als grundlegendes Ordnungsschema fungiert, erscheinen die homologen Einteilungen nicht als Produkt der Geschichte oder Kultur, sondern der Natur. Durch diese Verewigungsarbeit werden willkürliche Einteilungen als selbstverständlich, alltäglich und natürlich wahrgenommen. Besonders am Beispiel der geschlechtlichen Arbeitsteilung macht Bourdieu deutlich, dass es sich bei der Einteilung in weibliche und männliche Tätigkeitsfelder um willkürliche Zuweisungen handelt, die sogar Raum- und Zeitstrukturierung umfassen.101 c) Die männliche Herrschaft übt symbolische Gewalt 102 auf nicht-männliche Habitus’ aus und führt so zum »Schicksalseffekt«103 : »Die Beherrschten wenden vom Standpunkt der Herrschenden aus konstruierte Kategorien auf die Herrschaftsverhältnisse an und lassen diese damit als natürlich erscheinen. Das kann zu einer Art systematischer Selbstabwertung, ja Selbstentwürdigung führen.«104 Dieser Effekt bedeutet also nichts anderes, als dass die Beherrschten in ihrer Eigenbewertung von den herrschenden Strukturen abhängig sind. So realisiert sich die symbolische Gewalt »nur durch einen praktischen Akt des Erkennens und Verkennens, der sich diesseits von Bewußtsein und Willen vollzieht und der all den Bekundungen, Befehlen, Einflüsterungen, Verlockungen, Drohungen, Anordnungen oder Ermahnungen ihre ›hypnotische Macht‹ verleiht.«105 Symbolische Gewalt ist dafür verantwortlich, dass sich Frauen tendenziell der verblendeten Liebe zum sozialen Schicksal (amor fati) unterwerfen, anstatt dagegen aufzubegehren. Als Beispiel lässt sich anführen, dass ein spezifisch femininer Kleidungsstil, so ästhetisch dieser auch sein mag, in vielen Fällen Bewegungseinschränkungen von Frauen zur Folge hat. Man denke etwa an hohe Absätze, tiefe Ausschnitte und knappe Röcke, die es einer Frau unmöglich machen, denselben Raum wie Männer durch weit ausladende Bewegungen und Gestiken einzunehmen. So sind Frauen laut Bourdieu auch mehr oder weniger freiwillige Komplizinnen dieser Herrschaft, da sie eine höhere soziale Position nur durch die gewährte Anerkennung erlangen, die ihrerseits von den Bewertungskategorien der männlichen Herrschaft abhängig ist. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Frauen können das Gefühl haben, erst dann in einem männerdominierten Umfeld akzeptiert zu werden, wenn sie sich gewissen Erwartungen in Bezug auf ihr äußeres Erscheinungsbild fügen.106 Ebenso verhält es sich mit nicht-heterosexuellen Identitäten, welche durch die symbolische Gewalt und dem sozialen Druck zur Anpassung Scham über die eigene sexuelle Orientierung empfinden, sich deshalb zurückhalten und nach Mög-
101 Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 78–90. 102 Ähnlich dem Begriff des symbolischen Kapitals lässt sich vermuten, wenn auch nicht eindeutig feststellen, dass Bourdieu auch diesen als den alle Gewaltformen umfassenden Begriff wählt. Zur Problematik der hierfür verwendeten Terminologie vgl. Unterthurner, Gerhard, Symbolische Gewalt nach Bourdieu. Phänomenologische Bemerkungen, in: Michael Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt, Paderborn 2014, 175–203. 103 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 202. 104 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 65. 105 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 77–78. 106 Vgl. dazu beispielhaft das Werk: Gaugele, Elke (Hg.), Schurz und Schürze, Köln 2002. Galt das Tragen einer Haushaltsschürze bis zur Mitte der 1960er Jahre noch als Statussymbol, wurde es durch feministische Bewegungen zunehmend zum sozialen Stigma.
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lichkeiten suchen, im bestehenden System dennoch anerkannt zu werden. Daher interpretiert Bourdieu das Verlangen nach dem Recht auf einen Ehevertrag zwischen Homosexuellen als »›Rückkehr in geordnete Bahnen‹«107 . d) Die Ökonomie des symbolischen Tausches garantiert den Fortbestand der Verkennungseffekte und Schicksalseffekte: Da das Männliche das Prädikat der Ehre enthält und alles davon Abweichende als defizitär wahrgenommen wird, erfolgt auch soziale Anerkennung über das Prinzip des Männlichen und all dem, was mit ihm assoziiert ist. Assoziationen sind jedoch keinesfalls selbstverständlich, sondern weisen wie jedes Zeichen eine hohe Arbitrarität auf. Männlichkeit erfährt sich so als ständig bedroht, weil die dafür geltenden Kriterien je nach Zeit, Kontext, Kultur usw. variieren. Das männliche Imponiergehabe, zu dem sich ein Mann aufgrund der Prekarität seiner immer wieder unter Beweis zu stellenden Männlichkeit genötigt sieht, ist daher Folge der Angst vor seiner Verweiblichung.108 Je stärker Männlichkeit bedroht wird, desto vehementer wird also ein archaisches Symbolsystem verteidigt, das Männlichkeit mit einem Adelstitel gleichsetzt. Zusammengefasst bedeutet dies für die Analyse geschlechtsbezogener Benachteiligungen in einem bestimmten sozialen Feld, dass zum Wandel des Geschlechterhabitus mehr gehört als nur eine Bewusstseinskonversion. Eine Analyse darüber, welche geschlechtlichen Identitäten und Orientierungen anerkannt und welche diskriminiert werden, muss sich daher zunächst der Sozialstruktur des jeweiligen Feldes und der Effekte von Inkorporation, Verkennung und symbolischer Gewalt bewusst sein. Daraus ergeben sich methodologische Anhaltspunkte für die weiteren Analysen.
2.1.5. Methodologische Anhaltspunkte für die Analyse eines Geschlechterhabitus Das Werk Die Männliche Herrschaft stellt ein spezifisches Anwendungsfeld des Habituskonzeptes dar, wenngleich es hier wegen des übergreifenden Charakters dieser Herrschaft zu keiner einzelnen Feldanalyse kommt. Der Vorteil davon ist, dass die Strukturen der männlichen Herrschaft und ihre Wirkungsweisen allgemein behandelt und so nachfolgend für einen feldspezifische Analyse verwendet werden können. Dies freilich nur, wenn die Strukturkonfigurationen des jeweiligen Feldes und jene der männlichen Herrschaft übereinandergelegt werden. Welche methodischen und kriteriologischen Aspekte lassen sich also aus der Männlichen Herrschaft für die in dieser Arbeit angestrebte Analyse gewinnen? Interessant an dem Buch ist neben dieser zuvor genannten, scharfen Beobachtung die von ihm eingeführte epistemologische Methodik: Zunächst benennt er im ersten Kapitel Ein vergrößertes Bild aus phänomenologischer Perspektive die Erfahrungen männlicher Gewalt gegen Frauen, sein zweites Kapitel Die Anamnese der verborgenen Konstanten ordnet diese Eindrücke systematisch ein, um im dritten Kapitel Konstanz
107 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 207. 108 Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 90–96.
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und Wandel praxeologische Überlegungen anzuschließen.109 In einer späteren Überarbeitung schließt er Einige Fragen zur Schwulen- und Lesbenbewegung als Anhang mit ein. Unter dem vergrößerten Bild versteht Bourdieu die systematisierte Zusammenschau seine detailreichen Betrachtungen und Aufzeichnungen, welche die spezifischen Ausdrucksformen von männlicher Herrschaft in unterschiedlichen Kulturen beschreibt. Zunächst führt er in seine Inkorporationsthese, das Konzept der symbolischen Gewalt und in die Ökonomie der symbolischen Güter ein, bevor er diese dann in den Folgekapiteln mit Beispielen unterlegt. Als Anamnese bezeichnet er mit Sigmund Freud im Anschluss an Platon die »Vertrautheit, die aus jener Wiederaneignung einer zugleich immer schon besessenen und verlorengegangenen Erkenntnis entsteht«110 . Wie bereits geschildert, bedient er sich dabei der Ethnologie, um einen gewissen Verfremdungseffekt zu erzielen und die Objektivierung der Sachverhalte zu begünstigen. Auf dieser Basis entwickelt er schrittweise ein Verständnis des Geschlechterhabitus und seiner Wirkungsweisen. Von den drastisch inhaltlichen Unterschieden zur kabylischen Kultur lässt er sich dabei nicht beirren. Im dritten Kapitel macht er sich an die historische Aufarbeitung des sozialen Wandels hinsichtlich des Geschlechts und analysiert einige Veränderungen der Geschlechterverhältnisse im Frankreich des 20. Jh. (erweiterter Zugang zu Bildung und erwerbstätiger Arbeit, Distanz zu häuslichen Tätigkeiten und der Reproduktionsfunktion, die damit in Einklang stehenden steigenden Scheidungs- und sinkenden Heiratsraten usw.). Bourdieu konstatiert hier trotz der »sichtbaren Veränderungen der Lage […] das an den relativen Positionen Unveränderte«111 : Frauen bleiben trotz des gesellschaftlichen Wandelns und des erweiterten Zugangs zu Bildung und Erwerbsarbeit Männern untergeordnet. Letzteren Schluss kann er nur ziehen, weil seine Methode auch eine Strukturanalyse der Ökonomie der symbolischen Güter und Reproduktionsstrategien beinhaltet. Das Herrschaftsverhältnis besteht demzufolge weiterhin, hat sich nur strukturell verschoben und differenziert. Gegen Ende seines Werkes bindet er die Analysen wieder an die systematischen Grundlagen des ersten Kapitels zurück. Indem er die Ökonomie der symbolischen Güter und Machstrukturen in seine Analyse einbindet, nähert er sich einer Methodologie an, die große Ähnlichkeiten mit der seit Anfang des 21. Jh. aufkommenden Intersektionalitätsforschung aufweist.112 Im Zuge dessen wendet sich Bourdieu kritisch der Philosophin Judith Butler zu, der er vorwirft, sie lege dem Geschlecht lediglich ein Rollenverständnis zu Grunde. In Abgrenzung zum Soziologen Erving Goffman hält er fest, dass das vergeschlechtlichte Unbewusste »hochdifferenzierte geschichtli-
109 Diese deuten sich bereits in der Einleitung an: »Diese Revolution der Erkenntnis bliebe nicht ohne Folgen für die Praxis und insbesondere für die Entwicklung von Strategien, die auf die Veränderung des aktuellen Stands des materiellen und symbolischen Kräfteverhältnisses zwischen den Geschlechtern zielen.« Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 12–13. 110 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 98. 111 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 157. 112 Vgl. Lenz, Ilse, Intersektionalität. Zum Wechselverhältnis von Geschlecht und sozialer Ungleichheit, in: Ruth Becker – Beate Kortendiek (Hgg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2010, 158–165, hier: 159.
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che Strukturen«113 aufweist, die nicht bloß als fundamentale Strukturalternativen des geschlechtlich Unbewussten vorliegen. Immer wieder kehrt er dabei auf die homologen Ordnungsschemata zurück, die seiner Meinung nach keine isolierte Betrachtung zulassen, sondern ein relationales Denken fordern.114 Die Anamnese, historische Aufarbeitung und sein relationales bzw. intersektionales Denken führen schließlich zu praxeologischen Vorschlägen für die Subversion männlicher Herrschaft, die jedoch nicht unkritisch zu sehen sind. »Was den sozialen Wandel angeht, so wird Bourdieu von unterschiedlichen Seiten vorgeworfen, diesen nicht konsequent theoretisieren zu können.«115 So stellt sich heraus, dass Bourdieu ein ambivalentes Verhältnis zur symbolischen Ökonomie unterhält. Einerseits scheint sie wegen ihrer Verwiesenheit auf symbolische Anerkennungsakte die anfälligste für Verschleierung, andererseits verweist der Sozialphilosoph immer wieder darauf, dass nur die Logik »vollkommene[r] Reziprozität«116 bzw. reiner Liebe zum Prinzip der Emanzipation von der männlichen Herrschaft erhoben werden kann. Mit der Umwälzung von Herrschaftsverhältnissen verbinde sich also stets die Gefahr, die alten Mächte durch neue zu ersetzen.117 Eine positive Bewertung von Macht bei Bourdieu müsste ergänzt werden.
2.1.6. Zusammenfassung: Potentiale einer relationalen Betrachtungsweise In diesem Kapitel wurden die Grundlagen von Bourdieus Habituskonzept erläutert. Die Zusammenhänge zwischen Feld, Kapital und Habitus haben offengelegt, dass die Antinomie zwischen Individuum und Gesellschaft zugunsten einer relationalen Betrachtungsweise aufgegeben werden muss. Als Austragungsort der Kämpfe um soziale Anerkennung fungiert das Feld als Begrenzungsraum für die zugehörigen sozialen Akteur*innen. Die im Feld verwendeten Kapitalien entscheiden je nach Quantität, Qualität und strategischer Kombination über die je eigene Positionalität und den je eigenen Lebensstil, die beide jedoch immer kollektiv rückgebunden bleiben. Diese Verwobenheit von Struktur und Praxis zeigt Bourdieu am Habitus auf, dessen Bestimmung aus der relationalen Betrachtung homologer Oppositionen hervorgeht: Dieses von der Praxis strukturierte und die Praxis strukturierende Netzwerk von Dispositionen gestaltet sich je nach sozialem Feld unterschiedlich aus. Als Produkt einer geschichtlichen Verewigungsarbeit ist der Habitus den sozialen Akteur*innen zum Großteil unbewusst einverleibt und trägt so zum Erhalt und zur Reproduktion des Feldes bei. Je größer die Differenzen der individuellen Dispositionen im Vergleich zu den kollektiven (also feldspezifischen) Dispositionen sind, desto wahrscheinlicher erfolgt ein Bruch zwischen sozialen Akteur*innen mit ihrem Feld. Aktiv äußert sich dies in der Anpassung eines 113 114 115 116
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Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 180. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 184. Moebius, Pierre Bourdieu, 66. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 192. Zum Anerkennungsbegriff bei Bourdieu vgl. Balzer, Nicole, Die Anerkennung der Macht. Zum Zusammenhang von Verkennung und Anerkennung (Pierre Bourdieu), in: Dies. (Hg.), Spuren der Anerkennung, Wiesbaden 2014, 533–572. Vgl. Kremer, Kathrin, Pierre Bourdieus männliche Herrschaft in der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Michael Frey – Marianne Kriszio – Gabriele Jähnert (Hgg.), Männlichkeiten. Kontinuität und Umbruch (Bulletin Texte 41), Berlin 2014, 27–45, hier: 39–40.
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Lebensstils an die kollektiven Dispositionen oder dem Wechsel von einem Feld in ein anderes, passiv im Ausschluss von symbolischer Gewalt gegenüber sozialen Akteur*innen, die nicht dazupassen. Diese grundlegenden Relationen werden in Bourdieus Werk Die männliche Herrschaft exemplarisch anhand der binären Einteilung der Geschlechter dargestellt. Der in diesem Zusammenhang sich herausbildende Geschlechterhabitus wirkt sich in vielfältiger Weise auf die Gestaltung sozialen Lebens aus. Er weist ebenso, wie die allgemeine Bestimmung des Habitus selbst nahelegt, Strukturen der Inkorporation, der Verkennung und der symbolischen Gewalt auf und beeinflusst Körper- und Geisteshaltungen, Symbolsysteme, Arbeitsteilungen und dergleichen mehr. Innerhalb der Ökonomie des symbolischen Tausches nimmt der Geschlechterhabitus daher eine zentrale Stellung ein und mit ihm die verbundenen Kapitalien. Als viele Felder übergreifender Habitus dominiert die Haltung des Ausschlusses über die Möglichkeit zur Anpassung des Lebensstils, was die Lage für Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität und nichtheterosexueller Orientierung in vielen Feldern problematisch werden lässt. Um die konkrete Machteinwirkung des Geschlechterhabitus im römisch-katholischen Feld untersuchen zu können, bietet sich im Anschluss an Bourdieu eine Methodologie an, welche zunächst durch eine fachfremde Interpretation des Feldes verschleierte Interessen und Macht aufdeckt (vgl. Kap. 2.2 Anamnese), im Anschluss die historische Entwicklung des Geschlechterhabitus aufzeigt (vgl. Kap. 2.3 historische Aufarbeitung) und die Auswirkungen der auf symbolischer Gewalt basierenden Geschlechterordnung multiperspektivisch (vgl. Kap. 2.4 intersektionale Analyse) untersucht.
2.2. Anamnese: Charakterisierung des religiösen Feldes Dieses Kapitel legt eine systematische Darstellung von Bourdieus Religionssoziologie dar, die im theologischen Bereich noch weitgehend unerforscht ist. Auf diese Weise sollen die oftmals ausgeblendeten Zusammenhänge symbolischer Macht mit der kirchlichen Struktur und dem Engagement von Gläubigen offen und konstruktiv zur Sprache gebracht werden. Da Bourdieus religionssoziologische Studien gewissermaßen den Vorläufer für sein im Anschluss daran entwickeltes Habituskonzept bilden, fehlt manchen religionssoziologischen Untersuchungen die konsequente Rückbindung an sein Habituskonzept. In der Rekapitulierung seines Ansatzes soll diese Forschungslücke ebenfalls aufgegriffen werden. Die Vorbehalte der katholischen Theologie gegen religionssoziologische Verkürzungen des Religiösen, die angesichts des erheblichen Konfliktpotentials einer solchen Analyse unweigerlich auftreten, werden in einer Kritik an Bourdieu gleich zu Beginn aufgegriffen. Zuerst werden aber die bisherige Rezeption von Bourdieu in der Theologie sowie das Desiderat einer systematischen Integration seiner Erkenntnisse benannt. Sodann folgt eine Beschreibung der Struktur des religiösen Feldes, der darin agierenden sozialen Akteur*innen und des darin wirksamen religiösen Kapitals. Ziel ist es, durch die Verfremdung des Forschungsgegenstandes mittels einer sozialphilosophischen Annäherung mit theologischen und kirchenpolitischen Selbstverständlichkeiten zu brechen, um neue Perspektiven eröffnen zu können. Den Abschluss bildet eine Übersicht über das religiöse Kapital, welches den kriteriologischen
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Lebensstils an die kollektiven Dispositionen oder dem Wechsel von einem Feld in ein anderes, passiv im Ausschluss von symbolischer Gewalt gegenüber sozialen Akteur*innen, die nicht dazupassen. Diese grundlegenden Relationen werden in Bourdieus Werk Die männliche Herrschaft exemplarisch anhand der binären Einteilung der Geschlechter dargestellt. Der in diesem Zusammenhang sich herausbildende Geschlechterhabitus wirkt sich in vielfältiger Weise auf die Gestaltung sozialen Lebens aus. Er weist ebenso, wie die allgemeine Bestimmung des Habitus selbst nahelegt, Strukturen der Inkorporation, der Verkennung und der symbolischen Gewalt auf und beeinflusst Körper- und Geisteshaltungen, Symbolsysteme, Arbeitsteilungen und dergleichen mehr. Innerhalb der Ökonomie des symbolischen Tausches nimmt der Geschlechterhabitus daher eine zentrale Stellung ein und mit ihm die verbundenen Kapitalien. Als viele Felder übergreifender Habitus dominiert die Haltung des Ausschlusses über die Möglichkeit zur Anpassung des Lebensstils, was die Lage für Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität und nichtheterosexueller Orientierung in vielen Feldern problematisch werden lässt. Um die konkrete Machteinwirkung des Geschlechterhabitus im römisch-katholischen Feld untersuchen zu können, bietet sich im Anschluss an Bourdieu eine Methodologie an, welche zunächst durch eine fachfremde Interpretation des Feldes verschleierte Interessen und Macht aufdeckt (vgl. Kap. 2.2 Anamnese), im Anschluss die historische Entwicklung des Geschlechterhabitus aufzeigt (vgl. Kap. 2.3 historische Aufarbeitung) und die Auswirkungen der auf symbolischer Gewalt basierenden Geschlechterordnung multiperspektivisch (vgl. Kap. 2.4 intersektionale Analyse) untersucht.
2.2. Anamnese: Charakterisierung des religiösen Feldes Dieses Kapitel legt eine systematische Darstellung von Bourdieus Religionssoziologie dar, die im theologischen Bereich noch weitgehend unerforscht ist. Auf diese Weise sollen die oftmals ausgeblendeten Zusammenhänge symbolischer Macht mit der kirchlichen Struktur und dem Engagement von Gläubigen offen und konstruktiv zur Sprache gebracht werden. Da Bourdieus religionssoziologische Studien gewissermaßen den Vorläufer für sein im Anschluss daran entwickeltes Habituskonzept bilden, fehlt manchen religionssoziologischen Untersuchungen die konsequente Rückbindung an sein Habituskonzept. In der Rekapitulierung seines Ansatzes soll diese Forschungslücke ebenfalls aufgegriffen werden. Die Vorbehalte der katholischen Theologie gegen religionssoziologische Verkürzungen des Religiösen, die angesichts des erheblichen Konfliktpotentials einer solchen Analyse unweigerlich auftreten, werden in einer Kritik an Bourdieu gleich zu Beginn aufgegriffen. Zuerst werden aber die bisherige Rezeption von Bourdieu in der Theologie sowie das Desiderat einer systematischen Integration seiner Erkenntnisse benannt. Sodann folgt eine Beschreibung der Struktur des religiösen Feldes, der darin agierenden sozialen Akteur*innen und des darin wirksamen religiösen Kapitals. Ziel ist es, durch die Verfremdung des Forschungsgegenstandes mittels einer sozialphilosophischen Annäherung mit theologischen und kirchenpolitischen Selbstverständlichkeiten zu brechen, um neue Perspektiven eröffnen zu können. Den Abschluss bildet eine Übersicht über das religiöse Kapital, welches den kriteriologischen
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Rahmen für die Analyse gewährter und verwehrter sozialer Anerkennung bildet (vgl. Kap. 2.3), speziell auch im Hinblick auf intergeschlechtliche Personen (vgl. Kap. 2.4).
2.2.1. Bourdieus Religionssoziologie und deren Rezeption in der Theologie Bourdieu widmet seinem Werk zahlreiche Feldforschungen in den Bereichen von Arbeit, Bildung, Literatur, Kunst usw. Gerade die Schriften zur Religion werden oft als ein Randgebiet seiner Forschung dargestellt, was auf die späte Übersetzung seiner Werke zu Religion in andere Sprachen,118 aber auch auf die zu seinen Hauptwerken vergleichsweise unterentwickelte Habitus- und Feldtheorie zurückzuführen ist.119 Seine religionssoziologischen Anfänge lassen aber umgekehrt seine methodischen Entwicklungsschritte nachvollziehen: »[…] [T]he sociology of religion occupies a marginal space within the Bourdieu corpus. Yet certain of his most important concepts come out of the social sciences of religion.«120 Trotz seiner großen Reichweite in den Geistes- und Sozialwissenschaften, steht eine ernsthafte Rezeption Bourdieus in der Theologie noch überwiegend aus.121 Dadurch erhält man durch die einzelnen und verteilten Beiträge kein Gesamtbild zum religiösen Feld, wie es andere kompakte Werke von ihm zu anderen Feldern leisten. Bourdieus Blick auf Religion ist maßgeblich von Max Weber geprägt, mit dessen Herrschafts- und Religionssoziologie er sich erstmals in den 1960ern beschäftigt.122 In diesem Zusammenhang entstehen drei Aufsätze: Une interprétation de la théorie de la religion selon Max Weber 123 , Genèse et structure du champ religieux 124 und ein Beitrag zur Auflösung des Religiösen in Choses dites125 , in denen Bourdieu seine Eindrücke von Max Weber verarbeitet und weiterführt. Posthum erscheint außerdem die Werkausgabe Religion126 , welche die bekanntesten seiner religionssoziologischen Studien in deutscher Übersetzung versammelt.
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Vgl. Reuter, Astrid, Praxeologie. Struktur und Handeln (Pierre Bourdieu), in: Detlef Pollack – Volkhard Krech – Olaf Müller (Hgg.), Handbuch Religionssoziologie (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Berlin 2018, 171–202, hier: 176. 119 Vgl. Rey, Terry, Pierre Bourdieu and the Study of Religion. Recent Developments, Directions, and Departures, in: Thomas Medvetz – Jeffrey J. Sallaz (Hgg.), The Oxford Handbook of Pierre Bourdieu, New York 2018, 299–326, hier: 300. 120 Dianteill, Erwan, Pierre Bourdieu and the Sociology of Religion. A Central and Peripheral Concern, in: Theory and Society 32/5-6 (2003) 529–549, hier: 529. 121 »Compared with Bourdieu’s general theoretical writings and his studies of culture, his work on religion has not been widely applied.« Verter, Bradford, Spiritual Capital. Theorizing Religion with Bourdieu against Bourdieu, in: Sociological Theory 21/2 (2003) 150–174, hier: 155. 122 Vgl. Reuter, Praxeologie, 175. 123 Bourdieu, Pierre, Une interprétation de la théorie de la religion selon Max Weber, in : European Journal of Sociology 12/1 (1971) 3–21 [dt. Titel : Eine Interpretation der Religion nach Max Weber]. 124 Bourdieu, Genèse et structure du champ religieux [dt. Titel: Genese und Struktur des religiösen Feldes]. 125 Bourdieu, Pierre, Choses dites (Le sens commun), Paris 1987 [dt. Titel: Rede und Antwort]. 126 Bourdieu, Pierre, Religion (übers. v. Pfeuffer Andreas – Hella Beister – Bernd Schwibs) (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 2011.
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Weiteren Einfluss erhält er durch Karl Marx und Émile Durkheim, wobei Bourdieu meist nur Durkheim selbst explizit als Referenzquelle ausweist.127 Er benutzt dessen Theorie des symbolischen Interaktionismus, um Webers Analysen zu reformulieren: Bourdieu kennt nicht länger starre Idealtypen von sozialen Akteur*innen des religiösen Feldes, sondern stellt ihren Habitus in Abhängigkeit von der Struktur des Feldes dar – in dieser Phase seines Schaffens allerdings noch nicht in konsequenter Verwendung seiner später entwickelten Begrifflichkeiten.128 Nachdem Bourdieu gezeigt hat, dass die Interessen des religiösen Feldes auch immer mit den sozialen Klassen zusammenhängen,129 weitet er die funktionale Bestimmung sozialer Interaktion des religiösen Feldes bei Durkheim auf politische Funktionen aus. So erläutert er die Koinzidenz bzw. Homologie zwischen den sozialen und mentalen Strukturen, die sich in das Symbolsystem der Religion einschreibt.130 Von Marx übernimmt Bourdieu die starke Betonung der Klasseninteressen, was unter anderem die mehr als zurückhaltende Rezeption Bourdieus in der Theologie erklären mag. Das Hauptaugenmerk der religionssoziologischen Arbeit von Bourdieu liegt auf dem französischen Katholizismus am Ende des 20. Jh.131 An vielen Stellen betont er ein rein funktionales Religionsverständnis: »Die Theodizeen sind immer auch Soziodizeen.«132 Die zentrale Aufgabe der Priesterschaft gegenüber den genuin religiösen Interessen der Laien sieht er in der »Rechtfertigung für ihre Existenz in ihrer besonderen Form, also in einer bestimmten sozialen Position«133 . Dies mag einerseits der Fortführung von Webers Religionssoziologie geschuldet sein134 , andererseits lautet ein vielgenannter Vorwurf, dass der Atheist Bourdieu – aufgewachsen im antiklerikalen Umfeld Frankreichs – aufgrund seines allgemein religionskritischen Zugangs, innere Dimensionen von Religion vernachlässige, wie etwa die Differenzierungen von Denominationen, unterschiedliche Arten von religiösen Führungsstilen, oder die Mitwirkung von Laien an der Produktion von symbolischem Kapital.135 Überdies versteht sich Bourdieu selbst nicht explizit als Religionssoziologe, da er die starke Verwurzelung religiöser Schemata im kulturellen Gedächtnis seines Umfeldes als Hindernis für eine ernsthafte Auseinandersetzung sieht. Auf diese Weise hält er eine objektive Annäherung an die innere Dimension religiöser Erfahrung aus seiner soziologischen Perspektive für nicht möglich. Daher konzentriert er sich immer wieder
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Vgl. Dianteill, Pierre Bourdieu and the Sociology of Religion, 529. Vgl. Bourdieu, Une interprétation de la théorie de la religion selon Max Weber, 5. Vgl. Bourdieu, Genèse et structure du champ religieux, 300. Vgl. Bourdieu, Genèse et structure du champ religieux, 300. Vgl. Kühle, Lene, Bourdieu, Religion and Pluralistic Societies, in: Bulletin for the Study of Religion 41/1 (2012) 8–14, hier: 8. Auf den Punkt gebracht, kann Bourdieus Religionssoziologie folgendermaßen umschrieben werden: »Bourdieu’s sociology of religion is, first and foremost, a sociology of Catholicism.« Dianteill, Pierre Bourdieu and the Sociology of Religion, 535. Bourdieu, Pierre, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens (übers. v. Andreas Pfeuffer), hg. v. Stephan Egger – Andreas Pfeuffer – Franz Schultheis (Édition discours 11), Konstanz 2000, 70–71. Bourdieu, Religion, 14. Vgl. Verter, Spiritual Capital, 151. Vgl. Rey, Pierre Bourdieu and the Study of Religion, 302–305.
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auf Wechselwirkungen bestimmter kultureller Bereiche, an denen die Wirkung symbolischer Gewalt durch religiöse Ordnungen weniger geschützt sind, weil sie nicht im unmittelbaren Einfluss von Religion stehen.136 Deswegen finden sich in vielen seiner Schriften zu völlig anderen Feldern oftmals Beispiele aus dem religiösen Feld zur Veranschaulichung eines Sachverhaltes, besonders, wenn es um die Mechanismen symbolischer Gewalt und Sprache geht.137 Seine Methodik bietet eine Außenperspektive auf ein autonom agierendes System und ist in der Lage, den historischen Wandel der Institution Kirche zu berücksichtigen. Gleichzeitig maßt er sich dabei aber nicht an, Aussagen über die Innendimension von Religion – also spirituelle und religiöse Glaubensvollzüge sowie Glaubenserfahrungen – zu tätigen. Was ihn viel eher interessiert, sind gesellschaftliche Veränderungen und ihr Einfluss auf den Katholizismus in seiner sozialen Struktur.138 So entsteht oft der Eindruck, Bourdieu würde Laien lediglich als passive Konsument*innen des religiöser Heilsgüter und Dienstleistungen konzipieren.139 Allerdings erscheinen nicht nur sie, sondern alle von Bourdieu charakterisierten sozialen Akteur*innen als »eine Kreuzung aus cartesianischem Subjekt und dem Unbewussten bei Freud«140 . Insofern »fehlt ihm auch eine Philosophie des Subjekts, das der Stabilität der Selbstidentität des Akteurs Rechnung trägt«141 . Der Hintergrund dafür ist sein vorwiegendes Interesse an Formen symbolischer Gewalt, deren Ursachen und Wirkungsweisen er erforschen möchte. Da seine Studien zur Religion erst den Anfang seines Habituskonzepts darstellen, ist die Charakterisierung der sozialen Akteur*innen des religiösen Feldes noch nicht ausreichend erläutert. Auf der inhaltlichen Ebene hat die Theologie bislang weitgehend davor zurückgeschreckt, sich überhaupt einer machttheoretischen Analyse auszusetzen. Der Vorbehalte zum Trotz kann auf einige Auseinandersetzungen mit Bourdieu innerhalb christli-
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Vgl. Wienold, Hanns – Schäfer, Franka, Glauben-Machen. Elemente und Perspektiven einer soziologischen Analyse religiöser Praxis nach Pierre Bourdieu, in: Anna Daniel – Franka Schäfer – Frank Hillebrandt (Hgg.), Doing Modernity – Doing Religion, Wiesbaden 2012, 61–112, hier: 62–63. 137 Vgl. etwa die empirischen Einschübe von Die neue Liturgie oder die Leiden der performativen Tugend in: Vgl. Bourdieu, Pierre, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Mit einer Einführung von John B. Thompson (Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques; übers. v. Hella Beister), Wien 2 2005, 101–109. 138 Vgl. Dianteill, Pierre Bourdieu and the Sociology of Religion, 544. 139 Vgl. Dillon, Pierre Bourdieu, Religion, and Cultural Production, 426. 140 Ward, Graham, Kulturkritik im Dienste der Theologie. Ein Vergleich zwischen Michel Foucault und Pierre Bourdieu, in: Ullrich Bauer u.a. (Hgg.), Bourdieu und die Frankfurter Schule. Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus, Bielefeld 2014, 129–141, hier: 140. 141 Ward, Kulturkritik im Dienste der Theologie, 139.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
cher Theologien142 aber auch der islamischen Theologien143 verwiesen werden. Außerdem widmete sich der Bulletin for the Study of Religion im Heft 2 des 41. Jahrgangs ganz Bourdieu.144 Bei diesen Angaben handelt es sich zum Großteil nur um kleinere Beiträge, wodurch eine fundierte Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Theologie bislang ausständig bleibt.
2.2.2. Struktur des religiösen Feldes Das religiöse Feld ist also eines der ersten, an denen Bourdieu seine Feldtheorie expliziert. Damit schließt er an sein funktionelles Verständnis an, der Zweck von Religion liege in der Rechtfertigung einer Existenz in einer bestimmten sozialen Position und diene damit der Legitimation von Herrschaft. Bourdieu konzentriert sich auf die Struktur des Feldes, um zu zeigen, wie die Machtverhältnisse dieses Feldes auch das religiöse Denken strukturieren und an welche Bedingungen die religiöse Diskursmacht gebunden ist. Das religiöse Feld ist daher jener Ort, wo in »der Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen«145 ein entsprechendes Symbolsystem produziert und dessen Beständigkeit durch religiöse Reproduktionsarbeit sichergestellt wird. Der Kampf im religiösen Feld besteht darin, einen dauerhaften und tiefgreifenden Einfluss auf die Praxis und Weltsicht der Laien zu nehmen und sie vor allem davon zu überzeugen, dass das religiöse Angebot (in Form von religiösen Dienstleistungen und Heilsgütern) nur von dem Zentrum der Macht her seine heiligende Wirkung entfaltet.146 Infolge dieser »Monopolisierung der Verwaltung von Heilsgütern«147 kommt es zu einer politisch-distinktiven Gesellschaftsordnung und religiöser Arbeitsteilung, die religiöse Spezialisten von Laien unterscheidet.148 In Abgrenzung zum Ethos der 142 Vgl. Auswahl: Bremer, Helmut, Max Weber und Pierre Bourdieu. Varianten der Lebensführung im religiösen Feld, in: Wolfgang Vögele (Hg.), Soziale Milieus und Kirche (Religion in der Gesellschaft 11), Würzburg 2002, 69–86; Furseth, Inger, Religion In the Works of Habermas, Bourdieu, and Foucault, in: Peter B. Clarke (Hg.), The Oxford Handbook of the Sociology of Religion, Oxford 2011, 98–115; Kreutzer, Ansgar – Sander, Hans-Joachim (Hgg.), Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (Quaestiones disputatae 295), Freiburg i.Br. u.a. 2018; Kreutzer, Politische Theologie für heute; Pilario, Daniel F., Back to the Rough Grounds of Praxis. Exploring Theological Method with Pierre Bourdieu. Zgl. Univ. Diss. (Bibliotheca Ephemeridum theologicarum Lovaniensium 183), Leuven 2005; Rey, Pierre Bourdieu and the Study of Religion; Schäfer, Heinrich, Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt a.M. 2004; Swartz, David L., Bourdieu on Religion. Imposing Faith and Legitimacy, in: Sociology of Religion 71/1 (2010) 133–134; Verter, Spiritual Capital. 143 Cherribi, Sam, In the House of War. Dutch Islam Observed (Religion and global politics series), Oxford 2010. 144 Caldwell, Jody (C.), A Bibliography of Works by, about, and Using Bourdieu in the Study of Religion, in: Bulletin for the Study of Religion 41/1 (2012) 38–47. 145 Bourdieu, Das religiöse Feld, 53. 146 Vgl. Bourdieu, Das religiöse Feld, 45. 147 Bourdieu, Das religiöse Feld, 45. 148 Da es sich bei diesen Begriffen um stereotype relationale Rollenbezeichnungen handelt, wird hier nur die Form ohne Asteriskus verwendet. Gewiss verweist diese Darstellung allerdings auf die Problematik des generischen Maskulinums, die bei Bourdieu selbst noch nicht reflektiert wird.
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Beherrschten wird das Ethos der Herrschenden zur Ethik geheiligt, was nichts anderes bedeutet, als dass Laien zum Großteil objektiv ihres religiösen Kapitals enteignet werden. Brauchtum und Volksfrömmigkeit werden schrittweise abgewertet, indem religiöse Rituale, Gegenstände und Personen aufgewertet werden. Allmählich etabliert sich so die Weltdeutung der Herrschenden zum zentralen Orientierungspunkt für die religiöse Nachfrage. Diese Umlenkung des religiösen Interesses nennt Bourdieu »Konsekrationseffekt«149 . Um derartige Unterdrückungsmechanismen wirksam werden lassen zu können, bedarf dieses Vorgehen aber einiges an Verschleierungsarbeit. Die symbolische Strukturierung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien durch die Religion bleiben deswegen verkannt, weil die Weltsicht der Laien logisch und gnoseologisch eingegrenzt wird, etwa durch die symbolische Verstärkung von Sanktionen in der Sündenlehre.150 Ob eine Religionsgemeinschaft ihren Einfluss auf die Weltsicht der Laien geltend machen kann, hängt dabei von drei Faktoren ab: (1) dem Wechselspiel von religiöser Nachfrage und religiösem Angebot, (2) dem Autonomisierungsgrad des religiösen Feldes gegenüber weltlicher Macht und (3) ökonomischsoziokulturellen Faktoren.151 Gleich jedem anderen Feld handelt es sich bei dem religiösen ebenfalls um einen Kampfplatz um die Anerkennung einer bestimmten sozialen Position, die durch religiöse Meinungsverschiedenheiten ausgedrückt wird.152 Da die Ansprüche einer sozialen Position an den Habitus wie die Kapitalsorten gebunden sind, ist die Strategie zur Durchsetzung der eigenen Macht entscheidend. Der symbolische Wert der inhärenten Heilsgüter und die damit verbundenen religiösen Interessen konstituieren sich dabei aus der Verfügbarkeit des religiösen Angebotes.153 »Die Konkurrenzbeziehungen, welche die unterschiedlichen Spezialisten innerhalb des religiösen Feldes einander gegenüberstellen und bei denen die Laien den Ausschlag geben, sind das dynamische Element des religiösen Feldes und damit auch der Wandlung der religiösen Ideologie.«154 Da ein Feld immer daran interessiert ist, seinen Einflussbereich zu stärken und auszuweiten, ist es notwendigerweise auch mit Differenz konfrontiert. Das birgt jedoch internes Konfliktpotential: Laien reagieren unterschiedlich auf dasselbe Angebot und auch nicht jeder Priester verfügt allzeit und vollständig über die gerade geforderten religiösen, theologischen und zwischenmenschlichen Kompetenzen. Für gewöhnlich bleibt ein Feld jedoch darum bemüht, den Anschein von Einheit zu bewahren, selbst wenn es durch interne Schismen bereits geteilt ist. Die Doppeldeutigkeit religiöser Heilsbotschaften interpretiert Bourdieu daher als Strategie, mit konkurrierenden Interessen umzuge-
149 Bourdieu, Das religiöse Feld, 54. Vom Verkennungseffekt unterscheidet ihn nur der Anwendungsbereich. Während der Konsekrationseffekt die Verschleierung und Veralltäglichung symbolischer Macht im religiösen Feld benennt, bezeichnet der Verkennungseffekt jene für das Feld der Macht im Allgemeinen. 150 Vgl. Bourdieu, Pierre, Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: Religion (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 1 2011, 30–91, hier: 54. 151 Vgl. Bourdieu, Das religiöse Feld, 50–51; 58. 152 Vgl. Kühle, Bourdieu, Religion and Pluralistic Societies, 13. 153 Vgl. Verter, Spiritual Capital, 166. 154 Bourdieu, Das religiöse Feld, 59.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
hen.155 Im äußersten Fall zeitigt dies jedoch eine »strukturbedingte Heuchelei«156 , die sich aufgrund der wachsenden Diversität und dem Willen nach Versöhnung zu doppeldeutigen Aussagen gezwungen sieht. »So erklärt sich die typisch priesterliche Vorliebe für die verklärende Nachahmung und die verwirrende Ungenauigkeit, die bewusste Polyonomie und die gesuchte Zweideutigkeit, das Doppelsinnige oder die methodische Unklarheit und der systematische Gebrauch von Metaphern, kurz all diese Wortspiele, die man in sämtlichen gelehrten Traditionen antrifft und deren Ursprung man in der Kunst finden kann, anders in denselben Worten zu denken oder dieselben Dinge anders zu denken.«157 Die Ambiguität religiöser Heilsvermittlung ist für religiöse Spezialisten wie Laien jedoch auf Dauer unbefriedigend. So ringt die Frage nach Eindeutigkeit den religiösen Spezialisten klare Normierungen ab, die oftmals in einer antagonistischen Gegenüberstellung des Heiligen gegenüber dem Profanen enden. Dabei richtet sich der Orientierungspunkt für das Heilige am Interesse nach der Legitimation religiöser Macht aus, um das Zentrum religiöser Macht zu stärken und damit die Stabilität des religiösen Feldes wiederherzustellen. Die vom sozialen Wandel beherrschte Macht der religiösen Spezialisten führt so zu einem Symbolsystem, das strukturbedingt auf Distinktion beruht: »Da die mythischen Systeme das natürliche und soziale Universum nur organisieren können, indem sie darin antagonistische Klassen einteilen, weil sie also Sinn und Konsens über den Sinn nach der Logik von Einschließung und Ausschließung erzeugen, sind sie aufgrund ihrer Struktur geradezu prädisponiert, gleichzeitig Einschließungsund Ausschließungsfunktionen, Assoziations- und Dissoziationsfunktionen und Integrations- und Distinktionsfunktionen zu übernehmen.«158 Wie sich diese Exklusions- und Inklusionslogik auf die Profilierung unterschiedlicher Typen religiöser Spezialisten im Unterschied zu Laien auswirkt, soll nun mit Bourdieu anhand der Einteilung von Priester, Prophet, Magier und Laie aufgezeigt werden.
2.2.3. Soziale Akteur*innen des religiösen Feldes Das Verhältnis der sozialen Akteur*innen des religiösen Feldes kann in religiöse Spezialisten (Priester, Prophet, Magier)159 und religiöse Laien unterteilt werden. Erstere sind exklusive Besitzer, Verwalter und Produzenten des religiösen Kapitals, zweitere regulieren den religiösen Markt durch ihre Nachfrage und konsumieren dieses.160 Bourdieu 155 156 157 158 159
Vgl. Bourdieu, Das religiöse Feld, 60–61. Bourdieu, Religion, 212. Bourdieu, Religion, 44–45. Bourdieu, Religion, 34. Nach Wienold/Schäfer verkörpert diese Konstellation aber noch »keine Grundfunktion eines religiösen Systems«, sondern zielt vielmehr auf christliche Religionen im europäischen Kontext ab. Eine »allgemeine Anwendbarkeit oder Übertragbarkeit in andere Kulturen« dürften damit ausgeschlossen sein. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 73. 160 Vgl. Dillon, Pierre Bourdieu, Religion, and Cultural Production, 414.
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stellt das religiöse Feld graphisch etwas ungeschickt dar,161 denn in seiner Darstellung werden die homologen Oppositionen zwischen den jeweiligen Akteur*innen des religiösen Feldes graphisch nicht nachvollziehbar. Verbindet man jedoch die Strukturkonfiguration des Feldes der Macht mit jener des religiösen Feldes und berücksichtigt die kircheninterne Hierarchie, wird deutlich, dass es sich bei den jeweiligen Akteur*innen um keine Idealtypen, sondern dynamische Rollenbilder handelt, die bis zu einem gewissen Grad – nämlich durch ihren Habitus – voneinander abgrenzbar sind, wie die nachstehende Grafik zeigt. Das römisch-katholische Feld ist hier in fünf Kreissegmente unterteilt, deren jeweilig gegenüberliegende Segmente eine direkte homologe Opposition darstellen, wohingegen die Nachbarschaft zweier Segmente auf eine direkte wechselseitige Abhängigkeit mit entweder offenem oder verdecktem Konfliktpotential hinweist. Priester und Laie nehmen jeweils zwei Sechstel des gesamten Kreises ein, denn beide bestimmen maßgeblich über das religiöse Feld. Beim Klerus ist dies durch die hierarchische Ämterstruktur zwar differenziert, erscheint jedoch wegen »Vergemeinschaftungstechniken«162 als Einheit. Bei den Laien ist die Spaltung zwischen Intellektualismus und Traditionalismus deutlicher, weil sie nicht im Zentrum religiöser Macht stehen und damit auch weniger Bestrebungen haben, ihre Unterschiede zu vereinheitlichen. Der Pfeil von oben nach unten gibt dabei die Machtausübung der Akteur*innen an, der Pfeil von unten nach oben die Legitimierung dieser Macht. Dieser Dynamik folgen außerdem die Abhängigkeit von internen Zwängen gegenüber der Beeinflussbarkeit durch externe Kräfte.163 Dementsprechend wirken an Orten der Machtmonopolisierung interne Zwänge, wie etwa jene nach der Vereinheitlichung divergierender Interessen. An der Peripherie beeinflussen dagegen vor allem externe Kräfte wie etwa Pluralisierung, Säkularisierung, Emanzipierung usw. die Zugehörigkeit zum Feld.
161 162 163
Bourdieu, Une interprétation de la théorie de la religion selon Max Weber, 6. Bourdieu, Pierre, Die Heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht, in: Religion (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 1 2011, 92–224, hier: 186. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 74. »Die Funktionslogik der Kirche, der priesterlichen Praxis und zugleich die Form und der Inhalt der Botschaft, der sie Geltung verschafft und die sie einprägt, sind die Folge des Zusammenwirkens von internen Zwängen und externen Kräften.« Bourdieu, Das religiöse Feld, 89.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
Abbildung 4: Strukturkonfiguration des religiösen Feldes
Füllt man nun die jeweiligen Segmente mit ihren besonderen Eigenschaften, werden die Relationen der sozialen Akteur*innen im religiösen Feld zueinander deutlich. So ergeben sich die jeweiligen Bestimmungen der sozialen Akteur*innen des religiösen Feldes von Bourdieu eben nicht als essentialistische Zuschreibungen164 , sondern als von der Strukturkonfiguration des Feldes abhängige Eigenschaften einer sozialen Position, die je nach internen Zwängen und externen Kräften variieren kann.165 So würde in Zeiten einer Krise die Drehung des Kreises um ein Segment nach rechts eine prophetische Machtkritik darstellen, eine Drehung nach links einen Laienaufstand gegenüber der Priesterschaft. Die Beschreibung der sozialen Akteur*innen nennt drei ausgewählte Kampfplätze des religiösen Feldes, um anhand von ihnen die jeweiligen Eigenschaften zu spezifizie-
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Womöglich begünstigt die Gegenüberstellung von Priester und Laien in der Grafik viele Fehlinterpretationen, die deren Verhältnis als direktes oppositionelles Machtverhältnis auffassen, wie am Beispiel von Dillon deutlich wird: »Bourdieu’s hierarchical distinction between religious specialists and the dispossessed laity is a tightly structured model of structuring that seems more foreclosed than one might expect from Bourdieu’s general emphasis on the relational nature of cultural production. The clarity of the boundaries of Bourdieu’s categories derives from his economistic approach to religious production.« Dillon, Pierre Bourdieu, Religion, and Cultural Production, 414. Bourdieu spricht von einer Äquivalenz zwischen dem physischen und dem sozialen Raum (wie man steht, wie groß man ist usw., entspricht auch der sozialen Stellung im Raum). Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 132.
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ren166 : das Verhältnis zur Macht (1), der Umgang mit religiösem Kapital (2) und bevorzugte Symbolsysteme bzw. Weltdeutungen (3).
2.2.3.1. Der Priester Der Begriff des Priesters dient Bourdieu grundsätzlich zur Abgrenzung der legitimen Machtposition innerhalb des religiösen Feldes. In vielen von seinen Aufsätzen differenziert er dabei die hierarchisch institutionalisierten Ämterstrukturen der katholischen Kirche nicht, mit Ausnahme seiner Studie zum französischen Episkopat167 , die sehr wohl die Unterschiede zwischen hohem und niederem Klerus benennt. Für den katholischen Kontext gilt der Papst als zentraler Orientierungspunkt religiöser Legitimität (Anerkennung) und belegt die höchste Position religiöser Macht.168 Er verkörpert die Begriffe der Heiligkeit und Orthodoxie sowohl durch seine lehramtliche Autorität, als auch durch seine geistige Haltung wie sein Erscheinungsbild, das je nach »mood einer Epoche«169 variiert.170 Der Papst ist mit der autokratischen Macht der Unfehlbarkeit ausgestattet, was ihm in seinem Feld eine uneinnehmbare Position in Glaubensfragen beschert, sofern er eine religiöse Lehre ex cathedra und damit »definitiv als verpflichtend verkündet« (CIC 1983 c. 749 §1). Auch das Bischofskollegium übt diese Macht aus, aber nur in Form eines Konzils (ebd. §2). Einzelne Bischöfe können von dieser Macht nur Gebrauch machen, insofern sie »unter Wahrung der Gemeinschaft untereinander und mit dem Nachfolger Petri, zusammen mit eben dem Papst in authentischer Lehre über Sachen des Glaubens oder der Sitte zu ein und demselben, als definitiv verpflichtenden Urteil gelangen« (ebd.). Priestern und Diakonen kommt diese Macht nicht zu. Bourdieu beschreibt mit dem Akteur des Priesters die Zentralisierung und Produktionsstätte des religiösen Kapitals, ohne die kirchliche Hierarchie weiter nach den spezifischen Aufgaben zu differenzieren. Erst die Infragestellung der religiösen Legitimität führt Bourdieu zur Unterscheidung des niederen vom hohen Klerus.171 Dies begründet sich damit, dass er die katholische Kirche primär als bürokratischen Verwaltungsapparat sieht172 und die Spannungen innerhalb des Feldes auf Grund der vielfältigen Vergemeinschaftungstechniken gegenüber den externen Feldkräften relativ niedrig sind.173 Je nach Amt ergeben sich jedoch spezifische Verwaltungsaufgaben für das religiöse Kapital. Während der Papst die Gesamtheit des religiösen Kapitals monopolisiert, produzieren und verwalten die Bischöfe die Heilsgüter (HG) und Dienstleistungen (DL). Priester
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Diese drei sind vor allem auch dem Interesse von Bourdieu an Machtrelationen, Lebensstilen und den damit verbundenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien geschuldet. Folglich finden sich für diese Beispiele die meisten spezifizierenden Aussagen. 167 Bourdieu, Die Heilige Familie. 168 Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 63. 169 Bourdieu, Die Heilige Familie, 128. 170 Man bedenke hier nur die unterschiedliche Wahrnehmung der beiden Päpste Benedikt XVI. und Franziskus’. 171 Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 73. 172 Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 62; Weitere Ausführungen vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 65. 173 Vgl. Bourdieu, Die Heilige Familie, 166.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
und Diakone schließlich, verteilen die Heilsgüter an Laien und sind für seelsorgliche und liturgische Dienstleistungen zuständig. Der Einfluss auf die Weltsicht bzw. das Symbolsystem von Laien, den Bourdieu ebenfalls entlang der Amtsautorität undifferenziert lässt, ist nicht allein von der öffentlich anerkannten Religion geprägt, sondern in vielerlei Hinsicht abhängig: »Der Bedarf nach religiöser Systematisierung (und ebenso die Form der Beziehung zu den Produktionsinstanzen religiöser Güter) variiert in Abhängigkeit von den materiellen Existenzbedingungen und genauer noch vom Bildungsniveau der potentiellen Konsumenten (bzw. dem Rationalisierungsgrund ihrer Berufspraxis), wobei er seine höchste Intensität in der herrschenden Klasse und vor allem innerhalb der intellektuellen Fraktion dieser Klasse erreicht, welche als einzige in der Lage ist, die intellektualistische Frage nach dem Sinn der Welt und des menschlichen Daseins zu stellen sowie die durch die Routine veralltäglichten Dogmen und die Liturgie einer rationalen Kritik zu unterziehen.«174 Die Instabilität der sozio-ökonomischen Bedingungen und die ständige Konkurrenz durch den Propheten und den Zauberer führen dazu, dass die Kirche zu Konzessionen und Kompromissen tendiert, um sich die bleibende Anerkennung ihrer Gläubigen und damit ihre eigene Kontinuität zu sichern.175 Zu diesem Vergemeinschaftungsrepertoire gehören auf formaler Ebene die sprachliche Euphemisierung hierarchischer Besitz- und Machtgefälle,176 die synkretistisch-rationale Systematisierung religiöser Heilbotschaften177 und die Aufwertung und Vereinheitlichung theologischer Bildungsabschlüsse178 , auf materialer Ebene die Kanonisierung der Heiligen Schrift, der lehramtlichen Dokumente (Konzilsdokumente, Enzykliken, Synodenpapiere etc.), des kirchlichen Rechts und der Liturgie (Gebetbücher, Rituale, Handlung, liturgische Kleidung, Gegenstände usw.)179 und auf der Beziehungsebene die Durchsetzung einer familiären Logik180 wie der Anerkennung der religiösen Qualifikation und vor allem der »Anstalts- oder Amtsautorität«181 durch göttliche Gnade. All diese genannten Eigenschaften machen den Unterschied zum Habitus des Propheten deutlich.
174 175 176
Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 69. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 74–75. Vgl. Bourdieu, Pierre, Das Lachen der Bischöfe, in: Religion (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 1 2011, 231–242, hier: 233. 177 Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 44. 178 Vgl. Bourdieu, Die Heilige Familie, 96. 179 Vgl. Bourdieu, Pierre, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, in: Religion (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 1 2011, 7–29, hier: 29; vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 78. 180 Als Beispiele nennt Bourdieu »das überschwängliche Lob der Brüderlichkeit, des Dialogs, des Austauschs und ganz allgemein der Neigung, sämtliche soziale Beziehungen nach dem Modell der Familie zu denken«, Bourdieu, Die Heilige Familie, 185. 181 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 63.
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2.2.3.2. Der Prophet Der Prophet bezieht seine Macht aus seiner persönlichen Anhänger*innenschaft und nimmt damit eine herrschende Stellung innerhalb einer beherrschten Gruppe ein.182 Seine Legitimität ist am Rande der Orthodoxie angesiedelt, was ihm nur »in Zeiten offener oder verschleierter Krisen ganzer Gesellschaften oder einzelner Klassen«183 die Autorität verleiht, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren. In den Krisenzeiten aber glänzt er durch sein charismatisches Auftreten, das Bourdieu wie folgt bestimmt: »Die symbolische Wirkung des Charismas ergibt sich aus der Dialektik der intimen Erfahrung symbolischer Macht (die nicht ohne den Glauben an seine eigene symbolische Macht geschieht) und dem gesellschaftlichen Bild dieser Macht.«184 Sein religiöses Kapital ist stark personengebunden185 , was ihn vor allem von intellektueller Anerkennung abhängig macht. Als Gegenleistung dafür bietet er eine reflexive Ethisierung der Alltagspraxis, die in vielen Fällen zu einer asketischen Selbstdisziplinierung anregt und das priesterliche Monopol auf Heilsgüter und Dienstleistungen in Frage stellt. In dieser Position sieht er sich als »Wortführer Gottes bei den Menschen«186 , aber nicht als Repräsentant Gottes wie etwa der Priester. Der Prophet besitzt nach Bourdieu eine symbolische Macht, die zur objektiven Entwertung der durch die Priesterschaft monopolisierten Heilsgüter und Dienstleistungen führen kann. Dafür ist es notwendig, einen Großteil der Laien durch neue und besser an die Nachfrage angepasste Heilsgüter und Dienstleistungen zu mobilisieren, denn mit der symbolischen Umwertung des Kapitals geht zugleich die Infragestellung der symbolischen Ordnung einher. Im Extremfall besitzt der Prophet so viel Einfluss, dass ein Sakrileg als Sakrales bestimmt und das ehemals Sakrale desakralisiert wird.187 Die institutionalisierte Macht reagiert darauf auf unterschiedliche Weise: »Wenn das Kräfteverhältnis dann zugunsten der Kirche steht, kann die prophetische Anfechtung der Kirche nur in der Unterdrückung des Propheten (oder der Sekte) durch physische oder symbolische (Exkommunikation) Gewalt enden, es sei denn, die Unterwerfung des Propheten (oder Reformators), der sich darein fügt, an der religiösen Aneignung der von den ketzerischen Gruppen aufgeworfenen Themen für die Kirche zu arbeiten, läßt es vertretbar erscheinen, daß man ihn durch Kanonisierung (wie z.B. im Fall des heiligen Franz von Assisi) der Kirche einverleibt.«188 Auf der Symbolebene geht es ihm im Unterschied zum Priester daher nicht um die Aufrechterhaltung des Konsekrationseffektes, sondern um die »Desakralisierung des Sakralen«189 und damit um die Entnaturalisierung gefestigter Deutungssysteme. Sein Bruch
182 183 184 185 186 187 188 189
Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 21. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 23. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 67. Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 22. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 64. Vgl. Bourdieu, Das religiöse Feld, 81–82. Bourdieu, Das religiöse Feld, 87. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 66.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
mit der Routine vollzieht sich als »prophetische, außeralltägliche, diskontinuierliche Rede«190 , die in der »Produktion der Prinzipien einer mehr oder weniger systematischen Sicht der Welt und des Daseins«191 Antworten auf aktuell drängende Lebensfragen sucht. Tendenziell verkörpert sich im Propheten also die Gefahr der symbolischen Revolution, worauf die starken Sanktionen seitens der Kirche gegenüber neuen theologischen Aufbrüchen zurückzuführen sind. Die Gefahr der Sanktion ist dabei umso größer, je weiter sich der Prophet von der legitimierten Orthodoxie entfernt.
2.2.3.3. Der Zauberer Unter allen religiösen Spezialist*innen nimmt der Zauberer die beherrschte Stellung außerhalb der geltenden Legitimität ein und bildet daher den Bereich der Heterodoxie. Insofern verfügt er selbst bei den Laien nur äußerst begrenzt über Macht, da sein heimliches Angebot schon immer verdächtig erscheint192 und er keine institutionelle Garantie seiner Heilsgüter und Dienstleistungen vorweisen kann.193 Das religiöse Kapital, das er aufgrund seiner verachteten Position nicht selbst verkörpern kann, ist stark marktorientiert und antwortet auf konkrete, partielle und unmittelbare Bedürfnisse.194 Seine Dienstleistungen haben eine Art Effektcharakter, der sich am besten an körperzentrierter Arbeit herbeiführen lässt. Spontane Wunderheilungen, Dämonenaustreibungen und dergleichen mehr gehören zu seinem speziellen Repertoire und werden aufgrund der sichtbaren Veränderung an seinen Kund*innen auch offen materiell entlohnt.195 Insofern trifft ihn der Vorwurf der Profanisierung, da er religiöse Heilsgüter und Dienstleistungen maßgeblich auf eine unmittelbare Funktionalität für seine Kundschaft reduziert. In diesem Zusammenhang kommt es oft zu einer Verkehrung des Umgangs mit religiösen Gütern.196 Die Bewertung der »Magie als Gegenreligion oder verkehrte Religion«197 ist daher nicht verwunderlich. Die weite Entfernung zur legitimierten Macht ist gerade für diese Personengruppe besonders prekär und geht bis zur Gefährdung des Lebens. Zum einen, weil seine magische Tätigkeit nicht institutionell abgesichert ist und ein Ausbleiben der heilenden Wirkung zur Frustration seitens seiner Kund*innen führen kann, zum anderen, weil die Institution seinen Einfluss mit allen Mitteln unterbinden möchte, um die Laien wieder für sich zu gewinnen. Als »unabhängige[r] Kleinunternehmer«198 gestaltet er sein Symbolsystem entsprechend einer ökonomischen Logik: Der »Formalismus und Ritualismus des do-utdes«199 steht im direkten Widerspruch zur reflexiven Systematisierung einer Theogonie,
190 191 192 193 194 195 196 197 198 199
Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 18. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 18. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 51–52. Vgl. Bourdieu, Pierre, Die Auflösung des Religiösen, in: Religion (Schriften zur Kultursoziologie 5), Berlin 1 2011, 243–249, hier: 246. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 51–52. Vgl. Bourdieu, Die Auflösung des Religiösen, 246. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 53. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 51. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 28. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 52.
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Kosmogonie oder Theologie von anerkannten religiösen Spezialist*innen. Das beschert ihm Konkurrenz mit Propheten und Priestern um die vierte Gruppe, den Laien.
2.2.3.4. Der Laie Laien besetzen die beherrschte Stellung innerhalb der Legitimität, obschon sie allein ob ihrer zahlenmäßigen Mehrheit nicht automatisch zum passiven Gehorsam verurteilt sind. Nachdem sie die Mehrheit des religiösen Feldes bilden, sind religiöse Angebote auf ihre Anfrage angepasst.200 Diese Aufgabe erweist sich für alle religiösen Spezialist*innen als äußerst schwierig, da die Zusammensetzung des Laien-Korpus im Gegensatz etwa zu den kirchlichen Ämtern weitaus heterogener von sozio-ökonomischen Bedingungen beeinflusst ist.201 In diesem Zusammenhang kann wohl auch der Vorwurf entkräftet werden, Bourdieu sehe die Rolle von Laien ausschließlich passiv. Es verhält sich vielmehr so, dass Laien als jene Akteur*innen charakterisiert werden, die nicht an den Kämpfen um die legitime Verfügungsmacht von Heilsgütern und deren Verwaltung beteiligt sind.202 Die Volk-Gottes-Theologie und der Gedanke des allgemeinen Priestertums befinden sich damit – wenn aus theologischer Sicht auch umstritten – in hierarchischer Abhängigkeit vom Amtspriestertum: Laien werden in erster Linie als Konsumenten des religiösen Kapitals gezeichnet, welches sie als religiösen Habitus inkorporieren. Das umfasst religiös festgelegte Körperhaltungen (z.B. rituelle Praktiken), eine tradierte Weltsicht (z.B. schriftlich überlieferte Traditionen) und zahlreiche Formen erwerbbarer religiöser Gegenstände (z.B. Reliquien, Andachtsbilder etc.). Mit der Einprägung des religiösen Habitus werden die Laien zugleich stückweise ihres alten symbolischen Kapitals enteignet, denn die Zugeständnisse bewegen sich je nach Mächtigkeit der Priesterschaft eher auf einer oberflächlichen Ebene. Das selbst eingebrachte religiöse Kapital der Laien, traditionelle Überlieferungen und intellektualistische Kritik, wird durch den Konsekrationseffekt objektiv entwertet und verliert damit an Geltung und Legitimität im religiösen Feld.203 Als Beispiel kann hier die in der Volksfrömmigkeit hochgehaltene Marienverehrung angeführt werden, die im 19. Jh. durch lehramtliche Festlegungen in ihrer Bedeutung immer wieder neu dem Primat einer männlich-klerikalen Führung unterstellt wurde.204 Die religiöse Systematisierung des Symbolsystems stellt demgegenüber eine vermeintliche Einheit her, die zu strukturellen Doppeldeutigkeiten führt. Synkretistische Tendenzen der legitimen Religion führt Bourdieu daher auf den Laien-Traditionalismus und Laien-Intellektualismus zurück.205 Während Erstere sich in der Rolle sehen, bestehendes Traditionsgut zu bewahren, üben Letztere tendenziell Kritik gegenüber 200 201 202 203 204
Vgl. Bourdieu, Religion, 7. Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 13. Vgl. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 70. Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 45; 54. Vgl. Blaschke, Olaf, Religion ist weiblich. Religion ist männlich. Geschlechtsumwandlungen des Religiösen in historischer Perspektive, in: Kornelia Sammet – Friederike Benthaus-Apel – Christel Gärtner (Hgg.), Religion und Geschlechterordnungen (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Wiesbaden 2017, 79–98, hier: 83. 205 Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 25–27.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
überkommenen religiösen Praktiken und Sinndeutungen. All diese durch die Pluralität gegebenen Spannungen fordern dementsprechend Konzessionen seitens der herrschenden Religion.206 Um dieser Pluralität gerecht zu werden, gibt es eine schier unglaubliche Anzahl an religiösen Kapitalien, die auf die Nachfrage von Laien abgestimmt ist. Damit sind Laien zentral an der Ausgestaltung des religiösen Feldes beteiligt, wenngleich sie bei einer zu starken Abweichung von der Orthodoxie mit Sanktionen rechnen müssen.207
2.2.4. Religiöses Kapital als Unterart des symbolischen Kapitals Bourdieu spricht an vielen Stellen von einem religiösen Kapital des religiösen Feldes, das er vor allem im Kontrast zu jenem des politischen Feldes konzipiert. Dies dient ihm einerseits dazu, den abgegrenzten Bereich der Lebensstile und sozialen Positionen feldspezifisch zu bestimmen sowie die religiöse von der politischen Macht zu trennen. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit und strukturellen Übereinstimmung kommt es allerdings zu Verwischungen dieser Grenzen, da Bourdieu auch den Begriff des symbolischen Kapitals für das religiöse Feld verwendet. Nachdem alle Schriften zur Religion noch vor seinen großen systematischen Werken entstehen, ist diese teilweise begriffliche Unschärfe wohl auch hierauf zurückzuführen. »Nur am Rande behandelt er Fragen nach dem religiösen Kapital und dem religiösen Habitus.«208 Eine reflexiv systematische Beschreibung des religiösen Kapitals nimmt aber der amerikanische Religionshistoriker Bradford Verter vor. Er differenziert religiöse Symbolsysteme von religiösen Kompetenzen.209 Dies entspricht der Unterscheidung Bourdieus zwischen Habitus und Hexis, wonach er »die körperlich ausgedrückte und wahrnehmbare Dimension des Habitus«210 bezeichnet. Da sowohl das Symbolsystem als auch religiöse Kompetenzen in erster Linie durch Sozialisation erworben werden,
206 Vgl. Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 75. 207 Diese Tatsache lässt sich bspw. an der lateinamerikanischen Befreiungstheologie im Gefolge des Zweiten Vatikanums aufzeigen. Die marxistische Kategorie von Klassenkonflikten zur Interpretation der prekären Lage der Bevölkerung fand so keinen Eingang in die lehramtliche Theologie. Ganz im Gegenteil, es entstand durch sie sogar die Furcht, dass die Kirche der Armen die hierarchischen Strukturen der Kirche als Institution umstoßen würden. Vgl. Sanks, Homo Theologicus, 527. Diese Bedrohung wird bezüglich des Befreiungstheologen P. Jon Sobrino im Schreiben der Glaubenskongregation folgendermaßen formuliert: »Trotz der anerkennenswerten Sorge um die Lage der Armen, die der Autor in seinen Schriften zeigt, sieht sich die Kongregation für die Glaubenslehre deshalb gezwungen, zu erklären, daß die oben genannten Werke P. Sobrinos an einigen Stellen erheblich vom Glauben der Kirche abweichen. Es wurde daher entschieden, die vorliegende Notifikation zu veröffentlichen, um den Gläubigen bezüglich einiger in den Schriften des Autors enthaltener Aussagen ein sicheres Kriterium zur Beurteilung zu bieten, die auf der wahren kirchlichen Lehre gründet.« Kongregation für die Glaubenslehre, Notifikation zu den Werken von P. Jon Sobrino S.J., Rom 2006 (26. November 2006), Nr. 1. URL: http://www.vatican.va/roman_curia/con gregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20061126_notification-sobrino_ge.html [Abruf: 14. März 2023]. 208 Saalmann, De Bourdieu à dieu, 36. 209 Vgl. Verter, Spiritual Capital, 157. 210 Fröhlich – Rehbein, Bourdieu-Handbuch, 125.
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bestehen starke Parallelen zum kulturellen Kapital, das in inkorporierter, objektivierter und institutionalisierter Form vorliegt. Jedoch sieht Verter aufgrund der spezifischen Funktionsweisen von religiösen Beziehungen das religiöse Kapital als eine Unterart bzw. Mischform der drei Hauptsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) an.211 Beeinflusst von den jeweiligen objektiven Bedingungen (Politik, Ökonomie, Gesellschaft etc.) ergibt sich für das religiöse Kapital daher je nach Kontext eine unterschiedliche Wertigkeit. Zusätzlich nimmt die Komplexität durch simultan überlappende Feldmitgliedschaften einzelner Akteur*innen zu.212 Die Akkumulation religiösen Kapitals hängt maßgeblich von den wirtschaftlichen und sozialen Faktoren ab. Je nach Stellung der Religion im sozialen Raum unterscheidet sich damit auch der Preis für die Konvertierbarkeit. Insofern sind für weniger anerkannte Religionen bzw. heterodoxe spirituelle Angebote mehr Investitionen notwendig als für orthodoxe Traditionen.213 An diesen Ausführungen wird deutlich, dass das Habituskonzept wie die Feldtheorie auf theoretischer und allgemeiner Ebene zwar aufschlussreich sein können, einzelne Felder jedoch immer entsprechend ihrer kontextuellen Bedingungen betrachtet werden müssen. Der religiöse Habitus dient in dieser Arbeit daher ebenfalls als offener Relationsbegriff, ohne dabei das Spezifikum des Katholizismus in Gänze beschreiben zu können. Dennoch lassen sich aufgrund der Zentralisierung religiöser Macht im Papstamt und der römischen Kurie einige übergreifende Aussagen machen, was aus phänomenologischer – nicht kategorialer – Perspektive zum römisch-katholischen Feld zu zählen ist und was nicht.
2.2.4.1. Inkorporiertes Kapital des religiösen Feldes Wie auch andere Kapitalsorten wird das religiöse Kapital zunächst in der Primärerfahrung angeeignet und anschließend durch weitere Bildung gefestigt. Der Leib nimmt dabei eine zentrale Stellung ein, denn er hat in den Feldern die Rolle des inkorporierten Kulturkapitals inne, das seinen Wert im Verhältnis zu sozialer Positionalität, intersubjektiver Relationalität sowie zeitlicher und räumlicher Dispositionalität bestimmt.214 Der inkorporierte Zustand umfasst persönliche Kompetenzen, den Geschmack sowie den je individuellen theoretischen Glaubensinhalt und praktischen Glaubensausdruck.215 Die doxa des religiösen Feldes weist im Gegensatz zum politischen Feld eine Besonderheit auf: Die sich durch die Logik der Praxis ergebenden Widersprüchlichkeiten von Glaube und Praxis sind den Akteur*innen des religiösen Feldes bewusst. Sie werden auch nicht verschleiert, sondern es gehört gerade zum guten Glauben, mit theologischen 211 212
Vgl. Verter, Spiritual Capital, 152. Vgl. Verter, Spiritual Capital, 163. Der Katholizismus unterscheidet sich allein schon von Land zu Land. Hinzu kommen die soziale und wirtschaftliche Lage, die sozialen Klassen, gegenwärtige gesellschaftliche Wandlungsprozesse (Säkularisierung, Pluralisierung, Digitalisierung, …), die allesamt Einfluss auf die religiösen Felder und ihre sozialen Akteur*innen ausüben. Der soziale Status einzelner Personen bringt überdies ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ein. 213 Vgl. Verter, Spiritual Capital, 167. 214 Vgl. Connell, Catherine – Mears, Ashley, Bourdieu and the Body, in: Thomas Medvetz – Jeffrey J. Sallaz (Hgg.), The Oxford Handbook of Pierre Bourdieu, New York 2018, 562–576, hier: 568. Näheres zu dieser Verhältnisbestimmung vgl. Kap. 3.4. 215 Vgl. Verter, Spiritual Capital, 159.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
Widersprüchen kreativ umzugehen. Bspw. wird die Anerkennung homosexueller Menschen zwar theologisch eingefordert, praktisch aber nicht vollumfänglich eingelöst. Die Spannung, warum homosexuelle Menschen einzeln gesegnet werden können, ihre Beziehung aber nicht, ist eine doxa, die trotz ihrer Paradoxie offen thematisiert und argumentiert wird. Demgemäß liegen die willkürlich gesetzten Regeln, nach denen symbolisch gespielt wird, mehr oder weniger explizit vor, während leitende ökonomische und politische Interessen dahinter verborgen bleiben.216 Insofern ergibt sich besonders im inkorporierten Zustand die Übereinstimmung von körperlicher hexis und religiöser doxa: »Der praktische Glaube ist kein ›Gemütszustand‹ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (›Überzeugungen‹), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes.«217 Vor diesem Hintergrund verdienen sämtliche liturgischen Praktiken, sowohl die der religiösen Spezialist*innen als auch der Lai*innen, besondere Beachtung. Glaube und Leib sind aufeinander verwiesen: »Glauben als habituelle Frömmigkeit ist Vorbedingung wie Ergebnis religiöser Praktiken. Diese erzeugen Offenheit gegenüber dem Heiligen, Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, das von Autoritäten oder Praxen verbürgt ist.«218 Die Einverleibung des Glaubensinhaltes wie der Glaubensakte kann eben nicht nur auf die Repräsentationsebene verlegt werden, sondern alle Wahrnehmungs- und Denkschemata sind an Handlungsschemata rückgebunden und umgekehrt. Die praktische Mimesis, das So-tun-als-ob, setzt ein umfassendes Verhältnis der Identifikation voraus und hat nichts von einer simplen Nachahmung an sich. Gebetshaltungen, Glaubenseinstellungen usw. sind daher kein bewusstes Bemühen, sich die explizit zum Modell gemachten Weltsichten, liturgischen Handlungen, Sprechweisen, religiösen Objekte usw. anzueignen. Vielmehr geht es dabei um das erlernte Habitualisieren einer praktischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit (vgl. liturgische Anamnese): »Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er traurig mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder.«219 Insofern liegt eine wechselseitige Beeinflussung von Orthodoxie und Orthopraxie vor, die zusätzlich an eine »tatsächliche oder imaginierte Gemeinschaft«220 rückgebunden wird. Der religiöse Glaube ist das Paradebeispiel für die Inkorporation religiösen Kapitals: Als solcher ist er »ein Gefühl und ein Vermögen, das auftreten kann, das man besitzen kann, aber nicht besitzen muss«221 , damit kontingent und zugleich »verkörperte und plurale Performativität«222 , die »nicht durch sich selbst verbürgt«223 ist.
216 217 218 219 220 221
Vgl. Saalmann, De Bourdieu à dieu, 36. Bourdieu, Sozialer Sinn, 126. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 83. Bourdieu, Sozialer Sinn, 135. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 81. Wendel, Saskia, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020, 119. 222 Wendel, In Freiheit glauben, 121. 223 Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 86.
125
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2.2.4.2. Objektiviertes Kapital des religiösen Feldes Das objektivierte Kapital beinhaltet sämtliche Formen materieller und symbolischer Güter, die sich außerhalb der hexis befinden. »In the objectified state, spiritual capital takes the form of material and symbolic commodities – votive objects, exegetical texts, and ritual vestments, as well as theologies, ideologies, and theodicies.«224 Hinzu kommen heilige Schriften und Kodifizierungen wie etwa das Missale, Rituale, Gebetbücher, lehramtliche Dokumente, das Kirchenrecht u.v.m., an welche auch die religiöse und theologische Ausbildung geknüpft werden.225 Heilsgüter werden daher nicht nur kirchlich oder kulturell tradiert, sondern stehen auch Einzelpersonen zur Verfügung. In der Theologie werden häufig die vier Grundvollzüge der Kirche betont: Üblicherweise der Dienst am Menschen (διακονία), der Dienst am Wort (μαρτυρία), der Gottesdienst (λειτουργία) und der Dienst an der Gemeinschaft (κοινωνία).226 Da diese religiösen Dienstleistungen bestimmte Handlungsabläufe regeln, fallen auch sie unter das objektivierte Kapital. Liturgische Feiern, Bibelkreise aber auch der Religionsunterricht leben nicht von individuellen und spontanen Handlungen, sondern sind räumlich wie zeitlich und für eine bestimmte soziale Gruppe festgelegt. Damit kommt es zu einer objektiven Übereinstimmung der Erwartungen seitens der Laien und dem Angebot der religiösen Spezialisten, je nachdem, welche Rahmenbedingungen diesen Dienstleistungen zugrundeliegen. Aus soziologischer Perspektive ist daher der Dienst an der Gemeinschaft derjenige, der sämtliche Kapitalformen umgreift, weshalb er sich auch nicht auf das objektivierte Kapital begrenzen lässt. Auf diese Weise ist der Dienst am Menschen, am Wort und bezüglich Gott immer schon einer, der zugleich auch der Gemeinschaft dient. Im objektivierten Zustand ist das religiöse Kapital am einfachsten in andere Kapitalsorten konvertierbar, weshalb es gerade auch hier Sinn macht, von einem symbolischen Markt zu sprechen. Religiöse Dienstleistungen werden durch Kirchenbeitrag bzw. Kirchensteuer oder Fördergeber materiell entlohnt und Heilsgüter können wie herkömmliche Produkte auch zu einem auf die Nachfrage abgestimmten Preis gekauft werden.
2.2.4.3. Institutionalisiertes Kapital des religiösen Feldes Mit dem institutionalisierten Kapital geht die Arbeitsteilung und interne Strukturierung des römisch-katholischen Feldes einher, die im Fall des römischen Katholizismus durch eine klar strukturierte Ämterhierarchie gewährleistet ist. Es zeichnet sich durch eine Zuschreibung bestimmter Qualifikationen und Wesenseigenschaften aus, die auf Titel oder gesamte kirchlich assoziierte Netzwerke übertragen werden: »Finally, spiritual capital exists in an institutionalized state: the power that churches, seminaries, and other religious organizations exercise to legitimate an arbitrary array of religious goods, promote the demand for these goods, and feed the supply by bestowing qualifications on a select group of authorized producers.«227
224 Verter, Spiritual Capital, 159. 225 Vgl. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 29. 226 Vgl. Prüller-Jagenteufel, Veronika, Art. Grundvollzüge der Kirche, in: Maria E. Aigner – Anna Findl-Ludescher – Veronika Prüller-Jagenteufel (Hgg.), Grundbegriffe der Pastoraltheologie (99 Wörter Theologie konkret), München 1 2005, 99–100, hier: 99–100. 227 Verter, Spiritual Capital, 160.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
Dieser kirchliche Einflussbereich erstreckt sich über amtsbezogene Netzwerke (z.B. Römische Kurie, Konzilien, Bischofssynoden etc.), Bildungsnetzwerke (z.B. Pastoralamt, Schulamt, Katholische Bildungseinrichtungen etc.) und charismatische Netzwerke (z.B. Ordensgemeinschaften, katholische Vereine und Bewegungen etc.). Die zweite Gruppe institutionalisierten Kapitals umfasst nicht nur das dreigliedrige Amt von Priester, Bischof und Diakon, sondern auch Bildungstitel und Ehrentitel. Der Amtstitel als funktional zu verstehender Titel beinhaltet alle kirchlichen Ämter, vom Weiheamt bis hin zu kirchlichen Leitungsämtern (z.B. Pastoralamtsleiter*innen etc.). Ihre Aufgabenbereiche bestehen in der Leitung pastoraler, seelsorglicher oder liturgischer Dienstleistungen. »Bildungstitel als individuelle Prädikate«228 müssen hiervon noch einmal abgegrenzt werden, da sie zwar eine bestimmte soziale Position in Aussicht stellen, aber nicht so sehr wie bspw. der Konsekrationsakt der Weihe machtrelevant sind. Wissen und Kompetenz sind im Vergleich zur symbolischen Qualifikation – der Anstaltsgnade bzw. »Anstalts- oder Amtsautorität«229 – weniger wert. Schon während des Studiums wird deshalb spirituellen Ausbildungsinhalten im Priesterseminar oft mehr Bedeutung eingeräumt als den wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen theologischer Fakultäten. Ab Erhalt der Weihe spielt die theologische Ausbildung eines Priesters für seine künftige Arbeit im Sinne der Qualifikation kaum mehr eine Rolle. Angezweifelt wird dessen theologische Eignung nur dann, wenn sich die prophetische Kritik an der lehramtlich legitimierten Spiritualität zugleich als Machtkritik offenbart. Unter das institutionalisierte Kapital fallen außerdem Ehrentitel, wie sie etwa in der Taufe, der Weihe oder bei dem Eintritt in ein Ordensleben vergeben werden. Der neue Name, der zugleich die Verbundenheit mit einem kirchlichen Netzwerk ausdrückt, kommt einer Heiligung von Personen gleich, die in der Heiligsprechung die höchste Form der Anerkennung erhält. Zum institutionalisierten Kapital gehört demnach auch die treue Anhänger*innenschaft der Laien. Nur in einem Netzwerk, wo soziale Akteur*innen die ihnen seitens der Mächtigen zugewiesene soziale Position auch tatsächlich einnehmen und die Rechtfertigung ihres Daseins und ihrer sozialen Position ihrer Nachfrage entsprechend befriedigt wird, ist die institutionelle Macht gesichert. Damit sind die vielfältigen Möglichkeiten religiösen Kapitals nur vage angedeutet, geben aber eine erste Ahnung davon, wie sich kirchliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata jeweils auswirken und wo sie Einfluss haben. Zur Veranschaulichung dieses breiten Gefüges an religiösem Kapital dient die beigefügte tabellarische Zusammenfassung.
2.2.5. Zusammenfassung: religiöses Feld als interessegeleitete Machtstruktur Den Untersuchungsgegenstand der in diesem Kapitel erfolgten Anamnese bildete die soziale Struktur des religiösen Feldes. Damit beschränkt sich die Analyse dieser Dissertation bewusst auf soziologische Zusammenhänge, ohne gleichzeitig eine Funktion- oder
228 Müller, Pierre Bourdieu, 56. 229 Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, 63.
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Ausdruck
Habitus und Hexis
Form
Christliche Ethik und Ästhetik
Theologien, Theodizeen Christlicher Stand, Katholizität, Strukturierung der Zeit
Spiritualität
Religiosität/Frömmigkeit
Theologisches Wissen bzw. Bildung
objektivistische Denkkategorien
christliches Ethos (Familiensinn, Gottesliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe, Tugenden, Armut, Demut, Keuschheit, …)
Glaube und Weltsicht
Phänomenologische Wahrnehmungskategorien
inkorporiert
Beteiligung am kirchlichen Leben Einbindung in die religiöse Volkskultur
Gebet (liturgische Gesten, Rituale, Handlungen, Sprache, …)
gelebte christliche Moral (christliche Nachfolge, interessefreies Handeln, Gehorsam, …)
Theologische Kompetenzen
Praxeologische Handlungskategorien
Beispiele für verfügbare Mittel zur Vergemeinschaftung im Sinne der Koinonia dem Dienst an der Gemeinschaft
Tabelle 4: Religiöses Kapital des römisch-katholischen Feldes
128 Mehrdeutige Körper
Heilsgüter
objektiviert Religiöse Bildung Religiöse Weiterbildung u. Ausbildung Theologische Berufsausbildungen Bibelkreise
Seelsorge
Spirituelle Begleitung
Sakramente und Sakramentalien
Kunstprojekte, Kirchenkonzerte
Martyria/Dienst am Wort
Religionsbücher, theologische Texte, Zeitschriften, katechetische Handreichungen, …
Predigttexte, Gewissensspiegel, Heiligenviten, Erbauungsliteratur, …
Diakonia/Dienst am Menschen
Gesangbücher und Gebetbücher mit Anweisungen zur christlichen Lebensführung (Gotteslob, Stundenbuch, …)
Künstlerische Darstellungen biblischer Geschichten
Kirchenraumgestaltung (Dekor), konsekrierte Gegenstände (Hostien, Weihwasser, Weihrauch, Devotionalien, …)
Kirchliche Liederbücher Gebet- und Andachtsbücher
Biblische Kommentare, Bibelübersetzungen, Exegetische Texte
Tradierte kulturelle Heilsgüter
Bibel
Persönliche Heilsgüter
Dienstleistungen
Wallfahrten, Heiligenfeste, Pfarrfeste
Liturgische Dienste (Bedienung/Verwendung liturgischer (Geräte, …)
Wortgottesfeier
Eucharistiefeier
Leiturgia/Gottesdienst
Lehramtliche Texte, Kirchenrecht, Katechismus
Liturgische Gesangbücher Liturgische Ritualbücher
Raumaufteilung, Innenausstattung, Liturgische Gegenstände u. Kleidung
Liturgische Textbücher
Tradierte kirchliche Heilsgüter
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld 129
Pastoralamt Schulamt Katholische Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten, Fakultäten, Bildungshäuser, …) Ausbildungszentren für Theologiestudierende oder Pastoralassistent*innen Verbände (Religionslehrer*innen, …)
Ordensgemeinschaften (SJ, OP, OFM …)
Katholische Vereine und Bewegungen
Katholische Aktion, Zentralkomitee der deutschen Katholiken, …
Katholische Jugend, Jungschar, Hochschulgemeinde, …
Caritas, …
Bildungsnetzwerke
Kirchlicher Dienst (Wortgottesfeierleitung, Seelsorge, Rechtstitel, kirchliche Verwaltungsämter Lektorat, Akolythat, …) (Diözesanrichter, Generalvikar, …)
Ehrenamt, Patenamt, …
Charismatische Netzwerke
Religionslehrer*in (BA, MA, PhD), Religionspädagog*in (BA, MA, PhD)
Missio canonica, Nihil obstat, …
Titel
institutionalisiert
Netzwerke
Diözesan-, Dekanats-, u. Pfarrverbände
Bischofskonferenzen
Bischofssynoden
Konzilien
Römische Kurie
Amtsbezogene Netzwerke
Berufstitel des Schulamtes (Schulamtsleiter*in, Fachinspektor*in, …)
Pastorale Berufstitel (Pastoralamtsleiter*in, Referent*in,…)
Pastoralassistent*in (PAss) Pastoralreferet*in
Amtstitel Kirchliches Amt, Ordensdienste (Bischof, Priester, Diakon, Abt, …)
Ordensname, geweihte Jungfrauen, Taufname, …
Bildungstitel Theolog*in (BA, MA, Lic., Dr., Dr. habil)
Ehrentitel
Heiliggesprochene, Seliggesprochene
130 Mehrdeutige Körper
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
Wesensbestimmung von Religion daraus abzuleiten. Wenngleich die Soziologie Religion bis dorthin verkürzt, wo religionsphilosophische Theorien ansetzen, sollte entgegen aller kritischer Vorbehalte auch das Desiderat einer sozialphilosophischen Forschung in der Theologie in Kap. 2.2.1 aufgezeigt worden sein. Die theologische Beschäftigung mit Soziologie ist schon allein deshalb relevant, weil die Theologie aus sich heraus nur unzureichend in kritische Distanz zu ihren genuinen Reflexionsressourcen treten und deren Einfluss auf die Gesellschaft aus der Binnenperspektive heraus nicht objektiv abschätzen kann. Die Rede von der Gesellschaft erschöpft sich also nicht in der Rede von Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen. Umgekehrt gilt es natürlich auch die Erkenntnisgrenzen der Soziologie angemessen abzustecken. Die Religionssoziologie im Sinne Bourdieus gibt vorrangig Auskunft über die Macht- und Anerkennungsstrukturen des religiösen Feldes, ohne damit die Relevanz von Theologie an sich in Frage stellen zu können. Es mag nur ab und an vorkommen, dass das antiklerikale Umfeld Frankreichs Bourdieu zu Unrecht zu solchen Wesensaussagen verleitet hat. Die Struktur des religiösen Feldes gab in Kap. 2.2.2 darüber Aufschluss, nach welcher Logik sich das römisch-katholische Feld nach außen wie nach innen strukturiert. Maßgeblich tat sich dabei das genuin religiöse Interesse hervor, zur Rechtfertigung des Daseins als solchem und des Daseins in einer bestimmten sozialen Position beizutragen. Dazu übernehmen die mit selbstlegitimierter religiöser Macht ausgestatteten Akteur*innen des religiösen Feldes – Priester, Propheten und Zauberer – die Aufgabe, mittels der Monopolisierung und anschließenden Distribution von Heilsgütern und Dienstleistungen einen dauerhaften und tiefgreifenden Einfluss auf die Praxis und Weltsicht von Laien zu bewirken. Deren dynamische Rollenbilder, Konkurrenzkämpfe und wechselseitige Abhängigkeiten wurden in Kap. 2.2.3 erläutert. Dabei wurde auch die Kritik berücksichtigt, dass die religiöse Macht von Laien bei Bourdieu unterrepräsentiert ist und die Fähigkeit zur Einflussnahme auf den religiösen Markt nur auf das Erwirken von Konzessionen seitens des religiösen Machtzentrums in den Blick gerät. Im Kap. 2.2.4 schließlich wurde in Erweiterung zu den Vorarbeiten von Bourdieu und Verter eine Systematisierung des religiösen Kapitals im römisch-katholischen Feld erarbeitet, die es ermöglichen soll, die Einflussbereiche des religiösen Feldes abzustecken. Diese umfassen den inkorporierten religiösen Habitus und mit ihm die verleiblichte Hexis, welche sich in phänomenologische Wahrnehmungskategorien, objektivistische Denkkategorien und praxeologische Handlungskategorien einteilen ließen. Einen weiteren Teilbereich religiösen Kapitals bilden – wie in der in Kap. 2.2.4 erarbeiteten Tabelle abgebildet – objektivierte Heilsgüter (persönliche, tradierte kulturelle und tradierte kirchliche) und Dienstleistungen (Diakonia, Martyria, Leiturgia). Schließlich sind auch institutionalisierte religiöse Titel (Ehrentitel, Bildungstitel, Amtstitel) und religiöse Netzwerke (charismatische Netzwerke, Bildungsnetzwerke, amtsbezogene Netzwerke) zum religiösen Kapital zu zählen. Die verfügbaren Mittel zur Vergemeinschaftung des Feldes im Sinne der Koinonia kann also auf eine Bandbreite an spezifischen Kapitalsorten zurückgreifen und sie strategisch für die Erreichung einer einflussreichen sozialen Position im religiösen Feld einsetzen. Inwieweit der Geschlechterhabitus diesen Prozess in der Vergangenheit mitbedingt hat und inwiefern er dies gegenwärtig noch tut, soll im Anschluss aufgezeigt werden.
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2.3. Historische Aufarbeitung: Wandel des Geschlechterhabitus und geschlechtsspezifischer Anerkennungsparadigmen im römisch-katholischen Feld Dass das römisch-katholische Feld, wie jedes andere Feld auch, dem Einfluss männlicher Herrschaft unterliegt, wurde von mir bereits in der Diplomarbeit Habitus als relationale Freiheit 230 herausgearbeitet, in der vor allem das objektivierte religiöse Kapital, insbesondere lehramtlichen Texten zu Fragen von Ehe, Familie und Sexualität ab dem Zweiten Vatikanum untersucht wurden. Ausgehend von den dynamischen Einflüssen männlicher Herrschaft im römisch-katholischen Feld auf den römisch-katholischen Geschlechterhabitus, konzentriert sich dieses Kapitel auf dessen Veränderungen im Gefolge der dritten Welle der Frauenbewegungen (ab den 1990ern).231 Ohne die vorangegangenen Entwicklungen im Detail nachzeichnen zu können, kann festgehalten werden, dass erst in den 1990ern die im Gefolge der Gender Studies nochmals differenziertere Sicht auf Geschlechtlichkeit, der nunmehr übliche Zugang von Frauen zu Bildung und Erwerbsarbeit, die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sowie das Gendermainstreaming vermehrt auch innerkirchlich ihre Wirkung entfalten. Dies führte zu massiven kirchlichen und mitunter auch theologischen Widerständen gegen die sich spätmodern neu etablierende Ehe- und Sexualmoral. Umgekehrt bildeten diese Veränderungen auch ein größeres Bewusstsein für innerkirchliche Machtstrukturen aus, die in Zusammenhang mit Geschlechtlichkeit und Sexualität standen. Grundlegend und zeitunabhängig lässt sich feststellen, dass es bei zunehmender Autonomisierung des römisch-katholischen Feldes gegenüber anderen Feldern (dem der Politik etwa) tendenziell zu einer Verschärfung männlicher Herrschaft bzw. kirchlicher Autorität und damit zu einer Fixierung homologer Ordnungsmuster in Bezug auf das Geschlecht kommt. Als zentrales Kennzeichen für eben diese Prozesse der Machtlegitimierung sieht Bourdieu Euphemisierungen, Doppeldeutigkeiten und weitere Praktiken der Verschleierung bzw. des Konsekrierens an. Spätestens seit dem ausgehenden 20. Jh. verlieren diese Konsekrationseffekte (vgl. Kap. 2.2.2) auf verschiedensten Ebenen
230 Mairinger, Katharina, Habitus als relationale Freiheit. Bourdieus sozialphilosophischer Ansatz in kritischer Auseinandersetzung mit der katholischen Geschlechteranthropologie [Diplomarbeit Univ. Wien, Wien], 2017. 231 Fokussiert werden Strukturbeziehungen des römisch-katholischen Feldes und dessen Theologie im mittel- und südeuropäischen Kontext mit dem Vatikan als lehramtlichem Zentrum, da sich Argumentationslinien und Religiosität je nach Konfession und Stellung von Religion im sozialen Raum erheblich unterscheiden können: »Faktisch legen die bisherigen Befunde eher nahe, davon auszugehen, dass ein Geschlechtsunterschied bezüglich der Religiosität lediglich in Abhängigkeit von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und einer spezifischen religiösen Kultur begegnet, die näher untersucht werden sollten.« Klein, Constantin u.a., Sind Frauen tatsächlich grundsätzlich religiöser als Männer? Internationale und interreligiöse Befunde auf Basis des Religionsmonitors 2008, in: Kornelia Sammet – Friederike Benthaus-Apel – Christel Gärtner (Hgg.), Religion und Geschlechterordnungen (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Wiesbaden 2017, 99–131, hier: 107. Trotz aller Spezifizierung kann der globale Wirkungsbereich lehramtlicher Äußerungen und deren mehr oder weniger verbindlicher Referenzrahmen für unterschiedliche Theologien nicht negiert werden.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
massiv ihre Wirkung und das neben anderen Faktoren vor allem in den Ländern, in denen sich emanzipatorische Anliegen öffentlich durchsetzen. Christliche Männlichkeit in patriarchischer Prägung sieht sich laut dem simbabwischen Religionswissenschaftler Ezra Chitando zunehmend (1) institutionell durch die Infragestellung des Zölibats bzw. des klerikalen Männerbildes, (2) objektiviert durch die Verschiebung von einer leibfeindlichen zu einer körper- und sexualfreundlichen Theologie und (3) inkorporiert durch die Infragestellung der religiös legitimierten Heterosexualität bedroht.232 Als Gegenstrategie der katholischen Kirche erfolgt eine metaphysische Überhöhung des Amtes und mit ihm des Zölibats bzw. der Jungfräulichkeit bei gleichzeitiger Essentialisierung des NichtKlerikalen, insbesondere also Frauen. Mütterlichkeit wird damit nicht nur zum Sinnbild eines weiblichen Lebensideals stilisiert, sondern zugleich als klare Opposition zum klerikalen Männerbild entworfen. Auf alternative Distinktionsmarker, die auch in genuin theologischen Deutungsrahmen Anerkennung genießen (Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe usw.), wird für die Strukturierung des sozialen Gefüges des römisch-katholischen Feldes bisweilen kaum zurückgegriffen. Zum möglicherweise relevantesten internen Distinktionsmarker für das römisch-katholische Feld etabliert sich seit Beginn der Emanzipationsbewegungen damit zunehmend die männliche Herrschaft und sie bleibt es bis in die Gegenwart. Dies ist ein kontingentes Faktum, keineswegs aber eine notwendige Kausalfolge aus den historischen Gegebenheiten. Schließlich hätte sich die katholische Kirche zu diesen Bewegungen von Anfang an auch anders verhalten können. Fest steht jedoch, dass sich die katholische Kirche mit dieser Positionierung der in Westeuropa weitgehend anerkannten Menschenrechtslogik deutlich hinterherhinkt und damit mit dem Laienintellektualismus bricht. Die nächsten Kapitel sollen daher im Sinne Bourdieus überprüfen, inwiefern folgende These zutrifft: Die Krise der katholischen Kirche in der Gegenwart ist auch eine Krise männlicher Herrschaft. Entlang ausgewählter Phänomene soll dargestellt werden, inwiefern sich der Geschlechterhabitus und damit geschlechtsspezifische Anerkennungsparadigmen im römisch-katholischen Feld ab Einsetzen der feministischen Emanzipierungsbewegungen in den 1990ern gewandelt hat und wie dies zur Umstrukturierung der institutionalisierten (Netzwerke und Titel), objektivierten (Heilsgüter und Dienstleistungen) und inkorporierten (Habitus und Hexis) Ordnung des Feldes geführt hat. Die Zuordnung der Phänomene folgt dabei der bereits vorgelegten Systematisierungstabelle in Kap. 2.2.4. Die Betrachtung der verschiedenen Ebenen erfolgt folgendermaßen: Zunächst wird (1) für jede Ordnung ein exemplarisch ausgewähltes Krisenphänomen erläutert, daran anschließend folgt (2) die Beschreibung der zunächst widerständigen Reaktion der römisch-katholischen Machtinhabern und schließlich werden (3) die einlenkenden Konzessionen mit den krisenhaften Herausforderungen für das römisch-katholische Feld in Beziehung gesetzt.
232 Vgl. Chitando, Ezra, Maskulinitäten, Religion und Sexualität, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 56/2 (2020) 137–148, hier: 141.
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2.3.1. Infragestellung der institutionalisierten Ordnung der katholischen Kirche durch die Abwertung des klerikalen Männerbildes Die institutionelle Ordnung der katholischen Kirche erfährt zumindest im Westen Europas aus soziologischer Sicht seit dem 21. Jh. einen tiefgreifenden Wandel. Der mit dem Weihestand einst verteidigte Amtstitel von Klerikern verliert radikal an Anerkennung, gerät besonders durch die Missbrauchsfälle in Verruf. Die schwindende Anzahl an Priesteramtskandidaten wird vielerorts durch Priester aus anderen Kulturkreisen, oder durch großräumige Pfarrzusammenlegungen oder Kompetenzerweiterungen theologischer Berufe von Lai*innen kompensiert. Sobald diese aber mehr Rechte und Leitungsfunktionen einfordern, werden sie zurückgewiesen.233 Der Zölibat und mit ihm das klerikale Männerbild ist seit Jahrzehnten in der Krise. Mit der zunehmenden Bedeutung der Gender Studies an theologischen Fakultäten zeigt sich auch die Theologie kritischer gegenüber der Kirche als monarchisch hierarchisch strukturierter Institution und ihren Würdenträgern. Hinzu kommt, dass der Rechtfertigungszwang dieser Lebensform zunehmend mit dem Aufkommen der zahlreichen Missbrauchsfälle steigt. Vor allem Bischöfe stehen in Kritik, selbst geistlichen und/oder sexuellen Missbrauch begangen, oder ihn vertuscht zu haben. Die schrecklichen Vorfälle lassen zunächst starke Zweifel an der Autorität und Macht der Kirche aufkommen. Papst Benedikt XVI. nimmt sich der Causa vorerst nicht an, sondern sieht eine stärkere Verrechtlichung der Institution Kirche, worunter bspw. auch die neuen Satzungen zur Bischofssynode234 zu zählen sind, als dringlicher an. So wird das Papstamt strukturell gestärkt,235 Informationen nach außen werden durch die Kommission für die Verbreitung von Informationen über die Synode überwacht236 und die Beteiligung anderer Personen, die darin als »Experten«, »Hörer« und »Vertreter«237 bezeichnet werden, wird ihr Stimmrecht entzogen. Die Synode wird damit zu einem kontrollierten hierarchischen Organ und damit zu einer Einrichtung, die in völligem Widerspruch zu dem seitens der Lai*innen geforderten Mehr an Transparenz und Mitspracherecht steht. In Deutschland werden nach der Veröffentlichung von Missbrauchsfällen in jesuitischen Einrichtungen unter anderem zwei Forschungsprojekte zur Aufarbeitung in Auftrag gegeben. Nach Abschluss des ersten Projektes Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland im Jahr 2012 unter Leitung des Forensischen Psychiaters der Universität Duisburg-Essen Norbert Leygraf wird deutlich, dass nur die wenigsten Täter pädophil sind.238 Ein Forschungsverbund erhebt für die Jahre von 1946 bis 2014 233 Klingen, Vatikan setzt Pfarr-Reformen Grenzen, in: kathpress, (20. Juli 2020). 234 Benedikt XVI., Papst, Ordnung der Bischofssynode. Rescriptum ex Audientia, Vatikan Stadt 2006 (29. September 2006). URL: http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_20 050309_documentation-profile_ge.html [Abruf: 14. März 2023]. 235 Vgl. Benedikt XVI., Ordnung der Bischofssynode, I, I. Kap., Art. 1, §1. 236 Vgl. Benedikt XVI., Ordnung der Bischofssynode, I, IX. Kap., Art. 16, §3. 237 Vgl. Benedikt XVI., Ordnung der Bischofssynode, I, IV. Kap., Art. 7. 238 Vgl. Leygraf, Norbert u.a., Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland. Eine Analyse forensischer Gutachten 2000–2010. Abschlussbereicht 2012, 2012, 43. URL: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/Dossiers_2012/2012_Sex-Uebergriffe-durch-katholische-Geistliche_Leygraf-Studie.pdf [Abruf: 14. März 2023].
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
quantitative Daten zum Missbrauch und sexualisierter Übergriffe von Geistlichen und stellt 2016 nach Abschluss der sogenannten MHG-Studie239 über tausend Fallzahlen allein in Deutschland fest. Darin wird der Klerikalismus in der hierarchisch-autoritären Prägung als Mitursache für sexualisierte Gewalthandlungen an nicht geweihten Personen beschuldigt. Amt und Weihe würden nämlich eine übergeordnete Position und damit den Auswuchs klerikaler Dominanz begünstigen.240 Durch die 2017 startende #MeTooBewegung steigt die öffentliche Diskreditierung sexueller Belästigung, Diskriminierung und Gewalt auch gesellschaftspolitisch an. Möglicherweise kommt es aufgrund dessen 2018 auch in vielen weiteren Ländern vermehrt zur Thematisierung von Missbrauch in der Kirche: Nach der Veröffentlichung der MHG-Studie durch die Deutsche Bischofskonferenz im Jahr 2018 in Fulda werden weitere Skandale bekannt. So wollen im Mai desselben Jahres alle 30 Mitglieder der Chilenischen Bischofskonferenz aufgrund der Vertuschung von Missbrauchsfällen von ihrem Amt zurücktreten. Im August 2018 stellt die Staatsanwaltschaft von Pennsylvania einen Ermittlungsbericht zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche vor. Auch in Frankreich wird 2018 der Prozess gegen mehrere, hohe Würdenträger geführt.241 Papst Franziskus sieht sich daraufhin 2019 gezwungen, eine Vatikan-Konferenz zur Aufarbeitung einzurichten. Die Erwartungen werden jedoch von vorne herein gedämpft: »Es ist nicht gerade ermutigend, dass nicht nur Papst Franziskus (auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Panama), sondern auch Kardinal Schönborn Erwartungen bereits im Voraus gedämpft haben: Vom Gipfel im Vatikan, zu dem vom 21. bis 24. Februar sämtliche Vorsitzende der Bischofskonferenzen weltweit, Kurienchefs und Spitzenvertreter der Orden zusammenkommen, um mit dem Papst zu beraten, dürfe man ›keine Wunder erwarten‹.«242 Die Ergebnisse der Konferenz sind ernüchternd, da keine konkreten Maßnahmen beschlossen werden. Anstatt also an Lösungen zu arbeiten, werden diese kirchenpolitischen Streitpunkte als Konsequenz einer schicksalshaften Krise deklariert und damit dem Diskurs entzogen. Auf viele drängende Vorwürfe gibt Papst Franziskus schlicht keine Antwort mehr, sondern schweigt.243 Die Unfähigkeit der katholischen Kirche, mit diesen Anliegen adäquat umzugehen, bewirken eine Dezentralisierung kirchlicher
239 Dreßing u.a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, 2018. URL: https://ww w.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 240 Vgl. Dreßing u.a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, 13. 241 Vgl. Sprick – Hetzel, Chronologie des Missbrauchs-Skandals, in: Süddeutsche Zeitung, (28. Januar 2020). 242 Batlogg, Andreas R., Es ist nie genug, in: Die Furche 8 (2019) 13, hier: 13. 243 Der Papst schweigt. Wann wusste er was über Ex-Kardinal McCarrick?, in: Handelsblatt, (27. August 2018); Vatikan. Papst Franziskus schweigt zu den Vorwürfen von Erzbischof Viganò, in: euronews, (09. Mai 2019); Jansen, Kein Wort zum Zölibat. Das Schweigen des Papstes, in: Frankfurter Allgemeine, (12. Februar 2020).
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Macht.244 Der nur noch geringe Einfluss über die verbleibenden Gläubigen präsentiert sich betont apolitisch und ahistorisch. Das Nachapostolische Schreiben Christus vivit 245 von 2019 etwa greift die vielen Missbrauchsvorwürfe gegenüber der katholischen Kirche zwar thematisch auf, stellt diese zugegeben unentschuldbaren Fälle aber als einen Teilbereich einer gesamtgesellschaftlichen Sündenverstrickung246 und als ein Minderheitenphänomen dar: »Gott sei Dank sind die Priester, die in diese schrecklichen Verbrechen verstrickt sind, nicht die Mehrheit.«247 Konkrete Lösungsvorschläge gibt es außer einem Versprechen, sich für die »Umsetzung rigoroser Präventionsmaßnahmen«248 einzusetzen, nicht. Das restliche Dokument spricht – bedenkt man den Zusammenhang – beinahe schon zynisch von der Liebe Gottes, von Berufung und Opferbereitschaft. Auf die damit in Zusammenhang stehenden Forderungen reagiert Papst Franziskus unterschiedlich. Einerseits wird das päpstliche Geheimnis 2019 von ihm mit sofortiger Wirkung abgeschafft und der Zugang zu kirchlichen Dokumenten für weltliche Strafverfolgungsbehörden ermöglicht,249 andererseits wird im nachsynodalen Schreiben Querida Amazonia von 2020 die Frage nach den viri probati nicht wie erhofft aufgegriffen, sondern im gesamten Schreiben überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen werden vielmehr dem emanzipatorischen Anliegen des Frauenpriestertums Klerikalisierungstendenzen unterstellt, die es zu überwinden gelte: »Dies ist eine Einladung an uns, unseren Blick zu weiten, damit unser Verständnis von Kirche nicht auf funktionale Strukturen reduziert wird. Ein solcher Reduktionismus würde uns zu der Annahme veranlassen, dass den Frauen nur dann ein Status in der Kirche und eine größere Beteiligung eingeräumt würden, wenn sie zu den heiligen Weihen zugelassen würden. Aber eine solche Sichtweise wäre in Wirklichkeit eine Begrenzung der Perspektiven: Sie würde uns auf eine Klerikalisierung der Frauen hinlenken und den großen Wert dessen, was sie schon gegeben haben, schmälern als auch auf subtile Weise zu einer Verarmung ihres unverzichtbaren Beitrags führen.«250 244 Vgl. Sander, Hans-Joachim, Die Herrschaft der Oblaten und die Ohnmacht der Erben. Ein Reproduktionsvorgag von unabsehbarer Tragweite, in: Ansgar Kreutzer – Hans-Joachim Sander (Hgg.), Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (Quaestiones disputatae 295), Freiburg i.Br. u.a. 2018, 68–108, hier: 106. Vgl. a. Sanders entsprechende Ausführungen in: Sander, Hans-Joachim, Anders glauben, nicht trotzdem. Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen, Ostfildern 2021. 245 Franziskus, Papst, Nachsynodales apostolisches Schreiben Christus vivit. An die jungen Menschen und an das ganze Volk Gottes, Vatikan Stadt 2019 (25. März 2019). URL: https://www.vatica n.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_201 90325_christus-vivit.html [Abruf: 14. März 2023]. 246 Vgl. Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Christus vivit, Nr. 95–96. 247 Vgl. Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Christus vivit, Nr. 100. 248 Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Christus vivit, Nr. 97. 249 Vgl. Pietro, Parolin, Instruktion. Über die Vertraulichkeit der Fälle. Rescritto del Santo Padre Francesco con cui si promulga l’Istruzione »Sulla riservatezza delle cause«, Vatikan Stadt 2019 (17. Dezember 2019), Nr. 1–5. URL: https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2 019/12/17/1011/02062.html [Abruf: 14. März 2023]. 250 Franziskus, Papst, Nachsynodales apostolisches Schreiben Querida Amazonia von Papst Franziskus an das Volk Gottes und an alle Menschen guten Willens, Vatikan Stadt 2020 (02. Februar
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Auch der Rückgang an Berufungen zum Priesteramt wird nicht in Zusammenhang mit dem Auseinanderklaffen des Männlichkeitsbildes von Institution und Individuum begriffen. Dabei erweist sich gerade die kritische Infragestellung von Männlichkeitsbildern in der katholischen Kirche als Auslöser für die Infragestellung der Religion überhaupt. Die im Zuge der Emanzipationsbewegungen stattfindenden Aushandlungsprozesse zugunsten einer Umverteilung von Macht werden seitens der religiösen Spezialist*innen als Verlust des Zusammenhalts, der Eindeutigkeit und der Orthodoxie gedeutet. Sie werden als Anlass genommen, an der höchsten Autorität der Kirche – nämlich dem Papst selbst – zu zweifeln: »Jeder, ob Bischof oder einfaches Kirchenmitglied, macht, was er will, und hält für richtig, was er macht. ›Katholisch‹ ist kein Markenzeichen mehr, ›Kirche‹ ist obsolet, ›christlich‹ diffus geworden. Übrigens, auch der Papst trägt bisweilen zu dieser Konfusion bei.«251 Diese internen Zerwürfnisse sind keineswegs neu. Schon das nachapostolische Schreiben Amoris Laetitia252 steht unter scharfer Kritik. Hier handelt es sich im Sinne Bourdieus nicht um die direkte Opposition von Priester und Lai*innen, sondern um zum Scheitern verurteilte Versuche, das römisch-katholische Feld zumindest für den Teilbereich konservativer Katholik*innen zu stabilisieren: »Der Kampf wird nicht primär zwischen Klerus und Laien geführt, obwohl in Amoris laetitia auch und gerade die private Lebensführung von Laien Thema ist, sondern zwischen unterschiedlichen (auch selbsternannten) Klerikern und Experten: Alles, was Rang und Namen hat, bringt sich dabei in Stellung: Kardinäle gegen Kardinäle, Bischöfe gegen Bischöfe, Priester gegen Priester, Theologen gegen Theologen, Philosophen gegen Philosophen, Journalisten gegen Journalisten und kreuzweise. Sie alle erheben den Anspruch, das päpstliche Lehramt in legitimer Weise zu interpretieren. Dabei ist der Papst selbst ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.«253 Reformbemühungen, wie etwa dem Synodalen Weg, der am 1. Dezember 2019 durch die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und einer strukturellen Neuorientierung der katholischen Kirche in Deutschland gegründet wurde, mangelt es daher an institutioneller Rückbindung und struktureller Klarheit, wie der Theologe und Soziologe Michael Ebertz feststellt: »Niemand weiß momentan, was damit gemeint ist, wer da mitgehen 2020), Nr. 100. URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/document s/papa-francesco_esortazione-ap_20200202_querida-amazonia.html [Abruf: 14. März 2023]. 251 Kath.net Redaktion, Gegen die Verwüstung der katholischen Kirche. Interview mit Windisch Hubert, in: kath.net, (29. Mai 2019), 1. 252 Franziskus, Papst, Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus. An die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die Christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie, Vatikan Stadt 2016 (19. Juni 2016). URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/docu ments/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html [Abruf: 14. März 2023]. 253 Ebertz, Michael N., Verschiebungen des religiösen Feldes. Anstöße und Anstößigkeiten Bourdieus für die Pastoralsoziologie, in: Ansgar Kreutzer – Hans-Joachim Sander (Hgg.), Religion und soziale Distinktion. Resonanzen Pierre Bourdieus in der Theologie (Quaestiones disputatae 295), Freiburg i.Br. u.a. 2018, 268–292, hier: 282.
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soll und darf, und wie verbindlich die Ziele sein werden, die noch niemand kennt.«254 Es würde nicht verwundern, wenn die noch motivierten Mitarbeiter*innen ihren eigenen Weg ohne den Papst, die Bischöfe oder Priester gehen. Sich selbst dabei noch als gläubige und praktizierende Katholik*innen zu bezeichnen, steht nicht im Widerspruch dazu. Vielmehr erfährt der Katholizismus durch die »anarchische Diversifizierung«255 eine strukturelle Neuorganisation: »Im Zuge der ›Auflösung des Religiösen‹, genauer gesagt einer überkommenen Formation des religiösen Feldes, wird nicht nur jeder Geistliche ein kleiner Papst oder Bischof, sondern auch jeder sein eigener Priester und jede ihre eigene Priesterin.«256 Entscheidend für die institutionelle Stabilität der katholischen Kirche wird damit, ob die Mitwirkung von Lai*innen in der zentralen Gestaltungs- und Organisationsstruktur von Kirche als Volk-Gottes grundlegend anerkannt wird. Wie die vorangegangenen Beispiele gezeigt haben, leidet das Ansehen klerikaler Männlichkeit und mit ihm die Institution der katholischen Kirche, denn der Zweifel an der Priesterschaft kommt dem Zweifel an der symbolisch legitimierten Orthodoxie gleich. Durch die seitens vieler Kritiker*innen wenig geachtete Lebensform des Zölibats und die Missbrauchsfälle verliert das Zentrum des religiösen Feldes an Einfluss und Glaubwürdigkeit bei den Laien.
2.3.2. Infragestellung der objektivierten Ordnung der katholischen Kirche durch eine körper- und sexualfreundliche Theologie Dieser Abschnitt soll verdeutlichen, dass die durch die Emanzipationsbewegungen ausgelösten Forderungen tatsächlich, wie stets von Gender-Kritiker*innen befürchtet, zu einer Reformierung des Religiösen führen. Zwar fehlt vielen neuen spirituellen LGBTQIA*-Angeboten bisher noch ein institutioneller Rahmen, der sie als eigene Religion ausweisen würde, ihre Heilsgüter und Dienstleistungen erweisen sich aber deshalb als besonders attraktiv, weil sie an den religiösen Markt besser angepasst sind. Den neu entdeckten Zielgruppen wird außerdem nicht von vorne herein aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Identität Zugang zu objektivierten Kapitalsorten verwehrt. Die moralische Infragestellung des klerikalen Männerbildes ist damit nicht nur eine Kritik an der internen Struktur der Kirche, sondern stellt insgesamt eine Bedrohung für das römisch-katholische Feld als solchem dar, denn gerade die Vermittler von Heilsgütern werden in Folge des Missbrauchsskandals zu Repräsentanten einer unheiligen Kirche.257 Diese Veränderungen der objektiven Ordnung haben Auswirkungen auf die
254 Ebertz, Michael N., Von Wegen, 2019, 1. URL: https://www.feinschwarz.net/von-wegen/ [Abruf: 14. März 2023] Die Spannung zwischen Veränderungswillen und Bewahrung des Traditionellen zeigt sich sowohl inhaltlich wie strukturell: Bucher, Rainer, Auch wenn sich nichts ändert, wird sich was ändern, 2021. URL: https://www.feinschwarz.net/synodaler-weg/#more-33168 [Abruf: 14. März 2023]. 255 Bourdieu, Was heißt sprechen?, 108. 256 Ebertz, Verschiebungen des religiösen Feldes, 286. 257 Scharf ist die Kritik mancher Theolog*innen daher an der weiterhin verteidigten, zölibatären Lebensform des Priesters: »Muss ein Mann, der wesentlich über seine nicht ausgelebte Sexualität definiert und durch dies zum spirituellen Anführer stilisiert wird, nicht zwangsläufig zum sexuellen Gewalttäter oder psychischen Krüppel werden? Ist klerikale Männlichkeit eine besonders perfide
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von der Kirche angebotenen Heilsgüter und Dienstleistungen, denn alternative Angebote scheinen auf die religiöse Nachfrage besser abgestimmt.258 In diesem Sinne erlebt der religiöse Markt eine möglicherweise noch nie dagewesene Pluralisierung und Privatisierung von Heilsgütern und Dienstleistungen, die sich dementsprechend auch in den Grundvollzügen der Kirche und damit der Liturgie, der Seelsorge und Katechese bzw. religiöser Bildung bemerkbar machen.
2.3.2.1. Die Krise des Ehesakraments durch Gender- und Queer-Studies Ab Mitte der 1990er konnte die Genderforschung vereinzelt allmählich in theologischen Fakultäten Eingang finden.259 Sie setzt sich unter anderem auch kritisch mit der lehramtlichen Kritik an der Genderideologie auseinander. Die nach dem Konzil spätestens unter Johannes Paul II. intensivierte Zentralisierung des Lehramtes bietet nun das Einfallstor für theologischen Widerstand, denn das theologische Engagement für Gender Studies ist auch einem Befreiungskampf eigenen Interesses geschuldet. Die Zugeständnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils an Lai*innen durch die Volk-Gottes-Theologie beherbergen ob ihrer weitgehenden Nichtimplementierung in der Praxis (wie auch im kirchlichen Recht) ein erhebliches Konfliktpotential, dessen sich die Kirche sehr bewusst ist. Eine Zeitdiagnose gegen Ende des Jahrtausends, namentlich unter dem ehemaligen Weihbischof von Wien, Helmut Krätzl, lautet, die Kirche sei nach dem Konzil Im Sprung gehemmt 260 worden. Diese These lässt sich etwa anhand der theologischen Verhandlung der Themenbereiche zu Ehe, Familie und Sexualität nachweisen. Die Bestellung auf moraltheologische Lehrstühle steht besonders in der Aufmerksamkeit kirchlicher Prüfungsorgane im Nihil-obstat-Verfahren, denn oftmals problematisieren gerade diese Themen mehr oder weniger indirekt die Sakralisierungsmacht der Institution. Wer den Gehorsamsforderungen nicht nachkommt, verliert seine Stimme im theologischen Diskurs und kann an diesem nicht mehr gestaltend mitwirken. Damit differenzieren sich Theologie und Kirche trotz wechselseitiger Abhängigkeit vermehrt unabhängig voneinander aus. Gleichzeitig entwickelt sich mit der Etablierung feministischer und gendertheoretischer Forschung jedoch eine körper- und sexualfreundliche Theologie, die Form toxischer Männlichkeit, die ihr Unvermögen im Umgang mit neuen Geschlechterrollenbildern hinter einer scheinheiligen Fassade versteckt?«, Heimerl, Theresia, Wesentlich andere Männer? Klerikale Männlichkeiten, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 56/2 (2020) 188–195, hier: 193. 258 Vgl. LGBTS Christian Church Inc. Homepage. URL: https://lgbtschristianchurch.wordpress.com /?fbclid=IwAR33gxTve5Ft5O_4QLPt_n3bB_grNPjQRGAPrksUZRisQSX5aOmvoYgYxNE [Abruf: 14. März 2023]. 259 Vgl. Hanlon Rubio, Julie, Männlichkeit und sexueller Missbrauch in der Kirche, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 56/2 (2020) 196–205, hier: 197. Die Theologische Frauenund Geschlechterforschung hat an der Uni Graz einen besonderen Stellenwert. Bereits 1994 wurde sie als Fakultätsschwerpunkt fix verankert. In Bonn wird die Arbeitsstelle Feministische Theologie und Genderforschung kirchengeschichtlichem Schwerpunkt 2004 gegründet. In Münster wird 2007 die Arbeitsstelle Feministische Theologie und Genderforschung aufgebaut und erhält 2018 als Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung eine neue Ordnung. Andere Fakultäten des deutschsprachigen Raumes haben zumindest personell einen Schwerpunkt in der Geschlechterforschung, oder bieten regelmäßig Sonderlehraufträge an. 260 Krätzl, Helmut, Im Sprung gehemmt. Was mir nach dem Konzil noch alles fehlt, Mödling 2 1998.
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auch kritische Anfragen an den bisherigen Umgang mit nicht-heterosexuellen Lebensformen stellt, wie am Beispiel der Ehe für alle aufgezeigt werden kann. Die staatliche Anerkennung der Ehe für alle stellt Anfragen an den sakramentalen Charakter nicht-heterosexueller Lebensformen und führt zur Forderung von Segnungsfeiern für homosexuelle Paare in der katholischen Kirche.261 Damit ereignet sich auch ein noch nicht weitreichend beachteter Umschwung in kirchenpolitischen Belangen. Die säkulare Institution des liberalen Staates sichert sich nun das Monopol auf die Heilsgüter und deren Verwaltung.
2.3.2.2. Pluralisierung des religiösen Marktes als Reaktion auf unangepasste religiöse Heilsgüter und Dienstleistungen Diese Tatsache verbürgt einen eklatanten Motivationsschub für Anwärter*innen auf das Monopol religiöser Heilsgüter und Dienstleistungen im (noch) als säkular eingestuften Feld. Nicht nur Theologien differenzieren sich angesichts der neuen Positionierung zu Leib und Körper aus, sondern es finden sich plötzlich überall spirituelle Heilsangebote: Medizin, Sport, Psychologie und Wirtschaft bieten körperliche und geistige Heilung an. Ärzt*innen, Fitnesstrainer*innen, Psycholog*innen und Coaches bedienen sich Techniken symbolischer Manipulation und erheben damit Anspruch auf eine je spezifische Weltdeutung, die ihre Profession für das Gelingen eines Lebens unentbehrlich machen.262 Diese »Art Rückfall auf elementarere Interessen an Gesundheit, Heilung und Kuren an Leib und Seele«263 liegt vor allem an dem breiteren Zugang zur Bildung und dem Verständnis, dass die Heilssuchenden sich durch die Emanzipationsbewegungen immer mehr als eigene Fürsprecher*innen erfahren. Delegations- und Repräsentationsformen in stark institutionalisierter Form, wie sie die katholische Kirche über lange Zeit vertreten hat und die erst durch Papst Franziskus allmählich einer sanften Revision unterzogen wurden, werden daher zurückgewiesen.264 An der Gestaltung und der Rezeption von Amoris laetitia können diese Prozesse beispielhaft aufgezeigt werden: Die Autorität des Papstamtes und die Definition der Heilswahrheiten werden unter Zweifel gezogen,265 gängige Leitkategorien wie etwa die antithetische Gegenüberstellung von Unheil und Heil verlieren ihre Plausibilität,266 das einstige Kirchenbild von der societas perfecta wandelt sich zu einem Bild einer verbeulten Kir-
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Vgl. Hilpert, Konrad, LGBT und Katholische Sexualethik. Moraltheologische Suchbewegungen, in: Katechetische Blätter 145/1 (2020) 21–26, hier: 25; Kongregation für die Glaubenslehre, Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts, Vatikan Stadt 2021 (22. Februar 2021). URL: http://www .vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20210222_respons um-dubium-unioni_ge.html [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 98. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 98. Vgl. Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 99. Vgl. Ebertz, Michael N., Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2/1 (2018) 9–26, hier: 13. Vgl. Ebertz, Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche, 21.
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che267 , die Sakramentalität und der Stellenwert kirchlicher Heilsgüter nimmt ab268 sowie die Kontrolle über die Riten und Ritualisierungen insgesamt.269 Außerdem wird das Tragen religiöser Kleidung und die Anbringung religiöser Symbole in der Öffentlichkeit zunehmend skeptisch beäugt, wenngleich die fremde und eigene religiöse Identifikation weiterhin maßgeblich über sie erfolgt. Religiöse Interessen werden in selbstgewählten und weniger verbindlichen Gemeinschaftsbildungen verfolgt und finden sich vor allem an Orten von Marginalisierung: »Religiöser Glaube ist heute ein wichtiges und legitimes Mittel geworden, in marginalisierten Stadtteilen soziale Einrichtungen und Jugendgruppen zu organisieren, überall dort, wo der Staat auf dem Rückzug ist. […] Im Zentrum der Selbstorganisation stehen häufig Charismatiker_innen, die etwa durch bestimmte Lebensereignisse gezeichnet sind, oder religiöse Unternehmer_innen, die ihre religiösen Angebote wie Geschäfte betreiben oder sie mit politischen Fragen verknüpfen.«270 Die Religionssoziologin Linda Woodhead beschreibt in Anlehnung an Michel de Certeau diesen Prozess in der Spätmoderne als Übergang von der strategischen zur taktischen Religion. Letztere stimmt in weiten Teilen mit Bourdieus Beschreibung des Zauberers überein. Es ist eine Religion der Machtlosen, die ihre Ziele und Interessen weniger über strategisches Kalkül, sondern reaktiv und integrativ verwirklichen, indem sie sich all jener Objekte und Rituale bedienen, die am Rand des religiösen Feldes angesiedelt sind und innerhalb der Orthodoxie wenig Beachtung finden.271 Für die Gegenwart scheint diese Art der Religion vorherrschend zu sein: »In der spätmodernen Welt ist taktische Religion weit davon entfernt, auf die private oder häusliche Sphäre beschränkt zu sein; vielmehr schleicht sie sich in Bereiche wie den Bildungssektor, das Gesundheitssystem, die Freizeit, den Arbeitsplatz, den Konsum sowie die lokale und transnationale Politik ein. Heutzutage statten die kombinierten Effekte des ›desorganisierten‹ Konsumenten-Kapitalismus sowie der deregulierten und frei zugänglichen Medien zur Kommunikation, Werbung und Unterhaltung die taktische Religion mit einer ganzen Reihe von neuen Instrumenten und Gelegenheiten aus.«272
267 Vgl. Franziskus, Papst, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium des heiligen Vaters Papst Franziskus. An die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Vatikan Stadt 2013 (24. November 2013), Nr. 49. URL: https://www.vatican.va/content/francesco /de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudiu m.html [Abruf: 22. Februar 2022]. 268 Vgl. Ebertz, Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche, 18. 269 Vgl. Ebertz, Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche, 21. 270 Wienold – Schäfer, Glauben-Machen, 102. 271 Vgl. Woodhead, Linda, Wie der Feminismus die Religionsforschung revolutioniert hat, in: Kornelia Sammet – Friederike Benthaus-Apel – Christel Gärtner (Hgg.), Religion und Geschlechterordnungen (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Wiesbaden 2017, 37–48, hier: 43–46. 272 Woodhead, Wie der Feminismus die Religionsforschung revolutioniert hat, 45.
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Solange die katholische Kirche die Ehe für alle oder eine vergleichbare Anerkennungsform für homosexuelle Paare nicht glaubhaft anbietet oder ihre alternativen Vorschläge nicht akzeptiert werden, suchen diese nach Alternativen außerhalb des römisch-katholischen Feldes (weltliche Eheschließungsformen, LGBTQIA*-Churches, Free Community Churches usw.).
2.3.2.3. Adaptionen des Katechismus als vorläufige Konzessionen für nicht-heterosexuelle Lebensformen Fest steht jedenfalls, dass das katholische Lehramt den säkularen und neureligiösen Heilsversprechen deutlich hinterherhinkt: Durch Adaptionen des Katechismus versuchte es bereits 1997 homosexuellen Geschlechtsidentität zumindest auf symbolischer Ebene Anerkennung zu zollen. Man kommt zur Erkenntnis, dass Homosexualität als tiefsitzende Tendenz anerkannt werden muss, wenngleich auf diese Anerkennung auch eine Mitleidsbekundung erfolgt. Außerdem wird homosexuellen Personen die Berufung zugesprochen, das Leben nach dem Willen Gottes erfüllen zu können. Existenziell überfordernd bleibt damit aber die pastorale Umsetzung dieser Wertschätzung: Sie werden zur Keuschheit im Sinne sexueller Enthaltsamkeit aufgerufen, da die Weitergabe des Lebens beim Geschlechtsakt ausgeschlossen sei und es sich deswegen um einen in sich ungeordneten Akt handle.273 Eine Segnung gleichgeschlechtlicher Paare wird deswegen im Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts274 von 2021 unter das Verdikt der fehlenden kirchlichen Vollmacht gestellt. Von der Heterosexualität abweichende sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten werden weiterhin aufgrund nachfolgender Prämissen verurteilt: Der Mensch als leibseelisches, personales Wesen wurde von einem liebenden Gott geschaffen. In der Liebe erfährt der Mensch seinen Anteil an der Weitergabe des Lebens und verkörpert sie in der Sexualität. In der besonderen Vereinigung von Mann und Frau und der Nachkommenschaft wird gleichsam die Dreieinigkeit Gottes abgebildet. Diese analoge Relation kann laut dem Verständnis des Lehramts durch abweichende sexuelle Ausdrucksformen nicht aufrechterhalten werden. Sie sind theologisch, ontologisch und moralisch unvollständig, ungeordnet oder falsch und gefährden so die Ordnung.275 In dieser Begründungslogik sieht das Lehramt die Segnung homosexueller Paare als unzulässig an, selbst wenn sie in anderen christlichen Konfessionen bereits praktiziert wird.276
273 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, Fribourg u.a. 2015, Nr. 2358–2359. 274 Kongregation für die Glaubenslehre, Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts. Obwohl dieses Dokument mit Gutheißung von Papst Franziskus veröffentlicht wurde, zeigt die im Anschluss daran vollzogene Degradierung des Erzbischofs Giacomo Morandi durch den Papst die auch innerkirchlich gespaltene Haltung zu dem Thema. Vgl. Jansen, Bestraft der Papst einen Hardliner?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (14. Januar 2022). 275 Vgl. McCarthy, John, Interpreting the Theology of Creation. Binary Gender in Catholic Thought, in: Patricia B. Jung (Hg.), God, Science, Sex, Gender. An Interdisciplinary Approach to Christian Ethics, Urbana 2010, 123–139, hier: 126. 276 Vgl. Hilpert, LGBT und Katholische Sexualethik, 25.
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2.3.3. Infragestellung der inkorporierten Ordnung der katholischen Kirche durch eine selbstbestimmt gelebte Sexualität Veränderungen der männlichen Herrschaft im Bereich der inkorporierten Ordnung betreffen bspw. die Frage nach legitimen Formen von geschlechtlicher Identität und Sexualität. Der hier oft als ungerechtfertigter Eingriff in das Privatleben empfundene Geltungsanspruch lehramtlicher Äußerungen zu Ehe- und Sexualfragen weist tatsächlich Dimensionen auf, die das Ganze des Menschen in seiner leibseelischen Verfassung betreffen. Das katholische Lehramt versucht mit seiner Ehe- und Sexuallehre auf den Lebensstil, das Ethos und die Ethik der Gläubigen einzuwirken, jenen Bereich des Habitus, der besonders körper- und personengebunden ist. Die kritische Infragestellung heteronormativer Sexualität durch die Gender Studies lösen starken Widerstand aus, denn die traditionelle Sittenordnung sieht sich dadurch massiv bedroht.
2.3.3.1. Die Krise der katholischen Sexualmoral durch eine autonom gelebte Geschlechtsidentität Die Theologie des Lehramtes ist in entscheidenden Positionen zur Ehe- und Sexuallehre besonders bis zum zweiten Vatikanum einer neuscholastischen Logik verschrieben, die ihre Autorität von einer göttlichen Schöpfungsordnung deduktiv ableitet, ohne erkenntnistheoretische Überlegungen über das kirchliche Wissen dieses göttlichen Planes anzustellen.277 »Hinzu kommt die (auch innerkirchlich vorgetragene) Kritik, dass das Interesse der kirchlich unterstützten Neuscholastik oftmals gar kein philosophisches und theologisches war, sondern der Begründung und politischen Durchsetzung einer wahren christlichen Gesellschaftsordnung diente.«278 So dient diese Form der Argumentation in erster Linie einer kirchlichen Gehorsamsforderung, die angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche immer drängender wird und besonders im Feminismus die Wurzel familiärer wie kirchlicher Zersplitterung zu erkennen meint.279 Johannes Paul II. etwa will mit seiner Theologie, die er noch als Professor für Moraltheologie in Liebe und Verantwortung280 entwickelt und als Papst in Fami-
277 Zur Kritik an der katholischen Gender-Kritik vgl. Marschütz, Gerhard, Einfach Mann und Frau? Zur katholischen Kritik an der vermeintlichen Gender-»Ideologie«, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 164/1 (2016) 23–31. 278 Marschütz, Gerhard, theologisch ethisch nachdenken. Band 1 : Grundlagen, Würzburg 2 2014, 37–38. 279 Vgl. Snyder, Patrick, Le féminisme selon Jean Paul II. L’impasse du déterminisme corporel, in : Studies in Religion 29/3 (2000) 313–324. 280 Johannes Paul II., Papst, Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, Kleinhain 2007.
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liaris consortio281 und Mulieris dignitatem282 festschreibt, zu einer symbolischen Umdeutung des Feminismus und schließlich des Frauseins beitragen. In dem darin grundgelegten Differenzfeminismus und der Betonung eines besonderen »Genius der Frau«283 sieht er wohl zu Recht noch eine Möglichkeit, die kirchliche Geschlechterordnung in ihrer traditionellen Form weitgehend aufrechtzuerhalten. Es ist daher keineswegs verwunderlich, dass sich mit dem Pontifikat von Johannes Paul II. vermehrt marianische Frömmigkeitsformen entwickeln. Schließlich soll der verteidigte »Genius der Frau«284 erlebt und erfahrbar werden, indem die eingeforderten Rechte von Frauen in der Kirche symbolisch – gleich einem marianischen Gehorsamseid – umgedeutet werden.285 Die angestoßenen Diskussionen um die kirchenrechtliche Gleichstellung der Frau werden schrittweise in ihrer Bedeutung nivelliert. Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, behauptet ein Jahr nach der Weltfrauenkonferenz in Peking von 1995, dass »Teile des heutigen Feminismus auf eine Banalisierung von Leib und Geschlechtlichkeit, auf die Beliebigkeit sozialer Montage des Menschen hinauslaufen, den Menschen vom Schöpfer und der Schöpfung abkoppeln und ihn zum Demiurgen seiner selbst machen wollen […]«286 . Damit tritt die lehramtliche Verkündigung in radikale Ungleichzeitigkeit zu bereits gängigen Formen des Gendermainstreamings in weiten Teilen der Öffentlichkeit. Die Entwicklung der Geschlechterforschung bewirkt starke Widerstände seitens der religiösen Rechten wie auch der liberalen Marktwirtschaft. Feministische Strömungen hatten bereits großen Einfluss in Politik und Wissenschaft erreicht. Sie bestanden dabei auf einer kategorialen Geschlechterperspektive, welche die Unterdrückung der Frau als Ursache aller Ungerechtigkeit beschrieb. Ende der 1970er allerdings erfuhren diese Strömungen einen herben Rückschlag, denn die politischen Ziele, die anfangs leitend waren, schienen für Frauen höherer Schichten nun erreicht. Frauen aus Arbeiterklassen jedoch konnten mit der Forderung nach einer androgynen Geschlechterpolitik und
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Johannes Paul II., Papst, Apostolisches Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II. An die Bischöfe, die Priester und Gläubigen der ganzen Kirche über die Aufgaben der Christlichen Familie in der Welt von heute, Vatikan Stadt 1981 (22. November 1981). URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_exhortations/documents/hf_jp-ii_ex h_19811122_familiaris-consortio.html [Abruf: 14. März 2023]. Johannes Paul II., Papst, Apostolisches Schreiben Mulieris dignitatem von Papst Johannes Paul II. Über die Würde und Berufung der Frau anlässlich des marianischen Jahres, Vatikan Stadt 1988 (15. August 1988). URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1988/docum ents/hf_jp-ii_apl_19880815_mulieris-dignitatem.html [Abruf: 14. März 2023]. Johannes Paul II., Papst, Brief von Johannes Paul II. an die Frauen, Vatikan Stadt 1995 (29. Juni 1995), Nr. 10. URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/1995/documents/hf_jpii_let_29061995_women.html [Abruf: 14. März 2023]. Johannes Paul II., Brief von Johannes Paul II. an die Frauen, Nr. 10. Näheres dazu vgl. Werner, Gunda, Eine dogmatische Relekture mariologischer Transformationen im 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die gegenwärtigen Geschlechteranthropologien, in: Marlene Deibl – Katharina Mairinger (Hgg.), Eindeutig mehrdeutig. Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion (Religion and Transformation in Contemporary Society 20), Göttingen 2022, 155-178. Ratzinger, Joseph, Brief, in: Herder-Korrespondenz 50 (1996) 571–572, hier: 571.
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weiteren analytischen Gedankenexperimenten wenig anfangen. Ab den 1980ern zersplitterte dadurch die Neue Linke, was eine kohärente Befreiungsbewegung für Frauen schwächte. Es ist genau diese Zeit ab den 1990ern, in der die Kategorien sex und gender im Anschluss von Judith Butler revidiert werden.287 Butlers Werk Gender Trouble [dt. das Unbehagen der Geschlechter]288 wird ab sofort zur wichtigsten Grundlage für die Queer-Theory. Deren spezifischer Beitrag liegt darin, die Diskurstheorie auf das Feld der Geschlechterforschung anzuwenden. Demnach gibt es kein vordiskursives Verfügen über den Geschlechtskörper, die Geschlechtsidentität oder Sexualität. Geschlecht ist daher keine ontologische Tatsache, sondern wird durch Handlungen performativ hergestellt289 (doing gender). Das trifft auch auf das biologische Geschlecht zu, das sich erst im Diskurs verwirklicht. Der nie enden wollende Prozess der Performativität bedingt, dass die Geschlechtsidentität den zum Teil widersprüchlichen Anforderungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit niemals völlig genügen kann. Vielmehr plädiert Butler für eine Fragilität bzw. Entzogenheit des Subjektes, dessen beständiges Scheitern die Identität bildet.290 Butlers Ansatz erfährt zunächst im wissenschaftlichen Bereich vielfach Kritik. Maßgeblich im Vordergrund steht dabei, dass sie mit ihren Überlegungen rein auf der theoretischen Ebene bleibe und so empirische Untersuchungen ausblende. Derart werde die Wirklichkeit eines Körpers komplett negiert und die Bedeutung dessen völlig aufgehoben. Obwohl sich Butler in Körper von Gewicht 291 um eine Klarstellung bemüht292 , sind es gerade diese Kritikpunkte, die dem (nicht nur) katholischen Antigenderismus293 zugrunde liegen. Das katholische Lehramt nimmt mit seiner klar negativen Positionierung gegenüber den Gender Studies auch die Opposition zum Liberalismus einiger europäischen Staaten ein, was die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen.
2.3.3.2. Antigenderismus als fundamentalistische Gegenbewegung traditionell-katholischer Kreise Am 26. Juli 2000 veröffentlicht der Päpstliche Rat für die Familie das Dokument Familie, Ehe und »faktische Lebensgemeinschaften«, in welchem seitens des kirchlichen Lehramtes erstmals direkt auf die sogenannte Gender-Ideologie reagiert wird.294 Im Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und 287 Vgl. Connell, Raewyn, Gender, hg. v. Ilse Lenz und Michael Meuser (Geschlecht und Gesellschaft 53), Wiesbaden 2013, 62–68. 288 Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter (übers. v. Kathrina Menke) (Gender Studies 1722), Frankfurt a.M. 19 2018. 289 Vgl. Distelhorst, Lars, Judith Butler (UTB Profile 3038), Paderborn 2009, 42–43. 290 Vgl. Distelhorst, Judith Butler, 73. 291 Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (übers. v. Karin Wördemann) (Edition Suhrkamp 1737), Frankfurt a.M. 8 2014. 292 Vgl. Distelhorst, Judith Butler, 25. 293 Vgl. Hark, Sabine – Villa, Paula-Irene (Hgg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2 2017; Strube, Sonja A. u.a. (Hgg.), Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation (Edition Politik Band 100), Bielefeld 2021. 294 Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Ehe, Familie und »faktische Lebensgemeinschaften«, Vatikan Stadt 2000 (26. Juli 2000), Nr. 8. URL: https://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_co
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in der Welt von 2004 schließlich greift man darauf zurück und problematisiert die Auswirkungen dieser Ideologie: »Um jegliche Überlegenheit des einen oder des anderen Geschlechts zu vermeiden, neigt man dazu, ihre Unterschiede zu beseitigen und als bloße Auswirkungen einer historisch-kulturellen Gegebenheit zu betrachten. Bei dieser Einebnung wird die leibliche Verschiedenheit, Geschlecht genannt, auf ein Minimum reduziert, während die streng kulturelle Dimension, Gender genannt, in höchstem Maß herausgestrichen und für vorrangig gehalten wird. Die Verschleierung der Verschiedenheit oder Dualität der Geschlechter bringt gewaltige Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen mit sich. Diese Anthropologie, die Perspektiven für eine Gleichberechtigung der Frau fördern und sie von jedem biologischen Determinismus befreien wollte, inspiriert in Wirklichkeit Ideologien, die zum Beispiel die Infragestellung der Familie, zu der naturgemäß Eltern, also Vater und Mutter, gehören, die Gleichstellung der Homosexualität mit der Heterosexualität sowie ein neues Modell polymorpher Sexualität fördern.«295 An diese Tradition schließt das Lexikon Familie an mit den Artikeln Gender (Geschlecht)296 von Jutta Burggraf, Ideologie des Begriffs »Gender«297 von Oscar Alzamora Revoredo und Neue Definition des Begriffs »Gender«298 von Beatriz Vollmer de Colles. Diese radikale Kritik problematisiert vor allem das gesellschaftliche wie familiäre Zerstörungspotential, das von Gender-Feministinnen ausgehe, ohne aber alternative Lösungsvorschläge vorzubringen. Dieser Argumentation schließen sich weitere lehramtliche Verkündigungen und Veröffentlichungen an, deren Anzahl sich ab den 2010er Jahren häuft.299
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uncils/family/documents/rc_pc_family_doc_20001109_de-facto-unions_ge.html [Abruf: 14. März 2023]. Ratzinger, Joseph – Amato, Angelo, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Vatikan Stadt 2004 (31. Mai 2004), Nr. 2. URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_ cfaith_doc_20040731_collaboration_ge.html [Abruf: 14. März 2023]. Burggraf, Jutta, »Gender« (Geschlecht), in: Päpstlicher Rat für die Familie (Hg.), Lexikon Familie. Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fragen, Paderborn 2007, 289–296. Alzamora Revoredo, Oscar, Ideologie des Begriffs »Gender«. Gefahr und Tragweite, in: Päpstlicher Rat für die Familie (Hg.), Lexikon Familie. Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fragen, Paderborn 2007, 310–322. Vollmer de Colles, Beatriz, Neue Definition des Begriffs »Gender«, in: Päpstlicher Rat für die Familie (Hg.), Lexikon Familie. Mehrdeutige und umstrittene Begriffe zu Familie, Leben und ethischen Fragen, Paderborn 2007, 297–309. Die wichtigsten lehramtlichen Aussagen in chronologischer Reihung sind: Vgl. Benedikt XVI., Papst, Ansprache von Papst Benedikt XVI. beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium, die Mitglieder der Römischen Kurie und der Päpstlichen Familie am 21. Dezember 2012, Vatikan Stadt 2012 (21. Dezember 2012). URL: http://w2.vatican.va/content/benedi ct-xvi/de/speeches/2012/december/documents/hf_ben-xvi_spe_20121221_auguri-curia.html [Abruf: 14. März 2023]; Franziskus, Papst, Generalaudienz, Vatikan Stadt 2015 (15. April 2015). URL: https://www.vatican.va/content/francesco/de/audiences/2015/documents/papa-francesco_ 20150415_udienza-generale.html [Abruf: 14. März 2023]; Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus; Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them. Darüber hinaus haben sich auch diver-
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Es ist die Rede von einer Philosophie, die die Natur des Menschen und seine Schöpfungswirklichkeit leugnet300 und damit »eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht stellt und die anthropologische Grundlage der Familie aushöhlt«301 . Laut Papst Franziskus wird sogar schon »den Kindern – den Kindern! – in der Schule beigebracht, dass jeder sein Geschlecht selber wählen kann«302 . Das Geschlecht müsse dagegen als Geschenk Gottes begriffen werden und dürfe nicht einer relativistischen und subjektivistischen Wahlfreiheit ausgeliefert werden. Die Folge dieser »anthropologischen Revolution«303 sei der ukrainischen Bischofskonferenz zufolge eine Kultur des Todes, da durch die Propagierung sexueller Freiheiten auch der christliche Glaube, die christliche Moral und damit grundsätzliche humane Werte zerstört würden.304 Außerdem, so etwa die kroatische Bischofskonferenz, bestünden die wahren Interessen und Ziele in der Trennung der Kinder von ihren Eltern, der allgemeinen Verwirrung und der Zerstörung der Familie, die mittels Panerotisierung und Beförderung polymorpher Sexualität durchgesetzt werden sollen.305 Derartige Aussagen ließen sich noch so lange additiv aneinanderreihen, wie die Zusammenstellung der je zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichten, kirchlichen Dokumente zum Thema Gender erfolgt ist. Schon allein die Struktur mancher Dokumente verweist auf die wiederholende Rezitation unreflektierter Vorwürfe, so etwa das von der Kongregation für das Katholische Bildungswesen 2019 veröffentlichte Schreiben Male and female he created them306 , welches seinem methodologischen Dreischritt (Hinhören, Nachdenken, Vorschläge machen) nur bedingt folgt. Während das Nachdenken nur 6 Nummern beansprucht, kommt das Vorschlägemachen auf 23 Nummern. Das unausgeglichene Verhältnis von Reflexion und normativer Handlungsanweisung, um die es letztlich auch bei den sogenannten Vorschlägen geht, gilt bislang stellvertretend für alle lehramtlichen Dokumente zu diesem Thema. Obwohl die lehramtliche Kritik an den nun bereits etablierten Gender Studies vergleichsweise spät auf-
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se europäische Bischofskonferenzen etwa in Kroatien, Polen, der Slowakei, Südtirol, Ungarn und Ukraine. Vgl. Benedikt XVI., Ansprache von Papst Benedikt XVI. beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium, die Mitglieder der Römischen Kurie und der Päpstlichen Familie am 21. Dezember 2012. Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus, Nr. 56. Vgl. Franziskus, Generalaudienz, Nr. 1. Benedikt XVI., Ansprache von Papst Benedikt XVI. beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium, die Mitglieder der Römischen Kurie und der Päpstlichen Familie am 21. Dezember 2012, Abs. 6. Vgl. Ukrainische Bischofskonferenz, Encyclical of the Synod of the Major Archbishopric of Kyiv-halych of the Ukrainian Greek Catholic Church Concerning the Danger of Gender Ideology, Kiew 2016 (01. Dezember 2016), Nr. 13. URL: https://ugcc.fr/publications/official-documents-ugc c/encyclical-of-the-synod-of-bishops-of-the-major-archbishopric-of-kyiv-halych-of-the-ukrainia n-greek-catholic-church-concerning-the-danger-of-gender-ideology/ [Abruf: 14. März 2023]. Vgl. Kroatische Bischofskonferenz, »Muško i žensko stvori ih!«. Male and female he created them!, 2014, Abs. 3.3. URL: http://hbk.hr/dokumenti-hbk/musko-i-zensko-stvori-ih/ [Abruf: 14. März 2023]. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them.
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tritt, ist sie wenig fundiert.307 Neben der im Hintergrund stehenden »Ablehnung feministischer Frauen und ihrer Forderung nach Gleichstellung«308 soll vor allem die Institution Familie geschützt und verteidigt werden. Deshalb werden zahlreiche theologische Vorwürfe gegenüber der lehramtlichen Genderkritik vorgebracht: a) Unwissenschaftlichkeit: Das lehramtliche Verständnis von Gender setzt sich über wissenschaftliche Standards hinweg, indem man selektiv oder gar falsch zitiert und sich kaum oder gar nicht mit Primärliteratur auseinandersetzt.309 Stattdessen stützt sich das Lehramt maßgeblich auf populärwissenschaftliche Publikationen von Dale O’Leary für den englischsprachigen oder Gabriele Kuby für den deutschsprachigen Raum.310 b) Fehlende Differenzierung: Aufgrund fehlender wissenschaftlicher Auseinandersetzung besteht zudem eine »weitgehende Ineinssetzung von Gender Mainstreaming, Gender Studies und Queer Theory«311 . Wissenschaftliche Theorie und politischer Aktivismus werden so nicht voneinander getrennt, um damit eine Vielzahl an Verschwörungstheorien zu stützen. c) Selbstreferentialität: Die lehramtliche Position verweigert alternative Perspektiven und behauptet überzeitliche Wahrheiten in Form einer Essentialisierung von Geschlecht, Sexualität und Geschlechtsidentität. Damit bleibt sie im repetitiven Rahmen der Selbstreferentialität, der fundamentalistischen Denkformaten eigen ist.312 Infolgedessen kommt es zu keinem Dialog mit den Gender Studies, sondern zur »Anathematisierung des Begriffes ›Gender‹«313 . d) Rechtspopulismus: Die Kritik steht in enger Verbindung mit rechtspopulistischer Propaganda: »In several countries, anti-gender actors overlap with those promoting
307 Vgl. hierzu etwa die Stellungnahme der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen zu dem Arbeitspapier der Kongregation für das Katholische Bildungswesen »›Male and female he created them‹. Towards a path of dialogue on the question of gender theory in education«, 2019. URL: https://uni-tuebingen.de/fileadmin/Uni_Tuebingen/ Fakultaeten/Kath-Theol/Documente/Aktuelles/Stellungnahme_Male_and_female_he_created_ them.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 308 Connell, Raewyn, Männer, Männlichkeit, Gott. Kann die Sozialwissenschaft das theologische Problem klären helfen?, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 56/2 (2020) 105–115, hier: 113. 309 Vgl. Marschütz, Gerhard, Erstaunlich schlecht. Die katholische Gender-Kritik, in: Thomas Laubach (Hg.), Gender – Theorie oder Ideologie?, Freiburg i.Br. 1 2017, 99–115, hier: 101–106. 310 Vgl. Anić, Rebeka J., Der Begriff »Gender« als Anathema. Eine Kampagne der kroatischen Bischöfe als Beispiel, in: Herder-Korrespondenz 69/3 (2015) 157–161, hier: 161. Maßgeblich betrifft das folgende Werke: O’Leary, Dale, The Gender Agenda. Redefining Equality, Lafayette 1997. Kuby, Gabriele, Gender. Eine neue Ideologie zerstört die Familie, Kißlegg 5 2014; Kuby, Gabriele, Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, Kißlegg 6 2016 311 Marschütz, Gerhard, Menschenrechtliche Implikationen der katholischen Anti-Gender-Strategie, in: Marianne Heimbach-Steins – Michael Böhnke (Hgg.), Menschenrechte in der katholischen Kirche. Historische, systematische und praktische Perspektiven, Paderborn 2018, 255–266, hier: 258. 312 Vgl. Marschütz, Erstaunlich schlecht, 106. 313 Anić, Der Begriff »Gender« als Anathema, 161.
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right-wing populist politics, both as members of political parties and of civil society organizations. This is particularly true in countries like Austria and Germany […].«314 e) Ahistorizität: Historische Kulturwissenschaften werden abgelehnt, da die Herleitung von kulturell leitenden Normvorstellungen oder Wertsystemen aus den komplexen Entstehungsbedingungen für die Stabilität des Feldes aus konservativer Sicht problematisch scheint.315 f) Abwertende Rhetorik: Die Strategie der Kritik besteht in der systematischen Abwertung der emanzipatorischen Bewegungen. Genderismus, Ideologie, Kultur des Todes und weitere Beschimpfungen paaren sich mit einer pauschalen Abwertung und Diskreditierung dessen, was den Namen gender trägt.316 Theolog*innen, welche Gender-Anliegen in ihr Denken aufnehmen, sehen sich daher nicht selten »Strategien der Kränkung, der Diffamierung und des Lächerlichmachens«317 ausgesetzt.
2.3.3.3. Anerkennung der Gender- und Queer-Studies als noch ausstehende Konzession? Wie am Beispiel der Ehe- und Sexualmoral gezeigt werden konnte, wandeln sich seit der dritten Welle der Frauenbewegung Habitus und Hexis der Gläubigen wie der kirchlichen Autoritäten: Das inkorporierte religiöse Kapital droht durch alternative Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien in Verlust zu geraten und damit die Vorstellung einer religiös legitimierten Heterosexualität. Besonderes einflussreich erweisen sich in diesem Zusammenhang die Gender- und Queer-Studies, die das theologische Wissen wie auch die religiöse Identifikation einer Relecture unterziehen und »eine Verschiebung des theologischen Blickwinkels unausweichlich«318 gemacht haben. So finden sich da und dort auch bereits in lehramtlichen Schreiben vage Konzessionen, die eine Übernahme bestimmter Ansichten der Gender Studies vermuten lassen: »Man darf nicht ignorieren, dass ›das biologische Geschlecht (sex) und die soziokulturelle Rolle des Geschlechts (gender) unterschieden, aber nicht getrennt werden [können]‹«319 . Außer-
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Kuhar, Roman – Paternotte, David, »Gender Ideology« in Movement. Introduction, in: Dies. (Hgg.), Anti-gender campaigns in Europe. Mobilizing against equality, Lanham – New York 2018, 1–22, hier: 13. Vgl. Striet, Magnus, Doing Gender im Vatikan. Vorsichtige Modifikationen im Hinblick auf Ehe und Familie, in: Herder-Korrespondenz 69/12 (2015) 17–20, hier: 19. Vgl. Heimbach-Steins, Marianne, Die Gender-Debatte. Herausforderungen für Theologie und Kirche, in: Margit Eckholt (Hg.), Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern 2017, 39–53, hier: 49–50. Herrmann, Steffen K., Politischer Antagonismus und sprachliche Gewalt, in: Sabine Hark – PaulaIrene Villa (Hgg.), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2 2017, 79–92, hier: 86. Goertz, Stephan, Auf dem Weg zur Akzeptanz. Katholisch-theologische Zwiespalte und Entwicklungen in der Bewertung von Homosexualität, in: Eberhard Schockenhoff (Hg.), Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Die Lebensformen der Intimität im Wandel (Grenzfragen 44), München 2020, 105–130, hier: 130. Goertz/Breitsameter zufolge besteht diese Verschiebung in der Priorisierung der Liebe vor der Lehre: Breitsameter, Christof – Goertz, Stephan, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, München 2020. Franziskus, Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus, Nr. 56.
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dem differenziert man in neueren Dokumenten zwischen Genderideologie und Gendertheorie,320 was entgegen der sonst so pauschal verurteilten Genderideologie eine argumentative Neuerung darstellt. Hinzu kommt, dass damit das christliche Ethos mit diesen Theorien umgedeutet wird. Wie Familie, Partnerschaft und Ehe gestaltet werden sollen, wird theologisch nicht mehr länger vor dem Hintergrund eines gottgewollten Plans für die Menschen erläutert, sondern der Autonomie der einzelnen emanzipierten Mitglieder der religiösen Gemeinschaft überantwortet.
2.3.4. Zusammenfassung: Legitimationsverlust männlicher Herrschaft im römisch-katholischen Feld und damit verbundene Konsequenzen Zusammenfassend lässt sich die These bestätigen, dass sich die gegenwärtige Krise des römisch-katholischen Feldes vornehmlich als Krise männlicher Herrschaft erweist, die auf allen Ebenen ihre Auswirkungen zeigt. Der von männlicher Herrschaft geprägte Geschlechterhabitus verliert jedoch insbesondere seit den emanzipatorischen Bewegungen des 19. Jh. allmählich seine Geltung im gesamten sozialen Raum. Damit wird seine feldübergreifende Relevanz ebenfalls gemindert. Darum werden nicht nur institutionalisierte Ämterstrukturen und von der kirchlichen Hierarchie abhängige Netzwerke massiv hinterfragt, sondern vielfach finden auch die von der Kirche angebotenen Heilsgüter und Dienstleistungen kaum noch Abnehmer*innen, da das religiöse Angebot nicht mehr an die religiöse Nachfrage angepasst ist. Infolgedessen bleibt die Wirkung des Konsekrationseffektes aus, welcher die Relevanz der religiösen Heilsgüter und Dienstleistungen für die Laien legitimiert. Gleichermaßen verliert der für das religiöse Zentrum einst hochgehaltene klerikale Lebensstil, der zölibatäres und sexuell enthaltsames Leben fordert, an Plausibilität und sieht sich wegen Klerikalismus und Missbrauchsvorfällen massiver Kritik ausgesetzt (vgl. 2.3.1). Folglich verschaffen sich die moralisch aufgeladenen Vorstellungen von sexuellen Körperpraktiken und die Geschlechtsentwürfe religiöser Anthropologien kaum noch Gehör. Mehr noch, die Haltung zu Ehe- und Sexualfragen verliert ihre Bedeutung als religiöses Distinktionsmerkmal. Es wird möglich, katholisch zu sein, ohne die Ehe für alle oder vorehelichen Geschlechtsverkehr verurteilen zu müssen. Davon zeugen etwa auch die Entwicklungen einer körper- und sexualfreundlichen Theologie (vgl. Kap. 2.3.2). Habitus und Hexis der Laien finden sich viel stärker von einer Theorie getragen, die sexuelle Selbstbestimmung und Autonomie fördern (vgl. Kap. 2.3.3), weshalb Gender- oder Queer Studies seitens des Laienintellektualismus eine große Zustimmung erfahren. Der Laientraditionalismus unterstützt dagegen weiterhin die Vorstellungen einer heteronormativ geprägten Sexualität und wehrt emanzipatorische Forderungen ab. Aufgrund der fehlenden Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Diskursen mangelt es dem katholischen Lehramt an der Kompetenz, adäquate Handlungsoptionen für Fragen der sittlichen Lebensgestaltung – insbesondere im Bereich von Ehe, Familie und Sexualität – beizutragen. Haben Geschlechterhabitus von Klerus und Laien in den vorhergehenden Jahrhunderten noch weitgehend miteinander übereingestimmt, 320 Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them, Nr. 6.
2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
klaffen sie nun immer mehr auseinander. Auf die Veränderungen reagiert das Lehramt bisweilen mit verstärkten Legitimationsversuchen des in Frage gestellten religiösen Kapitals, denn es will die Diffusion katholischer Habitus’ vermeiden, um den Machtanspruch auf die religiösen Heilsgüter und Dienstleistungen weiterhin behaupten zu können. Die Frage nach einem katholischen Spezifikum wird indes immer lauter. Daher kommt es auch nicht von ungefähr, dass radikale Ausformungen dieser Legitimationsversuche oftmals in Fundamentalismen ihren Halt finden wollen und Gewalt gegen jede abweichende Art von Weltvorstellung ausüben – dies nicht ohne Auswirkungen auf geschlechtliche Minoritäten.
2.4. Intersektionale Analyse: Auswirkungen symbolischer Gewalt auf intergeschlechtliche Menschen im römisch-katholischen Feld Bereits Kap. 1.3 und 1.4 im ersten Teil dieser Arbeit gaben einen Eindruck davon, dass es nicht die Medizin allein ist, die intergeschlechtlichen Menschen Gewalt zufügt. Problematischer ist vielmehr, dass ihre Therapien und Behandlungen durch die gesamte Gesellschaft legitimiert zu werden scheinen. In zahlreichen biographischen Schilderungen und empirischen Untersuchungen wird deutlich, »dass trans*, inter* und genderqueere Jugendliche in allen Lebensbereichen Diskriminierungen erleben, vor allem in der Schule, in der beruflichen Ausbildung, in Vereinen, in der Kirche und hier vor allem im ländlichen Bereich, überall dort [,] wo viele Jugendliche zusammentreffen und es hegemoniale Geschlechterkonzepte gibt.«321 Da immer wieder auch die Geschlechteranthropologie und die ehe- und sexualethischen Grundlagen der katholischen Kirche als Hindernisse für die Entfaltung einer Geschlechtsidentität ins Feld geführt werden, soll eine Analyse folgen, inwieweit intergeschlechtliche Personen symbolische Gewalt im römisch-katholischen Feld erfahren. Bourdieu stellt bereits in Die männliche Herrschaft symbolische Gewalt gegenüber den Schwulen- und Lesbenbewegungen fest. Zu einer Analyse von Inter*Bewegungen kommt er noch nicht, weil sich diese ab den 1990ern, vorerst nur in den USA, für die Abschaffung geschlechtskorrigierende und -zuweisender Operationen einsetzen.322 Erst durch die mediale Verbreitung vor allem im Internet wird dieser Aktivismus zu einem globalen Phänomen, dessen gegenwärtige mediale Präsenz die jüngsten Erfolge des Kampfes um Gleichberechtigung anzeigt. Die Erfolgsgeschichte der Schwulen- und Lesbenbewegungen und jene der Inter*Bewegungen ähneln sich strukturell, da beide gegen die inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Formen männlicher Herrschaft ankämpfen. Die Effekte symbolischer Gewalt im Zuge der Ausübung von männlicher Herrschaft auf Homo-
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Focks, Petra, Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews, 2014, 10. URL: http://ww w.meingeschlecht.de/MeinGeschlecht/wp-content/uploads/Focks_Lebenswelten_Expertinnenin terviews-_2014.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 322 Vgl. Voß, Intersexualität – Intersex, 17–20.
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2. Sozialphilosophische Einbettung entlang Pierre Bourdieu: Inter* im röm.-kath. Feld
klaffen sie nun immer mehr auseinander. Auf die Veränderungen reagiert das Lehramt bisweilen mit verstärkten Legitimationsversuchen des in Frage gestellten religiösen Kapitals, denn es will die Diffusion katholischer Habitus’ vermeiden, um den Machtanspruch auf die religiösen Heilsgüter und Dienstleistungen weiterhin behaupten zu können. Die Frage nach einem katholischen Spezifikum wird indes immer lauter. Daher kommt es auch nicht von ungefähr, dass radikale Ausformungen dieser Legitimationsversuche oftmals in Fundamentalismen ihren Halt finden wollen und Gewalt gegen jede abweichende Art von Weltvorstellung ausüben – dies nicht ohne Auswirkungen auf geschlechtliche Minoritäten.
2.4. Intersektionale Analyse: Auswirkungen symbolischer Gewalt auf intergeschlechtliche Menschen im römisch-katholischen Feld Bereits Kap. 1.3 und 1.4 im ersten Teil dieser Arbeit gaben einen Eindruck davon, dass es nicht die Medizin allein ist, die intergeschlechtlichen Menschen Gewalt zufügt. Problematischer ist vielmehr, dass ihre Therapien und Behandlungen durch die gesamte Gesellschaft legitimiert zu werden scheinen. In zahlreichen biographischen Schilderungen und empirischen Untersuchungen wird deutlich, »dass trans*, inter* und genderqueere Jugendliche in allen Lebensbereichen Diskriminierungen erleben, vor allem in der Schule, in der beruflichen Ausbildung, in Vereinen, in der Kirche und hier vor allem im ländlichen Bereich, überall dort [,] wo viele Jugendliche zusammentreffen und es hegemoniale Geschlechterkonzepte gibt.«321 Da immer wieder auch die Geschlechteranthropologie und die ehe- und sexualethischen Grundlagen der katholischen Kirche als Hindernisse für die Entfaltung einer Geschlechtsidentität ins Feld geführt werden, soll eine Analyse folgen, inwieweit intergeschlechtliche Personen symbolische Gewalt im römisch-katholischen Feld erfahren. Bourdieu stellt bereits in Die männliche Herrschaft symbolische Gewalt gegenüber den Schwulen- und Lesbenbewegungen fest. Zu einer Analyse von Inter*Bewegungen kommt er noch nicht, weil sich diese ab den 1990ern, vorerst nur in den USA, für die Abschaffung geschlechtskorrigierende und -zuweisender Operationen einsetzen.322 Erst durch die mediale Verbreitung vor allem im Internet wird dieser Aktivismus zu einem globalen Phänomen, dessen gegenwärtige mediale Präsenz die jüngsten Erfolge des Kampfes um Gleichberechtigung anzeigt. Die Erfolgsgeschichte der Schwulen- und Lesbenbewegungen und jene der Inter*Bewegungen ähneln sich strukturell, da beide gegen die inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Formen männlicher Herrschaft ankämpfen. Die Effekte symbolischer Gewalt im Zuge der Ausübung von männlicher Herrschaft auf Homo-
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Focks, Petra, Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews, 2014, 10. URL: http://ww w.meingeschlecht.de/MeinGeschlecht/wp-content/uploads/Focks_Lebenswelten_Expertinnenin terviews-_2014.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 322 Vgl. Voß, Intersexualität – Intersex, 17–20.
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sexuelle323 äußern sich in vielfältiger Weise und stehen immer auch in Zusammenhang mit physischen Gewaltakten324 : a) Normierung: Durch verschiedenste Maßnahmen wird versucht, die Heteronormativität und die damit verbundene symbolische Herrschaft wiederherzustellen. Dabei bleibt vorrangig männliche Herrschaft das leitende Prinzip für die Konzeption einer legitimen Sexualpraxis. Homosexuelle Akte werden so als »Sakrileg am Männlichen«325 gekennzeichnet, weil sie den symbolischen Prinzipien des aktiv penetrierenden Mannes und der passiv penetrierten Frau und dem damit legitimierten Herrschaftsverhältnis entgegenstehen. b) Stigmatisierung/Pathologisierung/Dämonisierung: Je nach Wirksamkeit der dichotomen Einteilungsschemata werden abweichende sexuelle Orientierungen stigmatisiert, pathologisiert oder gar dämonisiert. c) Unsichtbarmachung: Die öffentliche, legitime, d.h. anerkannte und vor allem rechtliche Existenz homosexueller Personen wird verweigert. Zur Zeit Bourdieus kämpften die von ihm untersuchten Bewegungen um rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wie auch um ein Adoptionsrecht. Im Gesetz werden ihre existenziellen Nöte nicht abgebildet und bleiben unsichtbar. d) Tabuisierung: Der durch die vorangehenden Mechanismen ausgelöste gesellschaftliche Druck, sexuellen Normen zu entsprechen, führt zu einer Vertuschung und Verheimlichung von Homosexualität. Schwulen- und Lesbenbewegungen werden zur Diskretion oder zum Schweigen aufgefordert und Einzelpersonen genötigt, ihre Identität im öffentlichen mitunter auch im familiären Sektor geheim zu halten, um der Schande und gewaltvollen Sanktionen zu entgehen. e) Schicksalseffekt: Die Tabuisierungsmechanismen wirken sich derart stark auf die Selbstwahrnehmung von Homosexuellen aus, dass sie die Wahrnehmungskategorien der Herrschenden (und damit heteronorme Deutungsmuster) auf sich selbst anwenden. Dies führt zu einem emotionalen Dilemma, da die Scham über die eigene sexuelle Orientierung und die Furcht, entdeckt zu werden, sich immer mit dem Wunsch nach Anerkennung von Gleichgesinnten, später aber auch von Vertreter*innen von Heteronormativität konfrontiert sehen. Vor diesem Hintergrund interpre-
323 Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 201–208. 324 Vgl. Nungesser, Frithjof, Ein pleonastisches Oxymoron. Konstruktionsprobleme von Pierre Bourdieus Schlüsselkonzept der symbolischen Gewalt, in: Berliner Journal für Soziologie 27/1 (2017) 7–33, hier: 12. Schließlich weisen alle symbolischen Formen verwehrter Anerkennung immer auch eine praktische Dimension auf, die nicht vernachlässigt werden darf. Gesetze können als physische Strafe exekutiert werden. Um nicht mehr in der Öffentlichkeit agieren oder reden zu können, kann man eingesperrt oder physisch mundtot gemacht werden. Stigmatisierung wird durch physische Gewalt im engeren Sinn (tätliche Angriffe, Zwangsoperationen, …) ausgeübt und schließlich zeugen auch selbstverletzende Tätigkeiten wie etwa das Ritzen, übermäßiger Drogen- oder Alkoholkonsum davon, wie sich symbolische Gewalt auf physische und umgekehrt auswirkt. 325 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 203.
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tiert Bourdieu den Wunsch einer Ehe für Homosexuelle als »›Rückkehr in geordnete Bahnen‹«326 . Die von intergeschlechtlichen Personen im Zuge dessen erlebten Erfahrungen im römisch-katholischen Feld werden nach der bereits bekannten Tabelle von Kap. 2.2.4 kategorisiert.327 Wie sich durchgängig zeigen lässt, sind Auswirkungen des römisch-katholischen Geschlechterhabitus in der Prägung männlicher Herrschaft im Hinblick auf intergeschlechtliche Menschen auch als symbolische Gewalt zu charakterisieren. Die breite Fächerung von biographischen Einzelbelegen steckt damit den Rahmen ab, inwieweit die Anerkennungsparadigmen des römisch-katholischen Feldes gegenüber intergeschlechtlichen Personen durch männliche Herrschaft korrumpiert sind. Da es sich dabei nicht primär um Glaubensbiographien handelt, sind die darin geschilderten Glaubenszeugnisse und -zweifel für die Analyse besonders wertvoll. Wenngleich diese systematische Vorgehensweise keine empirischen Untersuchungen ersetzen kann, gibt sie doch einen Einblick in die strukturellen Zusammenhänge und die weitreichenden Folgen männlicher Herrschaft im römisch-katholischen Feld.
2.4.1. Gewalterfahrungen auf der institutionalisierten Ebene Auf der institutionalisierten Ebene kirchlicher Strukturen entspricht der »heteronormative Aspekt des medizinischen Behandlungskonzepts«328 den Inhalten der katholischen Ehe- und Sexuallehre. Lange war dort eine Subordination der Frau vertreten, die auch im Gefolge der soziokulturellen Veränderungen des 19. und 20. Jh. in abgewandelter Form als Komplementaritätsmodell fortbestand.329 Dieses impliziert trotz der Abwandlung des dichotomen Geschlechterkonzepts ein hierarchisches Gefälle zwischen Mann und Frau, welches Frauen eher in den Hintergrund kirchlichen Wirkens, d.h. in die Unsichtbarkeit, drängt.330 Die Anpassung institutionalisierter Rahmenbedingungen für Frauen in der katholischen Kirche bestätigt die These der Unsichtbarmachung auch für intergeschlechtliche Menschen: Solange ihre Existenz nicht explizit als gleichwertig gegenüber anderen Geschlechtern gilt und dieses Recht nicht Realität wird, bleiben Intergeschlechtlichkeit wie auch geschlechtliche Vielfalt für die Kirchenstruktur schlichtweg »ein blinder Fleck«331 .
326 Bourdieu, Die männliche Herrschaft, 207. 327 Die Kategorisierung dient dabei der Strukturierung des Textes, da es immer Überschneidungen der einzelnen Ebenen gibt und je nach Perspektive auch eine Mehrfachzuordnung einzelner Phänomene möglich ist. 328 Hechtl, Über Inter*Kinder und Jugendliche, 77. 329 Vgl. Wagner, Marion, Die himmlische Frau. Marienbild und Frauenbild in dogmatischen Handbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts, Regensburg 1999, 222. 330 Vgl. Götz von Olenhusen, Irmtraud, Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Dies. (Hg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert (Konfession und Gesellschaft 7), Stuttgart 1995, 9–21, hier: 11. 331 Koll, Julia u.a. (Hgg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annährungen an das Phänomen Intersexualität (Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 4), Hannover 2018, 28.
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Der Diskurs vollzieht sich daher im Geheimen, wie die Geschichte von Sally Gross aus den 1990er Jahren verdeutlicht.332 Nach einem Hormontest bittet der noch als Mann geweihte intergeschlechtliche Priester eines Dominikanerordens Salwyn Gross um ein Jahr Bedenkzeit außerhalb des Ordens, um sich der eigenen geschlechtlichen Identität zu versichern. Wie sich später herausstellte, entschied sich Gross notgedrungen für eine weibliche Geschlechtsidentität. Die medizinischen Ergebnisse, die Gross damals nicht erfuhr, zeigten ein Testosteronlevel, das in der Biologie üblicherweise als Mittelwert für weibliche Körper angesehen wurde. Im Orden lässt man sie glauben, dass sie transsexuell sei. Nur widerwillig wird ihrem Anliegen stattgegeben. Sie wird an einen Ort versetzt, wo sie niemand kennt, darf nicht über ihre Trans- bzw. Intergeschlechtlichkeit sprechen, ihr Priesteramt nicht mehr ausüben und muss den Kontakt zu den Mitbrüdern und ihrer Familie abbrechen.333 Außerdem wird ihr als Disziplinarmaßnahme moralische und finanzielle Unterstützung entsagt, da ein Geschlechtswechsel im Rahmen von Transsexualität als unmoralisch und als Verstoß gegen das Keuschheitsgelübde gilt. Während Gross versucht, ihre Berufung neu zu denken, wird ihr von den kirchlichen Autoritäten das Leben schwer gemacht, denn im Orden hofft man noch, sie würde klein beigeben und austreten. Gross beschreibt diese Zeit wie folgt: »It was the biggest trauma of my life, one that was surely life-threatening and dragged on for a long time.«334 Nach einem Jahr Beurlaubung entzieht man ihr schließlich den klerikalen Status und erklärt ihre religiösen Gelübde für ungültig. Die Legitimation dafür wurde gänzlich erdichtet: Im Vorfeld entstanden bereits Gerüchte, sie wäre vom Glauben abgefallen und sympathisiere mit dem orthodoxen Judentum. Um diese falschen Vorwürfe zu entkräften, wirkt Gross daher gezwungenermaßen am Gesuch um Dispens vom Zölibat mit, obwohl sie sich selbst als von Natur aus zölibatär begreift. Nach dem Laisierungsprozess ist Gross weiteren Schikanen ausgesetzt, die ihr nun sogar ohne kanonische Legitimation die Mitgliedschaft in der kirchlichen Gemeinschaft gänzlich untersagen. »›They effectively made it impossible for me to remain in communion.‹ It was suggested that she could not participate in church groups or parish organisations, except by applying, on an occasion by occasion basis, for permission from the bishop, who would in turn need to consult Gross’s former major superior. ›It seemed to me that it made a mockery of the very notion of fellowship if you couldn’t join in the life of the
332 Die auf den folgenden Seiten geschilderte Biographie ist angelehnt an den Reprint von drei Zeitungsartikeln von The Natal Witness vom 21.-23.02.2000 unter der Redaktion von Coan, The Journey from Selwyn to Sally, in: The Witness, (28. August 2009). 333 Verschwiegenheitspflichten in der kirchlichen Gemeinde oder in Orden sind auch andernorts wirksam, wie aus persönlichen Gesprächen der Autorin mit dem Leiter einer von der katholischen Kirche nicht anerkannten LGBT-Church in Quezon City (Philippinen) und Mitgliedern von unterschiedlichen Ordensgemeinschaften hervorging. Aufgrund der noch sehr stark wirkenden Tabuisierungsmechanismen ist hierzu kaum Literatur vorhanden. Wegen der geschilderten Erfahrungen ist allerdings davon auszugehen, dass das Phänomen durchaus bekannt ist, aber nicht darüber gesprochen wird. 334 Coan, The Journey from Selwyn to Sally, in: The Witness, (28. August 2009).
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parish. The implication was you couldn’t even have coffee after mass in the church hall.‹«335 Gerade in der schwierigsten Zeit ihres Lebens findet Gross keine Unterstützung in der katholischen Kirche. Sie wendet sich daher anderen Konfessionen zu und findet schließlich Anschluss bei den Quäkern. Trotz allem verdammt sie ihr Priestersein und die katholische Kirche nicht als Ganzes, denn schuld an ihrem Schicksal sei nicht die Kirche an sich, »›but the few people who have exercised power in this situation, and have done so in terms other than I would have wished or expected.‹«336 Es verhärtet sich der Verdacht, dass das gesamte katholische Umfeld nur dann zur Identitätsstütze wird, wenn sich die Gläubigen eindeutig einem Geschlecht zuordnen können. Es ist eine nur bedingte Anerkennung von Identitäten, die ihre Grenzen entlang des Geschlechterhabitus des römisch-katholischen Feldes hat. Phasen des Zweifels und des Dazwischenseins finden dagegen weder pastorale noch seelsorgliche Begleitung, wie sich auch in der Biographie der ehemaligen österreichischen Skirennläuferin Erika Schinegger nachlesen lässt. »Gegen 14 Uhr wachte ich in meinem Zimmer auf. ›Alles ist gut gegangen‹, versicherte mir Schwester Sigberta. Sie war die allererste Person, die ich wahrnehmen konnte, als ich meine Augen öffnete. Die katholische Ordensschwester war mir zur Seite gestellt worden und wurde eine meiner wichtigsten Vertrauten und Verbündeten in den harten Wochen und Monaten. Eigenartig, dass ausgerechnet eine Nonne meine ›Mannwerdung‹ überwachen sollte. Noch eigenartiger waren jedoch die guten Ratschläge, die mir die Ordensfrau später auf meinen Weg mitgeben sollte.«337 In der Biographie Schineggers finden sich solche Phasen des Zweifels, die schließlich dazu führen, den Kontakt mit der Ursprungsgemeinde abzubrechen, denn offenbar gibt es für ihn nur in der Entschlossenheit zum Mannsein die Chance, Teil eines kirchlichen Netzwerkes zu bleiben, aber nicht in demselben. »Immer noch besuche ich die Kirche regelmäßig, einen Ort, an dem ich mich wohl und geborgen fühle. Zu Hause in St. Urban ist der Kirchgang allerdings heute noch mit etwas gemischten Gefühlen verbunden. Wenn ich durch das große Portal schreite, blicke ich jedes Mal nach links und nach rechts, erst dann lasse ich mich auf den rechten, den Männern zugewiesenen Bänken nieder. Diese Tradition haben wir beibehalten in St. Urban.«338 Diese gespaltene Haltung zur kirchlichen Heimatgemeinde, den Gemeindemitgliedern und dem Pfarrer zeigt sich auch bei Irene Völling, einer deutschen Inter*Aktivistin:
335 Coan, The Journey from Selwyn to Sally, in: The Witness, (28. August 2009). 336 Coan, The Journey from Selwyn to Sally, in: The Witness, (28. August 2009). 337 Schinegger, Erik – Honsal, Claudio, Der Mann, der Weltmeisterin wurde. Meine zwei Leben, Wien 2018, 50. 338 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 72–73.
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»Wir parkten bei der Kirche, stiegen aus und strichen durch den Ort. Ich betete, dass uns niemand begegnen würde – erstens, weil ich Angst hatte, dass mit Frau B. dann die Pferde durchgehen würden, und zweitens, weil ich mich mit meiner weiblichen Frisur hier so unwohl fühlte wie noch nie. In meinem täglichen Leben hatten sich alle mit meinem äußeren Wandel gut arrangiert. Es hatte keine schlimmen Szenen gegeben. Aber wenn mir hier ein alter Lehrer, eine Verwandte väterlicherseits oder der Pfarrer über den Weg laufen sollte, dann würde ich ins Gebüsch springen und Frau B. mit mir reißen.«339 Ebenfalls problematisch sind rituelle Kunstgriffe zu einem früheren Zeitpunkt in der Biographie, wie die Änderungen der Taufurkunden bei einem Geschlechtswechsel eines intergeschlechtlichen Kindes, wie es für das 17. Jh. in Peterzell belegt zu sein scheint. Auch wenn die Handreichung der Landeskirche dazu festhält, dass nicht auf den Namen des Täuflings, sondern auf den dreieinigen Gott getauft wird, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Taufname eines intergeschlechtlichen Kindes hat, wenn er einfach so ausgelöscht und durch einen anderen ersetzt werden kann.340 Vielmehr wird dadurch eine ganze Identität ausgelöscht. Eine neuere Studie, die sich auch mit den Konsequenzen eines Eintrags divers in das kirchliche Taufbuch beschäftigt, legitimiert diesen aufgrund der Virulenz, die hinsichtlich einer späteren kirchenrechtlichen Beurteilung eines Eheoder Eheführungshindernisses oder Weihehindernisses auftreten könnte.341 Verantwortlich dafür ist aber nicht die Religion oder die Gemeinde per se, wie es scheint, sondern der unausgesprochene Geschlechterhabitus, der diesen innewohnt. Dennoch trägt er auch zur Verfestigung einer bestimmten Vorstellung von Geschlechtlichkeit in einem römisch-katholischen Feld bei, welches sich dann mit diesem identifiziert. Auf ernüchternde Weise machen bereits die wenigen hier dargestellten Biographien deutlich, wie sehr die institutionalisierte Ebene noch von männlicher Herrschaft bestimmt wird. Das institutionalisierte religiöse Kapital, also Netzwerke und Titel, verlangen derart stark nach einer klaren geschlechtlichen Identifikation, dass Abweichungen davon zum fremdbestimmten und selbstgewählten Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft führen. Intergeschlechtlichkeit wird damit ausgelöscht und unsichtbar gemacht. Dabei hängt die Entscheidungsfreiheit darüber, ob man den Ausstieg selbst wählt, oder man exkommuniziert wird, maßgeblich davon ab, wie sehr man der Institution verpflichtet und in sie eingebunden war, bevor die Intergeschlechtlichkeit zum Thema wird. Je näher also die Protagonist*innen sich am Zentrum religiöser Macht befinden, desto traumatischer erleben intergeschlechtliche Personen Gewalterfahrungen durch die katholischen Kirche.
339 Völling, Christiane – Dombrowe, Britta J., »Ich war Mann und Frau«. Mein Leben als Intersexuelle, Köln 2010, 172. 340 Historischer Beleg für Intersexualität in Kirchenbuch gefunden. Stuttgart/Peterzell, in: katholisch.de, (22. Juni 2020). 341 Vgl. Klüner, Christian, Die Führung der Pfarrbücher vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts am Beispiel des Taufbuches. Historische Genese, problemorientierte Praxis, zukünftige Herausforderungen (Münsterischer Kommentar zum Codex iuris canonici Beiheft 77), Essen 2020, 109–118.
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2.4.2. Gewalterfahrungen auf der objektivierten Ebene Das objektivierte Kapital des römisch-katholischen Feldes ist in seiner Fülle kaum zu bearbeiten, weswegen hier nur einige Aspekte herausgegriffen werden sollen: Sowohl biblische, lehramtlich-kirchenrechtliche als auch sakramentale Legitimationen der Zweigeschlechtlichkeit werden durch Intergeschlechtlichkeit hinterfragt. Das bewirkt in der mildesten Variante eine Tabuisierung, im schlimmsten Fall eine Stigmatisierung bzw. Dämonisierung von Intergeschlechtlichkeit im genannten Feld. Für die Legitimation dieser Ablehnung wird das objektivierte Kapital des römisch-katholischen Feldes herangezogen. Es handelt sich hierbei also um Erfahrungen, die nach und nach Ausgrenzungserfahrungen objektiv verfestigen und im Kontext von Kirche erfahrbar werden lassen. Die biblische Legitimation scheint besonders beliebt zu sein, wenngleich manche Deutungsmuster eher auf die griechische Mythologie zurückgehen. Der öffentliche wie religiöse Umgang mit Hermaphroditen in der Antike reichte von Verehrung bis hin zur Tötung, je nachdem, welches Deutungssystem der Bewertung von Hermaphroditismus zugrunde gelegt wird (Inkarnation des Gottes Hermaphroditos/Inkarnation des Bösen, positives göttliches Wirken/göttliche Strafe, gutes/schlechtes Omen usw.). Offensichtlich überwiegt die negative Sicht auf das Phänomen, welche in zahlreichen Ritualen zur Sühne und Reinigung ihren Ausdruck findet, um jedwede Bedrohung, die von Hermaphroditen ausging, mit ihrer Elimination abzuwehren. Warum genau aber die negative Einschätzung überwog, kann historisch nicht rekonstruiert werden.342 Fest steht jedoch, dass dieses Deutungsmuster auch im 20. und 21. Jh. noch existiert: »It would seem to follow that it is the birth of people who are not hermaphrodites which might be ›the consequence of Adam’s sin‹. Hermaphroditism should perhaps be seen as a reminder of the ›original innocence‹ and perfection before sin distorted it«343 »Both Gen. 1.27 and Num. 5.3 have sometimes been used, in discussion with me, to argue that God created all human beings determinately male or determinately female with nothing in between. At a more personal level, they have also been used to argue that an intersexed person such as me does not satisfy the biblical criterion of humanity, and indeed even that it follows that I am congenitally unbaptizable and must therefore be said not to have been baptized validly.«344 Teilweise sind scheinbar religiös motivierte Diskriminierungserfahrungen auch außerhalb des institutionellen Rahmens der katholischen Kirche bemerkbar. So berichtet Luan Pertl, Mitglied von VIMÖ (=Verein Intergeschlechtliche Menschen Österreich), über einen Vorfall in der Wiener Straßenbahn, der sich nach einem Gastauftritt im österreichischen Fernsehen (ORF) ereignet hatte:
342 Vgl. Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal, 50–52. 343 Gross, Sally, Intersexuality and Scripture, in: Theology & Sexuality 11 (1999) 65–74, hier: 74. 344 Gross, Intersexuality and Scripture, 70.
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»Ja, ich bin letztens von einer Person in der Straßenbahn erkannt worden. Das war nach meinem Interview im ›Thema‹ im ORF letztes Jahr. Die Frau hat sich vor mich hingestellt, hat ein Kreuzzeichen gemacht und gesagt: ›Gott hat nur Mann und Frau geschaffen!‹ […] Das sind dann halt solche Geschichten.«345 Zur biblisch legitimierten Ablehnung von Intergeschlechtlichkeit kommt eine ritualisierte Abwehrhandlung von Unheil in Form eines Kreuzzeichens hinzu. Nach den Aussagen Luan Pertls scheinen solche Vorfälle gemeinsam mit anderen Beschimpfungen auf der Straße oder in E-Mails kein Einzelfall zu sein. Besonders fundamentalistische Strömungen des Christentums sehen in der Intergeschlechtlichkeit selbst einen Widerspruch zum Schöpferwillen Gottes. »It is not uncommon for Christian fundamentalists, faced with intersexuality as a brute fact, to adduce scriptural grounds for the condemnation of avowed intersexuality, at least, as ›unnatural‹ and as something that is at odds with the will of God as expressed in the order of creation. This theological condemnation of lived intersexual identities also finds expression in unconditional support for surgical interventions, as early as possible, aimed at making the unacceptably ambiguous bodies of intersexed infants and children conform to the dichotomous model in which there is no room whatsoever for ambiguity. Such apparently religiously-motivated endorsement of surgery is insensitive to the fact that in most cases surgery is not necessitated by any real threat to the life or health of the infant, so that it is purely cosmetic in character.«346 Hier lässt sich noch deutlicher erkennen, dass der offene Umgang mit Intergeschlechtlichkeit als Tabubruch interpretiert wird. Inwieweit religiöse Motivation dahintersteckt, nämlich eine göttliche Schöpfungsordnung verteidigen zu wollen, müsste näher überprüft werden. Festhalten lässt sich aber, dass mit dem Rückgriff auf religiöse Symbolik eine Diskriminierung von minoritären geschlechtlichen Identitäten legitimiert wird, obwohl sich dies biblisch gar nicht rechtfertigen lässt: »The removal of gonads and other such surgery is explicitly forbidden by Scripture (see Deut. 23.1, for example), at least where there is no intrinsic risk to life. The burden of Scripture is in fact such that those who take its exhortations seriously should positively welcome the notion of a spectrum which includes people who are intersexed.«347 Lehramtlich stößt man erst im 21. Jh. auf explizite Äußerungen zu Intergeschlechtlichkeit. Gemäß dem Dokument der Kongregation für das Katholische Bildungswesen Male and female he created them348 soll die Obsorge für die geschlechtliche Identitätsentwicklung intergeschlechtlicher Kinder nicht bei den Eltern liegen, sondern bei der Medizin. Uneindeutige Geschlechtsmerkmale sollen korrigiert und damit in das Schema 345 346 347 348
VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus, 12. Gross, Intersexuality and Scripture, 68. Gross, Intersexuality and Scripture, 74. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them.
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von Männlichkeit und Weiblichkeit eingepasst werden. Mit Bezug auf das Naturrecht wird die Existenz zwischen den Geschlechtern als bedauernswert und therapiebedürftig dargestellt. »In the light of this reality, we can understand why the data of biological and medical science shows that ›sexual dimorphism‹ (that is, the sexual difference between men and women) can be demonstrated scientifically by such fields as genetics, endocrinology and neurology. From the point of view of genetics, male cells (which contain XY chromosomes) differ, from the very moment of conception, from female cells (with their XX chromosomes). That said, in cases where a person’s sex is not clearly defined, it is medical professionals who can make a therapeutic intervention. In such situations, parents cannot make an arbitrary choice on the issue, let alone society. Instead, medical science should act with purely therapeutic ends, and intervene in the least invasive fashion, on the basis of objective parameters and with a view to establishing the person’s constitutive identity.«349 Wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt werden konnte (vgl. Kap. 1.1.5), ist die genetische Disposition alles andere als allein ausschlaggebend für die Geschlechtsdifferenzierung. Diese pathologisierende Stigmatisierung wird als geeignetes Mittel gegen die von den Gendertheorien vermeintlich anvisierte, fluide Geschlechteridentität eingesetzt, um die natürliche Ordnung vor queeren Identitäten zu schützen. Dabei sind die Quellen des lehramtlichen Dokuments keineswegs empirisch gesichert, sondern schlicht pathologisierende Begründungslinien, die sich bereits im Artikel Gender (Geschlecht) des Lexikons für Familie von Jutta Burggraf nachweisen lassen. Intergeschlechtlichkeit sei demnach eine pathologische »Anomalie«350 , die einer Therapie bedürfe. Interessanter ist jedoch, dass sowohl der Lexikonartikel als auch das Dokument der Kongregation kaum biblisch argumentiert. Das Vertrauen in naturrechtliche Begründungsmuster ist offensichtlich und lässt den Verdacht zu, dass dieser verstärkte Rückgriff auf nicht genuin religiöse Begründungsmuster bereits als eine Auswirkung einer hinterfragbar gewordenen, religiösen doxa gewertet werden kann. Erst als diese Begründungslinie von eben den für die theologische Argumentation herangezogenen Wissenschaften massiv bestritten wird, kehrt man wieder zu genuin theologischen Motiven wie etwa einer Schöpfungsordnung oder der wesensgemäßen Komplementarität von Mann und Frau zurück, oder bleibt längst veralteten biologischen Erkenntnissen treu (s.o.). Der Wandel der römisch-katholischen doxa wird von intergeschlechtlichen Personen auch subjektiv wahrgenommen. Schinegger berichtet von der Beeinflussung seines Glaubens durch Papst Franziskus, als er den Petersdom in Rom besichtigt: »Auch dachte ich an den positiven Wandel in der Katholischen Kirche, an die Offenheit, Demut und Klugheit des neuen Papstes Franziskus… Auch sie gibt meinem Glauben einen neuen Sinn. Ich erlebte eine Art von Glücksgefühl und einer [sic!] Zufriedenheit,
349 Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them, Nr. 24. 350 Burggraf, »Gender« (Geschlecht), 292.
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die ich sonst nur ganz oben auf dem Berg an meinen Lieblingsplätzen und an Kraftorten erfahren kann, wenn ich ganz alleine in der wundervollen Natur bin, nicht nur um zu beten, sondern auch um nachzudenken. Da bin ich dem Himmel und meinem Gott einen großen Schritt näher.«351 Das Dokument der Kongregation für das Katholische Bildungswesen dürfte diese auf Papst Franziskus gesetzte Hoffnung gesamtgesellschaftlich gedämpft haben. Kurz nach der Veröffentlichung startet nämlich Morgan Carpenter, US-amerikanische*r Intersex-Aktivist*in, die Petition Joint Statement on the Congregation for Catholic Education352 , um die Kongregation respektive die gesamte katholische Kirche zu einem Umdenken zu bewegen. Darin fordert herm einen Dialog, der intergeschlechtliche Existenzen anerkennt. Die Kirche soll damit zur Verteidigerin und Unterstützerin körperlicher Autonomie und Integrität werden, um nicht länger zur Stigmatisierung und Verletzung von Menschenwürde beizutragen, wie es etwa auch in der Pastoral üblich zu sein scheint: »The suffering of people who, according to the document ›have to live situations of sexual indeterminacy‹ (para 24) is primarily created by social stigma, by forced and coercive medical interventions, and also by approaches to pastoral care that separate us from our own affirmative language, and so from our peers and community.«353 Kirchenrechtlich tritt die Ablehnung von Intergeschlechtlichkeit insofern indirekt zutage, als der Codex Iuris Canonici von 1983, als Intergeschlechtlichkeit darin nicht aufgeführt wird. Wie selbstverständlich werden geschlechtseindeutige Voraussetzungen für das Weiheamt vorausgesetzt. Obwohl bereits Augustinus pragmatische Anmerkungen zum Umgang mit Hermaphroditen macht und die Geschlechtszuweisung hin zum nobleren Geschlecht – also dem männlichen – rät,354 gibt es im Kirchenrecht keine Rechte oder Pflichten, die intergeschlechtliche Menschen direkt ansprechen, obwohl eigene Bestimmungen, vor allem angesichts des Eherechts oder des Priesteramtes, vorliegen müssten. Noch in der Aufklärung dementiert etwa der Kirchenrechtler Christian Gottlieb Koch, dass die Nachkommenschaft zentraler Zweck der Ehe sein müsse, sondern dass nur die Zeugungsfähigkeit allein schon für Ehefähigkeit ausreichen würde. Daraus folgert er, dass eine gültige Ehe »nur ein zeugungsfähiger Mann und eine gebärfähige Frau«355 eingehen können und man die Unzucht mit Männern, Pädophilie und Androgynie vermeiden solle. Die sakramentale Legitimation schließt an die kirchenrechtliche Argumentation an, denn sie ist ebenfalls eng an die Frage geknüpft, inwiefern die Mitgliedschaft der Kirche vom geschlechtlichen Zustand eines Menschen abhängt. Außerdem sind besonders an ihr auch weitere objektivierte Kapitalsorten gebunden, die
351 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 73. 352 Intersex Human Rights Australia, Joint statement to the Congregation for Catholic Education, 2019. URL: https://ihra.org.au/35418/joint-statement-congregation-catholic-education/ [Abruf: 14. März 2023]. 353 Intersex Human Rights Australia, Joint statement to the Congregation for Catholic Education, 2. 354 Vgl. Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal, 36. 355 Schochow – Steger, Hermaphroditen, 14.
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in unterschiedlichsten Situationen zu Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen führen können. Noch im 21. Jh. beschäftigt Eltern intergeschlechtlicher Kinder die Frage, ob ihr Kind denn überhaupt eine Ehe eingehen könne, wenn der Geschlechtseintrag im Geburtenregister offengelassen wird.356 Das Geschlecht bei der Eheschließung ist alles andere als nebensächlich. Die geschlechterspezifische Idealisierung der Rolle des Bräutigams und der Braut, die in vielen Gegenständen, Praktiken, Bräuchen usw. ihren Ausdruck finden, können nur dann eine identitätsstärkende und identitätsbejahende Wirkung entfalten, wenn sich die Eheschließenden nach heteronormativen Vorgaben definitiv als Mann oder Frau identifizieren. So beschreibt Schinegger: »Am 27. September 1975 heirateten wir in der Dorfkirche von St. Urban. Als wir einander das Jawort gaben, war ich tief berührt. Zum einen war so meine Männlichkeit ein weiteres Mal bestätigt worden, zum anderen war ich glücklich, nun ein Ehemann zu sein.«357 Zwar wird hier die Geschlechtsbestätigung von Erik Schinegger im Rahmen der Trauung positiv erlebt, sie trägt aber – wie der letzte Satz der Biografie verrät, auch nicht dazu bei, dass aus ihm ein »hundertprozentiger Mann wird«358 . Solange eine Identifikation mit einer gewissen Geschlechterrolle gegeben ist, werden die Sakramente Taufe, Firmung und Ehe durchaus positiv und bereichernd erlebt.359 Sobald der Geschlechtswechsel aber vollzogen ist, oder die intergeschlechtliche Person allmählich Zweifel an ihrer Geschlechtsidentität, und wie diese auf andere wirkt, entwickelt, treten Befürchtungen, Ängste und Sorgen auf, wie die Gemeinde darauf reagieren könnte: »Innerlich war ich aufgewühlt. Sollte ich doch jetzt schon mehr verraten? Wie würde man das im Kreise der streng katholischen Familie und in der Dorfgemeinschaft auffassen? Also hielt ich den Mund und schlüpfte zum Kirchgang in der Weihnachtsnacht brav in mein Dirndlkleid. Einen kurzen Moment hatte ich gezögert, als ich die kleine Kirche betrat. Wie es damals so üblich und wohl jahrhundertelange Tradition war, war für die Familie Schinegger stets die vorletzte Kirchenbank reserviert. Links die Frauen, rechts die männlichen Familienmitglieder. Einen Augenblick nur zögerte ich, dann setzte ich mich doch neben meine Mutter in die linke Bankreihe. Die Blicke der christlichen Gemeinde durchbohrten mich förmlich.«360 Neben den bereits problematisierten Zwängen, die durch die Sakramente eingefordert werden, finden sich im vorhergehenden Zitat weitere Belege, inwieweit das objektivierte Kapital Gewalt auf intergeschlechtliche Personen ausübt. Sowohl die Kleidung als auch
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Vgl. Morgen, Clara, Mein intersexuelles Kind. Weiblich männlich fließend, Berlin 2013, 75. Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 176. Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 246. Schinegger erzählt, wie sehr er sich auf die Erstkommunion und Firmung gefreut hatte und mit Stolz in sein weißes Kleid schlüpfen durfte. Auch die religiöse Erziehung durch den Dorfpfarrer und die wöchentlichen Treffen im Pfarrheim mit anderen Kindern nach der Messe am Sonntag schildert er durchwegs positiv. Vgl. Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 71. 360 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 44.
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die Raumaufteilung sind eindeutig geschlechtlich konnotiert und fordern eine Zuordnung. Verstärkt trifft das wiederum auf Priesteramtskandidaten und Ordensmitglieder zu, wie schon in der Neuzeit belegt werden kann. Die Ärztin und Medizinhistorikerin Erika Nussberger stellt fest, dass insbesondere hohe Ämter stark an Männlichkeit gekoppelt und Klöster geschlechterspezifisch organisiert waren und sind. Hermaphroditismus bzw. Intergeschlechtlichkeit stellten damit ein »delikates Thema«361 für die kirchliche Ämterstruktur dar. Das vermag zu erklären, warum diesem Phänomen auch in der Folgezeit von Seiten der katholischen Kirche wenig positive Beachtung geschenkt wurde. Zusammengefasst treten auf der Ebene des objektivierten religiösen Kapitals vielfältig Erscheinungen hervor, die auf eine Diskriminierung intergeschlechtlicher Personen im römisch-katholischen Feld schließen lassen. Dabei ist die Legitimationsgrundlage für das dichotome Geschlechtermodell vorwiegend biblisch argumentiert und wird durch andere verfügbare Heilsgüter (z.B. Kirchenrecht, lehramtliche Dokumente, Kleidung, Kirchenraumgestaltung, …) und Dienstleistungen (z.B. Sakramente, Pastoral, Seelsorge, …) verstärkt. Intergeschlechtliche Personen erfahren durch diese klaren Zuordnungen in vielerlei Hinsicht indirekt Gewalt, da sie sich selbst oft nicht einem der beiden Pole zuordnen können. Ihre Besonderheit erleben sie dadurch als Stigma, über das am besten nicht gesprochen werden soll. In weiterer Folge führt dies zum schon genannten Schicksalseffekt, dessen Auswirkungen im nächsten Unterkapitel erläutert werden sollen.
2.4.3. Gewalterfahrungen auf der inkorporierten Ebene Auf der inkorporierten Ebene erscheint Intergeschlechtlichkeit in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien, die sich kognitiv, affektiv wie physisch bemerkbar machen. Im römisch-katholischen Feld ruft Intergeschlechtlichkeit Irritationen hervor, welche die christliche Geschlechteranthropologie herausfordern. So konstatiert etwa der evangelische Theologe Gerhard Schreiber: »Sofern biblisch-jüdisch-christlich-theologisch die axiomatische Aussage gilt, dass Gott, der Schöpfer, alles Geschaffene ins Sein gerufen hat, also auch kein Mensch ohne seinen Schöpferwillen über diese Erde wandelt, stellt das soeben als intersexuelle Gegebenheit Dargestellte eine Herausforderung für theologisches Denken und kirchliches Handeln dar – und dies umso dringender, als die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und der damit einhergehende Dualismus von ›Mann‹ und ›Frau‹ eine scheinbar gottgegebene und damit lebensbestimmende Festlegung auch des traditionellen christlichen Menschenbildes ist.«362 Solche religiösen Prägungen tragen maßgeblich zum Schicksalseffekt bei (vgl. 2.4), denn die objektivierten und institutionalisierten Elemente des religiösen Kapitals bilden zu361 Nussberger, Zwischen Tabu und Skandal, 77. 362 Schreiber, Gerhard, Geschlecht außer Norm. Zur theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel von Intersexualität, in: Julia Koll – Jantine Nierop – Gerhard Schreiber (Hgg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annährungen an das Phänomen Intersexualität (Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 4), Hannover 2018, 27–45, hier: 33–34.
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gleich einen spezifisch religiösen Geschlechterhabitus aus, der im Widerspruch zur biologischen Vielfalt steht. Heterosexualität und heteronormative Zweigeschlechtlichkeit sind derart präsent, dass intergeschlechtliche Menschen oder ihre Angehörigen ihr Dasein als nicht gottgewolltes und schlimmes Schicksal empfinden können. Viele schämen sich außerdem dafür, dass sie körperlich wie seelisch nicht in das System der Zweigeschlechtlichkeit passen. »I was deeply ashamed – not of my body itself – but of that neither my body nor my soul seemed to be able to conform, whatever I tried.«363 »When he had finished measuring me, in different physical states, had injected me with viagra and taken photos of me, he congratulated me, he told me that I was developing very well, that I was a ›normal‹ boy, that I ›wasn’t at the back of the queue when God was designing boys‹.«364 »Ich war eine von Gott oder der Natur etwas benachteiligte Frau. Das sollte nun geändert werden.«365 »›Warum hat mich unser Herrgott verlassen? Warum muss er ausgerechnet mir das antun?‹, fragte ich mich anfänglich. Frustriert haderte ich mit meinem Schicksal. Schwester Sigberta konnte mir zwar keine plausible Erklärung geben, sie hat mich jedoch in unzähligen Gesprächen wieder zum Glauben gebracht.«366 Der Wille Gottes umschließt nach der Vorstellung in den jeweiligen Textausschnitten aus unterschiedlichen Biographien auch eine geschlechtliche Identität, der es zu entsprechen gilt. Theologische Deutungen bilden in dieser Hinsicht die Grundlage für jene kognitive Dissonanz, die sich in Auseinandersetzung mit der intergeschlechtlichen Seinsweise ergibt. Sie führt zu Verunsicherungen, Scham und Zweifel über die eigene Geschlechtsidentität. Das inkorporierte Kapital des römisch-katholischen Feldes bedingt in gewissen Fällen die Erfahrung des Schicksalseffektes, welcher intergeschlechtliche Personen dazu veranlasst, die heteronormativen Kategorien auf ihren Körper und ihre Existenz anzuwenden. Vor diesem Hintergrund entstehen oftmals starke Zweifel, die bei gläubigen Menschen auch die Theodizee beinhalten, bis hin zu Suizidgedanken. Nicht zuletzt ist der Glaube von intergeschlechtlichen Personen stark davon abhängig, inwieweit die vermittelten Glaubensinhalte die eigene Existenz bejahen und stützen können. Bei Schinegger wird das Zweifeln mit Gott und seine Vorsehung für ihn selbst durch eine Klosterschwester besänftigt, die ihm auf dem Weg zur Mannwerdung unterstützt und ihm praktische Handlungsanweisungen gibt, wie er sich als Mann zu geben und zu verhalten hat. Diese Umformung akzeptiert er vermutlich aus dem Grund, da er sich selbst und sein Schicksal kaum noch annehmen konnte, wie seine Suizidgedanken
363 Ghattas, Dan C. – Kromminga, Ins A., MyIntersexStory, 2019, 28. URL: https://oiieurope.org/wpcontent/uploads/2019/11/testimonial_broch_21-21cm_for_web.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 364 Ghattas – Kromminga, MyIntersexStory, 43. 365 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 38. 366 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 72.
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am Weg zum Krankenhaus vor seiner geschlechtskorrigierenden Operation vermuten lassen. Erst als er schon einen neben der Fahrbahn befindlichen Gartenzaun touchiert, schreckt er auf und deutet den glimpflichen Ausgang seines Unfalls als Zeichen Gottes: »Entweder hilft mir der Herrgott jetzt oder er wählt eben einen anderen Weg für mich. Entweder es gibt ihn, oder all die Kirchgänge, all die Gebete, der Glaube, dem ich über die Jahre treu geblieben bin, waren umsonst. Solche oder ähnliche Gedanken gingen mir auf dem Weg in die Klinik an jenem 5. Dezember 1967 durch den Kopf. Ich hatte zu zweifeln begonnen wie nie zuvor in meinem Leben. […] Gott, was ist nur mit mir? Was hast du mit mir vor? Es war wie ein Kampf zwischen ihm und mir, meinem Schicksal als Sportlerin und meinem Glauben an einen Herrn, der mich doch gerecht und liebevoll führen sollte.«367 Auch manche Eltern stellt der Prozess, das eigene Kind so anzunehmen, wie es ist, vor große Herausforderungen, wie Morgen Clara, die Mutter eines intergeschlechtlichen Kindes, über ihren Ehemann berichtet: »Für Georg ist und bleibt Franzi der Lebensmittelpunkt, aber mit ihrem Besonders-Sein kann er sich nur schwer abfinden. Vielleicht erhält er Trost in seiner Kirche, ich kann es nur hoffen. Manchmal hab ich das Gefühl, er empfindet Franzis Schicksal als persönliche Schuld, als Schmach. Dunkle Erwägungen. Nicht einmal Freunde oder Bekannte dürfen ihn auf das Thema ansprechen. Als er einmal erfuhr, dass ich eine meiner Freundinnen in ihr Schicksal eingeweiht habe, fühlte er sich so angegriffen, dass er wochenlang kein Wort mit mir gesprochen hat.«368 Die wirksamen Tabuisierungsmechanismen greifen im Fall des Vaters besonders stark. Obwohl aus dem Zitat nicht eindeutig hervorgeht, ob der Vater das Schicksal seines Kindes als persönliche Schuld sieht, zeugt allein schon die Interpretation seiner Frau von der Wirkmächtigkeit und Verbreitung dieser Denkungsart. Sie ist keineswegs selten und findet sich auch in anderen Kulturen.369 Zudem wirft die geforderte Geschlechtszuweisung die Frage auf, ob man als Eltern unbefugt in ein göttliches Schicksal eingreift: »Bin ich denn der liebe Gott, dass ich so über das Geschick meines Kindes, über das ganze Leben, das vor ihm liegt, so einfach entscheiden darf?«370 Wieder andere interpretieren gerade den Eingriff als gottgewollt, um die Ordnung nach Gottes Plan wiederherzustellen:
367 Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 70. 368 Morgen, Mein intersexuelles Kind, 40. 369 In Griechenland etwa werden die biologisch-medizinischen Ergebnisse von Tests bei intergeschlechtlichen Kindern nicht den Eltern mitgeteilt, »because (as they told us) 1) they don’t have such orders and guidelines from the Greek Ministry of Education and 2) they are very afraid of the possible bad reactions of other homophobic/transphobic or religious parents, who don’t want this info to reach their kids.« Ghattas – Kromminga, MyIntersexStory, 34. Auch aus persönlichen Gesprächen der Autorin mit Mönchen eines karmelitischen Ordens auf den Philippinen ging hervor, dass eine Mutter von Zwillingen die Intergeschlechtlichkeit als Folge für ihr vorangegangenes sündhaftes Leben beurteilte. 370 Morgen, Mein intersexuelles Kind, 15.
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»I guess I was 5 or 6 years old, I remember some women from our village and my mother forcing me to lie down and touching me between my legs while I was crying and screaming, making comments like they were doctors. They were consoling my mother by saying: ›Look, it is right there. Doctors will open it with the grace of God‹ and my mother would agree with them with gratitude and say, ›Amen, please God.‹«371 Es ist geradezu exemplarisch, wie sich die Inkorporationsthese hier auf die Existenzen von intergeschlechtlichen Menschen auswirkt. Der dichotom strukturierte Geschlechterhabitus soll mit medizinischem Werkzeug regelrecht in die Körper eingeschrieben werden. Schinegger ist verwundert, warum ihm gerade eine Klosterschwester so detailliert über Männlichkeit Auskunft geben kann. Dabei ist gerade sie eine Person, die in ihrem klösterlichen Alltag einen an der Jungfrau Maria orientierten Geschlechterhabitus besonders bedacht zu verkörpern anstrebt. »Die einzige Hilfe auf diesem kurzen Weg zum Mann war eine Nonne. Ich gewann sie lieb, jene Schwester Sigberta. Bis heute denke ich jedoch darüber nach, weshalb ausgerechnet eine tiefgläubige Klosterschwester, eine Dienerin des Herrn, dazu befugt war, mir alle diese zutiefst weltlichen Ratschläge zu geben. Sie wusste einfach alles über Männer, war vertraut mit ihrer Art sich zu bewegen, ihrem Verhalten, ja sie wusste sogar darüber Bescheid, was Männer am weiblichen Geschlecht schätzten und verachteten. All das brachte sie mir ziemlich direkt und anschaulich näher. ›Erik, tob dich aus! Bleib nicht gleich bei der Ersten hocken!‹– ein Satz, der mit strengkatholischer Nächstenliebe für mein Gefühl eher wenig zu tun hatte.«372 Die Wichtigkeit der geschlechtlichen Zuordnung wird zudem dadurch unterstrichen, dass sie über das moralische Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit vor der Ehe gestellt wird. In Abgrenzung dazu muss jedoch betont werden, dass – wiewohl kaum verbreitet – auch theologische Deutungsrahmen möglich sind, die nicht auf einem binären Konzept aufbauen, sondern die Vielgestaltigkeit der Schöpfung ins Zentrum stellen. »Male, female, and intersex persons are all created in the image of God and all called to be conformed to the image of Jesus — the One who has brought God near and made God visible – by the power of the Spirit – the One who remains invisible and uncategorizable as male, female, or intersex.«373 »My father was a Muslim and though we never talked about it, it always felt to me that he, through his religious and cultural background, was more aware of the existence of people outside of the sex binary of male and female. Plus, he had a sister that, from all I know, is very likely to have been intersex too.«374
371 372 373 374
Ghattas – Kromminga, MyIntersexStory, 37. Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 109. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 288. Ghattas – Kromminga, MyIntersexStory, 27.
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Auch Luan Pertl merkt auf die Frage an, welche persönlichen Erfahrungen VIMÖ aus dem Kontakt mit kirchlichen Einrichtungen oder theologischen Denkfiguren zieht, dass es sehr wohl auch positive Begegnungen gab, die herm zum Nachdenken stimuliert hätten. »Wir wurden tatsächlich schon sowohl von der evangelischen, als auch von der katholischen Uni für einen Workshop eingeladen. Der tatsächlich cool war, auch die Leute die dort waren. Ich selbst habe auch schon einen Workshop in der Diakonie gemacht. Wo wir einen Psalm genommen haben, wo es darum geht, dass Gott schon wusste bevor ich geboren wurde, wie er/sie mich geschaffen hat. Wenn man in andere Zeiten zurückgeht, ist Gott ja weiblich. Genau, ich habe diesen Vortrag aufgebaut auf diesen Psalm, der mir jetzt leider nicht einfällt. Das war eigentlich sehr gut, da habe ich sehr positive Rückmeldungen bekommen. Ich glaube es ist wichtig, so zu sprechen, dass die Menschen einen verstehen. Denn, wenn ich in eine kirchliche Einrichtung gehe, dann muss ich mich halt vorher mit bestimmten Sachen beschäftigen.«375 Inwiefern sich aus dem letzten Zitat nicht auch eine Handlungsaufforderung für die katholische Kirche ableiten ließe, auch umgekehrt den Dialog und eine entsprechende Sprache mit intergeschlechtlichen Personen zu finden, zeigt noch einmal mehr die Wirkungsweisen des Schicksalseffektes auf. In der Hoffnung auf Anerkennung wird eine gemeinsame Sprache gesucht, die sich an der herrschenden orientiert. Leider fehlen Eltern wie Kindern dazu oftmals geeignete Redemittel, die gegen die Vorherrschaft einer binären Sprechweise ankämen, denn das Thema Sexualität insgesamt, besonders im römisch-katholischen Feld, ist stark tabuisiert. »›Meine Mutter kommt aus einem sehr katholischen Elternhaus. Über Sexualität wurde generell wenig gesprochen. Und weil über das, was ich hatte, zu Hause nichts bekannt war, schwiegen sie und mein Vater, nur meine Großeltern weihten sie ein. So wuchs ich im Glauben auf, ein Mädchen zu sein‹, sagt Tobias heute.«376 Die Notwendigkeit, eine angemessen theologische Sprache für die zu finden, die intergeschlechtlich sind, verweist auf die unausgeschöpften Potentiale der katholischen Kirche, intergeschlechtlichen Menschen in Glauben und Leben beizustehen. Dabei ermutigt etwa VIMÖ selbst Kirchen und kirchliche Organisationen, sie in ihrer Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu unterstützen. »Auch Kirchen können etwas tun, findet Pertl. ›Es geht darum, über den Tellerrand hinaus zu blicken und zu sehen, dass Gott uns geschaffen hat, wie er*sie*es uns geschaffen hat. Vor Inter* muss man keine Angst haben. Das ist doch eine wichtige theologische Botschaft in Bezug auf Inter*. Und womit Kirchen uns wirklich helfen können, ist, diese Botschaft in die Gesellschaft zu tragen und den Menschen ihre Angst zu nehmen‹, erklärt Pertl.«377 375 VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus, 12. 376 Klikovits, Weder Frau noch Mann?, in: Welt der Frauen, (Juni 2020). 377 Payk, Katharina, »Es ist nicht nur ein medizinisches Thema. Es geht um Menschen.«, 2019. URL: h ttps://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/155256/27-02-2019 [Abruf: 14. März 2023].
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Am Beispiel intergeschlechtlicher Identitäten lässt sich besonders deutlich aufzeigen, dass symbolische Gewalt und deren Auswirkungen wie etwa Tabuisierung, Stigmatisierung und Pathologisierung immer dort auftreten, wo männliche Herrschaft als unhinterfragte Ordnungskategorie für die Strukturierung des römisch-katholischen Feldes in Anspruch genommen wird. Diese Diskriminierung lässt sich angesichts der Diskrepanz zu einem katholischen – im Sinne von allumfassenden – Würdeverständnis des Menschen jedoch nicht rechtfertigen. Vor allem die spirituelle Suche nach Anerkennung der eigenen Existenz sollte angesichts der bleibenden Relevanz von Religion (vgl. Kap. 2.3.2) theologisch aufgegriffen werden: »Religion and its role in one’s life, remains significant and meaningful and intersex individuals are turning to religion for acceptance and love.«378
2.4.4. Zusammenfassung: Gewalterfahrungen auf allen Ebenen Leitende Fragestellung für dieses Kapital war, inwieweit intergeschlechtliche Personen symbolische Gewalt im römisch-katholischen Feld erfahren. Dafür wurde die zuvor erarbeitete Bestimmung religiösen Kapitals von Kap. 2.2.4 als kriteriologisches Analyseinstrument zugrunde gelegt und die Gewalterfahrungen jeweils nach der institutionellen, objektivierten und inkorporierten Ebene eingeteilt. Im Hinblick auf die institutionelle Ebene wurde festgestellt, dass Intergeschlechtlichkeit auf der institutionellen Ebene der kirchlichen Struktur unsichtbar ist, weil die katholische Theologie auf ein normatives Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit besteht. Männlichkeit wird so zum sozialen Distinktionsmarker im römisch-katholischen Feld, auf dessen Basis Privilegien erteilt werden. Der soziale Aufstieg hierin und die damit verbundene Anerkennung ist – vereinfacht gesagt – für Männer im Vergleich zu Frauen leicht erreichbar, für intergeschlechtliche Menschen hingegen im Vergleich zu Frauen noch einmal hürdenreicher und nicht selten von existenziellen Nöten begleitet. Ihnen begegnen auf der objektivierten Ebene deshalb Stigmatisierungen, die sich auf die Schöpfungstheologie, das Naturrecht, lehramtliche und kirchenrechtliche Texte wie auch Sakramentenordnungen stützen, sofern Intergeschlechtlichkeit überhaupt zum Thema und nicht tabuisiert wird. Dadurch erfahren intergeschlechtliche Menschen eine objektivierte Abwertung ihrer Existenz, die sich auch räumlich und zeitlich bemerkbar macht. Kirchenräume werden geschlechtlich eingeteilt, die lebensbegleitenden Sakramente an binäre Geschlechtervorstellungen geknüpft. Da nicht nur die Ämterstruktur, sondern auch andere Kapitalsorten wie etwa das Kirchenrecht oder die Sakramentenordnung die Würde ihrer Geschlechtsidentität in Frage stellen, kommt es auf der inkorporierten Ebene zum Schicksalseffekt. Seine Auswirkungen bestehen darin, dass intergeschlechtliche Menschen heteronormative Vorgaben von Geschlechtsidentität derart verinnerlichen, bis sie diese schließlich selbst verkörpern, indem sie selbst an den ihnen zugeschriebenen defizienten Gnadenstand glauben. So können sich intergeschlechtliche Menschen als Widerspruch zu der gottgewollten Schöpfung erfahren, oder 378 Kerry, Stephen C., Intersex and the Role of Religion on the Path to Health and Well-Being, in: Susannah Cornwall (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, Bd. 50.8, New York 2015, 121–144, hier: 134.
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bekommen dies durch ihre Eltern oder ihr Umfeld vermittelt. Der duldsame Weg der Anpassung ist von vielen schmerzlichen Prozessen und Diskriminierungserfahrungen begleitet. Wenn diese Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien aber dem eigenen Selbstwert so stark widersprechen, dass sie in das bestehende Selbstkonzept nicht integrierbar sind, besteht zum einen die Möglichkeit, dass sich intergeschlechtliche Menschen früher oder später von der Kirche abwenden, zum anderen die Gefahr, dass der im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen häufig geäußerte Suizidwunsch realisiert wird. Die Analyse der Gewalterfahrungen im römisch-katholischen Feld sollten das Desiderat einsichtig gemacht haben, dass die katholische Kirche für intergeschlechtliche Menschen einen Platz bereitstellen muss, um ihrer Existenz einen Raum zur gewaltfreien Entfaltung geben zu können.
2.5. Zusammenfassung zweiter Teil: Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen als theologisches und kirchliches Desiderat Der zweite Teil hat sich zum Ziel gesetzt, die im römisch-katholischen Feld wirksamen Anerkennungsstrukturen in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit zu eruieren. Methodologische Grundlage dafür boten das Habituskonzept und die Theorie der männlichen Herrschaft von Pierre Bourdieu, anhand welcher eine Charakterisierung des religiösen Feldes vorgenommen wurde. Diese Grundbestimmungen bildeten das Analysewerkzeug für nähere Spezifizierungen. Da die Gesamtheit der Kapitalsorten eines Feldes den Habitus sozialer Akteur*innen bestimmt, konnte zunächst festgehalten werden, welche Bereiche subjektiven Wahrnehmens, Denkens und Handelns vom Katholizismus geprägt sind (vgl. Kap. 2.1 und 2.2). Ausgehend davon, dass männliche Herrschaft die Konfiguration des römisch-katholischen Feldes maßgeblich bestimmt, wurden deren Auswirkungen auf den Geschlechterhabitus seit der dritten Welle der Frauenbewegung ab den 1990ern untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass männliche Herrschaft und damit heteronormative Vorstellungen für die Strukturierung und Einteilung des Feldes weiterhin gültig bleiben, aufgrund der emanzipatorischen Bewegungen aber einen Legitimationsverlust erleiden und sich dadurch immer mehr Kritik ausgesetzt sehen (vgl. Kap. 2.3). Diese Ungleichzeitigkeit bzw. hysteresis (vgl. Ende von Kap. 2.1.3) erleben intergeschlechtliche Menschen als symbolische Gewalt, wenn sie sich selbst als gläubig, aber nicht von der Kirche verstanden fühlen. Die durch männliche Herrschaft noch weiterhin bestimmten sozialen Aushandlungsprozesse des römisch-katholischen Feldes lassen diese Anerkennung bisher vermissen. Intersektional bedingte Gewalterfahrungen gegenüber intergeschlechtlichen Menschen wurden auf allen drei benannten Ebenen (institutionalisiert, objektiviert, inkorporiert) nachgewiesen und drängen auf Maßnahmen, die intergeschlechtlichen Menschen einen positiv besetzten Platz im römischkatholischen Feld bereitstellen (vgl. Kap. 2.4). Der letzte Teil dieser Dissertation widmet sich abschließend dem Plädoyer, dass Theologie im Allgemeinen und auch katholische Theologie im Speziellen zur Identitätsbildung und zu einem gelingenden Leben intergeschlechtlicher Personen beitragen können und es auch sollen.
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bekommen dies durch ihre Eltern oder ihr Umfeld vermittelt. Der duldsame Weg der Anpassung ist von vielen schmerzlichen Prozessen und Diskriminierungserfahrungen begleitet. Wenn diese Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien aber dem eigenen Selbstwert so stark widersprechen, dass sie in das bestehende Selbstkonzept nicht integrierbar sind, besteht zum einen die Möglichkeit, dass sich intergeschlechtliche Menschen früher oder später von der Kirche abwenden, zum anderen die Gefahr, dass der im Zusammenhang mit Diskriminierungserfahrungen häufig geäußerte Suizidwunsch realisiert wird. Die Analyse der Gewalterfahrungen im römisch-katholischen Feld sollten das Desiderat einsichtig gemacht haben, dass die katholische Kirche für intergeschlechtliche Menschen einen Platz bereitstellen muss, um ihrer Existenz einen Raum zur gewaltfreien Entfaltung geben zu können.
2.5. Zusammenfassung zweiter Teil: Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen als theologisches und kirchliches Desiderat Der zweite Teil hat sich zum Ziel gesetzt, die im römisch-katholischen Feld wirksamen Anerkennungsstrukturen in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit zu eruieren. Methodologische Grundlage dafür boten das Habituskonzept und die Theorie der männlichen Herrschaft von Pierre Bourdieu, anhand welcher eine Charakterisierung des religiösen Feldes vorgenommen wurde. Diese Grundbestimmungen bildeten das Analysewerkzeug für nähere Spezifizierungen. Da die Gesamtheit der Kapitalsorten eines Feldes den Habitus sozialer Akteur*innen bestimmt, konnte zunächst festgehalten werden, welche Bereiche subjektiven Wahrnehmens, Denkens und Handelns vom Katholizismus geprägt sind (vgl. Kap. 2.1 und 2.2). Ausgehend davon, dass männliche Herrschaft die Konfiguration des römisch-katholischen Feldes maßgeblich bestimmt, wurden deren Auswirkungen auf den Geschlechterhabitus seit der dritten Welle der Frauenbewegung ab den 1990ern untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass männliche Herrschaft und damit heteronormative Vorstellungen für die Strukturierung und Einteilung des Feldes weiterhin gültig bleiben, aufgrund der emanzipatorischen Bewegungen aber einen Legitimationsverlust erleiden und sich dadurch immer mehr Kritik ausgesetzt sehen (vgl. Kap. 2.3). Diese Ungleichzeitigkeit bzw. hysteresis (vgl. Ende von Kap. 2.1.3) erleben intergeschlechtliche Menschen als symbolische Gewalt, wenn sie sich selbst als gläubig, aber nicht von der Kirche verstanden fühlen. Die durch männliche Herrschaft noch weiterhin bestimmten sozialen Aushandlungsprozesse des römisch-katholischen Feldes lassen diese Anerkennung bisher vermissen. Intersektional bedingte Gewalterfahrungen gegenüber intergeschlechtlichen Menschen wurden auf allen drei benannten Ebenen (institutionalisiert, objektiviert, inkorporiert) nachgewiesen und drängen auf Maßnahmen, die intergeschlechtlichen Menschen einen positiv besetzten Platz im römischkatholischen Feld bereitstellen (vgl. Kap. 2.4). Der letzte Teil dieser Dissertation widmet sich abschließend dem Plädoyer, dass Theologie im Allgemeinen und auch katholische Theologie im Speziellen zur Identitätsbildung und zu einem gelingenden Leben intergeschlechtlicher Personen beitragen können und es auch sollen.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Das Fazit des zweiten Teils stimmt für sich allein genommen pessimistisch, wurden hier lediglich Zusammenhänge erläutert, welche der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld im Wege stehen. In einem weiteren reflexionstheoretischen Schritt soll es nun umgekehrt auch um die Möglichkeitsbedingungen und vor allem auch Konstitutionsmöglichkeiten real vermittelter Anerkennung gehen. Was der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu nicht ausgearbeitet und ihm zu Unrecht den Vorwurf des mechanistischen Determinismus eingebracht hat, ist eine Subjektphilosophie, die das Sich-Verhalten-Können zu den gegebenen Umständen konstitutiv in eine Anthropologie einbindet. Nun war Bourdieu kein Anthropologe und schon gar kein Theologe, weshalb es notwendig ist, für die Frage nach Freiheit und Handlungsmacht weitere Denker*innen heranzuziehen. Mit letzteren Themenfeldern hat sich vor allem der Theologe Thomas Pröpper auseinandergesetzt und sie in seinem doppelbändigen Werk Theologische Anthropologie zugleich auch mit ethische Anschlussfragen verbunden. Die Relevanz seines vorausgesetzten Offenbarungsverständnisses für die Grundlegung der theologischen Ethik wurde bereits vor einigen Jahren wissenschaftlich aufgezeigt.1 Seine Theologie der Freiheit dient als reflexionstheoretische Grundlage, deren kontingenzsensible Entfaltung die Bedingungen und Möglichkeiten der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theoretisch und praktisch für das römisch-katholische Feld darlegt. Der dritte Teil bindet also die sozialphilosophischen Erkenntnisse des zweiten Teils in den freiheitstheologischen Ansatz Pröppers ein und widmet sich der Frage: Welche theoretischen und praktischen Voraussetzungen bedingen und ermöglichen die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld? Folgendes wird dabei vorausgesetzt und im Anschluss an Pröpper zu prüfen sein: Dem Anerkennungsbegriff liegt ein Verständnis zugrunde, welches Freiheit als reziprokes Anerkennungsverhältnis bestimmt. Die Reziprozität besteht darin, andere Freiheit um ihrer selbst willen anzuerkennen, selbst wenn die vollkommene Reziprozität aufgrund kontingenter Umstände 1
Vgl. Schmidt, Benedikt, Gottes Offenbarung und menschliches Handeln. Zur ethischen Tragweite eines theologischen Paradigmenwechsels (Studien zur theologischen Ethik 148), Fribourg 2017, 277–287. Auf kritische Anmerkungen dazu wird in Kap. 3.3 eingegangen.
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ausbleibt. Hinter dem Gedanken, die Freiheitsidee um ihrer selbst willen aufrecht zu erhalten, steckt eine Form der Kontingenzbewältigung, welche die Vorläufigkeit eines Anerkennungsverhältnisses immer wieder neu unter den Anspruch der vollkommenen Freiheit stellt. Damit wird die Freiheitsoption nicht nur zu einem Glauben, sondern zur motivationalen und existenziellen Ressource für moralische Handlungsmacht, indem sie die Hoffnung auf ein alternatives Neubeginnen und ein widerständiges SichVerhalten-Können zu den gegebenen Umständen stärkt. Die reale Vermittlung von Anerkennung beginnt also bei der Option für Freiheit – eine ethische Option, die Pröpper nicht müde geworden ist, immer wieder in seinen Leser*innen wachzurufen. Ausgehend von bisherigen theologischen Entwürfen zur Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen stellt Kap. 3.1 drei Denkformen vor, wie theologisch mit der Spannung des anerkennungstheoretischen Anspruchs und seiner vorläufigen Realisierbarkeit umgegangen wird. Besonders an der Verhältnisbestimmung von Gott und Geschlechtlichkeit soll gezeigt werden, dass bestimmte Geschlechtervorstellungen von Gott den formalen Anspruch des Freiheitsdenkens und in weiterer Folge die uneingeschränkte Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen unterminieren. Um die Problematik einsichtig zu machen, widmet sich sodann Kap. 3.2 den theoretischen Grundlagen der theologischen Anthropologie Pröppers, indem zunächst deren existenzialphilosophische, transzendentalphilosophische und bewusstseinsphilosophische Theorieelemente erläutert und ihr Ertrag für die transzentendaltphilosophische Bestimmung von Freiheit bestimmt werden. In Kap. 3.3 folgt darauf eine Diskussion der im ersten Kapitel schon benannten Problembereiche und formuliert dementsprechend kritische Anfragen an das Freiheitsdenken Pröppers, speziell bezüglich der Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheit, der mit dem Freiheitsdenken einhergehenden ethischen Ansprüche und der konzeptionellen Verwendung des Freiheitsbegriffes. Das letzte Kap. 3.4 legt die Implikate einer Theologie der Freiheit für die Konzeption einer systematischen Reflexionsgrundlage dar, welche zeigt, wie die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen innerhalb des römischkatholischen Feldes ausgeweitet werden kann. Dazu wird die von Pröpper vorwiegend transzendentalphilosophisch konzipierte Option für Freiheit kritisch an der Kontingenz menschlichen Daseins und materialer Verkörperungs- und Einbettungsprozesse erprobt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mündet in die Entfaltung einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse, welche die in der Kontingenz angelegten Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmöglichkeiten der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld ausweist.
3.1. Intergeschlechtlichkeit als Thema der Theologie Wenn man sich der Frage widmet, inwiefern sich Theologie mit Intergeschlechtlichkeit bereits auseinandergesetzt hat, kann man schnell feststellen, dass es sich um ein relativ neues Forschungsgebiet handelt. Dies ist umso überraschender, da das Thema sozialhistorisch ja keineswegs neu ist. Sucht man nach einschlägiger theologischer Forschung zu
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ausbleibt. Hinter dem Gedanken, die Freiheitsidee um ihrer selbst willen aufrecht zu erhalten, steckt eine Form der Kontingenzbewältigung, welche die Vorläufigkeit eines Anerkennungsverhältnisses immer wieder neu unter den Anspruch der vollkommenen Freiheit stellt. Damit wird die Freiheitsoption nicht nur zu einem Glauben, sondern zur motivationalen und existenziellen Ressource für moralische Handlungsmacht, indem sie die Hoffnung auf ein alternatives Neubeginnen und ein widerständiges SichVerhalten-Können zu den gegebenen Umständen stärkt. Die reale Vermittlung von Anerkennung beginnt also bei der Option für Freiheit – eine ethische Option, die Pröpper nicht müde geworden ist, immer wieder in seinen Leser*innen wachzurufen. Ausgehend von bisherigen theologischen Entwürfen zur Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen stellt Kap. 3.1 drei Denkformen vor, wie theologisch mit der Spannung des anerkennungstheoretischen Anspruchs und seiner vorläufigen Realisierbarkeit umgegangen wird. Besonders an der Verhältnisbestimmung von Gott und Geschlechtlichkeit soll gezeigt werden, dass bestimmte Geschlechtervorstellungen von Gott den formalen Anspruch des Freiheitsdenkens und in weiterer Folge die uneingeschränkte Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen unterminieren. Um die Problematik einsichtig zu machen, widmet sich sodann Kap. 3.2 den theoretischen Grundlagen der theologischen Anthropologie Pröppers, indem zunächst deren existenzialphilosophische, transzendentalphilosophische und bewusstseinsphilosophische Theorieelemente erläutert und ihr Ertrag für die transzentendaltphilosophische Bestimmung von Freiheit bestimmt werden. In Kap. 3.3 folgt darauf eine Diskussion der im ersten Kapitel schon benannten Problembereiche und formuliert dementsprechend kritische Anfragen an das Freiheitsdenken Pröppers, speziell bezüglich der Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheit, der mit dem Freiheitsdenken einhergehenden ethischen Ansprüche und der konzeptionellen Verwendung des Freiheitsbegriffes. Das letzte Kap. 3.4 legt die Implikate einer Theologie der Freiheit für die Konzeption einer systematischen Reflexionsgrundlage dar, welche zeigt, wie die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen innerhalb des römischkatholischen Feldes ausgeweitet werden kann. Dazu wird die von Pröpper vorwiegend transzendentalphilosophisch konzipierte Option für Freiheit kritisch an der Kontingenz menschlichen Daseins und materialer Verkörperungs- und Einbettungsprozesse erprobt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mündet in die Entfaltung einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse, welche die in der Kontingenz angelegten Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmöglichkeiten der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld ausweist.
3.1. Intergeschlechtlichkeit als Thema der Theologie Wenn man sich der Frage widmet, inwiefern sich Theologie mit Intergeschlechtlichkeit bereits auseinandergesetzt hat, kann man schnell feststellen, dass es sich um ein relativ neues Forschungsgebiet handelt. Dies ist umso überraschender, da das Thema sozialhistorisch ja keineswegs neu ist. Sucht man nach einschlägiger theologischer Forschung zu
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Intergeschlechtlichkeit, stößt man auf die zwei Autor*innen Susannah Cornwall2 (anglikanisch) und Megan DeFranza3 (konfessionsungebunden). DeFranza hat sich auf einen bibelhermeneutischen Ansatz spezialisiert, um für konservative Christ*innen anschlussfähig zu bleiben. In der biblischen Rede von Eunuchen sollen ethische Leitlinien gefunden werden, wie mit intergeschlechtlichen Personen in Gesellschaft und Theologie umzugehen ist.4 Cornwalls Werk umfasst ein weitaus breiteres ethisches und theologisches Spektrum: Sie setzt sich mit Eschatologie und Christologie5 , christlicher Sexualethik6 , Disability Studies7 und Narrativer Ethik8 auseinander und bietet dadurch eine Vielfalt systematischer Ansätze je nach Untersuchungsgegenstand an. Eine ebenfalls breitere, aber weniger fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema stellt die Dissertation John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body9 der katholischen Theologin Mary E. Lofgren dar. Für die vorliegende Arbeit erwiesen sich daher Beiträge anderer katholischer Autor*innen als gewinnbringender, selbst wenn diese vom Umfang her kürzer ausfallen. Darunter ist zuvorderst der Beitrag der katholischen Theologin Stephanie Budwey zu nennen, welcher sich in qualitativen Interviews mit intergeschlechtlichen Personen auseinandersetzt, die einem kirchlichen Leben und 2 3 4
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Cornwall, Susannah, Sex and Uncertainty in the Body of Christ. Intersex Conditions and Christian Theology (Gender, theology, and spirituality), London – Oakville 2010. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology. Vgl. dazu auch: DeFranza, Megan K., Virtuous Eunuchs. Troubling Conservative and Queer Readings of Intersex and the Bible, in: Susannah Cornwall (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, Bd. 38, New York 2015, 55–77; DeFranza, Megan K. u.a., Sex On the Margins. Centering Intersex, Transgender, and Sexually Fluid Voices In Religious and Scientific Discourse, in: Theology & Sexuality 24/2 (2018) 65–71. Cornwall, Susannah, The Kenosis of Unambiguous Sex in the Body of Christ. Intersex, Theology and Existing ›for the Other‹, in: Theology & Sexuality 14/2 (2008) 181–199. Cornwall, Susannah, »State of Mind« versus »Concrete Set of Facts«. The Contrasting of Transgender and Intersex in Church Documents on Sexuality, in: Theology & Sexuality 15/1 (2009) 7–28; Cornwall, Susannah, Ratum et Consummatum. Refiguring Non-Penetrative Sexual Activity Theologically, in Light of Intersex Conditions, in: Theology & Sexuality 16/1 (2010) 77–93; Cornwall, Susannah, British Intersex Christians’ Accounts of Intersex Identity, Christian Identity and Church Experience, in: Practical Theology 6/2 (2013) 220–236; Cornwall, Susannah, Identity and Formation in Theological Education. The Occasion of Intersex, in: Journal of Adult Theological Education 12/1 (2015) 4–15; Cornwall, Susannah, Laws »Needefull in Later to Be Abrogated«. Intersex and the Sources of Christian Theology, in: Dies. (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, New York 2015, 147–171; Cornwall, Susannah, Introduction. Troubling Bodies?, in: Dies. (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, New York 2015, 1–26. Cornwall, Susannah, Asking about What Is Better. Intersex, Disability, and Inaugurated Eschatology, in: Journal of Religion, Disability & Health 17/4 (2013) 369–392; Cornwall, Susannah, Intersex and the Rhetorics of Disability and Disorder. Multiple and Provisional Significance in Sexed, Gender, and Disabled Bodies, in: Journal of Disability & Religion 19/2 (2015) 106–118; Cornwall, Susannah, Reading the Writing in the Margins. Dysfunction, Disjunction, Disgust, and the Bodies of Others, in: Theology & Sexuality 24/2 (2018) 72–84. Cornwall, Susannah, Telling Stories about Intersex and Christianity. Saying Too Much or Not Saying Enough?, in: Theology 117/1 (2014) 24–33. Lofgren, Mary E. Z., John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body. Zgl. Univ. Diss., Washington (D.C.) 2020.
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dem christlichen Glauben nahestehen.10 Darüber hinaus ist die theologische Ethikerin Patricia Beattie Jung11 zu nennen, die sich dem Thema Intergeschlechtlichkeit mehrfach gewidmet hat. Kirchenrechtlich macht die schon in Bezug auf die Pfarrbucheintragungen erwähnte Dissertation von Klüner einen Anfang.12 Weitere kleine katholische Beiträge13 lehnen sich an medizinethische oder sexualethische Fragestellungen an und fordern mehr oder weniger große Modifikationen einzelner theologischer Disziplinen oder Themenbereiche. Ende 2022 lief außerdem das sozialethisch konzipierte DFG-Projekt Prekäre Anerkennung14 der Katholisch-theologischen Fakultät der Wilhelms-Universität Münster an, das noch interessante Forschungsergebnisse verspricht. Aus evangelischer Perspektive sind insbesondere zwei Autor*innen anzuführen: Virginia Ramey Mollenkott15 beleuchtet, welche Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen aus der Idee eines allgeschlechtlichen Gottes zieht. Conrad Krannich16 wirft mit Judith Butler einen Blick auf die biblischen Schöpfungserzählungen und charakterisiert Geschlechterkategorien als ethischen Gestaltungsbereich, die der Lebensdienlichkeit verpflichtet sind. Abgesehen von dem bereits Genannten, fehlen auch aus evangelischer Perspektive weitere Forschungen zum Thema. 10
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Budwey, Stephanie A., »God Is the Creator of All Life and the Energy of this World«. German Intersex Christians’ Reflection on the Image of God and Being Created in God’s Image, in: Theology & Sexuality 24/2 (2018) 85–97; Budwey, Stephanie A., Religion and Intersex. Perspectives from Science, Law, Culture, and Theology (New Critical Thinking in Religion, Theology and Biblical Studies), London 2022. Coray, Joseph A. – Jung, Patricia B., Sexual Diversity and Catholicism. Toward the Development of Moral Theology, Collegeville (MN) 2000; Jung, Patricia B. – Roughgarden, Joan, Gender in Heaven. The Story of the Ethiopian Eunuch in Light of Evolutionary Biology, in: Patricia B. Jung (Hg.), God, Science, Sex, Gender. An Interdisciplinary Approach to Christian Ethics, Urbana 2010, 224–240; Jung, Patricia B. (Hg.), God, Science, Sex, Gender. An Interdisciplinary Approach to Christian Ethics, Urbana 2010; Jung, Patricia B., Intersex on Earth as It Is in Heaven, in: Susannah Cornwall (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, Bd. 74.2, New York 2015, 173–195; Jung, Patricia B., Patriarchy, Purity, and Procreativity. Developments in Catholic Teachings on Human Sexuality and Gender, in: Susannah Cornwall (Hg.), Intersex, Theology, and the Bible. Troubling Bodies in Church, Text, and Society, New York 2015, 69–85. Klüner, Die Führung der Pfarrbücher vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts am Beispiel des Taufbuches. Hiebert, Valerie – Hiebert, Dennis, Intersex Persons and the Church. Unknown, Unwelcomed, Unwanted Neighbors, in: The Journal for the Sociological Integration of Religion and Society 5/2 (2018) 31–44; Gudorf, The Erosion of Sexual Dimorphism; Lawler, Michael G. – Salzman, Todd A., Sex, Gender, and Intersex. Anthropological, Medical, and Ethical Critiques and Proposals, in: Theology & Sexuality 25/3 (2019) 205–226. Ausnahme bildet nur die bisherige eigene Forschungsarbeit: Mairinger, Katharina, Zur Anerkennung intergeschlechtlicher Personen. Ein Ernstfall theologischer Ethik, in: Marianne Heimbach-Steins – Judith Könemann – Verena Suchhart-Kroll (Hgg.), Gender (Studies) in der Theologie (Münsterische Beiträge zur Theologie Neue Folge, Band 4), Münster 2021, 131–141. Heimbach-Steins, Marianne – Behrensen, Maren, Prekäre Anerkennung. Das »dritte Geschlecht« in sozialethischer Perspektive. URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/492893399?context=proj ekt&task=showDetail&id=492893399& [Abruf: 13.01.2023]. Mollenkott, Virginia R., Omnigender. A Trans-Religious Approach, Cleveland (Ohio) 2007. Krannich, Conrad, Geschlecht als Gabe und Aufgabe. Intersexualität aus theologischer Perspektive (Angewandte Sexualwissenschaft), Gießen 2016.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Angesichts der überschaubaren theologischen Auseinandersetzung mit Intergeschlechtlichkeit, gibt es zudem noch viele weitere unerschlossene Themenfelder der Theologie, die auf eine Bearbeitung warten. Liturgisch, religionswissenschaftlich, praktisch-theologisch und christlich-philosophisch liegen ebenfalls noch keine einschlägigen Auseinandersetzungen mit Intergeschlechtlichkeit vor. In einem scheinen sich alle angeführten Theolog*innen unterschiedlicher Konfessionen einig, die zu Intergeschlechtlichkeit gearbeitet haben: Gott ist und bleibt ein Mysterium, über dessen Definitionsmacht niemand verfügt. Jede positive Aussage über Gottes Geschlechtlichkeit stellt einen Anthropomorphismus dar und projiziert damit eine menschliche Vorstellung von geschlechtlicher Identität auf Gott. Dementsprechend stimmen alle Positionen auch darin überein, dass die Divinisierung von Männlichkeit in der Christologie und Eschatologie aufgehoben werden muss. Welche Konsequenzen aus dieser Grundbestimmung für die Frage folgen, inwiefern die imago Dei von geschlechtlichen Kategorien bestimmt ist und wie sie gegebenenfalls intergeschlechtliche Personen integriert, unterscheidet sich allerdings je nach forschungstheoretischen Prämissen. Da die Schöpfungserzählungen in der Vergangenheit wie Gegenwart immer wieder dazu instrumentalisiert wurden, eine Zweigeschlechterordnung zu legitimieren,17 entstanden in Abgrenzung zu diesen Argumentationslinien verhältnismäßig viele eschatologische Überlegungen zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Sie suchen nach Lösungswegen, wie die Gemeinschaft mit Gott in oder jenseits von Geschlechtlichkeit gedacht werden kann. Die katholische Theologin Patricia Beattie Jung geht mit Miroslav Volf von drei Denkmöglichkeiten aus, wie über die eschatologische Wirklichkeit von Geschlecht nachgedacht werden kann: (1) Man vermutet, dass weder das eine noch das andere existieren wird. Hier wird Geschlechtlichkeit durch Auslöschung neutralisiert. (2) Man denkt Geschlechtlichkeit nur noch als Vermischung des sowohl einen als auch anderen. Hier wird Geschlechtlichkeit durch eine androgyne Seinsweise aufgegeben. (3) Man affirmiert die Differenz der Geschlechter, in der das eine immer auch schon das andere umfasst und nicht ohne es zu denken ist.18 Es wird in den folgenden Unterkapiteln deutlich werden, dass sich diese drei Denkformen in Bezug auf das Thema Intergeschlechtlichkeit nicht nur auf die Eschatologie beschränken, weshalb sich die Kapitelüberschriften an folgenden drei unterscheidbaren theologischen Denkmodellen orientieren: (1) dem Einheitsdenken, (2) dem Differenzdenken und (3) dem Ambiguitätsdenken. Dabei wird sich zeigen, dass manche Theolog*innen konsequent einer Denkform zugeordnet werden können, andere je nach Forschungsgegenstand zwischen Denkformen hin- und herspringen. Während
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Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von: Scoralick, Ruth, Als Mann und Frau geschaffen? Die Bibel und ihre Leser*innen, in: Regina Ammicht Quinn – Gero Bauer – Ingrid Hotz-Davies (Hgg.), Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit (Gender Studies), Bielefeld 2018, 61–77. Vgl. Volf, Miroslav, The Trinity and Gender Identity, in: Douglas A. Campbell (Hg.), Gospel and Gender. A Trinitarian Engagement with Being Male and Female in Christ (Studies in theology and sexuality 7), London 2003, 155–178, hier: 175.
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das Einheitsdenken alle möglichen geschlechtlichen Seinsweisen auch in Gott repräsentiert sieht, geht das Differenzdenken von einer klaren Unterscheidung zwischen göttlichen und menschlichen Kategorien aus, um dem anthropomorphistischen Projektionsverdacht zu entgehen. Beide Denkmodelle tendieren dazu, die faktisch erlebten Diskriminierungserfahrungen intergeschlechtlicher Menschen vor dem Hintergrund eines göttlichen Schöpferwillens oder eschatologischen Heilsplans zu nivellieren. Demgegenüber stellt das ambiguitätstolerante Denkmodell19 zwar keine Lösung, aber doch eine angemessene Umgangsform für die theologischen Herausforderungen ersterer beiden Denkmodelle dar, indem sie die schöpferische Vielfalt in all ihren Ausdrucksformen kreativ in die Theologie einbindet. Sie geht sowohl von der anfanghaften Repräsentation Gottes im geschlechtlichen Sein des Menschen und verkörpertem Heil aus, als auch von der Nichtaussagbarkeit göttlicher Wirklichkeit.
3.1.1. Einheitsdenken: Gott als allgeschlechtliche Existenz Kennzeichnend für das Einheitsdenken ist es, Gott als Existenz zu denken, die alle Geschlechter umfasst. Sämtliche Differenz menschlicher und göttlicher Wirklichkeit lösen sich in diesem Denkmodell im Eschaton in der Einheit mit Gott auf. Dabei werden die differenztheoretischen Kategorien sowohl im Jenseits als auch im Diesseits ein Stück weit nivelliert. Problematisch daran ist, dass gerade dieses Denkmodell prekäre Verhältnisse in ihrer Bedeutung für politisches und moralisches Handeln schwächt, weil die dazugehörige Soteriologie glauben machen will, dass intergeschlechtlichen Menschen aufgrund ihrer vermeintlich doppelten Veranlagung mehr Repräsentanz zukommt als eingeschlechtlichen Menschen. Diese soteriologische Deutung steht allerdings oft im Widerspruch zu real erfahrener Ablehnung und Diskriminierung und macht die Aussage zur besonderen Gnade intergeschlechtlichen Menschen für diese nur schwer nachvollziehbar. Insofern handelt es sich beim Einheitsdenken auch um eine Art Jenseitsvertröstung, die rückwirkend für die Duldung der Abwertung intergeschlechtlicher Körper im Diesseits verantwortlich ist. Auch schöpfungstheologische Vorstellungen eines allgeschlechtlichen Gottes können zu derartigen Nivellierungen beitragen. Interpretationen eines androgynen Urzustandes des Menschen in Adam sind selten, treten aber bspw. in jüdischen Auslegungen
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Der im Deutschen bislang nur vornehmlich in der Literatur- und Sprachwissenschaft verwendete Begriff der Ambiguität wird im Deutschen oft mit Mehrdeutigkeit bzw. Doppeldeutigkeit wiedergegeben und bezeichnet die Offenheit einer schriftlichen oder sprachlichen Äußerung für unterschiedliche Auslegungen. Die Psychologie verwendet den Begriff, um damit logisch widersprüchliche Informationen bezüglich der (subjektiven) Richtigkeit hinsichtlich eines Sachverhalts zu beschreiben, aufgrund deren es zu einer Uneindeutigkeit der Sache oder des damit verbundenen Gefühlslebens kommt. Mit dem oben beschriebenen Fall des Ambiguitätsdenkens soll diese Mehrdeutigkeit des Verhältnisses von Gott zum Menschen in Bezug auf deren Geschlechtlichkeit ausgedrückt werden. Dass diese Denkungsart nicht mit Relativismus gleichzusetzen ist und gerade für theologisches Nachdenken viel Potential bietet, zeigen die einzelnen Beiträge des Sammelbandes auf: Deibl, Marlene – Mairinger, Katharina (Hgg.), Eindeutig mehrdeutig. Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion (Religion and Transformation in Contemporary Society 20), Göttingen 2022.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
aus dem 15. Jh. auf.20 Darin wird aber nicht deutlich, ob daraus auf die Geschlechtlichkeit Gottes geschlossen werden kann. Im 21. Jh. jedenfalls thematisiert die Theologin Virginia Mollenkott die Möglichkeit eines omnigender Gottes. Sie legt besonderes Augenmerk auf die theologische Grundzusage, dass auch intergeschlechtliche Menschen willentlich von Gott geschaffen seien und er sich in ihnen möglicherweise noch treffender verkörpern könne, weil alle Geschlechter in einem Körper repräsentiert seien.21 Biblisch wird dann argumentiert, die sexuelle und genitale Differenzierung sei erst sekundär zur androgynen Seinsweise hinzugekommen. Intergeschlechtlichkeit wird sogar als der originale Plan Gottes22 und als die Christus am nächsten kommende Repräsentation23 bezeichnet. Auch wenn es Mollenkott dabei nicht um das Privileg geht, nur intergeschlechtlichen Menschen im vollen Umfang die Gottebenbildlichkeit oder die Repräsentation Christi zuzusprechen, wird ihr Anliegen, die Gemeinschaft mit Gott am Ende der Zeit in allen geschlechtlichen Variationen denken zu können, durch die vorhergehenden Aussagen vereinnahmt. Wenn nämlich die diesseitige geschlechtliche Existenz nur als Übergangsstadium zur differenzbeseitigenden Einheit mit Gott betrachtet wird, werden reale Diskriminierungserfahrungen banalisiert. Diese einheitstheoretische Vereinnahmung intergeschlechtlicher Realitäten in binär strukturierten Theologien erweist sich in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen bietet eine omnigender-Vorstellung keinen Trost für die tatsächlich verwehrte theologische Anerkennung und zum anderen stehen metaphysische Aussagen über wie auch immer geartete Gottesbeziehungen vor einem epistemologischen Legitimationsproblem: Positive Aussagen über die Geschlechtsidentität Gottes sind rational nicht vermittelbar. Zudem müssen anthropologische Begründungsmodelle weitreichender sein, als nur Jenseitsvertröstungen für diejenigen anbieten zu können, die tagtäglich unter Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen leiden. Die Vereinnahmung durch eine androgyne Gottesvorstellung ist also wenig geeignet, intergeschlechtlichen Menschen theologisch gerecht zu werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Differenzdenken.
3.1.2. Differenzdenken: Gott jenseits geschlechtlicher Kategorienbildungen Grundlegend für dieses Denkmodell gilt: Gott wird jenseits aller menschlichen Kategorien gedacht. Somit wird auch an der Geschlechtlichkeit des Menschen eine Differenz zu Gott markiert. In weiterer Folge stellt Geschlechtlichkeit auch keine Heilskategorie dar, sondern wird analog zum Leib-Seele-Dualismus eher abgewertet. Da Gott schöpfungstheologisch als der völlig andere charakterisiert wird, die Möglichkeit der Erlösung aber nicht vollständig ausgeschlossen werden soll, werden Ideale wie die imago Dei, imago Christi oder Heiligkeit als Differenzkategorie eingeführt, welche oftmals heteronormativen Denkmustern entspringen. Für intergeschlechtliche Menschen ist es dann ungleich schwieriger, dem Ideal zu entsprechen, da ihre Existenzform im römisch-katholischen
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Vgl. Cornwall, Sex Otherwise. Intersex, Christology, and the Maleness of Jesus, in: Journal of Feminist Studies in Religion 30/2 (2014) 23–39, hier: 35. Vgl. Mollenkott, Omnigender, 8. Vgl. Mollenkott, Omnigender, 17–18. Vgl. Mollenkott, Omnigender, 106.
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Feld auf unterschiedlichsten Ebenen von symbolischer Gewalt geprägt ist (vgl. Kap. 2.4). Heilsimperative des Differenzdenkens laufen damit auf ethische Überforderungen hinaus, da sie an Kategorien bemessen sind, die manche Menschen von vornherein bevorzugen und manche benachteiligen. Hinzu kommt außerdem, dass das göttliche Heil nicht verkörpert und in die schon existierende Wirklichkeit eingebettet verstanden wird. Als erstes Beispiel lässt sich die Fortschreibung der Theologie des Leibes24 der katholischen Theologin Mary E. Lofgren anführen. Ihrer Lesart der Theologie des Leibes zufolge sei die Personalität des Menschen zunächst durch eine ursprüngliche Einsamkeit und ein originäres Selbstbewusstsein in Relation zu Gott gekennzeichnet. Erst sekundär komme dem Menschsein dann auch die zwischenmenschliche Relationalität und damit seine bräutliche Bedeutung (spousal meaning) zu, die nicht geschlechtsspezifisch, sondern ebenfalls als allgemeiner Ausdruck der Gottebenbildlichkeit zu denken sei.25 Nichtsdestotrotz sei das Geschlecht für die Berufung zur Ehe entscheidend, da sich eine Person erst im ehelichen Akt ganz der anderen Person hingeben und damit auch den göttlichen Geschenkcharakter realisieren kann. Zunächst sei also nicht wichtig, ob die jeweilige Person fruchtbar ist, sondern, ob sie den ehelichen Akt als penetrativen, heterosexuellen Geschlechtsverkehr vollziehen kann. So wird daran festgehalten, dass auch ein intergeschlechtlicher Körper grundlegend zur Gemeinschaft mit Gott berufen sein könne. Anatomische Einschränkungen könnten diese Berufung dann aber stufenweise einschränken.26 Im Umkehrschluss spricht Lofgren daher davon, dass die Sprache intergeschlechtlicher Körper je nach Eignung für den ehelichen Akt die bräutliche Bedeutung entweder nur flüsternd (whisper) umsetzen können, oder gänzlich stumm (silence) verbleiben.27 Daraus sei schließlich die Konsequenz zu ziehen, dass manche intergeschlechtliche Personen nicht fähig seien, zu heiraten. Da entlang der Theologie des Leibes aber immer nur in zwei Berufungen (Ehe und Jungfräulichkeit28 ) gedacht wird, optiert sie einerseits für »pastoral love along with a deep recognition of the difficulty of this situation«29 , in der sich intergeschlechtliche Personen befinden; andererseits fordert sie zusätzlich zu Zölibat und Ehe eine Berufungstheologie zum Laienstand (»call to the lay state«30 ) im Sinne von unverheiratet und nicht-zölibatär. Angesichts der Unableitbarkeit und bleibenden Ambiguität der genannten Begriffe, der Geschlechtlichkeit Christi wie derjenigen Gottes31 , gerät diese Begründungsstruktur in Begründungsnot: Die metaphysische Setzung einer ehelichen Bedeutung des Körpers, wie sie bei Johannes Paul II. zu finden ist, fordert von Lofgren mehr Legitimierungsarbeit als Kreativität. Auf die wichtige Einsicht, dass eine Theologie für den unverheirateten Laienstand entwickelt werden sollte, wird nur noch kurz im Fazit ihrer Disser24 25 26 27 28 29 30 31
Johannes Paul II., Papst u.a. (Hgg.), Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes. Mittwochskatechesen von 1979–1984, Kißlegg 4 2014. Vgl. Lofgren, John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body, 181–182. Vgl. Lofgren, John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body, 184–185. Vgl. Lofgren, John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body, 247. Etwas deutlicher wird die Berufungstheologie hier formuliert: Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II, Nr. 11. Lofgren, John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body, 248–249. Lofgren, John Paul II’s Theological Anthropology and the Intersexual Body, 265. Vgl. Budwey, »God Is the Creator of All Life and the Energy of this World«, 91.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
tation hingewiesen. Wenn die grundlegende Fähigkeit des Menschen tatsächlich darin bestehen sollte, sich einem Anderen (Gott oder Ehepartner*in) ganz hinzugeben, muss danach gefragt werden, worin diese Ganzhingabe bei Lai*innen bestehen soll, die weder verheiratet noch zölibatär leben. Diese Frage erweist sich deshalb als virulent, da die Ganzhingabe als Manifestation und nicht nur als Repräsentation der imago Dei verstanden wird. Wird sie aber als solche metaphysisch argumentiert, muss für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen entweder ein intergeschlechtlicher Christus angenommen werden, oder sie können diese Ganzhingabe nie erreichen. Als zweites Beispiel ist DeFranzas schöpfungstheologische Argumentationslinie zu nennen, welche die imago Dei als anthropologischen Orientierungspunkt einbringt. Alle Menschen, egal ob männlich, weiblich oder intergeschlechtlich, seien als Bild Gottes geschaffen und dazu berufen, dem Bild Christi zu entsprechen: »Male, female, and intersex persons are all created in the image of God and all called to be conformed to the image of Jesus – the One who has brought God near and made God visible – by the power of the Spirit – the One who remains invisible and uncategorizable as male, female, or intersex.«32 Der Abbildcharakter sei jedoch, obwohl er sich grundsätzlich Gott und damit einer metaphysischen Grundlage verdanke, in der sozialen Welt von Menschen zu gewährleisten und zu achten. In kritischer Absetzung zur Theologie des Leibes geht sie davon aus, dass sich die Liebe Gottes als Liebe in der Gemeinschaft ausdrückt und eben nicht allein in der Sexualität eines sich liebenden Ehepaares. Nicht erst Sexualität, eine bestimmte Beschaffenheit des Körpers, oder eine Geschlechtsidentität stellen die Grundlage für die Beziehungsfähigkeit eines Menschen und in weiterer Folge seine Gottebenbildlichkeit dar, sondern die ursprüngliche Angewiesenheit auf andere bzw. die soziale Relationalität.33 Die göttliche Schöpfungsintention steht also in deutlichem Widerspruch zu der tatsächlich gelebten Realität und kann als solche auch nur von Gott wiederhergestellt werden. Folgerichtig schließen sich aus dieser Perspektive auch differenztheoretische eschatologische Überlegungen an. So weist DeFranza darauf hin, dass die Auflösung des binären oder des dichotomen Geschlechtermodells über die reine soziale Integration von intergeschlechtlichen Personen hinausginge. Eine grundlegende Neubewertung und Rekonstruktion der religiösen Geschlechteranthropologie durch Heteronormativitätskritik sei daher nicht notwendig, da die Erfahrungen intergeschlechtlicher Personen lediglich eine angemessene Umsetzung von christlicher Nachfolge einfordern würden. DeFranza hält somit geschlechtliche Kategorien in mancherlei Hinsicht für sinnvoll, etwa wenn es um die statistische Auswertung diskriminierter Gruppen geht.34 Allerdings ist sie auch der Überzeugung, dass Identität grundsätzlich fragil ist und daher nicht nur intergeschlechtliche, sondern auch weibliche und männliche Identitäten einer Stütze bedürfen. Zugunsten einer Rekonziliation intergeschlechtlicher Existenzen in der Christologie spricht sie sich daher für eine Dezentrierung der Geschlechterfrage aus. Obwohl die Vorstellung eines intergeschlechtlichen Christus ähnlich wie die einer
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DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 288. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 216–237. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 270.
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feministischen Christa oder eines schwarzen Christus befreiend wirken könne, sei dennoch daran festzuhalten, dass das Christusbild stets jenseits aller konstruierten Vorstellungen und Anthropomorphismen zu denken sei.35 Dementsprechend zielt sie auf eine geschlechtsunabhängige persönliche Heiligkeit (personal holiness) im Eschaton ab,36 und lässt die Frage nach der Leiblichkeit der Auferstehung im Sinne eines christlichen Mysteriums unbeantwortet: »Holiness must be separated from any gendered understandings of virtue – masculine, feminine, intersex, or transgendered. Holiness must not be presented as pink, blue, or purple. Christ is the model for all. All Christians are to model his victory (1 Cor. 15:45-57; Eph. 6:10-17). All Christians receive his inheritance as sons (Gal. 3:264:7). All Christians become his bride (Eph. 5:25-27). These mixed metaphors illustrate the universal call of conformity to Christ, but they do even more than this; they also testify to the mystery that remains in any exploration of the Christian life, no less in any exploration of the imago of God.«37 Obwohl DeFranza intersektionale Ansätze wie auch Verkörperungstheorien fallweise thematisiert38 und sich gegen die anthropologische Auflösung geschlechtlicher Unterschiede ausspricht, verweist sie am Ende nur noch darauf, die imago Christi trotz aller realer Differenz als gemeinsamen Zielhorizont zu verfolgen. Wie und welche Tugenden dazu entwickelt werden sollen, die reale geschlechtliche Differenz – sei sie nun biologisch, historisch oder kulturell gefasst – unter dem Sinnbild christlicher Nachfolge zu vereinheitlichen, bleiben wie die von ihr verwendeten Stichworte embodiment und embeddedness weitgehend abstrakt.39 Auch Susannah Cornwall entfaltet sehr deutliche Differenzkategorien im Hinblick auf die Gottebenbildlichkeit und stellt damit das dritte Beispiel dar. Nach ihr besteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht allein oder zuvorderst in dessen Geschlechtlichkeit, sondern die geschlechtliche Verfassung wird primär als integraler Bestandteil des Menschlichen und sekundär aber auch nur als Medium für andere göttliche Charakteristika wie Generativität und Relationalität verstanden.40 Die an eine Geschlechtlichkeit gebundenen Attribute können daher Gott selbst gar nicht repräsentieren. Auf diese Weise sollen Ideologien relativiert werden, welche Göttlichkeit anhand
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Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 272–280. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 281–282. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 284. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 180–181. Vgl. DeFranza, Sex Difference in Christian Theology, 181. So vermag auch die Kritik am westmodernen, männlichen, weißen und solipsistischen Ich an dieser Stelle nicht zu überzeugen. Cornwall, Sex Otherwise, 23. »Human sex does not in itself image God, but is a channel for other divine characteristics, such as generativity and relationality, imaged in humans.« Dies seien auch die Maßstäbe, unter denen die Göttlichkeit Jesu neu betrachtet werden sollten. Insofern die Geschlechtlichkeit nicht als maßgebliches Kriterium der Gottebenbildlichkeit fungiere, könne auch die Männlichkeit Jesu nicht als integraler Bestandteil der imago Dei beurteilt werden. Cornwall schlägt daher auch für die Christologie vor, dass weniger Gewicht auf das Geschlecht Jesu und dessen Bedeutung für die Theologie und Ekklesiologie gelegt werden soll. Vgl. Cornwall, Sex Otherwise, 39.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
diesseitiger Kriterien festmachen wollen.41 Gottebenbildlichkeit wird bei Cornwall daher vom Menschen her begriffen. Sie spricht hier von einem hypostasierten Personsein (hypostasis-personhood)42 , von einer Bestimmung des Menschen also, die jenseits weltlich-immanenter Kriterien situiert wird. Dieses Personsein besteht laut Cornwall nicht in der Geschlechtlichkeit, sondern in der anfänglichen und unverbrüchlichen Berufung des Menschen zur Gemeinschaft bzw. Identität mit Gott: »Human personhood, then, is not, I suggest, finally and ultimately about maleness or femaleness, or ability or disability, but about identity in God.«43 Die Rede vom hypostasierten Personsein ähnelt jener von der persönlichen Heiligkeit bei DeFranza und tatsächlich lässt diese differenztheoretische Bestimmung die Frage offen, inwieweit göttliche und menschliche Realität zueinander überhaupt vermittelt werden können, wenn es keinen immanenten Zugriff darauf gibt. Obwohl bei Cornwall der transzendentalphilosophische Ansatz überwiegt, ist sie doch nicht bereit, die metaphysische Bestimmung Gottes als generativ und relational, und die des Menschen als in Gott geerdetes Lebewesen ganz aufzugeben. Der Hinweis darauf, dass es sich bei diesen Bestimmungen um thetische Prämissen für den eigenen Ansatz handelt, werden wenn, dann nur implizit angedeutet: »If identity is, in some sense, eccentric – if the most fundamental and irreducible truth about humans is that they exist in, through, and because of God – then what is true about us as creatures of God is as true as, or more true than, what is true of us only in relation to one another in our social and cultural constructions.«44 Angesichts pluraler Weltanschauungen und der zu wahrenden Transzendenz Gottes sind jegliche metaphysischen Aussagen über Gott jedoch wenig hilfreich für ein freiheitstheologisches Begründungsmodell, weil diese Zuschreibungen ein breites Spektrum an Deutungspotential bieten, das zu Missverständnissen führen kann. Was genau unter den angeführten Beispielen wie etwa Heiligkeit, Generativität oder Relationalität verstanden wird, ist personell, räumlich und zeitlich kontingent. Ob von spousal meaning, hypostasis-personhood, personal holiness, einem auf Ewigkeit festgelegten göttlichen Plan oder einer Akzentverschiebung von der imago Dei auf eine imago Christi gesprochen wird, ist dabei unerheblich. Alle Lösungsversuche setzen mehr oder weniger implizit voraus, dass die Begriffe Himmel, Jenseits oder Heiligkeit im Eschaton unabhängig von kontingenten Verständnissen interpretiert werden könnten und dass die Gnade Gottes den Menschen bereits umfasst. Diese Ideale sind zumindest aber im römisch-katholischen Feld stark von dem Distinktionsmarker Männlichkeit geprägt (vgl. Kap. 2.3). Wie aber kann ein intergeschlechtlicher Mensch, der sowohl innerhalb als außerhalb einer Glaubensgemeinschaft Diskriminierungserfahrungen macht, sein Leben als gnadenreich erfahren? Die eschatologischen Überlegungen der Theolog*innen stehen vor ähnlichen Problemen: Da laut deren Aussage keine positiven Aussagen darüber getroffen werden können, was intergeschlechtliche Menschen nach dem Tod erwartet, kann auch wenig überzeugend dafür argumentiert werden, dass das diesseitige Unrecht im Jenseits aufgehoben wird. Zumindest scheint letzter Gedanke Anlass für Cornwall,
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Vgl. Cornwall, Intersex and the Rhetorics of Disability and Disorder, 115. Vgl. Cornwall, Intersex and the Rhetorics of Disability and Disorder, 113. Cornwall, Intersex and the Rhetorics of Disability and Disorder, 113. Cornwall, Intersex and the Rhetorics of Disability and Disorder, 114.
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ihr eschatologisches Programm in Abgrenzung zu ihren schöpfungstheologischen Überlegungen ambiguitätssensibel zu konzipieren.
3.1.3. Ambiguitätsdenken: Gott sowohl diesseits als auch jenseits geschlechtlicher Kategorienbildungen Dieses Denkmodell ist sich sowohl der epistemologischen Begrenzungen bewusst, dass positive Aussagen über Gott im philosophischen Diskurs nicht widerspruchsfrei eingebracht werden können, als auch der potentiellen motivationalen und existenziellen Tragkraft einer Transzendenzbejahung. Es wird weder absolut bestätigt, noch ausgeschlossen, dass Körper, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität eine Rolle im Jenseits spielen, jedoch hält man in ethischer Absicht grundlegend daran fest, dass Menschen samt ihrer Körperlichkeit, Sexualität und Geschlechtlichkeit Heil zuteilwerden kann.45 Exemplarisch dazu sollen ebenfalls einige Beispiele folgen. Da sich Cornwall näher mit Narrativer Theologie und der Frage auseinandersetzt, wie die soziale und körperliche Einbettung von Subjekten zu denken ist, berücksichtigt sie vor allem, welche Geschichten intergeschlechtliche Personen von sich und ihren Körpern selbst erzählen: »Christians often tell stories in which clearly sexed male or female bodies reflect God’s intent in the orders of creation more truthfullly than intersex bodies. But intersex people have their own stories to tell, and – whether or not any individual intersex person feels that talking about intersex is their vocation – the Church needs to listen. If the memory and story of Jesus are embodied by those who share in it, then the body of Christ is also an intersex body, constituted and subverted by those intersex Christians whose lives are testimonies of the place faith has held in their journeys.«46 Aufgrund der inhaltlichen Bandbreite der Antworten merkt Cornwall kritisch an, dass durch theologische Versuche der Unsichtbarmachung oder Tabuisierung intergeschlechtlicher Körper gleichermaßen auch der Zuspruch voller Humanität und der Gottebenbildlichkeit unterminiert werde.47 Vielmehr ginge es darum, die intergeschlechtliche Existenz als eindeutige Ausprägung christlichen Lebens anzuerkennen. Daher sei die Rede von Körpern, wie sie wirklich sind, unumgänglich: »If we do not talk about bodies as they really are, including bodies in their variation and transgression from demarcation as male or female, then we are not really talking about bodies at all.«48 Hier zieht sie in einigen Aufsätzen auch Parallelen zu den Disability Studies. Die soziale Strukturierung der Gesellschaft nach homologen Oppositionen wie gut/böse, gesund/krank oder normal/abnormal würden zur Marginalisierung von intergeschlechtlichen Personen und deren Körpern beitragen. Wie auch Menschen mit Behinderung 45 46 47 48
Vgl. dazu die in Kap. 3.4.2 gleichsam postulierte wie gewählte Option für Freiheit bei Thomas Pröpper. Cornwall, Telling Stories about Intersex and Christianity, 31. Vgl. Cornwall, Sex Otherwise, 39. Cornwall, The Kenosis of Unambiguous Sex in the Body of Christ, 193.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
stünden intergeschlechtliche Personen vor dem Problem, dass nicht sie selbst, sondern heteronormative Diskurse ihre Körper in Frage stellen. Nach Cornwall haben theologische Diskurse bisher versagt, diese Diskurse zu queeren49 und damit das Feld von Ambiguitätstoleranz zu öffnen. Dementsprechend müsse deutlich gemacht werden, dass eine intergeschlechtliche Existenz keine Strafe für eine Sünde darstellt, wie oft interpretiert wurde und heute teilweise noch immer wird.50 Geschlechtlich binäre Zuweisungen sollen zugunsten einer Annahme multipler Körperlichkeit aufgegeben werden. Nur so könne auch die Praxis des Otherings51 durch eine Theologie der privilegierten Geschlechter vermieden werden.52 So mahnt sie ein, mit normativen Urteilen vorsichtig zu sein, da sich intergeschlechtliche Menschen in vielen Fällen entgegen pathologisierender und stigmatisierender Zuschreibungen selbst nicht als heilungs- oder therapiebedürftig empfinden.53 Stephanie Budwey betont überdies, dass auch Gottesbilder so vielfältig seien wie die Menschen selbst.54 Insofern sei es wichtig, »not only to embrace multiple images or meanings of bodies, it is also important to have multiple images of God«55 . Ergänzend dazu modifiziert Patricia Beattie Jung, welche ähnlich wie Cornwall argumentiert,56 die Rede von der leiblichen Auferstehung darauf hin, dass man wohl besser von einer Auferstehung des Lebens sprechen sollte. Auf diese Weise könne nämlich die Ethik die Konsequenz aus der Eschatologie ziehen, dass der ganze Mensch mit Körper, Geist und Seele in die Schöpfung eingebettet ist.57 Für die Vorstellung davon, was uns im Eschaton erwarten wird, bliebe die Frage danach relevant, wie wir auf Erden mit geschlechtlichen Identitäten umgehen. Christ*innen seien damit berufen, in der Antizipation der neuen Schöpfung die durch Christus etabliert wurde, zu leben.58 Galater 3,28 muss nach Jung daher unter dem Gesichtspunkt gelesen werden, dass wir im kommenden Leben in »people of the apposite«59 , also in eine trefflichere Version unserer selbst
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Vgl. Cornwall, The Kenosis of Unambiguous Sex in the Body of Christ, 182. Vgl. Cornwall, The Kenosis of Unambiguous Sex in the Body of Christ, 183. Othering beschreibt normative Klassifikationen von Personen, die von einem selbst verschieden sind, als andersartig, fremd, krankhaft usw. beschrieben werden und gleichzeitig mehr oder weniger bewusst zu einer Imagesteigerung der klassifizierenden Person führen. Vgl. Cornwall, The Kenosis of Unambiguous Sex in the Body of Christ, 196. Vgl. Cornwall, Asking about What Is Better, 387. Vgl. Budwey, »God Is the Creator of All Life and the Energy of this World«, 88. Budwey, »God Is the Creator of All Life and the Energy of this World«, 88. Vgl. Jung, Intersex on Earth as It Is in Heaven, 178. Jung kritisiert ebenfalls die Denkweise, welche das Phänomen der Intergeschlechtlichkeit in einen Sündenzusammenhang stellt, religiöse Bekehrung und medizinische Therapie fordert, um intergeschlechtliche Menschen Heil und Rettung zu ermöglichen. So würden nur eine naturrechtlich basierte, soziale Stigmatisierung geheiligt werden, anstatt sie zu beseitigen. Vgl. Jung, Intersex on Earth as It Is in Heaven, 179. Vgl. Jung – Roughgarden, Gender in Heaven, 238. Jung, Intersex on Earth as It Is in Heaven, 186.
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verwandelt und nicht in das völlige (geschlechtslose) Gegenteil60 verkehrt würden, wie wir uns diesseits vorgefunden haben. Daran lässt sich auch der Ansatz von Conrad Krannich anschließen. Er benennt die binäre Geschlechterkonfiguration als »leistungsfähige […] aber unzulässige Vereinfachung«61 und hinterfragt sie in Anlehnung an den Biologen und Medizinethiker HeinzJürgen Voß. Krannich benennt die geschlechtliche Vieldeutigkeit vor dem theoretischen Hintergrund der Werke Judith Butlers als theologische Herausforderung. In der Auseinandersetzung mit den Schöpfungserzählungen im Buch Genesis führt Krannich Gestaltungsbereiche an, die dem Menschen als Schöpfung aufgegeben sind, zu denen er auch die je eigene Geschlechtlichkeit zählt. Geschlechterkategorien sind dementsprechend »Ordnungsentwürfe«, die einen »Intelligibilisierungsversuch«62 darstellen. Zweck der Ordnung könne jedoch nicht ihre Selbsterhaltung sein, sondern die Eröffnung von Freiheitsräumen.63 Auch hier begegnet also eine ambiguitätstolerante Haltung, welche bereit ist, den Variantenreichtum von Körperentwicklungen gleichberechtigt gelten zu lassen. Zur Aufgabe der Ethik gehöre es demnach, sich die »Frage nach der Lebensdienlichkeit geschlechtsfixierter sozialer Ordnungen und der Orientierung an Geschlecht als Ordnungskategorie überhaupt«64 zu stellen, existenzielle Erfahrungen darin einzubetten und Verschleierungsmechanismen aufzudecken. Eine solche Einbettung deuten die katholisch-theologischen Ethiker Michael Lawler und Todd Salzmann an, welche in ihrem Beitrag zu Intergeschlechtlichkeit eine schon in früheren Werken entwickelte holistisch-relationale Anthropologie vorschlagen. Dies deshalb, weil die naturrechtlichen Argumentationsmuster lehramtlicher Anthropologie die biologischen Zweigeschlechtlichkeit derart normativ festsetzten, dass intergeschlechtliche Personen in dieser Matrix nur noch als korrektur- und heilungsbedürftig erscheinen. Demgegenüber versucht ihr Ansatz, den Wert der Biologie wieder in eine angemessene Relation zu interpersonellen und mysterienhaften Bestimmungen einer Person zu setzen.65 Da die Relation von Jesus zu Gott zunächst nicht über die Sexualität oder das Geschlecht bestimmt sei, würde auch die Gottesbeziehung der Menschen zu Gott nicht zuvorderst von ihrer Geschlechtlichkeit abhängen.66 Sehr wohl sei jedoch daran festzuhalten, dass diese Relationen sich materialisieren: »We relate to God, self, neighbor, and the material world as embodied persons.«67 Was Salzman/Lawler genau unter embodiment verstehen, führen aber auch sie nicht weiter aus. Die grundlegend holistische
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Obwohl sie es nicht deutlich artikuliert, ist davon auszugehen, dass sie hier eine überhöhtes Ideal von Heiligkeit anspricht, das alle menschlichen Erfahrungen im Diesseits überwindet und sich in hartem Kontrast dazu befindet. Im Unterschied dazu versteht sie unter dieser trefflicheren Version die Rekonziliationsfähigkeit einer*s jeden Einzelnen in der Gemeinschaft mit Christus. Krannich, Geschlecht als Gabe und Aufgabe, 9. Alle Zitate des Satzes aus: Krannich, Geschlecht als Gabe und Aufgabe, 49. Vgl. Krannich, Geschlecht als Gabe und Aufgabe, 50. Gudorf hält die Entfaltung einer freiheitstheologischen Perspektive ebenfalls für notwendig. Vgl. Gudorf, The Erosion of Sexual Dimorphism, 885–887. Krannich, Geschlecht als Gabe und Aufgabe, 67. Vgl. Lawler – Salzman, Sex, Gender, and Intersex, 208. Vgl. Lawler – Salzman, Sex, Gender, and Intersex, 209. Lawler – Salzman, Sex, Gender, and Intersex, 209.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Ausrichtung ihres Ansatzes lässt aber ebenfalls vermuten, dass die ambigen Grundlagen von Verkörperungen als ethisches Bewährungsfeld wahrgenommen werden. Das Ambiguitätsdenken der hier angeführten Theolog*innen kennzeichnet insbesondere, dass der Differenz männlich/weiblich weder ontologisch noch kosmisch der Stellenwert eingeräumt wird, den man ihr bisher zugestanden hatte.68 Die bereichernden Glaubenswege intergeschlechtlicher Menschen bringen sie dazu, ihre theologisch-ethischen Überzeugungen dahingehend auszurichten, eine Vielfalt geschlechtlicher Realitäten theologisch anzuerkennen und für eine Bewusstseinsbildung im theologischen Kontext zu plädieren.69 Die Vielfalt der Meinungen, Identitätsentwürfe, Körperlichkeiten wie auch die Vielfalt gläubiger Existenzen erhält dadurch theologische Relevanz.
3.1.4. Zusammenfassung: die Notwendigkeit von Diesseitskritik und Jenseitshoffnung Dieses Kapitel sollte einen Einblick in die derzeitige theologische Literatur rund um Intergeschlechtlichkeit bieten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Beschäftigung mit der Frage nach der Geschlechtlichkeit Gottes die jeweiligen anthropologischen, schöpfungstheologischen und eschatologischen Vorstellungen von menschlicher Geschlechtlichkeit und ihrer theologischen Bewertung beeinflusst. Da sich die untersuchten Arbeiten durchwegs um eine positive Integration intergeschlechtlicher Existenzen in die Theologie bemühen, wurde dabei kein Augenmerk auf die verbreitete Denkweise gelegt, die in Jesus Christus als Mann die vollkommene Repräsentation Gottes sieht. Diese hätte bei einer Hierarchisierung der Geschlechter zudem implizit eine Abwertung intergeschlechtlicher Körper und Menschen zur Folge. Nicht überraschend wird die Bedeutung der männlichen Geschlechtsidentität von Gott und Jesus daher in vielen theologischen Integrationsversuchen hinterfragt. Anhand der drei Denkmodelle Einheitsdenken, Differenzdenken und Ambiguitätsdenken wurde aufgezeigt, welche Folgen die jeweilige Geschlechterkonzeption Gottes für die theologische Auseinandersetzung mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit hat. Ein Einheitsdenken tendiert dazu, eine Allgeschlechtlichkeit Gottes zu postulieren. Wenn aber angenommen wird, dass Gott alle geschlechtlichen Identitäten gleichermaßen verkörpert, sind die Erfahrungen, die mit realen geschlechtlichen Differenzen verbunden sind, nur noch ein Übergangsstadium bis zur Einheit mit Gott, wo alle Differenzen aufgehoben sind. Reale Differenzen werden im Einheitsdenken in ihrer Bedeutsamkeit für das Leben hier und jetzt nivelliert. Dies ist besonders dort problematisch, wo Gewalterfahrungen mit der Geschlechtsidentität zusammenhängen. Intergeschlechtlichen Menschen dürfte es ein schwacher Trost sein, in ihrer Identität im Jenseits anerkannt zu sein, wenn sie im Diesseits aufgrund ihrer Geschlechtsidentität
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Vgl. Cornwall, Introduction, 7. Beispielhaft sei hier folgendes Zitat angeführt: »For most other participants, however, feelings of being acknowledged as acceptable and non-pathological persons were central to their faith journeys. Indeed, scholars of intersex suggest that talk about intersex significantly increases intersex people’s self-esteem and psychological well-being.«, Cornwall, Telling Stories about Intersex and Christianity, 29.
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weitaus mehr Gewalterfahrungen erleben als etwa Frauen und Männer. Soteriologisch begünstigt dieses Denken eine Hierarchisierung der Geschlechter. Das Differenzdenken grenzt sich davon insofern ab, als Gott jenseits aller anthropologischen Bestimmungen und damit auch jenseits von Geschlechtlichkeit gedacht wird. Auch Menschen sollen in der Einheit mit Gott zu dieser geschlechtsfreien Identität kommen. Bei diesem Denkmodell bleibt allerdings das Ideal der Gemeinschaft mit Gott in Form einer bräutlichen Bedeutung (Lofgren), personal holiness (DeFranza) oder einer hypostasis-personhood (Cornwall) so abstrakt, dass die diesseitigen Erfahrungen mit der eigenen Geschlechtsidentität nichtig werden. Außerdem wird durch die grundsätzliche Unerreichbarkeit dieser Ideale ethische Passivität begünstigt, da ein Bemühen um die jeweiligen Ideale nur aussichtsreich scheint, wenn ein positives Selbstverhältnis zur göttlichen Gnade besteht. Auch hier zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen intergeschlechtlichen und weiblichen oder männlichen Existenzformen: Während es für Frauen oder Männer noch annehmbar scheinen mag, die Erfahrungen ihrer spezifischen Geschlechtsidentität zugunsten einer geschlechtsfreien Identität aufzuheben, würden sich nicht wenige intergeschlechtliche Menschen vielfach mit der Frage konfrontiert sehen, warum so viele ihrer Erfahrungen im Diesseits negativ geprägt sein mussten und Gott ihnen dies zugemutet hat. Im letzten Unterkapitel hat das Ambiguitätsdenken eröffnet, dass Gott und die Gemeinschaft mit ihm sowohl jenseits als auch diesseits geschlechtlicher Kategorien gedacht werden muss. Das offene Spannungsverhältnis zwischen dem präsentischen Schon und dem eschatologischen Noch-Nicht hält die Suche nach gnadenhaften Ausdrucksformen von Geschlechtlichkeit im Hier und Jetzt aufrecht, schließt aber die Denkmöglichkeit einer versöhnten geschlechtlichen Existenz im Jenseits ebenfalls nicht aus. Die diesseitigen Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen erhalten so eschatologische Relevanz ohne Intergeschlechtlichkeit selbst als Ausdruck eines geringeren Gnadenstandes zu interpretieren. Das Denken der Andersheit des Jenseits hält damit die Hoffnung für alternative Existenzformen wach, die von Fülle und nicht von Leid geprägt sind. Gleichzeitig ist es diese Hoffnungsperspektive, anhand welcher die diesseitigen Bedingungen einer Kritik unterzogen werden, wenn sie den ersehnten Jenseitsvorstellungen widersprechen; denn im Ambiguitätsdenken ist das Leben hier und jetzt dem Anspruch nach bereits ein Vorgeschmack auf das Leben danach. Es scheint daher schlüssig, an eine Theologie anzuknüpfen, welche die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theologisch nicht an ein geschlechtliches Konstrukt von Gott bindet, sondern formale Zugänge zum Gottesgedanken sucht, um an ihnen den Gehalt real vermittelter Anerkennungsprozesse zu bewähren. Warum das Freiheitsdenken Thomas Pröppers hierfür ein geeignetes Denkmodell ist, soll in den folgenden Erläuterungen aufgezeigt werden.
3.2. Grundlagen der theologischen Anthropologie Thomas Pröppers Eine Frage beschäftigt Thomas Pröpper Zeit seines Lebens: Wie wendet sich Gott den Menschen zu und inwiefern sind sie für seinen Anspruch überhaupt empfänglich? Seine Forschung führt allerdings nicht die Tradition des ontologischen Gottesbeweises –
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weitaus mehr Gewalterfahrungen erleben als etwa Frauen und Männer. Soteriologisch begünstigt dieses Denken eine Hierarchisierung der Geschlechter. Das Differenzdenken grenzt sich davon insofern ab, als Gott jenseits aller anthropologischen Bestimmungen und damit auch jenseits von Geschlechtlichkeit gedacht wird. Auch Menschen sollen in der Einheit mit Gott zu dieser geschlechtsfreien Identität kommen. Bei diesem Denkmodell bleibt allerdings das Ideal der Gemeinschaft mit Gott in Form einer bräutlichen Bedeutung (Lofgren), personal holiness (DeFranza) oder einer hypostasis-personhood (Cornwall) so abstrakt, dass die diesseitigen Erfahrungen mit der eigenen Geschlechtsidentität nichtig werden. Außerdem wird durch die grundsätzliche Unerreichbarkeit dieser Ideale ethische Passivität begünstigt, da ein Bemühen um die jeweiligen Ideale nur aussichtsreich scheint, wenn ein positives Selbstverhältnis zur göttlichen Gnade besteht. Auch hier zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen intergeschlechtlichen und weiblichen oder männlichen Existenzformen: Während es für Frauen oder Männer noch annehmbar scheinen mag, die Erfahrungen ihrer spezifischen Geschlechtsidentität zugunsten einer geschlechtsfreien Identität aufzuheben, würden sich nicht wenige intergeschlechtliche Menschen vielfach mit der Frage konfrontiert sehen, warum so viele ihrer Erfahrungen im Diesseits negativ geprägt sein mussten und Gott ihnen dies zugemutet hat. Im letzten Unterkapitel hat das Ambiguitätsdenken eröffnet, dass Gott und die Gemeinschaft mit ihm sowohl jenseits als auch diesseits geschlechtlicher Kategorien gedacht werden muss. Das offene Spannungsverhältnis zwischen dem präsentischen Schon und dem eschatologischen Noch-Nicht hält die Suche nach gnadenhaften Ausdrucksformen von Geschlechtlichkeit im Hier und Jetzt aufrecht, schließt aber die Denkmöglichkeit einer versöhnten geschlechtlichen Existenz im Jenseits ebenfalls nicht aus. Die diesseitigen Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen erhalten so eschatologische Relevanz ohne Intergeschlechtlichkeit selbst als Ausdruck eines geringeren Gnadenstandes zu interpretieren. Das Denken der Andersheit des Jenseits hält damit die Hoffnung für alternative Existenzformen wach, die von Fülle und nicht von Leid geprägt sind. Gleichzeitig ist es diese Hoffnungsperspektive, anhand welcher die diesseitigen Bedingungen einer Kritik unterzogen werden, wenn sie den ersehnten Jenseitsvorstellungen widersprechen; denn im Ambiguitätsdenken ist das Leben hier und jetzt dem Anspruch nach bereits ein Vorgeschmack auf das Leben danach. Es scheint daher schlüssig, an eine Theologie anzuknüpfen, welche die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theologisch nicht an ein geschlechtliches Konstrukt von Gott bindet, sondern formale Zugänge zum Gottesgedanken sucht, um an ihnen den Gehalt real vermittelter Anerkennungsprozesse zu bewähren. Warum das Freiheitsdenken Thomas Pröppers hierfür ein geeignetes Denkmodell ist, soll in den folgenden Erläuterungen aufgezeigt werden.
3.2. Grundlagen der theologischen Anthropologie Thomas Pröppers Eine Frage beschäftigt Thomas Pröpper Zeit seines Lebens: Wie wendet sich Gott den Menschen zu und inwiefern sind sie für seinen Anspruch überhaupt empfänglich? Seine Forschung führt allerdings nicht die Tradition des ontologischen Gottesbeweises –
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angefangen bei Anselm von Canterbury – fort, sondern greift die Kritik Immanuel Kants daran auf, dass der ontologische Gottesbeweis lediglich die »Dialektik der Vernunft und ihres äußersten Gedankens«70 darstelle, ohne die beiden Komponenten der Dialektik aber näher zu bestimmen. Es liegt Pröpper sehr daran, eben an dieser Dialektik festzuhalten, um die Vernunft des Menschen nicht etwa wie bei René Descartes immer schon göttlichen Ursprungs zu wissen; denn so ließe sich die Idee Gottes auch nur aus seiner postulierten Wirklichkeit erklären, die doch im ontologischen Gottesbeweis erst aufgezeigt werden sollte. Um also nicht länger auf ontologische und damit für ihn philosophisch nicht zu rechtfertigende Gottesbeweise angewiesen zu bleiben, wendet sich Pröpper den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Gotteserkenntnis zu. Diese anthropologische Wende, die er auch Karl Rahner verdankt71 , führt ihn schließlich zu einer freiheitstheologischen Methodik: Als eine seiner zentralen Überzeugungen gilt nach Magnus Lerch und Karl-Heinz Menke, »dass gerade eine theologische Adaption des subjekttheoretischen Freiheits- bzw. Autonomieprinzips theologische Chancen und Lösungspotentiale bereitstellt, die früheren Epochen und Denkformen noch verschlossen waren«72 . Seit seiner Publikation Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte73 von 1985 kreisen die Gedanken Thomas Pröppers daher um das Prinzip der Freiheit. In seiner Dissertation von 1986 (veröffentlicht 198874 ), die denselben Titel trägt, begründet er seine Hauptthesen noch ausführlicher. Zum Thema Freiheit folgen weitere kleinere Beiträge in Lexika und Zeitschriften75 , die Monographie Evangelium und freie Vernunft 76 von 2001 und schließlich sein doppelbändiges Lebenswerk, Theologische Anthropologie77 , die nach einer siebenjährigen Unterbrechung (2001–2008) aufgrund Pröppers schwerer Erkrankung von seinen befreundeten Theologen Michael Bongardt, Georg Essen, Michael Greiner und Magnus Striet 2011 fertiggestellt wird. Die Erläuterungen der nächsten Unterkapitel sollen dem besseren Verständnis der von Pröpper angezielten freiheitstheologischen Hermeneutik dienen, die er in seiner Theologischen Anthropologie systematisch entfaltet. Daher wird zunächst ein Blick auf die 70 71
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Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie, 2 Bde. (1), Freiburg i.Br. – Wien u.a. 2015, 349. Die Bezüge zur anthropologischen Wende stellt er vor allem zu diesem Werk her: Rahner, Karl, Hörer des Wortes. Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie, hg. v. Albert Raffelt – Karl Lehmann (Sämtliche Werke Bd. IV), Solothurn – Freiburg i.Br. 1997. Lerch, Magnus – Menke, Karl-Heinz, Rezension. Pröpper, Thomas: Theologische Anthropologie (Bd. 1 u. 2), in: Theologische Revue 108/1 (2011) 42–58, hier: 42. Pröpper, Thomas, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1985. Pröpper, Thomas, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie. Zgl. Univ. Diss., München 2 1988. Vgl. Auswahl: Pröpper, Thomas, Freiheit, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, München 2005, 398–422; Pröpper, Thomas, Freiheit Gottes, in: Michael Buchberger – Walter Kasper (Hgg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Bd. 4, Freiburg i.Br. 3 2006, 108–113. Vgl. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Pröpper, Theologische Anthropologie In dieser Arbeit wird die später erschienene Studienausgabe von 2015 verwendet: Pröpper, Theologische Anthropologie; Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie, 2 Bde. (2), Freiburg i.Br. – Wien u.a. 2015.
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wissenschaftstheoretischen Ausgangspunkte (1) bei der Existenzialphilosophie von Albert Camus78 , (2) der modernen Transzendentalphilosophie von Hermann Krings79 und (3) der Bewusstseinstheorie von Dieter Henrich80 geworfen. Die Einflüsse werden unter dem Aspekt betrachtet, inwieweit sie für Pröppers Theologie der Freiheit ausschlaggebend sind. Eine nähere Auseinandersetzung kann damit in Anbetracht der Zielsetzung dieser Arbeit nicht erfolgen. Für einschlägigere Informationen zu den jeweiligen Voraussetzungen wird daher bei jedem Kapitel auf die Originalliteratur verwiesen.
3.2.1. Existenzialphilosophischer Einfluss: Albert Camus Thomas Pröpper teilt eine große Faszination für die Existenzialphilosophie, insbesondere in der Prägung von Albert Camus, denn die »Frage absoluter Begründung«81 – ob menschliches Leben sich einem Sinn verdankt, oder der Absurdität ausgeliefert ist – lässt sich nicht einfach abweisen, drängt sich durch zahlreiche Kontingenzerfahrungen sogar kontinuierlich auf. Daher stellt die Aporie existenzialistischer Weltdeutung für ihn eine sehr berechtigte und zugleich die schärfste Kritik am christlichen Glaubensverständnis dar, denn um den Glauben vernunftgemäß argumentieren zu können, muss die Möglichkeit einer alternativen Weltdeutung theoretisch zumindest eingeräumt werden können. Angesichts der auf dieser denkerischen Basis entstehenden Aporien, kommt es allerdings zu einer entschiedenen Absetzung seines Denkens von Camus. Um die Existenz Gottes mit Sicherheit bestreiten zu können, müsste der Bestreiter eine bestimmte Gottesidee und Kenntnis von Gott ja bereits voraussetzen: »Müssen wir Gott, wenn wir ihn denken, zugleich und mit Notwendigkeit auch als Existierenden denken, dann wird es eben dadurch unmöglich, ja widersprüchlich, ihn auch noch als nichtexistierend zu denken. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr, seine Existenz zu bestreiten. Denn auch der Bestreiter müßte und würde Gott dann ja denken.«82
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Vgl. die von Pröpper angegebenen Quellen: Camus, Albert, Tagebuch. März 1951 – Dezember 1959 (übers. v. Guido G. Meister) (rororo 22199), Reinbek bei Hamburg 13 1997; Camus, Albert, Die Pest (übers. v. Uli Aumüller) (rororo 22500), Reinbek bei Hamburg 2015; Camus, Albert, Der Mythos des Sisyphos (übers. v. Vincent von Wroblewsky) (rororo 22765), Reinbek bei Hamburg 21 2016. Vgl. die von Pröpper angegebenen Quellen: Krings, Hermann, Transzendentale Logik, München 1964; Krings, Hermann, Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 86/1 (1979) 1–15; Krings, Hermann, System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze (Praktische Philosophie 12), Freiburg i.Br. 1980. Vgl. die von Pröpper angegebenen Quellen: Henrich, Dieter, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Rüdiger Bubner (Hg.), Hermeneutik und Dialektik. Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte, Hans Georg Gadamer zum 70. Geburtstag (Hermeneutik und Dialektik 1), Tübingen 1970, 257–283; Henrich, Dieter, Fichtes ursprüngliche Einsicht (Wissenschaft und Gegenwart 34), Frankfurt a.M. 1967; Henrich, Dieter, Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie (Universal-Bibliothek 7852), Stuttgart 1982. Pröpper, Theologische Anthropologie, 397. Pröpper, Theologische Anthropologie, 337.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Im Versuch, den Gottesgedanken vom Kontingenzbewusstsein her zu plausibilisieren, verbindet Pröpper die Frage nach dem Sinn im Gegenüber zur Absurdität mit einer ethischen Freiheitsreflexion. Während es laut Pröpper bei Camus um die »immanenten Möglichkeiten der menschlichen Freiheit«83 geht, soll sich die Theologie der transzendentalen Möglichkeiten unbedingter Freiheit eines Menschen vergewissern. Die Option eines transzendentalen Glaubens wird bei Pröpper damit zum relevanten Kernpunkt menschlicher Sinnfindung. Die Blickrichtung wird damit eine andere: Nicht mehr von der Absurdität her wird vollkommene Freiheit begründet, sondern von den Möglichkeitsbedingungen eines frei gedachten Subjekts, sich zu seinen kontingenten Vorgaben verhalten zu können. So sieht Pröpper es als seine Aufgabe, die Denkbarkeit Gottes und deren Sinn aufzuzeigen, ohne aus diesen beiden schon seine Existenz abzuleiten. Zu diesem Zweck bejaht Pröpper die Welt nicht wie Camus im Protest gegen eine Absurdität, die sich weder zum Bekenntnis noch zur Aberkennung einer transzendenten Realität bzw. eines Gottes fähig wähnt, sondern im Postulieren einer formal und material unbedingten Freiheit, die allein den Sinn für Leben, Ethik und Solidarität bieten soll.84 Mit dem Postulat einer vollkommenen Freiheit macht er nachvollziehbar, dass bei einer absoluten Negation der Möglichkeit unbedingter Freiheit, nicht nur der Sinn menschlichen Lebens radikal in Frage gestellt, sondern auch ethisches Denken und Handeln damit ad absurdum geführt wäre. Schließlich mache die Aufstellung von Regeln, Gesetzen und Normen nur dann einen Sinn, wenn davon ausgegangen werde, dass Menschen sich zu diesen Vorgaben verhalten können. Theologisch denkbar wird hier dennoch, dass die Gottesbeziehung und jede weitere Art von Freiheitsgeschehen notwendigerweise misslingen muss, wenn auf menschliche Freiheit nicht vertraut oder gehofft werden kann. Relevant wird die Idee vollkommener Freiheit bzw. der Gottesgedanke also auf einer ethischen Reflexionsebene. Wie sich menschliche Freiheit zu vollkommener Freiheit verhalten, an ihr partizipieren und von ihr angesprochen werden kann, versucht Pröpper anhand der modernen Transzendentalphilosophie von Hermann Krings einsichtig zu machen.
3.2.2. Transzendentalphilosophischer Einfluss: Hermann Krings Pröppers Freiheitsreflexion kommt nicht ohne Ethik aus, vielmehr konstituiert sie sein Denken von Anfang an85 , was vor allem auch seiner intensiven Rezeption transzendentalphilosophischer Theorien geschuldet ist. Mit der Transzendentalphilosophie im Anschluss an Hermann Krings zielt er aber nicht auf einen Gottesbeweis, sondern auf den Möglichkeits- und Relevanzaufweis der Selbstoffenbarung Gottes. Damit der Bedeutungsgehalt des Wortes Gott für den christlichen Glauben nicht leer ist, »muß 83 84 85
Pröpper, Theologische Anthropologie, 43. Vgl. Wirth, Mathias, Absurdität, Solidarität und Sinn. Albert Camus und die Freiheitsanalyse von Thomas Pröpper, in: Theologie und Philosophie 89 (2014) 534–550, hier: 539. Dies führt jedoch in weiterer Folge zu einer Vereinnahmung des (christlichen) Glaubens, die transzendentale Sinnhoffnung einer Ethik zu verbürgen (vgl. Kap. 3.4.2). Immanente Begründungsmodelle wie etwa funktionalistische Ethiktheorien werden dem transzendentalen Anspruch seiner Theologie der Freiheit allerdings nicht gerecht und sind in weiterer Folge auch nicht an seine Freiheitstheorie anschlussfähig.
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zugleich mit der theoretischen Möglichkeit der Glaubenswahrheit auch ihre unbedingte Bedeutsamkeit für den Menschen einsichtig werden«86 . Die Suchrichtung geht dabei allerdings nicht vom Unverfügbaren aus, sondern widmet sich anthropologisch gewendet zunächst der Frage, inwieweit überhaupt eine Ansprechbarkeit des Menschen für Gott gegeben ist. Dabei markiert Pröpper nun aber eine zweifache Abgrenzung von Karl Rahner87 : Erstens soll die Empfänglichkeit des Menschen für Gott ausschließlich philosophisch bzw. immanent aufgezeigt werden können und sich nicht allein von der Offenbarung her begründen müssen; denn ob Gott existiert und ob er ein Gott der Liebe ist, lasse sich ohnehin nur postfaktisch aufweisen.88 Zweitens wird die Geschichtlichkeit der Zuwendung Gottes an den Menschen aufgewertet, damit die mögliche Gottverbundenheit nicht allein an die Vernunft, sondern an die historische Tatsache zurückgebunden wird, dass sich Gott in der Geschichte den Menschen frei zugewandt hat.89 Wenn dem aber so ist, dann muss auch der Mensch über die Zustimmung zur Gottesbeziehung in Freiheit verfügen können. Ob eine Gottesbeziehung besteht, ist dann keine Frage des Zufalls oder Schicksals, sondern der Autonomie. Insofern bleibt der Mensch »auf ihr unbedingtes Wesen [der Freiheit] als Kriterium seiner Einsichten und Maßstab seiner Selbstbestimmung verpflichtet«90 . Aus diesen beiden genannten Akzenten lässt sich folgern: »Der Mensch existiert wesentlich, aber auch ›nur‹ als Frage nach Gott; er verfügt nicht immer schon über ein Wissen um die Existenz Gottes, wohl aber ist seine Freiheit der Ort, an dem die Sehnsucht nach Gott sich entzünden kann.«91 Offen bleibt damit dennoch, »ob und wie weit das Faktum selbstverpflichteter Freiheit überhaupt (noch) vorausgesetzt werden kann«92 . Auf Antwortsuche in den transzendentalphilosophischen Entwürfen von Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Willhelm Joseph Schelling gelangt Pröpper schließlich zu Hermann Krings93 , mit welchem er die Möglichkeitsbedingungen autonomer Freiheit zu ergründen versucht. Von ihm übernimmt er den transzendentalen Freiheitsbegriff, weil er erstens mit dessen Elementarlehre »die grundlegenden Bestimmungen für alle 86 87
88 89 90 91 92 93
Pröpper, Theologische Anthropologie, 585. Obwohl Pröpper in vielen Punkten mit Karl Rahner übereinstimmt, wie etwa in Formulierung der Denkmöglichkeit des Offenbarungsgedankens von der Ansprechbarkeit des Menschen her, grenzt er sich doch entschieden von Rahners metaphysischer Anthropologie ab, die nicht in der Lage ist, die kategorialen Inhalte mit Blick auf die transzendentale Bestimmung der Freiheit angemessen zu entfalten. Dementsprechend misslingt auch eine angemessene Verhältnisbestimmung menschlicher und göttlicher Freiheit als wirkliches Freiheitsgeschehen und damit eine systematisch überzeugende Konzeption von Subjektivität. So folgt daraus, dass bei Rahner Gott zur formalursächlichen Bestimmung der Freiheit des Menschen wird, die das Konstrukt eines von Gott gewirkten übernatürlichen Existentials benötigt, um die Ansprechbarkeit des Menschen für Gott aufzeigen zu können. Vgl. Schmidt, Gottes Offenbarung und menschliches Handeln, 267–270. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 587. Vgl. Langenfeld, Aaron – Lerch, Magnus, Theologische Anthropologie (Grundwissen Theologie 4754), Leiden u.a. 2018, 87. Pröpper, Theologische Anthropologie, 587. Langenfeld – Lerch, Theologische Anthropologie, 87. Pröpper, Theologische Anthropologie, 587. Vgl. Wirth, Absurdität, Solidarität und Sinn, 545.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
ichhaften Handlungen […] zu entwickeln beansprucht«94 und dabei sowohl den gemeinsamen Ausgangspunkt wie auch die Unterscheidung von Theorie und Praxis erklären will. Außerdem sieht er in seinen Entwürfen zweitens geleistet, dass das Ich nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf praktischer Ebene als frei bestimmt werden kann. Wie lernt also das Ich, sich zu sich und schließlich sich zu anderen zu verhalten? Krings beschreibt dies in einer strukturellen Analyse, in welcher er zunächst die Möglichkeitsbedingungen der Selbst-Erkenntnis erläutert. Dementsprechend bestimmt er das Selbst-Verhältnis des transzendentalen Ichs als immanent transzendentale Relation zwischen einem Fundamentum und einem Terminus. Während Krings unter Fundamentum bzw. Sein die »ursprüngliche Selbsteinheit«95 und damit den Ausgangspunkt des transzendentalen Ichs versteht, charakterisiert er den Terminus bzw. Seiendes als real freien und unbedingten Gehalt, welcher das Sein erst mit Wirklichkeit erfüllt.96 Das Verhältnis der beiden kennt nun zwei Bewegungen: (1) In der Bewegung vom Fundamentum zum Terminus transzendiert das erkennende Sein seine Materialität. Hiermit beschreibt Krings zunächst noch eine gegenstandslose Vorstellung. (2) Erst die Bewegung vom Terminus zum Fundamentum schließlich, führt das Sein materialiter wieder auf seinen Gegenstand, also sich selbst, im Erkennen, Handeln und Schaffen zurück.97 Diesen zweiten Vorgang bezeichnet Krings als »immanente reflexe Transzendenz«98 . Man wird in dieser Subjekttheorie vergeblich nach einer beispielhaften Konkretisierung geschweige denn einer phänomenologischen Bewährung der transzendentalen Vorgangsbeschreibung suchen. Bei Krings erhält das solipsistisch gekennzeichnete Ich keine von sich selbst unabhängige Vergewisserung, da die reflexe Transzendenz nur auf das zurückzuführen scheint, wovon es bereits ausgegangen ist.99 Geradeso verfängt sich diese Argumentation in einem reflexionstheoretischen Zirkel, gegen den Pröpper folgenden Einwand vorbringt: »Eine Schwierigkeit liegt nun freilich darin, daß Krings diese abstrahierend nur gedachte, als immanent-reflexe Transzendenz bestimmte ursprüngliche Selbsteinheit von der durch sie ermöglichten, wirklich hinaus- und je in sich zurückgehenden reflexen Transzendenz zwar deutlich absetzt und damit die Möglichkeit grundlegt, die weiteren Differenzierungen von Ich, Vorstellung, Gegenstand und Seiendem transzendental zu erklären – daß für die transzendentale Freiheit jedoch eine entsprechende und vergleichbar ausdrückliche Unterscheidung fehlt. Wer denn – so muß man fragen – realisiert sich eigentlich in der Realisierung der transzendentalen Freiheit, wenn nicht das transzendentale Ich? Sollten beide Begriffe womöglich dasselbe besagen oder doch auf dasselbe sich richten?«100
94 95 96 97 98 99 100
Pröpper, Theologische Anthropologie, 531. Krings, Transzendentale Logik, 63. Vgl. Krings, Transzendentale Logik, 70–72. Vgl. Krings, Transzendentale Logik, 61. Krings, Transzendentale Logik, 64. Vgl. Krings, Transzendentale Logik, 67–68. Pröpper, Theologische Anthropologie, 531–532.
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Daran anschließend möchte Pröpper das Verhältnis des transzendentalen Ichs, der transzendentalen Freiheit und des transzendentalen Erkennens (bzw. Wissens) klären. Während ihm eine »Gleichsetzung von transzendentalem Ich und transzendentaler Freiheit«101 plausibel scheint, solle man jedenfalls von einer Unterscheidung zwischen transzendentaler Freiheit und transzendentalem Erkennen ausgehen, wenngleich beide realiter kaum zu trennen seien: »So klar sich die transzendentale Freiheit vom theoretischen und praktischen Handeln (transzendentaliter) unterscheidet, so gründlich sind diese beiden als ihre Realisierung doch in ihre verwurzelt und so auch beide – kaum schon von ihrer Genese her, aber auch empirisch betrachtet – realiter kaum voneinander zu trennen: Kein freies praktisches Handeln ohne Erkennen, jedes Erkennen eo ipso freies Handeln. Und in ihnen hat auch das Ich sein wirkliches Dasein.«102 Handeln und Erkennen können also nicht gleichursprünglich sein, sondern müssen voneinander unterschieden werden. Notwendigerweise schließt sich daran eine Verhältnisbestimmung von Sein, Erkennen und Handeln an. Wenn sich das Ich durch Handlungen konstituiert, muss erklärt werden können, warum das Ich seine Handlungen auf sich reflexiv zurückführen kann, warum es also über ein Selbstverhältnis bzw. Selbstbewusstsein verfügt, wie dieses entsteht und funktioniert. Damit öffnet sich Pröppers Fragehorizont auf die Bewusstseinsphilosophie von Dieter Henrich hin.
3.2.3. Bewusstseinsphilosophischer Einfluss: Dieter Henrich Das von Dieter Henrich in Anschlag gebrachte Theorem der präreflexiven Selbstvertrautheit erscheint Pröpper geeignet, um den reflexionstheoretischen Zirkel der Krings’schen Freiheitstheorie zu durchbrechen. Wenn das Selbstbewusstsein als Resultat eines Reflexionsaktes gelten soll, muss zur Reflexion wie zur Selbstvergewisserung Selbstbewusstsein vorausgesetzt werden. Dies führt letztlich in die Aporie, dass das, was eigentlich das Ergebnis der Untersuchung sein soll, Voraussetzung für den Erkenntnisprozess selbst ist.103 Das erkennende Ich muss also vom Subjekt abgesetzt werden. Die Frage nach dem Selbstbewusstsein will Pröpper daher mit Henrich umformulieren, um den formalen Freiheitsgedanken in die ethische Struktur des Sich-Verhaltens einführen zu können. Pröpper stimmt mit dem Philosophen dahingehend überein, dass das Selbstbewusstsein sich seiner zwar durch Reflexion vergewissern, aber dennoch nur seiner Verfassung nach beschrieben werden kann. Die Reflexion vermag daher nicht das Selbstbewusstsein zu erklären oder gar zu erzeugen. Vielmehr geht es Henrich darum, die konstitutiven Elemente des Selbstbewusstseins und deren Wechselwirkungen zu benennen.
101 Pröpper, Theologische Anthropologie, 533. 102 Pröpper, Theologische Anthropologie, 534. 103 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 537. Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 12–13.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
»Denn entweder ist das Ich, das sich als Subjekt zu sich verhält, bereits seiner selber bewußt. Dann ist die Theorie als Erklärung des Bewußtseins zirkelhaft, da sie Bewußtsein, sogar Selbstbewußtsein bereits voraussetzt. Oder das Ichsubjekt ist seiner nicht bewußt und hat keinerlei Vertrautheit mit sich. Dann läßt sich mit Mitteln der Reflexionstheorie niemals verstehen, wie es je in die Lage kommen soll, irgendeinen Sachverhalt sich selber zuzusprechen oder auch nur unter dem Gesichtspunkt der Frage anzusehen, ob er ihm selbst zugehört oder nicht.«104 Um nicht im Zirkel der Selbstreferenz zu bleiben, setzt Henrich ein präreflexives Beisichsein bzw. eine immer schon dagewesene präreflexive Vertrautheit mit sich selbst. Dieses präreflexive Bewusstsein bestimmt er als dem Selbstbewusstsein vorgelagert. Deswegen verfüge es nicht über dessen bedingte Eigenschaften wie etwa Relationalität oder Wissen um sich selbst.105 Vielmehr sei das ichlose Bewusstsein jeder Reflexion vorgeordnet, relationslos und damit auch kein Gegenstand der Reflexion, sondern bestehe in einem umfassenden Bezugssystem der Welt.106 Insofern wird das Bewusstsein also zu einer »Minimalbedingung«107 erklärt, auf die das erkennende Subjekt keinen Zugang hat. Im Zuge dessen verwirft Henrich die egologische Theorie, welche von einer relational-reflexiven Bestimmung des Selbstbewusstseins ausgeht und begründet die faktische Egozentrik, die humanes Bewusstsein auszeichnet, nicht als »das Grundphänomen des Bewusstseins, sondern nur [als] eine Form seiner Organisation«108 . Tatsächlich ist Bewusstsein nach Henrich aber nur Bedingung der Möglichkeit eines Typs von Relation, das anderen Ereignissen wie Wahrnehmung und Gefühlen vorausliegt, ohne aber mit diesen in Beziehung zu stehen. »Die Idee des Selbst ist so sehr mit der Möglichkeit der frei vollzogenen Reflexion verbunden, daß eine Versuchung dahin zielt, auch noch die ursprüngliche Verfügung des Selbst über sich als ein Produkt seiner selbst auszugeben. Das Wissen des selbst von sich ist aber eine Grundsituation, die nur etwa durch seine Funktion als organisierendes Prinzip des ichlosen Bewußtseins verstanden, nicht aber vom schon vorausgesetzten Ich abgeleitet werden kann.«109 Selbst relationslos stellt Bewusstsein also die Möglichkeitsbedingung von Relation dar. Ab diesem Punkt kommt es allerdings zu einer systematischen Unausgewogenheit. Obwohl an der einen Stelle behauptet wird, das Bewusstsein könne nicht ohne Kenntnis von sich auftreten, wird an anderer Stelle vertreten, dass das Bewusstsein »keinesfalls als Selbst-Identifizierung genommen werden darf«110 . Damit ist nach Pröpper jedoch eine zweite Aporie erreicht: Während die egologische Theorie an der Begründung des Selbstbewusstseins scheitert, weil Bewusstsein und
104 105 106 107 108 109 110
Henrich, Selbstbewußtsein, 268. Vgl. Henrich, Selbstbewußtsein, 275. Vgl. Henrich, Selbstbewußtsein, 271–273. Henrich, Selbstbewußtsein, 275. Henrich, Selbstbewußtsein, 276. Henrich, Selbstbewußtsein, 276. Henrich, Selbstbewußtsein, 278.
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Selbstbewusstsein immer schon in einem gedacht sind, ist bei Henrich unergründbar, wie es zu einem Selbstbezug kommen soll, wenn die ursprüngliche Vertrautheit-mitsich-selbst nicht von vornherein an ein Ich gebunden ist.111 Schließlich wehrt er auch ab, Bewusstsein »im Sinne einer Disposition des Kennen-Könnens«112 zu bestimmen. Letztlich, so das Fazit Pröppers, gelingt es Henrich nicht zu zeigen, was die konstitutiven Elemente des Selbstbewusstseins ausmacht und wie die Relationen zwischen ihnen zu beschreiben sind. So verschiebt Henrich das Problem des Zirkels nur auf das Bewusstsein, wenn er Bewusstsein und Kenntnis von Bewusstsein selbst additiv nebeneinanderstellt, oder aber Kenntnis von sich und Bewusstsein doch als Selbstbeziehung denkt.113 Für Pröppers freiheitstheologische Begründung des Menschen ist es allerdings notwendig, von einem Subjekt auszugehen, das sich von einem wie auch immer gearteten Ursprung her noch einmal zu den Vorgegebenheiten verhalten kann. Das betrifft sowohl sein Verhältnis zur Welt, als auch zu seiner Identität, denn nur so verwirklicht sich – wenn auch nur anfanghaft und symbolisch – der Anspruch der vollkommenen Freiheitsidee.
3.2.4. Ertrag für die transzendentalphilosophische Freiheitsanalyse: Thomas Pröpper und seine Theologische Anthropologie Auf Basis von vier Einwänden114 besteht Pröpper im Gegensatz zu Henrich auf der Beibehaltung der egologischen Theorie. Darum integriert er Henrichs präreflexive Vertrautheit in die Strukturanalyse der transzendentalen Freiheit von Krings. »Das als immanent-reflexe Transzendenz formal beschriebene Ich ist keineswegs das Reflexionsprodukt eines zuvor schon konstituierten Ich, sondern das eben in dieser Form sich allererst konstituierende Ich.«115 Die transzendentale Freiheit soll ohne Zirkelschluss (Krings) gedacht werden können, indem die präreflexive Vertrautheit (Henrich) als ein konstitutives Element des transzendentalen Ich (Pröpper) bestimmt wird. Dieses Ich ist allerdings nicht immer schon gegeben, sondern wird durch Anderes verbürgt.116 So bleibt der Umstand
111 112 113
114
115 116
Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 542–543. Henrich, Selbstbewußtsein, 278. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 547–548. Er bezieht sich hier etwa auf Aussagen Henrichs wie: »Eine Selbstbeziehung kommt dem Bewußtsein allenfalls insofern zu, als wir uns über es verständigen: Es ist Bewußtsein und Kenntnis von Bewußtsein in einem und somit, in unserer schwer vermeidbaren, aber mißverständlichen Rede: Kenntnis von sich. Die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion vorliegt, ist kein Grundsachverhalt, sondern ein isolierendes Explizieren, aber nicht unter der Voraussetzung eines wie immer gearteten implizierten Selbstbewußtseins, sondern eines (impliziten) selbstlosen Bewußtseins vom Selbst.«, Henrich, Selbstbewußtsein, 280. Die Einwände betreffen die (1) Zirkularität der Argumentation bei Henrich, die (2) ohne die Annahme eines Ich weder das Verhältnis des Kontingenzbewusstseins zu Vernunft, (3) noch jenes von Bewusstsein zur Freiheit überhaupt widerspruchsfrei bestimmen und (4) die unterschiedlichen Reflexionsmomente des Bewusstseins auf eine ihm vorausliegende Identität zurückführen kann, die sich schließlich als das reflektierende Subjekt begreift. Näheres dazu vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 550–552. Pröpper, Theologische Anthropologie, 555. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 560.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
gewahrt, dass Selbstreflexion und Selbstbewusstsein je nach Gesundheits- und Seinszustand wegfallen können. Worin dieses Andere besteht, wird noch näher in Kap. 3.3 zu beleuchten sein. Jedenfalls ist durch diesen Lösungsansatz gewährleistet, dass sowohl Erkennen wie auch Handeln und Schaffen auf ein immanent wie transzendent relationales Ich (präreflexive Vertrautheit mit sich und immanent reflexe Transzendenz) rückführbar sind. Gleichzeitig bestimmt er die Identitätskonstitution im transzendentalen Akt als kontinuierlichen Prozess und spricht von einem nicht lösbaren Problem »der erforderlichen numerischen Identität des Ich im Wandel der diachronen Ichdenke-Fälle«117 . Dass das Ich nicht in allen Phasen seiner Existenz in gleichem Ausmaß über Selbstbewusstsein oder Kenntnis von sich verfügt, nimmt den transzendentalen Akt und damit Identität als sich ständig aktualisierenden Prozess ernst. Offen bleibt dabei jedoch noch: »Wie also entspringt der implizit-präreflexiven Bewusstseinseinheit des Ich ein explizit-reflexives Selbstverhältnis?«118 In einem an Krings angelehnten dreigliedrigen Kategoriensystem von Graden bzw. Stufen entwickelt Pröpper daher, wie das Ich in ein Selbstverhältnis treten kann: a) Primäres Vernehmen: Zunächst erscheint der transzendentale Akt identisch mit seinem Gehalt, der durch Freiheit charakterisiert ist. Das Selbstbewusstsein ist hier nur implizit vorhanden.119 Diese fundamentalen formallogisch ersten Eindrücke, sind gegensatzlose Wahrheiten ohne die Möglichkeit eines formellen Irrtums. Sie prägen das Ich noch ohne aktive Beziehung zu den gegensatzlosen Wahrheiten.120 b) Vorstellen: Im zweiten Schritt erst geht der transzendentale Akt über einen Gehalt hinaus. Das Übersteigen von Gehalten geschieht nicht einmalig, sondern realisiert sich kontinuierlich und unabschließbar. So konstituiert sich das im transzendentalen Akt Verhandelte als Gegen-Stand, d.h. als etwas vom Akt selbst Unterschiedenes. Diese »transzendentale Primärbeziehung des Ich«121 ist nun die erste aktive Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Es ist die Vorstellung des*der Anderen, über welches das Ich nun habend verfügt.122 Die Gehalte fungieren also als Möglichkeitsbedingung für das sich selbst konstituierende Ich, aber bilden es nicht aus.123 c) Immanent reflexe Transzendierung: Erst die freie Transzendenz geht schließlich über sich selbst hinaus. Indem sie sich zu ihrem Verhältnis zu den Gegenständen und Vorstellungen noch einmal selbst ins Verhältnis setzt, unterscheidet sie sich selbst von der medialen Sphäre, die der freien Transzendenz ihr Selbstsein vermittelt. Erst in diesem Schritt kommt es schließlich zur Differenzierung von Subjekt und Objekt und damit zum Ich, das um sich reflexiv weiß.124
117 118 119 120 121 122 123 124
Pröpper, Theologische Anthropologie, 559. Vgl. Lerch – Menke, Rezension, 48. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 562. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 525. Pröpper, Theologische Anthropologie, 520. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 563. Vgl. Lerch – Menke, Rezension, 48. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 563.
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Beim letzten Schritt handelt es sich allerdings wiederum nur um eine vorläufige Zustandsbestimmung des transzendentalen Ichs, da neue Gehalte das Selbstverhältnis kontinuierlich auf die Probe stellen und es modifizieren. So hält Pröpper fest, dass »der Vollzug des reinen Ich also, wohl eine Grenzidee«125 bleibt, die sich aufgrund der leiblichen Verfasstheit des Ichs weder real ereignet, noch sich mit allerletzter Gewissheit bestimmen lässt.126 Deutlich wird durch seine ichphilosophischen Überlegungen nämlich, dass die Frage nach der Freiheit des Menschen dort auftritt, wo nach dem Ursprung der präreflexiven Vertrautheit mit sich gefragt wird. Wie die geschilderten Bezüge zu Krings und Henrich deutlich machen, ist schließlich auch die Gottesfrage unmittelbar mit der Frage nach dem erkennenden und handelnden Subjekt verknüpft: »Ob Gott existiert, ob seine Existenz wenigstens als möglich gedacht werden kann und ob der Glaube an ihn (und seine mögliche Selbstoffenbarung) für das Menschsein bedeutungsvoll ist, muß sich an der Frage des Menschen nach sich selbst, dem Subjekt des Erkennens und Handelns, entscheiden.«127 Folgerichtig legt sich für seine Theologische Anthropologie methodisch eine freiheitstheoretische Hermeneutik nahe. Diese Hermeneutik dient ihm dazu, den jeweils behandelten Bereich des Glaubens »als sachlich begründete, interdisziplinär vertretbare und menschlich bedeutungsvolle Wahrheit« zu erschließen und eine »überzeugte Aneignung«128 dieser Wahrheit zu ermöglichen. Freiheit als »philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik«129 soll sowohl die Denkmöglichkeit als auch die Relevanz der Existenz Gottes und seiner Offenbarung aufzeigen. Es ist diese Entwicklung, welche ihn schließlich zu seiner in sechs Schritten argumentierten Freiheitstheorie führt, die in der Lage ist, Ich, Freiheit, Selbstbewusstsein, Erkennen und Handeln zu verbinden.130 Freiheit, so Pröpper, ist (1) die »Fähigkeit der Selbstbestimmung«131 , (2) material bedingt, obwohl sie die Möglichkeit von Gehalt selbst eröffnet, (3) soll sich selber bestimmen, (4) bejaht das Sein der anderen Freiheit unbedingt, (5) kann diese Unbedingtheit aber nur bedingt realisieren und kommt (6) in der Idee Gottes als unbedingte Freiheit zu ihrer formalen und materialen Vollendung132 . Trotz der zahlreichen Vorwürfe, die mit dem Postulat der Freiheit zunächst einhergehen könnten, widmet sich Pröpper erst im letzten Schritt seiner Argumentation dem
125 126
Pröpper, Theologische Anthropologie, 579. Zugleich grenzt er sich damit vom frühen Fichte ab, welcher das formal unbedingte Ich als Gegebenes voraussetzt. Dadurch kann er nicht erklären, wie das Ich zum Selbstbewusstsein kommt, sondern muss es notwendigerweise gleichsetzen. Entsprechend unterscheidet Fichte auch nicht zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein wie etwa Henrich. Auch nur mit dieser Unterscheidung wird nachvollziehbar, wie und warum das Ich in sich different ist. Fichte sei sich so sicher gewesen, dass ein formal unbedingtes Ich etwas Gegebenes ist, dass er dessen Nichtmöglichkeit nicht denken könne, obwohl sie phänomenologisch – nämlich durch die Kontingenzerfahrung – immer wieder ins Bewusstsein tritt. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 574–575. 127 Pröpper, Theologische Anthropologie, 322. 128 Pröpper, Theologische Anthropologie, 2. 129 Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 6–22. 130 Vgl. Lerch – Menke, Rezension, 47. 131 Pröpper, Theologische Anthropologie, 639. 132 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 639–656.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Relevanzaufweis dieser Begründung. In systematischer Absicht werden die Begründungszusammenhänge daher in einer anderen Reihenfolge vorgestellt. Argumentativ beginnt Pröpper mit der Setzung, dass Freiheit als die Fähigkeit der Selbstbestimmung zu begreifen sei. Auf diese These folgt die Beschreibung eines kausalen Abhängigkeitsverhältnisses. Wenn Freiheit die Fähigkeit zu Selbstbestimmung ist, impliziert sie zugleich eine Verpflichtung, dieser Bestimmung zu entsprechen. Autonomie existiert dann nur als solche, wenn sie von der jeweiligen Person auch tatsächlich selbst übernommen wird. Da der Prozess der Identität (der transzendentale Akt) jedoch unabschließbar ist, ist notwendigerweise auch die Selbstbestimmung immer wieder den Gehalten unterworfen, an denen sich die Identität zu bewähren hat.133 Vorläufige Erfüllung findet die selbstbestimmte Freiheit daher nur an anderer Freiheit, weil nur diese vice versa zur Möglichkeitsbedingung für Freiheit werden kann. Damit verbinden sich die ethischen Pflichten, das Sein anderer Freiheit unbedingt zu bejahen, sie beständig zur Freiheit zu ermutigen und freiheitseinschränkende Verhältnisse zu bekämpfen. Freiheit bei Pröpper versteht sich also maßgeblich als reziprokes Anerkennungsverhältnis der Freiheit des jeweils anderen um seiner selbst willen. Dies impliziert ferner, dass auch die Handlungsmacht anderer Freiheit nicht eingeschränkt sein darf. Pröppers transzendentallogische Reduktion reflektiert sodann die Möglichkeitsbedingungen von existierender Freiheit: Da die Aktualisierung von Autonomie materialen Bedingungen (Raum, Zeit, Leib, Kultur usw.) unterliegt und man nicht von einer totalen Synchronität zweier transzendentaler Akte ausgehen kann, ist sie nur symbolisch realisierbar. Dies ergibt sich aus der schon geschilderten Unabschließbarkeit des Identifikationsprozesses des Ich mit sich selbst, das eben auch nur mit Identitäten in Kontakt treten kann, die für sich genommen nie absolut bestimmbar sind. Menschliche Freiheit unterliegt eben genau und zuvorderst der Bedingung, über ihren autonom gesetzten Anspruch nicht zur Gänze verfügen zu können. Obwohl sie also das Sein der anderen Freiheit unbedingt will, kann sie deren Realisierung nur vorläufig ins Werk setzen. Kritisch anzumerken bleibt jedoch, dass diese Art des Selbstverhältnisses bei Pröpper maßgeblich über die Vernunft vermittelt gedacht wird. Freies Handeln ohne Bewusstsein davon wird damit ausgeschlossen, was mit der theologischen Engführung seiner epistemologischen Fragestellung zu tun hat – nämlich, wie der Mensch für Gott ansprechbar wird und wie er Gott in Vernunftkategorien – wohlgemerkt nicht in materialen Kategorien – erkennen kann. So mündet das transzendentalphilosophische Fazit von Pröpper in die Option zum Glauben an die Freiheit als Selbstbestimmung: Damit der Wille des Anspruchs nicht schon im Aufkommen erlischt, ist Freiheit auf die hoffnungsvolle Idee gerichtet, dass eine formal und material vollkommenen Freiheit existiert. Diese Idee erschließt sich formallogisch auch als der Grund, der die menschliche Freiheit und in weiterer Folge Anerkennung und Handlungsmacht verbürgt. Ob sich ein Mensch jedoch für diese Option entscheidet, ist wiederum von Bedingungen und schließlich der Entscheidungsfreiheit des jeweiligen Menschen abhängig. Entspricht er allerdings dem Anspruch der Freiheit als Autonomie nicht, negiert er damit auch jegliche Verfügungsgewalt über das eigene Leben und verwehrt sich dessen Sinn als zielgerichtete Existenz. Für Pröpper ist seine auf die Ethik hinweisende Freiheitstheorie 133
Diese Gehalte werden von Pröpper aber nicht näher bestimmt.
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kein Gottesbeweis, da die Option für Freiheit auch ohne die tatsächliche Existenz einer vollkommenen Freiheit gewählt werden kann. Inwiefern diese Option am Ende Recht behält, kann also nur durch die vollkommene Freiheit beantwortet werden, über die die menschliche Freiheit nicht verfügt. Funktionalistische Ethikbegründungen, die in der Immanenz moralischen Handelns selbst eine Zweckgerichtetheit entdecken, hat Pröpper dabei allerdings nicht im Blick, was noch zu diskutieren sein wird (vgl. Kap. 3.4.2).
3.2.5. Zusammenfassung: Freiheit als formale Grundlage von Anerkennung Die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der theologischen Anthropologie Thomas Pröppers hat gezeigt, dass unbedingte Anerkennung der formalen Grundlage der Freiheit bedarf. Als solche ist sie auch Grundvoraussetzung für das ethische Programm der reziproken Anerkennung und bestimmt darüber hinaus das Verhältnis der moralisch Handelnden als frei. Seine Theologie der Freiheit führt zu einer Subjekttheorie, die in der Lage ist, Ich, Freiheit, Selbstbewusstsein, Erkennen und Handeln im Modus der glaubenden Hoffnung, nicht aber der glaubenden Gewissheit zu verbinden. Der existenzialphilosophische Einfluss insbesondere von Albert Camus motiviert Pröpper zu einer Kontingenzbewältigungsstrategie, die sich nicht widerständig zur Absurdität präsentiert, sondern auf eine transzendente Möglichkeitsbedingung von Freiheit richtet. Zusammenfassend besteht der Ertrag der vorangegangenen Überlegungen Pröppers darin, die Denkmöglichkeit einer vollkommenen Freiheit in den Diskurs einzubringen, ohne sie damit gleichzeitig schon beweisen zu wollen. Entscheidend ist dabei, dass Pröpper hiermit auf die Möglichkeit des reflexiven Sich-Verhalten-Könnens134 gegenüber der Kontingenz setzt. Den formalen Grund für dieses Sich-Verhalten-Können verortet er im freien Subjekt, dessen Vermögen er im Anschluss an Hermann Krings durch transzendentalphilosophische Überlegungen und an Dieter Henrichs bewusstseinsphilosophische Überlegungen begründet. Das Ergebnis dieser Zusammenschau ist das Denken der Freiheit als einer immanent-reflexen Transzendenz, deren Bewusstsein von sich ein Ich zum Ausgangspunkt hat. Damit wird eine Klärung notwendig, von wo her das freie Ich seinen Ursprung haben könnte und wie sich unter dieser Annahme ebenfalls erst die Denkmöglichkeit ethischer Verpflichtung denken lässt. Dieser Gedankenschritt ist es letztlich, welcher ihn zu seiner Verhältnisbestimmung von formaler und materialer Freiheit gelangen lässt: (1) Formale Freiheit stellt einen unbedingten Anspruch, andere Freiheit um ihrer selbst willen anzuerkennen. (2) Dieser Anspruch ist aber durch die Kontingenz des Menschen materialen Bedingungen unterworfen. (3) Der Anspruch der Freiheit, andere Freiheit unbedingt anzuerkennen, ist daher immer nur symbolisch bzw. nur in Grenzen realisierbar. (4) In der Idee der vollkommenen Freiheit erfüllt sich für Pröpper der Anspruch unbedingter Freiheit in formaler wie materialer Hinsicht und bildet gleichsam den Hoffnungs- und Motivationsgrund für die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz. Die Bekämpfung von Unrechtsverhältnissen wird damit zu einer genuin theologischen Aufgabe. Selbst wenn der Anspruch unbedingter Anerkennung nie eingeholt werden kann, weiß sich die nach Pröpper kon134
Im Zuge der Arbeit wird jedoch auch die physische Dimension des Sich-Verhalten-Könnens stark gemacht, welche bei Pröpper weitgehend unberücksichtigt bleibt.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
zipierte Theologie der Freiheit stets dazu verpflichtet, Freiheitsverhältnisse zu schaffen und sie wach zu rufen, wo sie drohen, verhindert oder vergessen zu werden. Dieses Wachrufen eines Sich-Verhalten-Könnens nimmt systematisch aber noch keinen zentralen Stellenwert bei Pröpper ein. Ferner bleibt ungeklärt, wie das Subjekt abseits seiner intersubjektiven Relationalität auch zu raumzeitlichen Bedingungen in Beziehung steht und wie sich die gläubige Vernunft gleichsam im Subjekt verkörpert. Indem er das freie Ich (als Selbstverhältnis) überbetont, blendet er das diesen kontingenten Bedingungen unterworfene Subjekt aus. Aus diesem Grund sind einige kritische Diskussionspunkte anzumerken.
3.3. Freiheit und Kontingenz: kritische Diskussion der Theologie der Freiheit Thomas Pröppers Bei allen wegweisenden Orientierungspunkten, die der freiheitstheologische Ansatz von Pröpper mit sich bringt, sind kritische Anmerkungen dennoch nötig. Dabei sind vor dem Hintergrund der Zielsetzung dieser Arbeit vor allem die Frage nach der Realisierung materialer Freiheit und deren Relevanz für theologisch-ethisches Nachdenken von besonderer Bedeutung. Leitend hierfür gilt die These, dass Pröpper aufgrund seiner mangelnden Kontingenzsensibilität – darunter ist die unzureichende Berücksichtigung materialer Freiheitsvollzüge zu verstehen – Subjektivierungsprozesse kompatibilistisch135 verkürzt, welche in weiterer Folge nicht mehr mit dem formalen Freiheitsvermögen vermittelt werden können. Ungeklärt bleibt außerdem, in welchem Verhältnis der formale Freiheitsanspruch zum gleichermaßen formal und material gedachten Freiheitsvermögen steht. Anders ausgedrückt besteht die hier formulierte Kritik an Pröpper darin, dass in seiner Theorie der materiale Freiheitsvollzug das formale Freiheitsvermögen korrumpiert. Im Gegensatz dazu soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, dass das Sich-Verhalten-Können zur Freiheit erst dann systematische Relevanz erlangen kann, wenn es mit der Kontingenz des Daseins als gleichsam Konstitutionsmöglichkeit und Möglichkeitsbedingung vermittelt wird (vgl. ausführlicher in Kap. 3.3.4). Obwohl an Pröppers Ansatz vor allem subjektphilosophische Fragestellungen immer wieder kritisiert werden,136 wird in dieser Arbeit insbesondere die mangelnde Kon135
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Darunter ist eine abgeschwächte Form von Determinismus zu verstehen, welcher im Unterschied zu absoluten Begründungsversuchen eine relative Einschränkung des Freiheitsbegriffes vornimmt. Ausgespart werden dabei jene bewusstseinsphilosophischen Fragestellungen, die sich in Anlehnung an die Pröpper’sche Rezeption von Henrich ergeben, da die transzendentale Frage nach der Einheit und/oder Differenz des freien Ichs mit sich selbst eine breitere Entfaltung subjektphilosophischer Fragen einfordern würde, die im Umfang dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Angedeutet sei dazu etwa die vorliegende subjekt- und bewusstseinsphilosophische Auseinandersetzung von dem theologischen Systematiker Magnus Lerch. Dieser beschäftigt sich mit der Frage nach Einheit und/oder Differenz, nämlich, ob eine Unterscheidung transzendentaler Freiheit vom transzendentalen Ich notwendig ist, um das Verhältnis des in der Retroszendenz angelegten transzendentalen Aktes angemessen zu bestimmen. Vgl. Lerch, Magnus, Selbstmitteilung Gottes: Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie (ratio fidei 56), Regensburg 2015. Ein weiteres zentrales Diskussionsfeld betrifft die Verhältnisbestimmung von Gnade
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3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
zipierte Theologie der Freiheit stets dazu verpflichtet, Freiheitsverhältnisse zu schaffen und sie wach zu rufen, wo sie drohen, verhindert oder vergessen zu werden. Dieses Wachrufen eines Sich-Verhalten-Könnens nimmt systematisch aber noch keinen zentralen Stellenwert bei Pröpper ein. Ferner bleibt ungeklärt, wie das Subjekt abseits seiner intersubjektiven Relationalität auch zu raumzeitlichen Bedingungen in Beziehung steht und wie sich die gläubige Vernunft gleichsam im Subjekt verkörpert. Indem er das freie Ich (als Selbstverhältnis) überbetont, blendet er das diesen kontingenten Bedingungen unterworfene Subjekt aus. Aus diesem Grund sind einige kritische Diskussionspunkte anzumerken.
3.3. Freiheit und Kontingenz: kritische Diskussion der Theologie der Freiheit Thomas Pröppers Bei allen wegweisenden Orientierungspunkten, die der freiheitstheologische Ansatz von Pröpper mit sich bringt, sind kritische Anmerkungen dennoch nötig. Dabei sind vor dem Hintergrund der Zielsetzung dieser Arbeit vor allem die Frage nach der Realisierung materialer Freiheit und deren Relevanz für theologisch-ethisches Nachdenken von besonderer Bedeutung. Leitend hierfür gilt die These, dass Pröpper aufgrund seiner mangelnden Kontingenzsensibilität – darunter ist die unzureichende Berücksichtigung materialer Freiheitsvollzüge zu verstehen – Subjektivierungsprozesse kompatibilistisch135 verkürzt, welche in weiterer Folge nicht mehr mit dem formalen Freiheitsvermögen vermittelt werden können. Ungeklärt bleibt außerdem, in welchem Verhältnis der formale Freiheitsanspruch zum gleichermaßen formal und material gedachten Freiheitsvermögen steht. Anders ausgedrückt besteht die hier formulierte Kritik an Pröpper darin, dass in seiner Theorie der materiale Freiheitsvollzug das formale Freiheitsvermögen korrumpiert. Im Gegensatz dazu soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, dass das Sich-Verhalten-Können zur Freiheit erst dann systematische Relevanz erlangen kann, wenn es mit der Kontingenz des Daseins als gleichsam Konstitutionsmöglichkeit und Möglichkeitsbedingung vermittelt wird (vgl. ausführlicher in Kap. 3.3.4). Obwohl an Pröppers Ansatz vor allem subjektphilosophische Fragestellungen immer wieder kritisiert werden,136 wird in dieser Arbeit insbesondere die mangelnde Kon135
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Darunter ist eine abgeschwächte Form von Determinismus zu verstehen, welcher im Unterschied zu absoluten Begründungsversuchen eine relative Einschränkung des Freiheitsbegriffes vornimmt. Ausgespart werden dabei jene bewusstseinsphilosophischen Fragestellungen, die sich in Anlehnung an die Pröpper’sche Rezeption von Henrich ergeben, da die transzendentale Frage nach der Einheit und/oder Differenz des freien Ichs mit sich selbst eine breitere Entfaltung subjektphilosophischer Fragen einfordern würde, die im Umfang dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Angedeutet sei dazu etwa die vorliegende subjekt- und bewusstseinsphilosophische Auseinandersetzung von dem theologischen Systematiker Magnus Lerch. Dieser beschäftigt sich mit der Frage nach Einheit und/oder Differenz, nämlich, ob eine Unterscheidung transzendentaler Freiheit vom transzendentalen Ich notwendig ist, um das Verhältnis des in der Retroszendenz angelegten transzendentalen Aktes angemessen zu bestimmen. Vgl. Lerch, Magnus, Selbstmitteilung Gottes: Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie (ratio fidei 56), Regensburg 2015. Ein weiteres zentrales Diskussionsfeld betrifft die Verhältnisbestimmung von Gnade
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tingenzsensibilität seiner Theologischen Anthropologie thematisiert. In diesem Kapitel wird Pröppers Unterscheidung zwischen der formalen und materialen Freiheit einer kritischen Analyse unterzogen, um daran anschließend in Kap. 3.3.1 aufzeigen zu können, dass der ethische Anspruch des formalen Freiheitsgedankens eine weitaus größere Berücksichtigung des Leibes einfordert, wie das in der Theologischen Anthropologie der Fall ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das Freiheitsvermögen – also der praktische Vollzug – zusätzlich zu interpersonellen auch von raum-zeitlichen Bedingungen abhängt, die es näher zu bestimmen gilt. So wird in Kap. 3.3.2 eine notwendige Korrektur gegenüber dem von Pröpper vertretenen und unerreichbaren Liebesideal eingebracht, welche die Relevanzfrage des formalen Freiheitsgedankens sehr wohl auch an der Realisierungsfrage materialer Freiheitsvollzüge bemisst. Um Freiheit nicht nur formaliter, sondern auch materialiter anzuerkennen, zu befördern und für sie zu kämpfen, ist außerdem eine Unterscheidung von autonomen und kreativen Freiheitsvermögen notwendig, wie sie in Kap. 3.3.3 im Anschluss an Saskia Wendel formuliert wird. Ergänzend zu dieser Bestimmung soll sodann in Kap. 3.3.4 deutlich werden, dass die Reflexion über das Verhältnis von Freiheit und System eine ambiguitätstolerante Haltung fordert, die den mit dem Freiheit- und Kontingenzdenken einhergehenden logischen Widerspruch aushalten muss, um nicht in totalitäres oder anarchisches Denken zu verfallen, wie Hermann Krings einsichtig macht. Alle Erkenntnisse zusammen bilden die theoretische Grundlage für die in Kap. 3.4 zu entfaltende, kontingenzsensible Anerkennungsanalyse zum vorliegenden Thema.
3.3.1. Unzureichende Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen und Möglichkeiten von realer Freiheit Pröppers Freiheitsanalyse liegen materiale Bestimmungen voraus, die in systematischer Hinsicht kaum entfaltet sind. Obwohl er selbst anmerkt, dass es sich bei seiner methodischen Vorgehensweise um eine »ziemlich abstrakte[…] Analyse«137 handelt, scheint es ihm kein besonderes Anliegen, die Art und Weise des Einflusses von Natur, Raum, Zeit, Gesellschaft und Intersubjektivität näher zu untersuchen. Es genügt ihm, lediglich darauf zu verweisen, dass es diese Einflussfaktoren gibt.138 Damit lässt sein Werk zum einen Überlegungen zu Räumlichkeit und Zeitlichkeit beinahe vollständig vermissen, zum anderen gleichen die relativ kurz gehaltenen Erläuterungen zur Intersubjektivität und Leiblichkeit eher einer eklektischen Sammlung als einer systematisch überzeugenden Weiterentwicklung der zitierten Sekundärliteratur. Eine erste Erklärung dafür liegt wohl darin, dass der Fokus der transzendentalen Freiheitsanalyse auf dem subjektiven Freiheitsvermögen, der Fokus der phänomenologischen im Gegensatz dazu auf dem Freiheitsvollzug liegt. Bei allen Versuchen, die
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und Freiheit bei Pröpper. Vgl. hierzu Werbick, Jürgen, Gnade (utb-studi-e-book 3842), Stuttgart 2013; Lerch, Magnus, Gnade und Freiheit – Passivität und Aktivität. Anthropologische Perspektiven auf ein ökumenisches Grundproblem, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 45/5 (2016) 408–425. Pröpper, Theologische Anthropologie, 578. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 511.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Bedingtheit des Freiheitsgeschehens mitzudenken, behält Pröpper den methodologischen Primat eines transzendentalen Freiheitsverständnisses bei. Es interessieren vielmehr die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen von Freiheit als die materialen, da erstere als Voraussetzung für letztere angenommen werden, entsprechend der zum Zweck der Veranschaulichung grob vereinfachten Gleichung: Ohne transzendentales Freiheitsvermögen kein autonomes Wollen, ohne autonomes Wollen kein autonomes Handeln, ohne autonomes Handeln kein materialer Freiheitsvollzug. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum vor allem der transzendentalen Bestimmung des Freiheitsvermögens als Fähigkeit zur Selbstbestimmung bei Pröpper besondere Bedeutung zukommt. Für Pröpper hängt autonome Selbstbestimmung in erster Linie von den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen von Subjektivität und Bewusstseinskategorien ab, die er mit den subjekt- und bewusstseinsphilosophischen Ausführungen von Krings und Henrich in Verbindung bringt. Das Freiheitsvermögen verortet er infolgedessen in der menschlichen Vernunft und begreift im Umkehrschluss Freiheitsvollzüge als lediglich deren entsprechenden und materialen Ausdruck, derer man sich zuvor reflexiv vergewissern muss. Hier sei noch einmal auf das Bestimmungsverhältnis der Freiheit als reflexivem Selbstverhältnis verwiesen, von dem Pröpper ausgeht. Diese Bestimmung führt dazu, dass die Freiheit des anderen zum Objekt der Selbsterkenntnis gemacht wird. Der daran argumentativ angeschlossene Dreischritt von primärem Vernehmen, Vorstellen und immanent-reflexer Transzendierung (vgl. Kap. 3.2.4) impliziert, dass sich das erkennende Subjekt, um autonom zu werden, von seiner Objektwelt reflexiv absetzen muss. Menschliche Vernunft bildet damit gleichsam den formallogisch bevorzugten Ausgangspunkt seiner Freiheitskonzeption, da insbesondere die Bejahung anderer Freiheit als Willensakt und damit als Aufgabe der autonomen Vernunft beschrieben wird.139 Damit schließt Pröpper aber ein agentielles140 Verhältnis der einen Freiheit zu einer anderen aus und in weiterer Folge, dass die Objektwelt gleichermaßen am Prozess der Autonomiewerdung beteiligt ist wie die Vernunft selbst. Aufgrund dessen geraten Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit abseits subjektphilosophischer Überlegungen aus dem Blick, was zu einigen systematischen Schwierigkeiten führt. Erstens differenziert Pröpper den formalen Freiheitsanspruch (»Freiheit soll sein«) nicht ausreichend vom formalen Freiheitsvermögen (Freiheit als Fähigkeit zur Selbstbestimmung) und stellt deren wechselseitige Bezüge zum Freiheitsvollzug nicht dar. Selbst wenn man der These folgen kann, dass Freiheit als Fähigkeit zur Selbstbestimmung gedacht ist und nur in der Anerkennung der Freiheit anderer den ihr gemäßen 139 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 639. 140 Dieser von Karen Barad eingeführte Terminus bezeichnet das beeinflusste und beeinflussende Wechselverhältnis von Mensch, Materie und Repräsentation. Materie wird dabei als performative Einheit begriffen, welche nicht allein als Gegebenheit oder Wirkung menschlicher Tätigkeit in den Blick kommt, sondern aktiv an der Herstellung von Relation beteiligt ist. Barad, Karen, Agentieller Realismus, in: Susanne Bauer – Torsten Heinemann – Thomas Lemke (Hgg.), Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Mit zahlreichen Abbildungen (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2193), Berlin 2 2020, 574–643. Infolgedessen legt sich ein völlig anderes Subjekt-Objekt-Verhältnis nahe, wie das bei Pröpper der Fall ist. Näheres zum agentiellen Realismus bei Barad folgt in Kap. 3.4.3.
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Gehalt findet, ist mit dieser Fähigkeit noch nicht geleistet, dass sie sich dem formalen Anspruch auch tatsächlich hingeben kann. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, welche historischen Entwicklungsverläufe überhaupt dazu geführt haben, dass autonomes Handeln gefragt und damit Verantwortung eingefordert wird, sondern auch, welche konkreten Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheitsvollzügen erlebbar werden. Wenn Freiheit sein soll, dann muss sie sich nicht nur selbst dazu bestimmen können, sondern auch die Möglichkeit bekommen, sich zu den äußeren Gegebenheiten, die außerhalb ihrer Selbstbestimmung liegen, zu verhalten. In Abgrenzung zu Pröpper scheint deshalb der von Saskia Wendel verwendete Begriff der praktischen Freiheit sinnvoll, welcher in ihre Freiheitstheorie nicht nur die passive Dimension des materialen Freiheitsvermögens, sondern auch die aktiven Freiheitsvollzüge einbezieht. Praktische Freiheit kann also nicht allein in einem reflexiven Selbstverhältnis zu sich selbst bestehen – in transzendentaler Perspektive ist der der Freiheit angemessene Gehalt ja selbst Freiheit – sondern muss sich vollziehen. Dies tut sie aber nur dann, wenn sich das Vermögen zu seinem Anspruch nicht nur in ein reflexives, sondern auch agentielles Verhältnis (vgl. Kap. 3.4.3) setzt. Zweitens genügt es Pröpper hinsichtlich der Frage, wie ein Mensch denn überhaupt frei handeln und sich zu diesem Handeln frei entschließen könne, darauf hinzuweisen, dass ein Mensch bereits »Zuwendung, Zutrauen, auch Zumutungen schon erfahren haben, von anderen angerufen, gefordert und derart in seiner Freiheit ernstgenommen, also auch schon anerkannt«141 worden sein muss. Selbst wenn man sich darüber einig werden kann, dass Freiheit nur dann zu ihrer Realisierung gelangt, wenn ihr Freiheit zugestanden worden ist und wird, bleibt ungeklärt, wer oder was die erste und unbedingte Anerkennung, die nach dieser Denkungsart alle weiteren Anerkennungsakte begründet, garantiert. Es bleibt also auch die zeitlich-kausale Dimension des praktischen Freiheitsvollzuges bei Pröpper weitgehend unberücksichtigt. Tatsächlich scheint drittens als Hauptgrund die vielfach eingemahnten Kritik berechtigt, dass die transzendentale Bestimmung von Freiheit zu abstrakt bleibe, selbst wenn dadurch begründungslogisch nicht ausgewiesen werden kann, ob sie damit gänzlich verzichtbar wird.142 Anders formuliert: Auch wenn die Beschreibung der transzendentalen Freiheit sehr abstrakt bleibt und ihre praktische Relevanz nicht unmittelbar einsichtig gemacht werden kann, heißt das noch nicht, dass sie für den ethischen Diskurs völlig verzichtbar wäre. So will Pröpper etwa mit seiner transzendentalen Konzeption von Freiheit einen Anknüpfungspunkt für eine Phänomenologie des Leibes bieten, um die Bedeutung des Leibes »für eine Subjekttheorie zu sondieren«143 . Die subjektphilosophische Auswertung seiner transzendentalen Freiheitanalyse stößt allerdings bei Subjektivierungsprozessen an ihre Grenze, weil er sich trotz seiner gut
141 Pröpper, Theologische Anthropologie, 503. 142 Vgl. Lerch, Magnus, Die leib-seelische Einheit des Menschen und das Methodenproblem. Anfragen an Erwin Dirscherl zur Verbindung von phänomenologischer und transzendentaler Reflexion, in: Martin Dürnberger u.a. (Hgg.), Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart (ratio fidei 60), Regensburg 2017, 281–292, hier: 285. 143 Pröpper, Theologische Anthropologie, 578.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
gemeinten Intention kaum damit auseinandersetzt, die leibliche Verfasstheit menschlicher Freiheit »als unmittelbarste Bedingung und Medium aller weiteren Bedingtheit«144 näher zu bestimmen. Seine Ausführungen zur Leibgebundenheit von Freiheit auf gerade einmal sechseinhalb Seiten145 innerhalb seiner mehr als 1500 Seiten umfassenden Anthropologie sind daher maßgeblich an die »Hauptbefunde«146 der Habilitationsschrift Affektiv und inkarniert 147 von Saskia Wendel angelehnt. Deshalb beschränkt Pröpper sich auf deren »gezielte[r] Auswertung«148 phänomenologischer Befunde von Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl, Edith Stein, Hermann Schmitz, Bernhard Waldenfels und Paul Ricoeur, ohne sie selbst aber konstitutiv einzubinden. Obwohl gerade phänomenologische Ansätze für ihre Ambiguitätstoleranz bekannt sind149 , muten die entlehnten Einschübe zur Leiblichkeit bei Pröpper differenztheoretisch an, was eine vereinheitlichende Zentrierung des Freiheitsgedankens in der Vernunft begünstigt. Die Bemerkung, dass »dem Leib eine Doppelstruktur eignet«150 , wie auch die Rede vom Leib als Ding der Erkenntnis und Möglichkeitsbedingung für Erkenntnis, werden kaum entfaltet. Vielmehr wird der Bedingtheit des Leibes die grenzenlose und transzendente Vernunft dialektisch gegenübergestellt. Auf diese Weise wird Leiblichkeit primär als Beschränkung, nicht jedoch als Ermöglichungsgrund von Freiheit in den Blick genommen.151 Die Rede von der materialen Bedingtheit und bedingten Realisierung von Freiheit durch den Leib verstellt aber den Blick auf physisch ausagierte Befreiungskämpfe oder Subversionsstrategien. Zudem bleibt dabei unberücksichtigt, dass nicht nur Anerkenntnisse, sondern auch Anerkennungsakte befreien. Wenn auch der Freiheit der Erkenntnis Grenzen gesetzt sein sollten, kann sie sich sehr wohl auch durch physische Akte einen kleinen Raum von Freiheit schaffen. Dazu ist nicht einmal ein reflexives Bewusstsein der Freiheitseinschränkung zwingend notwendig, denn es kann sich eben erst auch nach einer physischen Befreiung die Erkenntnis einstellen, wie viele und welche Lebensbereiche von Unfreiheit geprägt waren.152
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Pröpper, Theologische Anthropologie, 578. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 578–584. Pröpper, Theologische Anthropologie, 581. Wendel, Saskia, Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung. Zugl. Münster Univ. Habil. (ratio fidei 15), Regensburg 2002. 148 Pröpper, Theologische Anthropologie, 581. 149 Merlau-Ponty wird etwa als Philosoph der Ambiguität bezeichnet vgl. Boisseau, Denis, MerleauPonty et l’ambiguïté. Philosophie française, in: Les études philosophiques (1992) 229–243, hier: 229. 150 Wendel, Affektiv und inkarniert, 284. 151 Selbst wenn dieser Punkt bei Krings nicht anzutreffen ist, ließe sich doch mit ihm weiterdenken, ob nicht auch die Frage nach der Leiblichkeit des Menschen letztlich in die Aporie führt, ihn gleichzeitig als System und Freiheit denken zu müssen. Der neue Materialismus scheint in diese Richtung zu gehen (vgl. Kap. 3.4.3). 152 Der Fachbereich der Opferforschung (Viktimologie) beschäftigt sich bspw. mit dem paradoxen Phänomen der emotionalen Opfer-Täter*innen-Bindung bei Geiselnahme, was medial unter dem Begriff Stockholm-Syndrom eine vermehrte Aufmerksamkeit bekommen hat. Erst die Befreiung der Geiseln und anschließende Therapien machen in manchen Fällen die radikale Abhängigkeit der Opfer im Nachhinein kognitiv zugänglich.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wenn Pröpper von der Selbstbestimmung der Freiheit als einem weitgehend reflexiven Sich-Verhalten-Können zu gegebenen Umständen spricht, dann vornehmlich aus transzendentalphilosophischer Perspektive, mittels derer er die Möglichkeitsbedingungen von freier Subjektivität überhaupt zu erörtern sucht. Seinem transzendentalphilosophischen Gerüst von Subjektivität – so könnte man bildhaft formulieren – fehlt damit der Ton, der die Skulptur erst als solche wahrnehmbar und greifbar macht. Damit ist keineswegs gesagt, dass bei ihm solche existenziellen Überlegungen ganz ausgeblendet würden, allerdings erscheinen diese zumeist nur thetisch und werden nicht sonderlich stark entfaltet.
3.3.2. Unerreichbares Liebesideal versus realisierbare Anerkennungskonzeption Pröppers Annäherungen an die ethischen Dimensionen seiner Freiheitskonzeption verstehen sich als grundlagentheoretische Neuausrichtung der Ethik am Prinzip der Freiheit. Dabei konzipiert er Freiheit relational – maßgeblich im Sinne von intersubjektiv – und geht davon aus, dass sie niemals vollständig zu realisieren sei, da das von ihr geforderte vollkommene Anerkennungsverhältnis symbolisch zwar versprochen, niemals aber vollständig eingelöst, geschweige denn erzwungen werden kann.153 Einzig den Gedanken vollkommen reziproker Zuwendung hält der Theologe daher für geeignet, die ethische Leitlinie für ein gutes und gelingendes Zusammenleben von Menschen zu gewährleisten. Liebe wird in seinem Paradigma zum Sinnbegriff der ethischen Kontingenzbewältigung154 : »Liebe kann nur gelingen (darin folgt sie ihrer antizipatorischen Logik), wo schon an Liebe geglaubt und ihr vertraut wird. Und dies nicht nur in dem aus der Reziprozität des Anerkennungsverhältnisses sich ergebenden Sinn, daß jeder, ohne die Freiheit des anderen berechnen und sich ihrer versichern zu können, anfangen muß, wenn überhaupt etwas glücken und stark werden soll, sondern eben auch in dem noch bedeutungsvolleren Sinn, der sich aus der symbolischen Struktur wirklicher Anerkennung und der unerschließbaren Differenz zwischen formaler Unbedingtheit und materialer Bedingtheit der Freiheit ergibt. Denn gerade wo eine Freiheit sich formell unbedingt für andere Freiheit entschließt und so deren eigener Unbedingtheit gerecht wird, will sie mehr, als sie verwirklicht und jemals verwirklichen kann. Gerade indem sie den anderen ›selbst‹ meint und sein Seinsollen unbedingt intendiert, eben dies aber nur symbolisch, nur vorläufig ins Werk setzen kann, wünscht sie ihm eine Zukunft, die sie selbst nicht gewährleisten kann. Ja, es verdient sogar ernsthafte Erwägung, ob der Optativ nicht durch den Indikativ, das Futur durch den Inchoativ ersetzt werden müßte, d.h. diese Zukunft nicht nur gewollt, sondern versprochen, nicht nur intendiert, sondern bereits antizipiert ist. Ihre Kennzeichnung als Postulat würde dann jedenfalls noch insofern zu wenig besagen, als ernsthafte Liebe sich im Widerspruch zum Tod schon befindet.«155
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Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 642–643. Zu Pröppers Kontingenzbegriff vgl. die Ausführungen in Kap. 3.4.1. Pröpper, Theologische Anthropologie, 648–649.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Zurecht mahnt Pröpper damit ein, dass »das unbedingte Seinsollen des anderen nur in Grenzen realisierbar«156 ist, die Möglichkeiten von interpersonaler Anerkennung damit material eingeschränkt werden. Ethisch problematisch scheint dahingehend aber, dass mit der rein symbolisch eingestandenen Dignität des formalen Anerkennungsanspruches kaum noch die Denkmöglichkeit wachgehalten werden kann, dass Freiheit trotz ihrer Kontingenz dem eigenen unbedingten Anspruch vollkommen gerecht wird. Anders formuliert: Man muss Pröpper danach fragen, welchen ethischen Mehrwert eine Freiheitskonzeption besitzt, die vollkommene Freiheit als unerreichbares Liebesideal festschreibt. In diese Richtung scheint auch die Kritik von Hansjürgen Verweyen zu zielen, dem der Schritt von der Anerkennung zur Liebe bei Pröpper zu abrupt erfolgt. Er wirft ihm vor, dass er das Sollen (ethische Pflicht der Anerkennung) mit dem Seinsollen (Existenzbejahung) verwechsle. Dementsprechend sei es zwar möglich, einen Menschen bis zum Tod zu lieben, darüber hinaus könne das Seinsollen aber nicht durch die liebende Person selbst garantiert, oder durch sie realisiert werden.157 Daraus folge, dass das GottMensch-Verhältnis hier nur noch mit einem von Gott her gedachten solipsistischen Liebesparadigma beantworten werden könne. Demgegenüber plädiert Verweyen dafür, Anerkennungsakte selbst zu prozessualisieren und sie nicht immer schon als unverfügbar und gegeben vorauszusetzen. Menschen könnten also in einem unbeugsamen Entschluss füreinander zueinander finden, indem sie sich »vorbehaltlos und unbeirrbar entschlössen, in sich und in dem, was sie besitzen, anderen Raum dafür zu schaffen, dass sie sich voll und ganz zum Ausdruck bringen«. Gleichzeitig gesteht er aber ein, dass sich diese endgültige Entscheidung »gleichwohl nur stets in neuen Schritten realisieren« ließe. Die Anerkennung aber des »nie vollendete[n] Streben[s] nach Einheit« könne damit als implizite Einlösung der vorbehaltslosen Anerkennung gedeutet werden.158 Zu unterscheiden sei also die unabschließbare Begehrensstruktur transzendierender Freiheit von dem vollkommenen Anspruch der Anerkennung. Deshalb sei die Spannung zwischen theoretischem Anspruch (volonté voulante) und praktischem Entschluss (volonté voulue) in die Freiheitsanalyse miteinzubeziehen159 und dies dadurch, dass man dem menschlichen Anspruch nicht eine lediglich symbolische, sondern vollkommene Dignität zuspreche. Damit optiert Verweyen für eine Integration leiblicher und materialer Komponenten in den Freiheitsanspruch,160 weil man nicht davon ausgehen könne, dass sich das Ich nur durch Reflexion auf sein schlechthin unbedingtes Sein beziehen kann. Allein das
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Pröpper, Theologische Anthropologie, 644. Vgl. Verweyen, Hansjürgen, Was ist Freiheit? Fragen an Thomas Pröpper, in: Theologie und Philosophie 88 (2013) 510–535, hier: 528. 158 Vgl. alle Zitate des Absatzes aus: Verweyen, Was ist Freiheit?, 533. 159 Vgl. Verweyen, Was ist Freiheit?, 520. Er greift hier auf den französischen Philosophen Maurice Blondel zurück: Das wollende Wollen (volonté voulante) ist ein ursprüngliches Begehren, das dem Ich entspricht, wohingegen das gewollte Wollen (volonté voulue) dem konkretisierten Willen entspricht, der versucht, in Übereinstimmung mit dem wollenden Wollen zu kommen. Dies gelingt aber nur vollständig, wenn der Mensch in freier Entscheidung einer anderen Freiheit in sich Raum gibt. Verweyen bestimmt diesen Akt als Liebe. Nur hierin soll es zu einer Übereinstimmung von volonté volue und volonté voulante kommen können. 160 Vgl. Verweyen, Was ist Freiheit?, 529.
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Denken/Vorstellen sei laut Verweyen immer schon intersubjektiv bedingt.161 Die Realisierung von Freiheit würde sich daher nicht bloß in der Reflexion, sondern erst im praktisch nachvollziehbaren Entschluss zur Freiheit verwirklichen, wie er sich etwa in der Liebe oder Solidarität zeige: »Aber im Ausgriff nach einer umfassenden intersubjektiven Anerkennung werden ja alle Formen von Leiblichkeit, wird alles Eingebundensein in Materie in Anspruch genommen. Auch die noch so tief empfundene Liebe zwischen zwei Menschen verbleibt so lange Romantik, als nicht allen Ernstes ›der Dritte‹ mit einbezogen ist – und das heißt letzten Endes der Kampf um die gerechte Verteilung von Gütern in dieser Welt und um den Erhalt einer Erde, die wir künftigen Generationen als lebenswert überlassen sollen.«162 Ähnlich argumentiert auch der theologische Ethiker Benedikt Schmidt, der konstatiert, dass Pröppers inhaltliche Bestimmung der Freiheit als Liebe den Bogen überspanne und eine Gleichsetzung des philosophischen Prinzips der Anerkennung mit dem theologischen Prinzip der Liebe die Kluft zwischen der transzendentalen und praktischen Dimension der Freiheit nicht angemessen berücksichtige.163 Diese geringe Berücksichtigung der materialen Bedingtheit im ethischen Anerkennungsprozess, der von Pröpper mit dem Liebesgeschehen gleichgesetzt wird, wirft für Schmidt folgendes Dilemma auf: »Der Mensch soll in einer (wohlgemerkt philosophischen!) Ethik auf ein göttliches Verhalten verpflichtet werden, dessen Forderung sich aus einem Bild des Menschen ergibt, dessen realgeschichtliche Bedingtheit nicht hinreichend berücksichtigt wird. Dieses hohe Ideal der Liebe läuft Gefahr, unmenschlich zu werden, wenn es zur grundlegenden Verpflichtung sittlichen Sollens erhoben wird.«164 Auch wenn es Pröpper streng genommen nicht um das Erreichbare, sondern um den bleibenden formalen Anspruch geht, dem Freiheitsgedanken uneingeschränkt Geltung einzuräumen, bleibt ethisch virulent, wie die Hoffnung wachgehalten werden kann, dass sich Freiheit auch im Hier und Jetzt schon realisieren kann. Der Verweis auf die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit durch Jesus Christus bietet angesichts der bleibenden Erfahrung von nicht realisierbaren Freiheitsvollzügen in Form von Anerkennung nur einen schwachen Trost. Selbst wenn sich Gott in seinem Sohn als Retter erwiesen hat, kann der Verzweiflung, warum sich Gott nicht auch einem selbst oder anderen Menschen in Bedrängnis zeigt, nicht einfach mit dem Verweis auf die eschatologische Gottebenbildlichkeit des Menschen und der christlichen Verheißung Abhilfe verschafft werden.165 Vielmehr gilt es, das Ringen um Freiheit wachzuhalten, sowohl in Situationen wo sie verloren, als auch in jenen, wo sie bereits gewonnen scheint.
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Vgl. Verweyen, Was ist Freiheit?, 523. Verweyen, Was ist Freiheit?, 534. Vgl. Schmidt, Gottes Offenbarung und menschliches Handeln, 282–287. Schmidt, Gottes Offenbarung und menschliches Handeln, 287. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 185–194.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Mit einem Rückblick auf die bereits argumentierte Relevanz eines Ambiguitätsdenkens in Kap. 3.1.3 und 3.1.4 liegt die Vermutung nahe, dass auch die Rede von formaler und materialer Freiheit nicht umhinkommt, die Spannung zwischen Anspruch und Realisierung theoretisch wie praktisch in der Waage zu halten.
3.3.3. Ineinssetzung des Prinzips und des Vermögens von Freiheit und fehlende Unterscheidung autonomer und kreativer Dimensionen des Freiheitsvermögens Die unzureichende Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen und praktischen Möglichkeiten von Freiheit und die Unerreichbarkeit des von Pröpper eingebrachten Liebesideals haben die Frage aufgeworfen: Wie lässt sich Freiheit praktisch und konkret, nämlich als Vollzug denken? Saskia Wendel verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Relevanz, Freiheit als Prinzip einzelner Vermögen und nicht als Vermögen schlechthin zu bestimmen, denn für sie ist der Freiheitsbegriff prima facie kein transzendentaler, sondern ein ontologischer, der mit einer kausalen Perspektive auf das Gottesverständnis verbunden ist. In ihrem Buch In Freiheit glauben166 führt sie daher aus, dass Freiheit nur als bedingte ontologisch abgeleitet werden könne, weil sie ja »streng genommen […] in transzendentaler Perspektive überhaupt nicht« existiert, sondern »an die Existenz einzelnen bewussten Daseins geknüpft«167 ist. Freiheit, so Wendel, erschöpfe sich nicht in Willens- oder Handlungsfreiheit, sondern drücke sich darin stets material aus. Die Kontingenz von Wille und Handlung stünden dabei nicht in Konkurrenz zum Prinzip selbst und ermöglichten so eine Rede von Freiheit trotz zahlreicher Einschränkungen auf materialer Ebene. Nachdem sich Freiheit laut Wendel gar nicht losgelöst von konkreter Existenz denken lässt, würden der Freiheitsvollzug wie die unterschiedlichen Freiheitsvermögen ohnehin in eins fallen.168 Differenziert man nun wie sie die einzelnen Vermögen vom Prinzip, dann konfligiert der ethische Anspruch nicht mehr länger mit dem Formalprinzip selbst, sondern kann von ihm unterschieden werden: Die Idee vollkommener Freiheit ist dann nicht der ethische Zielhorizont, auf den der praktische Freiheitsvollzug zuläuft, sondern die formallogische Begründung für den ethischen Anspruch. Auf diese Weise wird der vollkommene Anspruch der Freiheitsidee nicht dadurch abgewertet, dass er sich materialiter nicht einlösen lässt. Theoretischer Anspruch und praktische Umsetzung befinden sich dieser Denkform zufolge in einem kritisch-komplementären Verhältnis zueinander, welches das ethische Nachdenken stets aufs Neue herausfordert, da sowohl der Anspruch als auch dessen Realisierung kontingent konzipiert werden. Nur die zugrundeliegende Idee der Freiheit als vollkommene bildet den äußeren Notwendigkeitsrahmen der auf 166 Wendel, Saskia, In Freiheit glauben. Grundzüge eines libertarischen Verständnisses von Glauben und Offenbarung, Regensburg 2020. 167 Alle Zitate des Satzes aus: Wendel, In Freiheit glauben, 81. 168 Eine erstaunliche Koinzidenz ergibt sich aus der Tatsache, dass Handlung und Vermögen in der Praxis in eins fallen. Da einerseits Handlungen Macht herstellen und ausüben können, besteht das Vermögen der Freiheit in Handlungsmacht. Umgekehrt lässt sich so jede Form der Machtausübung als frei bestimmen, sei es die Macht über die eigene Willens- und Entscheidungsfähigkeit oder die Macht über die eigene Handlungsfähigkeit. Vgl. Wendel, In Freiheit glauben, 40–43.
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ihr basierenden ethischen Theorie.169 Umgekehrt ist aus dieser Perspektive auch ersichtlich, dass das Sich-Verhalten-Können nicht nur in einer Überwindung von freiheitseinschränkenden Grenzen besteht, sondern auch kreative – also neuschaffende – Elemente beinhaltet. Die transzendentallogische Begründungsproblematik formaler Freiheit vermeidet Wendel also mit der Bestimmung der Freiheit als Prinzip einzelner Vermögen, welches den beiden Vermögen der Selbstbestimmung – Autonomie und Kreativität – transzendentallogisch vorgeordnet und eben nur als solches formal unbedingt sei. Damit bleibt zum einen der formale Unbedingtheitsanspruch, welcher mit dem Freiheitsgedanken einhergeht, gewahrt, gleichzeitig werden die Freiheitsvermögen an sich je komplementär ergänzende Vollzugsbedingungen geknüpft. Selbstbestimmung müsse daher zwei Momente umfassen: die Möglichkeit des Anderskönnens als Autonomie und das Vermögen des Neubeginnens als Kreativität. Autonomie setze damit in gewisser Weise Bedingtheit bzw. Materialität ursächlich voraus, denn erst die Bedingtheit oder das vorliegende Material würden ein Anderskönnen überhaupt erst notwendig machen. In dieser Bestimmung ist auch das von Pröpper eingeführte Sich-Verhalten-Können vornehmlich zu verstehen, der die materialen Bedingungen rein negativ vom Freiheitsvermögen abgrenzt, welches ja mit formaler Freiheit gleichgesetzt wird: »Gleichwohl heben ihre [die der Freiheit] materiale Bedingtheit und reale Bestimmtheit die formale Unbedingtheit der Freiheit nicht auf: ›bedingt sein‹ heißt nicht ›verursacht sein‹. Denn auch zu ihrer Bedingtheit und sogar wirksamen Bestimmtheit kann sich Freiheit zumindest in dem Maße, wie sie bewußt sind oder aufgeklärt werden, ja noch verhalten.«170 Freiheit als Selbstbestimmung und Sich-Verhalten-Können wird als Formalursache des Freiheitsvollzuges gedacht, weshalb in weiterer Folge bei Pröpper eine kompatibilistische Einschränkung des Freiheitsvermögens notwendig wird, wie Wendel an anderer Stelle kritisiert.171 Bei Pröpper soll die Idee vollkommener Freiheit das Vermögen zur reflexiven Selbstbestimmung garantieren, um autonomes Handeln als dessen Folge beschreiben zu können. Mit Wendel wird aber denkbar, dass sich die menschliche Freiheit nicht nur selbst bestimmen, sondern aus dem Gegebenen auch Neues schaffen kann. Materialität ist dann der Werkstoff für freies, neuschaffendes Handeln, aber nicht dessen begründungslogische Möglichkeitsbedingung. Es ist wohl auch dieses undifferenzierte Bestimmungsverhältnis von Autonomie und Kreativität, welches im Hinblick auf Pröppers subjekttheoretische Begründungsversuche zu einigen kritischen Einwänden
169 Eingehendere Reflexionen dazu finden sich am Ende dieser Arbeit in Kap. 3.5. 170 Pröpper, Theologische Anthropologie, 512. 171 »Auf philosophischer Ebene ist der Kompatibilismus problematisch, weil er nicht in der Lage ist, die Möglichkeitsbedingungen des realen Vollzuges von Freiheit sowie die prinzipielle Funktion, die Freiheit im Vollzug bewussten Lebens besitzt, konsistent und kohärent zu begründen u.a. auch deshalb, weil ein auf Willens- wie Handlungsfreiheit reduzierter Begriff von Freiheit vorausgesetzt und Freiheit zudem als ontologischer, ja empirischer Begriff verstanden wird, wie die in den verschiedenen Konzeptionen ausgewählten Beispiele (etwa die Entscheidung, den Arm zu heben) zur Erläuterung der jeweiligen Position verdeutlichen.«, Wendel, In Freiheit glauben, 21.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
geführt hat, nämlich dahingehend, ob die transzendentale Freiheit (Prinzip) mit dem transzendentalen Ich (Vermögen) gleichgesetzt werden kann.172 Ohne auf diese Diskussion näher eingehen zu können, lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass das um die Kreativität erweiterte und in Vermögen und Prinzip differenzierte Freiheitsverständnis deshalb eine sinnvolle Ergänzung zum Autonomieverständnis von Pröpper ist, weil es die in der Kontingenz angelegten Möglichkeiten nicht nur als Freiheitseinschränkungen, sondern stets auch als deren konstitutive Voraussetzung aufgreift.173 Diese Ergänzung von Wendel macht damit einsichtig, dass reale Freiheit das Vermögen des Anderskönnens (Autonomie) und des Neubeginnens (Kreativität) beinhaltet. Zugleich ist mit dieser praktisch-philosophischen Zuspitzung von Wendel jedoch der Problemhorizont eröffnet, dass die materialen Ausformungen der Freiheit als Autonomie und Kreativität allzu leicht als verabsolutierte Größen missinterpretiert werden könnten, die die alleinige Verantwortung und Schuld für das Gelingen oder Misslingen von Freiheitserfahrungen tragen.174 Ob die Erfahrung von Unfreiheit tatsächlich immer darauf rückgeführt werden kann, dass sich ein Mensch nicht genug um Alternativen oder Neuanfänge bemüht hätte, scheint zumindest aus ethischer Sicht problematisch. Man kann nicht die ganze Last der Verantwortung für ein gelingendes Leben Einzelnen überantworten. Die Frage nach den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen von Freiheit behält trotz ihrer nicht aufweisbaren unmittelbaren Bedeutung für die praktische Realisierung des Freiheitsvollzuges ihre Relevanz. Deshalb macht Pröpper auch immer wieder geltend, dass die materiale Bedingtheit die formale Unbedingtheit nicht einschränkt, weil sich die Freiheit ja immer noch zu den Gegebenheiten verhalten könne. Besser wäre wohl, davon zu sprechen, dass Freiheit nicht ohne Kontingenz gedacht werden kann (vgl. dazu ausführlicher Kap. 3.4.1). Daraus ergibt sich schließlich die Relevanz des freiheitstheoretischen Paradigmas für die Ethik, da hier die Idee eines freien Verhältnisses zur Freiheit zumindest transzendentallogisch vorausgesetzt werden muss. Letztlich lässt sich der Freiheitsbegriff als ein Prinzip praktischer Vernunft nicht losgelöst von materialen Bedingungen konzipieren, wenngleich er eben dieselben durch Reflexion zu transzendieren sucht. Die Beschränkung auf die praktische Dimension der Freiheit, wie Wendel sie verteidigt, greift also für den theoretischen Anspruch der Ethik in selber Weise zu kurz, wie es die Reduzierung 172
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Auch Magnus Lerch schließt sich der These an, dass die konkrete Freiheit nur im Vollzug erfahrbar wird. Dementsprechend sei das Freiheitsvermögen der autonomen Dimension nicht automatisch in der transzendentalen Erfahrung des Ich vermittelt, wie er an Pröpper kritisiert: »Wie soll, ohne die zirkulären bzw. infinit-regredierenden Argumentationsstrategien des Reflexionsmodells zu wiederholen, die formal unbedingte Freiheit zugleich Grund der Einheit des Ich mit sich sein, wenn sie letztere doch bereits voraussetzt?«, Lerch, Selbstmitteilung Gottes: Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie, 92. Außerdem können Retroszendenz (Differenz) und Beisichsein (Einheit) nicht in eins gesetzt werden. Vgl. Lerch, Selbstmitteilung Gottes: Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offen-barungstheologie, 94. Wenn also mit Pröpper davon ausgegangen werden soll, dass Freiheit formal unbedingt ist, betrifft dies nach Lerch nicht den gesamten transzendentalen Akt inklusive transzendentalem Ich, sondern nur die transzendentale Freiheit. Vgl. Wendel, In Freiheit glauben, 40–49. Damit hatte sich Pröpper bereits in der kritischen Lektüre von Albert Camus auseinandergesetzt (vgl. Kap. 3.4.1).
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auf den symbolischen Charakter von Anerkennung bei Pröpper für den praktischen Anspruch tut. Zumindest als ethisches Prinzip, das einen formalen Anspruch verteidigt, lebt der Freiheitsgedanke von transzendentalen Begründungsfiguren, die nicht einfach mit der Behauptung umgangen werden können, dass Freiheit nur praktisch existiert. Letztlich bleibt auch die praktische Philosophie von transzendental ergründeten und im Anschluss daran postulierten Prinzipien abhängig. Was Pröppers transzendentaler Freiheitsanalyse im Umkehrschluss fehlt, um sie an die praktische Philosophie, näherhin die Ethik, anschlussfähig zu machen, ist eine Theorie der Praxis: Als solche kommt sie nicht umhin, die in der Logik der Praxis angelegte Ambiguität systematisch zu integrieren.
3.3.4. Ausblendung der Ambiguität des Freiheitsbegriffes Eine derartige Reflexionshaltung dürfte Pröpper nicht unbekannt gewesen sein, da er seine relationale Konzeption von Freiheit Krings entlehnt.175 So schließt er sich einerseits dem Ausspruch an: »[E]in Mensch allein kann nicht frei sein«176 , weil Freiheit erst als unbedingt charakterisiert werden kann, wenn sie andere Freiheit affirmiert177 und gesteht damit zu, dass das Moment der unbedingten Anerkennung unerlässlich für eine tragfähige Freiheitskonzeption ist;178 andererseits reflektiert Pröpper aber kaum damit in Verbindung stehende Systemfragen und die damit aufgeworfene Frage nach der Verhältnisbestimmung von System und Freiheit, die Krings sehr wohl systematisch einbindet. Insbesondere die Systemfragen machen eine ambiguitätstolerante Haltung aber notwendig, weil sie neben der theoretischen auch auf die praktische Logik verwiesen sind. In der Aufsatzsammlung System und Freiheit 179 formuliert Krings daher zunächst die These, dass Freiheit die transzendentallogische Voraussetzung für ein System darstelle; ein System damit gewissermaßen das Produkt von Freiheit sei.180 Im Blick auf die existierende bzw. reale Freiheit181 ergeben sich daraus aber Schwierigkeiten: In absoluter Betrachtung erweist sich der transzendentale Freiheitsbegriff als leer, da existierende Freiheit immer an Bedingungen geknüpft ist. Um an der Freiheit weiterhin festhalten zu können, muss die Reflexion des Freiheitsbegriffes den Widerspruch denken können, dass das Unbedingte realiter nur bedingt existiert. Ein vielzitiertes Beispiel, welches die
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Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 101. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 709–712. 176 Krings, System und Freiheit, 125. 177 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 641. 178 Dies formuliert er folgendermaßen: »Erst in der Gemeinschaft mit anderer Freiheit findet ein Ich den angemessenen Halt, wird seine abstrakte Selbstgewißheit zur Wahrheit, weil sie nunmehr anerkannt ist.« Pröpper, Theologische Anthropologie, 642. 179 Krings, Hermann, System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze (Praktische Philosophie 12), Freiburg i.Br. 1980. 180 Vgl. Krings, System und Freiheit, 24. 181 Der Begriff der existierenden Freiheit bei Krings kann von dem Begriff der praktischen Freiheit insofern abgegrenzt werden, als sich Krings damit auf die Freiheit im System und weniger auf praktische Freiheitsvollzüge bezieht.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Argumentation von Krings nachvollziehbar macht, ist das Paradoxon von System und Freiheit, welches sich mit Ernst Wolfgang Böckenförde auf die Gesellschaft als Ganze übertragen lässt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«182 Die menschliche Vernunft erfährt sich innerhalb eines Systems also nur als autonom, wenn die darin auftretenden und wirksamen Zusammenhänge selbst Produkt der transzendentalen Freiheit sind. Die damit eingebrachte Dialektik führt Krings zu der These, dass die Begriffe System und Freiheit in einem Widerspruch zueinander stünden, weil der jeweils eine Begriff den anderen ausschließen würde. So wie Freiheit in einem System nicht mehr als unbedingt erscheint, weil sie von ihm eingeschränkt wird, kann sie sich gleichermaßen widerständig gegen das System zeigen.183 Der Versuch, das Verhältnis von System und Freiheit transzendentalphilosophisch zu lösen, führt nach Krings daher unweigerlich in eine Aporie: »Das Unbedingte ist nicht unbedingt real.«184 Auch wenn es notwendig sei, an der transzendentalen Bestimmung von Freiheit festzuhalten, könne damit nicht umgangen werden, dass reale Freiheit immer nur bedingt existiere. Sofern Handlungen in einem Zusammenhang (bzw. System) stattfinden, dessen Voraussetzung die transzendentale Freiheit bildet, seien auch diese als frei zu bezeichnen, selbst wenn diese auf den ersten Blick durch das System eingeschränkt zu sein scheinen. Daraus folgert Krings, dass eine Vereinfachung der Freiheitsfrage jedweder Art – sei sie nun deterministisch oder libertarisch – zu kurz greife. Dies formuliert er folgendermaßen: »Diese Aporie von System und Freiheit stellt dem Denken eine bleibende Aufgabe. Läßt sich vernünftigerweise ein Ansatz denken, der aus dieser Aporie herausführt? Gerade nicht. Die Synthesis bleibt aus. Die Aporie muß vielmehr festgehalten werden; denn würde sie beseitigt, wäre die Bedingung für reale Freiheit nicht mehr gegeben, es bliebe nur der leere Begriff einer transzendentalen Freiheit. Die Aporie ist gewissermaßen der Garant der Realität von Freiheit, die Bedingung ihrer Wirklichkeit.«185 Auf den ersten Blick scheint es auch bei Pröpper so, als würde er den Schritt dieses offenen Bestimmungsverhältnisses von System und Freiheit mittragen, da auch er immer wieder von der Aporie, der Ambivalenz oder dem Dilemma der Freiheit spricht. Aus diesem Grund verteidigt er auch vehement den Gedanken der formal unbedingten Freiheit, da er sie nicht zum absoluten Deduktionsobjekt verkommen lassen will, von dem her konkrete politische Systeme oder Gesellschaftsformen abgeleitet werden. Dennoch soll sie zum »Sinnbegriff, der die Gestaltung und Kritik politischer und gesellschaftlicher Ordnungen und den Prozeß der Normfindung leitet«186 , werden. Indem er dieses
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Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 914), Frankfurt a.M. 5 2013, 112. 183 Die wiederholt eingeklagten Freiheitsrechte gegenüber politischen Eingriffen in dieselbe während der Corona-Pandemie machen diesen Widerspruch besonders deutlich und zeigen das Ringen um eine angemessene Gewichtung von System- und Freiheitsfragen in Krisensituationen. 184 Krings, System und Freiheit, 27. 185 Krings, System und Freiheit, 27–28. 186 Pröpper, Theologische Anthropologie, 645.
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zunächst offene Bestimmungsverhältnis gegen Ende seines ersten Bandes aber durch die Idee Gottes füllt, scheint es, als würde er gerade jene Aporie zu lösen versuchen, die dem Denken nach Krings jedoch unablässig aufgegeben sein muss. Wenn nun aber der Mensch vermittels seiner autonomen Vernunft das ihm Vorgegebene nach dem Maßstab der Freiheit organisiert und bestimmt, »dann kann er die Verantwortung für Gut und Böse kaum noch auf eine naturale Determination oder auf einen Gott oder auf die Geschichte abschieben«187 , so Krings. Ethisch wird dadurch virulent, die Verantwortung für autonomes Handeln sowohl in den Bedingungen als auch den Möglichkeiten real vermittelter Anerkennung zu suchen. Was die kritische Diskussion der Freiheitstheorie Pröppers hinsichtlich der theologischen Ethik also einsichtig gemacht haben sollte, ist die Notwendigkeit, sich mit den materialen Bedingungen aber auch Möglichkeiten von Freiheit auseinanderzusetzen.
3.3.5. Zusammenfassung: Komplementarität und Ambiguität des Freiheitsanspruchs und Freiheitsvollzuges Die kritische Diskussion der Theologie der Freiheit von Thomas Pröpper führte in diesem Kapitel zur Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheit, welche die an die Freiheitstheologie angelehnten Ansprüche einer kritischen Prüfung unterzogen, eine Differenzierung des Prinzips und der Vermögen vorgenommen und die Ambiguität des Freiheitsbegriffes stark gemacht haben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Freiheit abseits von transzendentalen Kategorien real und praktisch erfahrbar wird. Von Pröpper selbst, aber auch dessen Kritiker*innen werden die materialen Bedingungen von Freiheit jedoch bestenfalls marginal eingebunden. Von daher ist ein Augenmerk darauf zu legen, wo und wie Freiheit sich tatsächlich realisieren kann. Die Kritik lautete, dass Pröpper in der Bestimmung der Autonomie als lediglich reflexivem Selbstverhältnis jene agentiellen Verhältnisse ausblendet, die ebenfalls an der Autonomiewerdung beteiligt sind. Wichtig ist es folglich, den formalen Freiheitsanspruch vom formalen Freiheitsvermögen entsprechend zu differenzieren, um das Verhältnis zum Freiheitsvollzug angemessen bestimmen zu können. Pröppers Anmerkungen zur Leiblichkeit, die er Wendel entlehnt, bleiben unzureichend. Die abstrakte Analyse der transzendentalen Freiheit genügt einer Ethik nicht. Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Intersubjektivität sind alles Momente, die der Berücksichtigung bedürfen, wenn von materialer, realer bzw. praktischer Freiheit gesprochen wird. Daran schließt sich notwendigerweise an, dass auch das Anerkennungsverhältnis, welches mit der Idee der Freiheit als dessen grundlegende Voraussetzung eingeführt wird, an konkrete Realisierungsbedingungen geknüpft werden muss. So bringen Hansjürgen Verweyen und Benedikt Schmidt zurecht die Kritik an, dass ein nach dem Vorbild der transzendentalen Freiheit konzipiertes Liebesideal einer ethischen Überforderung gleichkommt. Von daher muss der ethische Anspruch vom praktischen Entschluss unterschieden werden, um dem Anspruch im Gegenüber zum Entschluss formale und nicht nur symbolische Geltung einräumen zu können. Außerdem wurde 187
Krings, System und Freiheit, 33.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
deutlich, dass die ethische Pflicht der Anerkennung nicht einfach mit der Existenzbejahung anderer Freiheit gleichgesetzt werden kann. So unterscheidet Schmidt das philosophische Prinzip der Anerkennung vom theologischen Prinzip der Liebe, um dem Menschen damit nicht eine Aufgabe zu überantworten, die er ohnehin nicht erfüllen kann. Die Hoffnung, dass Freiheit sich tatsächlich schon im Hier und Jetzt realisieren kann, muss aber wachgehalten werden. Wenn dabei aber Gott als Ermöglichungsgrund ethischen Wahrnehmens, Denkens und Handelns gedacht wird, so die Theologin Saskia Wendel, verkürzt man die Vorstellung menschlicher Freiheit kompatibilistisch. Ethisches Handeln wäre damit nur durch ein direktes Einwirken Gottes möglich und jegliche ethische Verantwortung zuerst Gott überantwortet. Aus diesem Grund nimmt Wendel eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Freiheit als Prinzip einzelner Vermögen (Autonomie und Kreativität) und der praktischen Realisierung von Willens- oder Handlungsfreiheit vor. Anders handeln und entscheiden zu können (Autonomie) oder neu zu beginnen (Kreativität) darf formallogisch nicht Gott voraussetzen, der diese Realisierungen vorherbestimmt. Autonomie und Kreativität aber gänzlich im freien Subjekt zu verorten, wie Wendel es andenkt, könnte umgekehrt dazu führen, dass der Mensch durch seine Freiheit an der Überforderung scheitert. Es zeigte sich dabei abschließend, dass die Spannung zwischen transzendentalen und phänomenologisch orientierten Ansätzen nicht aufgelöst werden kann. Eine freiheitstheologische Ethik bleibt auf das nicht näher zu ergründende Postulat vollkommener Freiheit als reflexionstheoretischem Ausgangspunkt verwiesen. Im Anschluss an die systemtheoretischen Überlegungen von Krings konnte anschließend festgestellt werden, dass der Freiheitsbegriff ambig ist und bleiben muss, will er als transzendentale Voraussetzung für gesellschaftliche Systeme fungieren und deren Verhältnisse prägen. So bleibt der transzendentale Freiheitsbegriff einerseits leer, weil er unbedingt und somit losgelöst von äußeren Prägungen gedacht werden muss, um nicht selbst Teil eines bedingten Systems zu sein. Andererseits muss eingeräumt werden, dass das Unbedingte realiter nur bedingt existiert. Ohne ein auf es ausgerichtetes System wird Freiheit nicht erfahrbar. Da sich die Freiheitsfrage im Anschluss an diese Ausführungen nicht vereinfachen lässt, schloss das Kapitel mit dem Plädoyer von Krings, Freiheits- und Systemfragen immer im Wechselverhältnis von Bedingung und Möglichkeit zu betrachten. Die Komplementarität und die Ambiguität des Freiheitsanspruches in der Wechselwirkung mit dem Freiheitsvollzug sind daher in ethische Reflexionen miteinzubeziehen. Mit einer Zuspitzung des Kontingenzbegriffes soll dies im Anschluss systematisch zugänglich gemacht werden.
3.4. Implikate einer Theologie der Freiheit für eine kontingenzsensible Geschlechteranthropologie Die Frage im zweiten Teil dieser Arbeit hatte gelautet, wodurch die Anerkennung intergeschlechtlicher Personen im römisch-katholischen Feld ermöglicht und eingeschränkt wird. Hier wurden feldspezifische Freiheitseinschränkungen durch symbolische Gewalt erläutert. Allein die Analyse der und das Wissen um die Strukturbedingungen des römisch-katholischen Feldes nach Bourdieu reichen aber nicht aus, die Handlungsmacht
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deutlich, dass die ethische Pflicht der Anerkennung nicht einfach mit der Existenzbejahung anderer Freiheit gleichgesetzt werden kann. So unterscheidet Schmidt das philosophische Prinzip der Anerkennung vom theologischen Prinzip der Liebe, um dem Menschen damit nicht eine Aufgabe zu überantworten, die er ohnehin nicht erfüllen kann. Die Hoffnung, dass Freiheit sich tatsächlich schon im Hier und Jetzt realisieren kann, muss aber wachgehalten werden. Wenn dabei aber Gott als Ermöglichungsgrund ethischen Wahrnehmens, Denkens und Handelns gedacht wird, so die Theologin Saskia Wendel, verkürzt man die Vorstellung menschlicher Freiheit kompatibilistisch. Ethisches Handeln wäre damit nur durch ein direktes Einwirken Gottes möglich und jegliche ethische Verantwortung zuerst Gott überantwortet. Aus diesem Grund nimmt Wendel eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Freiheit als Prinzip einzelner Vermögen (Autonomie und Kreativität) und der praktischen Realisierung von Willens- oder Handlungsfreiheit vor. Anders handeln und entscheiden zu können (Autonomie) oder neu zu beginnen (Kreativität) darf formallogisch nicht Gott voraussetzen, der diese Realisierungen vorherbestimmt. Autonomie und Kreativität aber gänzlich im freien Subjekt zu verorten, wie Wendel es andenkt, könnte umgekehrt dazu führen, dass der Mensch durch seine Freiheit an der Überforderung scheitert. Es zeigte sich dabei abschließend, dass die Spannung zwischen transzendentalen und phänomenologisch orientierten Ansätzen nicht aufgelöst werden kann. Eine freiheitstheologische Ethik bleibt auf das nicht näher zu ergründende Postulat vollkommener Freiheit als reflexionstheoretischem Ausgangspunkt verwiesen. Im Anschluss an die systemtheoretischen Überlegungen von Krings konnte anschließend festgestellt werden, dass der Freiheitsbegriff ambig ist und bleiben muss, will er als transzendentale Voraussetzung für gesellschaftliche Systeme fungieren und deren Verhältnisse prägen. So bleibt der transzendentale Freiheitsbegriff einerseits leer, weil er unbedingt und somit losgelöst von äußeren Prägungen gedacht werden muss, um nicht selbst Teil eines bedingten Systems zu sein. Andererseits muss eingeräumt werden, dass das Unbedingte realiter nur bedingt existiert. Ohne ein auf es ausgerichtetes System wird Freiheit nicht erfahrbar. Da sich die Freiheitsfrage im Anschluss an diese Ausführungen nicht vereinfachen lässt, schloss das Kapitel mit dem Plädoyer von Krings, Freiheits- und Systemfragen immer im Wechselverhältnis von Bedingung und Möglichkeit zu betrachten. Die Komplementarität und die Ambiguität des Freiheitsanspruches in der Wechselwirkung mit dem Freiheitsvollzug sind daher in ethische Reflexionen miteinzubeziehen. Mit einer Zuspitzung des Kontingenzbegriffes soll dies im Anschluss systematisch zugänglich gemacht werden.
3.4. Implikate einer Theologie der Freiheit für eine kontingenzsensible Geschlechteranthropologie Die Frage im zweiten Teil dieser Arbeit hatte gelautet, wodurch die Anerkennung intergeschlechtlicher Personen im römisch-katholischen Feld ermöglicht und eingeschränkt wird. Hier wurden feldspezifische Freiheitseinschränkungen durch symbolische Gewalt erläutert. Allein die Analyse der und das Wissen um die Strukturbedingungen des römisch-katholischen Feldes nach Bourdieu reichen aber nicht aus, die Handlungsmacht
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der jeweiligen Subjekte zu bestimmen, da die verschiedenen Habitus’ nicht mit den Feldern deckungsgleich sind (vgl. Kap. 2.1.2). Allzu leicht ließe sich hier kurzschließen, die sozialen Rahmenbedingungen allein seien schon so determinierend, dass keine alternativen symbolischen Ordnungssysteme mehr möglich seien; und tatsächlich, verbliebe man allein in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung, müssten deren Erkenntnisse als Soziodizee betitelt werden. Die Kontingenzerfahrungen von Menschen – seien sie intergeschlechtlich oder nicht – gehen allerdings über die rein sozial vermittelten Gewalterfahrungen hinaus, weshalb sie umfassender noch einmal in einem subjektphilosophischen Zusammenhang betrachtet werden müssen.188 Die für diese Arbeit entsprechend relevante Frage lautet: Welche theoretischen und praktischen Voraussetzungen bedingen und ermöglichen die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld? Da das römisch-katholische Feld von männlicher Herrschaft dominiert ist und seinerseits für Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von intergeschlechtlichen Personen verantwortlich gemacht werden kann, hat eine ethische Reflexion auf alternative Begründungsmodelle zurückzugreifen. Das bedeutet freilich nicht, dass das römisch-katholische Feld keine relevanten Anknüpfungspunkte bieten würde. Allerdings stehen diese unter dem Verdacht, ohne grundlagentheoretische Neureflexionen, metaphysische Essentialismen und in weiterer Folge männliche Herrschaft zu stützen. Wie also Bourdieus Habituskonzept nach einer freiheitstheoretischen Ergänzung zur Handlungsmacht sozialer Akteur*innen verlangt, benötigt die Anthropologie Pröppers eine kontingenzsensible Entfaltung des materialen Freiheitsgedankens. In Kapitel 3.4.1 wird erläutert, dass Pröppers Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus zu seinem Plädoyer für einen autonomen Ansatz der Ethik führen. Entgegen seiner rein negativen Abgrenzung des Kontingenzbegriffes von der Freiheit wird im Anschluss daran eine begriffliche Neuverortung des Kontingenzbegriffes vorgenommen, um die systematische Grundlage für die daran anzulehnende Konzeption einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse vorzubereiten. Anhand der dafür gewählten Option für Freiheit (vgl. Kap. 3.4.2) soll aufgezeigt werden, wie Pröpper den autonomen Ansatz für die theologische Ethik rechtfertigt. Der ethische Anspruch der Anerkennung wird in Kap. 3.4.3 in der Auseinandersetzung mit den Theoremen der Verkörperung, Einbettung und Materialisierung aus dem corporeal/bodily und material turn an den praktischen Freiheitsvollzug rückgebunden. Dabei soll deutlich werden, unter welchen Bedingungen und vor dem Hintergrund welcher Möglichkeiten sich Anerkennung vollzieht. Aufgrund der geleisteten Vorarbeiten im zweiten Teil dieser Arbeit kann dabei auf die Erläuterungen zur Strukturierung des römisch-katholischen Feldes und die Inkorporationsthese von Bourdieu zurückgegriffen werden (vgl. Kap. 2.1.3). Daraufhin folgt in Kap. 3.4.4 die Entfaltung und Anwendung eines kontingenzsensiblen kriteriologischen Rasters nach den drei Dimensionen von Person, Raum und Zeit, mit welchem die Möglichkeiten und Grenzen der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-
188 Der Auswahl der dafür geeigneten Disziplinen ließe sich natürlich beliebig ausweiten. Mit Sicherheit würden auch biologische, wirtschaftliche oder physikalische Erkenntnisse den sozialen Interpretationsrahmen für menschliche Handlungsfreiheit relativieren. Die subjektphilosophische Einbettung scheint aber für die anschließenden ethischen Überlegungen besonders nützlich, da die Frage nach autonomer Moralität eng mit der Frage der Kontingenz verknüpft ist.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
katholischen Feld analysiert werden können. Der Anspruch besteht dabei nicht darin, abschließende Handlungsleitlinien bieten zu können, sondern den jeweils für Anerkennung Kämpfenden ein Reflexionsverfahren zu bieten, welche Strategien wann, wo und wie erfolgversprechender sind als andere und welche Parameter darüber hinaus im römisch-katholischen Feld beachtet werden müssen.
3.4.1. Existenzialistische Anknüpfungspunkte und definitorische Abgrenzung: Kontingenz als Möglichkeitsbedingung und Konstitutionsmöglichkeit von Freiheit Da der Begriff der Kontingenz vielschichtig ist, muss er für das vorliegende Forschungsthema entsprechend konkretisiert werden. Für diese Arbeit wird eine Definition von Kontingenz leitend, die konzeptuell sowohl die passiven Möglichkeitsbedingungen als auch die aktiven Konstitutionsmöglichkeiten von materialer Freiheit umfasst, zu der sich Subjekte einerseits autonom und andererseits kreativ verhalten können und das sowohl reflexiv als auch agentiell (vgl. Kap. 3.4.4.1). Hierdurch erhält der sonst so schillernde Kontingenzbegriff eine spezifische Prägung, von welchem der nach dem Religionsphilosophen Kurt Wuchterl benannte »theologisch motivierte Kontingenzbegriff«189 unterschieden werden muss. Wovon sich die theologische Bestimmung allgemein abgrenzt, soll im ersten Schritt erarbeitet werden. Im zweiten Schritt folgt eine Charakterisierung des theologisch-motivierten Kontingenzbegriffes, welcher sich auch bei Pröpper nachweisen lässt. Darauf folgt im dritten Schritt eine Beschreibung jener unabschließbaren Dynamik der Spätmoderne, die der Soziologe Andreas Reckwitz als »Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung«190 bezeichnet. Der vierte Schritt soll anhand der drei möglichen Umgangsformen mit Kontingenz nach Kurt Wuchterl abschließend erörtern, wie ein Kontingenzbegriff im Anschluss an Pröpper konzipiert sein muss, um als analytisches Instrument für konkrete Freiheitsvollzüge dienen zu können. Grundlegend für die meisten Definitionen ist zunächst die Aussage, dass Kontingenz begrifflich das umfasst, was möglich und zugleich nicht notwendig ist, also sein kann, aber nicht sein muss.191 Historisch geht der Begriff Kontingenz auf die von Aristoteles verwendeten »Verben συμβαίνειν und ›ενδέχεσθαι‹ zurück, die im 4. Jahrhundert in das lateinische ›contingere‹ übersetzt wurden«192 . Als feststehende Redewendung wird contingit mit ›es passiert‹ bzw. ›es stößt zu‹ wiedergegeben, was die Nähe des Begriffes zu jenem des Zufalls zeigt.193 Je nach Wissenschaftsbereich und philosophischer Strö-
189 Wuchterl, Kurt, Kontingenz oder das Andere der Vernunft. Zum Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion, Stuttgart 2011, 45. 190 Reckwitz, Andreas – Rosa, Hartmut, Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin 2021, 72. 191 Vgl. Wuchterl, Kontingenz oder das Andere der Vernunft, 27. Muck, Otto, Kontingenz, Kontingenzerfahrung, in: Michael Buchberger – Walter Kasper (Hgg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Bd. 6, Freiburg i.Br. 3 2006, 329–330, hier: 329. 192 Wuchterl, Kontingenz oder das Andere der Vernunft, 26, Fußnote 8. 193 Diese für Wuchterl problematische Begriffsverwirrung geht auf Immanuel Kant zurück, der contingentia mit Zufall übersetzt, letzteren aber gleichzeitig als Kategorie der Modalität bestimmt und ihn jener der Notwendigkeit gegenüberstellt. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen
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mung, der man sich anschließt, treten Zufall und Kontingenz in ein komplementäres oder konkurrierendes Verhältnis. Wenn man aber wie Wuchterl Kontingenz im Unterschied zum Zufall als existenzielle Erfahrung und nicht als »Koinzidenz zweier Ereignisketten«194 betrachtet, dann hängt der je spezifische Umgang mit Kontingenz von Fragen der Autonomie und Kreativität ab. Dazu jedoch erst später mehr. Theologisch festigt sich im Anschluss an den dritten kosmologischen Gottesbeweis von Thomas von Aquin – dem Kontingenzbeweis – die These, dass alles nicht notwendig Seiende sich einem absolut notwendig Seiendem, d.h. Gott, verdankt.195 »Dabei wird Kontingenz eng mit dem freien Handeln eines allmächtigen, gütigen und gerechten Schöpfergottes in Beziehung gesetzt, der die Schöpfung auch anders vollzogen oder sogar ganz unterlassen haben könnte.«196 Kontingent ist im Sinne Thomas’ folglich die gesamte Schöpfung Gottes. In dieser die gesamte Schöpfung umfassenden Bedeutung verliert der Kontingenzbegriff jedoch an Kontur und ist auch nicht mehr an eine Theologie der Freiheit anschlussfähig, weil die Möglichkeiten allein vom göttlichen Willen bzw. der Liebe Gottes abhängen.197 Zum anderen lässt sich diese theologische Kontingenzbestimmung laut Wuchterl dann auch philosophisch nicht mehr vermitteln, da mit ihr die Existenz Gottes nicht mehr ontologisch möglich, sondern ontologisch notwendig beurteilt wird. Entscheidend für eine tragfähige Gottesrede sei es aber, den »ontischen Vorbehalt«198 zu wahren, dass die Wirkung und Existenz Gottes in der Welt weder ontologisch beschreibbar noch zureichend begründet werden kann. Nach Wuchterl »stellt die Annahme der Existenz Gottes […] für die philosophische Argumentation eine zu weitgehende Voraussetzung«199 dar. Die Abhängigkeit des Kontingenzbegriffes vom christlichen Gott lässt sich auch bei Pröpper belegen, weil er sich der gehaltlichen Bestimmung eines göttlichen Liebesparadigmas nicht erwehren kann (vgl. Kap. 3.3.2). Das hat vor allem damit zu tun, dass er seinen Kontingenzbegriff in Abgrenzung zu dem existenzialphilosophischen Begriff der Absurdität entwirft. Schon die ersten Seiten der Theologischen Anthropologie kommen auf
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Vernunft, hg. v. Ingeborg Heidemann (Reclams Universal-Bibliothek 6461), Stuttgart 2013, KrV B 232–256. Im Unterschied dazu kommt das Prinzip des zureichenden Grundes von Gottfried Wilhelm Leibniz der Unterscheidung von Zufall und Kontingenz zugute: Logisch kontingent ist in diesem Sinne demgemäß nur das, was sich nicht zureichend begründen lässt. Vgl. Leibniz, Gottfried W., Monadologie. Deutsch mit einer Abhandlung über Leibniz’ und Herbart’s Theorien des wirklichen Geschehens, von Dr. Robert Zimmermann, Wien 1847, 32–38. Wuchterl, Kurt, Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 58/2 (2016) 129–148, hier: 138. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, S.th. I, q 2, a 3. URL: https://www.corpusthomisticu m.org/sth1002.html [Abruf: 14. März 2023]. Wuchterl, Kontingenz oder das Andere der Vernunft, 45. Vgl. dazu etwa folgendes Zitat aus dem Lexikon für Religion in Geschichte und Gegenwart: »Das entwickelte theol. Verständnis von K. besagt: Alles Wirkliche ist nicht notwendig. Der Ursprung des alles Wirkliche realisierenden Prozesses ist die Freiheit des Schöpfers.«, Herms, Eilert, Kontingenz. IV. Systematisch-theologisch, in: Hans D. Betz u.a. (Hgg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4 (UTB 8401), Tübingen 4 2008, 1647–1650, hier: 1650. Vgl. Wuchterl, Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs, 134. Wuchterl, Kontingenz oder das Andere der Vernunft, 158. Wuchterl, Kontingenz oder das Andere der Vernunft, 46.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
die existenzialistische Weltdeutung zu sprechen, die im Elend der Welt den Grund für die Freiheit des Subjektes sieht. Pröpper zeigt sich von der Deutung fasziniert, dass gerade die Erfahrung der Absurdität Menschen dazu auffordert, ihre Freiheit in Anspruch zu nehmen und eigenverantwortlich zu handeln. So schreibt er über Camus: »Daß seine Position mich in vieler Hinsicht fasziniert, will ich gar nicht verleugnen. Kaum jemals wurde das Glück, das im Vollzug der menschlichen Freiheit liegen kann, auf eindringlichere Weise gefeiert. Und daß Camus gerade von ihr aus auch zu einer nüchternen Solidaritätsethik gelangte (dargestellt in seinem Roman ›Die Pest‹ und in persönlicher Praxis bewährt), kann die Sympathie zu ihm nur noch steigern. Auch kenne ich kaum eine Alternative zum Glauben, die mich in ihrem Willen zu intellektueller Redlichkeit, in ihrer Bewußtheit der menschlichen Grenze und ihrer Entschiedenheit für den Menschen mehr überzeugte.«200 Ethische Passivität wie auch moralische Verzweiflung sind daher nicht die konsequente Lösung für die Kontingenzfrage, sondern die aktive Revolte gegen die Absurdität menschlicher Existenz.201 Natürlich ist sich Pröpper bewusst, dass diese heroische Forderung, für sich selbst verantwortlich sein zu müssen, in vielen Fällen auch überfordernd sein kann. Allein daraus sei aber noch nicht die Ungültigkeit der Forderung abzuleiten. Was bei Pröpper jedoch in der Kritik steht, ist der theoretische Status und Anspruch dieser Forderung, da der Freiheitsgedanke, sich zum Absurden verhalten zu können, bei Camus rein immanent gedacht ist. Die existenzielle Welterfahrung mit der Absurdität schließt nach Pröpper aber nicht aus, dass die Freiheit auch transzendental begründet sein kann. Anders formuliert: Nach Pröpper könnte sich also hinter der Gewissheit der Absurdität ein übergeordneter Sinn befinden, den wir Menschen schlichtweg (noch) nicht erkennen können. Ohne dabei die jeweiligen schlimmen Einzelschicksale in ihrer Dramatik untergraben zu wollen, könne diese Sichtweise eine Hoffnungsperspektive für das Leid des Gerechten eröffnen.202 Insofern biete Camus nur eine praktische Wahl an, mit der Kontingenz umzugehen, nicht aber eine theoretische. Infolgedessen könne man seine Position auch nur nach praktischen Kriterien beurteilen.203 Mit Camus lasse sich zwar begründen, warum jemand, der selbst keine Gerechtigkeit erfährt, trotzdem ethisch handeln soll, aber diese ethische Position rechtfertige nicht, dass ein Leben definitiv als absurd bezeichnet bzw. ihm jeglicher Sinn abgesprochen werden könne. Die Möglichkeit eines Sinndenkens muss aber theoretisch eingeräumt bleiben. So lautet das kritische Fazit Pröppers: »Daß der Mensch auf die Frage, die er ist, eine Antwort nicht hat, mag die faktische Situation eines Einzelnen ja durchaus zutreffend bezeichnen. Es erlaubt dennoch nicht, diese Lage für definitiv zu erklären, d.h. zu behaupten, daß es eine solche Antwort nicht
200 Pröpper, Theologische Anthropologie, 40. 201 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 39. 202 Es wird noch zu zeigen sein, wie gerade diese Perspektive dann auch die Bedeutung des Glaubens für die Ethik einholt. 203 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 41.
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geben könne, so problematisch ihre Gewißheit, wenn sie sich ereignet und als gegeben behauptet wird, auch ihrerseits sein mag.«204 Gegenüber Sartre, der seine Freiheitsanalyse theoretischer anlegt, hinterfragt Pröpper, inwieweit Freiheit von theoretischer wie praktischer Verbindlichkeit unabhängig und »ob endliche Freiheit nicht zumindest an ihr eigenes Wesen gebunden«205 ist. Wenn Sartre ihr zu Recht abspricht, »weder ihres Daseins noch ihres angemessenen Inhalts selbst mächtig«206 zu sein, könne sie nicht gleichzeitig zur absoluten Freiheit erhoben werden. Die Freiheit an-sich sei zur Freiheit für-sich immer schon vermittelt und käme dann – wenn überhaupt – nur in der Idee Gottes überein. Der Mensch, so schließt Pröpper mit Camus und Sartre, kann also nur scheitern, wenn er Existenzgrund und Garant der Erfüllung eigener Freiheit sein will.207 Andererseits kann der Mensch nicht anders, als auf die Möglichkeiten der Freiheit zu setzen, wenn er die Frage Was ist der Mensch? und damit die Sinnfrage beantworten will. Freiheit wird in bewusster Wahl zur »verbindlichmachenden, sinnstiftenden Instanz«208 gegenüber der Absurdität der Existenz erhoben und damit zumindest auf sich selbst verpflichtet. Nur die Sinnfrage ist es, die nie abschließend geklärt werden kann.209 Insoweit widerspricht Pröpper dem Satz Sartres, dass der Mensch eine nutzlose Passion210 sei, da er trotz der ständig begegnenden Absurdität immer wieder nach Sinn suche und sich selbst im Aushalten und Anerkennen des Paradoxes von Elend und Würde »als Antwortbedürftigen […] wissen«211 könne. Pröpper schlägt für das existenzialistische Dilemma also die Haltung des Suchens und Zweifelns vor, welche die existenzielle Lage niemals für definitiv erklärt, sondern bleibend offenhält. Freiheit erachtet Pröpper jedenfalls auch bei Sartre nicht als »schlechthin absolut gedacht«, sondern als »kontingentes Faktum [, das] sich selbst vorgegeben und
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Pröpper, Theologische Anthropologie, 42. Pröpper, Theologische Anthropologie, 43–44. Pröpper, Theologische Anthropologie, 45. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 45–46. Ebenso verhält es sich allerdings auch mit der Idee Gottes, die bei Pröpper in den Verdacht gerät, für die nach der anthropologischen Wende entstandene Frage nach der Freiheit des Menschen zu dienen. 208 Pröpper, Theologische Anthropologie, 47. 209 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 48–49. 210 Damit bezieht sich Pröpper auf den Schlussabsatz des Hauptwerkes von Sartre Das Sein und das Nichts, worin er schreibt: »Jede menschliche-Realität ist direkter Entwurf, ihr eigenes Für-sich in Ans-sich-Für-sich umzuwandeln, und zugleich Entwurf zur Aneignung der Welt als Totalität von An-sich-sein in der Art einer grundlegenden Qualität. Jede menschliche-Realität ist eine Passion, insofern sie entwirft, zugrunde zu gehen, um das Sein zu begründen und zugleich das An-sich zu konstituieren, das als ein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werden. Aber die Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Passion«, Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (übers. v. Hans Schöneberg – Traugott König), hg. v. Traugott König (rororo 13316), Reinbek bei Hamburg 18 2014, 1051 [708]. 211 Pröpper, Theologische Anthropologie, 46.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
zumindest als Wählenmüssen auch selber sich aufgegeben«212 ist. Damit hängt der theologische Begriff der Kontingenz bei Pröpper immer schon von einer übergeordneten Sinndimension ab, von welcher der Begriff der Absurdität kritisch Abstand nimmt. Dementsprechend markieren die beiden Termini den Unterschied des existenzialistischen und theologischen Freiheitsdenkens. Während der Existenzialismus bei Camus und Sartre vornehmlich auf eine immanente Sinnbegründung setzt, verweist das freiheitstheologische Paradigma von Pröpper auf eine transzendent verbürgte Sinnbegründung, die in der Liebe Gottes ihre Ausdrucksgestalt findet. So besteht der spezifisch theologische Mehrwert des Liebespostulats für Pröpper darin, menschliche Existenz eben nicht als zufällig, absurd und ziellos, sondern sinnfällig, sinnvoll und zielgerichtet anzunehmen. Erst die Bestimmung des menschlichen Lebens als letztlich sinnvolles ist in der Lage, der Kontingenzerfahrung auch Positives abzugewinnen. Die Gefahr der Banalisierung existenzieller Kontingenzerfahrungen entgeht Pröpper damit aber nicht, weil er den ontischen Vorbehalt in der gehaltlichen Bestimmung von der Liebe Gottes nicht mehr aufrechterhält. Dies verwundert, da er gerade zu Beginn seiner Anthropologie ebenfalls stark macht, dass es sich bei seiner philosophischen Annäherung an die Idee Gottes um einen Möglichkeitsaufweis213 handelt. Der eben angedeutete logische Widerspruch von der Nichtaufweisbarkeit der Existenz Gottes und der gleichzeitig behaupteten Liebe dessen zu den Menschen zeigt ein Phänomen auf, das gemäß dem Soziologen Andreas Reckwitz analog als typische Praxis der Moderne gedeutet werden kann. Diesem zufolge befinden sich moderne Gesellschaften in einem »prinzipiell unendlichen, dialektischen Prozess der Öffnung und Schließung der Kontingenz des Sozialen«214 . Als Kontingenzöffnung bezeichnet er die Praxis, »die Kontingenz von etwas sozial Gegebenem sichtbar [zu] machen und es mit anderen Möglichkeiten [zu] konfrontieren«215 . Gleichzeitig bewirkt die Öffnung dieser neuen Möglichkeitsräume (doing contingency) eine Dekonstruktion und Kritik bestehender sozialer Ordnungen (undoing order).216 Ziel und Zweck dieser Praxis ist es zwar, Kontingenz auf Dauer herzustellen, allerdings ist dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt, »denn die Kontingenz bleibt niemals auf Dauer offen«217 . Auf Phasen der Öffnung folgen so Phasen der Kontingenzschließung, die sich wieder um eine Eingrenzung der Möglichkeitsräume (undoing contingency) durch die Errichtung neuer Ordnungen (doing order) bemühen. Da die Schließung ebenfalls nur vorläufig gelingt, kommt es außerdem zu einer Verschleierung von Kontingenz bzw. einer »Kontingenzinvisibilisierung qua Universalisierung«218 , womit diese einen gleichsam hegemonialen Status 212 213 214 215 216 217 218
Alle Zitate des Satzes aus: Pröpper, Theologische Anthropologie, 45. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 86–89. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 71. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 73. Vgl. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 74. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 75. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 75–76. Das Problem der Universalisierung existiert analog auch im ethischen Bereich. Judith Butler spricht etwa davon, dass »die Ausgeschlossenen die kontingente Grenze der Universalisierung« bilden. Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen (übers. v. Kathrina Menke – Markus Krist) (Edition Suhrkamp 2414), Frankfurt a.M. 4 2013, 143.
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erlangt.219 Kaum ist dieser Status aber etabliert, werden durch ihn auch schon wieder Prozesse der Kontingenzöffnung eingeleitet, da die Errichtung einer Ordnung mit der Wahrnehmung einer Möglichkeitseinschränkung einhergeht. So läuft die Dynamik des dialektischen Prozesses von Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung unablässig fort, ohne je an ein Ende zu kommen. Was Reckwitz’ Auseinandersetzung mit Kontingenz für diese Arbeit interessant macht, ist dieses dynamische Wechselspiel von Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung, welches vergleichbar im Denken Pröppers abgebildet ist. Einerseits versucht dieser sich an einer Kontingenzöffnung, indem er die Existenz Gottes lediglich als mögliche konzipiert, andererseits gibt er sich mit der bloßen Möglichkeit Gottes nicht zufrieden, da er die Idee eines unbedingt liebenden Gottes als sinnstiftende Notwendigkeit für die Konzeption einer autonomen Ethik einführt (vgl. Kap. 3.4.2). In dem Moment aber, wo Pröpper mit der Kontingenz der Gottesrede schließt, erkennt er sie weder an, noch ist er fähig, ihr hinsichtlich der drei Formen des Umgangs mit Kontingenz im Sinne Wuchterls zu begegnen.220 Im Anschluss an die vorangegangenen Überlegungen ist es für diese Arbeit sinnvoll, einen Kontingenzbegriff zu verwenden, welcher einerseits der Dialektik der Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung gerecht wird und andererseits die Möglichkeit für Kontingenzbegegnung offenhält. Die soziologische Bestimmung nach Bourdieu im zweiten Teil zeigte primär die Bedingungen (Kontingenzschließungen) auf, denen soziale Akteur*innen des römischkatholischen Feldes unterworfen sind. Die theologische Definition nach Pröpper fokussiert dagegen auf die notwendig von Gott gesetzte Bedingung der Möglichkeit des SichVerhalten-Könnens (Kontingenzöffnung). Nimmt man nun beide Ausdrucksgestalten des Freiheitsvermögens als Autonomie und Kreativität (vgl. Kap. 3.3.3) zusammen,
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Die Verschleierung von Kontingenz ist auch ein integraler Bestandteil symbolischer Ordnungen, wie bereits Bourdieu festgestellt hat. Als scholastischen Epistemozentrismus bezeichnet er eine Geisteshaltung, welche die mitunter willkürliche Logik der Praxis systematisch zu zähmen versucht, indem so getan wird, als gäbe es zwischen Theorie und Praxis keine Widersprüche, oder als wären die Widersprüche barbarische oder vulgäre Ausformungen einer Praxis, welche die Relevanz der Theorie nicht tangierten. Einen klassischen Fall von misslungener Kontingenzbewältigung stellt daher bspw. der naturalistische Fehlschluss dar, der von kontingenten Naturgegebenheiten auf eine moralische Notwendigkeit schließt. Die naturgesetzliche Kontingenz bezeichnet also die Unvorhersehbarkeit gleichzeitig auftretender Phänomene, die nicht auf Naturgesetze rückführbar sind. Vgl. Bourdieu, Meditationen, 66. 220 Wuchterl unterscheidet drei Formen des Umgangs mit Kontingenz: (1) Kontingenzbewältigung, (2) Kontingenzanerkennung, (3) Kontingenzbegegnung. Unter Kontingenzbewältigung versteht er philosophische Erklärungsversuche, die der Meinung sind, sie könnten durch die Autonomie der Vernunft sämtliche ontologischen Kontingenzen beseitigen. Tatsächlich aber ignoriert man damit aber die Grenzen der Vernunft. Kontingenzanerkennung respektiert die Grenzen der Vernunft, was sich in der Geisteshaltung des Agnostizismus ausdrückt. Dieser versucht nicht mehr, Kontingenz zu klären, sondern schweigt in Bezug auf das Andere der Vernunft. Die Kontingenzbegegnung teilt zwar den ontischen Vorbehalt mit der Kontingenzanerkennung, lässt sich aber auch nicht davon abbringen, das Andere der Vernunft als prinzipiell möglich zu denken. Sie entwickelt eine hoffende Geisteshaltung, die Wuchterl als religiös bezeichnet, die vom Unsagbaren nicht schweigt, sondern zumindest in Metaphern spricht. Vgl. Wuchterl, Zur Aktualität des Kontingenzbegriffs, 145–146.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
bedingt Kontingenz moralische Subjektivität in gleichem Maße, wie sie sie konstituiert. Autonomie erlaubt sozialen Akteur*innen, aus der kontingenten Sozialordnung selbstbestimmt auszubrechen und sich reflexiv und agentiell zu ihr zu verhalten. Kontingenzerfahrungen ermöglichen es sozialen Akteur*innen andererseits, neue Sinnzusammenhänge und Ordnungen kreativ zu entwickeln. Kontingenz ist damit nicht einfach die Kehrseite von Freiheit, sondern ihr Komplement.221 Der formale Freiheitsanspruch bildet zum einen den Motivationsgrund für autonome und kreative Vollzüge, weil mit ihm die Hoffnung auf ein Gelingen von Freiheitsvollzügen wachgehalten wird. Zum anderen stellt Kontingenz Freiheit fortlaufend auf die Probe, weil sie den Motivationsgrund, der aus dem formalen Anspruch resultiert, immer wieder kritisch hinterfragt und dessen Alternative oder Misslingen praktisch erfahrbar macht. Als dieser kritische Gegenpart motiviert aber auch Kontingenz zu autonomem und kreativem Handeln. Von der Ethik fordert dieses kritisch-komplementäre Spannungsverhältnis von Freiheit und Kontingenz die herausfordernde Haltung der Ambiguitätstoleranz, was in Kap. 4 noch auszuführen sein wird. Als Zwischenergebnis soll für diese Arbeit die Definition des in dieser Arbeit verwendeten Kontingenzbegriffes noch einmal zusammengefasst werden, um die daran anschließenden Analysen in Kap. 3.4.4 vornehmen zu können: Kontingenz im ethischen Sinn umschreibt die der Notwendigkeit entgegengesetzte Modalität, die in einem kritisch-komplementären Verhältnis zu den Freiheitsvermögen Kreativität und Autonomie steht. Damit öffnet Kontingenz zum einen die formalen Konstitutionsmöglichkeiten moralischer Subjektivität überhaupt und schließt zum anderen zugleich die materialen Möglichkeitsbedingungen moralischen Handelns, wenn sich moralische Subjekte zu letzteren verhalten.
3.4.2. Option für Freiheit: Pröppers Plädoyer für einen autonomen Ansatz der Ethik Die zentrale Frage, die sich angesichts des komplementären Verhältnisses von Freiheit und Kontingenz nun stellen lässt, ist: Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen kann die Theologie einen Beitrag für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen leisten? Der Einleitung dieses Kapitel wird vorausgeschickt, dass die Theologie vor allem dann relevant wird, wenn sie das praktische Vermögen des Glauben-Könnens zur Vermittlung der Option für Freiheit produktiv in den ethischen Diskurs einbringt. Für den ethischen Diskurs weniger relevant sind im Gegenzug dazu spezifische Glaubensinhalte oder wie auch immer gedachte religiöse Sinnhorizonte, die angesichts des gewählten freiheitstheoretischen Paradigmas bestenfalls motivational, nicht aber geltungstheoretisch eingebracht werden können. Sinnressourcen finden Ethiken nämlich auch jenseits theologischer Deutungssysteme. Was es aber zu bedenken gilt, ist, dass alternative Sinnressourcen die je eigene doxa immer wieder kritisch in Frage stellen können. Glaube und Ethik fordern sich wechselseitig heraus und tun das umso mehr, je stärker sich ihre Sinnressourcen voneinander unterscheiden. Im Folgenden wird die unter diesen Umständen zu rechtfertigende Relevanz des Glaubens für die Ethik aufgezeigt.
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Auch Reckwitz sieht nicht die Kontingenz, sondern den Zwang als Gegenbegriff zur Freiheit. Vgl. Reckwitz – Rosa, Spätmoderne in der Krise, 74.
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Zu Beginn muss in kritischer Absetzung zu Pröpper222 betont werden, dass die Sinnhoffnung der sogenannten autonomen Moral nach Alfons Auer223 ihre Geltung nicht durch die Sinnvorgaben des Glaubens erhält. Wiederholt versucht er eben dieses Argument einzubringen, um die Relevanz des Glaubens im ethischen Diskurs aufzuwerten. Dabei steht der dreifache praktische Relevanzaufweis – Glaube als Konstitutionsgrund von moralischen Subjekten, als Motivationsgrund für ethisches Handeln und als Hoffnungsgrund der ethischen Sinnsuche – im Kapitel Die Aporien ethischer Existenz und die Sinnvorgabe des Glaubens224 geradezu im Widerspruch zu seinen eingangs erwähnten Bemerkungen zur gehaltvollen Ethik. Dort macht er nämlich darauf aufmerksam, dass der Glaube die Möglichkeit der moralischen Subjektwerdung nur dann eröffnet, wenn die Sinnvorgabe des Glaubens für die unbedingte Anerkennung des Menschen durch Gott vorliegt. Im Kapitel Plädoyer für einen autonomen Ansatz der Ethik225 schärft Pröpper zunächst die These, dass die Ethik nicht erst durch den Gottesgedanken ihre Geltung erhält, sondern dass »der Verpflichtungsanspruch des göttlichen Willens seinerseits begründungsbedürftig« ist, um »die Anerkennung des die Menschen beanspruchenden Gottes selbst noch als sittlich verbindliche«226 ausweisen zu können. Oberstes Kriterium für den Relevanzaufweis der Theologie bietet logisch damit nicht zuerst die Idee Gottes, sondern die Idee vollkommener Freiheit, an der sich die Idee Gottes zu bewähren hat. Diese freiheitstheoretische Grundentscheidung für die Ethik, die Pröpper hier auch zur Grundlage des Glaubens macht, wird allerdings nicht näher begründet und fortgeführt. Bereits wenige Seiten später verstößt er gegen diese Verhältnisbestimmung von Glaube und Ethik. Die Erfahrung, dass sich autonome Freiheit »nicht einfach selber besitzt, sondern als gegebene Aufgabe erfährt«227 , interpretiert er als schöpfungstheologischen Verweischarakter. Autonomie deutet er als »wesenhafte Hinordnung auf Gott«228 . Selbst wenn sich Gott theologisch als Schöpfer denken lässt, der die menschliche Freiheit »sich selbst übergibt und sie bedingungslos freilässt«229 , kann sie – und dies ist Pröpper zumindest bereit einzugestehen – nicht »im philosophisch-ethischen Diskurs unmittelbar geltend gemacht werden«230 . Zuvor hatte er bereits auf die zu seiner Zeit vorliegenden moraltheologischen Entwürfe einer autonomen Ethik in der Theologie verwiesen.231 Diese 222 »Nicht die Sinngewißheit moralischen Handelns begründet den Glauben, wohl aber stärkt die Sinnvorgabe des Glaubens die Sinnhoffnung der Moral.«, Pröpper, Theologische Anthropologie, 785. Diese Argumentationsproblematik lässt sich besonders in seiner Verhältnisbestimmung von Glaube und Ethik (vgl. Kap. 3.4.2) nachzeichnen. 223 Auer, Alfons, Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf 1971. 224 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 745–786. 225 Pröpper, Theologische Anthropologie, 720–744. 226 Alle Zitate des Satzes aus vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 721. 227 Pröpper, Theologische Anthropologie, 733. 228 Pröpper, Theologische Anthropologie, 733. 229 Pröpper, Thomas, Autonomie und Solidarität, in: Adrian Holderegger (Hg.), Fundamente der theologischen Ethik. Bilanz und Neuansätze (Studien zur theologischen Ethik 72), Fribourg 1996, 168–183, hier: 179. 230 Pröpper, Theologische Anthropologie, 733–734. 231 Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube; Junker-Kenny, Maureen, Argumentationsethik und christliches Handeln. Eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas.
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quittierte er allerdings mit der Aussage, dass darin »das Autonomie-Thema selbst kaum mehr forciert und nicht geltungstheoretisch verschärft«232 wird. So bleibt für ihn fraglich, »ob und wie (bzw. wie weit) die Ansprüche der christlichen Ethik denn überhaupt noch zu universalisieren und zuvor schon die doch für alle (unbedingt) normativen ›Mindeststandards‹ eigentlich in der Instanz der autonomen Vernunft ausweisbar«233 sind. Wenn aber die Idee Gottes die Relevanz der Idee der vollkommenen Freiheit nicht einsichtig macht, inwiefern kann der Glaube dann zur ethischen Entscheidungsfindung beitragen? Da weder die Behauptung, das gläubige Leben sei sinnvoller als ein nichtgläubiges, noch Gehorsamsforderungen gegenüber dem Willen Gottes die Geltung des in Anspruch genommenen Freiheitsdenkens verbürgen, sucht Pröpper einen Weg, den Glauben an Gott letztlich doch noch als relevant ausweisen zu können. Sein Fazit mündet schließlich darin, dass der Mensch sich gerade dann selbst entsprechen würde, wenn er sich von Gott im Sinn der vollkommenen Freiheit beanspruchen lässt.234 Dagegen ist kritisch einzuwenden, dass der Glaube für die Ethik nur dann Sinn, Hoffnung und Trost stiftet, wenn er bereits im freiheitstheoretischen Paradigma – das gleichermaßen den Glauben an die Moralität begründet – gedacht wird. Dabei ist es gleichgültig, ob die Sinnbegründung dieses Glaubens existenzialphilosophisch-immanent oder freiheitstheologisch-transzendental erfolgt. Für diese Art des theologischen
Zugl. Tübingen Univ. Habil. 1995 (Praktische Theologie heute Bd. 31), Stuttgart u.a. 1998; Böckle, Franz, Fundamentalmoral, München 4 1985; Goertz, Stephan, Moraltheologie unter Modernisierungsdruck. Interdisziplinarität und Modernisierung als Provokationen theologischer Ethik – im Dialog mit der Soziologie Franz-Xaver Kaufmanns. Zugl. Münster Univ. Diss. 1998 (Studien der Moraltheologie 9), Münster 1999; Hübenthal, Christoph, Grundlegung der christlichen Sozialethik. Versuch eines freiheitsanalytisch-handlungsreflexiven Ansatzes. Teilw. zugl. Tübingen Univ. Habil. 2005/2006 (Forum Sozialethik 3), Münster 2006; Mieth, Dietmar, Autonomie, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 2005, 139–148; Schockenhoff, Eberhard, Die Moraltheologie zwischen Glaubensethik und autonomer Moral. Wege zur Überwindung einer falsch gestellten Alternative, in: Kongregation für die Glaubenslehre (Hg.), L’antropologia della teologia morale secondo l’enciclica »Veritatis splendor«. Atti del simposio promosso dalla Congregazione per la dottrina della fede. Roma, settembre 2003, Vatikan Stadt 2006, 120–143. 232 Pröpper, Theologische Anthropologie, 727. 233 Pröpper, Theologische Anthropologie, 730. 234 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 731. Zudem ist zu bedenken: Was die Idee Gottes im christlichen bzw. katholischen Sinn impliziert, muss nicht unbedingt mit anderen religiösen Gottesvorstellungen übereinstimmen. Es wäre also noch einmal kritisch nachzufragen, inwiefern der spezifische Glaube an einen liebenden Gott angesichts der Pluralität von religiösen Überzeugungen überhaupt als tröstende Sinnhoffnung gelten kann. Selbst wenn an Gott geglaubt wird, ist damit keineswegs gesagt, dass dieser auch frei und liebend sein muss. So kann die Theologie die Frage nach Absurdität ebenfalls nicht abschließend beantworten, da sie die Implikationen des Gottesgedankens für jeweils nur ihre eigene Religion ausbuchstabieren kann. Die Berufung auf den Schöpferwillen Gottes oder dessen Selbstoffenbarung in Jesus Christus kann in unterschiedlichen Religionen strenggenommen sowohl als liebende Zuwendung, als auch gleichgültige oder sogar willkürliche Abwendung Gottes vom Menschen gedeutet werden. Anders formuliert bemisst sich Pröppers Gottes- und Glaubensverständnis offensichtlich an ethischen Kriterien, was eine Verhältnisbestimmung von Glaube und Ethik notwendig macht.
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wie moralischen Glaubens ist nicht allein die abstrakte bzw. theoretische Frage entscheidend: »Warum soll überhaupt moralisch gehandelt werden?«, sondern die praktische: »Wie wird moralisch gehandelt?«. Demnach erhält auf den hier besprochenen Sachverhält die Frage den Vorrang, wie man konkret für die Anerkennung intergeschlechtliche Menschen Sorge tragen kann, und nicht diejenige, warum sie theologisch einer Anerkennung bedürfen. Der Glaube an den Sinn der Ethik wird sowohl in existenzialistisch-immanenten Kategorien wie auch freiheitstheologisch-transzendentalen Kategorien zu einer Glaubensoption, oder noch besser mit den Worten Bourdieus: zu einer freiheitstheoretischen doxa235 , für die man sowohl aus existenzialphilosophischer wie theologischer Perspektive gute Gründe anführen kann. Sobald sich eine Ethiktheorie als von anderen abgrenzbar und damit als in mehr oder weniger breitem Rahmen als abgeschlossen versteht, verfügt sie nur innerhalb ihres bestehenden Reflexionsmodells über die denkerischen Möglichkeiten, ihre Ethik zu legitimieren. Verpflichtet sich also die Theologie der Option für Freiheit, gelten innerhalb ihrer Systematik dieselben ethischen Leitlinien. Die Tatsache, dass sich das Spezifikum einer theologischen Ethik auf den ersten Blick kaum von einer säkularen Ethik unterscheiden lässt, liegt also darin begründet, dass sich zwei ehemals getrennte doxa von ihren freiheitstheoretischen Voraussetzungen her stark angenähert haben. Der christliche Glaube leistet in Bezug auf das Freiheitsdenken keinen begründungslogischen Mehrwert, sondern religiöse Legitimationsarbeit. Indem die Idee Gottes mit der Idee vollkommener Freiheit gleichgesetzt wird, wird ihr im freiheitstheoretischen Paradigma Geltung verliehen. Aus ethischer Perspektive ist daher nicht die Idee Gottes für die Freiheitstheorie zwingend notwendig, sondern die Übereinstimmung seiner Vorstellung mit derjenigen der vollkommenen Freiheit. Für Gläubige wirkt eine solche Idee Gottes ebenfalls nur dann sinnstiftend und motivational in Bezug auf die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen, wenn mit ihr die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt nicht ausgeschlossen, sondern anerkannt wird. Die Legitimationsfrage für die jeweilige Sinnbegründung entscheidet sich daher am freien moralischen Subjekt, weshalb man trotz unterschiedlicher sinnbegründender Ausgangslagen zu demselben Ergebnis kommt: zur Anerkennung der Freiheit der*des Anderen um ihrer*seiner selbst willen. Auch wenn die Theologin Gunda Werner zu Recht einräumt, »dass die Unabgeschlossenheit des Subjekts zugleich mit der Unabgeschlossenheit seiner Theorie einhergeht«236 , bildet die Anthropologie gleichsam den Ankerpunkt der jeweiligen ethischen Legitimationsverläufe. Zusammengefasst ist es aus ethischer Perspektive ungleich relevanter, dass sich die Theologie dem Prinzip der Freiheit, als dass die Ethik sich der Idee Gottes verpflichtet. Eine Ethik kommt streng genommen auch ohne Gott oder transzendentale Sinnbegründungen aus, wie der Existenzialismus bereits veranschaulicht hat. Dagegen bleibt eine Theologie, so im Wortlaut Pröppers, nur dann menschlich bedeutungsvoll, wenn sie sich ausnahmslos dem Prinzip der Freiheit verpflichtet.
235 Vgl. die Erläuterungen zum Begriff der doxa unter Kap. 2.1.1. 236 Werner, Gunda, Judith Butler und die Theologie der Freiheit (Religionswissenschaft 22), Bielefeld 2021, 72.
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»Läßt sich christliche Theologie auf die Herausforderungen der Freiheitsthematik ein, bleibt sie bei ihrer Sache. Sie wird als Ganze zur Theologie der Freiheit oder besser: der Liebe, für deren Möglichkeit und Bestimmung sie als Theologie der Freiheit einsteht. Denn Liebe ist das Geschehen, indem Freiheiten sich verbinden und unterscheiden, der eine im anderen und durch ihn er selbst ist, Menschen sich ›selbst‹ mitteilen und erreichen und zugleich welthaft-wirklich bestimmen: symbolische Realität also, in der absoluter Sinn schon gegenwärtig und doch noch versprochen wird, Synthese von Freiheit und Realität, formal unbedingt und eben deshalb alle Verhältnisse prägend und auf ihre Veränderung aus, wo sie ihr widersprechen.«237 Theologie und Kirche kommt dementsprechend die Aufgabe zu, »nach realen Vermittlungsprozessen des Glaubens zu suchen, durch die Menschen in ihrer konkreten Situation sich unbedingt anerkannt und zur verbindlichen Übernahme ihrer Freiheit ermutigt fühlen«238 . In dieser Hoffnungsperspektive soll der Glaube dazu motivieren, das ethische Handeln aufzunehmen und andererseits dazu ermutigen, es auch gegen Widerstände durchzusetzen. Ohne Sinnvorgabe sei nämlich das Bewusstsein einer nicht absolut einzulösenden moralischen Verpflichtung gegenüber sich selbst und anderen auf Dauer schwer zu ertragen. Glaube schütze damit gleichzeitig vor Resignation und gnadenlosem Moralismus.239 Die Vermittlung des Glaubens hätte sich im Anschluss daran der menschlichen Selbstverpflichtung zur Freiheit zu verschreiben, ohne sie damit gleich zu überfordern, sondern die letzte Verantwortung in Gottes Hand zu legen. Natürlich lässt sich die Berufung auf die Idee vollkommener Freiheit als Ausdruck einer relativen, näherhin ethischen Kontingenzbewältigung lesen, die von der christlichen Hoffnung Pröppers getragen wird, eine Freiheitsgarantie außerhalb menschlicher Möglichkeiten zu erkennen. Wie nun aber bereits schon unter Kap. 3.3.2 angeführt, mangelt es dieser Freiheits- bzw. Liebeskonzeption an einer gewissen Erdung, weshalb sie als göttlicher Deduktionsgrund missinterpretiert werden kann, von welchem aus ethisches Handeln abgeleitet wird. Somit büßt dieses überhöhte Liebesparadigma dort an praktischer Relevanz ein, wo seine Entsprechung eine quasi-göttliche Realisierung des Freiheitsanspruches von Menschen erwarten lässt. Aufgrund der schon genannten Kritikpunkte an der transzendentalen Freiheitskonzeption wirkt es beinahe so, als könnten die Transzendentalphilosophie und das aus ihr heraus entwickelte Freiheitsdenken keinen produktiven Beitrag für die praktische Philosophie leisten. Schließlich wurde festgehalten, dass nicht ohne Freiheit zuvor zu setzen geklärt werden kann, ob der Mensch frei und damit für sein Handeln überhaupt verantwortlich sein kann. Wie sich daran anschließend im vorhergehenden Kapitel zur Kontingenzdefinition gezeigt hat, optiert die Theologie in den meisten Fällen für eine relative Begründung von Kontingenz. Gott wird in diesem Zusammenhang zur sinnstiftenden Instanz für menschliches Leben, das sich dennoch selbst aufgegeben ist. Wenn Pröpper also im Anschluss an sein Plädoyer für einen autonomen Ansatz der Ethik die Verhältnisbestimmung von Glaube und Ethik untersuchen will, setzt er darin immer schon die
237 Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 125. 238 Pröpper, Theologische Anthropologie, 756. 239 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 768–772.
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Idee der vollkommenen Freiheit voraus und identifiziert diese mit dem christlichen Gottesgedanken. Nur vor dem Hintergrund einer spezifisch christlichen Glaubensentscheidung also wird seine Position überhaupt ethisch relevant. Selbst die grundlagentheoretische Frage, was moralisches Handeln eigentlich auszeichnet, oder worin Moralität genau besteht, kann dann nicht mehr ohne für die bereits optierte Glaubensperspektive ausgewiesen werden. Glaube und Ethik verschmelzen hier zu einer Denkform, die sich selbst als sinnstiftend ausweisen will: Der christliche Glaube bei Pröpper ist damit immer schon eine gewisse Form freiheitstheoretischer Ethik. Wie entlang von Krings’ Argumentation erläutert wurde (vgl. Kap. 3.3.4), lässt sich der Widerspruch der Freiheit aber nicht einfach mit der Idee Gottes auflösen. Er bleibt, paradoxerweise, konstitutive Voraussetzung für eine Ethik, die sich dem Freiheitsprinzip verpflichtet. Begreift man das freiheitstheologische Paradigma aber als ethisches Paradigma, dann liegt seine Relevanz in der praktischen Bewährung eben dieses Paradigmas im Gegenüber zu einem Denken, das Freiheit und die aus ihr resultierende moralische Verantwortung kategorisch ablehnt. Nur in diesem Denkrahmen kann es überhaupt eine formale Geltung beanspruchen, was nicht bedeuten muss, dass es nicht auch Theorien geben kann, die sich mit einer materialen Geltung begnügen (Existenzialismus, Konsequentialismus, Funktionalismus etc.). Dennoch kann die Option für Freiheit im Letzten nicht garantieren, dass ethisches Handeln im transzendentalphilosophischen Sinn tatsächlich sinnvoll ist, weil es aufgrund epistemologischer Grenzen der Vernunft die Frage nach einem letzten Grund (bzw. theologisch formuliert) der Existenz Gottes nicht klären kann.240 Das Vertrauen in die Idee der vollkommenen Freiheit schafft aber in seiner Voraussetzung einer äußeren Notwendigkeit einen relativen Geltungsraum, innerhalb dessen moralisches Handeln als möglich und notwendig gedacht werden kann. Die Relevanz der Option für Freiheit für die Theologie liegt also nicht in deren näheren gehaltlichen Fortbestimmung durch den christlichen Glauben, sondern im Denken der Freiheit als Fähigkeit zu einem autonomen wie kreativem Sein, das sich zur Bejahung des Seins anderer Freiheit um ihrer selbst willen verpflichtet weiß. Fehlt die Option für Freiheit und mit ihr der ethische Anspruch, andere Freiheit um ihrer selbst willen anerkennen zu sollen, lassen sich theologisch kaum Argumente anführen, warum intergeschlechtlichen Menschen Anerkennung zuteilwerden soll und deren Diskriminierung zu verhindern ist. Zu beachten ist freilich, dass die Thematik geschlechtlicher Identität zudem auch keine genuin theologische ist. Was die Theologie in eine freiheitstheoretische Ethik einbringen kann, ist ihre Reflexion über die praktische Dimension des Glaubens, näherhin das Glauben-Können als Vermögen und das Glauben als praktischen Vollzug. Die Option für Frei240 Hiervon sind noch einmal säkulare Sinnbegriffe abzugrenzen, die Sinn nach immanenten und funktionalistischen Kriterien bemessen. Vgl. dazu etwa: »Es lässt sich für beide Perspektiven mit rationalen individualethischen Gründen werben, aber es gibt keine logisch zwingenden Argumente für die eine oder andere Lebensform. Die immanente Möglichkeit der Sinnstiftung und des Gelingens und Glückens menschlichen Lebens ohne Transzendenzbezug sollte von religiösen Menschen genauso anerkannt werden, wie umgekehrt von Atheisten zugestanden werden müsste: Die Gewissheit, in einem übergreifenden transzendenten Sinnhorizont eingebettet zu sein, trägt zum individuellen Glück bei, indem es die Gläubigen trägt, ihnen Mut und Vertrauen gibt und der eigenen Wenigkeit eine besondere Bedeutung verleiht.«, Fenner, Dagmar, Religionsethik. Ein Grundriss (Ethik Band 12), Stuttgart 2016, 110.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
heit ergreifen zu können und sich für sie als kriteriologischen Maßstab ethischer Reflexion zu entscheiden, erfordert die Kompetenz der Ambiguitätstoleranz, die gerade in theistischen Glaubenssystemen besonders herausgefordert wird. Das Denken Gottes als den Jenseitigen, Unbegreiflichen und Entzogenen, der sich doch im Diesseits begreifbar und nahbar macht, fordert ein gewisses Maß an eben jener praktischen Fähigkeit, Widersprüche, Doppeldeutigkeiten, Vielfalt und Komplexität auszuhalten, die auch von einer Ethik verlangt wird. Bereits im zweiten Teil dieser Arbeit wurde entlang Bourdieus Inkorporationsthese der Zusammenhang körperlicher Praxis mit dem religiösen Glauben aufgezeigt (vgl. Kap. 2.2.4.1). Da der praktische Glaube – konkreter: die doxa des religiösen Feldes – als ein »Zustand des Leibes«241 zu charakterisieren ist, umfasst er mehr als eine spirituelle Gemütslage oder willentliche Anerkennung gestifteter Dogmen und Lehren. Wie jede andere körperliche Disposition, muss der Glaube angeeignet, praktisch vollzogen und – wenn nötig – an veränderte Bedingungen adaptiert werden. In dieser Form ist religiöser Glaube auch als eine bestimmte Form von Kontingenzbewältigungspraxis zu verstehen und darf diese Bestimmung getrost für sich in Anspruch nehmen. Der christliche Glaube, wenn er nicht fundamentalistisch ausgeprägt ist, vermittelt zwischen dem Anspruch und der Realisierung der Offenbarung Gottes. Als solcher ist er nie abgeschlossen, sondern auf eine ambiguitätstolerante Haltung – wie sie etwa Pröpper mit dem Zweifel als Methode vorschlägt242 – verwiesen. Im besten Fall fühlen sich Kirche und Theologie daher für den Glaubensvollzug und das Glaubensvermögen der gesamten Gesellschaft und nicht nur der Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaft verantwortlich und befördern eine kontingenzsensible und gleichsam ambiguitätstolerante Glaubensverantwortung243 , die das soziale Miteinander trotz ambiger Wissens- und Wahrheitsgehalte ermöglicht. Tritt sie darüber hinaus für die Option für Freiheit ein, übernimmt sie zudem ethische Verantwortung für das Gelingen des sozialen Miteinanders innerhalb des römisch-katholischen Feldes. Umgekehrt ist der religiöse Glaube, wie eingangs festgehalten wurde, aber ebenfalls an ethischen Kriterien zu bemessen. Es bedarf folglich einer reflexiven Haltung, welche die in der Kontingenz angelegte Potentialität alternativer Deutungen in der ethischen Theoriebildung und Beurteilung konstitutiv zulässt und die Einbettung und Verkörperung von ethischen Prämissen, Theorien u.v.m. berücksichtigt. Um die spezifischen Ressourcen des praktischen Vermögens und Glaubensvollzugs einer Religion nutzen zu können, muss die Theologie zusätzlich zum Freiheitsbewusstsein daher auch ein Kontingenzbewusstsein entwickeln.
241 Bourdieu, Sozialer Sinn, 126. 242 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 49. 243 Vgl. Lerch, Magnus, Wenn ohne Gott nichts fehlt. Religiöse Indifferenz als Herausforderung systematischer Theologie, in: IKaZ 50 (2021) 4–21, hier: 13–14. Am Beispiel religiöser Indifferenz zeigt Magnus Lerch auf, dass nicht so sehr entscheidend ist, ob und was geglaubt wird, sondern dass die Potentialität des Glaubens nicht per se ausgeschlossen werden darf. Es sollte möglich sein zu glauben, es sollte aber auch keine Verpflichtung dazu geben.
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3.4.3. Verkörperung und Einbettung: Entfaltungspotentiale des corporeal und material turn in der theologischen Anthropologie Wovon ist konkret abhängig, dass sich ein moralisches Subjekt affirmativ zur Option für die Freiheit verhält und damit in weiterer Folge für die Idee unbedingter Anerkennung eintritt? In Kapitel 2.4 konnte aufgezeigt werden, dass die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld eine umfassende Integration freiheitstheoretischer Einsichten auf unterschiedlichen Ebenen notwendig macht. In Kap. 3.1 hat sich gezeigt, dass bisherige theologische Entwürfe, die für eine Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen optieren, nur wenig Potential für die Umsetzung eines Anerkennungsprogrammes bieten, weil sie ihre Argumentationen den eigenen religiösen Traditionen entlehnen. Wie auch der Dogmatiker Hans Joachim Sander hege ich »leise Zweifel, ob letztbegründende oder erstphilosophische theologische Rationalitäten aus dem Zustand der societas-perfecta-Identifizierung von Kirche und Theologie hinausgekommen sind, weil diese ja behauptet hat, alles, was nötig ist, aus sich selbst heraus zur Verfügung zu haben«244 . Auch die in Kap. 3.2 vorgestellte und in Kap. 3.3 kritisch reflektierte theologische Anthropologie von Thomas Pröpper weist ebendort Merkmale der römisch-katholischen Feldbegrenzung auf, wo es um die Integration realer und praktischer Möglichkeitsbedingungen von Freiheit geht. Handlungsmacht gegenüber diesen inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Gewaltformen sind folglich jenseits der Grenzen des Feldes zu suchen, was mit der Option für Freiheit bei Pröpper bereits angedeutet ist. Die Integration intersektionaler Perspektiven könnte hier aber gelingen, weil seine Theologie und Ethik zuvorderst den Glauben an die Freiheit und nicht an einen normativen theologischen Gehalt voraussetzen. Außerdem konnte hinsichtlich der Bedeutung der Theologie für die praktische Dimension des Glaubensvollzugs und Glaubensvermögens gezeigt werden, worin ihr spezifischer Beitrag für die Ethik bestehen kann: Sie kann die praktische Erfahrung der geforderten Ambiguitätstoleranz gegenüber vielfältigen und ambigen Gottesvorstellungen in ethische Diskussionen einbringen, die ebenfalls einer einfachen und eindeutigen Antwort entbehren. Aus diesem Grund bietet die Theologische Anthropologie Pröppers einen nicht zu unterschätzenden Anknüpfungspunkt für die Anerkennung von intergeschlechtlichen Personen innerhalb des römischkatholischen Feldes. Die Transzendenz Gottes zu wahren, dagegen aber die Möglichkeit seines immanenten Wirkens nicht auszuschließen, ist übertragbar auf die Haltung, inwiefern die vollumfängliche Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen in der heutigen und künftigen Gesellschaft möglich sein kann. Der Glaube an die Freiheit und gleichsam deren Option hält diese Hoffnung wach, selbst wenn keine empirische Gewissheit besteht, dass der Kampf um Anerkennung tatsächlich Erfolg verspricht. In Ergänzung zu Pröpper bedarf es einer kontingenzsensiblen Entfaltung seiner Theorie, um die Realisierungsbedingungen und -möglichkeiten praktischer Freiheit be-
244 Sander, Hans-Joachim, Die Dreideutigkeit von Zeit und Raum und die Eindeutigkeit Gottes. Das topologische Identifizierungsproblem der Theologie, in: Martin Dürnberger u.a. (Hgg.), Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart (ratio fidei 60), Regensburg 2017, 87–108, hier: 93.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
nennen zu können, anstatt sie nur – sowohl theoretisch als auch methodisch – unscharf unter dem Begriff der Kontingenz zu versammeln. Dabei sollen die zugleich freiheitseinschränkenden und freiheitsermöglichenden Faktoren menschlicher Kontingenz benannt werden, welche den Handlungsspielraum für den Anspruch unbedingter Anerkennung darstellen. Der beständigen Dynamik sozialer Interaktionsprozesse wird man hiermit insofern gerecht, als der ethische Anspruch für die unabschließbaren Freiheitsforderungen sich verändernder Gesellschaften einerseits offen gehalten wird. Auf diese Weise soll andererseits deutlich werden, dass soziale Akteur*innen den sie umgebenden Strukturen nie völlig unterliegen, sondern sie sich diese vielmehr zu Nutzen machen können, um das dynamische Wechselspiel von Herrschaft und Unterdrückung immer wieder am Kriterium der Freiheit auszuloten. Nimmt man also die Freiheitsbedingungen unter den von Pröpper angedeuteten Aspekten ernst, so muss auf eine Theorie zurückgegriffen werden, welche die Prozesse von Verkörperung (embodiment) und Einbettung (embeddedness) ausreichend berücksichtigt und autonom und kreativ mit ihnen umgehen kann. Für die Subjektphilosophie hat diese kontingenzsensible Herangehensweise folgende Konsequenzen: »Subjektwerdung kann also nicht nur als fragliche Freiheit, sondern auch als ermächtigte Freiheit gedacht werden, denn die zweite Perspektive betont die andere Seite der Subjektivation.«245 Tatsächlich scheinen christliche Anthropologien über Jahrhunderte hinweg eher dualistischen Tendenzen gefolgt zu sein, was die Verhältnisbestimmung von Leib und Seele, Geist und Körper betrifft. So lässt sich feststellen, »dass dem Gros der Theorien zu Kognition und Geist eine Körpervergessenheit und teilweise sogar Körperverachtung anhaftet«246 , die den autonomen Vernunftgedanken zur Kontrollinstanz gegenüber der Willkür des Körperlichen erhebt. Die Einflüsse des Manichäismus, Marcionismus und Gnostizismus führen dazu, dass in der jüdisch-christlichen Tradition das ursprünglich verkörpert gedachte Gottesbild gänzlich von den Dimensionen des Körperlichen abgegrenzt wird.247 Wie die Ethikerin Regina Ammicht-Quinn konstatiert, bewegt sich die theologische Leib-Seele-Debatte vorwiegend »zwischen biblischen Ganzheitsvorstellungen und einem platonisch-neuplatonischen Dualismus«248 . Anthropologisch wirkt sich dies dramatisch aus: Körperlichkeit und mit ihr alle weiteren Bereiche wie Sexualität, Lust und Begehren werden abgewertet und der Sphäre des Sündigen zugerechnet. Wenn man aber davon ausgeht, dass »Verkörpertheit eine grundlegende und notwendige Bestimmung menschlicher Freiheit«249 ist, dann muss der Freiheitsbegriff auch in den Kategorien des Körperlichen seinen Platz finden können. Allein gerade dies scheint die größte Schwierigkeit in der aktuellen Debatte zu sein. Die Begrifflichkeiten 245 Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit, 104. 246 Fingerhut, Jörg u.a., Was ist Philosophie der Verkörperung?, in: Dies. (Hgg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2060), Berlin 2013, 9–104, hier: 18. 247 Vgl. Nikkel, David, A Theory of Embodied Nature of Religion, in: The journal of religion (2019) 137–172, hier: 155. 248 Ammicht Quinn, Regina, Körper – Religion – Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter, Mainz 1999, 31. 249 Schlette, Magnus, Verkörperte Freiheit. Praktische Philosophie zwischen Kognitionswissenschaft und Pragmatismus, in: Ethik und Gesellschaft 1 (2015) 1–23, hier: 19.
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embodiment und embeddedness werden in den wenigen theologischen Beiträgen, die sich damit beschäftigen, meist ohne explizite Verortung und systematische Integration aus der theoretischen Vielfalt der Philosophien der Verkörperung entlehnt.250 Ausnahmen hierzu bilden einige wenige Veröffentlichungen.251 Diese beschränken sich nicht nur auf den Hinweis, dass Leiblichkeit in theologischen Denksystemen mangelhaft berücksichtigt wird, sondern führen Verkörperung und Einbettung als zentrale Kategorien in das theologische Denken ein. Was aber genau meinen die Begriffe Körperlichkeit und Verkörperung in diesem Zusammenhang und wie stehen sie in Verbindung mit dem Phänomen der Einbettung? Die zentrale Annahme der Philosophien der Verkörperung ist, »dass sowohl die kognitiven als auch die geistigen Zustände und Prozesse von Lebewesen – insbesondere auch von uns Menschen – intrinsisch verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind«252 . In Abgrenzung zu René Descartes wird der Körper hier nicht nur zum instrumentalen Objekt der Erkenntnis, sondern gleichermaßen zum konstitutiv erkenntnisgenerierenden Subjekt bestimmt.253 Besonders die Phänomenologie Edmund Husserls und die Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys haben sich hier als reichhaltige Quellen für den Verkörperungsdiskurs erwiesen. Darüber hinaus wurden Erkenntnisse des amerikanischen Pragmatismus, namentlich vertreten durch Charles Peirce, William James und John Dewey, für die Debatte prägend, da man mit ihnen auch einen philosophischen Zugang zur Empirie von Körpern gefunden hatte. Hiervon übernimmt man erkenntnistheoretische Einsichten, wie etwa, dass Menschen die Wirklichkeit durch die Auswahl dessen, was sie für bedeutsam oder wichtig halten, konstruieren. Damit grenzt sich der Pragmatismus von radikalkonstruktivistischen Ansätzen ab, die der Materie überhaupt keinen ontologischen Eigenwert mehr beimessen. Des Weiteren konstatiert man, dass das Wesen einer Bedeutung nur mit Bezug auf die Handlung erklärt werden kann; dass Körperhandlungen auch ohne Kommunikation im engen Sinn bedeutsam sein können; und dass die Kognition nicht einfach einem simplen Reiz-Reaktions-Schema folgt, sondern interaktivistisch aufgefasst werden muss.254 Die Auseinandersetzung mit den naturalistisch geprägten Wissenschaftsformen wie den Kognitionswissenschaften und den kognitiven Neurowissenschaften haben schließlich dazu geführt, deren kausale Verhältnisbestimmung von kognitiven Zuständen und materiellen Korrelaten kritisch zu hinterfragen. Auffällig dabei ist, dass das Phänomen der Einbettung in der Philosophie der Verkörperung nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, da es meist nicht systematisch entfaltet wird. Der neue Materialismus, der eher den Science and Technology Studies zugerechnet wird, ist es schließlich, welcher die Verkörperung noch einmal in einen breiteren Zusammenhang mit deren
250 Vgl. hierzu etwa folgende Beispiele: DeFranza, Sex Difference in Christian Theology; Lawler – Salzman, Sex, Gender, and Intersex; Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit. 251 Vgl. Etzelmüller, Gregor – Weissenrieder, Annette (Hgg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie (Theologische Bibliothek Töpelmann Band 172), Berlin – Boston 2016; Rieger, Hans-Martin, Leiblichkeit in theologischer Perspektive, Stuttgart 2019. 252 Fingerhut u.a., Was ist Philosophie der Verkörperung?, 9. 253 Vgl. Fingerhut u.a., Was ist Philosophie der Verkörperung?, 22. 254 Vgl. Fingerhut u.a., Was ist Philosophie der Verkörperung?, 36–38
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Einbettung in Raum und Zeit denkt. Er will den »Körperzentrismus«255 der Philosophie der Verkörperung überwinden und damit die darin vorherrschende Spannung auflösen, dass der menschliche Körper entweder als besonderer Beitrag zur Erkenntnis, oder als Teil eines größeren erkenntnisgenerierenden Mechanismus zu charakterisieren sei.256 Dabei hat die Philosophie der Verkörperung diesen material turn mit ihren Fragen zur Einbettung des Geistes sicherlich entsprechend vorbereitet. Insbesondere die Arbeiten der Physikerin Karen Barad, welche Materialität in Anlehnung an die Quantentheorie von Niels Bohr257 dynamisch und variabel versteht und ihr zugesteht, »›agentiv‹ an Erkenntnisprozessen und an jeweils unterschiedlichen Materialisierungen beteiligt«258 zu sein, zeigen auf, dass Handlungsmacht weder allein auf die soziale Sphäre (Michel Foucault) oder die Sprache (Judith Butler) beschränkt werden kann und dass der Begriff der Alterität (Emmanuel Lévinas) dementsprechend nicht nur auf menschliche Subjekte reduziert werden darf. In der Annahme, dass Ethik, Erkenntnis und Sein material miteinander verflochten sind, bereitet sie eine Philosophie vor, welche die radikale »Kontingenz und Kontextabhängigkeit des Seienden«259 ernst nimmt und sie nicht durch simple Dualismen zu durchbrechen versucht. Diese relationale Denkweise Barads – fußend auf dem Begriff der Intraaktion – bestimmt die Relata einer Beziehung (z.B. Subjekt-Objekt) daher nicht metaphysisch, sondern von ihrer Relation her. Wenn sie davon spricht, dass Materie intraaktiv ist, dann meint sie damit Folgendes: »Die Materie ist weder fest und gegeben noch das bloße Endergebnis verschiedener Prozesse. Materie wird produziert und ist produktiv, sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen. Wenn etwas wichtig ist, dann wird es von anderem unterschieden, und diejenigen Unterschiede, die bedeutsam werden, erlangen ihre Bedeutsamkeit durch die iterative 255 Clark, Andy, Das Fleisch in die Mangel nehmen. Eine Spannung in den Theorien des verkörperten und eingebetteten Geistes, in: Jörg Fingerhut – Rebekka Hufendiek – Markus Wild (Hgg.), Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2060), Berlin 2013, 434–464, hier: 442. 256 Vgl. Clark, Das Fleisch in die Mangel nehmen, 437. 257 Karen Barads Bewertung seiner Theorie für ihren Ansatz liest sich wie folgt: »Niels Bohr erhielt den Nobelpreis für sein Quantenmodell des Atoms, das den Beginn seiner bahnbrechenden Beiträge zur Entwicklung der Quantentheorie markiert. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Bohr in einer verblüffenden Umkehrung des Schemas seines geistigen Ahnherrns die atomistische Metaphysik ablehnt, die ›Dinge‹ für ontologisch fundamentale Entitäten ausgibt. Für Bohr haben die Dinge keine vorgegebenen bestimmten Grenzen oder Eigenschaften, und Wörter haben keine vorgegebenen bestimmten Bedeutungen. Bohr stellt auch den verwandten cartesischen Glauben an die vorgegebene Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Erkennendem und Erkanntem in Frage. Tatsächlich stellt Bohrs Philosophie-Physik nicht nur eine radikale Herausforderung für die Newtonsche Physik dar, sondern auch für die cartesische Erkenntnistheorie und ihre repräsentationalistische triadische Struktur von Wörtern, erkennenden Subjekten und Dingen.«, Barad, Agentieller Realismus, 583. 258 Lemke, Thomas, Einführung, in: Susanne Bauer – Torsten Heinemann – Thomas Lemke (Hgg.), Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Mit zahlreichen Abbildungen (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2193), Berlin 2 2020, 551–573, hier: 563. 259 Lemke, Einführung, 570.
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Produktion verschiedener Unterschiede. Sich verändernde Muster von Unterschieden sind weder reine Ursache noch reine Wirkung; vielmehr sind sie das, was eine kausale Struktur bewirkt oder vielmehr verwirklicht, wodurch Ursache und Wirkung voneinander unterschieden werden. Muster von Unterschieden ändern sich nicht nur in Raum und Zeit; die Raumzeit ist eine Verwirklichung von Verschiedenheit, eine Methode der Herstellung/Markierung des Hier und Jetzt.«260 Der Begriff der Intraaktion umfasst diese wechselwirkenden, relationalen Prozesse und umschreibt das im vorangegangenen Zitat beschriebene, wechselseitig agentielle Verhältnis von Handlungsmodus und Handlungsprodukt zueinander. Damit wird der Begriff der Intraaktion anschlussfähig an das Habituskonzept bei Bourdieu, dessen Bestimmung ebenfalls eine relationale Betrachtungsweise einfordert. Der Unterschied zum Habitusbegriff ergibt sich dadurch, dass der Intraaktionsbegriff von Barad den Fokus auf den Prozess der Materialisierung legt. Bourdieu interessieren im Unterscheid dazu eher die dahinterliegende Sozialstruktur und die in ihnen agierenden sozialen Akteur*innen. Die Intraaktion kann in Bezug auf das Habituskonzept als agentieller Prozess beschrieben werden, der die Strukturierung des Habitus zu einem Netzwerk von sich wechselseitig bedingenden Dispositionen vornimmt. Dennoch geht der Intraaktionsbegriff noch weiter und beschränkt sich nicht allein auf die soziale Sphäre, sondern bezieht sich auf Materialisierungsprozesse im Allgemeinen. Die gesamte und nicht nur soziale Welt wird »als offener Prozess der Materialisierung und Relevanzbildung«261 charakterisiert, in welchem auch Raum-Zeit-Topoi für die Materialisierung relevant werden. Hinsichtlich der Integration raumzeitlicher Kategorien stellt diese Denkungsart der Verkörperung/Materialisierung und Einbettung tatsächlich eine erkenntnistheoretische Ausweitung dar, die in philosophischen Entwürfen zur Verkörperung und Einbettung bisher kaum systematisch ausgearbeitet vorliegt. Es fordert, wie auch schon bei Bourdieu angedeutet, ein relationales und in Folge ein ambiguitätstolerantes Denken (vgl. Kap. 3.5), das mit homologen Oppositionen bricht. Für die Religionswissenschaft und Theologie wird der material turn gleichermaßen bedeutsam eingeschätzt: »Materially speaking, religions are both socially embedded and physically embodied, and so the material turn in the study of religion should also take into account the role of bodies with their specific capacities and evolutionary history.«262 Mit dem material turn in der Ethik wird das Moment der Transzendenz bereits in der Immanenz verortet, nämlich vor dem Hintergrund der Unhintergehbarkeit personal-raum-zeitlicher Kontingenz. Das moralische Subjekt geht der moralischen Handlung weder a priori voraus, noch macht die moralische Handlung das Subjekt zu einem moralischen. Vielmehr entstehen moralisches Subjekt und moralische Handlung gleichursprünglich in der Intraaktion der Subjekt-Objekt-Relation. Für die ethische Reflexion bedeutet dies, dass der mit der moralischen Subjektwerdung verflochtene Handlungsspielraum an den mit dem Subjekt in Beziehung stehenden Korrelaten zu bemessen ist. Parallel zu diesem Denken
260 Barad, Agentieller Realismus, 581. 261 Barad, Agentieller Realismus, 588. 262 Schilbrack, Kevin, The Material Turn in the Academic Study of Religions, in: The journal of religion 99/2 (2019) 219–227, hier: 222.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
lässt sich auch die Relation der immanent-reflexen Transzendenz263 bei Pröpper begreifen (vgl. Kap. 3.2.4), welche sein Freiheitsdenken bestimmt. Daraus lässt sich schließen: Was moralisch geboten ist und wie daraufhin gehandelt werden soll, ist hinsichtlich Person, Raum und Zeit kontingent. Deswegen erscheint es plausibel, »Leiblichkeit im Rahmen einer mehrdimensionalen Anthropologie zu reflektieren«264 , um konzeptuelle Dichotomien als Polaritäten begreifbar zu machen.
3.4.4. Entfaltung einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld In Anlehnung an die philosophischen Vorüberlegungen zur formalen Freiheit bei Pröpper, die Inkorporationsthese von Bourdieu und die Einsichten des material turn beschreibt dieses Kapitel die Grundlagen einer kontingenzsensiblen Anthropologie, die auf dem dafür erarbeiteten Kontingenzbegriff fußt (vgl. Kap. 3.4.1). Die hier vorgeschlagenen Differenzierungskriterien dienen damit als methodologische Leitlinie für die Untersuchung der Anerkennungsstruktur des römisch-katholischen Feldes, welches sich personal verkörpert und in räumliche und zeitliche Dimensionen265 eingebettet ist. Diese Reflexionen sind deshalb relevant, weil man mit der Reflexion über Subjekte und ihrer Entstehungsbedingungen zugleich veranlasst, »über die Frage nachzudenken, welchen Stellenwert und welchen Handlungsspielraum ein Subjekt im bestehenden System (sei es Politik, Religion, Gesellschaft) hat«266 und welche Anerkennung ihm aufgrund dessen zukommt. Die einem Menschen zugeschriebene Anerkennung ist das Handlungsprodukt eines dynamischen Anerkennungsprozesses, welche die Positionalität eines Subjektes im Sozialraum unabhängig seiner beständigen Veränderung bestimmt. Anerkennung kann daher als personale Kontingenzbewältigungsstrategie charakterisiert werden: Sie setzt sich je nach den ihr vorausgesetzten Postulaten und ethischen Prinzipien äußere Notwendigkeiten, unter denen bestimmte Existenzmöglichkeiten einen relativen Wert innerhalb eines Sozialgefüges zugesprochen bekommen. Diesen relativen Wert erhält das 263 Zur Erinnerung dazu, wie nach Pröpper die immanent-reflexe Transzendenz zu bestimmen ist, sei noch einmal folgendes Zitat angeführt: »Das als immanent-reflexe Transzendenz formal beschriebene Ich ist keineswegs das Reflexionsprodukt eines zuvor schon konstituierten Ich, sondern das eben in dieser Form sich allererst konstituierende Ich.« Pröpper, Theologische Anthropologie, 555. 264 Rieger, Leiblichkeit in theologischer Perspektive, 70. 265 Besonders die zeitliche Dimension wird in vielen Anthropologien erstaunlich konsequent vernachlässigt. Während die Eingebundenheit von Personen in ein bestimmtes räumliches Umfeld, meist mit Kultur gleichgesetzt, oft noch Beachtung findet, werden die Auswirkungen von zeitlicher Kontinuität, Diskontinuität und Iterabilität theoretisch kaum berücksichtigt. Die Dreidimensionalität der Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft benennt abstrakte Unverfügbarkeiten, die losgelöst vom moralischen Subjekt dem Verdacht der Willkürlichkeit unterliegen. Zeit ist aber biographisch immer schon eine angeeignete Daseinskategorie, die gleich wie die Dreidimensionalität des Raumes subjektivierend und subjektiviert vorliegt. Die Begrenzung dieser Dimensionen auf die subjektivierten Kategorien, wie es etwa Sander unter den Begrifflichkeiten espace perçu, espace conçu, espace vécu vornimmt, ist m. E. daher unzureichend. Vgl. Sander, Die Dreideutigkeit von Zeit und Raum und die Eindeutigkeit Gottes, 91. 266 Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit, 74.
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Subjekt durch die externe Zuschreibung und Würdigung individuell verkörperter Dispositionen, die im Sozialraum kollektiv Anerkennung finden. Entsprechen diese verkörperten Dispositionen den Wertvorstellungen des Sozialraums nicht, kann es seine Anerkennung durch weitere Kapitalien erwirken, die innerhalb aber auch außerhalb des Sozialraums liegen. Nun hängt es von der theoretischen Grundlage des Anerkennungskonzeptes ab, für wie notwendig es der Sozialraum hält, diesen Wert als definitiv bzw. absolut zu erklären. Je statischer und eindeutiger dieser konzipiert ist, desto eher übernimmt der Anerkennungsprozess Distinktionsfunktionen. Je breiter der Rahmen abgesteckt ist, desto dynamischer und vielfältiger gestalten sich im Anschluss daran auch Anerkennungsprozesse. Geht man nun von einer kontingenzsensiblen Anthropologie aus, welche die Positionalität eines Menschen zusätzlich zu den personalen Umständen auch in Abhängigkeit zu räumlichen und zeitlichen Umständen bestimmt, werden weitere kontingente Umstände in das gleichsam moralische Urteil der Anerkennung einbezogen. Von realer Anerkennung kann dann aber im Umkehrschluss nur gesprochen werden, wenn der im Rahmen der Anerkennungsstruktur relative Wert eines Menschen in allen Dimensionen Wertschätzung erfährt. Formallogisch vorausgesetzt ist dabei, dass der absolute Wert eines Menschen in der Freiheit besteht, sich zu diesen Dimensionen autonom und kreativ ins Verhältnis setzen zu können. Wird die Option für Freiheit nämlich nicht im Anerkennungsgeschehen mitgedacht, dann wird es schwer, ihm eine Notwendigkeit und weiters moralische Bedeutung zuzusprechen. Das bedeutet näherhin, auch die Bedingungen und Möglichkeiten von Anerkennung als kontingent anzunehmen, denn diese sind wie auch die Subjekte, auf die sich die Anerkennung bezieht, selbst in kontingente Verhältnisse eingebettet. Nur dann wird denkbar, Anerkennung auch dort als möglich anzusehen, wo ihr noch kein Platz eingeräumt wurde oder eingeräumt werden konnte. Obwohl also, wie im zweiten Teil dieser Arbeit analysiert, das römisch-katholische Feld als Ganzes aufgrund des institutionalisierten religiösen Kapitals zu einer binär konzipierten Geschlechteranthropologie tendiert, bedeutet das nicht, dass dies weiterhin so bleiben muss. Intergeschlechtlichen Menschen ihre Anerkennung zu verwehren, weil die Zweigeschlechterordnung angeblich immer schon existiert habe und dies ein unverbrüchlicher Grundsatz des christlichen Glaubens sei, ist im kontingenzsensiblen Paradigma nicht haltbar: Tradition ist veränderlich wie veränderbar und auch die an sie geknüpften Anerkennungsstrukturen, zu denen sich moralische Subjekte frei – autonom und kreativ – verhalten können. Dementsprechend prüft diese reflexive Grundhaltung einer kontingenzsensiblen Anthropologie soziale Verhältnisse unablässig daraufhin, inwieweit der Möglichkeitsraum von Notwendigkeitsrahmen eingeschränkt wird, wie starr man bspw. an vermeintlich absoluten Werten festhält, die zur Distinktion bzw. zur Aberkennung führen. Was diese Art der Untersuchung liefert, sind vielfältige Momentaufnahmen errungener oder verweigerter Anerkennung und deren Alternativen. Inwiefern die Analyse der Vielfalt von Verkörperungs- und Einbettungsprozessen in Person, Raum und Zeit dafür eingesetzt werden kann, intergeschlechtlichen Menschen im römisch-katholischen Feld mehr Anerkennung einzuräumen, soll in den nachfolgenden Unterkapiteln dargestellt werden.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
3.4.4.1. Verkörperung von Anerkennung in die personale Dimension – Intersubjektivität Bevor die Verkörperung von Anerkennung in die personale Dimension beschrieben werden kann, scheinen ein einige Begriffsklärungen notwendig. Der Personenbegriff dient der dimensionalen Abgrenzung von Raum und Zeit. Als solcher ist er ein transzendentallogischer Begriff, der unabhängig von den Prozessen der Verkörperung und Einbettung denkbar, aber in concreto nicht analysierbar ist, da er die transzendentallogische Voraussetzung des Subjektgedankens darstellt. Unter Person ist daher ein zu sich im formalen Sinn freigesetztes Wesen in Anlehnung an die Bestimmung des formalen Freiheitsbegriffes bei Pröpper zu verstehen. Der hier verwendete Personenbegriff repräsentiert damit die Unverfügbarkeit der transzendentallogischen Voraussetzung und setzt die Option für Freiheit als Postulat voraus. Gerechtfertigt ist dies durch die praxeologische Angewiesenheit der Ethik auf freie Moralität. Da Moral ein freies Verhältnis zu ihr voraussetzt, kann eine Ethik nicht anders, als den Personenbegriff in Anspruch zu nehmen.267 Als Subjekt wird hier in Anlehnung an Bourdieu die konkret in Raum, Zeit und Gesellschaft eingebettete und verkörperte Existenz bezeichnet, die an den Prozessen der Einbettung und Verkörperung durch ihr Verhalten268 selbst mitwirkt. Der Subjektbegriff umfasst folglich gleichermaßen den Personenbegriff und den Identitätsbegriff. Vom Subjekt- und Personenbegriff soll nochmals die existenzielle Kategorie der Identität unterschieden werden. Als Identität wird hier die habituelle Abgrenzung eines Ich vom Wir benannt. Hierzu zählen Reflexion, Emotion und Kognition genauso wie distinktive Verhaltensweisen, Kleidungsstile u.v.m. Damit korreliert der hier für die Subjektphilosophie in Anschlag gebrachte Begriff der Identität mit dem sozialphilosophischen Konzept des Habitus bei Bourdieu. Identität ist der subjektivierte und auf Distinktion angelegte Habitus im Sozialraum, der durch die Anerkennung von außen auf eine Positionalität festgelegt wird. Als erster Forschungsbereich einer kontingenzsensiblen Anthropologie ist damit die Dimension der Person und mit ihr der Prozess der Intersubjektivität benannt. Hier sind die Fragen zu stellen, in welcher Position oder Stellung sich ein Subjekt im Vergleich zu anderen Feldmitgliedern befindet (Positionalität), welche individuellen Prägungen es durch Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien von seinem sozialen Umfeld verkörpert hat (Dispositionalität) und welche Beziehungen es temporär oder
267 Der für sich in Anspruch genommene ethische Charakter einer Naturrechtslogik ist also bereits begründungslogisch falsch, es sei denn, Ethik wird mit sittlicher Kausalität gleichgesetzt und Moralität nicht mit ethischer Verantwortung in Verbindung gebracht. 268 Es wäre zu prüfen, ob der Begriff des Begehrens etwa bei Judith Butler, bereits eine formallogische und damit subjektphilosophische Voraussetzung des Sich-Verhalten-Könnens zu den bestehenden Handlungsmöglichkeiten darstellt, oder ob das Begehren als im Prozess der Materialisierung kontingenter Freiheit gleichursprünglich auftretendes Handlungsinteresse gedacht wird. Im letzteren Fall wäre der Begriff des Begehrens durchaus mit demjenigen des Verhaltens kompatibel, wenngleich sich ersterer vornehmlich auf den Bereich der intersubjektiven Anerkennung bezieht. Vgl. Quadflieg, Dirk, Das ›Begehren‹ des Subjekts. Anmerkungen zum Konzept des Widerstands bei Judith Butler, in: Andreas Hetzel – Reinhard Heil (Hgg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie (Edition Moderne Postmoderne), Bielefeld 2006, 117–122.
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dauerhaft eingehen konnte (Relationalität). Anhand dieser drei kontingenten Anerkennungsbereiche und den Analysen zur symbolischen Gewalt im zweiten Teil dieser Arbeit (vgl. Kap. 2.4) lässt sich retroreflexiv eruieren, wie intergeschlechtliche Menschen im römisch-katholischen Sozialraum zu mehr sozialer Anerkennung gelangen können. Wie schon im zweiten Teil der Dissertation resümiert wurde, ist die Positionalität intergeschlechtlicher Identitäten vor allem männlichen Identitäten des römisch-katholischen Feldes untergeordnet. Männlichkeit als Distinktionsmarker im römisch-katholischen Feld strukturiert das religiöse Kapital und damit in Folge die Anerkennungsstrukturen. Aufgrund alternativer biologischer Voraussetzungen ist es intergeschlechtlichen Menschen offiziell verwehrt, Positionen im Machtzentrum des Feldes – also die Rolle des Priesters – einzunehmen, es sei denn, sie beugen sich dem Schicksalseffekt und verschweigen oder verleugnen gar ihre Intergeschlechtlichkeit, um sich einer männlichen Identität anzugleichen. Wenn gesamtgesellschaftlich gesehen ihre Positionalität durch einflussreiche Netzwerke hoch ist, steigen jedoch die Chancen, dass ein intergeschlechtlicher Mensch Einfluss auf priesterliche Autoritäten nehmen kann, etwa als Vertreter*in einer führenden Partei, einer Rechtsinstanz oder staatlichen Organisation. Denn, wie festgestellt werden konnte, adaptiert sich das religiöse Feld permanent an sozio-ökonomische und sozio-politische Bedingungen, um weiterhin Einfluss auf die Gesellschaft haben zu können (vgl. Kap. 2.3). Im Gegenzug wird ein intergeschlechtlicher Mensch, der sich fast ausschließlich dem römisch-katholischen Feld zugehörig fühlt, innere Widerstände verspüren, die römisch-katholischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien einfach zu verwerfen und eine intergeschlechtliche Identität in Abgrenzung zur binär strukturierten Geschlechteranthropologie einzunehmen. Mit einem Coming-out innerhalb klerikaler Strukturen wird daher seltener zu rechnen sein als außerhalb.269 So entscheidet die Dispositionalität darüber, wie sich ein intergeschlechtlicher Mensch an der religiösen Gemeinschaft beteiligt und wie er mit anerkennungsverweigernden Rückschlägen umgehen kann, die direkt seine geschlechtliche Identität betreffen. Je mehr man an der sogenannten göttlichen Schöpfungsordnung festhält, desto wahrscheinlicher ist es, dass geschlechtszuweisende Operationen auch subjektiv als Heilbehandlung und Leidminderung gesehen werden. Dieser radikale Ausdruck des Schick-
269 Das mag auch der Grund dafür sein, warum die umfassenden Interviews mit LGBTQ-Priester*innen von Stephanie Budwey auf kein Datenmaterial zu intergeschlechtlichen römisch-katholischen Priester*innen verweisen kann. Vielmehr musste sie nach eigener Angabe aus der ursprünglich auf LGBTQI angelegten Studie das Phänomen Intergeschlechtlichkeit wieder streichen. Budwey, Religion and Intersex. Für Ordensangehörige ist die Situation ähnlich: Unter den 139 sich explizit als intergeschlechtliche Person eintragende Unterzeichner*innen des Joint Statement an den Vatikan ist nur eine geistliche Person (Schwester Maria Renate CssD) zu finden, vgl. Intersex Human Rights Australia, Joint statement to the Congregation for Catholic Education. Sie selbst bezeichnet sich als »a Franciscan nun and ordained priest«, Twilight People, Reverend Sister Maria Renate. Out of the Twilight and into the Sunshine. Interview, 2017, 1. URL: https://www.twilightpeop le.com/reverend-sister-maria-renate-twilight-sunshine/ [Abruf: 14. März 2023]. Auch das kürzlich im deutschsprachigen Raum erschienene Buch: Gräve, Mirjam u.a. (Hgg.), Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Paderborn 2021 enthält keine Erfahrungsberichte von intergeschlechtlichen Personen, die ein kirchliches Amt bekleiden.
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salseffektes (vgl. Kap. 2.1.4) zeigt, wie sehr subjektiv benachteiligende Anerkennungsstrukturen auch verinnerlicht werden können.270 Für manch andere kann der Glaube gleichermaßen identitätsstiftend sein,271 wenn die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft nicht vorrangig von Menschen bestimmt wird, die männliche Herrschaft und symbolische Gewalt ausüben. Intergeschlechtliche Mitglieder des römisch-katholischen Feldes nehmen dann eine vom Lehramt abweichende, geschlechterinklusive Interpretation der Schöpfungserzählungen an und beanspruchen eine gendersensible Anthropologie positiv für sich: »Being a Christian helped me accept myself, because I felt that God made me. So [sic!] I probably wouldn’t be as okay with the whole thing, and relaxed about the whole thing if I didn’t feel that there was purposes for things. And that there was a greater power … at work … I feel really liberated because the way I feel is, to God, it doesn’t really matter whether I am a man or a woman. It just matters that I am who I am, who he made me. (Poppy, Roman Catholic)«272 Ansatzpunkte im verkörperten Glauben sind also bereits gegeben, nur die Objektivierung und Institutionalisierung dieser Art religiösen Kapitals, die Männlichkeit nicht
270 Besonders deutlich wird diese Spannung zwischen objektiver Erwartung und subjektivem Empfinden in diesem bereits zitierten Beitrag: »I always felt that God made me and that the Bible says that God wove me together in my mother’s womb and has always known me and knows everything about me, so that I felt that I couldn’t be some horrible mistake or some terrible accident. And so that kind of gave me hope… Certainly, when I was younger I would probably have really, really struggled to accept myself except for the fact that I just felt, well, God accepted me, and it just made me feel that there was a purpose to it. It wasn’t just a complete accident. And that was really the biggest thing for me, feeling like, well, God planned it for some reason. And that the Bible tells me that everything works for my good. So therefore, it must be for my good, even if sometimes it felt the complete opposite. (Poppy)«, Cornwall, British Intersex Christians’ Accounts of Intersex Identity, Christian Identity and Church Experience, 225. 271 Vgl. etwa die Schilderung Schineggers, für den der römisch-katholische Glaube durchaus positiv besetzt ist und der die binäre Logik weitgehend übernimmt, als er sich später einer geschlechtsverändernden Operation unterzieht (vgl. auch Kap. 2.4): »Ich mochte die streng katholische Zeremonie, denn ich fühlte mich darin aufgehoben, beschützt, ja gesegnet. Die traditionellen Kirchenfeste waren überhaupt stets die Highlights meiner Kindheit. Auch hatte ich das Schulfach Religion sehr gerne, weil unser Schulpfarrer den Unterricht bildhaft gestaltete und den Lebensweg Christi verständlich an uns herantrug. Und auch die religiöse Erziehung durch unseren Dorfpfarrer hinterließ Eindruck bei mir. Ich blühte jedes Mal auf, wenn wir Kinder im Pfarrheim neben der Kirche unsere Zusammenkünfte hatten – nach der Messe am Sonntag und auch während er Woche ab und zu nach Schulende. Ich fühlte mich geborgen und verstanden. Ich war Teil dieser im Sinne Gottes und der Kirche lebenden Gemeinschaft. Im gemeinsamen Glauben an den Herrn fühlte ich mich akzeptierter als in der Schule oder beim Spielen. Kindlich naiv freute ich mich über kirchlichen Weihen wie die Erstkommunion oder die Firmung. Wie eine Prinzessin durfte ich im weißen Kleidchen ganz nach vorne zum Kirchenaltar schreiten. Bei der Firmung wechselten Ehrfurcht und Vorfreude auf meine erste Armbanduhr, eine goldene Damenuhr, ab. Ich habe sie selbst bei der WM noch getragen, sie sollte für lange Zeit mein Talisman bleiben.«, Schinegger – Honsal, Der Mann, der Weltmeisterin wurde, 71. 272 Cornwall, Sex Otherwise, 30.
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zum sozialen Distinktionsmarker macht, ist noch nicht vollzogen. Die Entwicklungstendenzen des römisch-katholischen Feldes in den letzten Jahrzehnten (vgl. Kap. 2.3) lassen aber darauf schließen, dass die Weiterentwicklung einer körper- und sexualfreundlichen Theologie die Positionalität von Männlichkeit im gesamten Feld in der Weise positiv beeinflusst, dass auch intergeschlechtliche Menschen und ambige Körper zunächst sozial und sodann ebenso theologisch Anerkennung finden. Anerkennung verschaffen neben den genuin religiösen Interessen außerdem andere geteilte Interessen, politische Einstellungen oder moralische Werte – kurz die verkörperten Dispositionen – die jenseits von binären Geschlechtervorstellungen im römischkatholischen Feld bereits längst tradiert und neuerlich rezipiert werden. Auch wenn manche christlichen Moralprinzipien idealistisch vorgezeichnet sind, bringen sie doch in der Mehrheit der Fälle eine umfassende Anerkennung von Menschen zum Ausdruck, die Großteils nur noch eine kontingenzsensible Entfaltung notwendig erscheinen lässt. Das Gebot der Nächstenliebe und der Wille zur Barmherzigkeit, die christlichen Sozialprinzipien der Personalität, Solidarität, Subsidiarität und des Gemeinwohls können dann zur Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen beitragen, wenn in ihnen mitgedacht ist, dass die dazugehörigen Anerkennungsformen auch materialen Ausdruck finden müssen. Gleiches gilt für die aus dem Menschenrechtsdiskurs entlehnten Prinzipien. Es reicht nicht, Würde zuzusprechen, sie muss auch glaubhaft räumlich und zeitlich vermittelt werden. Wenn bspw. im Sinne des Personalitätsprinzips davon ausgegangen wird, dass der Mensch einmalig und individuell geschaffen ist, dann ist dazu auch seine je körperliche Verfasstheit zu zählen. Ambige Geschlechtsmerkmale sind dann auch nicht Ausdruck der Unvollkommenheit, sondern der Vielfalt personaler Entwicklungsgrundlagen. Erst in einer solchen Umgebung kann der römisch-katholische Glaube zu einem persönlichen Rückzugsort werden, die in der eigenen Biographie erfahrene Diskriminierung vor Gott zu reflektieren. Hinzu kommt, dass mit der Zunahme von Vernetzungen eines intergeschlechtlichen Menschen im römisch-katholischen Feld die Wahrscheinlichkeit steigt, dass auch deren geschlechtliche Identität anerkannt wird und dass sie Verbündete finden, die ihren Kampf um Anerkennung unterstützen. Natürlich lassen sich diese und die folgenden anthropologischen Bedingungen und Möglichkeiten auch aus der Sicht von Verbündeten beschreiben, denn intergeschlechtlichen Menschen darf nicht die Last aufgebunden werden, alleinverantwortlich für ihre Anerkennung zu sein. So wichtig der Kampf aus existenziellen Gründen auch ist, kommt er nicht ohne die Unterstützung einer dafür sensibilisierten und mobilisierten Gesellschaft aus. Vernetzung273 und »Bewusstseinsbildung«274 sind für die meisten InterOrganisationen daher eine der zentralen und ersten Betätigungsfelder, bevor rechtliche Schritte eingeleitet werden.275 Der Kampf um Anerkennung von intergeschlechtli273 Vgl. hierzu die internationale Vernetzung über die Plattform: Organization Intersex International (OII). URL: https://oiiinternational.com [Abruf: 14. März 2023]. Die globale Struktur kennt weiters länderübergreifende Organisationen wie bspw. die OII-Europe. URL: https://oiieurope.or g [Abruf: 14. März 2023]. 274 VIMÖ – PIÖ, Positionspapier, 6. 275 So verständigten sich auf der Intersex-Conference 2021 in Dublin Inter-Organisationen darüber, welche Vorgehen empfehlenswert sind, mit welchen Widerständen man rechnen müsse und wie die derzeitige rechtliche Lage sich jeweils länderspezifisch unterscheidet: Intersex Mapping Stu-
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chen Menschen im römisch-katholischen Feld würde also von einem Papst, einem Bischof, einem Priester profitieren, der sich positiv zu und anerkennend gegenüber intergeschlechtlichen Menschen äußert und verhält.276 Damit ist man auf das institutionalisierte Kapital des römisch-katholischen Feldes verwiesen. (Ehrenamtliches) Engagement im kirchlichen Kontext und Mitgliedschaften in diversen charismatischen Netzwerken sind für eine Vernetzung und Einflussnahme fast unumgänglich.277 Es darf nicht bei Gesprächsangeboten bleiben, sondern Diskurse müssen tatsächlich miteinander geführt werden. Da mit dem Aufbau von Beziehungen und Bildung auch immer eine zeitliche Investition einhergeht, spielt auch die zeitliche Dimension im Sozialraum eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Kap. 3.4.4.3). Denn, so formuliert Bourdieu in seinen Meditations pascaliennes, »der Wert, der einer Zeit einer Person zugerechnet wird, und besonders der Zeit, die sie gibt, ist das wertvollste Geschenk, weil es das persönlichste ist […]«278 [Übers. d. Autorin]. Will man anerkennende Beziehungen mit intergeschlechtlichen Menschen aufbauen, muss in diese auch Zeit investiert werden. Sich an einem Nachmittag mit den sogenannten Betroffenen auszutauschen und daraus dann unabhängig von ihnen Handlungsoptionen zu entwickeln, reicht schlichtweg nicht aus. Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, ist eine Investition an Zeit und damit Arbeit. Die in diesem Zug aufgebauten Netzwerke und Freundschaften lassen erst dann die Verbreitung des Themas der Anerkennung zu und ermöglichen Kontakte zu neuen
dy at DCU u.a., Intersex 2021 – A Vision For the Future. Online Conference: 21st-22nd April 2021. Conference Booklet (2021), hg. v. Intersex Mapping Study at DCU – DCU School of Law and Government – DCU School of Nursing, Psychotherapy and Community Health, Dublin 2021. 276 Die sicher auch notwendige Arbeit von Theolog*innen in diesem Bereich, die mit Bourdieu der Figur des Propheten entspricht, ist ihrerseits auf Legitimationen des religiösen Machtzentrums angewiesen, um im römisch-katholischen Feld übergreifend Anerkennung zu finden. Die Bemühungen hier sind wichtiger Stein des Anstoßes, benötigen allerdings, wenn es zu keiner Neuorganisation des Feldes durch eine prophetische Revolution kommen soll, den Zuspruch durch die Rolle des Priesters. Ansonsten erscheinen die theologischen Bemühungen als solche, die außerhalb des römisch-katholischen Feldes stattfinden. LGBTQIA*-freundliche Theolog*innen bilden dann im Selbstverständnis der katholischen Kirche wie der Zuschreibung von außen lediglich die Ausnahme von der Regel. 277 Dies belegt allein schon die Tatsache, dass für viele Berufe, die in irgendeiner Weise mit der römisch-katholischen Kirche in Zusammenhang stehen, als Einstellungsbedingung ein Engagement in der kirchlichen Verkündigung sogar explizit nachzuweisen ist. Die Erteilung eines nihil obstat für Theologieprofessor*innen an staatlichen Universitäten in Österreich und Deutschland ist bspw. an ein solches Engagement gekoppelt: »Da die Lehrtätigkeit persönliches Glaubenszeugnis und aktive Verbindung zum Leben der Kirche voraussetzt, wird von Laien ein mindestens einjähriger praktischer Einsatz in der Pastoral verlangt, der vom für die Fakultät zuständigen Diözesanbischof anerkannt ist.«, Kongregation für das katholische Bildungswesen, Normen zur Erteilung des Nihil obstat bei der Berufung von Professoren der Katholischen Theologie an den staatlichen Universitäten im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Vatikan Stadt 2010 (25. März 2010), 3. URL: htt ps://www.katholische-theologie.info/Portals/0/docs/0.%20NO-Dekret%203-2010.pdf [Abruf: 14. März 2023]. 278 Bourdieu, Méditations pascaliennes, 268. »[…] la valeur accordée au temps d’une personne, et tout spécialement au temps qu’elle accorde, qui est le don le plus précieux, parce que le plus personnel […]«.
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Verbündeten innerhalb und außerhalb des Feldes. Das römisch-katholische Feld muss dementsprechend auch räumliche und finanzielle Ressourcen bereitstellen, die dieser Arbeit gewidmet werden sollen.
3.4.4.2. Einbettung von Anerkennung in die räumliche Dimension – Interobjektivität Mit der Dimension des Raumes kommt neben der sozialen auch die räumliche Umgebung ins Spiel. Die lokale Einbettung bzw. die Beziehung zur Objektwelt soll hier von mir als Interobjektivität eingeführt werden. Da die Beschreibung der sozialen Anerkennung für eine kontingenzsensible Klärung von Anerkennung nicht ausreicht, sind unter dem Aspekt der Interobjektivität die Fragen ausschlaggebend, wo sich ein Subjekt befindet und welche Infrastruktur ihm dort zur Verfügung steht (Lokalität), wie viel Kapital es besitzt, um den Lebensraum für sich einnehmen zu können (Kapazität) und wie nahe oder entfernt es vom Objekt seines Begehrens agiert (Proximität). Fehlt es intergeschlechtlichen Menschen aufgrund der Anerkennungsstruktur des römisch-katholischen Feldes bspw. an kirchlichen Räumen oder finanzieller Unterstützung für ihre Anliegen, oder wird die räumliche Nähe zu ihnen sogar aktiv unterbunden, lässt dies auf eine verkürzte Anerkennung schließen. Wird die räumliche Dimension samt ihrer Objektwelt in die Analyse von Anerkennungsstrukturen miteinbezogen, wird auch nachvollziehbar, warum es für eine umfassende Anerkennung nicht ausreicht, intergeschlechtlichen Menschen lediglich theologisch gleiche Würde zuzusprechen. Diese Würde muss auch räumlich einen Platz einnehmen können, sodass die vom römisch-katholischen Feld geprägten Orte wie etwa der Kirchenraum zu einem Lebensraum für intergeschlechtliche Menschen werden kann. Ein intergeschlechtlicher Mensch kann noch so gut positioniert sein, über noch so gute dispositionale Bewältigungsstrategien verweigerter Anerkennung verfügen und noch so viele Verbündete im römisch-katholischen Feld haben, wenn hermer Lebensraum begrenzt ist. Begünstigend für den Kampf um Anerkennung im römischkatholischen Feld erweist sich eine gute und zentrale Infrastruktur als Wohnort, eine große Menge an ökonomischem, kulturellem, sozialem und vor allem auch religiösem Kapital und die Erreichbarkeit anderer Länder und Religionsgemeinschaften, die intergeschlechtliche Menschen bereits weitreichender anerkennen.279 Es ist nicht verwunderlich, dass aufgrund des geringen prozentualen Anteils intergeschlechtlicher Menschen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auch der virtuelle Raum eine gewichtige Rolle spielt. Die soziale Vernetzung im Internet kompensiert die räumliche Trennung und so manche Abgeschiedenheit intergeschlechtlicher Personen und Organisationen suggeriert ein Heimatgefühl, das möglicherweise am Wohnort und in der kirchlichen Gemeinde vermisst wird. Dabei ließen sich gerade diese Formen der Anerkennung relativ einfach herstellen: Die katholische Kirche könnte ihre Räumlichkeiten für die Anliegen intergeschlechtlicher Menschen zur Verfügung stellen.
279 Die geringen Kapazitäten von NGOs und Aktivist*innen bei der Mitwirkung und Verteilung von Fragebögen für die großräumig angelegte Studie von Ghattas etwa hingen in Uganda damit zusammen, dass sie direkt in den ländlichen Dorfgemeinschaften leben und daher zusätzlich auch kaum Zeit für Büroarbeit hatten. Vgl. Ghattas, Menschenrechte zwischen den Geschlechtern, 17.
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Dieser Platz lässt sich auch symbolisch verstehen und auf das objektivierte Kapital, welches die dingliche Ausgestattung des römisch-katholischen Feldes betrifft, übertragen. Auch im Kirchenrecht oder in lehramtlichen Schreiben, Gebetsbüchern und Liederbüchern muss Platz für diese Menschen sein. Selbst die dekorative Ausgestaltung von Kirchenräumen trägt zur Anerkennung bei. Man bedenke nur die Symbolwirkung der bunten Fahnen, die im Zuge der LGBTQIA*-Bewegungen vielerorts aufgehängt werden. Aufgrund des starken Formalisierungsgrades empfiehlt es sich allerdings nicht, zuerst bei den tradierten kirchlichen Heilsgütern (Kirchenrecht, Katechismus, …) anzusetzen, wenngleich sie den größten Einfluss auf das Feld ausüben. Wenn man bedenkt, welche Aktionen, Bewusstseinsbildungen und Diskurse der personenstandsrechtlichen Eintragung eines dritten Geschlechtseintrages vorausgingen, wird verständlich, dass die dritte Option im Kirchenrecht wohl noch etwas länger auf sich warten lassen wird, als etwa die Umformulierung von Predigttexten, Schulbüchern oder Bibelübersetzungen in geschlechterinklusive Sprache. Da sich die katholische Kirche in Geschlechterfragen nur in »Trippelschrittchen«280 menschenrechtlichen Diskursen nähert und ihre kirchliche Verfassung einer sakralen Monarchie gleicht281 , müssen im Vorfeld der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen viele weitere Parameter geändert werden, um die Anerkennung als solche überhaupt rechtlich geltend machen zu können.282 Das objektivierte Kapital des römisch-katholischen Feldes lässt sich also nur bedingt für intergeschlechtliche Menschen nutzen, nämlich vor allem nur dort, wo die kirchlichen Räume noch nicht oder nicht mehr so stark von einem binären Denken besetzt sind. Der religiöse Bildungsbereich und tradierte kulturelle Heilsgüter dagegen sind aufgrund ihrer Einbettung in staatliche Macht zugänglicher für die Anliegen als das katholische Lehramt, gerade weil Bildung hier als Kapital eingebracht werden kann. Die oftmals geringe Berücksichtigung aktueller (theologischer) Forschung in lehramtlichen Texten weist darauf hin, dass Bildungsinhalte über die eigene Tradition hinaus nur dann rezipiert werden, wenn sie dem Erhalt der symbolischen Ordnung dienen.283 Nicht zuletzt ist auch das für den Inter-Ak-
280 Sedlmeier, Anja, In Trippelschrittchen zu Menschenrechten in der Kirche, 1. URL: https://www.fei nschwarz.net/in-tippelschritten-zu-menschenrechten-in-der-kirche/ [Abruf: 14. März 2023]. 281 Vgl. Sander, Die Herrschaft der Oblaten und die Ohnmacht der Erben, 83–85. 282 Das Plädoyer für die Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Sinne menschenrechtlicher Argumentation stößt bei naturrechtlich argumentierenden Positionen auf Widerstand, da Männlichkeit häufig als Distinktionsmerkmal für die binnenkirchliche Struktur gilt. Leitungs- und Entscheidungsgewalten werden daran gebunden und begründen eine nach Geschlecht geordnete, hierarchische Ämterstruktur, die im Kirchenrecht ihre institutionalisierte Absicherung erfährt. Um dem menschenrechtlichen Anliegen gerecht zu werden, bedarf es aber mehr als nur einer theologischen Aufwertung geschlechtlicher Minoritäten, die dann additiv in das bestehende Kirchenrecht eingearbeitet wird. 283 Nicht umsonst werden die längst veralteten genetischen Befunde zur Geschlechtsdetermination zur Legitimation für die Therapie intergeschlechtlicher Menschen im Dokument der Kongregation für das katholische Bildungswesen herangezogen. Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them, Nr. 24. Unterstützend dazu argumentiert Gunda Werner in Bezug auf die fehlende Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit den Gender Studies: »Wird von vorneherein für den Kernbereich eine Erkenntnis außerhalb der eigenen Erkenntnis abgelehnt, kann es keinen ernsthaften Dialog mit außertheologischen Wissenschaften geben.«, Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit, 207.
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tivismus und die Bewusstseinsbildung verfügbare ökonomische Kapital entscheidend, ob und wie sich intergeschlechtliche Personen neben ihren beruflichen Verpflichtungen aktivistisch engagieren können.284 Je mehr sich die Kirche mit ihren räumlichen und finanziellen Mitteln hier einbringt und je stärker sie diese im Verhältnis zu anderen Anliegen gewichtet, desto eher kann auch von einer räumlichen Anerkennung gesprochen werden. Abgesehen von der Kapazität ist auch die Lokalität und Proximität der jeweiligen Anlaufstellen entscheidend. Leitungs- und Verwaltungszentren einer Diözese sind aufgrund ihrer zentralen Stellung im Diözesanraum und ihrer vergleichsweisen besseren Erreichbarkeit für die Verbreitung intergeschlechtlicher Anliegen vorteilhaft. Unter Berücksichtigung des Sozialraums wären daher säkularisierte religiöse Bildungsnetzwerke (Universitäten, Schulämter, …) oder charismatische Netzwerke (Lai*innenorganisationen, Caritas, …) zunächst geeignetere Anlaufstellen als Pastoralämter, kirchliche Bildungswerke oder Bischofskonferenzen.285 Nicht nur besitzen erstere aufgrund der Diözesanstruktur ebenfalls einen Überblick über die einzelnen Schulen oder Pfarrgemeinschaften, sondern sind durch ihre ausgebaute Organisations- und Infrastruktur niederschwelliger erreichbar und zeigen sich aufgrund ihrer Anzahl eher für nicht genuin religiöse Anliegen verfügbar. Die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit für intergeschlechtliche Menschen auszubauen, ließe sich dementsprechend als Anerkennungsakt deuten. Dies könnte sich darin ausdrücken, dass spezielle Seelsorgeangebote zur Verfügung gestellt werden, dass Sakramente nicht mehr länger an die biologische Geschlechtsidentität geknüpft werden, und dass religiöse und theologische Bildung wie auch verschiedene Gottesdienstformen das Thema Intergeschlechtlichkeit aufgreifen. Ergänzend dazu bietet sich an, auch die medialen Räume zu nutzen, da diese verhältnismäßig zu einzelnen Kirchen einer größeren Anzahl an Personen Zugang verschaffen und die Suche nach katholischen Verbündeten erleichtern.286
284 Vgl. Ghattas, Dan C., COVID-19. A Report on the Situation of Intersex People in Europe and Central Asia. Questionnaire developed by Irene Kuzemko, 2021, 28. URL: https://oiieurope.org/wp-co ntent/uploads/2021/01/covid-19-survey-report-OII_Europe.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Besonders die mit der Corona-Pandemie einhergehenden finanziellen Probleme (Kurzarbeit, Kündigungen, Ausfall von Spenden) hatten massive Auswirkungen auf die Arbeit einzelner Organisationen und das Engagement intergeschlechtlicher Personen darin. 285 Die etwa im Vergleich zu römisch-katholischen Bildungseinrichtungen geringe Beschäftigung mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit – offiziell gibt es bislang hierzu nur das Dokument der Kongregation für das katholische Bildungswesen, Male and Female He Created Them – scheint diese These zu bestätigen. 286 Vgl. etwa das Filmprojekt Intersex and Faith. URL: https://www.intersexandfaith.org/about [Abruf: 14. März 2023], das biographisch gesammelte Material von New Ways Ministry, Why We Came. Why We Left. Why We Stay. Faith Journeys from the LGBTQ Community, 2019. URL: https://www.newwaysministry.org/category/personal/why-we-came-why-we-left-why-westayed/ [Abruf: 28. Mai 2021], das religiöse Podcast- und Blogprojekt von Twilight People, Reverend Sister Maria Renate, oder katholische Inter-Netzwerke wie das Global Network of Rainbow Catholics (GNRC). URL: https://www.instagram.com/gnrcatholics/ [Abruf: 14. März 2023].
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3.4.4.3. Einbettung von Anerkennung in die zeitliche Dimension – Intertemporalität Zuletzt soll die Bedeutung von Zeit für eine kontingenzsensible Anthropologie erläutert werden. Als Intertemporalität beschreibe ich die geschichtliche Einbettung des Subjekts, denn auch sie hat Einfluss auf Anerkennungsakte. Die Frage danach, wie alt ein Subjekt geworden ist und sich als Person entwickeln konnte (Kontinuität), wie oft und wann es bestimmte wiederholende Abläufe (Iterabilität) erlebt hat und ob individuelle Veränderungen der Subjekte und ein kollektiver Wandel der Gesellschaft (Diskontinuität) positiv aufgenommen wurden, bestimmen darüber, wie die individuelle Lebensgeschichte in die kollektive Geschichte des römisch-katholischen Feldes integrierbar wird. Je unabhängiger die zeitliche Entwicklung der Institution im Vergleich zur biographischen Erfahrung intergeschlechtlicher Menschen abläuft, je öfter sich Erfahrungen symbolischer Gewalt wiederholen und je weniger die von Brüchen durchzogene Identitäts- und Gesellschaftsentwicklung im gläubigen Alltag ihre Berücksichtigung findet, desto geringer ist auch die Anerkennung gegenüber intergeschlechtlichen Menschen zu veranschlagen. So spielt der Zeitraum eine beachtliche, wenngleich oft frustrierende Rolle für die um Anerkennung kämpfenden Subjekte selbst. Das Alter und die biographische Entwicklung als zeitlicher Prozess können neben den genannten Faktoren ausschlaggebend dafür sein, inwiefern der Kampf um Anerkennung existenziell wertvoll erscheint. »Ältere LSBTIQ*-Personen sind mit den üblichen Herausforderungen älterer Menschen konfrontiert. Zusätzlich leben sie mit den Spuren vergangener Diskriminierungserfahrungen, Bewältigungsstrategien wie sozialer Rückzug oder Verstecken des Privatlebens.«287 Das römisch-katholische Feld kann diesen biographischen Entwicklungsprozess begleiten, indem es den existenziellen Umbruchsphasen intergeschlechtlicher Menschen bestimmte Zeiten widmet. Taufe und Firmung, die auch als Initiationsriten des Katholizismus gelten, können Menschen beim Erwachsenwerden und der Identitätsbildung unterstützen. Dies gilt für intergeschlechtliche Menschen aber nur dann, wenn der Empfang der Sakramente nicht mehr länger mit stereotyp binären Rollenerwartungen in Bezug auf ihr Geschlecht einhergeht. All jene Menschen, die angesichts ihres Soseins den Eindruck haben, in der Kirche nicht erwachsen werden zu können und deshalb nicht selten aus ihr austreten, sind ein Beweis dafür, dass die Anerkennung unterschiedlicher Lebensbiographien noch nicht geleistet ist, wie folgende Aussage hervorhebt: »Mit dem Glauben kann ich nichts mehr anfangen. Es war einmal etwas wie Glauben vorhanden. Dieser aber wurde durch Angst zerstört. Ob ich jemals wieder zu etwas wie Glauben finde, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht … auf der einen Seite von Liebe, Barmherzigkeit, Gnade, alle Menschen sind ein Gottesgeschöpf zu sprechen und andererseits Schwule, Lesben, Intersexuelle usw. solch einer psychischen Gewalt auszusetzen … haftet einer solchen Kirche wirklich noch Göttliches an?«288 287 Kiegelmann, Mechthild, 2.5.5 Gender und Generationen, in: Tamara-Louise Zeyen u.a. (Hgg.), LSBTIQ* und Alter(n), Göttingen 2020, 77–82, hier: 79. 288 Petra geb. 1968, »Um die göttliche Ordnung aufrechtzuerhalten, landete ich unterm Messer«, in: Mirjam Gräve – Hendrik Johannemann – Mara Klein (Hgg.), Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Paderborn 2021, 102–105, hier: 105.
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Mehrdeutige Körper
Es ist dementsprechend dafür Sorge zu tragen, dass intergeschlechtliche Menschen selbstverständlich an den kontinuierlichen und sich wiederholenden Abläufen im kirchlichen Umfeld teilnehmen können, und dass darüber hinausgehende Wünsche und Bedürfnisse auch zeitlich berücksichtigt werden. Der Anerkennungskampf, will er erfolgreich sein, sollte sich außerdem nicht mit punktuellen Aktionen begnügen, sondern seine Forderungen wieder und wieder ins Gespräch bringen. Die oft zermürbende Tätigkeit, immer wieder Anerkennung einzufordern, hat mit höherer Wahrscheinlichkeit Erfolg, wenn sie einem konsequenten zeitlichen Ablauf folgt. Umgekehrt gilt natürlich auch: Wenn es wiederholt innerhalb des römisch-katholischen Feldes zu Diskriminierungserfahrungen kommt, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Engagement für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen subjektiv sinnlos und die Möglichkeit auf eine Veränderung zunehmend absurd erscheint. Je länger eine Lebensspanne ist, desto wahrscheinlicher ist es auch bereits aufgrund der generationellen Unterschiede, dass Diskriminierung und Gewalt erlebt wurden und viel Kraft gefordert haben. Wichtige existenzielle Fragen für die Verantwortlichen im Kampf um Anerkennung sind daher: Womit will und kann ich mich persönlich engagieren und wo und ab wann ist der Zeitpunkt gekommen, ab dem ich die Verantwortung an andere weitergebe? Jüngere Generationen, die in den meisten Fällen noch eine größere Lebensspanne erwartet und die der hysteresis des römisch-katholischen Habitus noch nicht so lange ausgesetzt waren, bringen für Aktivismus der Wahrscheinlichkeit nach schlicht mehr Energie mit, da sie nicht auch noch mit altersbedingten Krankheiten zu kämpfen haben. Dass das persönliche Wohlbefinden vor dem politischen Aktivismus priorisiert wird, bestätigt auch eine quantitative und qualitative Studie zu den Erfahrungen intergeschlechtlicher Personen während der Corona-Pandemie.289 Umso wichtiger scheint es, die Biographie der jeweiligen Personen kennenzulernen, um daran abschätzen zu können, inwieweit der Vorsitz für eine Organisation, einen Verein etc. für sie auch existenziell tragbar und erfüllend ist. Selbiges gilt umgekehrt natürlich auch für kirchliche Leitungsämter. Da die katholische Ämterstruktur aufgrund des fehlenden Nachwuchses allmählich veraltet290 , liegt die Hoffnung für Veränderung bei den Lai*innen, wenngleich sie oft unter dem geringen Einfluss auf das religiöse Zentrum leiden. Wenn sich das Volk Gottes selbst als
289 Vgl. Ghattas, COVID-19, 27. 290 Neben dem Priestermangel ist vor allem die kirchliche Personalplanung bedenklich, für die weder in Deutschland noch Österreich eine Statistik mit dem Durchschnittsalter der jeweiligen Diözesen vorliegt. Die Projektion 2060 für die katholischen Kirchen in Deutschland prognostiziert allerdings einen massiven Anstieg des Altersdurchschnitts der Kirchenmitglieder für 2035: Die prozentuelle Verteilung der Mitglieder der ab 65-Jährigen von 24 % wird laut Prognose im Jahr 2035 34 % betragen, womit der Anteil der über 65-jährigen um 10 % steigt und bei den jüngeren Generationen vergleichsweise sinkt. Vgl. Forschungszentrum Generationenverträge, Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland. Eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Zusammenfassung, 2019, 4–5. URL: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2 019/Projektion-2060_FZG-Studie_Zahlen-katholische-Kirche.pdf [Abruf: 14. März 2023]. Die Verlässlichkeit und Wahrscheinlichkeit dieser Angaben müssten jedoch durch Vergleichsstudien und künftig reale Verhältnisse noch einmal geprüft werden.
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Zentrum des römisch-katholischen Feldes sieht, kann es erheblich dazu beitragen, Anerkennung neu zu strukturieren. Um Anerkennung entsprechend zu gewährleisten, bedarf es desgleichen ritualisierter Abläufe: Sich jährlich wiederholende Aktionen wie bspw. der intersex solidarity day am 8. November oder internationale Konferenzen bieten eine rituelle Vergewisserung der advokatorischen Anliegen, für die es bisher noch keine Entsprechung im kirchlichen Jahreskreislauf gibt. Als solche könnten sie sich im Laufe der Zeit verfestigen und gleichzeitig von dem Gefühl entlasten, ständig und überall aktiv Bewusstseinsbildung betreiben zu müssen. Auch kleinteiligere Strukturen können sich positiv auf die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen auswirken (periodische Aussendungen eines Newsletters, Posts in sozialen Medien etc.). Gleichzeitig durchbrechen diese neu entwickelten Kreisläufe die Kontinuität anderer symbolischer Ordnungen. Für die allmähliche Etablierung intergeschlechtlicher Anliegen im römisch-katholischen Feld bieten sich vornehmlich jene Zeiten an, die nicht allzu sehr mit dem kirchlichen Jahreskreislauf konfligieren. So wird sich etwa ein Osterfest, das im Zeichen von Intergeschlechtlichkeit steht, auf Dauer weniger einfach einrichten lassen als etwa ein jährliches Fest der Vielfalt der Schöpfung. Außerdem können geschichtliche Veränderungsprozesse für eine symbolische Umwertung genutzt werden. Seit sich die katholische Kirche durch mehrere Skandale in der Krise befindet, sind die Zahl und das Ausmaß der Anfechtung priesterlicher Autorität und Männlichkeit auffällig gestiegen (vgl. Kap. 2.3). Diese Umbruchszeit bedeutet zugleich eine Zeit der Neuorganisation, in der sich ebenfalls intergeschlechtliche Menschen kreativ einbringen können. Je mehr Wert künftig darauf gelegt wird, dass individuelle Lebensgeschichten in die kollektive Geschichte der Kirche integriert werden, desto mehr zeitliche Anerkennung wird intergeschlechtlichen Menschen zuteil. Vor allem der inadäquate Umgang mit den Missbrauchsskandalen, aber auch das ausbleibende Engagement seitens der höchsten kirchlichen Ebene in der Corona-Zeit haben viel Empörung hervorgerufen. Katholische Reformfragen im Anschluss daran und die Kritik von Gender- und Queer-Studies, die ebenfalls existenzielle Auswirkungen auf das Leben von Katholik*innen hätten, werden bislang noch nicht als Auswirkung eines krisenhaften Zustandes der katholischen Kirche insgesamt begriffen. Vielmehr wird der Kausalzusammenhang umgedreht: Emanzipatorische Anliegen und Theorien werden für den sittlichen Verfall der Glaubensgemeinschaft insgesamt verantwortlich gemacht (vgl. Kap. 2.3.3.2). Tatsächlich aber haben dieser Krisenzustand wie auch der katholische Antigenderismus starke Gegenreaktionen hervorgerufen: Mehr und mehr Theolog*innen äußern seit den Missbrauchsfällen ihre Meinung zu brisanten kirchenpolitischen Themen öffentlich291 , wenngleich sie nach wie vor mit Sanktionen dafür rechnen müssen (Entzug oder Ausbleiben der Lehrerlaubnis etc.). Sie bewirken damit einen Bruch mit dem Narrativ der katholischen Kirche, welche ihre Tradition nur allzu gerne als kontinuierlichen, linearen und fortschreitenden Prozess darstellt. Begreift man die Sozialstruktur und die damit zusammenhängenden Anerkennungsparadigmen des
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Vgl. dazu etwa die öffentlich geführten Debatten des Synodalen Weges in Deutschland Synodaler Weg, Homepage. URL: https://www.synodalerweg.de [Abruf: 14. März 2023] oder die unlängst veröffentlichte Petition und Dokumentation der freien Organisation #OutInChurch. Homepage. URL: https://outinchurch.de [Abruf: 14. März 2023].
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Mehrdeutige Körper
römisch-katholischen Feldes aber als kontingent, wird wie selbstverständlich, dass zu Entwicklungen auch Veränderungen und Brüche gehören, die von einzelnen Menschen aber auch Kollektiven angeregt, begleitet und fortgeführt werden. Die Krisenzeit der römisch-katholischen Kirche gilt es mit Ernst wahrzunehmen, um die Zukunft autonom und kreativ gestalten zu können. Es ist gut denkbar, dass die im deutschsprachigen Raum bereits entstandenen Initiativen für die Anerkennung homosexueller Menschen und die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare292 auf lange Sicht auch Inter-Bewegungen zugutekommt. Durch die vorangegangenen Analysen sollte deutlich geworden sein, dass die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen eine Berücksichtigung vielfältigster kontingenter Faktoren bedarf, um sie praktisch realisieren zu können. Im Blick auch auf die zeitlichen Dimensionen soll noch einmal betont werden, dass nicht ausschlaggebend ist, ob im Kampf um Anerkennung zunächst alles bedacht und die bestmögliche Strategie gewählt worden ist. Ausschlaggebend ist, dass der Effekt einer emanzipatorischen Handlung sich vor allem auch der Wiederholung verdankt. Dies wird deshalb motivierend sein, weil damit kein Scheitern als sinnlos abgetan werden kann. Gewissermaßen setzen das Scheitern bzw. der Krisenzustand den historischen und sozialen Wandel ja gerade erst in Gang. Einen zusammenfassenden Überblick über die in diesem Kapitel empfohlenen Handlungsleitlinien, die je Kontingenzbereich sicherlich noch auszubauen sind, bietet die nachstehende Tabelle.
3.4.5. Zusammenfassung: Ergebnisse einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse Die Vielzahl der Kontingenzen verkörperter und eingebetteter Freiheit können ein Ohnmachtsgefühl der unter Heteronormativität Leidenden hervorrufen, weil die zu berücksichtigenden Faktoren im Kampf um Anerkennung zu zahlreich sind, um sie überblicken zu können. Dennoch lassen sich abschließend einige Aspekte festhalten, wie die Anerkennung von intergeschlechtlichen Menschen im römisch-katholischen Feld befördert werden kann, worin also die spezifischen Handlungsspielräume und Handlungsmächte intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Verbündeten bestehen. Durch eine ethische Auseinandersetzung mit Kontingenzerfahrungen als Möglichkeitsbedingung und Konstitutionsmöglichkeit moralischer Subjektivität in Kap. 3.4.1 sollte gezeigt werden, dass sich sämtliche Freiheitsvermögen in einem kritisch-komplementären Verhältnis zur Kontingenz befinden. Autonome und kreative Handlungen 292 Wenngleich noch keine einschlägigen Studien dazu durchgeführt wurden, können dafür auszugsweise verschiedenste Formen des Widerstandes gegen eine heteronormative Geschlechterpolitik im deutschsprachigen Kontext aufgeführt werden: Bachleitner, Magdalena, LGBTQIA* in der Jugendpastoral, (k)ein Spannungsfeld?, 2021. URL: https://y-nachten.de/2021/06/lgbtqia-in-der-jugendpastoral-kein-spannungsfeld/ [Abruf: 14. März 2023]; kirchenkrise.de, 2021. URL: https://w ww.kirchenkrise.de [Abruf: 14. März 2023]; #Segenfüralle, 2021. URL: https://segenfueralle.at [Abruf: 14. März 2023]; Gräve u.a., Katholisch und queer; Pfarrer Initiative, Aufruf zum pastoralen Ungehorsam 2.0! Wir segnen gleichgeschlechtliche Paare auch weiterhin!, 2021. URL: http s://www.pfarrer-initiative.at/thema/aufruf-zum-ungehorsam-20-wir-segnen-gleichgeschlechtlic he-paare-auch-weiterhin [Abruf: 14. März 2023].
Dimension
Beziehungen zu intergeschlechtlichen Menschen und Inter*Organisationen herstellen und pflegen kirchliche Netzwerke und Ämter zur Bewusstseinsbildung nutzen
• •
Dispositionalität
Relationalität
inter*freundliche und intergeschlechtliche Personen in führende Positionen von charismatischen, bildenden und amtsbezogenen Netzwerken bringen religiöse Macht an das Volk Gottes abgeben
theologische Ambiguitätstoleranz fördern ethische Prinzipien kontingenzsensibel formulieren Inklusion vor Exklusion bevorzugen und dabei den Distinktionsmarker der Männlichkeit aufgeben geschlechterinklusive Sprache verwenden Entfaltungsräume für den persönlichen Glauben bieten
•
•
Anerkennung im Sozialraum
Anerkennungsmöglichkeiten
• • • • •
Positionalität
Kontingenzbereich
Tabelle 5: Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im röm.-kath. Feld
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Intersubjektivität
Person
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Interobjektivität
Raum
Proximität
Kapazität
Lokalität
Verfügbarkeit und Erreichbarkeit kirchlicher, seelsorglicher und theologischer Angebote für intergeschlechtliche Menschen vor Ort und virtuell ausbauen Kontakt zu nahegelegenen Organisationen und Vereinen suchen und pflegen
•
•
religiöses Kapital für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen einsetzen finanzielle Ressourcen bereitstellen kirchliche Gebäude und Gebäude in kirchlicher Trägerschaft für Veranstaltungen etc. zur Verfügung stellen
intergeschlechtlichen Menschen in der Kirche Platz schaffen, auch symbolisch: in persönlichen, tradierten kulturellen und kirchlichen Heilsgütern zentrale und belebte Orte (auch das Internet) nutzen
• • •
•
•
Anerkennung im Lebensraum
246 Mehrdeutige Körper
ritualisierte Abläufe zur Wertschätzung intergeschlechtlicher Anliegen festlegen (Feste, Infoveranstaltungen, Aussendungen, …) Volk-Gottes-Theologie immer wieder einbringen
mit Brüchen und Krisen kreativ umgehen Ämterbesetzung von der geschichtlichen Entwicklung abhängig machen lineare Narrative u. Traditionen hinterfragen Diskriminierungskreisläufe durchbrechen
• • • •
Diskontinuität
Entwicklungsbegleitende Unterstützungen anbieten (Initiationsriten) dem kontinuierlichen Austausch miteinander und der Bewusstseinsbildung Zeit widmen
• •
• •
Iterabilität
Kontinuität
Anerkennung im Zeitraum
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
Intertemporalität
Zeit
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Mehrdeutige Körper
sind ein kritischer Widerspruch gegen die Erfahrung von Absurdität. Diese Bestimmung erweist sich angesichts des Postulats der vollkommenen Freiheit als notwendig, da nur auf diese Weise die ständig neu und immer wieder auftretenden Kontingenzerfahrungen bewältigbar werden und dies in zweifacher Weise: Bedingungen der Möglichkeit schränken subjektive Freiheit material ein, Möglichkeiten der (Neu-)Konstitution befreien sie formal von Notwendigkeiten. Damit schließt Kontingenz Handlungsspielräume und Handlungsoptionen gleichermaßen, wie sie diese erst eröffnet. Ein moralisches Subjekt erfährt sich folglich als frei, wenn es nicht nur sein Selbstverhältnis zur Kontingenz, sondern die es bedingenden Umständen selbst als kontingent erlebt. Erst dadurch kann die Einsicht gewonnen werden, dass nicht alles so sein muss/soll, wie es gerade ist; dass moralisches Handeln möglich und gefordert ist. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung begründen damit moralische Subjektivität. Die Ethik – so das Fazit für Kap. 3.4.2 – entscheidet sich aus dieser Hoffnungsperspektive heraus für die Option für Freiheit und macht sie zu ihrem methodischen Programm. Gleichzeitig weiß sie sich auf die Sinnhoffnung des Freiheitsglaubens angewiesen, der aber nicht unbedingt theologisch ausgestaltet sein muss. Der spezifische Beitrag der Theologie besteht damit nicht in der Vermittlung einer gehaltlichen Freiheitsvorstellung, sondern in der Vermittlung ihrer praktischen Glaubenskompetenzen und der damit einhergehenden Haltung von Ambiguitätstoleranz. Umgekehrt muss sich die Theologie der Option für Freiheit verpflichten, wenn sie philosophisch für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen eintreten will. Die Konsequenz daraus ist allerdings, dass sie andere ethische Kriterien, die sie in ihrer Tradition vorfindet, an dem Prinzip der Freiheit zu bemessen hat. Damit eine theologische Ethik an die Option für Freiheit glauben kann, muss sie sich ihrer phänomenologisch immer wieder vergewissern, indem sie Prozesse der Einbettung und Verkörperung kontingenter Freiheit berücksichtigt. Diese Option für Freiheit ist also nicht mit Wahlfreiheit gleichzusetzen, da sie keine expliziten Freiheitsgehalte wählt, sondern nur als formallogische Voraussetzung des Sich-Verhalten-Könnens gegenüber der Materialisierung kontingenter Freiheit gedacht wird. Dies tut sie gemäß Wendel im Anderskönnen autonom und im Neubeginnen kreativ. Moralisch Handelnde müssen Freiheit erfahren haben, um ihre Freiheitsräume erkennen und bei Bedarf/Not ausweiten zu können. Zusammengefasst bedeutet dies, dass erst die durch die Option für Freiheit begründete Annahme, dass der Mensch sich zu seinen Vorgegebenheiten verhalten kann, die Forderung nach moralischer Verantwortung und das Urteil über moralische Schuld ermöglicht. Hiermit ist die Relevanz des Freiheits- wie Kontingenzdenkens für die theologische Ethik aufgezeigt. Eine dementsprechend angelegte Freiheitsanthropologie beruft sich also nicht allein auf die Freiheit des moralischen Subjekts, die sie transzendentallogisch voraussetzen muss, sondern bindet Freiheitserfahrungen an die dreidimensionalen Kontingenzbereiche von Person, Raum und Zeit zurück (vgl. Kap. 3.4.3). Im Anschluss an den bodily turn und material turn schien daher eine Ergänzung der freiheitstheoretischen und sozialphilosophischen Bestimmung des Menschen gemäß Pröpper und Bourdieu um weitere räumliche und zeitliche Faktoren notwendig. Um zu einer angemessenen Einschätzung der verfügbaren Handlungsspielräume für Anerkennung zu gelangen, kam es deshalb darauf an, die jeweiligen Relationen der einzelnen Akteur*innen im personellen, räumlichen und zeitlichen Gesamtzusammenhang zu betrachten. Dazu dienten die Erläute-
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
rungen zu diesen Kontingenzbereichen in Kap. 3.4.4, welche zumindest eine kriteriologische Leitlinie für die Analyse von Anerkennung im Anschluss an die jeweils benannten Dimensionen boten. Zusammengefasst lässt sich die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Verbündeten im römisch-katholischen Feld durch die Verkörperung kontingenzsensibler Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien (Dispositionalität), die soziale Position im Feld (Positionalität) und die Herstellung und Pflege von sozialen Beziehungen, zu intergeschlechtlichen Menschen (Relationalität) erwirken. Ferner erweist es sich als sinnvoll, den Anerkennungsprozess zunächst an zentralen und belebten Orten (Lokalität) wie etwa in kirchlichen Gebäuden in Gang zu bringen, um intergeschlechtlichen Personen physisch Platz bereitzustellen. Darüber hinaus muss sich dieses Platzschaffen auch symbolisch ausdrücken können, indem persönliche, kulturelle und kirchliche Heilsgüter das Thema Intergeschlechtlichkeit integrieren. Anerkennung drückt sich außerdem darin aus, wie viel religiöses Kapital und finanzielle Ressourcen (Kapazität) zur Unterstützung intergeschlechtlicher Anliegen eingesetzt werden und wie viel Wert darauf gelegt wird, für diese Anliegen auch verfügbar und erreichbar (Proximität) zu sein. Dazu gehört etwa auch, den Kontakt zu nahgelegenen Organisationen und Vereinen aktiv zu suchen, virtuell Angebote bereitzustellen und sich nicht erst finden zu lassen. Zeitlich gesehen lässt die aktuell krisenhafte Umbruchszeit der römisch-katholischen Kirche auf einen symbolischen Wandel hoffen (Diskontinuität) und bietet zugleich die Möglichkeit, Althergebrachtes zu hinterfragen und einen kreativen Neuanfang zu wagen. Entgegen festgefahrener Traditionen, können neue ritualisierte Abläufe zur Wertschätzung intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Anliegen festgelegt werden, etwa in Form sich wiederholender, ihnen gewidmeter Feste, Informationsveranstaltungen oder periodischen Aussendungen (Iterabilität). Wiederholter Anerkennung bedarf auch eine Volk-Gottes-Theologie, die Lai*innen ein Mitbestimmungsrecht für die Gestaltung des religiösen Zentrums zuspricht. Anerkennung bedeutet zudem, das Gefühl zu vermitteln, für jemanden dauerhaft da zu sein (Kontinuität), selbst wenn der individuelle Lebensweg von Glaubens- oder Identitätskrisen gezeichnet ist, die die Zugehörigkeit zum römisch-katholischen Feld betreffen. Dies lässt sich dadurch befördern, dass man den existenziellen Lebensweg intergeschlechtlicher Menschen unterstützend begleitet, Personen mit ausreichend Tatendrang und Engagement in leitende Positionen bringt und im römisch-katholischen Feld kontinuierlich Bewusstseinsbildung betreibt (Kontinuität). Was diese vorausgegangenen Analysen deutlich zeigen, ist die Unabschließbarkeit der Realisierung von Anerkennung. Das mag zum einen überfordernd und resignativ stimmen, zum anderen liegt gerade in der Offenheit dieser kontingenzsensiblen Analyse ihre Stärke, denn sie erweitert die Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten von alternativen Handlungsoptionen und stärkt damit die Hoffnung und Motivation für moralisches Handeln. Für den Kampf um Anerkennung ist die Hoffnungsperspektive sogar zwingend notwendig, denn sie eröffnet, dass der Kampf möglicherweise nicht umsonst und vergeblich, sondern sinnvoll und erfolgreich ist.
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3.5. Zusammenfassung dritter Teil: Bedingungen und Möglichkeiten der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld Der dritte Teil dieser Arbeit hat sich der Analyse von theoretischen und praktischen Voraussetzungen der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld gewidmet. Die Sichtung theologischer Literatur zum Thema Intergeschlechtlichkeit in Kap. 3.1 war zu dem Ergebnis gekommen, dass sich jene Denkmodelle als ethisch problematisch erweisen, welche die Einheit des Menschen mit Gott oder die Differenz des Menschen von Gott zu einseitig betonten. Beide genannten Denkformen tendieren nämlich dazu, die Diskriminierung intergeschlechtlicher Menschen im Diesseits vor dem Hintergrund einer wie auch immer gedachten Soteriologie zu legitimieren. Damit ist ethischen Verpflichtungsansprüchen aber insofern der Boden der Argumentation entzogen, als nur noch über eine Berufung auf den Schöpferplan Gottes das moralische Handeln an intergeschlechtlichen Menschen einsichtig gemacht werden kann. Folgt dieses zudem noch einem binären Geschlechtermodell, werden damit auch geschlechtszuweisende Eingriffe theologisch gerechtfertigt. Dagegen erwies sich ein drittes Denkmodell – das Ambiguitätsdenken – als angemessen, der Spannung zwischen Diesseitskritik und Jenseitshoffnung gerecht zu werden, weil es weder Aussagen über die Wirklichkeit Gottes, noch die Geschöpflichkeit des Menschen absolut zu setzen beansprucht. Die Beschaffenheit der je spezifischen Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und Sexualität eines Menschen wird damit weder zur Heilskategorie stilisiert, noch in ihrer Bedeutung für das Jenseits negiert. Für die darauffolgenden Analysen war die abschließende Erkenntnis wichtig, dass Zugänge gefunden werden müssen, wie ein Subjekt auch als verkörpertes und eingebettetes real anerkannt werden kann. Theoretischen Anknüpfungspunkt an die vorangegangene Bestandsanalyse bot die Theologische Anthropologie Thomas Pröppers, dessen freiheitstheologischer Ansatz in Kap. 3.2 in Grundzügen erläutert wurde. Der Ertrag seiner Auseinandersetzungen mit der Existenzialphilosophie von Albert Camus, der Transzendentalphilosophie von Hermann Krings und der Bewusstseinsphilosophie von Dieter Henrich wurde im abschließenden Kapitel für das vorliegende Forschungsthema ausgewertet. Hierbei erwies sich seine Unterscheidung von materialer und formaler Freiheit als wichtiger Anknüpfungspunkt für eine ethische Theorie der Anerkennung. Nichtsdestotrotz gab es auch einige Kritikpunkte an der beinahe dialektischen Differenzierung des formalen und materialen Charakters von Freiheit bei Pröpper in Kap. 3.3. So erwies sich seine Auseinandersetzung mit materialen Bedingungen von Freiheit als unzureichend, weil sowohl dem ethischen Anspruch, als auch dessen Realisierung nur symbolische Qualität beigemessen wird. Sein im Anschluss daran konzipiertes Liebesideal scheitert daher an ethischer Überforderung. Wird der Anspruch aber, wie die Kritik von Hansjürgen Verweyen und Benedikt Schmidt einmahnt, vollkommen gedacht und nur die Realisierung des Anspruches der Kontingenz unterstellt, kann die ethischen Relevanz des Freiheitsdenkens einsichtig gemacht werden. Ein weiterer Kritikpunkt bestand darin, dass Pröpper durch die Ineinssetzung des Prinzips und des Vermögens von Freiheit die Unterscheidung autonomer und kreativer Dimensionen des Freiheitsvermögens fehlt. Unter dem Sich-Verhalten-Können versteht
3. Freiheitstheologische Entfaltung entlang Thomas Pröpper: Mehrdeutige Körper in der Theologie
der Theologe nämlich die autonome Selbstbestimmung als kritischen Gegenentwurf zu kontingenten Umständen. Was darin nicht mitgedacht ist, sind Möglichkeiten des Sich-Verhalten-Könnens, welche sich Materialität und Gegebenheiten kreativ zu eigen machen, um neue Umstände zu schaffen. Anhand von Saskia Wendel wurden daher praktische Dimensionen des Freiheitsvermögens aufgezeigt. Zuletzt wurde entlang Krings kritisch angemerkt, dass die Ambiguität des Freiheitsbegriffes bei Pröpper zu wenig zum Tragen kommt. Obwohl der transzendentale Freiheitsbegriff leer gedacht werden muss, damit er als formal bzw. unbedingt gelten kann, kommt eine Freiheitstheorie doch nicht umhin, das Unbedingte als Existierendes immer auch schon bedingt zu denken. Das Fazit dieses Kapitels lautete, dass Freiheit nicht losgelöst von äußeren Prägungen gedacht werden kann und deshalb Freiheit und Kontingenz miteinander vermittelt werden müssen. Für Kap. 3.4 war es daher notwendig, die existenzialistischen Anknüpfungspunkte Pröppers noch einmal auszuwerten und sich von ihnen kritisch abzusetzen, um den eher negativ geprägten Begriff der Absurdität durch einen etwas positiver besetzten Kontingenzbegriff zu ersetzen, welcher gegen Ende von Kap. 3.4.1 erarbeitet wurde und sowohl die Möglichkeitsbedingungen als auch Konstitutionsmöglichkeiten von Freiheit in die Freiheitsanalyse einbezieht. Vor diesem Hintergrund wurde dann auch das von Pröpper eingebrachte Plädoyer für einen autonomen Ansatz der Ethik und seine Option für Freiheit übernommen. Demgemäß setzen ethischer Anspruch und moralisches Handeln voraus, dass der Mensch sich zu seinen Vorgegebenheiten frei verhalten kann. Im Zuge dessen wurde auch auf das Theorem Pröppers zurückgegriffen, welches Anerkennung als reziprokes Freiheitsgeschehen bestimmt. Wie dieses freie Verhältnis angesichts der Kontingenz jedoch zu bestimmen ist, wurde in der Auseinandersetzung mit der Philosophie der Verkörperung und dem Neuen Materialismus erörtert. Auf Basis der dabei gewonnenen Einsichten wurde eine kontingenzsensible Anerkennungsanalyse entfaltet, welche die Dimensionen Person, Raum und Zeit in die analytische Beurteilung von Anerkennung einbezieht. Mittels ihrer wurden abschließend die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für die intersubjektive, interobjektive und intertemporale Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholisch geprägten Sozialraum, Lebensraum und Zeitraum analysiert und festgehalten. Wenngleich damit keine abschließende Aussage getätigt, sondern nur Möglichkeitsräume aufgezeigt werden können, wie intergeschlechtlichen Menschen Anerkennung zuteilwerden kann, soll die methodische Vorgehensweise einer kontingenzsensiblen Anerkennungsanalyse keineswegs resignativ oder überfordernd stimmen. Vielmehr lautete das Fazit des dritten Teils, dass gerade in der Offenheit der kontingenzsensiblen Analyse ihre Stärke liegt. Diese methodische Vorgehensweise bleibt nicht ohne Konsequenzen für die ethische Theoriebildung und Urteilsfindung. Was angesichts der verweigerten Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen trotz der Undurchsichtigkeit der dreidimensionalen Relationszusammenhänge moralisch geboten ist, wird vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungen in einem Resümee und Ausblick gezeigt.
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4. Resümee und theologisch-ethischer Ausblick: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
Am Ende dieser Arbeit scheint es gefordert, die eingangs gestellte Frage zu beantworten, wie sich die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen speziell theologisch-ethisch entfalten lässt. Es soll darauf noch abschließend eingegangen werden. Zuvor werden jedoch die Ergebnisse der drei Teile rekapituliert. Im Zentrum des ersten Teils stand die Frage nach den Herausforderungen, die das Phänomen Intergeschlechtlichkeit an die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien von Medizin und Gesellschaft stellt. In der multiperspektivischen Betrachtung hat sich herausgestellt, dass ein binäres Denken die biologische Komplexität der Geschlechterentwicklung und Geschlechteridentität untergräbt. Da Geschlechtervorstellungen zudem kontinuierlich im Wandel begriffen sind, ist nicht die Geschlechtlichkeit intergeschlechtlicher Menschen per se die Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, sondern deren Anerkennung und die Gewährleistung deren körperlicher Integrität und Autonomie. Die Beschränkungen eben dieser wurden als sozialer Notfall betitelt, da Medizin und Gesellschaft sich bis heute zurückhaltend zeigen, ein jenseits der Binarität liegendes Geschlechterkonzept mit all seinen Konsequenzen zu akzeptieren. Der zweite Teil hat sich im Anschluss daran dem römisch-katholischen Feld gewidmet, um dessen symbolische Ordnung daraufhin zu befragen, inwiefern diese die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen beeinflusst. Als Ergebnis der im Anschluss an Pierre Bourdieu durchgeführten, sozialphilosophischen Analyse entlang des Habituskonzeptes, dessen Konzeptes der männlichen Herrschaft und religionssoziologischen Analysen konnte festgehalten werden, dass die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen vor allem dort besonders gering ist, wo die symbolische Ordnung des römisch-katholischen Feldes stark auf dem Distinktionsfaktor der männlichen Herrschaft beruht. Dabei war auffallend, dass mit dem Institutionalisierungsgrad des römisch-katholischen Habitus auch die Ablehnung von queer- und gendersensiblen Geschlechterkonzepten steigt. Umgekehrt bedeutet dies, dass intergeschlechtliche Menschen mit einer engen Bindung an die katholische Kirche als Institution eher dazu neigen, ihr Geschlechtsempfinden dem binären Denken anzupassen. Meist gelingt dies aber nicht vollständig, was zu kognitiven Dissonanzen zwischen der erlebten und angestrebten Geschlechtsidenti-
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tät führt. Das Gefühl der Ohnmacht, Fremdbestimmtheit und fehlenden Akzeptanz hat nicht bei wenigen zu einer gänzlichen Abwendung von der Kirche als Institution geführt. Davon zu unterscheiden ist jedoch die jeweilige Glaubensbiographie intergeschlechtlicher Christ*innen, die in mancherlei Hinsicht von den binären Konzepten unberührt geblieben zu sein scheint. Solche Christ*innen, darunter auch Katholik*innen, beschreiben sich als ein von Gott geschaffener und geliebter Mensch und deuten ihre Intergeschlechtlichkeit als Geschenk, Gabe oder Aufgabe. Da es theologisch auch für intergeschlechtliche Menschen Anknüpfungspunkte an den römisch-katholischen Glauben gibt, wurde im dritten Teil untersucht, welche theoretischen und praktischen Voraussetzungen die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld bedingen und ermöglichen. Damit wurde der freiheitstheoretische Anspruch aufgenommen, sich zu kontingenten Umständen wie der Strukturierung des römisch-katholischen Feldes noch einmal verhalten zu können. Wie aus dem zweiten Teil hervorging, gibt es trotz der stark objektivierten und institutionalisierten Formen einer binären Geschlechteranthropologie inkorporierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die sich zu diesen institutionalisierten Vorgaben noch einmal kritisch verhalten können. Entlang der Theologischen Anthropologie und der Theologie der Freiheit von Thomas Pröpper wurden die transzendentalphilosophischen Begründungsversuche des Sich-Verhalten-Könnens nachgezeichnet. Das dafür in Anspruch genommene Denken wurde als freiheitstheoretische doxa benannt, welche nicht nur den Möglichkeitsaufweis einer formalen Konzeption freier Subjektivität, sondern auch den Relevanzaufweis dieser doxa für die Ethik erbracht hat. Da das Denken Pröppers bei den Möglichkeitsbedingungen materialer Freiheit ein vorläufiges Ende gefunden hatte, wurden gegen Ende des dritten Teils auch Konstitutionsmöglichkeiten von Freiheit in eine kontingenzsensible Anerkennungsanalyse eingebunden. In dieser wurden Erkenntnisse des corporeal turn und material turn konstruktiv verarbeitet, was zu einer nach Person, Zeit und Raum strukturierten Kriteriologie für die Analyse von Anerkennung geführt hat. Abschließend wurden die Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmöglichkeiten real vermittelter Anerkennung für intergeschlechtliche Menschen in Bezug auf den Sozialraum, Lebensraum und Zeitraum angedeutet. Das analytische Ergebnis scheint ernüchternd, da es aufgrund der Komplexität der Möglichkeitsbedingungen und Konstitutionsmöglichkeiten wohl mehr als kritische Ausgangslage für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen gesehen werden kann, denn als konkrete Handlungsoption. Allzeit verbindliche ethische Leitlinien, wie die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen theologisch und darüber hinausgehend im römischkatholischen Feld umzusetzen ist, können daraus jedenfalls nicht gezogen werden, weil sich das Feld fortlaufend wandelt. Die Analyse ist daher als Momentaufnahme zu betrachten, die je nach Strukturierung des römisch-katholischen Feldes neu adaptiert werden muss. Kontinuität sichert freilich die Option für Freiheit, denn sie fordert Anerkennung unablässig ein. In einem kurzen theologisch-ethischen Ausblick soll diese praktische Erkenntnis noch einmal theoretisch eingeräumt werden: Die Relevanz dieses deutungsoffenen Ergebnisses ergibt sich aus der spezifischen Perspektivierung der freiheitstheoretischen doxa: Da sie den Glauben an Freiheit voraussetzt, ist ihr Freiheit sowohl höchstes moralisches Gut als auch leitendes Prinzip, denn die Option für Freiheit hält die Denk-
4. Resümee und theologisch-ethischer Ausblick: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
möglichkeit eines Sich-Verhalten-Könnens in Autonomie und Kreativität zu kontingenten Umständen präsent. Gleichsam kann das Freiheitsdenken diese Sinnfrage aber nicht beantworten, denn sie ist – soziologisch gesprochen – eine undurchschaubare doxa bzw. – theologisch gesprochen – eine Glaubensentscheidung, in die der Mensch hineingestellt ist. Eine freiheitstheoretisch entfaltete Ethik geht von moralischer Verantwortung aus und verpflichtet moralische Subjekte gleichermaßen auf ihre Prinzipien, Werte und Normen. Erst in der Verbindung mit einer kontingenzsensiblen Anthropologie wird diese Option für Freiheit vor moralischer Überforderung bewahrt und zugunsten moralischer Subjekte abgemildert. Darin unterscheidet sich die kontingenzsensible Perspektive von der existenzialistischen: Schuld und Verantwortung sind nie absolut zurechenbar, sondern moralische Subjekte werden durch den Gedanken der Kontingenz ein Stück weit entlastet und dennoch zur Verantwortungsübernahme motiviert, da ein Verhältnis zur Kontingenz nicht ausgeschlossen wird. Notwendig dafür ist eine ambiguitätstolerante Haltung, welche sowohl die Möglichkeitsbedingungen als auch die Konstitutionsmöglichkeiten von Freiheit und Anerkennung in ihre ethische Reflexion integrieren kann. Da die materialisierte Freiheit darüber bestimmt, wie ein moralisches Subjekt in Relation mit seinem Sozialraum, seinem Lebensraum und seinem Zeitraum treten kann, kommen alle Praktiken, die derartige Relationen unterbinden oder verneinen, einer Anerkennungsverweigerung gleich. Ethiktheorien, die dieses reflexive und agentielle Sich-Verhalten-Können in Freiheit nicht voraussetzen, müssten gemäß ihrer Begründungslogik moralische Verantwortung ontologisch und damit heteronom konzipieren. Für moralisches Scheitern sind in dieser Logik die Subjekte nicht selbst verantwortlich, sondern das ihnen vorgegebenen Schicksal oder der vorherbestimmte Schöpfungsplan. Diese Ethiken ziehen dialektische Differenzkategorien nach sich, welche zu einer Spaltung der Gesellschaft in Gerettete und Sünder*innen führt. Am Phänomen Intergeschlechtlichkeit konnte besonders deutlich aufgezeigt werden, dass eine Pathologisierung, Stigmatisierung und Tabuisierung intergeschlechtliche Menschen ihres positiven Selbstverhältnisses und in weiterer Folge ihres positiven Weltverhältnisses berauben können. Die durch die verwehrte Anerkennung abgebrochenen Relationen und negative Zuschreibungen beschneiden im wörtlichen wie im übertragenen Sinne die körperliche Integrität und Autonomie intergeschlechtlicher Menschen. Im differenztheoretischen Denken werden sie daher zu den jeweils anderen, für die andere ethische Kriterien gelten und denen nicht dieselben Rechte zugestanden werden. Die Haltung der Ambiguitätstoleranz erlaubt diese Differenzierung nicht. Vielmehr wird eine Ethik in dieser Haltung dazu aufgefordert, Ambiguität in der ethischen Theorie- wie Urteilsbildung zuzulassen.1 Somit verbieten sich auf allen Ebenen abschließend 1
Vgl. Mairinger, Katharina, Eindeutig mehrdeutig. Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik, in: Marlene Deibl – Katharina Mairinger (Hgg.), Eindeutig mehrdeutig. Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion (Religion and Transformation in Contemporary Society 20), Göttingen 2022, 117–142. Im genannten Artikel habe ich versucht aufzuzeigen, dass die Integration von Vielfalt und Mehrdeutigkeit in die Ethik spätestens mit dem linguistic turn zum zentralen Thema der ethischen Theoriebildung wird. Während sich der Artikel weitgehend auf linguistische Betrachtungen beschränkt, deutet doch der unter dem Aspekt der kommunikativen Ambiguität angedeutete Sachverhalt an, dass sich Ethik nicht allein in Reflexionsmodellen
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dichotomisierende sowie vereindeutigende ethische Urteile, da moralische Prinzipien, Werte und Normen ebenfalls den sie konstituierenden Ambiguitätsphänomenen unterliegen.2 Moralischen Verbindlichkeiten eignet also eine gewisse Vorläufigkeit. Das führt ihren Geltungsanspruch aber nicht grundsätzlich ad absurdum, denn ihr theoretischer Anspruch verhält sich zur moralischen Praxis wie der Anspruch des formalen Freiheitsvermögens zum materialen Freiheitsvollzug: Obwohl moralische Subjekte an ihrem formalethischen Anspruch nur scheitern können, weil ihr Verhalten-Können das Ergebnis von komplexen Materialisierungsprozessen ist, ist der Anspruch damit nicht aufgehoben, andere Freiheiten um ihrer selbst willen anzuerkennen. Umgekehrt heißt dies, dass moralische Verbindlichkeiten so lange gelten können und auch sollen, bis die Verhältnisse und Bedingungen eine Reformulierung oder Aufhebung eines moralischen Imperativs zugunsten eines solchen fordern, der besser geeignet scheint, ein gelingendes Zusammenleben aller zu befördern und zu gewährleisten. Wenn nämlich eine Gemeinsamkeit aller Ethiktheorien festgehalten werden kann, dann wohl gleichermaßen ihre Ausgangs- wie Zielbestimmung als »Reflexionstheorie der Moral«3 , zum Gelingen des Lebens – das es nie nur einzeln und formal gibt – beizutragen. Kontingente Freiheit wird damit zum für die Ethik vorauszusetzenden Prinzip, die Ambiguitätstoleranz zur Haltung, welche die Spannung zwischen formalem Anspruch und materiellem Vollzug aufrechterhält. Gleichwohl kann aber nicht abgestritten werden, dass die Fähigkeit zu glauben, nicht auch für eine Ethik von eminenter Relevanz sein kann. Schließlich hat jede Ethik Prinzipien zur Grundlage, hinsichtlich deren Gültigkeit im Wechsel sowohl Vertrauen als auch Zweifel angebracht sind. Die Theologie kann neben anderen Glaubenssystemen also einen Beitrag dazu leisten, wie geglaubt werden kann und welches Glauben lebensdienlich und welches lebenshinderlich ist. Hierfür liefert Pröpper sehr wohl ein eindrückliches Glaubenszeugnis, das von einer Haltung des Suchens und Zweifelns ausgeht, wie bereits in Kap. 3.4.1 deutlich wurde. So sollte denn auch ausgewiesen sein, dass nicht nur der Glaube und die Konzeption eines moralischen Subjekts, sondern auch die freiheitstheoretische doxa und mit ihr die autonome Ethik stets begründungsbedürftig bleiben.4 Die sich ständig verändernden Relationen werden in einer ambiguitätstoleran-
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erschöpft, sondern durch die Praxis erst zu ihrer Gestalt und Relevanz kommt. Als verkörperte und eingebettete Weltanschauung, die ein gelingendes und gutes Zusammenleben gewährleisten will, schöpft die Ethik gleichermaßen aus ihrer Kontingenz wie sie von ihr bestimmt wird. Der bodily/corporeal turn und material turn verschärfen diese Einsichten noch einmal explizit hinsichtlich raumzeitlicher Kontingenz. Was konstitutive Elemente einer solchen ambiguitätstoleranten Ethik sein können, fasst das Fazit des schon genannten Artikels folgendermaßen zusammen: »Eine ambiguitätstolerante Ethik misst sich nicht an, abschließend zu urteilen, für sie ist nur eindeutig, mit Mehrdeutigkeit konstruktiv umgehen zu müssen: sei mit der Vielgestaltigkeit ihrer Prinzipien (Polymorphie), ihrer Entstehungsbedingungen (Polygenese), ihrer Anwendungsbereiche (Polyvalenz), oder ihrer Kommunikationsformen (Polylog).«, Mairinger, Eindeutig mehrdeutig, 140–141. Für diese Kontext schließt diese Haltung die unbedingte Forderung der Anerkennung von Menschen unabhängig von und zugleich inklusive ihrer individuellen Geschlechtsidentität ein. Vgl. Luhmann, Niklas, Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1871), Frankfurt a.M. 4 2016, 270–347. Die politisch säkularisierte Rede von der Freiheit kann nämlich auch bspw. der Unterdrückung religiöser Minderheiten dienen. So wird etwa in der Kopftuchdebatte das Recht auf sexuelle Selbstbe-
4. Resümee und theologisch-ethischer Ausblick: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
ten Haltung aber nicht nur als Hindernis, sondern auch als Ermöglichungsgrund neuer Anerkennungsverhältnisse begriffen. Sie trägt dazu bei, Anerkennungsstrukturen und das ihr logisch vorausgehende Prinzip der Freiheit nicht mehr länger als notwendiges, sondern mögliches ethisches Ziel darzustellen. Letzteres verbürgt die Sinnhoffnung auf eine unbedingte Anerkennung und in weiterer Folge die Rechtfertigung eines Daseins um seiner selbst willen. Ein dabei zu berücksichtigender Kritikpunkt kann nicht widerspruchslos ausgeräumt werden: »Wenn der religiöse Sinn allerdings auf einen rein formalen Transzendenzbezug ohne jede inhaltliche Konkretisierung reduziert wird, bietet er kaum Hilfe bei der konkreten Lebensorientierung und der inhaltlichen Bestimmung der Lebensziele.«5 Insgesamt kann man aber folgern, dass Bourdieus soziologische Bestimmung der Aufgabe von Religion zutreffender und inspirierender ist, als sie für ihn und seine Kritiker*innen auf den ersten Blick scheinen: Die Aufgabe von Religion besteht tatsächlich in der »Rechtfertigung für ihre Existenz in ihrer besonderen Form, also in einer bestimmten sozialen Position«6 . Religion ist für Anerkennung verantwortlich und genau dies scheint auch der Kerngedanke der Theologie Pröppers zu sein, der Theologie und Kirche (wie bereits zitiert) dazu auffordert, »nach realen Vermittlungsprozessen des Glaubens zu suchen, durch die Menschen in ihrer konkreten Situation sich unbedingt anerkannt und zur verbindlichen Übernahme ihrer Freiheit ermutigt fühlen«7 . Folgt man aber seiner Zeitdiagnose, dass es verstärkt zu einer »Regression des Freiheitsbewußtseins« kommt, wird deutlich, worin die künftigen Aufgaben im Kampf um Anerkennung bestehen und welchen Beitrag eine theologische Ethik dazu leisten kann. Laut Pröpper sind (1) »der Tod des Subjekts«, (2) die »Anonymisierung von Schuld«, (3) die »Manipulation der Leitbilder und Werte«, (4) ein »kolonisiertes und fragmentiertes Bewusstsein«, und schließlich (5) das »Schwinden moralischer Kompetenz« als Folge dieser Regression zu begreifen.8 Diese nicht näher ausgefaltete Analyse kann in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit weitergedacht werden. Verpflichtet sich die theologische Ethik nicht auf die Option für Freiheit, droht intergeschlechtlichen Menschen im römisch-katholischen Feld Folgendes: a) Tod des Subjekts: Ohne die Zurechenbarkeit moralischer Verantwortung beschränkt sich die Frage nach der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen innerhalb des römisch-katholischen Feldes auf eine Jenseitsvertröstung, welche die jeweilige Beschaffenheit des Körpers und die dadurch erlittenen Gewalterfahrungen einer ausweglosen und nicht zu hintergehenden Sündenverstrickung zurechnet. Damit wird sowohl der Subjektstatus intergeschlechtlicher Menschen negiert, als auch die Handlungsfähigkeit katholischer Gläubiger, gegen die widrigen Umstände etwas unternehmen zu können. Gottes Plan tritt dann an die Stelle der moralischen
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stimmung eingeklagt und der Islam damit als frauenfeindlich gebrandmarkt. Vgl. Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit, 26. Fenner, Religionsethik, 107. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, 14. Pröpper, Theologische Anthropologie, 756. Alle Zitate des Absatzes aus: Pröpper, Theologische Anthropologie, 751.
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Verantwortung. Damit gehen weiterhin Pathologisierungen, Stigmatisierungen und Tabuisierungen einher, die ebenfalls dafür verantwortlich sind, dass intergeschlechtlichen Menschen eine rechtliche Existenz verweigert wird. Ohne diesen Status sind sie aber nicht gleichwertige Mitglieder einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, deren Freiheitseinschränkung als moralisches Übel wahrgenommen wird. Die Bewusstwerdung des Freiheitsdenkens vor dem Hintergrund der Existenzberechtigung intergeschlechtlicher Menschen hat also mit der Sichtbarkeit und Gerichtsbarkeit von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu tun. b) Anonymisierung von Schuld: Wird an der Zurechenbarkeit moralischer Verantwortung durch Freiheit nicht festgehalten, fehlen zugleich Denkmöglichkeiten, die Schuld an der Diskriminierung innerhalb des römisch-katholischen Feldes einzugestehen. Je mehr Personen sich aber für die die Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen mitverantwortlich fühlen, desto entschiedener treten soziale Akteur*innen gegen sie auf. Die Schuld und Verantwortung für den Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen allein bei Mediziner*innen zu suchen, greift also zu kurz. Es gilt darüber hinaus, die gesellschaftlichen, religiösen und weiteren Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien kritisch auf ihre Einschließungsund Ausschließungsfunktionen zu befragen und anhand ihrer die Mitschuld und Mitverantwortung zu bestimmen. c) Manipulation der Leitbilder und Werte: Die überhöhte Rede einer ontologischen Bedeutung der Zweigeschlechtlichkeit dient in vielen Fällen dazu, Familienleitbilder, Körpervorstellungen und weitere damit verbundene Werte normativ festzulegen. Gemäß einer freiheitstheoretischen Denkweise verbietet sich jedoch eine eindeutige Festlegung ebendieser. Im Fall von Intergeschlechtlichkeit erfordert dies einen ambiguitätstoleranten Deutungsrahmen: Ambige Körper dürfen nicht länger als Ausdruck von Unvollkommenheit oder Heilsbedürftigkeit interpretiert werden. Ob sich ein Mensch zu einem verantwortlichen und moralischen Subjekt entwickeln kann, hängt nicht von seinen Geschlechtsmerkmalen geschweige denn seiner Beischlaf- und Zeugungsfähigkeit ab. Nur wenn deutlich wird, dass es kein normativuniversales Bild von Subjektivität geben kann, sind auch Geschlechtsmerkmale kein Kriterium für das Zu- oder Absprechen von Würde oder Anerkennung. d) Kolonisiertes und fragmentiertes Bewusstsein: Wird die Option der Freiheit nicht gewählt, erfahren sich Subjekte mitunter nur noch als Unterworfene einer weltumgreifenden Kontingenz. Eine theologische Hoffnungsperspektive auf Rettung verliert ihre Relevanz und letztlich Gültigkeit, wenn für den Übergang von den Möglichkeiten zu den Wirklichkeiten nicht auf eine (auch noch so geringe) Autonomie gebaut werden kann. Umgekehrt verliert der gläubige Gehorsam seine existenzielle Bedeutsamkeit, wenn er nur noch auf strikten Vorgaben und Kontrollen, nicht aber auf Anerkennung und Vertrauen basiert. So gilt auch für intergeschlechtliche Menschen, dass sie das Bewusstsein von sich selbst nur dann als stabile Identität ausbilden können, wenn sie die Abgrenzung des Ich von seinen kontingenten Umständen als Prozess der Selbstbestimmung erfahren können. Ein intergeschlechtlicher Mensch entwickelt so ein Bewusstsein, das herm sich nicht an heteronormativen Maßstäben orientieren muss, sondern autonome und kreative Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens wahrnehmen kann.
4. Resümee und theologisch-ethischer Ausblick: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik e) Schwinden moralischer Kompetenz: Wer die Option für Freiheit nicht ernst nimmt und damit gleichzeitig auch Schuld und Verantwortung negiert, wird letztlich darin versagen, Anerkennung praktisch zu vermitteln, denn wo keine Notwendigkeit gedacht wird, kann auch keine moralische Verpflichtung erwachsen. Einem gelingenden Zusammenleben ist damit jegliche Grundlage genommen, denn die Annahme, alles ergebe sich aus Willkür, hält auch die Wachsamkeit und Suche nach Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsoptionen nicht mehr aufrecht. Umgekehrt bewirkt ebenso eine Haltung, welche die normativen Gehalte einer Ethik nicht als kontingenzsensibel begreift, das Schwinden moralischer Kompetenz, weil die Starrheit des ethischen Systems der Logik der Praxis dann nicht mehr gerecht wird. Es scheint jedoch hilfreich, die kritische Komplementarität des immanenten und transzendenten Freiheitsgedankens für die Ethik zu nutzen. Auf diese Weise kann auch wechselhaft in Erinnerung gerufen werden, dass ein moralisches Subjekt den kontingenten Umständen weder völlig ausgeliefert ist, noch gänzlich über sie bestimmen kann. Aufgabe der Ethik ist es dann, die Option für Freiheit wachzuhalten und sie kritisch einzufordern, wo sie dem Vergessen anheimgegeben ist. Nur so bleibt sie für die Kontingenz des Daseins und der darin angelegten Sinnsuche sensibel. Das Phänomen Intergeschlechtlichkeit aufgrund logischer Inkongruenz mit der römisch-katholischen doxa zu negieren oder gar auszuschließen, verbietet sich schlichtweg, wenn das römisch-katholische Feld nicht der Brandherd moralischer Inkompetenz werden will.
Wie kann nun die eingangs gestellte Frage vorläufig beantwortet werden? Die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im römisch-katholischen Feld lässt sich theologisch-ethisch folgendermaßen entfalten: durch eine ambiguitätstolerante Haltung, die den Anspruch formaler Freiheit trotz der Kontingenz materialisierter Freiheit aufrechterhält. So gilt es mit Ernst wahrzunehmen, dass intergeschlechtlichen Menschen im römisch-katholischen Feld bislang Anerkennung verwehrt wurde und wird, dass es aber gleichzeitig bereits soziale Akteur*innen dieses Feldes gibt, die diese verwehrte Anerkennung vor dem Hintergrund eines Freiheitsdenkens zurückweisen und sich dafür engagieren, die Verhältnisse gemäß der Option für Freiheit in allen kirchlichen Grundvollzügen zu ändern. Für den Einsatz zur Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen können folgende Erkenntnisse leitend sein: Im Wissen darum, dass der Prozess der Subjektwerdung ein kontinuierlich veränderlicher ist und Identitätsabgrenzung in Form sozialer Positionierung nur vorläufig stattfindet, müssen Sozialräume das dynamische Wechselspiel der sozialen Machtverhältnisse immer wieder in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht werden. In der Hoffnung, dass intergeschlechtliche Menschen in der Kirche Platz finden können, müssen Lebensräume ihren Bedürfnissen entsprechend neu eingerichtet und kreativ umgestaltet werden. Im Glauben, dass die Vielfalt der Schöpfung gewollt und zu würdigen ist, müssen ihr Zeiträume der Entfaltung und des Festes zur Verfügung gestellt und gewidmet werden. Kurzum: In Liebe müssen all jene Verhältnisse verändert werden,9 die der Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen widersprechen. 9
Vgl. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, 125.
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Allgemeines Abkürzungsverzeichnis
AGS AMH ao. AR bspw. CAH d.h. DAX1 DER DHT Diss. DL DMRT1 DSD dup. etc. FGF9 FOXL2 FSH FST Habil. hCG HG Hg. hg. v. Hgg. ICD Jh. Kap. KTF LH
Adrenogenitales Syndrom Antimüller’sches Hormon außerordentlich Androgen Rezeptor beispielsweise Congenital Adrenal Hyperplasia das heißt Dosage sensitive region on the X chromosome Deutscher Ethikrat Dihydrotestosteron Dissertation Dienstleistungen DM-related transcription factor 1 Disorders of Sex Development duplex et cetera Forkhead Box L2 Forkhead Box L2 Follikelstimulierendes Hormon Follistatin Habilitation Hormon Choriongonadotropin Heilsgüter Herausgeber*in herausgegeben von Herausgeber*innen International Classification of Diseases Jahrhundert Kapitel Katholisch-theologische Fakultät Luteinisierendes Hormon
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LHCGR Nr. NR5A1 Prof. röm.-kath. RSPO1 s.u. SDM SF1 SOX8 SOX9 SRY theol. u.a. übers. v. Univ. URL usw. v.a. vgl. Viril. WDHK WHO WNT4 z.B. zgl.
Luteinisierendes Hormon/Choriongonadotropin Rezeptor Nummer Nuclear receptor subfamily 5 group A member 1 Professor*in römisch-katholisch R-spondin 01 gene siehe unten Shared Decision Making Steroidgenetic factor 1 Sex determining region on the Y chromosome – HMGbox8 Sex determining region on the Y chromosome – HMGbox9 Sex determining region on the Y chromosome theologisch und andere übersetzt von Universität Uniform Resource Locator und so weiter vor allem vergleiche Virilisierung Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien World Health Organisation Wingless-type MMTV integration site family, member 4 zum Beispiel zugleich
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:
Entwicklung der inneren Geschlechtsmerkmale................................. 22 Entwicklung der äußeren Geschlechtsmerkmale ................................ 23 Homologe Systematisierung männlicher Herrschaft.............................103 Strukturkonfiguration des religiösen Feldes .................................... 117
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Differenzierungskriterien für die Geschlechtsbestimmung .......................... 17 Vergleich der Kategorisierungen intergeschlechtlicher Phänomene ................. 39 Eigenschaften des Habitus nach Bourdieu.......................................... 97 Religiöses Kapital des römisch-katholischen Feldes ................................128 Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen im röm.-kath. Feld ...................245
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