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German Pages 271 [274] Year 2015
Bernhard Irrgang / Caris-Petra Heidel
Medizinethik Lehrbuch für Mediziner Philosophie Franz Steiner Verlag
Bernhard Irrgang / Caris-Petra Heidel Medizinethik
Bernhard Irrgang / Caris-Petra Heidel
Medizinethik Lehrbuch für Mediziner
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: © Kurt Kleemann / fotolia.com
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10957-4 (Print) ISBN 978-3-515-10958-1 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort.............................................................................................................. 0.
Einleitung: Medizinethik zwischen Standesethos und philosophischer Bereichsethik .............................................................
1. 1.1
Ärztliches Ethos und Medizinethik im Kontext der Philosophie ........ Medizinethik als angewandte Ethik im Kontext der philosophischen Ethik..................................................................................................... Medizinethik und ärztliches Ethos im Wandel der Medizingeschichte ............................................................................................ Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung ............................................... Aufklärung, Patientenautonomie und Entscheiden für Andere – neue Grundlage der medizinischen Ethik seit Mitte des 20. Jahrhunderts ...................................................................................
1.2 1.3 1.4
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 4. 4.1
Veränderungen im Verständnis von Krankheit, Behandlung und Rolle des Arztes durch Biomedizin – Konsequenzen für Medizinethik ..................................................................................................... Molekulargenetik als umstrittene Leitwissenschaft der Biomedizin ... Neue ethische Herausforderungen durch Stammzellforschung, regenerative und personalisierte Medizin ............................................ Prädiktive Diagnostik und humangenetische Beratung ....................... Human Design zwischen Therapie und Enhancement ........................ Ethische Probleme am Lebensanfang .................................................. Der moralische Status des Embryos und die Leiblichkeit der Embryonalentwicklung: Drei Modelle ................................................ Reproduktionsmedizin und assistierte Fortpflanzung als Einfallstor für das Design von Menschen ............................................................. Embryonenforschung, Arbeit mit embryonalen Stammzellen, therapeutisches Klonen ................................................. Lebensschutz und Abtreibung (medizinische Indikation), Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik ......................................... Pränataldiagnostik ............................................................................... Präimplantationsdiagnostik ................................................................. Schwangerschaftsabbruch ...................................................................
7 9 20 20 31 36 41
55 55 60 69 76 85 85 100 109 118 118 123 129
Gesundheit und Gesellschaft ............................................................... 134 Soziale Herausforderungen der Medizin, Gesundheitsökonomie und Kosten-Nutzen-Analysen..................................................................... 134
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4.2 4.3 4.4 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 6.1 6.2 6.3 6.4
Inhaltsverzeichnis
Das problematische Gehirn: Körperliche und seelische Krankheiten – eine neue Lifestyle-Medizin? .............................................................. 144 Verteilung der Ressourcen; Rationalisierungskriterien, Gerechtigkeit und Gleichheit...................................................................................... 154 Ethisch-moralische Probleme der Transplantationsmedizin................ 161 Ethische Probleme am Lebensende ..................................................... Selbstbestimmtes Altern und die Möglichkeiten der Lebensverlängerung ........................................................................................ Langzeitpflege, Alterssuizid, ärztliche Sterbebegleitung, das sterbende Kind............................................................................... Der sterbende Patient, aktive und passive Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid ................................................................................. Patientenautonomie und Patientenverfügung ...................................... Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis in der technologischen Hypermoderne .......................................................... Tierversuche in Deutschland, gesetzliche Regelungen und ethische Diskussion ........................................................................................... Forschung am Menschen und Humanexperimente – Richtlinien und deren Diskussion........................................................................... Forschung an psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen ............................................................................................. Wissenschaftliche und klinische Praxis, wissenschaftliches Fehlverhalten .......................................................................................
172 172 184 193 208 216 216 221 227 230
Glossar .............................................................................................................. 241 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 255 Register ............................................................................................................. 269
VORWORT Diese Medizinethik für Mediziner ist in mehrfacher Hinsicht aus der Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven zur Praxis der Medizin in langer gemeinsamer Arbeit entstanden. Die Autorin, Frau Caris-Petra Heidel, vertritt eine Professur für Medizingeschichte, Methodenlehre der Medizin und Medizin-Ethik, der Autor, Bernhard Irrgang, eine Professur für Technikphilosophie, die Wissenschaftsphilosophie, tranzdisziplinäre Forschung und angewandte Ethik einschließt. Beide können auf ein langes Forscherleben an der TU Dresden zurückblicken. Die medizinische und die philosophische Sichtweise haben sich hoffentlich in anregender Weise gegenseitig durchdrungen, aber auch die des Arztes und des Patienten mit langer Krankheitserfahrung. Für das akribische Korrekturlesen danken wir Frau Constanze Fanger MA. Dresden, im Spätsommer 2014 Caris-Petra Heidel Bernhard Irrgang
0. EINLEITUNG: MEDIZINETHIK ZWISCHEN STANDESETHOS UND PHILOSOPHISCHER BEREICHSETHIK In der 2002 erlassenen Neufassung der Approbationsordnung für Ärzte wurde insbesondere die Vermittlung geistiger, historischer und ethischer Grundlagen ärztlichen Verhaltens im medizinischen Studium auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes betont, was eine wesentliche Änderung in der ärztlichen Ausbildung bewirkte (vgl. Schott 2008, 89 f.). Diese Erweiterung bzw. Neuorientierung in der ärztlichen Ausbildung folgt der Erkenntnis eines sich vollziehenden Wertewandels der kulturellen Idee der Medizin. Auch das Verständnis des Arztes ändert sich wie das Selbstverständnis und die Rolle des Patienten. In diesem Zusammenhang ist die Reflexion auf die Rahmenbedingungen dieses Wertewandels von hoher Bedeutung, die das Arzt-Patienten-Verhältnis betreffen. Die Position oder gar das „Ideal“ eines Arztes bemisst sich nicht per se am Arzt selbst, sondern immer erst in seinem Handeln, in seinem Umgang mit dem Kranken, also in der Ausprägung der Arzt-Patienten-Beziehung. Unter allen unterschiedlichen gesellschaftlichen/kulturellen Ausprägungen immer gleich bleibt die Primärerfahrung und primäre Reaktion eines Menschen, dessen Befindensweise sich verändert hat (vgl. Seidler 1980, 12, 14 f.). Der Betroffene gibt sich in seiner Hilflosigkeit, mit seinen Nöten und Ängsten einem anderen hin, von dem er annehmen muss, dass er diese Not abwenden kann. Es erfordert also jemanden in der menschlichen Gesellschaft, dem das Vermögen zugeschrieben wird, die resultierenden Probleme zu verwalten, der weiß, „woher“ Krankheit kommt, der Krankheit bzw. deren Ursachen wieder „wegnehmen“ oder verhindern kann. Dies erzeugt die Position des Heilkundigen, er wird zum Geheimnisträger, an ihn wird die Sorge um Wohlbefinden und Missbefinden delegiert (Seidler 1980, 17). Aber der Arzt, die Rolle des Arztes, die Ausprägung der ArztPatienten-Beziehung ist auch von epochenabhängigen kulturellen und anthropologischen Vorgaben bestimmt. Und hier sind es insbesondere vier Problemfelder, unter denen sich letztlich die Ansicht vom „idealen“ Arzt ganz unterschiedlich gestaltet und ausgeprägt hatte: die Frage nach der ethischen Fundierung ärztlichen Handelns, das Problem der Strukturierung der Ärzte als Stand, die Frage, wem der Arzt verpflichtet ist, und das Dilemma, das durch die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft entstanden ist (vgl. Seidler 1980, 17–25). Die Basis eines humanen Umgangs zwischen Heilkunst bzw. Arzt und Krankem ist bereits – zumindest überliefert – in der griechischen Antike gelegt worden. Mit dem Corpus hippokraticum und dem als ärztlicher Pflichtenkodex (der hippokratischen Ärzte, also zunächst nur einer bestimmten Ärztegruppe oder -schule) zu verstehenden so genannten Hippokratischen Eid sind die wichtigsten ethischen Elemente der griechischen Medizin für unseren Kulturkreis verbreitet worden. Allerdings ist diese ethische Haltung bereits im klassischen Griechenland konterkariert worden (Gewinnstreben, weite Verbreitung von Suizid und Abtreibung, Kategori-
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sierung von chronischem Kranksein, Hoffnungslosigkeit des Zustandes als Makel und Versagen). Und dieser Konflikt, die Zwiespältigkeit ärztlicher Verhaltensprobleme durchzieht die gesamte Geschichte der medizinischen Ethik. Der „Hippokratische Eid“ selbst, der vielfach als Grundlage auch heutiger, etwa in den ärztlichen Berufsordnungen deklarierter ärztlich-ethischer Verhaltensrichtlinien angesehen wird, hatte sogar in der (Spät-)Antike, mehr noch in den folgenden gesellschaftlichen Epochen zum Teil erhebliche Änderungen erfahren. Denn ethische Normen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel, d. h. sie werden von den jeweiligen Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen beeinflusst und geprägt. Dieser Wertewandel richtet sich heute zunehmend auch auf die Stellung des Patienten. Wurde mit der ethischen Fundierung ärztlichen Handelns eine vorrangig paternalistische Position vertreten (der Arzt weiß und bestimmt, was für den Patienten gut ist), so zwingt die Forderung nach einer Patientenautonomie, die Rolle des Arztes im Arzt-PatientenVerhältnis neu zu durchdenken. Das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten über seinen Körper, sein Freiheitsrecht (Recht auf Nichteinmischung, Handlungsfreiheit), soll gewährleistet sein, aber zugleich soll der Arzt nicht nur zum Handlanger und Erfüllungsgehilfen des Patienten degradiert werden. Von besonderer Bedeutung für die Interaktion von Arzt und Patient wurde vor allem in den letzten Jahrzehnten die in immer stärkerem Maße in die Medizin eingedrungene Technik. Sie hat dabei auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie ein so weites Terrain erobert, dass der Einsatz technischer Hilfsmittel weder für den Arzt noch für den Patienten in Frage gestellt wird. Auch dieses Jahrhundert wird man sich nicht denken können ohne Naturwissenschaft und Technik, die in unvorstellbarer Weise dem Menschen zu Diensten sein kann; sie wird ihn aber auch immer mehr selber in Dienst nehmen. Dies gilt nicht zuletzt für die Medizin, und es wird besonders den Arzt der Zukunft, und damit auch den Patienten, beanspruchen. Eine moderne biomedizinische Technik hat sich längst schon die Lösung biologischer Probleme mit technischen Methoden zur Aufgabe gemacht. Sie liefert dem Chirurgen Apparate, künstliche Organe und Prothesen. Als Bionik erforscht und entwickelt sie Systeme, deren Funktion natürlichen Systemen nachgebildet ist. Auf allen diesen Gebieten erleben wir einen Übergang von der morphologischen zu einer mehr dynamisch angelegten funktionellen Diagnostik. Eine Biokybernetik schließlich sucht die Theorie der Regelung, Steuerung, Informationsübertragung und Datenverarbeitung auf die biologischen Vorgänge anzuwenden. Damit kommt es zu einer durchgreifenden Analyse biologischer Systeme, der Sensorik und Motorik, der Physiologie des Zentralnervensystems und der Verhaltensweisen, der Regelkreise im Zellstoffwechsel und letztlich zu einem immer konsequenter angestrebten „Mensch-Maschine-Dialog“. Biotechnik dieser Art wird sich auf allen Gebieten der Humanwissenschaften ausweiten zu einer „Anthropotechnik“ (Schipperges 1988, 18), zumal auf den Gebieten der Medizin. Denn auch dem technomorphen Organismus-Modell der modernen Medizin liegt fraglos das naturwissenschaftliche Muster zugrunde, das die Lebensvorgänge naturgesetzlich betrachten lehrte und krankhafte Erscheinungen unter gleichen Bedingungen behandeln ließ. Diese iatrotechnische Ideologie hat weite Bereiche des medizinischen Denkens okkupiert, und ihrem Erfolg verdankt die moderne Medizin zweifellos
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auch ihr hohes Ansehen. Unter dem Impetus des technischen Fortschritts ist es in erster Linie zu einer völligen Umprogrammierung von einer ehemals patientenorientierten Heilkunde zu einer immer ausschließlicher apparatezentrierten Heiltechnik gekommen. Gleichzeitig artikulierte sich aber auch Unbehagen an der „Apparatemedizin“. Eine solche Kritik an der Medizin ist nicht neu, sie ist in den letzten gut hundert Jahren, insbesondere seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, immer wieder aufgekommen. Für den Arzt haben sich aus dem Umgang mit seinen Apparaten und Geräten durchaus Veränderungen der Beziehung zum Kranken und zur Medizin ergeben. Der Vorwurf, die Medizin und damit der Arzt seien durch Einflüsse der Technik in unheilvoller Weise beeinträchtigt, resultiert vor allem aus dem Erleben des Patienten. Auch wenn der Patient die Errungenschaften der modernen Medizin nicht missen will und eine auf (möglichst völlige) Wiederherstellung seiner Gesundheit gerichtete Behandlung erwartet, zeichnet sich nicht nur eine gewisse Angst vor zu viel Technik ab (das Leben scheint nur noch von Geräten abhängig zu sein), sondern auch das (Vertrauens-)Verhältnis zum Arzt hat sich geändert. Überhaupt steht seinem leidenden Zustand gerade das System dieser Medizin im Wege: die wachsende Anonymität oder die langen Wartezeiten, die oft schmerzliche Kälte und Sterilität einer Klinik, die immer stummer, gleichwohl immer lauter werdende Medizin, Heilkunde als bloße „Heiltechnik“. Bereits 1958 hatte der Arzt und Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) ein solches Szenario aufgezeigt, als er über die „Gefahren der naturwissenschaftlichen Medizin“ referierte: „Die Diagnostik geschieht durch immer zahlreicher werdende Apparate und Laboratoriumsuntersuchungen. Die Therapie wird zur errechenbaren, immer komplizierter werdenden Anwendung der Mittel für den durch diese diagnostischen Daten erschöpften Fall. Der Kranke sieht sich in einer Welt von Apparaturen, in der er verarbeitet wird, ohne dass er den Sinn der über ihn verhängten Vorgänge versteht. Er sieht sich Ärzten gegenüber, deren keiner sein Arzt ist. Der Arzt selber scheint dann zum Techniker geworden“ (Jaspers 1986, 45). Der Patient erwartet, dass ihm nicht nur ein faszinierendes Spektrum heiltechnischer Möglichkeiten angeboten wird, sondern die Medizin selber als eine einzige und einzigartige Weise der Heilkunde. Der kranke Mensch will für die Diagnose weder ein Spezialistenteam noch für die Behandlung das therapeutische Kollektiv. Das alles soll – wie die Technik – zur Verfügung stehen, aber es darf sich dem Patienten nicht aufdrängen (vgl. Schipperges 1988). Was er will und braucht, ist die Begegnung und das Gespräch unter vier Augen, die persönliche Zuwendung, die Annahme seiner Sorgen und Nöte. Gefragt ist der persönliche Arzt, was mehr ist, als der mit den neuesten wissenschaftlichen Kenntnissen und Forschungsergebnissen ausgestattete, hochqualifizierte Mediziner. Oder um es mit den Worten Jaspers auszudrücken, „die Beschränkung auf die naturwissenschaftliche Medizin ist für den Forscher ungefährlich. Er ist noch nicht Arzt. Der Arzt aber bedarf im Unterschied vom beschränkten Forscher der Universalität“ (Jaspers 1986, 57). Mit „Universalität“ des Arztes wird die Forderung nach besonderer Qualifikation in Wissen, Können und Verhalten erhoben. Das, was heute (wieder) unter dem Begriff der „Ganzheitlichen Medizin“ als Aufgabe des Arztes formuliert wird, kann in einen
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erkennenden, handelnden, beratenden und begleitenden Anteil differenziert werden (siehe auch im Folgenden Seidler 1980, 26). Im Erkennen und Begreifen von Situationen, Gegebenheiten und Gefahren setzt der Arzt seine theoretische Kenntnis und sein praktisches Erfahrungswissen an, im Handeln werden von ihm persönliche Fertigkeiten und die Fähigkeit zur Handhabung technischer Hilfsmittel und des Arzneischatzes verlangt. Als Berater wirkt er führend, fördernd und erziehend, als Begleiter wird von ihm menschliche und vertrauenswürdige Partnerschaft erwartet. Alle diese Anteile durchdringen sich und zeigen, dass das Wirken des Arztes weder vom Inhalt noch vom Verhalten her aus sich selbst heraus entworfen werden kann; es erhält seine Bedeutung und seine Kompetenz erst durch die Anerkennung des Partners und der Gemeinschaft und bedarf hierfür der wissenschaftlichen, rechtlichen und moralischen Rechtfertigung. Durch die Zuschreibung dieser Kompetenzen ist dem Arzt die Verpflichtung übertragen worden, gegenüber seinen Patienten und der Gemeinschaft, und auch innerhalb seines Standes für die Wahrung dieser Prinzipien zu sorgen. Diese längere Zeit wenig diskutierte Funktion des Arztes ist – bei sich schon im ausgehenden 19. Jahrhundert abzeichnender und durchaus berechtigter euphorischer Gewissheit des wissenschaftlich-technisch Möglichen und Machbaren, mit gleichzeitiger Gefahr einer depersonalisierten Heilkunde – in unserer heutigen Situation neu zu überdenken. Häufig werden gerade von Medizinstudenten und jungen Ärzten verbindliche Anleitungen oder gar Vorgaben zum „richtigen“ ärztlich-ethischen Handeln, also verbunden mit einer Rechtssicherheit, erwartet. Medizinethik hat aber in der Konsequenz nicht immer auch rechtliche Relevanz, und umgekehrt widerspiegeln Rechtsvorschriften nicht immer die aktuellen ethischen Positionen und Fragestellungen und können Entscheidungsfindungen weder ersetzen noch vorgeben. Folgt man der gängigen Definition, so ist Medizinethik ein Teilgebiet der allgemeinen Ethik, das sich mit den moralischen Wertvorstellungen in der Medizin, und hier vor allem mit dem ärztlichen Handeln, auseinandersetzt. Im weiteren Sinne betreibt medizinische Ethik eine Normsetzung für alle im Gesundheitswesen tätige Personen, Institutionen und Organisationen, wobei der Fokus auf dem Wohlergehen des Patienten ruht. Ethik (besser: philosophische Ethik, im Sinne einer akademischen Disziplin) versucht zu klären, was moralisch richtig oder falsch, gut oder schlecht, geboten oder verboten, gerecht oder ungerecht ist bzw. sein soll. Und sie versucht, diese Urteile zu begründen: warum soll eine bestimmte Handlung moralisch geboten sein oder warum soll in dieser oder jener Weise gehandelt werden. Als ethische Theorie versucht sie, allgemeine Kriterien für moralisch richtig, gut oder gerecht aufzustellen und insbesondere dort Orientierung zu bieten, wo unsere moralischen Alltagsüberzeugungen unsicher oder widersprüchlich sind. Ethik versucht zu begründen, warum etwas als moralisch richtig oder falsch zu gelten hat (vgl. Wiesing 2012, 23). Der Medizinethik hat sich die Philosophie erst spät angenommen; sie wurde nicht nur zuvorderst von den Ärzten selbst begründet und vertreten, sondern verstand sich auch vorzugsweise als ärztliche (Standes-)Ethik. Daran änderte auch die Erweiterung der hippokratischen Individualethik durch die Formulierung eines „kollektivorientierten, hygienisch-sozialen Ethos“ (Seidler 1980, 22), eines Rechts
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auf Gesundheit für alle Menschen, unter dem Eindruck der medizinischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts nichts grundsätzlich – wenngleich damit immerhin der Konflikt zwischen Gesundheitsrecht und Gesundheitspflicht als fundamentale ethische Problematik offensichtlich wurde. Mit der Neubegründung der Medizin auf naturwissenschaftlicher Grundlage Mitte des 19. Jahrhunderts (Vorläufer Mitte des 18. Jahrhunderts z. B. in Göttingen) gingen jedoch erhebliche Einbrüche in zahlreichen Traditionen medizinethischer Fragestellungen einher. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die Umwertung des Menschenbildes in der Nachfolge des Darwinismus und der Ersatz von Christentum und Religion durch ein bürgerliches oder sozialistisches Humanitätsideal. Zwar griff die Medizinethik gerade mit der ansteigenden Pluralität der Werthaltungen und Lebensentwürfe und zugleich verblassenden Autorität traditioneller Normensysteme in der Gesellschaft (vgl. Wiesing 2012, 24) zwangsläufig und zunehmend auf moralphilosophische Paradigmen zurück, doch die Zuwendung und Einbindung der Philosophie erfuhr die Medizinethik eigentlich erst, als unter den Bedingungen und mit den Möglichkeiten der modernen Medizin (mit dem erkenntnistheoretisch und praktisch-technisch Machbaren) zugleich fundamentale, auch über den unmittelbaren Wirkungskreis des Arztes hinausgehende Fragen des menschlichen Lebens und insbesondere diesbezüglicher Grenzsituationen berührt wurden und einer Entscheidung bedurften. Medizinische Ethik beschäftigt sich bevorzugt mit den Grenzfällen des menschlichen Lebens insbesondere am Anfang und am Ende. Sie wird bisweilen auf normative Fragen im Arzt-Patienten-Verhältnis beschränkt. Für die moderne Medizinethik wird häufig der Begriff Bioethik als verkürzender Ausdruck von biomedizinischer Ethik verwendet. Dies verzerrt den Blickwinkel, denn Projektmedizin – unter diesem Namen werden vor allem im zweiten Teil dieser Studie die neuen Formen der Medizin beschrieben – bleibt weiterhin Medizin, auch wenn verstärkt biotechnologische Methoden angewendet werden. Bioethik schließt Medizinethik ein, geht aber auch über biomedizinische Ethik als „Ethik des Lebens“ weit hinaus. Bioethik ist ein Kind moderner Wissenschaft und Technik. 1971 hatte der Onkologe van Reunschar Potter die Etablierung einer neuen Disziplin vorgeschlagen, die auf eine Synthese von Naturwissenschaft und Moralphilosophie abzielt. Es sollte eine Überlebenswissenschaft vor dem Hintergrund der ökologischen Krise sein. Im selben Jahr wurde der Begriff Bioethik von Andre Hellegers am Kennedy Institute of Ethics an der George Town University in Washington eingeführt. Auch hier sollte eine Kombination von Ethik und Naturwissenschaften, aber bezogen auf konkrete Problemfälle, eingeführt werden. Es handelte sich um den Anfang einer Ethics of Health Care und der Life-Sciences. Eine Vielzahl von ethischen Methoden wurde in den letzten Jahrzehnten erarbeitet, die in der Bioethik Anwendung finden (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 13–15). Zur Entstehungszeit waren die vorherrschenden philosophischen Strömungen in den USA der logische Positivismus und die analytische Philosophie. Im Horizont der Bioethik haben sich liberale, egalitäre, antiautoritative und emanzipatorische Ansätze mit zunehmendem Einfluss des Pragmatismus herausgebildet. Insofern war Bioethik ein Gebiet und Einfallstor für alternative methodologische Zugänge
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zur Philosophie und zur klassischen Medizinethik, die sich als eine ärztliche Ethik des Heilens und Pflegens orientiert am Hippokratischen Eid verstand. Im Hintergrund wirkten Veränderungen in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen mit. Das Autonomieprinzip führte zu einer Transformation der ärztlichen Ethik im Sinne einer moralphilosophisch angeleiteten Reflexion und zu einer zunehmenden Institutionalisierung der Medizinethik. Präzedenzfälle, Einzelfälle und Fallstudien fanden Eingang in die Bioethik. Zum Ausgangspunkt für medizinethische Reflexionen wurden die therapeutischen Versuche am Menschen (Humanexperimente), die noch bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert nur ausnahmsweise innerhalb oder gar außerhalb der Medizin Gegenstand einer Diskussion über deren moralische Wertigkeit und Zulässigkeit waren (vgl. Elkeles 1996, 153). Den medizinethischen Diskurs beeinflusste zudem die zunehmende Bedeutung von Ethikkommissionen. Außerordentlich intensiv wurde der Fall des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen diskutiert, angetrieben durch die Sorge um die Humanität am Krankenbett (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 19–37) Die medizinische Ethik in Europa begann erst Mitte der 1980er Jahre ihren Transformationsprozess und war zentriert um Begriffe wie Menschenwürde, Unantastbarkeit, Instrumentalisierungsverbot und Autonomie. Der Begriff Autonomie ist in Deutschland stark an Kant orientiert. Die Autonomie des Menschen, seine Fähigkeit, sich selbst Gesetze des Handelns zu geben, betrifft zum einen die individuelle Entscheidung von Personen (im medizinischen Kontext von Patienten), zum anderen gemeinschaftliche Entscheidungen darüber, welche Optionen für persönliche Entscheidungen überhaupt zur Verfügung bzw. nicht zur Verfügung stehen sollen. Die moderne Bioethik und Forschungsethik der Biomedizin sind keine ärztliche Ethik im strengen und traditionellen Sinne, dennoch wirkt sich biomedizinische Innovation immer stärker auch auf den Alltag des Patienten und des Arztes aus. Pflegeethik und biomedizinische Ethik driften immer mehr auseinander. So wird deutlich, dass die Medizin in ihrem Spagat zwischen Naturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Alltäglichkeit ein neues Rollenverständnis für das 21. Jahrhundert erst finden muss. In der biomedizinischen Ethik haben sich weitgehend die unter dem Begriff „Georgetown-Mantra“ bekannten und erstmals 1979 in „Principles of biomedical Ethics“ vorgestellten moralischen Normen der Autoren Tom Beauchamp (Philosoph) und Jim f. Childress (Moraltheologe) durchgesetzt (Beauchamp, Childress 1989). Als ihr oberster Grundsatz gilt das Prinzip der informierten Zustimmung bzw. der Entscheidung der betroffenen Patienten. Die erste Grundregel verpflichtet also zur weitestmöglichen Respektierung der Patientenautonomie (1). Der HauptBetroffene soll über die Art der Behandlung entscheiden. Die Grundregel ist jedoch nicht überall anwendbar (Notfallmedizin, Psychiatrie, Pränatale Diagnostik). Zudem trägt normalerweise bei schwerwiegenderen und damit strittigen Eingriffen nicht nur der Patient die Folgen, sondern auch sein Umfeld. Daher arbeitet die medizinische Ethik heute an einem Set ethischer Faustregeln für eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses von Arzt und Patient in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Die zweite Grundregel verpflichtet, weitestmöglich niemandem zu schaden (2). Sie stammt aus der skeptischen Ethik und erwartet sorgfältige Schadens-
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vermeidung bei der Behandlung sowie bei (therapeutischen) Nebeneffekten. Sie gilt für Ärzte, das Pflegepersonal, Verwandte, aber auch für den Patienten selbst. Die dritte Regel fordert nach Möglichkeit Wohltun, Nutzen, Heilen und Retten (3) und entstammt der utilitaristischen Ethik. Beide letztgenannten Regeln (2 und 3) sind aber auch dem paternalistischen hippokratischen ärztlichen Standesethos entlehnt, die hier allerdings in ihrem unmittelbaren Zusammenwirken als (medizin-) ethische Handlungsorientierung des Arztes verstanden wurden („dem Patienten nützen und nicht schaden“). Abgesehen davon, dass die ethische Regel eben nicht nur auf die Therapie fokussiert ist, sondern alle ärztlichen Handlungen – also auch Diagnostik, Prophylaxe, Nachsorge/Rehabilitation – einschließt, geht der ethische Anspruch vor allem über eine bloße krankheitsbezogene, rein medizinisch indizierte Auswahl einer geeigneten Methode aus dem zur Verfügung stehenden diagnostischen und therapeutischen Repertoire weit hinaus. Dass der Arzt die Nebenwirkungen eines Medikaments oder Komplikationen bei der Anwendung einer bestimmten therapeutischen Methode kennt und einschätzen kann und sie nicht vorsätzlich zum Schaden des Patienten anwendet, darf vorausgesetzt werden. Im ethischen Sinne geht es vielmehr um die individuelle Abwägung zwischen Schaden und Nutzen für den Patienten. Eine diagnostische oder therapeutische Maßnahme kann aus medizinischer Sicht hochwirksam und zur Erkennung und Behandlung der Krankheit dringend erforderlich sein, bei dem Patienten aber zu schwerwiegenden (Folge-)Schäden oder zusätzlichen gravierenden Einschränkungen seiner Lebensqualität führen, die den Einsatz dieser medizinischen Maßnahme nicht rechtfertigen. Dabei ist über den Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Patienten hinaus auch etwa seine soziale, familiäre, psychische Situation zu berücksichtigen, und z. B. auch der Frage nachzugehen, ob der Patient überhaupt in der Lage ist, eine bestimmte medizinische Intervention anzunehmen. In diesem Sinne hat der hippokratische Grundsatz des „Nutzen-und- nicht-Schadens“ durchaus noch heute seine unzweifelhafte Berechtigung und dürfte in dieser einander bedingenden Betrachtung sogar den hier zugrundeliegenden eigentlichen medizinethischen Anspruch und Gehalt noch immer am besten vermitteln. Gerechtigkeit ist Regel (4) und verpflichtet zur Folgenabschätzung und zur Berücksichtigung möglichst aller Betroffenen bis hin zur Gesellschaft. Sie fordert Gleichbehandlung in vergleichbaren Umständen, Fairness gegenüber Schwächeren (Schutz vor Kranken oder Schutz der Kranken) und Berücksichtigung der Betroffenen nach Gesichtspunkten formaler Gerechtigkeit (nach der Art der Beteiligung, nach Bedürfnissen, nach Leistung, nach Verdienst, nach Konvention). Gemäß der medizinischen Ethik verpflichten diese Faustregeln mit abnehmender Dringlichkeit. Die Patientenautonomie genießt z. B. hohe Präferenz, ist aber gerade in Grenzfällen nicht der einzige Bewertungsgrundsatz. Mit der Ethik von Beauchamp und Childress verliert die traditionelle Prinzipienethik in der medizinischen Ethik an Plausibilität. Kants Interpretation sittlicher Autonomie erhält liberale Konkurrenz. Diese Konzeption einer konkreteren Patientenautonomie geht von Prinzipien mittlerer Reich- bzw. Geltungsweite aus. Trotz moralischem Pluralismus sollte aber ein minimaler Rest an gemeinsamen Übereinstimmungen wie auch an Theorie herausgearbeitet werden. Dabei stellt sich die Frage, ob Ethik gehaltvolle
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normative Konzepte der Begriffe Gesundheit und Krankheit entwerfen und vorschlagen kann (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 54–73). Diesem Problem trägt der in dieser Studie vertretene Ansatz Rechnung, indem er den menschlichen Leib als Orientierungshorizont für die Interpretation der Patientenautonomie vorschlägt. Eine neue leiborientierte Medizinethik wird nicht ohne Konzepte wie Wert und Qualität des Lebens auskommen können. Eine anwendungsorientierte phänomenologisch-hermeneutische Methode versucht, dieser Situation in der Ethik gerecht zu werden. Die Kritik am Autonomieprinzip unterstellt einen abstrakten Intellektualismus, der allerdings durch Leiborientierung vermieden werden kann. Bei medizinethischen Konfliktfällen ist in der Regel zu fragen, wer in welchen Situationen für andere, aktuell nicht kompetente Patienten entscheidungsbefugt ist. Entscheidungen anstelle von anderen sind mit besonderer Sorgfalt gemäß oben genannter Regeln zu treffen und begründungspflichtig. In Notfallsituationen wird dies in der Regel der Arzt sein, weil hier in kurzer Zeit lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden müssen. In Endphasen chronischer Erkrankungen jedoch sind Patienten berechtigt, dem Arzt eine Reanimation zu untersagen. Für die eigenen unmündigen Kinder gelten in der Regel die Eltern als entscheidungsbefugt, auch in dem Fall des Schwangerschaftskonfliktes, sofern sie sich nicht der Verletzung gewichtiger ethischer (und rechtlicher) Grundsätze schuldig machen. Krankheitsbedingte mangelnde Krankheitseinsicht und (momentane) Aufhebung von Freiheit und Entscheidungskompetenz infolge psychischer Erkrankungen erfordern ebenfalls die Berufung eines Vormundes, der in der Regel ein naher Angehöriger sein sollte. Inkompetenzunterstellungen sollten sehr vorsichtig gehandhabt werden. Eine patientenzentrierte medizinische Ethik betont die Prävention und psychosomatische Seite der Betreuung, nicht zuletzt in der Endphase chronischer und als (bislang) unheilbar geltender Erkrankungen. Eine professionelle Sterbebegleitung inklusive der Betreuung der Angehörigen, also der Dialog aller Beteiligten, ist wichtiger, als die exzessive Nutzung der Apparatemedizin. Eine bessere psychische Beratung ist auch in der Fortpflanzungsmedizin und im Bereich Humangenetik erforderlich. Intensivmedizin sollte Notfallmedizin sein. Hier ist das alte biomedizinische Krankheitsverständnis berechtigt. Im Sinne der Patientenautonomie sind unter bestimmten Umständen auch Formen der passiven Euthanasie (Unterlassung der Weiterbehandlung der Krankheit/lebenserhaltender Maßnahmen in der Sterbephase) ethisch zu rechtfertigen. Als problematisch gilt nach wie vor das Töten auf Verlangen. Problematisch ist die Verrechtlichung der Medizin. Sie stärkt die „Apparatemedizin“ und erhöht die Behandlungskosten. Prävention senkt sie; allerdings führt die Forderung nach intensiverer psychologischer Betreuung von Patienten und Personal zu höheren Kosten. Kompromisse sind erforderlich. Als sich die Medizin seit dem 16. Jahrhundert zunehmend vom antik-mittelalterlichen Dogmatismus löste und statt der antiken Autoritäten der eigene Augenschein, die Berufung auf die eigene Beobachtung, zur entscheidenden Instanz in wissenschaftlichen Fragen wurde, erfuhr die wissenschaftliche Medizin nicht nur eine besondere Aufwertung, sondern ging zugleich mit der Auffassung einher, alles Geschaffene sei sowohl erkennbar als auch für den Menschen in irgendeiner Weise nützlich. Zur (objektiven) Erkennbarkeit und schließlich auch Nutzung waren aber
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über die Beobachtung hinausgehende, „exakte“ Arbeitsmethoden notwendig. Diese naturwissenschaftliche und zugleich zunehmend technische Orientierung in der Medizin begann in allerersten Anfängen noch im 17. Jahrhundert und fand seine besondere Ausprägung seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Damit vollzog sich aber auch ein Wandel im Selbstverständnis der modernen Medizin (einschließlich der Stellung des Arztes gegenüber dem „Objekt“ Patient) und in der Anspruchshaltung – auch seitens des Patienten. Wenn alles erkennbar ist – und die grandiosen Ergebnisse medizinischer Forschung schienen dies zu bestätigen – ist auch alles machbar, d. h. Krankheiten sind effektiv vorzubeugen und zu heilen, Gebrechen zu reparieren, funktionsuntüchtige Organe zu ersetzen. Heute setzt sie Schönheit, überragende Intelligenz, permanente Hochstimmung und Kinder nach Maß als das immerwährende Glück des Menschen um. So kommt man zum Programm Enhancement, der Steigerung ohne Grenzen. Die körperliche Präsentation des Menschen gerät außer Kontrolle. So kommt es zu einer Neuerfindung des Körpers und zum Verschwinden des Leibes. Transplantationsmedizin steht paradigmatisch für diese neue Erfindung und Nutzung des Körpers (vgl. Geisler 2005, 110–112). In diesem Zusammenhang ist das Projekt des künstlichen Uterus und des sogenannten Methusalem-Komplotts zu nennen (vgl. Geisler 2005, 116). Die Selbstgestaltung orientiert sich an bestimmten Menschenbildern, wobei Jugendlichkeit, Schönheit, Sportlichkeit, Gesundheit am besten bis ins hohe Alter – erreichbar in der Regel nur für Gesellschaftsschichten, die ihr Leben lang nie körperlich hart arbeiten mussten – dominieren und Eingang in eine Autonomievorstellung gefunden haben, die zwar ursprünglich – etwa bei Kant – an Sittlichkeit orientiert war, sich heute aber oft eher an einer Glamourwelt orientiert, in der z. B. Schönheitschirurgie und Anti-Aging das Zepter übernommen haben. Die Wissenschaften vom Menschen sind in den letzten Jahrzehnten häufig mit dem Anspruch aufgetreten, endlich das wahre Wesen vom Menschen offerieren zu können, die Hirnforschung ist diesem Paradigma gefolgt. Wunschorientierte Medizin verspricht sogar, den Menschen bald konstruieren zu können, nach Zielen, welche die Wissenschaft in der letzten Zeit als normativ entworfen hat. Wir leben um der Gesundheit willen, nicht wie in früheren Zeiten dient die Gesundheit dem Ziel, ein gutes und gelungenes Leben zu führen. Die wunschorientierte Medizin ist also genauso körperorientiert wie die, die sie angeblich überwinden will. Insofern bedarf die Projektmedizin einer anderen sittlich motivierten Grundlegung. Die Technologisierung der Medizin setzt am menschlichen Körper an. Die Erfolge der Genetik und der Biowissenschaften sind nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des menschlichen Körpers geblieben. Die Erfolge sind beeindruckend. Aber eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus sind kein Laboratorium und ein Mensch kein Stück Fleisch, an dem man herumdoktern darf. Der medizinischen Fetischisierung des menschlichen Fleisches und seiner Prothetisierung sollte endlich eine Ausrichtung am ganzen Menschen in seiner Leiblichkeit entgegen gestellt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für den Kräutergarten, New Age und ganzheitlichen Irrationalismus, sondern für vernünftige leibliche Selbstgestaltung auch in der Krankheit und angesichts des Todes, der einen unvermeidlichen Bestandteil des menschlichen Leibes in seinem Alterungsprozess darstellt und
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eine körperliche wie eine seelisch-geistige Komponente hat. Medizin, ursprünglich durch das Arzt-Patienten-Verhältnis charakterisiert, wird immer mehr in den Strudel der Technologisierung gezogen. Viele Elemente der traditionellen technischen Kultur haben sich von einer Selbstverständlichkeit zu einem ethischen Problem gewandelt. Man hat sogar von einer Krise der technologischen Kultur gesprochen. Angewandte Ethik, besser noch angewandte Philosophie, denn die Ethik lässt sich aus dem Kontext anderer philosophischer Disziplinen nicht trennen, wird von allen Seiten gefordert. Medizinisches Enhancement ohne die Frage „Wozu?“ ist Ausdruck eines „technologischen Imperativs“. Das Machbare wird gemacht. Eine reflektierte Kultur des technisch Machbaren sollte die Realisierungswürdigkeit des neuen Machbaren stärker bedenken, insbesondere bezahlbare und sozial verträglich gestaltete Anwendungen der neuen biomedizinischen Forschung. Die medizinischtherapeutische Praxis ist der Ansatz einer Medizinethik, auch wenn Fragen einer Forschungsethik der Life Sciences Berücksichtigung finden müssen. Der Einzelfall, das persönliche Schicksal sollte in solidarischer Verantwortung ohne dogmatische Verengungen auf vorab bestimmte Lösungsmöglichkeiten im Sinne des Betroffenen hin untersucht und bewertet werden (vgl. Irrgang 2007a, Irrgang 2005b). Das Ende der Natürlichkeit und die Entmoralisierung der Natur mögen beklagt werden, den medizintechnischen Fortschritt werden die Klagen aber vermutlich nicht aufhalten. Die moralische Intuition wird nicht selten gegen rationale Analysen angeführt. Richtig daran ist, dass moralische Reflexion heute nicht mehr naiv betrieben werden darf, sondern Ethikfolgenabschätzung einschließen sollte. Allerdings ist der Versuch einer ethischen Argumentation über wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht statthaft, der sich auf einen archimedischen Punkt außerhalb des technischen Handelns stellt und von dort aus die Legitimität technischen Handelns zu beurteilen versucht (wie dies das Naturrecht häufig tut). Ethische Argumentationen können sowohl deduktive wie induktive Folgerungen verwenden, allerdings mit unterschiedlichem Ergebnis, was die Sicherheit der Folgerung betrifft. Dies ist eine wesentliche Komponente von Pierces Konzept der Abduktion, der vorsichtigen Schlussfolgerung von Einzelsituationen auf ihre Bewertung aus der Sicht übergeordneter Prinzipien. Vor allem aber sind bei Pierce beide Argumentationsformen ineinander verschränkt. Rechtfertigung ist eine Frage des Argumentationszusammenhangs, der Konvergenz der Argumentation (vgl. Irrgang 2007a). Die umfassende Technisierung der Medizin geht einher mit Verrechtlichung, Bürokratisierung und Ökonomisierung sowie dem Glauben an die Planbarkeit und Steuerbarkeit des eigenen Lebens und seiner Gesundheit wie der Gesundheitspolitik insgesamt. Unterstützt werden derartige Vorstellungen durch die soziale Konstruktion vermeintlicher technischer Sicherheit. Aber auch wenn sich einige Schicksalsschläge oder Krankheiten verhindern oder abschwächen lassen und man das Altern hinauszögern kann, bleibt der Mensch sterblich. Diese pragmatischen Rahmenbedingungen, häufig fälschlicherweise „Sachzwänge“ genannt, machen aber deutlich, dass in solchen Kommissionen der Philosoph „entfremdet“ diskutiert, denn es geht nicht um die philosophische Praxis eines herrschaftsfreien Diskurses, sondern um die konkrete Aufgabe, Bewertungsvorschläge zu erarbeiten, die möglicherweise in Gesetzesvorlagen umgewandelt werden können. Philosophische Ar-
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gumente spielen daher in Ethikkommissionen häufig – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle. Strukturelle Gründe für den Mangel an philosophischer Problemdurchdringung liegen darin, dass entsprechende Institutionen von vornherein eine andere soziologische Funktion haben (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 143–152). Der anwendungsorientierte Ethiker steht also in einem doppelten Kontext, dem der Fachkollegen und dem der Öffentlichkeit.
1. ÄRZTLICHES ETHOS UND MEDIZINETHIK IM KONTEXT DER PHILOSOPHIE 1.1 MEDIZINETHIK ALS ANGEWANDTE ETHIK IM KONTEXT DER PHILOSOPHISCHEN ETHIK Die Unterscheidung der Begriffe Moral, Ethik und Ethos ist nicht neu. Der Begriff Moral stammt von dem lateinischen Wort „mos“ (Sitte) ab und bezeichnet die gelebte Überzeugung einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, also das, was faktisch als sittlich verpflichtend angesehen wird. Er umfasst Güter und Pflichten, deren Beachtung das Zusammenleben einer Gemeinschaft ermöglichen. Probleme treten bei Wertkonflikten auf und sind innerhalb der Moral nicht zu lösen. Ethos – abgeleitet vom griechischen Wort „ethos“ (Verhalten, Sitte) – meint eine spezifische sittliche Lebensform, die von Grundhaltungen und einer gewissen praktischen Rationalität geprägt ist. Ethos bezeichnet die sittliche Einstellung eines Menschen, einen Typus von Sittlichkeit oder die Lebensform einer gesellschaftlichen Gruppe oder eines Berufsstandes wie etwa das ärztliche Berufsethos, wobei eine spezifisch akzentuierte Werthaltung im Mittelpunkt steht (vgl. Funke 1972, 812). Es kennzeichnet die besondere Art und Haltung eines Menschen, seine Überzeugungen, Gepflogenheiten und Verhaltensweisen, die in der Naturanlage zu Vernunft und Freiheit begründet sind, aber durch Gewohnheit, Übung und Anpassung gemäß der Tradition ausgebildet und gefestigt werden können. Von beiden zu unterscheiden ist die Ethik als wissenschaftliche Reflexion auf Moral und Ethos mit dem Ziel, Verhaltensvorschriften, sittliche Verpflichtungen und Handlungsregeln für Entscheidungen argumentativ auszuweisen und zu rechtfertigen. Während das Wort „Ethos“ der griechischen Alltagssprache entlehnt ist, ist der Begriff Ethik ein Kunstwort, geprägt von Aristoteles. Dieser bezeichnet mit dem Wort „ethische Theorie“ (Aristoteles, Anal. post. 89 b 9), kurz mit „Ethik“ (Aristoteles, Pol. 1261 a 31) die Wissenschaft, die das Problem reflektiert, welches von Sokrates und Platon in der Auseinandersetzung mit der Sophistik aufgeworfen wurde. Dieses besteht darin, dass die Legitimierung der Sitte und die Rechtfertigung der Institutionen der griechischen Polis durch die Herkunft von den Vätern, also durch Tradition, fragwürdig geworden sind. Ethik beschäftigt sich daher mit dem Maß sittlicher Normierung und ihrer Rechtfertigung. Sie zählt nicht Normen und Weisungen auf, sondern versucht, für den Prozess der Normfindung und -festlegung ihrerseits Kriterien anzugeben. Sittliche Überzeugungen gehören in die Bereiche von Moral und Ethos; Gegenstand der Ethik ist die argumentative Rechtfertigung des Verpflichtungscharakters von Normen und Werten auch für andere. Sie ist zudem die Lehre von Vernunft und Freiheit, von Norm und Gewissen im Hinblick auf die sittliche Grundhaltung eines Menschen. Ethik kann daher unter zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven betrieben werden. Sie lässt sich zum einen als Reflexion von Moral und Ethos, zum an-
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deren als systematische Untersuchung ihrer eigenen Voraussetzungen und ihrer Möglichkeit verstehen. Letztere Aufgabe fällt der Metaethik zu. Der engere Begriff von Metaethik beschränkt diese auf die Analyse der moralischen Sprache, insbesondere auf die Trennung von beschreibend-deskriptiven und normativ-vorschreibenden, also verpflichtenden Sätzen. Der weitere Begriff versteht unter Metaethik jede Reflexion über die Methoden der Ethik (vgl. Ricken 1983, 15). Sie muss klären, ob normative Ethik überhaupt möglich ist. Hierzu analysiert sie die grundsätzliche, intuitiv einleuchtende Unterscheidung von Sein (Tatsachenbeschreibung) und Sollen (sittliche Verpflichtung) zumindest unter methodischer Rücksicht (das sog. Hume’sche Gesetz) sowie die philosophische Konzeption des Verbotes eines ‚naturalistischen Fehlschlusses‘ von George Edward Moore, der eine Ableitung von normativen aus deskriptiven Sätzen untersagt. Hier zeigt sich eine Schwierigkeit in der Begründung normativer Ethik. Ethikbegründung muss Moralität oder Sittlichkeit bereits voraussetzen. Moral ist an bestimmte Lebenswelten zurückgebunden, wobei Lebenswelten in der heutigen Industriegesellschaft in andauernden Beschleunigungsprozessen begriffen sind. Wertewandlungsprozesse haben Moralen destabilisiert und erhöhen damit die Bedeutsamkeit einer praktischen Ethik, die sich auf lebensweltliche Moral zurückbezieht. Daher muss praktische Ethik in besonderem Maße der Technisierung der Lebenswelt Rechnung tragen und instrumentelles Verstehen und Wissen nicht von vornherein als Gegensatz zu sittlichem Verstehen interpretieren. Viele Fragen praktischer Ethik wurden und werden durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik aufgeworfen, auch in der Medizin. Fragen der praktischen Ethik hängen mit einer Praxis zusammen, die der Ethiker zur Kenntnis nehmen muss. Häufig ergeben sich hier Konfliktfälle mit den Praktikern, die – wohl meist zu Recht – glauben, ihre Praxis besser zu kennen als der Ethiker. Um dem unbequemen Anspruch des Ethikers aus dem Wege zu gehen und zu vermeiden, die eigene Praxis überdenken, rechtfertigen oder ändern zu müssen, wird dann häufig eine Meinung wie diese vertreten: „Im Gebiet des ethischen Fragens sind wir letztlich alle Laien“ (Amelung 1992, 20), gerade auch von Ärzten. Langjährige Erfahrung im Umgang mit ethischen Normierungen, also ethisches Expertentum ist unverzichtbar. Anwendungsorientierte Ethik kann als etwas von außen Kommendes, etwa als Norm oder Verpflichtung konzipiert werden oder aus der Reflexion des Praktikers heraus entwickelt werden. Fachleute für philosophische Ethik können Reflexionen über die jeweiligen Erfahrungen im medizinischen Alltag unterstützen, aber keineswegs durch Theorie ersetzen (vgl. Illhard 1985, 1). Mehr als Hilfestellung beim Handeln und Reflektieren im medizinischen Alltag wird ein Vertreter anwendungsorientierter Ethik auch nicht geben wollen und können. Eine Reflexion der Alltagsroutine mit dem Ziel, diese zu verändern, wird auf der Basis der Unterstellung, wir alle seien „in ethicis“ Laien, und mit dem insgeheimen Wunsch, dies auch bleiben zu wollen, nicht gelingen und verhindert die Ausbildung einer professionellen anwendungsorientierten Ethik. Eine Reflexion des ethischen Alltags ohne methodische Anleitung bleibt dilettantisch. Da angesichts der von Aristoteles formulierten Grenzen der Ethik als theoretischer Disziplin (Aristoteles; Ethica Nicomachea 1095 a 10–15) generell bezweifelt werden
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darf, ob Ethik „große Theorie“ sein kann, so mag es für eine Forschungsethik als anwendungsorientierte Ethik ausreichen, kritische Reflexion zu sein. Forschungsethiken sind auch keine Reparaturethiken (vgl. Mittelstraß 1989, 89), Krisenethiken (vgl. Zimmerli 1987) oder gar „Kochbücher“ (vgl. Mittelstraß 1989, 104 und Mittelstraß 1992, 141). Anwendungsorientierte Ethik bemüht sich jenseits der Grenzen des Standesethos um Lehrbarkeit ethischer Expertise (vgl. Sass 1989, 19), die es den in spezifischen Bereichen Handelnden erlaubt, ihr eigenes Handeln kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu rechtfertigen, denn technologischwissenschaftliches Handeln ist vor der Öffentlichkeit zu verantworten (vgl. Sass 1989, 28). Fragen wir nach dem Ort der modernen Medizinethik, so stoßen wir zunächst auf einen Faktor technologischen Wandels. Die Entwicklung von Herz-LungenMaschinen verstärkte Tendenzen der Intensiv-Medizin einerseits, zur Organtransplantation andererseits. Die so genannte Apparatemedizin wurde als Faktor der Entfremdung von einer ursprünglichen menschlichen Medizin gesehen. Zwar wurden Menschenleben insbesondere in der Notfallmedizin mit den neuen technischen Möglichkeiten gerettet, aber um den Preis, dass ungewollte Lebensverlängerung bei chronischen Krankheiten möglich und immer wahrscheinlicher wurde. Der zweite Anlass zur Entwicklung einer modernen Medizinethik war eine Welle von Prozessen, die in den USA in den siebziger Jahren gegen sogenannte Ärzte-Pfusch oder Fehler in der Behandlung durch Ärzte vorgenommen wurden. In diesem Zusammenhang setzt eine Veränderung in der Grundausrichtung des ärztlichen Ethos ein. Herrschte bis dahin ein Paternalismus auf der Basis des Grundsatzes des ärztlichen Ethos, nämlich des Heilens und Helfens ohne Berücksichtigung der Patientenwünsche vor, so wurde nun die Zustimmung zu einer ärztlichen Maßnahme Voraussetzung für deren Legitimität. Wenn der Patient eine medizinische Behandlung ausdrücklich gebilligt hatte, konnte nicht mehr gegen die Durchführung einer medizinischen Maßnahme geklagt werden, sondern nur, wenn diese nicht fachgerecht durchgeführt worden war. Der Arzt musste also vor jeder Behandlung über die Risiken des Eingriffs den Patienten aufklären, der Patient der geplanten Behandlung zustimmen, so dass die Quelle der Legitimität einer ärztlichen Behandlung nun nicht mehr der Wille des Arztes und sein Fachurteil war, sondern der Wunsch des Patienten. Trotz eingeschränkter Kompetenz im medizinischen Wissen und Können bzw. genau deswegen gestand der neue medizinethische Ansatz dem Patienten das endgültige Recht zu, über die Art der Behandlung zu entscheiden, weil er und nicht der Arzt Hauptbetroffener eines medizinischen Eingriffs war. Die wichtigste Aufgabe des Arztes war es nun, den Patienten in angemessener Weise über die Art der Behandlung aufzuklären. Das juristische Konzept des so genannten „Informed Consent“ bereitete den Boden vor, der zur Formulierung der Patientenautonomie als Grundlage einer modernen medizinischen Ethik führte. Die dritte Wurzel der modernen Medizinethik war die so genannte STS-Forschung (Science and Technology Studies oder auch Studies of Science, Technology and Society) oder der STS-Ansatz, welcher eine Veränderung der Wissenschaftsphilosophie durch geschichtliche und gesellschaftliche Einbindung von Wissenschaft und Technik herbeiführte und insbesondere die Frage nach der ethischen
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Einbettung von Wissenschaft und Technologie stellte. Zusammen mit der Umweltbewegung entstand in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA die moderne Bioethik als Ethik für die so genannten Life Sciences. Dem STS-Ansatz verdanken wir auch eine Veränderung der Studienorganisation. STS führte das Studium Generale, das Studium Integrale, transdisziplinäre Studien und Medizinethik als verpflichtenden Bestandteil des Medizinstudiums in den USA spätestens ab den achtziger Jahren ein. Es entstand eine professionelle, philosophisch-kulturwissenschaftlich-anthropologisch orientierte Reflexion medizinischer Probleme besonders am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens. Die Biotechnologisierung der Medizin im Fahrwasser der Gentechnologie und Biotechnologie seit den achtziger Jahren machte eine professionelle Medizinethik immer dringlicher. Mitte der 1980er Jahre kam die neue Richtung über den Großen Teich – die DFG setzte nicht zuletzt wegen der Gentechnologie-Debatte einen BioethikSchwerpunkt ein. Es erfolgte ein Professionalisierungs-Schub auch in der medizinischen Ethik. Angewandte Ethik überhaupt wurde als Thema der Philosophie entdeckt, allerdings eher stiefmütterlich behandelt. War Medizinethik vorher in Deutschland überwiegend standesrechtlich orientiert oder wurde im Rahmen eines moraltheologischen Studiums angeboten, so wurde eine stärker naturwissenschaftlich orientierte Arbeitsweise in der Ethik erforderlich. Die anwachsende Bedeutung chronischer Krankheiten so wie in der letzten Zeit die sich abzeichnende Personalisierung der Medizin auf dem Boden humangenetischer Beratung führte letztendlich dazu, dass eine immer stärkere Ausrichtung an Fachpraxen oder auch Universitätskliniken erforderlich wurde. So ergab sich insgesamt eine stärkere Ausrichtung auf moderne ethische Ansätze, die nicht mehr vom Paternalismus geprägt waren, sondern sich stärker an der Patientenautonomie orientierten. Im Hintergrund standen Veränderungen in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen. Das Autonomieprinzip führte zu einer Transformation der ärztlichen Ethik im Sinne einer moralphilosophisch angeleiteten Reflexion und zu einer zunehmenden Institutionalisierung. Präzedenzfälle, Einzelfälle und Fallstudien fanden Eingang in die Bioethik. Unethische Experimente am Menschen waren immer Ausgangspunkt für bioethische Reflexionen. Heute lassen sich in der Bioethik personenzentrierte, tugendethische, kasuistische oder prinzipienethische Ansätze unterscheiden. Außerdem ist Bioethik wichtig in medizinethischen Aus-, Fort- und Weiterbildungsprozessen (Ach, Runtenberg 2002, 19–37). Der Begriff der Autonomie auch in der Medizinethik ist in Deutschland stark an Kant orientiert. Die europäische Philosophie ist weit weniger pragmatisch ausgerichtet als in den USA. Hintergrund für die unterschiedliche Entwicklung der Bioethik in den USA und in Deutschland sind zunächst die NS-Verbrechen und das Faktum, dass es in Deutschland keine Bürgerrechtsbewegung gegeben hat. Angestoßen wurde die Bioethik durch neue Handlungsoptionen in der High-Tech-Medizin. Dies führte zu einer Anonymisierung, Kommerzialisierung und Verrechtlichung der Medizin. Außerdem verstärkte sich die präventive Ausrichtung der Medizin. In Deutschland wurden meist Fachkommissionen gegründet. In der Bundesrepublik wurden die ersten Ethikkommissionen bereits 1973 am Sonderforschungs-
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bereich Kardiologie in Göttingen und am Zentrum für Innere Medizin und Kinderheilkunde in Ulm etabliert. 1979 verabschiedete die Bundesärztekammer eine Empfehlung zur Errichtung von Ethikkommissionen. Forschungsethikkommission und klinische Ethikberatung sind zu unterscheiden. Seit wenigen Jahren gibt es eine zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin bei der Bundesärztekammer. Zu Beginn des Jahres 2000 wurde vom deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin eingerichtet. Am 2. Mai 2001 hat die Bundesregierung die Einrichtung eines nationalen Ethikrates als nationales Forum des Dialogs über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften beschlossen. Außerdem gibt es Ethikzentren und Ethikinstitute (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 38–47). Die Vernachlässigung angewandter Ethik und die Beschränkung der Philosophie auf Metaethik waren die beiden dominanten Reaktionen auf die Diagnose der Unmöglichkeit einer normativen Ethik. Alternative Positionen entwickelten sich in der Philosophie, nicht zuletzt unter Berücksichtigung des amerikanischen Pragmatismus und Utilitarismus. Voraussetzung für die Etablierung der Bioethik als philosophischer Disziplin war eine tiefgreifende Transformation der Medizin und der ärztlichen Praxis, die zu einer Versachlichung der Arzt-Patienten-Beziehung führte (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 14–17). Mit dem Ansatz von Beauchamp und Childress verliert die traditionelle Prinzipienethik in der medizinischen Ethik an Plausibilität. Zurzeit büßt allerdings auch das liberale Modell, basierend auf der Patientenautonomie, an Einfluss ein. Das liberale Modell geht von Prinzipien mittlerer Reichweite bzw. mittlerer Geltungsweite aus. Die Zuspitzung des liberalen Modells führte zu Konsensorientierung, Minimalisierung und Prozeduralisierung der Ethik. Trotz moralischem Pluralismus sollte aber ein minimaler Rest an gemeinsamen Übereinstimmungen wie an Theorie herausgearbeitet werden. Dabei stellt sich die Frage: Kann die Ethik gehaltvolle normative Konzeptualisierungen der Begriffe Gesundheit und Krankheit vorschlagen? (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 54–73). Diese werden nicht ohne Konzepte wie Wert des Lebens und Qualität des Lebens herausgearbeitet werden können. Die Kritik am Autonomieprinzip läuft darauf hinaus, dass dieses in einen abstrakten Intellektualismus führe. Angemessene moralische Urteile setzen eine kontextorientierte und sensible Wahrnehmung konkreter und spezifischer Beziehungen voraus. Hinzu kamen Kriterien einer wissenschaftstheoretischen Veränderung in der Medizin im Sinne einer Abkehr von der einseitigen Orientierung an technischer Beherrschbarkeit, am Maschinenparadigma und an einer Prothesenideologie. Ein neuer Begriff des Menschen wurde gefordert (vgl. Ach, Runtenberg 2002, 76–80). Die Attraktivität des Modells von Beauchamp und Childress beruht darauf, dass es nicht fundamentalistisch und gewiss undogmatisch grundsätzlich offen für die Verfechter aller Theorien und Einzelfall-Urteile ist. Die Methodik, inzwischen zunehmend als weites Überlegungsgleichgewicht verstanden, besteht im angleichenden, modifizierenden und verwerfenden hin und her Gehen zwischen wohl überlegten konkreten Intuitionen und abstrakteren Theorieteilen der Ethik sowie relevanten Hintergrundtheorien über die Naturgesellschaft etc. – solange, bis alles, was aus diesem Arsenal übrig geblieben ist, sich gegenseitig stützt und kohärent
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zusammen passt. Je umfangreicher aber die Ingredienzien sind, desto aufwendiger und weniger praktikabel scheint ein systematisches und zu konkretem Ergebnis kommendes Abgleichen. Die Offenheit des Modells wird mit einer gravierenden Unterbestimmtheit bezahlt. So kommt der Verdacht einer zirkulären Begründung auf: Intuitionen verweisen auf die hinter ihnen stehenden Theorien, diese werden durch jene Einzelfall-Urteile präzisiert (vgl. Schöne-Seifert 2007, 28 f.). Im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Kritik haben Beauchamp und Childress ihren Prinzipienzugang ausführlich kohärentistisch zu untermauern versucht. Es zeige sich in medizinethischen Diskussionen immer wieder, dass sie in den Konvergenzlinien gängiger ethischer Theorien lägen und durch die allgemein geteilte Moral gedeckt seien (vgl. Schöne-Seifert 2007, 35). Ein solcher Ansatz passt gut zur Kasuistik. Ihr Ziel ist keine moralphilosophische Arbeit, die für die Lösung von Fällen relevant ist, sondern von vornherein die Lösung von Fällen. Entsprechend wird nicht von einer (übergreifenden) Theorie der normativen Ethik ausgegangen. Aber die Aufgaben der Medizinethik beschränken sich nicht nur auf die Lösung klinischer Fälle (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 164). Medizinethik lebt von der Spannung, die in jeder Ethik zwischen dem Anspruch auf universelle Gültigkeit und der erhöhten Aufmerksamkeit für den Einzelfall besteht (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 185). Die Befürchtung, eine narrative Ethik setze das Interesse am Leiden und an der Integrität der Patienten an die Stelle der Kohärenz der Argumente, ist wohl unbegründet, da sich beide Perspektiven wechselseitig ergänzen (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 196 f.). Für Kasuistik sind Rahmenbestimmungen für moralische Debatten, also paradigmatische Fälle wichtig. Generelle moralische Regeln dienen als Maximen. Heutzutage können partikuläre moralische Entscheidungen nicht einfach auf eine universelle ethische Regel für einzelne Fälle zurückgeführt werden. Sie müssen angewandt und abgewandelt werden. Bei der Prinzipienethik ist der Rückgriff auf Geometrie und Mathematik fundamental, in der Kasuistik auf praktische Behauptungen. Fragen der Urteilskompetenz verbinden sich mit der Suche nach relevanten Verallgemeinerbarkeiten und Berücksichtigung praktische Felder wie Gesetz, Medizin und öffentliche Verwaltung (vgl. Jonson, Toulmin 1988, 23–31). Klinische Probleme individueller Patienten und problematische Situationen führten zur Suche nach geeigneten Paradigmen für die medizinische Ethik und zu einem Wiederaufleben der Kasuistik. In der Medizin entstanden moralische Konflikte typischerweise aus der Tatsache, dass klinische Interventionen verschiedenartige Konsequenzen haben können. Insofern erschien eine Generalisierung hinsichtlich der Konflikte moralischer Verpflichtungen erforderlich. Solche Konflikte können gelöst werden. In der Ethik wie in der Medizin gibt es praktische Erfahrung und diese ist zumindest genauso kollektiv wie persönlich. Ein praktisches sittliches, reflektierendes Argumentieren kann erheblich besser auf die Situation eingehen als eine formale oder geometrische Demonstration. Die Debatte über Wahrscheinlichkeitsgründe hat an Bedeutung verloren. Moralisches Wissen ist in zentralen Punkten partikulär. Statt ethischer Deduktion ist unsere affektive Sensibilität für Moral zu schulen. Es geht um die zentralen praktischen Felder der Ethik (vgl. Jonson, Toulmin 1988, 304–331).
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1. Ärztliches Ethos und Medizinethik im Kontext der Philosophie
Wo immer es darum geht, konkrete Erscheinungen oder Fälle (casus) unter allgemeine Formen bzw. Prinzipien zu fassen, zu ordnen, sie abzugrenzen und zu beurteilen, erhält Kasuistik als Methode ihren Ort. Vor allem die auf Handeln ausgerichteten Normwissenschaften versuchen mit ihrer Hilfe komplexe Situationen zu erhellen, widerstreitende Interessen und Pflichten zu lösen, Weisungen zum Handeln in Konflikten zu geben. Dabei kann es sich um konstruierte Fälle oder um praktisch drängende Aufgaben handeln. Kasuistik kann im allgemeinen Sinn schon ein empirisches Vergleichen nach Analogie und Ähnlichkeit meinen, besagt im Engeren aber die Subsumption nach streng logisch-rationaler Gesetzmäßigkeit. Es geht kasuistischem Denken stets darum, im konkreten Fall das Allgemeingültige zu erfassen. Kasuistik besitzt ihren Ursprung im Recht. Sie schwankt daher zwischen einer im engeren Sinn als Methode legalistischer Deduktion verstandenen oder einer im umfassenderen Sinn als Situationsethik ausgeweiteten Interpretation (vgl. Hauser 1976, 703–705). In der Medizin bedeutet Kasuistik die Beschreibung und Sammlung einzelner Krankheitsfälle. Dabei gibt es zwei Ansatzpunkte: (1) die Beschreibung von typischen Verlaufsformen von Krankheiten und (2) die Analyse seltener oder komplizierter Einzelfälle (vgl. Bleker 1976, 706). Aus professionell-ethischer Perspektive erfolgt auch die medizinethische Expertise im Rahmen unterschiedlicher Interpretationsansätze mit unterschiedlicher Akzentsetzung (vgl. Irrgang 1998), die von einer hermeneutischen Ethik im Rahmen kasuistischer Fallanalysen mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung herangezogen werden. Folgende Hauptströmungen moderner Ethik lassen sich unterscheiden: (1) Naturrechtsmoral, (2) Emotivismus und Mitleidsmoral; (3) Dezisionismus und Vertragstheorie; (4) Versionen des Utilitarismus und (5) transzendentalphilosophisch-universalistische und diskursethisch-universalistische Ansätze (ausführlicher in Irrgang 1995 und Irrgang 1998): (zu 1) Die Naturrechtsmoral besteht aus einer naturalistischen Variante (Biologie des Menschen) des Naturrechtes und aus einer metaphysischen, die auf Begriffe wie das „Wesen des Menschen“ oder „absolute Wertgesichtspunkte“ wie Personoder Menschenwürde zurückgreift. Diese Ethik läuft häufig auf ein Verbot der Naturwidrigkeit und Künstlichkeit hinaus und behauptet, dass angesichts der Heiligkeit des Lebens, insbesondere des menschlichen Lebens, jede Tötung unschuldigen menschlichen Lebens eine in sich schlechte Handlung und technische Manipulationen insbesondere der menschlichen Sexualität und der menschlichen Natur ein Sakrileg darstellen. Die Innovativkraft der Technologisierung bringe zudem eine Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten mit sich und überfordere damit den Menschen. Sie fordert angesichts der Heiligkeit und des absoluten Wertes des (menschlichen) Lebens einen kategorischen Schutz aller Menschen, auch der Embryonen von der Verschmelzung von Samen und Eizelle an. (zu 2) Emotivismus und Mitleidsmoral scheinen einander entgegengesetzt zu sein, haben aber doch einen gemeinsamen Bezugspunkt, nämlich: Hintergrundrechtfertigungen sind bestimmte Ausprägungen des moralischen Gefühls. Für den Emotivismus ist eine rationale Rechtfertigung einer objektiven Ethik nicht möglich. Daraus folge eine „emotive Verkürzung“ der Moral auf persönliche Vorlieben (vgl. MacIn-
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tyre 1987, 37). Wertkonflikte lassen sich nicht mehr rational lösen, daher müsse einfach gewählt werden (vgl. MacIntyre 1987, 44). Gesellschaftliche Rollen treten an die Stelle der klassischen moralischen Werte. Eigentlich sei alles Handeln Rollenspiel und Durchsetzung des Willens zur Macht. Modern gesprochen komme alles auf Effektivität an (vgl. MacIntyre 1987, 156). Die Mitleidsmoral plädiert nicht für radikale Selbstverwirklichung, sondern berücksichtigt Betroffene des eigenen Handelns. Die Mitleidsmoral hatte einen bedeutenden Befürworter bereits in Michel de Montaigne, der in seinen „Essais“ (1580–1588) die skeptische Tradition der Französischen Moralisten begründet. In seinem Essai II, 11 über Grausamkeit kritisiert er die unerschütterliche Gelassenheit der stoischen Tugendlehre (Montaigne 1985, 407) und charakterisiert seine Position mit dem Satz: „Unter andern Lastern hasse ich grausam die Grausamkeit, sowohl von Natur als aus Vernunft, als das allerschändlichste von allen“ (Montaigne 1985, 414). Er propagiert ein zärtliches Mitleiden mit fremder Bekümmernis (Montaigne 1985, 416), die er sogar auf Tiere und Pflanzen ausdehnt: „… so gibt es doch eine gewisse Ehrfurcht und eine allgemeine Pflicht der Menschlichkeit, die uns nicht nur dem mit Leben und Empfindung begabten Getier verbindet, sondern den Bäumen sogar und den Pflanzen“ (Montaigne 1985, 420). Letzter Maßstab ist hier das Mitleid fühlende Individuum. Warum aber Mitleid besser sei als Egoismus, wird nicht eigens begründet. (zu 3) Die dritte Version normativ-ethischer Theorien ist die Vertragstheorie. Zu den bekanntesten neuzeitlichen Vertragstheoretikern gehört neben Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau John Rawls. In der Vertragstheorie erfolgt Ethikbegründung durch rationale Entscheidung und Übereinkünfte zwischen den Betroffenen. Gemäß dieser Position kommt es zu einer Einigung auf allgemein verbindliche Regeln in einem Vertrag. Unter bestimmten Bedingungen wird die Form des Zusammenlebens festgelegt, die gerecht ist. Dazu greift Rawls zu einem Gedankenexperiment, in dem in einem hypothetisch angenommenen Urzustand jeder die für ihn zweckmäßigste Gesellschaftsordnung wählt, die zugleich als gerecht gelten darf, da sie ihre Mitglieder am wenigsten benachteiligt. Denn die Wahl erfolge unter dem Schleier des Nichtwissens, der Unparteilichkeit garantieren soll, weil jeder damit rechnen muss, die ungünstigste Position einnehmen zu müssen. Darin liege ihr Vorteil: „… die Vertragstheorie behauptet, dass bestimmte Grundsätze in einer wohldefinierten Ausgangssituation akzeptiert würden. Die Rede vom Vertrag hat den Vorzug, daran zu erinnern, dass man Gerechtigkeitsgrundsätze als Grundsätze auffassen kann, die von vernünftigen Menschen gewählt würden, wodurch sich Gerechtigkeitsvorstellungen erklären und rechtfertigen lassen. Die Theorie der Gerechtigkeit ist – vielleicht der wichtigste – Teil der Theorie der rationalen Entscheidung“ (Rawls 1975, 33). Dies führt zu Rawls Ansatz: „Der Leitgedanke ist vielmehr, dass sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (Rawls 1975, 28).
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1. Ärztliches Ethos und Medizinethik im Kontext der Philosophie
Rawls identifiziert Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit und rationaler Entscheidung im sozialen Kontext und legt bestimmte moralische Grundsätze fest, wobei eine genaue Abgrenzung von Moral und Recht nicht immer erfolgt. Die Annahme des Urzustandes als Experiment zur Bestimmung der Grundsätze setzt eine Anthropologie und Moralität voraus. Denn Menschen müssen moralische Subjekte bereits sein, um zu einer Einschränkung des Nutzenbegriffs überhaupt fähig zu sein. Sie müssen eine Vorstellung von ihrem Wohl und einen Gerechtigkeitssinn aufweisen und auch die Idee der Gleichheit zumindest einsehen können (vgl. Rawls 1975, 36 f.). Ethik kann bei Rawls nur unter diesen Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Für die ursprüngliche Übereinkunft ist die völlige Durchschaubarkeit der Verhältnisse konstitutiv. Unter der Voraussetzung praktischer Rationalität einigen sich die Menschen im Urzustand auf das Gerechtigkeitsprinzip, nicht auf das Nutzenprinzip (vgl. Rawls 1975, 31). Rawls kennt daher natürliche Pflichten, nämlich positive wie die Wahrung der Gerechtigkeit, gegenseitige Hilfe und gegenseitige Achtung, und negative wie die Verpflichtung, nicht zu schädigen und Unschuldigen nichts anzutun (vgl. Rawls 1975, 130). (zu 4) Der vierte Typ ist der Utilitarismus in seinen zwei Varianten als Handlungsund Regelutilitarismus. Er gehört zu den teleologischen Ethiken, für die alle Handlungen ausschließlich von ihren Folgen her sittlich beurteilt werden. Sein Schwerpunkt liegt, begründet von Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert und von John Stuart Mill im 19. Jahrhundert erweitert, in der Rechts- und Sozialtheorie. Als Antwort auf die Frage nach dem Kriterium für die rechte Wahl bei Güterabwägungen geben sie den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele an. Ziel ist also die Optimierung des Wohlergehens. So setzt Jeremy Bentham in seinen „Prinzipien der Moral und Gesetzgebung“ bei der menschlichen Handlung an, die den Lehrmeistern der Natur, dem Schmerzgefühl und dem Gefühl des Angenehmen folgt (vgl. Bentham 1988, 1). Grundlegend für seine Ethik ist das Nützlichkeits-Prinzip („utility-principle“), das er mit dem Prinzip des größten Glücks („greatest-happiness-principle“) all derer identifiziert, deren Interessen zur Diskussion stehen. Unter dieser Regel hätten menschliche Handlungen zu stehen (vgl. Bentham 1988, 1). Benthams Utilitarismus geht von einem methodischen Individualismus aus. Schmerz und angenehme Gefühle einer Gemeinschaft müssen als Summe der Gefühle ihrer Einzelmitglieder aufgefasst werden (vgl. Bentham 1988, 3). Gemäß Bentham ist ein direkter Beweis für das Nützlichkeits-Prinzip nicht möglich, dennoch lasse sich zeigen, dass der Versuch, es zu bestreiten und zu widerlegen, sich auf Gründe stützt, die dieses Prinzip benutzen, ohne sich dessen bewusst zu sein (vgl. Bentham 1988, 4). Die Quellen für Schmerz und Vergnügen sind physischer, politischer, moralischer und religiöser Art (vgl. Bentham 1988, 24). Sie entstehen durch Sanktionen natürlicher, politischer, moralischer oder religiöser Ereignisse bzw. Handlungen, wobei z. B. Katastrophen als Sanktionen natürlicher Art einen etwas anderen Stellenwert einnehmen. Bentham unterscheidet Vergnügen der Sinne, der Gesundheit, der Geschicklichkeit, der Freundschaft, der Macht, des guten Rufes und der Frömmigkeit (vgl. Bentham 1988, 34 f.). Bei Mill und Sidgwick wird dann das Utilitätsprinzip mit den Interessen und Präferenzen der Be-
1.1 Medizinethik als angewandte Ethik im Kontext der philosophischen Ethik
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troffenen identifiziert und als grundlegend selbst für das Gerechtigkeitsprinzip angesehen. Im Gegensatz zu einer deontologischen Auffassung und im Einklang mit dem Handlungsutilitarismus fordert der Regelutilitarismus die Ableitung aller sittlichen Sollensurteile aus einem einzigen Prinzip. Der Ableitungsprozess ist für ihn jedoch, anders als für den Handlungsutilitarismus, ein zweistufiger: „Um die sittliche Richtigkeit einer konkreten Handlung zu bestimmen, muss man zum einen die Konformität dieser Handlung mit der Handlungsregel und zum zweiten die Konformität dieser Regel mit dem Prinzip der Nützlichkeit feststellen“ (Hoerster 1971, 24 f.). Dabei ist Nützlichkeit jedoch nicht das kurzsichtige egoistische Eigeninteresse, sondern ein vernünftiges, wohlverstandenes Dauerinteresse (vgl. Hoerster 1971, 139), das dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit genügt. Gemäß der utilitaristischen Ethik liegt der Sinn moralischer Normen darin, die Bedingungen der Möglichkeit eines erträglichen oder sogar erfreulichen Zusammenlebens unter Menschen sicherzustellen. Ausgangspunkt der Beurteilung sind in diesem Konzept die „Wahrscheinlichkeit der Wirkungen einer Handlung“, die „voraussichtlichen Folgen von Handlungen“, also bestimmte „Handlungstypen“ oder „Handlungsweisen“ (Patzig 1973, 497) und die Regeln der Beurteilung von Handlungen, „die elementare Garantien der Unversehrtheit und der im Rahmen der Gesetze möglichen freien Entscheidung des Individuums betreffen, sind die Basis jeder einträchtig-streitbaren Kooperation von Menschen. Und solches vertrauensvolle Zusammenwirken scheint der einzige Weg zu sein, den uns philosophische Besinnung zu dem Ziel zeigen kann, dem Einzelnen und der Menschheit im Ganzen ein erträgliches Dasein in der Welt zu ermöglichen, von der jedenfalls so viel festzustehen scheint: dass sie nicht so aussieht, als wäre sie zu dem Zweck geschaffen, gerade dem menschlichen Glücksstreben eine hohe Erfolgsrate zu sichern“ (Patzig 1973, 500). (zu 5) Der fünfte Typ normativ-ethischer Konzepte teilt sich auf in kantisch-universalistische und diskursethisch-universalistische Ethiken. Für ersteren ist der Kategorische Imperativ bei Immanuel Kant zentral. Um die Ableitung des Kategorischen Imperativs und vor allem die Anzahl seiner Formeln besteht eine umfangreiche und ausgeprägte Diskussion. Seit Paton hat man sich daran gewöhnt, fünf Formeln zu unterscheiden (vgl. Paton 1962). In einer früheren Interpretation (vgl. Irrgang 1992, 235–238) habe ich die drei Formeln expliziert, die Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ selbst formuliert hat. Es handelt sich – modern formuliert – um (1) die „Transsubjektivitätsformel“, der das Verallgemeinerungsargument zugrunde liegt, (2) die „Naturgesetzformel“ (Wimmer 1980, 175) und (3) die „Selbstzweckformel“, die die Würde des Menschen und seine Sittlichkeit begründen. In ihnen explizieren sich die obersten, kategorischen Prinzipien sittlicher Rationalität in Abgrenzung zur instrumentellen Rationalität der hypothetischen Imperative. Abgrenzungskriterium ist das Universalisierungsverfahren, mit dessen Hilfe Kant auch die Struktur sittlicher Vernunft expliziert. Grundsätzlich betrachtet tritt der Kategorische Imperativ in zwei Bedeutungsvarianten auf: erstens als Form der nicht-empirischen Verallgemeinerung (vgl.
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1. Ärztliches Ethos und Medizinethik im Kontext der Philosophie
Höffe 1989, 206) und zweitens als Selbstzweckformel, wobei der späte Kant der letzteren Variante die Anerkennung versagt. Höffe betont die Mehrstufigkeit des Verallgemeinerungstestes bei Kant und unterscheidet (1) einen Verallgemeinerungstest zur Begründung moralischer Pflichten von (2) einer situationsgerechten Konkretisierung einer moralischen Pflicht (vgl. Höffe 1989, 213). Dabei ist das Moralprinzip Kriterium der Lauterkeit der Gesinnung. Auch die Pflichtenkollision ist kein Einwand gegen Kants Konzeption, denn sie betrifft nicht die Verbindlichkeit des Verpflichtenden, sondern stellt eher ein handlungstheoretisches Problem dar (vgl. Höffe 1989, 218). Kants Verallgemeinerungsverfahren ist von der empirisch-pragmatischen Deutung der Verallgemeinerung im Regel-Utilitarismus abzugrenzen (vgl. Höffe 1989, 223). Dies gilt auch dann, wenn Kant z. B. bei der Begründung des Verbots des falschen Versprechens auf einen Glaubwürdigkeitsverlust und damit auf einen Begriff rekurriert, der für eine empirisch-pragmatische Interpretation höchst offen ist. Kants Ethik konzentriert sich auf das, wofür der Mensch voll verantwortlich ist (vgl. Höffe 1989, 225–228). Denn um z. B. die Widersprüchlichkeit der Zwecksetzungen in einem falschen Versprechen zu erfassen, bedarf es keiner Empirie (Höffe 1989, 232). Die zweite Lesart des Kategorischen Imperatives, die Selbstzweckformel hat zum Inhalt, den Menschen als sittlich handelndes Wesen zu behandeln. Die zweite Variante universalistischer Ethik mit Letztbegründungsanspruch begreift sich als Diskursethik. Dabei ging es ihren Vertretern in den letzten zwanzig Jahren bevorzugt darum, wie angesichts der Probleme der modernen Zivilisation und der Schlüsseltechnologien ein solidarisches Handeln überhaupt noch möglich sei. Den philosophiegeschichtlichen Hintergrund bildet der Versuch, eine hermeneutisch ausgerichtete Dialogphilosophie mit sprachanalytischen Mitteln zu präzisieren. Die Lösung in der Frage nach der Möglichkeit solidarischen Handelns angesichts der Probleme der Industriegesellschaft sucht man in gemeinsam erarbeiteten und ausgewiesenen Konventionen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem kommunikativen Handeln der Subjekte (Habermas 1981) und sieht darin den letzten, nicht weiter hintergehbaren Grund vernünftigen Handelns überhaupt. Neben der Ebene kommunikativer Apriorität ist für die argumentative Begründung konkreter Handlungsanweisungen und bewertender Urteile die kriterienorientierte Güterabwägung erforderlich. Um den Vorwurf, Argumentation sei funktionalistisch, zu entkräften, unterscheidet Habermas zwischen Zweckrationalität und Verständigungsrationalität (vgl. Habermas 1988, 67). Denn: „Die Bedingungen für die Rationalität gelingender Sprechhandlungen haben einen anderen Zuschnitt als die Bedingungen für die Rationalität erfolgreicher Zwecktätigkeit“ (Habermas 1988, 68). Konsens und Anerkennung lassen sich nicht funktional oder zweckrational herstellen. Aber nicht nur die jeweiligen Verfahren zur Begründung normativer Urteile sind von Interesse, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung der rekonstruierten Ethiktypen. Hier lassen sich sieben Grundsätze benennen, die in einer oder in mehreren der Ethiktypen eine zentrale Rolle spielen. Die Grundsätze lauten:
1.2 Medizinethik und ärztliches Ethos im Wandel der Medizingeschichte
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(1) Das Verbot der Widernatürlichkeit oder die Verpflichtung, gemäß der Natur zu leben, wobei unter diesem Grundsatz des Naturrechtes nicht nur die biologische Natur des Menschen verstanden wurde, sondern oftmals seine Vernunftnatur bzw. seine Natur als Person. (2) Das Verbot der Grausamkeit, von Montaigne als Grundsatz einer Mitleids- wie Vernunftmoral unter Einbezug von Tieren und Pflanzen formuliert. (3) Der Gerechtigkeitsgrundsatz, der grundlegend ist für die Vertragstheorie und den Regelutilitarismus sowie wichtig für die Transzendentalphilosophie und die Diskursethik. Er wird unter Berücksichtigung von Nutzengesichtspunkten von Rawls auch als Fairness-Prinzip eingeführt, kann aber auch als Grundsatz der Gleichbehandlung unter vergleichbaren Umständen verstanden werden. (4) Die Verpflichtung zur Optimierung des Wohlergehens der Betroffenen unserer Handlungen, ein allgemeines Folgenprinzip (Berücksichtigung aller Betroffenen von Handlungen) als Grundsatz des Utilitarismus. (5) Der Grundsatz der Berücksichtigung der Wünsche, Interessen und Präferenzen des Betroffenen in Emotivismus, Vertragstheorie und Utilitarismus. (6) Der Grundsatz der Menschenwürde und der Autonomie des sittlich handelnden Menschen gemäß Kants Selbstzweckformel oder des ethisch Argumentierenden gemäß der Diskursethik. (7) Die nicht-empirische und die empirische Verallgemeinerung unter Einschluss der Unparteilichkeitsforderung und des Transsubjektivitätsprinzipes gemäß der Verpflichtung zur nicht-empirischen Universalisierung der Handlungsmaximen gemäß dem Kategorischen Imperativ und zum empirischen Verallgemeinerungsverfahren im Regel-Utilitarismus. 1.2 Medizinethik und ärztliches Ethos im Wandel der Medizingeschichte 1.2 MEDIZINETHIK UND ÄRZTLICHES ETHOS IM WANDEL DER MEDIZINGESCHICHTE Die Medizin gehört zu den ältesten Berufen, die ein standesmäßiges Ethos ausgeprägt hat. Dieses drückt sich traditionellerweise im Eid des Hippokrates aus. Der hippokratische Eid ist zunächst eine standesrechtliche Regelung und sichert die Versorgung der Ärzte und ihrer Nachkommen. Dies war eminent wichtig in einer Zeit, in der Rentenversicherung und Sozialversicherung noch nicht eingeführt waren. Mit medizinischer Ethik hat dies zunächst wenig zu tun, obwohl wesentliche Fragen des Arzt-Patienten-Verhältnisses auch im Eid des Hippokrates zur Sprache kommen. Oberste Richtschnur ist gemäß dem hippokratischen Eid das Heil bzw. Wohl des Kranken (salus aegroti) und die Erhaltung seines Lebens, an dem sich der Arzt zu orientieren hat. Wünschen des Patienten (voluntas aegroti) nach vorzeitiger Beendigung seines Lebens (Fragen der Euthanasie) oder nach Beendigung einer Schwangerschaft hat er nicht nachzugeben. So begründet der hippokratische Eid eine traditionelle und paternalistische medizinische Ethik. Der Arzt ist berechtigt, in väterlichfürsorglicher Art für seine Patienten zu entscheiden, auch gegen deren Willen. Abgesehen von zwei Konfliktfällen der medizinischen Ethik, die offenbar zu den Dauerbrennern dieses Genres gehören, nämlich Euthanasie und Abtreibung,
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1. Ärztliches Ethos und Medizinethik im Kontext der Philosophie
zielt der hippokratische Eid auf die Ausbildung eines Ethos, einer Grundhaltung der Fürsorge, der Wahrhaftigkeit, Verschwiegenheit und Glaubwürdigkeit ab. Dies sind Eigenschaften, die sich der Arzt im Umgang mit Patienten erwerben muss und die auch heute noch im Rahmen einer medizinischen Ethik unverzichtbar sind. Allerdings kann sich medizinische Ethik nicht mehr auf die Anleitung zur Ausprägung eines Ethos beschränken. Zu unübersichtlich sind die Handlungsfelder in vielen Bereichen des Gesundheitswesens geworden, um alle Entscheidungssituationen mit einer festen Grundhaltung bestehen zu können. Zudem wird die Realität der Medizin zunehmend unser Konstrukt. Der wissenschaftliche Fortschritt in der Medizin zeigt seine eigenen Ambivalenzen. Die von vielen angestrebte Lebensverlängerung schlägt oft um in Leidensverlängerung, Patienten im Koma können jahrzehntelang am Leben erhalten werden, schwerstkranke Patienten überleben um den Preis eines höchst eingeschränkten Lebens, Organe können verpflanzt werden bis hin zu Hirngewebe. Neue Handlungsmöglichkeiten sind nicht zuletzt durch Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik entstanden, andererseits zeichnen sich Missbrauchsmöglichkeiten ab, die die Humanität des Menschen und der Gesellschaft bedrohen. Vieles, was früher nicht beeinflussbar war, der sog. Lauf der Natur oder vorausbestimmtes Schicksal, wird nun zum Gegenstand menschlicher Entscheidung. Ohne Zweifel hat sich das medizinische Handeln im letzten Jahrhundert gewaltig gewandelt, so dass sich die Frage stellt, ob das ärztliche Ethos noch ausreicht, all diese Entscheidungen in verantwortbarer Weise zu treffen. Häufig wird die Meinung vertreten, zur Entscheidung der Fragen des ärztlichen Alltags genüge der gesunde Menschenverstand und die eigene Erfahrung. Die Hilfsmittel, die eine anwendungsorientierte professionelle Ethik entwickelt habe, seien zu abstrakt und für die alltäglichen Entscheidungen nicht zu gebrauchen. Häufig plädieren nicht zuletzt Ärzte für ein Standesethos und grenzen sich damit von neuzeitlichen Regel- und Prinzipienethiken ab. Neuzeitlich orientierte sich Ethik an der wissenschaftlichen Erkenntnis und an der rationalen Beurteilung. Dadurch wurde das Ethos als identitätsvermittelnde moralische Größe zunehmend abgelöst durch zwei Formen der Rationalisierung, nämlich durch Methoden der Verallgemeinerung im Anschluss an die Transzendentalphilosophie und der Folgenabschätzung im Fahrwasser des Utilitarismus. Beide Verfahren wenden den Blick von der konkreten Handlungswirklichkeit einer Person zur Allgemeinheit, die zwar nicht die konkrete Entscheidungswirklichkeit beschreibt, aber die Handlung vor anderen zu rechtfertigen vermag. Die Form der Rationalisierung vermittelt uns einen anderen Zugang zu unserem eigenen Handeln als unser unmittelbares Selbsterleben, nämlich über ein Interpretationskonstrukt. In vielen Fällen steht der Hausarzt mit einem ausgeprägten Arzt-Patienten-Verhältnis noch in dieser Tradition des herkömmlichen Standesethos. Aber schon die Ausdifferenzierung in Fachärzte und vor allem die Behandlung im Krankenhaus durch verschiedene Spezialisten und im Team rund um die Uhr sprengen die eingegrenzte Sichtweise des hippokratischen Ethos auf. Wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt haben auch vor dem ärztlichen Handeln nicht haltgemacht und ein Gesundheitswesen aufgebaut, in dem das Standesethos des Arztes nur noch eine
1.2 Medizinethik und ärztliches Ethos im Wandel der Medizingeschichte
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Sonderethik im Rahmen einer umfassenderen medizinischen Ethik darstellt, die nunmehr für das gesamte medizinische Personal gilt und vor allem den Patienten und seine Angehörigen miteinbeziehen muss. Ärztliches Handeln ist zudem zunehmend eingebettet in eine gesellschaftliche Praxis, die das gesamte Gesundheitswesen umfasst. Die Verwissenschaftlichung bedeutet eine Verstärkung der medizinischen Rationalität. Die Berücksichtigung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses ist heute unvermeidlich und gerecht. Die Verpflichtung des Arztes, verantwortungsvoll mit knappen Mitteln umzugehen, fordert die Berücksichtigung klinischer Studien. Der Abbruch von Therapiebemühungen bei sterbenden Patienten kann unter diesen Gesichtspunkten in Erwägung gezogen werden. Die Entwicklung lokaler Versorgungsstandards ist immer ein beschränktes Modell; wenn Beschränkung, dann nur unter Beibehaltung bzw. Einhaltung von Mindeststandards bei der medizinischen Rationierung, in denen Transparenz, Konsistenz, Begründung, wissenschaftliche Rückversicherung und Widerspruchsrecht gelten (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 73–80). Zur verantwortbaren Realisierung ärztlicher Leistungen gehören die Unterlassung ineffektiver Maßnahmen, die konsequente Berücksichtigung individueller Patienten-Präferenzen, eine Minimierung des Ressourcenverbrauchs, die Unterlassung von teuren Maßnahmen mit geringem Nutzen, die Berücksichtigung prozeduraler Mindeststandards und die Durchführung von Kosten-Fall-Besprechungen (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 81). Der Rückgriff auf aktualisiertes medizinisches Fachwissen (Forschung und Klinisch) ist keine Einschränkung der ärztlichen Freiheit, sondern Teil seines Berufsethos. Dasselbe gilt für Einschränkungen aufgrund des Patientenwillens unter Berücksichtigung der Mittelknappheit. Der Staat muss wie bei jedem funktionierenden Markt klare Rahmenbedingungen setzen, gerade um ein freies Agieren für alle Beteiligten im gemeinsamen System zu ermöglichen. Eine ungewollte Übertherapie ist zu vermeiden. Auch sollten dem Patienten wenig wirksame und teure Maßnahmen vorenthalten oder gar nicht vorgeschlagen werden (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 84–88). Krankheit war bis zu der sich vor allem seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Medizin zunehmend durchsetzenden lokalistischen, kausalanalytischen Herangehensweise eine Daseinsform des ganzen Menschen gewesen. Mit der Erkenntnis und dem Nachweis eines lokalen Substrats bzw. des lokalen Sitzes von Krankheit (Organ, Gewebe bis hin zur als kleinsten Baustein des Organismus identifizierten Zelle) ist der zuvor von Arzt und Patient ausgeblendete Signalcharakter von Organdefekten für zugrunde liegende pathogene Konflikte nun nicht lediglich als zusätzliche Erklärung für Ursache und Verlauf einer Krankheit berücksichtigt worden, sondern wurde zum alleinigen Merkmal von Krankheit. Damit hat sich zugleich auch das Ingenieursmodell des ärztlichen Eingriffs (vgl. Röschlaubs „Iatrotechnik“) durchgesetzt. Mit dem Konzept der Verwissenschaftlichung und der Technologisierung wurden „Tabus“ der Natürlichkeit verletzt. Die ersten Versuche, das menschliche Herz vollständig durch eine Maschine zu ersetzen oder einem Patienten das Organ eines Tieres einzupflanzen, haben kontroverse öffentliche Diskussionen ausgelöst. Einige Jahre später haben sich die meisten Menschen unter dem Druck medizinischer Optionen und Erfolge an die neuen Verfahren gewöhnt. Folge der Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Medizin ist seit der
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Erfindung der „Klinischen Methode“ vor über 150 Jahren die wachsende Bedeutung der Krankenhäuser (Arbeitsteilung und Spezialisierung) und damit die Etablierung auch eines nicht-wissenschaftlichen Pflegepersonals (vgl. Seidler, Leven 2005), das oftmals ein unmittelbareres Verhältnis zum Patienten hat, in dem sich fast so etwas wie eine Fortsetzung des hippokratischen Ethos sehen lässt. Der Terminus Krankenhaus löste um 1740 die früheren Bezeichnungen „Hospital“, „Spital“, „Lazarett“ ab und wurde als neuer Oberbegriff eingeführt. Drei Entdeckungen änderten die Voraussetzungen für die Krankenhausmedizin grundlegend: (1) die Narkose, (2) die Behandlung und Vermeidung von Sepsis und (3) die Entwicklung von Spezialdisziplinen als Folge der Erfindung neuer Geräte (vgl. Eser 1989, 622). Die naturwissenschaftliche Grundausrichtung der Medizin förderte Arbeitsteilung und Teamgedanken und begünstigte die Technologisierung der Medizin sowie eine Verschiebung von den akuten hin zu den chronischen Krankheiten. Konsequenzen der Technologisierung der Medizin sind: (1) verminderte Macht des einzelnen Patienten oder Arztes, bestimmte Technologien zu kontrollieren, (2) wachsende Macht des Staates und anderer großer Organisationen, insbesondere der Krankenkassen, (3) wachsender Kapitalbedarf für Innovationen, (4) wachsende Bedeutung privater Firmen bei der Entwicklung von Medikamenten und Therapieformen, (5) anwachsende Spezialisierung der Ärzte, (5) Verminderung der ärztlichen Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der Karriereleiter, (6) anwachsende Steuerung und Regulierung der Entwicklung neuer Technologien und der Nutzung bereits vorhandener Technologien, (7) vermehrte Gelegenheiten, ethische Werte und moralische Autorität von Ärzten erodieren zu lassen, wachsende Kontrollmacht des Staates und die Möglichkeit, ökonomische Vorhaben mit ethischen Werten zu verwechseln. Medizinische Technologie kann ein Medikament, ein Gerät, ein Verfahren sein, das im Gesundheitswesen verwendet wird (vgl. King 1988, 134). Die gravierendsten Innovationen in der Medizin sind von der Genetik und von den Neurowissenschaften zu erwarten. Die wachsende Zahl von Innovationen zwingt zu einer wachsenden Zahl von Testverfahren. Die größere Komplexität der Organisation des Gesundheitswesens macht diese anfälliger, die Risiken dieser Technologien ihre Regulation erforderlich. Da Innovationen teuer sind, kam es durch die Technologisierung zu einer Ökonomisierung der Medizin, zu größeren Irrtums- und Fehlermöglichkeiten und letztlich auch zu einer stärkeren Instrumentalisierung des Arztes. Instrumentelle und kommunikative Rationalität ist bei der ärztlichen Arbeit oft nicht genau zu trennen, auch wenn es Bereiche gibt, in denen, wie beispielsweise in der Psychiatrie, psychosoziale Komponenten pflegerischen Handelns wichtiger werden als die Verabreichung von Medikamenten. Nicht der Einsatz instrumentellen Handelns an sich ist dabei aus ethischer Sicht unakzeptabel, sondern pflegerisches Handeln wird ethisch fragwürdig, wenn instrumentelles Handeln dort eingesetzt wird, wo man sich einen kommunikativen Umgang mit dem Patienten nicht zutraut, dieser aber durchaus angemessen wäre. Nicht zuletzt diese technologische Struktur der Medizin hat zu einer Erosion der ärztlichen Autorität geführt, die durch eine Reihe von Kunstfehlern noch verstärkt wurde. Und je höher die Verfahrenskunst, umso größer wird die Chance eines sog. Kunstfehlers.
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Hinzu kommen wachsende psychische Probleme des pflegenden Personals, verstärkt an manchen Orten durch zusätzliche Probleme mit dem Pflegenotstand. Beschrieben wurde das Problem unter dem Schlagwort der hilflosen Helfer (Schmidbauer 1977). Unter dem Helfer-Syndrom verbirgt sich die zur Persönlichkeitsstruktur gewordene Hilflosigkeit, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu äußern (vgl. Schmidbauer 1977, 12). Das Helfer-Syndrom fördert das Festhalten an einer paternalistischen medizinischen Ethik, wie sie das hippokratische Ethos fordert. Dennoch reicht ein solches Ethos heute nicht mehr aus, vor allem wenn man bedenkt, dass es solches Fehlverhalten im Umgang mit Hilfsbedürftigen sogar noch legitimiert. Dagegen hilft nur konsequente Einfühlungsfähigkeit aller Eltern, Selbsterfahrungsgruppen, die bereits das Studium begleiten und Demokratisierung statt Bürokratisierung sozialer Institutionen (Schmidbauer 1977, 201–213). Zu der hier erforderlichen Selbstreflexion hat die medizinische Ethik die Kriterien zu analysieren und zu diskutieren. Ein entscheidender Ansatzpunkt für die Transformation des hippokratischen Ethos hin zur Forderung nach einer medizinischen Ethik war letztlich die fundamentale Diskussion um Kunstfehler in den USA der späten 1970er und 80er Jahre. Hier verdoppelten sich die Beiträge für Kunstfehler-Versicherungen in den Jahren 1983 bis 1985 (vgl. King 1988, 39). Zum Schutz der Ärzte und zu ihrer Entlastung wurde verstärkt auf das 1957 formulierte Konzept des „informed consent“, der Einwilligung zu einer Behandlung nach Information und Aufklärung über die Risiken (vgl. King 1988, 47), zurückgegriffen. Der Arzt galt als entlastet, wenn der Patient nach Kenntnisnahme der Risiken seine Einwilligung zur Therapie unter Anerkennung potentieller Gefahren gegeben hatte. Natürlich waren damit krasse Kunstfehler nicht zu legitimieren – und sollten es auch nicht –, aber immerhin war so jene Grauzone ausgegrenzt, in der etwas passieren konnte, auch wenn sich der Arzt halbwegs bemühte. Mit dem „informed consent“ wurde die ärztliche Therapie im Sinne eines Behandlungsvertrages aufgefasst. Ein Vertrag gilt als geschlossen, wenn alle Beteiligten einwilligen. Da aber der Patient viel elementarer von den Folgen einer Behandlung betroffen ist als der Arzt, wurde zum Schutz des schwächeren Partners das Einwilligungsrecht einseitig formuliert. Der Hauptbetroffene und Patient hat das Recht zur Einwilligung. Eine umfassende medizinische Ethik ist zu etablieren, die Veränderungen im ärztlichen Ethos einschließt. Der Wandel des Gesundheitswesens in der Technologie-Zivilisation hat zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Mandates gegenüber dem Arzt geführt. Das personal und paternalistisch eingefärbte traditionelle Standesethos des Arztes reicht nicht mehr aus, nicht zuletzt wegen der Aufweichung des traditionellen Arzt-Patienten-Verhältnisses. Wir brauchen umfassendere Orientierungen für Handeln und Entscheiden im Gesundheitsbereich, Kriterien eigener Urteilsbildung und neuer gesellschaftlicher Orientierungen und Normierungen. Dabei hat die Philosophie und ihre Ethik keine spezifische Kompetenz oder Verfahren der Generierung neuer Normen und Werte, jedoch eine spezifisch analytische Fähigkeit, vorgeschlagene Normen, Werte und konkrete Bewertungen zu überprüfen (vgl. Bayertz 1990, 5). Genau das ist auch die Aufgabe, die hier verfolgt werden soll. Wenn es um neue Normen und Werte geht, bedarf es zu ihrer Einfüh-
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rung des gesellschaftlichen Diskurses. Der kann zwar durch den philosophischen Diskurs nicht ersetzt werden. Aber immerhin erlauben es die analytischen Fähigkeiten der Philosophie, ihn vorzubereiten, berücksichtigenswerte Kriterien zu entwickeln und ihn kritisch zu begleiten. In diesem Sinne hat medizinische Ethik gegenüber dem ärztlichen Standesethos einen deutlich erweiterten Adressatenkreis, nicht zuletzt neben dem gesamten Pflegepersonal den Patienten mit seinen Angehörigen, schließt aber diesen traditionellen Adressatenkreis mit ein. Kriterienreflexion soll dabei dazu anleiten, die eigene Grundeinstellung, Meinungen und Vorurteile zu überdenken, um zu ethisch verantwortbaren Entscheidungen im medizinischen Alltag wie in Konfliktfällen zu kommen. Das traditionelle ärztliche Ethos ist damit nicht überholt. Es ist ergänzungsbedürftig – und zwar durch die Patientenautonomie und die sozialethische Dimension ärztlich-pflegerischen Handelns. 1.3 MODELLE DER ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG Die traditionelle medizinische Ethik beruht auf dem paternalistischen hippokratischen Ethos mit seiner Verpflichtung zum Helfen und zum Heilen, zumindest aber nicht zu schaden. Die Ausrichtung des ärztlichen Ethos am Patientenwohl, dem Nutzen und dem Nichtschaden, das den Grundsatz des Heilens und Helfens zu einem Leitbild umformuliert, hat weiterhin seine Berechtigung. Daher ist zu fragen, wie beide Typen von Hintergrundrechtfertigungen, die zwar häufig als Alternativen gedacht werden, sich aber unter der richtigen Perspektive gesehen eigentlich ganz gut ergänzen, in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden können. Bereits der hippokratische Eid formuliert eine Förderungs- bzw. Erhaltungspflicht gegenüber dem Patienten. Es darf niemandem geschadet werden. Die Perspektive des „salus aegroti“ (die Gesundheit, das Wohl, die Rettung und Sicherheit des Erkrankten) beinhaltet eine Gesundheitssicherungspflicht (Verwendung von Heilmitteln), also die Verpflichtung zur Behandlung im Notfall, ohne z. B. auf die eigene Bezahlung zu schielen. Der Grundsatz lautet: Das Patientenwohl ist die oberste Richtschnur (ärztlichen Handelns), in den lateinischen Worten der juristisch-medizinischen Tradition: „salus aegroti suprema lex“ (Marquard u. a. 1988, 29). Die „salus“-Direktive lautet: Die Gesundheit bzw. das Wohl des Patienten ist die oberste Richtschnur des ärztlichen Handelns. Diese fundamentale medizinethische Handlungsregel verlangt, dass der Arzt alles Mögliche unternehmen muss, um den Gesundheitszustand seines Patienten zu erhalten und zu fördern und nichts tun darf, was jemandem gesundheitlich schaden könnte. Die „voluntas“-Direktive (der Wille des Patienten) hingegen lautet als medizinethische Handlungsregel formuliert: Der Patientenwille ist die oberste Richtschnur ärztlichen Handelns. Der Arzt hat den Patientenwillen zu respektieren. Er darf grundsätzlich nur behandeln, wenn und soweit jemand die Behandlung will. Diese Handlungsregel verbietet dem Arzt, seinem Klienten das jeweils medizinisch Angesagte oder Mögliche aufzunötigen, ihn ohne oder gar gegen seinen Willen zu behandeln. Beide Handlungsregeln lassen sich auf verschiedene Weise einander zuordnen: Man kann sie im Sinne einer Regel-Ausnahme-Beziehung verstehen und sie dann in zwei Alternativen formulieren,
1.3 Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung
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nämlich entweder: Im Prinzip entscheidet der Patientenwille, in Ausnahmefällen jedoch das ärztlicherseits festgestellte Patientenwohl, oder: Im Prinzip entscheidet des Wohl des Patienten, ausnahmsweise aber auch sein Wille. Es kann aber auch eine Nebenordnung erfolgen, worauf die Handlungsregel dann so gefasst werden müsste: Der Arzt darf nur im Rahmen eines entsprechenden Patientenwillen, aber insgesamt nur zu dessen Wohl ärztlich tätig werden. Insgesamt bietet sich eine Handlungsregel, basierend fast auf einer gewissen Gleichrangigkeit zwischen „salus aegroti“ und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten an, wobei im Konfliktfall dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten ein gewisser Vorrang eingeräumt werden sollte. Aus ärztlicher Sicht wird häufig noch die Salus-Perspektive überwiegen, aus juristischer Sicht genießt die Voluntas-Perspektive eindeutig Vorrang zumindest seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber auch der Patient hat eine gewisse Schutzpflicht und Achtungspflicht seinem eigenen Leben gegenüber, das beim Einwilligungs- oder Erlaubnismodell zugrunde zu legen ist. Gemäß dem Prinzip der Patientenautonomie kann der Patient auf Aufklärung auch verzichten. Und der Arzt kann aus der salus-Perspektive im Notfall z. B. kraft mutmaßlicher Einwilligung des Patienten handeln, als ob das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht gelten würde. Hier greift die Unterstellung, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wie die ärztliche salus-Perspektive am Willen, möglichst gut zu überleben, orientiert ist. Der Arzt darf dies vermuten, solange der Patient im vollen Bewusstsein nicht Gegenteiliges erklärt, und zwar in der entsprechenden Situation. Dies hat z. B. Auswirkungen auf die ethische Bewertung des Patiententestamentes. Da man die spätere Situation nicht vorwegnehmen kann, ist das Patiententestament aus ethischer Perspektive nicht zwingend zu berücksichtigen. Es erscheint als sinnvoller, einen Vormund für diesen Fall zu bestimmen, der dann situationsangemessen für den Patienten im gewünschten Sinne entscheiden kann. Auf jeden Fall darf nicht ohne Not die voluntas-Perspektive oder zumindest der mutmaßliche Wille der salus-Perspektive geopfert werden. Ein starker Paternalismus impliziert, dass das Prinzip des Heilens und Helfens die Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten rechtfertigt (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 213). Dieser scheint heute aber nicht mehr vertretbar zu sein, wohingegen ein schwacher oder liberaler Paternalismus durchaus mit der Respektierung der Patientenautonomie verträglich sein kann. Andererseits hat auch die Patientenautonomie als Grundprinzip einer medizinischen Ethik ihre Schwierigkeiten. Dies liegt nicht zuletzt an ihrem unklaren Begriffsinhalt. Der Paternalismus ist ein vielschichtiger Gegenstand. Der Begriff entstand im 19. Jahrhundert, das zugrunde liegende Phänomen ist älter. Der frühe Paternalismus in den USA am Ende des 19. Jh. konzentriert sich auf eine Periode um die 1880er. Der Ausdruck „Paternalismus“ dürfte von Gegnern eingeführt worden sein. Paternalismus bezeichnet aus liberaler Perspektive die Überreste patriarchalischer Verhaltensmuster in nachpatriarchalischer Zeit. Es geht um einen Angriff auf die „paternal authority“. In diesem Sinne einer paternalistischen Verwaltung verwendet den Begriff das Oxford Englisch Dictionary in den 1880er Jahren zum ersten Mal. Parallel dazu tritt der Begriff Paternalismus in Zeitschriften, Magazinen und der New York Times auf. Nach dem ersten Auftreten des Begriffs am 22.02.1873 im
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Appletons Journal findet sich der Ausdruck erst 1886 ein zweites Mal in der Nr. 31 von „The Century. A Popular Quarterly“. In diesen Medien ist ein signifikanter Anstieg des Gebrauchs des Ausdrucks Paternalismus von 1887 und 1888 an zu beobachten. Er entstand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Diskussion der sozialen Frage. Die Artikel präsentieren sarkastische Kommentare zur englisch/schottischen Medizin (vgl. Zude 2004, 6–14). Paternalismus galt als angemaßte Autorität. Der Individualismus ist nicht nur Attitüde, sondern Ausdruck der amerikanischen Identität. Ziel ist hier eine Verstärkung der Eigenverantwortlichkeit der Bürger (vgl. Zude 2004, 24–62). Eine zweite Runde der Paternalismus-Diskussion eher von England ausgehend ist mit dem Namen Herbert L. A. Hart (1907–1992) verbunden. Er war Professor für Jurisprudenz mit philosophischen Liebhabereien und begründete seine Rechtsphilosophie nicht auf das Nützlichkeitsprinzip, sondern auf die Tradition der Menschenrechte. Der neue Begriff des Paternalismus hat seinen Sitz in der Rechtsethik. Es geht um den Schutz von Menschen vor sich selbst (vgl. Zude 2004, 64–87). Die rechtsmoralische Handlung ist auf das Wohl der Gesellschaft ausgerichtet. Diese ist paternalistisch. Wenn die Handlung auf das Wohl des Individuums ausgerichtet ist, ist sie liberal. Bei Sir Patrick Devlin (1905–1992) wird ebenfalls für eine bestimmte Form des Paternalismus geworben. Er unterscheidet offensiven und defensiven Paternalismus. Offensiver Paternalismus bemüht sich um die Durchsetzung eines Gutes, defensiver Paternalismus ist Schutz vor einem Übel. Es geht um den Zwang zum eigenen Wohl und deren Begründung. Präventivmaßnahmen gegen Abtreibung, Drogenkonsum, Duelle, Suizid und Euthanasie gelten dem Paternalismus als begründet, dem Liberalismus nicht (vgl. Zude 2004, 125–135). Die amerikanische Paternalismusdebatte (eine dritte Phase) setzt die DevlinHart-Debatte in vielen Punkten voraus und wird im Wesentlichen von D. Dworkin und J. Feinberg geführt. Es geht um die Einführung konkreter gesetzlicher Maßnahmen wie die Gurtpflicht für Autofahrer und die Helmpflicht für Motorradfahrer. Diskussionspunkte sind das Wohlergehen der Betroffenen, Zweifel an der These von ihrer Eigenverantwortlichkeit, der Vorwurf der Disziplinlosigkeit, Gruppenzwang und die Bequemlichkeit der Masse. Dworkin lehrte am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Es ging ihm um die Rechtfertigung von gesetzlichem Zwang. Der erste Vortrag über Paternalismus war 1968 mit Bezug auf die Devlin-Hart-Debatte. Feinberg vertrat 1971 einen rechtlich orientierten Paternalismus. Es gibt freiheitseinschränkende Prinzipien. Eine moralische Rechtfertigung paternalistischer Handlungen solle versucht werden. Das zu erzwingende Gut werde von den Betroffenen selbst eigentlich anerkannt. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, der Schutz des Lebens, Arbeitsrecht, Drogenverbot, Verbot der Homosexualität gehören in diesen Bereich. Paternalismus versteht sich in diesem Sinne als Zwang zur Freiheit. Die Freiheitseinschränkungen im Augenblick muss ein größeres Ausmaß an Freiheit in Zukunft beinhalten. Es gibt also eine Art Paternalismus aufgrund hypothetischer Einwilligung. Die Einwilligung z. B. der Kinder bei Maßnahmen der Eltern wird unterstellt. Dies ist ein rationaler Paternalismus (vgl. Zude 2004, 137–153). Der Begriff Paternalismus wird als Terminus technicus eingeführt und als beklagenswerter, unfairer und negativer Sachverhalt denunziert. Allerdings sollte man
1.3 Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung
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den nichtschädlichen Paternalismus, der Zwangsgesetze als ein Mittel der Regierung zum Schutz der Hilflosen und Schutzbefohlenen versteht, nicht verwechseln mit dem übermächtigen Paternalismus, der bevormundet (vgl. Feinberg 1986, 4–8). Der sanfte Paternalismus richtet sich vor allem gegen unfreiwillige, selbstzerstörerische Verhaltensweisen einzelner Individuen und dient dem Schutz von Bedürfnissen anderer Personen vor Angriffen und sollte darauf beschränkt werden, die Schädigung von anderen unmöglich zu machen (vgl. Feinberg 1986, 12 f.). Diesen kann man als gerechtfertigten Paternalismus bezeichnen (Feinberg 1986, 19). Die Grundlage persönlicher Autonomie besteht darin, dass das, was ich mit meinem eigenen Leib mache, niemandes anderen Geschäft sein kann. Damit ist Autonomie als eine Fähigkeit (Kapazität) begriffen (Feinberg 1986a, 27 f.). Diese Autonomie begreift sich selbst als Besitz, als Selbst in der Identität oder Individualität, Authentizität oder Selbstgestaltung und als Selbst-Erschaffung bzw. Selbstbestimmung (vgl. Feinberg 1986a, 32 f.). Darüber hinaus gibt es noch sittliche oder moralische Authentizität (vgl. Feinberg 1986a, 36). Diese manifestiert sich in moralischer Unabhängigkeit, Integrität bzw. Selbstvertrauen, Selbstkontrolle bzw. Selbstdisziplin und Verantwortlichkeit für das eigene Selbst (vgl. Feinberg 1986, 39–43). Insofern ist Autonomie nicht nur eine Kapazität oder Fähigkeit, sondern zugleich auch ein Ideal (vgl. Feinberg 1986, 44). Andere interpretieren Autonomie als ein Recht (vgl. Feinberg 1986, 47). Autonomie ist nicht identisch mit Freiheit, sondern kann sogar zur Freiheit im Kontrast treten (vgl. Feinberg 1986a, 62). Ein wichtiges Paradox in diesem Zusammenhang ist die freiwillige Versklavung bzw. die freiwillige Sklaverei (vgl. Feinberg 1986, 71). Die persönliche Herrschaft über sich selbst ist nicht mit Privatheit zu verwechseln, obwohl Privatheit zu einer der Voraussetzungen für die Herrschaft über sich selbst gehört (vgl. Feinberg 1986a, 87). Die fehlende Möglichkeit der Ausübung von Patientenautonomie wird damit als ein Unvermögen begriffen, als Einschränkung. Persönliche Autonomie wird als Kompetenz verstanden, die sich lebenslang aufbaut, umgestaltet und entwickelt und gegen das Lebensende sich wieder zurück zu bilden beginnt. Sie ist verbunden mit dem Recht auf Nichteinmischung, es sei denn, es treten Umstände auf, die eine Intervention nicht nur rechtfertigen, sondern manchmal auch als geboten erscheinen lassen. Dabei gibt es natürliche, moralische und institutionelle Aspekte von Kompetenz. Gemäß Joel Feinberg kann man einen Schaden nur denen zufügen, die Interessen haben. Schaden kann also abhängig sein von der Verletzung der Interessen derjenigen, die diese Sache hervorgebracht haben oder sie betreiben. Einen Schaden erleiden kann auch das Wohlbefinden derjenigen betreffen, die ein Interesse an ihrem Wohlergehen haben. Hier liegt ein Schaden dann vor, wenn es jenen unmöglich gemacht wird, ihren Interessen, ihrem Antrieb oder ihren Wünschen zu folgen (vgl. Feinberg 1984, 34 f.). Neben den Interessen am Wohlergehen gibt es auch noch solche an der Wohlfahrt. Es sind Interessen am normalen Funktionieren des eigenen Körpers, der Abwesenheit von größeren Schmerzen, Leiden oder Einbußen an emotionaler Stabilität und der Abwesenheit grundloser Ängste und Ressentiments sowie die Fähigkeit, sich normal in sozialem Diskurs und Kommunikation zu äußern und Freundschaft zu genießen und aufrecht zu erhalten (vgl. Feinberg 1984, 37). Zu
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den Interessen kommen noch Wünsche hinzu, bei denen eine Schädigung auftreten kann. Insgesamt kann ein Konzept eines Netzwerkes von Interessen formuliert werden (vgl. Feinberg 1984, 55). Die Autonomie einer Person, damit auch eines Patienten, manifestiert sich darin, dass jemand in der Lage ist, sein Leben selbst zu gestalten. Paternalismus setzt eine mehr oder weniger objektive Wertordnung voraus. Ist Gesundheit ein so hoher Wert, dass man ihn immer auch gegen den Willen des Patienten bei diesem erzwingen sollte? Davon zu unterscheiden ist Fürsorgeverantwortung für sich selbst und seine Angehörigen, und zwar über die Gegenwart hinaus. Die Helmpflicht zu realisieren ist gut, aber rechtfertigt dies sittliche oder rechtliche Zwangsmaßnahmen? Nur Kompetente wissen, was in ihrem eigenen langfristigen Interesse ist. Ein Paternalismus, der jedes Detail festlegt, ist daher ethisch kaum zu rechtfertigen. John Stuart Mill entwirft in seinem Buch „On Liberty“ im Jahre 1859 eine klassische Begründung eines liberal utilitaristischen Antipaternalismus. Mills pragmatische Verteidigung des Freiheitsprinzips begründet sich darauf, dass Individuen am besten wissen, worin ihre eigenen Interessen bestehen, jedenfalls besser als diejenigen, die sich paternalistisch aufzuführen gedenken und anderen Vorschriften machen wollen. Allerdings ist ihm auch klar, dass unsere eigenen Naturen uns nicht vollständig durchsichtig sind (vgl. Arneson 1998, 250 f.) und dass die Lehre Grenzen hat, dass jeder als Individuum der beste Richter in eigener Sache sei (vgl. Dworkin 1972, 73). Wir drängen nicht jemandem ein Gut auf, der dieses zurückweist, sondern benutzen Zwangsmittel nur, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Ziele zu realisieren. Paternalisten tragen die Last des Beweises zu zeigen, dass die exakte Natur dieser verletzenden Effekte eine bestimmte Größe übersteigt (vgl. Dworkin 1972, 82 f.). Autonomie funktioniert als moralisches, politisches und soziales Ideal (vgl. Dworkin 1988, 10) und bezeichnet den willentlichen Charakter einer menschlichen Handlung mit der Fähigkeit der Person, die in gewissem Umfang Authentizität genannt wird. In diesem Zusammenhang kann von einer prozeduralen Unabhängigkeit der Selbstgestaltung gesprochen werden. Daher sollte der Autonomiebegriff gegen gewisse intellektualistische Verkürzungen verteidigt werden. Eine Person, die in verschiedenen Arten und Weisen restringiert werden möchte, möchte entweder durch die Disziplin eines Klosters, eines Regimentes, der Armee oder eben durch äußeren Zwang nach eigener Entscheidung ein Ziel erreichen, und ist eben allein auf Grund dieser Zwangsmaßnahmen nicht weniger autonom (vgl. Dworkin 1988, 14– 18). Autonomie hängt auch mit der Kontrolle des eigenen Verhaltens und der Konstruktion, bzw. dem Design des eigenen Verhaltens zusammen (vgl. Dworkin 1988, 150). Autonomie kann naturalistisch als Resultat von Autopoiesis-Prozessen im kulturellen Bereich gedacht werden. Dann wird Lernen mit Selbstkorrektureffekt gleichgesetzt. Dies impliziert eine Selbstkorrektur am Anderen: an prozessualer, sozialer Gerechtigkeit, individuell orientiert. Ein frei gewählter Zwang ist keine Einschränkung der Autonomie. Für die Ausbildung (oder Nichtausbildung) bestimmter Kompetenzen trägt man allerdings Mitverantwortung. Wir erkennen die Gesamtkompetenz menschlicher Personen an, handeln zu können, und dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Autonomie schließt damit die Kreativität ein, die es ermög-
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licht, eigene Wege zu gehen. Damit ist sie mehr als Wahlfreiheit und mehr als individualistische Privatheit (vgl. Irrgang 2007a). Zur autonomen Selbstverwirklichung bedarf es instrumenteller und sittlicher Werte. Autonomie ist damit der kreative Umgang mit der Situation, in der man sich befindet, nicht nur „informed consent“. 1.4 AUFKLÄRUNG, PATIENTENAUTONOMIE UND ENTSCHEIDEN FÜR ANDERE – NEUE GRUNDLAGE DER MEDIZINISCHEN ETHIK SEIT MITTE DES 20. JAHRHUNDERTS Die Bioethik bzw. Medizinethik von Beauchamp und Childress bietet als Prima-Facie-Prinzipien ethischer Orientierung folgende Grundleitlinien an: (1) Nichtschädigung; (2) Selbstbestimmung (Autonomie) respektieren; (3) Fürsorge und Wohltun und (4) Gerechtigkeit. Es handelt sich nicht um eine deduktive, sondern um eine rekonstruktiv verfahrende Ethik. Es gibt keine obersten Prinzipien sondern Topoi ethischer Beurteilungen. Bei Schäden gibt es objektive und subjektive Standards (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 173). In der medizinischen Ethik neuerer Prägung hat sich das Prinzip der informierten Zustimmung („informed consent“; Fletcher, Bovermann 1983; Malcolm 1988, Beauchamp, Childress 1989) oder der Einwilligung nach Aufklärung (Sass 1989, 13) bzw. der einsichtigen Einwilligung (vgl. Sass 1991, 207) als Interpretamente der Patientenautonomie (ausführlicher in Irrgang 1995) durchgesetzt. Es besagt, die Entscheidung der Betroffenen gilt als letztgültige Instanz für die Legitimität oder gar Sittlichkeit einer Behandlung durch den Arzt. Dieser Ansatz ist allerdings, obwohl er unserem Demokratieverständnis entspricht und unseren Autonomie- und Emanzipationsbestrebungen entgegenkommt, problematisch, weil Entscheidungen auch willkürlich, irrational, unüberlegt und unbegründet sein können. Weiterhin setzt das Prinzip der informierten Entscheidung sittliche Kompetenz voraus. Es ist zudem in den Fällen nicht anwendbar, wenn jemand nicht über die Kompetenz zu eigenen Entscheidungen verfügt, also bewusstlos, Kind oder z. B. dement ist. Hier müssen Ärzte oder Angehörige für Patienten oder Eltern für ihre unmündigen oder ungeborenen Kinder entscheiden, ohne deren faktische Zustimmung einzuholen oder einholen zu können (Notfallmedizin, Psychiatrie, Pränatale Diagnostik u. ä.). Daher kann die faktische Zustimmung oder der faktische Konsens nicht generell das letztentscheidende Kriterium sein. Schließlich beschränkt sich dieses Modell zu Unrecht nur auf den Beginn der Behandlung. Drei Gefahren drohen der Selbstbestimmung und dem „informed consent“, nämlich durch gesellschaftliche Entfremdung, durch die Gefahr des existentiellen Selbstverlustes und die Gefahr unbewusster Zwänge (vgl. Illhard 1985, 11 f.). Information kann mehr oder weniger bewusst in manipulatorischer Absicht gegeben werden, die Auswahl der Information hängt oft vom Zeitdruck ab, unter dem Arzt und Patient stehen. Zwar ist das Vertrauen des Patienten in seinen Arzt normalerweise gerechtfertigt, doch darf dieses Vertrauen niemals blind werden und blind machen. Daher erscheint es insgesamt als fragwürdig, wenn prinzipiell angenommen wird, die Legitimität des ärztlichen Handelns komme allein aus der Zustimmung des Behandelten. Das Konzept des „informed consent“ umfasst folgende
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Komponenten: (1) Aufklärung und Information, (2) Verstehen der Information, (3) Freiwilligkeit, (4) Kompetenz und (5) Zustimmung und Autorisierung des Arztes zu einer bestimmten Behandlung (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 78 f.). Dieses Prinzip hat nun auch Eingang in die medizinische Praxis gefunden im Bewusstsein, dass die Partizipation des Patienten an der Entscheidung medizinische wie psychologische Vorteile in der Behandlung bringt (vgl. King 1988, 54). Dies gilt insbesondere deshalb, weil die häufigsten Todesursachen lebensstilbedingt sind und die Einbeziehung des Patienten die größte Chance bietet, dass der Lebensstil sich ändert (vgl. King 1988, 117). Nun ist nicht zu leugnen, dass das Prinzip der Patientenautonomie eine bessere Kommunikation zwischen Arzt und Patient bewirkt, die Autonomie des Patienten und seine eigene Entscheidungsfähigkeit betont und einen Schutz gegenüber einem paternalistisch-fürsorgenden und übermächtigen Arzt schafft (vgl. Malcolm 1988, 82). Doch andererseits fehlen Kriterien dafür, wann genug Information für eine begründete Zustimmung gegeben wurde. Zudem setzt dies Krankheitseinsicht und ein Mindestmaß an medizinischem Wissen beim Patienten voraus. Zudem gibt es Situationen am Krankenbett, in denen die Information und ihre Eröffnung gerade den Schaden anzurichten vermag, den zu vermeiden Aufgabe des Arztes ist (vgl. Malcolm 1988, 63). Zudem gibt es keinen allseits akzeptierten Test für Kompetenz (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 80), so dass hier bestimmte Rationalitäts- und Effizienzstandards entwickelt wurden, an denen sich Kompetenz ablesen lasse (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 82–85). So entstehen Fragen des legitimen Verstoßes gegen das Prinzip des „informed consent“ etwa bei Placebo-Experimenten (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 93 f.) oder die Frage, ob man bei bestimmten Experimenten die Verwendung biotechnologischer Methoden verschweigen darf. Beauchamp und Childress kommen zu dem Schluss, dass Täuschung nur erlaubt sein sollte, wenn diese Täuschung wesentlich zur Erlangung wichtiger Information ist, kein größeres Risiko eingegangen werde, keine weiteren sittlichen Grundsätze verletzt würden und die Versuchspersonen darüber informiert seien, dass Täuschung ein wesentlicher Bestandteil des Versuches darstelle (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 99). Der Begriff der Autonomie wurde in der ethischen Diskussion bislang herangezogen, um ein Set verschiedener Bedeutungen zu bezeichnen unter Einschluss von Freiheitsrechten, von Selbstbestimmung, von Privatheit, von individueller Wahl, von der Freiheit, dem eigenen Willen zu folgen oder sein eigenes Verhalten hervorzubringen oder die eigene Person zu sein (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 67 f.). Autonomie verlangt Schutz und Berücksichtigung, selbst wenn die Wahl einer Person nicht individuelle oder soziale Wohlfahrt fördert (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 75). Der Gedanke der Patientenautonomie kann nun in vier unterschiedlichen Formen im Rahmen diverser Ethik-Typen ausgelegt werden (ausführlicher in Irrgang 1995): (1) Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kann im Sinne der Vertragsfreiheit („Informed Consent“) ausgelegt werden, wobei der Erkrankte als schwächerer Vertragspartner in besonderer Weise geschützt werden muss und daher das Recht auf letzte Entscheidung über eine Behandlung hat. Diese Konzeption kann sich auf den alten juristischen Spruch berufen: „volenti non fit iniuria“
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[Dem, der etwas will, kann (durch die Erfüllung seines Wunsches) kein Unrecht geschehen]. (2) Der Präferenzutilitarismus erkennt jedes Interesse, Bedürfnis, jede Entscheidung eines Einzelnen an, wenn er sie geäußert hat. Wer Präferenzen und Interessen hat, wird berücksichtigt. Eine Version des Präferenzutilitarismus wägt zwischen verschiedenen Präferenzen ab. (3) Das transzendentalphilosophische Konzept erkennt ebenfalls die Entscheidung eines jeden an, wenn sie im sittlichen Sinne autonom getroffen wurde, also frei von allen äußeren Einflüssen, auch den eigenen Interessen. Autonom in diesem Sinne ist jede sittlich verantwortbare Entscheidung, nicht aber jede Entscheidung eines Einzelnen. (4) Die verantwortungsethische Position erkennt jede Patientenentscheidung als autonom an, wenn sie unter Berücksichtigung der eintretenden Folgen auf das medizinische und nichtmedizinische Umfeld getroffen wurde. In der Ethik versteht man daher unter Patientenautonomie jede eigenständig, aufgrund eigener sittlicher Einsicht getroffene Entscheidung, die sich dem Universalisierungstest (Kant, Regelutilitarismus) unterwerfen lässt, oder – wie allgemein im Sinne der medizinischen Ethik zu formulieren wäre – die nach ethischen Kriterien und Grundsätzen überprüfbar zu einer ethisch ausgereiften und verantwortbaren Entscheidung für eine bestimmte Situation gekommen ist. Eine handlungstheoretische Deutung der kantischen Position macht zudem deutlich, dass eine autonom getroffene Entscheidung nicht nur universalisierbar, sondern auch situationsangemessen im Sinne der Gerechtigkeit sein sollte. Für die Ethik ist damit nicht das eher juristische Prinzip des „informed consent“ wichtig, sondern das Prinzip der situationsangemessenen Entscheidung, die durch den Diskurs der Beteiligten vorbereitet sein muss. Inkompetent ist nach diesem Verständnis der, der keine situationsangemessene sittliche Entscheidung treffen kann. Dann müssen andere für den Inkompetenten entscheiden. Hier stellt sich ein weiteres fundamentales Problem für eine medizinische Ethik. Eine Patientenautonomie, die sittlich qualifiziert ist und darum vernünftig sein muss, erlaubt es letztlich auch anderen, die für einen Inkompetenten entscheiden müssen, den vermutlichen Patientenwillen zu bestimmen. D. h. in den Fällen, in denen der Patient selbst nicht mehr entscheiden kann, muss ein anderer im Sinne des Patienten entscheiden und in der Lage sein, die getroffene Entscheidung auch zu rechtfertigen. Entscheidend für das Modell der Patientenautonomie ist der Begriff der „Kompetenz“, eine Entscheidung (Zustimmung) überhaupt vollziehen zu können, bzw. insbesondere die mangelhafte oder fehlende Fähigkeit hierzu. Folgende drei Standards haben sich in der Diskussion um Kompetenz herausgebildet: (1) Die Fähigkeit, zu einer Entscheidung auf der Basis rationaler Überlegungen zu kommen, (2) die Fähigkeit, zu einem vernünftigen Ergebnis durch eine Entscheidung zu kommen und (3) die Fähigkeit, überhaupt eine Entscheidung fällen zu können (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 83). Voraussetzung für Kompetenz ist (1) die Evidenz einer Wahl oder eines Vorziehens, (2) das Verständnis für eine Situation oder für relevant ähnliche Situationen, (3) Verständnis für aufklärende Information, (4) in der Lage zu sein, Gründe anzu-
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geben, (5) vernünftige Gründe angeben zu können, (6) Risiko-Nutzen-orientierte Argumente formulieren zu können und (7) die Fähigkeit, eine vernünftige Entscheidung vollziehen zu können (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 84 f.). Verschiedene Formen von geistiger Zurückgebliebenheit, Gehirnschädigungen durch Tumore, Traumata, Gewalteinwirkung oder Alkoholismus oder durch spezifische psychische Erkrankungen können Menschen zeitweise oder auf Dauer zu inkompetenten Personen werden lassen (vgl. Buchanan 1989, 1). Hinzu kommen Personen mit aktueller Bewusstlosigkeit nach Unfällen und Kinder inklusive Föten und Embryonen, die nicht in der Lage sind, kompetente Entscheidungen zu treffen. Kriterien für kompetente Entscheidungen sind die Fähigkeit zum Verstehen und zur Kommunikation, die Befähigung zum vernünftigen Nachdenken und Abwägen (vgl. Buchanan 1989, 20). Entscheidend ist die Frage, wie eingeschränkt die Fähigkeiten eines Individuums sind, eine bestimmte Entscheidung treffen zu können, so dass ersatzweise jemand bestimmt werden muss, dies stellvertretend zu tun. Besonders schwierig sind Grenzfälle (vgl. Buchanan 1989, 28). Kompetenz ist schließlich nicht etwas, was wir entdecken könnten (vgl. Buchanan 1989, 47). Vielmehr ist Kompetenz ein sozialer Zuschreibungsbegriff und ein Interpretationskonstrukt. Besonders im Alter ist fehlende Kompetenz im Anwachsen begriffen. Dazu tragen (1) degenerative neurologische Störungen wie Parkinson und Alzheimer, (2) einzelne oder mehrfache cerebrovaskuläre Unfälle, (3) schwere akute oder chronische Depressionen, die die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen, (4) zeitweises oder andauerndes Koma, (5) geistige Zurückbildungen, (6) Psychosen und (7) schwere Persönlichkeitsstörungen bei (vgl. Buchanan 1989, 267 f.). Hinzu kommen Nebenwirkungen von Medikamenten, die Verhaltensdispositionen weitgehend beeinträchtigen können (vgl. Buchanan 1989, 333). An die Kompetenz von älteren Menschen dürfen nicht generell die Maßstäbe des Erwachsenen angelegt werden. Kompetenz im Sinne der Medizinethik ist die Fähigkeit, sittlich, selbständig und eigenverantwortlich handeln und entscheiden zu können. Da dies eine Fähigkeit ist, die sich im Laufe der Entwicklung eines Menschen erst stufenweise herausbildet und sich krankheitsbedingt bisweilen auch wieder zurückbildet, müssen für Inkompetente Vertreter oder Vormünder eine Entscheidung treffen. Für Embryonen, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche dürfen wohl in erster Linie die Eltern entscheiden. Sie sind aber verpflichtet, diese Entscheidung nach Kriterien der Sittlichkeit abzuwägen und den anwachsenden Grad der Selbständigkeit ihrer Kinder bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen. Denn auch Kinder wollen selbst bestimmen (vgl. Buchanan 1989, 230). Aber auch in den anderen Fällen erfordert es das Prinzip der Patientenautonomie, den Inkompetenten so weit wie möglich in die Entscheidung mit einzubeziehen, vor allem immer wieder zu überprüfen, ob die Inkompetenz überhaupt noch vorliegt. Letztlich sind Angehörige und Freunde als Vormünder zu bevorzugen, da sie Werteprofile und Lebenseinstellungen des Patienten kennen und berücksichtigen können, da diese gemäß der Patientenautonomie bei der stellvertretenden Entscheidung einen hohen Stellenwert haben. Da gemäß der Position der Patientenautonomie der Lebenssinn und die Idee der Qualität des eigenen Lebens nicht dem Menschen von außen aufgezwungen werden darf, hat der Vormund die Wertewelt
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des Patienten und allgemein ethische Überlegungen in Einklang zu bringen, um eine Entscheidung im Sinne des Lebensentwurfes des Patienten zu treffen. Wenn der Betroffene selbst nicht mehr in der Lage ist, über den Wert des eigenen Lebens zu entscheiden, muss der Vormund versuchen, aus der Perspektive des Betroffenen zu entscheiden, ob ein Leben wert ist, gelebt zu werden. Dies ist keine objektive Aussage über Lebenswert bzw. Nicht-Lebenswert, sondern der Versuch, den subjektiven Entwurf eines Betroffenen von seinem Leben her zu rekonstruieren. Der Wert des menschlichen Lebens kann sich aus einem Vergleich mit nichtmenschlichem Leben nicht adäquat ergeben. Vielmehr werden sich hier nur Grade größerer Fähigkeiten, des Bewusstseins usw. feststellen lassen, die als Voraussetzung die Ausbildung und Ausdifferenzierung der Großhirnrinde haben. Der aus ethischer Sicht relevante Unterschied zwischen dem Leben eines Tieres und einem Menschen besteht in der auch empirisch nachvollziehbaren Fähigkeit des Menschen, sittlich zurechenbar handeln zu können. Dies begründet den Wert des menschlichen Lebens. Das Selbstbestimmungsrecht genießt bei uns hohes Ansehen, selbst wenn wir davon überzeugt sind, dass andere die gerade anstehende Frage vielleicht besser lösen könnten. Sie gehört zu den bevorzugten Idealen menschlicher Lebensqualität (vgl. Buchanan 1989, 39). Auf jeden Fall ist die Zurückweisung eines Behandlungsvorschlages und eine vom Arzt unterschiedene Antwort auf ein Behandlungsproblem noch kein Zeichen für Inkompetenz (vgl. Buchanan 1989, 58). Vielmehr darf dies – außer bei bestimmten psychischen Erkrankungen – gerade als ein Zeichen von Kompetenz gewertet werden, Entscheidungen überhaupt treffen zu können. In der psychiatrischen Literatur, Forschung und Praxis wurden verschiedene Tests für Kompetenz entwickelt, die vor allem die kognitiven Fähigkeiten einer Person beurteilen helfen sollen (vgl. Buchanan 1989, 71). Eine patientenzentrierte Perspektive scheint daher die richtige Grundausrichtung für eine medizinische Ethik zu sein. Vormund kann jedes moralisch kompetente Wesen werden, von dem erwartet werden kann, dass es den vermutlichen Willen seines Mündels herauszufinden gewillt und dazu auch in der Lage ist. Dies kann der Fall sein entweder aufgrund überprüfter Willenserklärung des Vormunds oder aufgrund natürlicher Verwandtschaftsbeziehung und entsprechender Willenserklärung. Wer für andere entscheidet, ist in besonderem Maße zur Einhaltung ethischer Grundsätze, Maßstäbe und Kriterien verpflichtet. Jeder Vormund ist so zu wählen, dass er sittlich kompetent ist. Er sollte zweckmäßigerweise auch in der Lage sein, ethisch zu argumentieren, um die stellvertretend getroffene Entscheidung rechtfertigen zu können. Für Kinder können Eltern, Vormünder, Angehörige, Ärzte, Pflegepersonal, gesellschaftliche Gruppen und Institutionen Entscheidungen treffen, für Erwachsene Angehörige, Vormünder, Ärzte, Pflegepersonal, gesellschaftliche Gruppen und Institutionen. Primäres Entscheidungsrecht wird dabei Angehörigen oder bestellten Vormündern eingeräumt. So hält man am traditionellen, familienorientierten Begriff des Angehörigen fest, konstituiert aber zugleich einen Begriff sonstiger nahestehender Personen (vgl. Marquard u. a.1988, 105). Aber auch fremde Personen können bei Eignung zu Vormündern bestellt werden. Dabei kann die Vormundschaft gesetzlich
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geregelt werden. Auch ist zu überlegen, ob eine (rechtliche) Instanz geschaffen werden sollte, die Entscheidungen von Vormündern im Hinblick auf Einhaltung der Sorgfaltspflichten gegebenenfalls überprüfen darf. Wichtigste Entscheidungsgrundlage für Vormünder ist das Prinzip, im besten Interesse des Patienten zu handeln. Man könnte sich überlegen, ob gesellschaftliche Institutionen – etwa EthikKommissionen – zu Vormündern in medizinethischen Konfliktfällen gemacht werden sollen. Ethik-Komitees sind ein Teil der Krankenhaus-Bürokratie geworden (vgl. King 1988, 191). Sie zur Entscheidung in der Behandlung von Patienten zu machen, kann als ein Schritt hin zur Tyrannei der Institutionen über Individuen gedeutet werden (King 1988, 216). Doch dies ist nicht impliziert: Ethik-Komitees spielen keine Rolle, wenn kompetente Patienten involviert sind. Sie beschäftigen sich gewöhnlich mit den schwierigsten Fällen, nämlich mit denen, die eine dramatische Entscheidungs-Unsicherheit und höchst konfliktträchtige Verpflichtungen beinhalten. Ethik-Kommissionen haben (1) eine politisch-institutionelle Funktion, wobei Leitlinien medizinischer Behandlung für die Öffentlichkeit aufgestellt und durchsichtig gemacht werden, (2) sollen eine vernünftige Entscheidung in Konfliktfällen vorbereiten, (3) den Angehörigen Verständnis für medizinische Fakten vermitteln und (4) Entscheidungen überprüfen, bevor diese endgültig werden (vgl. King 1988, 225–228). Je größer die Manipulationsmacht ist und insbesondere in den Fällen, wo für andere entschieden wird, muss sich die gefällte Entscheidung rechtfertigen lassen. Das subjektive Gewissensurteil reicht hier nicht aus. Und in besonders gravierenden Fällen kann die Legitimationsfrage auch durch ein Gericht aufgeworfen und beantwortet werden, z. B. bei der Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Dies hat eine Schutzfunktion für nicht kompetente Patienten einerseits, führt aber letztlich in Verrechtlichung und in ein weiteres Ausgreifen der DefensivMedizin. Trotz aller Reglementierungs- und Sanktionsangst durch Verrechtlichung sind Entscheidungen für andere, die gravierende Folgen haben, legitimationspflichtig und zumindest im Prinzip einer richterlichen Überprüfung zugänglich zu machen (ausführlicher in Irrgang 1995). Patientenautonomie ist leiblich eingebettet. Die Rede vom Leib als Ding besonderer Art macht es erforderlich, einige der fundamentalen Bedingungen der Möglichkeiten menschlicher Leiblichkeit zu benennen. Der Begriff Leib ist eine der deutschen Sprache eigentümliche Unterscheidung, die einen Körper, insofern er als beseelt gedacht wird, durch ein besonderes Wort aus der Menge der übrigen Körper heraushebt. Es entsteht aus dem Mittelhochdeutschen „lîp“ (zunächst undifferenziert Leib und Leben) allmählich die bestimmte Bedeutung von Lebendigem, Beseeltem, eine bestimmte Person darstellenden Körper. In der antiken Philosophie ist wesentlich für den Begriff der Körpers das Moment der sichtbaren Gestalt. In der Gestalt verbindet sich Verschiedenes zu einer Einheit derart, dass das bloß Viele sich zu besonderen Teilen eines Ganzen ordnet. Soma als Leib wird vor allem im Zusammenhang mit Erörterungen über das Wesen des Menschen thematisch. Das Lehnwort Körper kann für alle Bedeutungen von „corpus“ verwendet werden, auch für den menschlichen Körper, insofern dieser nur als Naturgegenstand betrachtet wird, wie etwa in der naturwissenschaftlichen Medizin (vgl. Borsche 1980, 173– 177).
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Fleischsein impliziert existentiell Verletzlichkeit. Der lebendige Leib und der objektive menschliche Körper sind zwei Seiten desselben Phänomens. MerleauPonty geht es um das Fleisch der Wahrnehmung und er betont den subpersonalen Level der Sensibilität. Er führt Husserls Instinkt-Intentionalität und seine Betonung der autonomen Einheit des Leibes als Existenzial fort. Die Phänomenologie des Selbst-Natur-Seins mit dem elliptischen Grundansatz bestimmt Autonomie von ihrer leiblichen Einbettung her (Irrgang 2009). Aufgrund der Erfolge der Biowissenschaften steht allerdings das Naturalisierungsparadigma in der Anthropologie im Vordergrund. Die traditionelle Leibphänomenologie ging vom leiblichen Spüren und Empfinden und vom Natursein menschlicher Körperlichkeit und menschlicher Leiblichkeit aus. Diese Interpretationslinie verharrt im Gegebenheitsmodus des anthropologischen Denkens. Eine transklassische oder postphänomenologische Leibphilosophie gibt diesen allerdings zugunsten einer Grundeinstellung des Umgehen Könnens, und zwar mit sich, mit seinem Körper, den Anderen und der Natur, auf und erarbeitet eine neue Basis für die Anthropologie. Dies begründet eine Phänomenologie des aktiven Zugangs zu sich selbst und anderen, wobei Leib oder Körper kein bloßes Instrument sind, sondern selbst Medium des Umgehen Könnens, des sich Aneignen Könnens, sich hinein Versetzen Könnens, des Entwerfen Könnens (vgl. Irrgang 2009). Die Unterscheidung von „Körper Haben“ und „Leib Sein“ (Plessner) wird somit in der neuen phänomenologischen Anthropologie zugunsten einer Kompräsenz von menschlichem Körper und Leib aufgegeben, die menschliche Leiblichkeit nicht von einem Erleben oder Spüren her interpretiert, sondern vom Erfahren im Umgehen Können, das von der Sensomotorik bis zur Reflexion in der menschlichen Selbstgestaltung reicht (vgl. Irrgang 2009). Der Leib ist in diesem Zusammenhang nicht Grundlage eines modern verstandenen Egoismus, Atomismus oder Individualismus, sondern ist sozialer Leib. Die Selbstorganisation des Umgehen Könnens schafft vielfältige Formen impliziten Wissens und Bedeutungen. Dabei konstituiert die Doppelnatur des menschlichen Leibes zwischen Natur (Körperlichkeit und organischer Anlage) und leiblich eingebetteter Subjektivität (Empfinden, implizite und explizite Formen des menschlichen Geistes, Kompetenzen) eine Grenze der Durchschaubarkeit der eigenen leiblich-geistigen Existenz als Kompetenz. So bleibt es möglich, uns selbst als Menschen sowohl naturalistisch-materialistisch wie religiös-spirituell auszulegen. Die letztendliche Unbestimmtheit der menschlichen Selbstvergewisserung kann nicht aufgehoben werden. Im leiblichen Leben spielen Krankheiten oft eine bloß untergeordnete Rolle. Das Englische unterscheidet schon im Sprachgebrauch zwei Varianten von Krankheit, die in der deutschen Sprache nicht so leicht begrifflich zu unterscheiden sind: (1) Krankheit im Sinne von „disease“ als biomedizinisch feststellbare Erkrankung und (2) „illness“ als das subjektiv empfundene Beeinträchtigtsein von Funktionen des eigenen Organismus. Aber gerade das macht die leibliche Dimension von Gesundheit und Krankheit aus. Gesund meint ursprünglich „vollständig“ im Sinne von ‚heil‘ und ‚ganz‘. Alles Gesunde entspringt der Ordnung und Fügung. Das Adjektiv ‚krank‘ kommt schon im Althochdeutschen vor und bedeutet ‚siech‘, ‚schwach sein‘, ähnlich wie ‚krankalon‘ kränkeln, straucheln, schwanken bedeutet. Krankheit
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kann vier Sachverhalte ausdrücken, nämlich (1) die somatische, körperliche Schwäche, (2) die sensorische Empfindung von Schmerz oder Beeinträchtigung, (3) die geistige Krankheit im Sinne von böse und schlecht und (4) die soziale Krankheit als Laster und dergleichen. Als krank gilt der Mensch, der wegen eines Verlustes des abgestimmten Zusammenwirkens der leiblichen, seelischen oder leib-seelischen Funktionsglieder des Organismus subjektiv oder klinisch hilfsbedürftig wird (vgl. Irrgang 1995). Medizin ist heute zu einem integralen Bestandteil des neuzeitlichen Wissenschaftssystems geworden. Die Erklärung von Krankheitsprozessen erfolgt im Rahmen von medizinischen Modellvorstellungen, die mit den Modellen der Physik, Chemie, Biologie und Psychologie vereinbar sind und häufig direkt auf diesen aufbauen. Dennoch ist der Allgemeinbegriff der Krankheit fundamental ungeklärt und kontrovers. Hucklenbroich unterscheidet einen praktischen, einen theoretischen und einen nosologischen Krankheitsbegriff. Den praktischen Krankheitsbegriff gebrauchen Mediziner z. B., wenn sie einen Patienten ‚krankschreiben‘, d. h. ihn als krank erklären, ohne eine bestimmte Diagnose zu stellen. Der theoretische Krankheitsbegriff wird immer dann verwendet, wenn Mediziner irgendein Merkmal, einen Vorgang, Zustand, Anteil oder Parameter an einem Patienten als krankhaft, pathologisch oder pathologisch verändert bezeichnen (vgl. Hucklenbroich 2007, 77–79). Der Krankheitsbegriff steht im Kontext von medizinischem Wissen. Neben dem expliziten Wissen, das in Vorlesungen, Lehrbüchern, Bildatlanten und wissenschaftlichen Originalarbeiten ausformuliert ist, findet sich ein implizites Wissen, das bei der Aneignung, kognitiven Durchdringung und Ausübung des expliziten Wissens im Vollzug erworben wird. Krankheit und Gesundheit haben einen Doppelbezug (1) auf das medizinische Wissen, zur Beschreibung der Symptome und Diagnose der Krankheit, (2) auf das subjektive Wohlbefinden. Der Anlass für eine Krankheitszuschreibung setzt eine eindeutige Wertentscheidung voraus, welche Abnormitäten als krank gelten sollen und welche nicht. Erforderlich erscheint auch eine Kontextualisierung in einer Lebens-Leidensgeschichte. Ein Problem entsteht mit der Fortpflanzungsmedizin, bei der ein unerfüllter Kinderwunsch zur Legitimation der Krankheitszuschreibung herangezogen wird. Ist aber ein unerfüllter Kinderwunsch ein pathologischer Befund? Mit der Fortpflanzungsmedizin erhält die Medizin eine zusätzliche neue und weitere Ausrichtung, denn die Fortpflanzungsmedizin insgesamt bis hin zu Designerbabies und anderen Formen des Enhancement ist keine krankheitsbehebende, sondern wunscherfüllende Medizin, jedenfalls zu weiten Teilen (vgl. Irrgang 2012). Kranksein bedeutet für einen Menschen, ein anderes Leben zu führen als er dies normalerweise will. Für das biomedizinische Modell bedeutet Heilen, ein Organ oder eine Funktion, die von der Norm abweicht, wieder ins Lot, d. h. auf die Ebene der Norm zu bringen. Doch dieser statistische Durchschnittswert hat nichts mit einem lebenden Organismus zu tun, dessen Aktivität eine gewisse Normativität für die medizinische Behandlung gewinnt, da es schließlich von der Anpassungsfähigkeit eines Organismus abhängt, wie er auf Belastungen reagiert. Die genetische Deutung der Pathogenese erlaubt eine prädiktive Medizin, die Krankheiten oder
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schwere Behinderungen noch vor ihrem Ausbruch unter bestimmten Voraussetzungen vorhersagen kann. Die sog. „natürliche Sicht“ der Krankheit unterstellt, dass genetische Anomalien mit Krankheiten oder Behinderungen zu identifizieren seien. Mutationen werden als Ursache bestimmter Krankheiten und Behinderungen offengelegt. Damit aber ist noch keineswegs klar, was Begriffe wie Gesundheit, Krankheit, Schmerz, Wohlfühlen, Wohlsein oder Unwohlsein oder Behinderung meinen, weil hier möglicherweise dieselben Mutationen im selben Gen angesichts eines unterschiedlichen Lebensentwurfes ganz unterschiedlich verstanden werden. Es lässt sich kein allgemeiner Begriff der Krankheit und der Behinderung entwickeln, der nur auf der Beschreibung von Mutationen beruht. Subjektive Empfindungen, Leidensgefühl, Schmerz und Unwohlsein sind für die Definition von Krankheit ebenfalls nur begrenzt verwendbar. Hierin kann man auch den Mangel der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation sehen, die Gesundheit als Zustand des vollkommenen biologischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens definiert und so falsche Vorstellungen einer Gesellschaft mit radikaler Glücksorientierung verabsolutiert. In der Krankheit wie in der Behinderung erfährt sich der Mensch in seiner Ungesichertheit, Anfälligkeit, Begrenztheit, Ohnmacht und Endlichkeit. Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit Krankheit, Leid und Sterben immer auch die Sinnfrage verbunden wurde. Entweder sieht man den Grund der Krankheit im Wirken einer übernatürlichen Macht, welche den Menschen mit der Krankheit oder anderen Plagen für sein Übertreten von Geboten oder sonstigen Lebensvorschriften bestraft oder warnt. Hier wird Krankheit als Strafe oder Prüfung bzw. Erziehungsmaßnahme verstanden. Andere wiederum geben der Krankheit einen biographischen Sinn, denn sie vermitteln eine Chance, über das eigene Leben nachzudenken und eventuell den eigenen Lebensplan und die zugrunde liegende Strategie zu ändern (vgl. Irrgang 1995). Auf jeden Fall werden ernsthafte, insbesondere lebensbedrohliche Krankheiten und schwere Behinderungen als Infragestellungen der eigenen Identität erlebt. Der Begriff der Behinderung ist sehr unscharf, wobei darauf hinzuweisen ist, dass Behinderung keine Krankheit ist. Er wird auch ständig ausgeweitet. Dies führte zu der inzwischen umstrittenen Tendenz, alle dauerhaften Störungen und Auffälligkeiten (z. B. Verhaltensstörung), chronifizierte Krankheiten, psychische Erkrankungen und selbst Schulleistungsschwächen unter dem Behindertenbegriff zu subsumieren. Stigmatisierungen und Ausgrenzungen bei Behinderungen führen zu einer Erschwerung gesellschaftlicher Partizipation. Dies unterscheidet den Begriff der Krankheit von dem der Behinderung. Besonders deutlich wird dies an der fremdbestimmten Lebenssituation geistig behinderter Menschen (vgl. Irrgang 1995, Irrgang 2005b). Die Genomanalyse und die prädiktive Medizin eröffnen Handlungsspielräume im Umgang mit der Realisierung des Rechtes auf einen eigenen Lebensentwurf. Auch Behinderte können sich humangenetisch beraten und (in Grenzen) helfen lassen. Dies ist positiv zu werten. Allerdings muss das Problem genetisch motivierter Abtreibungen und die implizite gesellschaftliche Diskriminierung Behinderter mit Erbkrankheiten gesellschaftlich bewältigt werden. Dies erfordert Verantwortungsbewusstsein bei den Eltern, die ärztlicherseits unterstützt eine Entscheidung über genetisch motivierte Abtreibungen fällen müssen.
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Andererseits ist ethisch gesehen nicht zu verantworten, wenn ein gesellschaftlicher Druck hin zu genetisch motivierter Abtreibung (etwa aus finanziellen Gründen) entsteht. Dringlich sind die Entwicklung neuer Therapieformen für Behinderungen und Erkrankungen und ein gesellschaftlicher Einstellungswandel Behinderten gegenüber. Die klassische Konzeption der Autonomie des Menschen trennt diesen von den Umständen ab. Dies ist ein Fehler im Hinblick auf die praktische Selbstbestimmung des Menschen. Ausgangspunkt ist die cartesische Definition des Menschen als denkende Substanz, von der aus alles weitere erfolgen soll. Bei Leibniz wird die Monade im Sinne eines leiblichen Geistes (vgl. Irrgang 2007b) als aktives Handlungsprinzip gedeutet, wobei mit den kleinen Wahrnehmungen die Grundlagentheorie für die Konzeption des leiblichen Geistes entwickelt wird. Unsere Erfahrung begründet aber gemäß Samuel Todes kein solches Monadenmodell. Auch für Hume ist das Subjekt die funktionale Einheit der Welt, eine personale Identität. Aber personale Identität ist nicht identisch mit der Einheit der Erfahrung. Körperbewegung und Bewegungserfahrung gehören zusammen. Der ganze Körper führt Handlungen aus. Wissen bietet Korrelate für den aktiven subjektiven Leib an. Die sexuelle Revolution und die Vermarktung insbesondere der weiblichen Nacktheit, die sogenannte westliche Schamlosigkeit, am Strand gezeigt, ist nicht Sittenverfall, sondern Anzeichen des Verfalls der Natürlichkeitsideologie, die natürliche Schamhaftigkeit, sexuelle Mäßigung, Zucht, Askese, mönchische Ideale gepredigt hat. Es entstand eine neue Kultur der Ekstase, die allerdings vom Massenkonsum erstickt wurde. Die Nacktheit kann sehr künstlerisch gezeigt werden, selbstverständlich auch vulgär und obszön. Die Kunst des Erotischen ist in der neu präsentierten Körperlichkeit als Leiblichkeit wieder zu entdecken, selbstverständlich nicht in Formen der Gewalt gegenüber Frauen. Doping verändert die Leistungsfähigkeit, die Pille und die In-vitro-Fertilisation das Reproduktionsverhalten. Leiblichkeit ist nicht biologisches Faktum, sondern ein Feld der Selbstgestaltung, des eigenen Entwurfs – zumindest in gewissen Grenzen. Die Kleinfamilie verändert die Struktur der Ehe als einer gemeinsamen Lebensform. Der zentrale Ansatzpunkt medizinethischer Fragen für den Arzt ist die Behandlung einschließlich der ihr zugrunde liegenden Diagnostik. Allen Arten medizinischer Behandlung ist das Anwenden einer „Technik“ gemeinsam, das kausalanalytisch begründet wird, sich auf einzelne Gegebenheiten am Menschen richtet und dabei ein funktionales Verständnis menschlicher Wirklichkeit voraussetzt. In diesem Zusammenhang entsteht das medizinethische Grundproblem der Vermittlung von technischem Handeln am Menschen mit dessen Anspruch auf freie Selbstbestimmung (vgl. Eser 1989, 159). Technisches Handeln am Menschen ohne personale Kommunikation im Anspruch freier Selbstbestimmung ist Gewalt, der sich der Kranke gegenüber der Technik bis hin zum Ertragen sog. „aggressiver“ Diagnostik und Therapie ausgeliefert fühlt. Medizinische Behandlung als verantwortete Praxis ist nur dann möglich, wenn der Entschluss, bestimmte technische Mittel anzuwenden, Ergebnis von Gegenseitigkeit und Gespräch ist (vgl. Eser 1989, 162). Den Verständnishorizont ärztlicher Behandlung kann daher nur das Modell des Handelns, nicht aber das des technischen Herstellens abgeben.
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Gemäß Hannah Arendt schalten wir uns sprechend und handelnd in die Welt ein. Eine grundlegende Aporie des Handelns bestehe in der Unabsehbarkeit der Folgen. Daher erscheint Geschichte, obwohl durch menschliches Handeln entstanden, doch von Menschen nicht gemacht. Die Bedeutung einer vom Handeln erzeugten Geschichte, auch einer Lebensgeschichte, enthülle sich erst am Ende (vgl. Arendt 1981, 165–184): „Die dem Handeln eigentümlichen Aporien, die Unabsehbarkeit der Konsequenzen, das Nicht-wieder-rückgängig-machen-können der einmal begonnenen Prozesse und die Unmöglichkeit, für das Entstandene je einen einzelnen verantwortlich zu machen, sind so elementarer Natur, dass sie die Aufmerksamkeit sehr früh auf sich gezogen haben. […] Dass die zur Lösung dieser Aporien vorgeschlagenen Versuche im Grunde immer auf das Gleiche hinauslaufen, zeigt, wie einfach elementarer Natur die Aporien selbst sind. Allgemein gesprochen, handelt es sich nämlich immer darum, das Handeln der Vielen durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der, abgesondert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt. Dieser Versuch, ein Tun im Modus des Herstellens an die Stelle des Handelns zu setzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die uralte Geschichte der Polemik gegen die Demokratie“ (Arendt 1981, 214). Da man aufgrund der Aporien und der Unsicherheit des Handelns der Freiheit misstraue, ersetze man das Handeln durch Formen instrumenteller Vernunft. Auch Gesetzgebung sei ein Handeln in Form der Herstellung. Der ethisch vorzuziehende Weg liegt jedoch darin, die Logik des Misslingens zu berücksichtigen. Ihre Wurzeln liegen in einem falschen Umgang des Akteurs mit Komplexität. Gewöhnlich ist das Realitätsmodell des Akteurs unvollständig und falsch (vgl. Dörner 1989, 65). Im Umgang mit Unsicherheit, Falschheit und unvollständigen Informationen müsse man sich zunächst einmal Klarheit über das angestrebte Ziel als Richtlinie für das eigene Urteilen und Handeln verschaffen. Bei der Modellbildung sind gefährliche reduktive Hypothesen, die zu wenige Parameter beachten und ein Weltbild scheinbar aus einem Guss vermitteln, zu vermeiden (vgl. Dörner 1989, 134). Eine entscheidende Fehlerquelle ist die Fehleinschätzung exponentieller Wachstumsprozesse (vgl. Dörner 1989, 179), wie sie z. B. chronischen Erkrankungen zugrunde liegen können. An die Stelle einer Strukturextrapolation sollte eine Analyse der Bedingungen und Anforderungen einer bestimmten Situation treten (vgl. Dörner 1989, 193). Daher wird die richtige Planung der Therapie zu einem entscheidenden Faktor. Dabei bietet die Betrachtung der Folgen von Maßnahmen hervorragende Möglichkeiten zur Korrektur eigener falscher Verhaltenstendenzen und zur Korrektur falscher Annahmen über die Realität. Wir scheitern an den vielen kleinen Fehlern, die sich addieren (vgl. Dörner 1989, 279). Die zentrale Fehlerquelle aber ist der Kompetenzschutz des Handelnden, der zu Reduktionismen, blinden Flecken und irrationalen Entscheidungen führt. Hier muss die Position der Patientenautonomie zur permanenten Selbstkritik und Korrektur durch andere vor der Entscheidung auffordern. Der Behandlung hat daher ein klärender Dialog vorauszugehen. Bei Rüdiger Bubner rückt nun der Dialog selbst zum Garanten richtiger Praxis auf, er ist zugleich Ort und Maßstab praktischer Vernunft. Der dialogische Filter soll die dem Handeln eigene Rationalität befördern und die vertrackten Täuschungsmöglichkei-
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ten über fremde und eigene Handlungen aufdecken helfen. Ideale Bedingungen wie in Habermas Diskursmodell machen den Dialog zur praktischen Aufklärung untauglich. Erst die methodische Rekonstruktion ermöglicht das Verfahren ethischargumentativer Begründung (vgl. Bubner 1982, 227–234), die sich des praktischen Syllogismus bedient. Ethische Argumentation muss sich in einsichtiger Weise darum bemühen, die Unverträglichkeiten des Wollens und die Inkonsistenzen des Handelns zu überwinden. Moralische Argumentation impliziert, von jemandem nur das zu fordern, was er einsehen kann. Daraus ergibt sich die Einsicht in die Pluralität von praktischen Einsichten. Die Begründung praktischer Einsichten gelingt dabei nicht ohne lebensweltliche Erfahrungen (vgl. Schwemmer 1986, 83). Daher ist die ärztliche Aufklärungspflicht vor einer Behandlung im Sinne eines ethischen Diskurses durchzuführen. Während es bei der Wahrheit am Krankenbett aus paternalistischer Perspektive um die Frage geht, ob und wie viel von der Wahrheit im Hinblick auf Diagnose und Prognose man dem Kranken zumuten könne, geht es bei der Aufklärung um eine differenzierte, fachliche Information. Sie sollte im Gespräch um die bei der Entscheidung zugrunde gelegten Werte ergänzt werden. Die ärztliche Aufklärung beinhaltet Informationen über die Modalitäten und Risiken einer geplanten Behandlung, über die zu erwartenden Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen, aber auch über die Folgen ihres Unterbleibens. Zum zweiten aber impliziert Aufklärung ein ärztliches Gespräch darüber, wie ein Erkrankter seine Lebensführung zu gestalten habe, um gesund zu werden und gesund zu bleiben (vgl. Eser 1989, 132). Ein Patient etwa, der nicht genügend über die möglichen Folgen einer Operation aufgeklärt wurde, wird im Falle eines Misserfolges hinterher sagen können, er hätte sich nicht operieren lassen, wenn er ausreichend aufgeklärt worden wäre. Somit folge die Notwendigkeit ausreichender Aufklärung nicht nur aus ethischen Überlegungen, sondern ist gleichzeitig eine rechtliche Forderung an den Arzt. Eine mögliche Konsequenz dieser Forderung ist die Defensivmedizin. Das ihr zugrunde liegende Schema ist einfach: Rechtliche Verordnungen listen auf, über welche Risiken aufgeklärt werden muss, so dass Formulare, dem Patienten z. B. vor einer Operation zur Unterschrift gereicht, das Aufklärungsgespräch ersetzen. Häufig verstehen die Patienten nicht, was sie da unterzeichnen sollen. Aufklärung wird hier zur strategischen Manipulation, die den Patienten als Person nicht ernst nimmt. In dieser Konsequenz verhindert der „informed consent“ gerade das, was er erreichen wollte, nämlich die zentrale Berücksichtigung des Patienten bei der Entscheidung über die Art der Behandlung. Andererseits ist nicht jede juristische Normierung gleich Kasuistik. Es gibt eine unbegründete Strangulierungsangst. Und schränkt man das Sanktionierungsrisiko ein, dann wird der Patient schutzlos (vgl. Marquard 1988, 83 f.). Missbrauch der Aufklärungspflicht und des Ermessensspielraums (bei der Risikobewertung) sollte von Sanktionen bedroht sein. Damit verdrängt der Richter nicht den Arzt. Denn in manchen Fällen mag der Richter der Letztbeurteiler einer Handlung sein, Erstentscheider jedenfalls ist der Arzt (vgl. Marquard 1988, 85). Um adäquat aufklären zu können, wird sich der Arzt die Zeit zu einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten oder mit dem Vormund nehmen müssen, wobei im Hinblick auf Risiken sehr seltene Komplikationen nicht genannt zu werden brauchen, um den Patienten nicht
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zusätzlich und unnötig zu beunruhigen. Sie begreift ärztliche Aufklärung als kommunikativen Prozess und als ethisch-medizinischen Diskurs, in der personalen Sichtweise des Arzt-Patienten-Verhältnisses als Gespräch und Begleitung verstanden. Die gemeinsame Haltung aller therapeutischen Dienste sollte das Begleiten sein, welche das Subjekt-Sein des Helfers wie des Patienten betont. So könnte die Vertauschbarkeit der Rollen ein Kriterium des humanen Umgangs miteinander darstellen (vgl. Marquard u. a. 1988, 75). Für die Aufklärung des Patienten sind so Regeln der Wahrhaftigkeit, der Privatheit, der Vertrauenswürdigkeit (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 307) und letztlich auch der Zumutbarkeit zu formulieren. Das Fürsorgeprinzip kann in Extremsituationen den Arzt oder das Pflegepersonal zu eingeschränkter Aufklärung oder sogar zu ihrer Unterlassung verpflichten. Kompensierende Strategien wie etwa Gespräche mit Angehörigen oder Freunden erscheinen aus ethischer Perspektive angeraten. Wohlwollende Täuschung, Rücksicht auf die Aufnahmekapazität des Patienten oder die phasenweise Weigerung sterbenskranker Patienten, die Wahrheit wissen zu wollen (vgl. Beauchamp, Childress 1989, 312), dürfen aber nicht als allzu billige Legitimation benutzt werden, unangenehme Situationen zu umgehen. Bisweilen kann das Selbstbestimmungsrecht des Patienten beinhalten, nicht die volle Wahrheit wissen zu wollen. Vor allem impliziert Aufklärung die Verpflichtung zum Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten anderen gegenüber. Viele ärztliche Entscheidungen sind Entscheidungen unter Ungewissheit, aber nicht immer unter Zeitdruck. Weil die nachteiligen Folgen eines ärztlichen Eingriffs in der Regel der Patient in besonderem Ausmaß zu tragen hat, sollte er in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen werden. Der Arzt darf nicht zur Schicksalsmacht für den Patienten werden. Kernstück des Arzt-Patienten-Verhältnisses ist daher Aufklärung als Risiko-Diskurs über gesundheitliche Folgen einer Therapie. Ziele der Aufklärung sind Diagnostik- und Therapiebegründung, prognostische Aufklärung im Hinblick auf Patientenkooperation und ärztliche Haftungssicherung (vgl. Amelung 1992, 141). Allerdings muss man sich klar machen: Das Krankenhaus erbringt Gesundheitsdienstleistungen, nicht Lebenshilfe, mit dem Schicksal muss jeder selber fertig werden (vgl. Amelung 1992, 149). Im Falle der Forderung nach Behandlungsabbruch durch einen Dialyse-Patienten stehen für den Arzt medizinische Indikation und moralische Hilfeverpflichtung, Selbstbestimmungsrecht und individuelle Selbstbestimmung des Patienten gegenüber (vgl. Amelung 1992, 151). Die modernen diagnostischen Maßnahmen sind aufschlussreicher und moderne Therapieformen wirkungsvoller, beide zugleich aber risikoreicher geworden (Marquard 1988, 14). Ärztliches Handeln beinhaltet ein gewisses Risiko für den Patienten, nämlich dass durch fehlerhafte Diagnose oder Behandlung ein Gesundheitsverlust oder eine Gesundheitsbeeinträchtigung eintreten kann. Dieses Risiko kann eintreten aufgrund vermeidbaren oder unvermeidbaren Versagens des Arztes oder aufgrund von nicht vorhersehbaren Begleitfolgen der Behandlung. Damit tritt wieder deutlicher in den Vordergrund, was die naturwissenschaftliche Deutung der Medizin gerne an den Rand gedrängt hatte. Medizin ist keine Wissenschaft objektiver Naturgesetze, sondern menschlichen Handelns. Formuliere man aber die Patienten-
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autonomie als Grundlage der medizinischen Ethik, so müsse dem Arzt die Möglichkeit des Irrtums eingeräumt werden (vgl. Marquard u. a. 1988, 14). Denn jedes Handeln ist mit einem gewissen Risiko unerwarteter bzw. unerwünschter Folgen verbunden, das einen ärztlichen Ermessensspielraum begründet, in dem Aufklärung als Begleitung sich vollziehen kann. Auch ohne Fachkenntnisse können Laien das Schadensausmaß recht gut abschätzen (vgl. Jungermann 1993, 93). Allerdings ist eine Überschätzung von Ereignissen dramatischer Natur, eine Unterschätzung undramatischer Krankheitsverläufe insbesondere bei chronischen Erkrankungen zu verzeichnen (vgl. Jungermann 1982, 225). Gegenüber dem Risiko ist eine vorsichtige, eine mittlere und eine riskante Einstellung möglich. Risiken werden leichter eingegangen, wenn sie freiwillig übernommen, vermeidbar, kontrollierbar, vertraut, gut verstanden, nicht erschreckend, nicht möglicherweise krankheitserregend und weit entfernt sind. Kurz gesagt, Menschen neigen dazu, sehr wahrscheinliche Ereignisse zu unterschätzen und sehr unwahrscheinliche Ereignisse zu überschätzen (vgl. Rescher 1983, 126– 128). Ärztliche Aufklärung wie der allgemeine medizinethische Diskurs ist daher zu einem nicht geringen Teil Risikokommunikation. Es handelt sich dabei um Kommunikations-Prozesse, die sich auf die Identifizierung, Analyse, Bewertung sowie das Management von Risiken und die dafür notwendigen Interaktionen zwischen den Beteiligten beziehen (vgl. Jungermann 1990, 5). In der Risiko-Kommunikation spielen die Massenmedien eine große Rolle. Massenmedien sind häufig nicht in der Lage, die Komplexität der dargestellten Risiken angemessen zu vermitteln. So kann es zu falschen Patientenentscheidungen aufgrund fehlerhafter Information durch die Presse kommen. Ziel der Risiko-Kommunikation ist die Stärkung der Mündigkeitskompetenz und Verantwortungsfähigkeit des Bürgers, im medizinischen Bereich des Patienten. Hier ist neben den Medien der Staat mit seiner ordnungspolitischen Kompetenz gefordert (vgl. Sass 1985, 39). Aufgabe der medizinischen Ethik ist es, die Risiko-Kommunikation als ethischen Diskurs zu gestalten, diese damit über das Risiko-Thema hinauszuführen und für diesen erweiterten Diskurs Prinzipien, Regeln, ethisch relevante empirische oder theoretische Kriterien und ethische Kriterien herauszuarbeiten. Für einen handlungstheoretischen Ansatz sind bewertungsrelevante Gesichtspunkte neben den positiven Zielsetzungen und Mitteln der Behandlung des Patienten (ihrer ZielMittel-Struktur oder ihrem Programm und Methodenarsenal) vor allem das Ensemble der Folgen, das mit einer Behandlungsmethode verbunden ist. Präventiv-Regeln umfassen Sorgfaltsverpflichtungen und Aufklärungsverpflichtungen, die zur Risikoabschätzung dienen. Sie beinhalten bei der Therapiewahl grundsätzlich, das geringstmögliche Risiko einzugehen und nur bei großer Gefahr riskantere Methoden zu wählen. Dies ist eine Konsequenz der Vorsichtsregel.
2. VERÄNDERUNGEN IM VERSTÄNDNIS VON KRANKHEIT, BEHANDLUNG UND ROLLE DES ARZTES DURCH BIOMEDIZIN – KONSEQUENZEN FÜR MEDIZINETHIK 2.1 MOLEKULARGENETIK ALS UMSTRITTENE LEITWISSENSCHAFT DER BIOMEDIZIN Im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion über Bio- und Medizinethik wird hervorgehoben, dass Prinzipien wie Menschenwürde, Vorsicht und Solidarität das europäische Konzept einer medizinischen Ethik besser widerspiegeln als die liberalen amerikanischen Konzepte von Autonomie, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit. Es stellt sich aber bei der Konstellation der hier angesprochenen Werte die Frage, ob die kontinentalen und amerikanischen Formen eines medizinischen Ethos denn wirklich im Gegensatz zueinander stehen. Zu den kontrovers diskutierten medizinethischen Grundwerten gehört die Würdezuschreibung, deren Herkunft aus dem christlichen Kontext und dem Konzept der Gottesebenbildlichkeit offenkundig ist. Der Begriff Menschenwürde spielt eine politische Rolle insbesondere als Antwort auf die Gräueltaten des zweiten Weltkrieges. Als philosophische Begründung für Menschenwürde wird häufig Kant angeführt, bei dem dieses Konzept aber merkwürdig vage bleibt. Die europäischen Wurzeln des Menschenwürdegedankens liegen neben dem Christentum in der römischen Stoa bzw. in der römischen Popularphilosophie. Genau genommen begründet Kant die Menschenwürde durch den Gedanken der moralischen Autonomie. Ein anderer Gesichtspunkt ist viel bedeutender. Die Transformation der Medizinethik in den USA wie in Europa hat nämlich die radikale Veränderung der Medizin selbst zur Voraussetzung. Denn in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es eine Vielzahl von medizinischen Durchbrüchen. Insbesondere die Herz-Lungen-Maschine, die Möglichkeit zur Organtransplantation (1967 die erste Herzverpflanzung in Kapstadt!) und der Wandel der Kultur des Sterbens haben zur Bioethik und Transformation der Medizinethik Anlass gegeben. Die zentrale Frage lautete: dürfen Ärzte über Leben und Tod ihrer Patienten entscheiden? Damit traten Fremde ans Krankenbett, nämlich Juristen, Theologen und Ethiker. Der Vertrauensverlust in den Arzt und das dadurch entstandene soziale Vakuum musste nun durch Ethik aufgefüllt werden. So fand ein fundamentaler Wandel in der Legitimität ärztlichen Handelns statt, es geschah die sogenannte Patientendämmerung. So verwundert es nicht, dass Bioethik auf einem Fundament steht, das selbst nicht sicher ist. Die Bioethikdebatte kann als Symptom einer ethischen Verunsicherung gewertet werden (vgl. Prüfer, Stollorz 2003, 6–10). Ein weiterer Schritt wurde durch die biotechnologische Forschung eingeleitet. Molekulargenetik wird zur umstrittenen Leitwissenschaft der Biomedizin, einer neuen Form
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2. Veränderungen im Verständnis von Krankheit, Behandlung und Rolle des Arztes
von Medizin, die über das „alte“ Paradigma des Heilens und Pflegens hinausgeht. Die Entdeckung der Struktur der Erbsubstanz DNA vor fünfzig Jahren war eine kulturelle Zäsur. Mit ihr begann der Aufstieg der Biologie zur Leitwissenschaft unserer Zeit. Ein weiterer wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang war das Humangenom Projekt. Die Schnittstelle von Genetik und Fortpflanzungsmedizin wurde immer mehr zum Ansatzpunkt der Biomedizin und der bioethischen Fragestellungen in der Medizin (Prüfer, Stollorz 2003, 11–16). Moderne Medizin wird zur Projektmedizin (vgl. Irrgang 2012). Drei Paradigmen haben sich für die Diskussion in der Bioethik bzw. biomedizinischen Ethik herausgebildet: (1) Eine Ethik des konservativen Lebensschutzes häufig im Rahmen einer Metaphysik und einer Biologisierung des Menschseins mit der Tendenz zur Konservierung der bestehenden Natur einschließlich Reparatur bzw. Wiederherstellung, also eine Ethik des Bewahrens (Heiligkeit des Lebens, die Würde des Menschen oder bei Biozentrikern auch des Tieres); (2) Eine Ethik des pragmatischen Heilens und Verbesserns einschließlich technisch-medizinischer Innovationen im Rahmen einer Handlungsorientierung und des Pragmatismus, in dem Nutzenerwägungen eine Rolle spielen. Es handelt sich um ein Paradigma des Verbesserns, des Konstruierens und Heilens; die Unterstützung des Entwicklungspotentials von Lebensformen und Organismen, in der die Kreativität und das Bioingenieurwesen eine zentrale Rolle spielen. Zugrunde gelegt wird eine Anthropologie der schöpferischen Selbstgestaltung (innovative Technologie; Freiheit der Forschung); (3) Prävention und Individualisierung von Diagnose und Therapie. Aufgrund humangenetischer Diagnose werden individuelle Erkrankungsrisiken erkannt und sollen vorbeugend behandelt werden. Genau genommen kann Behandlung (1) als Wiederherstellung und Reparatur, Bewahren, Prävention und Kompensation mit dem Leitbild von natürlicher Gesundheit, (2) aber auch als Verbesserung (Enhancement) oder Perfektionierung im Aufklärungs- und Fortschrittsparadigma verstanden werden. Das Verbesserungsparadigma ist keineswegs immer eugenisch. Der Übergang zwischen Reparatur und Verbesserung ist fließend. Das therapeutisch-konstruktive Paradigma verknüpft Autonomie (Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen) mit Fairness, insbesondere mit der Direktive, weitestmöglich nicht zu schaden bzw. Schmerzen zu verursachen, zu Heilen und zu Helfen. Es handelt sich also um eine eingebettete Autonomie. In diesen Zusammenhang gehört auch das Prinzip der Sachlichkeit bzw. Unparteilichkeit bei der ethischen Urteilsbildung und die Zukunftsfähigkeit desjenigen Lebens, welches erhalten werden soll. Die Zukunftsfähigkeit eines schwer kranken Fetus oder Neugeborenen hängt von dem Stand der jeweiligen Technik ab. Gewisse Mühen und Leiden durch schwerkranke Neugeborene sind Eltern zumutbar. Das therapeutische Instrumentarium auch in der Medizin schließt gelegentliche Verbesserungen mit ein. Erst die zum Programm erhobene systematische Verbesserung gerät gefährlich nahe an das Züchtungsparadigma, welches dem eugenischen Denken zu Grunde liegt (Irrgang 2002, Irrgang 2003c Irrgang 2005b).
2.1 Molekulargenetik als umstrittene Leitwissenschaft der Biomedizin
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Warum wir Menschen einen höheren Wert zuschreiben als Tieren, Pflanzen oder anderen Dingen, hängt mit einem fundamentalen Unterschied zusammen. Dieser besteht darin, dass der Mensch ein Kulturwesen ist, das handeln kann und Praxis hat. Dies ist zunächst eine im Bereich des Nutzens angesiedelte Kategorie. Darüber hinaus kann auf Subjektivität als Vollzug und die Kompetenz bzw. Disposition zum sittlichen Menschsein hingewiesen werden. Die Gestaltung des menschlichen Leibes im Sinne eines gelingenden Entwurfs zwischen Gesundheit und Krankheit ist sowohl im Sinne des Nutzens wie der Ethik zu bewerten. Der kluge Umgang mit dem eigenen Körper im Sinne vorweg entworfener Leiblichkeit ist hier Maßstab. Für einige ist der oberste Wert für Leiblichkeit Gesundheit, für andere Ekstase, Transzendenz und Risiko. Es gibt auch den Wert der Solidarität untereinander in der Gesundheitserhaltung menschlicher Leiblichkeit. Das traditionelle Patientenwohl schließt als Grundlage eine gewisse Konzeption der Lebensqualität im Krankheitsfalle ein. Der Vergleich von Krankheitsschicksalen ist für diese Tätigkeit Voraussetzung. Der Utilitarismus ist ein wesentliches Element im Rahmen einer Bioethik und stellt auch für eine angewandte Ethik ein wichtiges Grundprinzip dar. Insbesondere die Technik und der Technikansatz, aber auch ein gewisser Naturalismus können vom Prinzip der Utilität ausgehen, dem Nutzenprinzip im Sinne einer Dienlichkeit oder Geeignetheit für die Realisierung eines Zweckes. Etwas ist nützlich, wenn man mit ihm ein Ziel erreicht. In diesem Zusammenhang ist der Mittelcharakter der Technik, der Umwegcharakter technischer Mittel, zu berücksichtigen. Der Utilitarismus ist dabei ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, denn er macht das Prinzip der Utilität, welches ein pragmatisches Prinzip ist, zu einem ethischen bzw. sittlichen Prinzip und wird damit zu einer Art Lehre zur Herstellung bzw. Produktion von Glück. Utilität aber ist nicht per se sittlich, sondern eine Sache gelingender technischer Praxis. Dies ist nun keineswegs unwichtig, insbesondere weil misslingende technische Praxis Schadenspotenziale enthält und einen gewissen Risikocharakter trägt, aber die Pragmatik ist nicht mit der Ethik zu verwechseln, auch wenn sich in einer anwendungsorientierten Ethik Pragmatik und Ethik gegenseitig durchdringen. Eine reine Prinzipienethik ohne Rücksicht auf Pragmatik führt in einer anwendungsorientierten Ethik nicht weit. Gelingende technische Praxis garantiert nicht gelingendes menschliches Leben. Aber Technik mündet unmittelbar in Ethik, und dies gilt auch für den Ansatzpunkt der Life-Sciences. Für das konservative Paradigma spielen Leitbilder wie „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ oder der „Würde oder der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“ eine zentrale Rolle. Eine Konsequenz dieser konventionellen moralischen Lehre ist, dass das Sterben Lassen zwar manchmal moralisch erlaubt oder sogar geboten, Töten aber konsequent verboten ist. Die Frage, ob das Leben unheilbar Kranker und leidender Neugeborener oder anderer Patienten immer erhalten werden muss, ist alt. Unter fast allen Umständen ist es möglich, das Leben eines Patienten mit der einen oder anderen medizinischen Maßnahme zu verlängern oder zu erhalten (vgl. Kuhse 1994, 12 f.). Die meisten Anhänger der Lehre von der Heiligkeit des Lebens räumen ein, dass es Situationen gibt, in denen man einen Patienten zu Recht sterben lassen darf. Sie vertreten die eingeschränkte Ansicht von der Heiligkeit des Lebens (vgl. Kuhse 1994, 18–23).
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2. Veränderungen im Verständnis von Krankheit, Behandlung und Rolle des Arztes
Das Prinzip der Heiligkeit des Lebens kann begründet werden (1.) durch die Zugehörigkeit zur menschlichen Art, (2.) durch die Befähigung des Menschen zu selbstbewusstem, rationalem, autonomem, zielstrebigem, moralischem Handeln, verbunden mit Hoffnungen, Ambitionen, Lebensplänen, Idealen usw. Der erste Teil wird vom Speziesismusargument widerlegt, der zweite Teil macht plausibel, dass es eigentlich nur erwachsene Menschen sind, denen dann Personenwürde zukommt (vgl. Kuhse 1994, 258). Die utilitaristische Position verweist mit der Konzeption der Qualität des Lebens bei ehemals zurechnungsfähigen Patienten auf früher geäußerte Wünsche im Hinblick auf die Behandlung im Koma oder bei Demenzen. Wenn früher keine Wünsche geäußert worden sind und es keine Aussicht gibt, dass der Patient seine Zurechnungsfähigkeit wieder erlangt, dann sollten das Wohlergehen des Patienten und das Vermeiden sinnlosen Leidens Entscheidungsgrundlagen sein (vgl. Kuhse 1994, 266). Die strikte Befolgung des Prinzips der Heiligkeit des Lebens macht den Arzt in vielen Fragen am Anfang und am Ende des (menschlichen) Lebens handlungsunfähig. Es muss also durch ein plausibleres Paradigma ersetzt werden. Das alternative Konzept einer Qualität des Lebens bzw. des Lebens, das (subjektiv) nicht wert ist, gelebt zu werden, ist utilitaristisch und kann in die liberale Eugenik führen. Auch dieses Konzept ist mit erheblichen Problemen behaftet und daher nur bedingt geeignet für ein fundamentales Paradigma in der Bioethik. Viele sehen in Menschenrechten einen schützenden und vielversprechenden Rahmen für Bioethik. Menschenrechte schützen sowohl vernünftige Ansätze wie ernsthaften Respekt für individuelle Autonomie und einen entsprechenden Schutz vor denjenigen, die individuelle Autonomie benutzen, um Rechte anderer zu verletzen (vgl. O’Neill 2002, 74). Die Minimalinterpretation individueller Autonomie als Informed Consent ist zwar plausibel und erlaubt einen gewissen Schutz, ist aber nur eine unvollständige ethische Richtlinie. Ergänzt wird das Recht auf individuelle Autonomie durch die Forderung, nicht zu schaden. Die Verpflichtung, Täuschung zurückzuweisen, ist parallel dem Argument für eine Verpflichtung, Zwang zurückzuweisen (vgl. O’Neill 2002, 96–99). Die Ethik der Autonomie richtet sich gegen eine paternalistische Kultur wohlmeinender Täuschung (vgl. O’Neill 2002, 119). Demokratische Legitimation steht in ständigem Konflikt mit anderen ethisch wichtigen Prinzipien und Zielen (O’Neill 2002, 170). Darf man Menschen, die halbwegs gesund sind oder sein werden, gesünder oder weniger krankheitsanfällig machen? Im Unterschied zu dem kompensatorischen Reparaturansatz bejaht der therapeutisch-technische Ansatz diese Frage. Leistungssteigerung darf als Humanum gelten und ist nicht nur im Sport anzutreffen (vgl. Irrgang 2004). Kompetenzsteigerungen inklusive der Verbesserung der Sensorik, der Intelligenz und auch anderer menschlicher Kompetenzen sind ebenfalls grundsätzlich ethisch gesehen akzeptabel. Zugleich ist eine verstärkte ethische Reflexion darüber erforderlich, was mit den verbesserten menschlichen Kompetenzen erreicht werden soll. Als Grundlage hierbei gilt das Kriterium der menschlichen Leiblichkeit. Die Grenzen zwischen Therapie und therapeutischer Verbesserung sind fließend. Wenigstens theoretisch kann man unterscheiden zwischen Therapie, Prävention und Enhancement (Verbesserung). Medizinische Therapie und medizi-
2.1 Molekulargenetik als umstrittene Leitwissenschaft der Biomedizin
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nische Technik sind eng miteinander verbunden und zwar von Anfang an und das verstärkt sich seit der Einführung von Hightech. Bei niedrigem IQ kann Intelligenzverstärkung Therapie sein. Warum also sollte ein grundsätzliches Verbot für Intelligenzverstärkung gentechnischer Art erlassen werden, sollte sie einmal technisch hinreichend sicher zu bewerkstelligen sein? Zu Grunde gelegt ist hierbei ein gewisser Mythos der Normalität, der Therapie von Verbesserung unterscheidet. Was spricht also grundsätzlich gegen die Verbesserung normaler Intelligenz? Dass Menschen mit übernormaler Intelligenz häufig nicht glücklich werden, liegt nicht unbedingt an ihren, sondern häufig an den Reaktionen der Umwelt. Eltern, die übernormal intelligente Kinder haben wollen, müssen nicht nur zur somatischen Gentherapie bereit sein, sondern auch zu außerordentlichen Erziehungsleistungen, die als flankierende Maßnahmen zumindest immer ergriffen werden müssten. Verbesserung, Vervollkommnung, Perfektionierung sind technische Ziele. Sie sind Ausdruck zunächst instrumenteller Utilität. Diese kann auf ihre sittliche Qualität hin befragt werden. Das Prinzip des sportlich Agonalen im Sinne des Höher, Schneller, Weiter ist nicht nur auf den Sport beschränkt und begrenzt, sondern weitgehend in unserer Gesellschaft realisiert. Hinzu kommt das Prinzip des technisch Bestmöglichen. Eine komplementäre Betrachtungsweise zwischen dem Dienlichen (Nützlichen) und dem Sittlichen ist erforderlich (zur Bewertung von Verbesserung und Enhancement). Die Heilung eines Kranken zielt auf die Verbesserung seines Zustandes. In vielfacher Hinsicht gibt es unklare Grenzlinien zwischen Therapie und Verbesserung. Therapie kann zum Enhancement werden. Allerdings ist dies kein Grund, Therapien verbieten zu wollen. Argumente für den therapeutischen Ansatz inklusive Verbesserungen sind (1) Verbesserungen, Gesundheit, höhere Kompetenzen; (2) das Nützliche und eventuell sittlich gute Folgen: Glück der Betroffenen und Eltern; zukünftige Generationen und die Verhinderung schwerer Erbkrankheiten; (3) die Verpflichtung zur Verbesserung der Qualität des Lebens (von John Harris). Argumente dagegen sind : (1) das Recht auf ein unverändertes Genom; (2) Menschenwürde; (3) Natürlichkeit; (4) Playing God (Hybris und Katastrophenerzeugung); (5) Zustimmung zukünftiger Generationen; (6) Eugenik. Die meisten der hier genannten Gegenargumente sind allerdings nur begrenzt überzeugend, häufig handelt es sich um religiös-naturalistisch eingefärbte Meinungen. Ein ethisches Problem stellt der Schwangerschaftsabbruch dar, wenn ein Verbesserungsversuch gescheitert ist, und dies noch vor der Geburt bemerkt wird. Die Angst davor, die menschliche Natur technisch ganz verfügbar zu haben, beruht auf einem falschen biologisch-anthropologischen Modell. Kein biologischer Prozess lässt sich technisch verfügbar machen wie eine Maschine. Mutationen lassen sich weder bei synthetischen Mikroorganismen noch bei Designermenschen vermeiden. Daher verlangt die Bioingenieurkunst an Mikroorganismen heute und möglicherweise zukünftig an Menschen besondere Vorsicht und eigene Standards technischer Sicherheit. Diese genau zu bestimmen ist allerdings erst dann möglich, wenn wir ein akzeptables Verfahren zur Generierung von Designermenschen, also über ein entsprechendes sicheres Verfahren der Keimbahntherapie verfügen werden. Falls dies jemals der Fall sein sollte, ist natürlich auch die ethische Bewertung der Keimbahntherapie dann entsprechend auszurichten. Aber vorab, bevor genau
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2. Veränderungen im Verständnis von Krankheit, Behandlung und Rolle des Arztes
die Methoden genannt werden können, die das Ziel erreichbar erscheinen lassen, ist eine solche Bewertung nur in groben Umrissen möglich. Ob das Designen von Menschen ethisch verabscheuungswürdig ist, können wir heute nicht beurteilen, denn es sind uns die technischen Wege unbekannt, die zu Designermenschen führen werden: Ob es zusätzliche Plasmide oder zusätzliche Chromosomen oder doch ein einmal möglicher gezielter Gentransfer sein werden, lässt sich heute nicht entscheiden. Vielleicht ist es tatsächlich einmal möglich, die genetische Grundlage bestimmter Intelligenzfaktoren so klar zu identifizieren, dass man an einen Gentransfer im Sinne der Keimbahntherapie denken kann. Wenn wir wissen, wie es geht, wie sicher das Verfahren ist und welche konkreten Folgen eintreten werden, dann kann eine ethische Bewertung der technischen Mittel erfolgen, heute nicht. Und wenn die Diskussion um Designermenschen nur Horrorszenarien einsetzt, um Verbote ganzer Forschungsbereiche durchzusetzen, so halte ich dies für unverantwortbar. Therapeutisch inspirierte medizinische Verbesserungen erscheinen mithin nicht immer und an sich als schlecht. Aber es müssen Verbesserungen sein, die ethisch zu qualifizieren sind. Dazu brauchen wird Kriterien und Paradigmen. Vielleicht sind Modelle der Qualität des Lebens und der Wert eines Lebens, gelebt zu werden, tragfähig angesichts zukünftiger technisch-medizinischer Entwicklungen. Dazu bedarf es aber genauerer Analysen. Die Begriffe Manipulation, Entfremdung, Ideologie, Instrumentalisierung usw. setzen eine naive Erkenntnistheorie im Sinne eines abbildenden Realismus voraus. Nur dann weiß man Bescheid, was richtig ist, und kann alles andere abqualifizieren. Aber die heutige Realität – weder in der Natur, noch in der Gesellschaft und schon gar nicht in der Technik – lässt sich nicht mehr einfach abbilden, sondern im günstigsten Falle in einigen Aspekten modellieren. 2.2 NEUE ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN DURCH STAMMZELLFORSCHUNG, REGENERATIVE UND PERSONALISIERTE MEDIZIN In einer Gesellschaft, die Hochleistung propagiert, ist es nicht zuletzt durch die Werbetrommel der Gesundheitsindustrie und den Jugendlichkeitswahn und einem Schönheitskult, der Magersucht fördert, zu einer Medikalisierung der gesamten Körperlichkeit gekommen, die auch noch den anwachsenden Stress auffangen muss, den diese Gesellschaft produziert und der immer häufiger krank macht. Depression ist der Fluch unserer Innovationsgesellschaft, ist die Verweigerung der Kooperation mit sozialen Umständen, die einem ein erträgliches Leben nicht ermöglichen. Wer zu lange Feuer und Flamme war, brennt aus. Burn Out als Syndrom der engagierten Gesellschaft aufgrund ständiger Überforderung, die für den meisten bereits in der Schule beginnt, ist ein Indikator dafür, dass nicht nur einzelne Menschen krank sein können, sondern dass ganze Gemeinschaften bzw. Gesellschaften nicht mehr normal funktionieren. Insofern ist die sozialpsychologische Dimension ein zentraler Bestandteil eines modernen Krankheitsbegriffes. Somit ergibt sich eine Dreistufigkeit im Krankheitsbegriff, der sich auch auf die Arzt-Pa-
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tienten Beziehung und auf die Medizinethik auswirkt: (1) der somatische Krankheitsbegriff, den man als Abweichen von normalen Messwerten bezeichnen kann; (2) das psycho-soziale Krankheitsverständnis, das zum Teil im somatischen Bereich auf neurologische Befunde zurückgeführt werden kann, bei der die Vergabe von Medikamenten häufig jedoch nicht ausreichend ist. Hier bedarf es anderer ArztPatienten-Modelle, die über die klassische somatische Behandlung hinausgehen. Ein neuer (3) Bereich betrifft die Realisierung von zukunftsorientierten Wünschen, z. B. Kinderwünschen, Wünschen länger zu leben, Wünschen nach mehr Lebensqualität im höheren Alter usw. Diese Form der Medizin, die im Windschatten einer Biologisierung der Medizin entsteht, Projektmedizin genannt (vgl. Irrgang 2012), dient weniger der Beseitigung oder Bekämpfung einer Krankheit, die eine Wiederherstellung des natürlichen Zustandes wie Gesundheit gar nicht anstrebt – denn der natürliche Zustand heißt Kinderlosigkeit, Krankheit im Alter und Sterben im Rahmen der durchschnittlichen Lebenserwartung –, sondern versucht darüber hinaus heute noch utopisch erscheinende Horizonte für das Leben des eigenen leiblichen Lebens als bestimmend zu formulieren. D. h. also eigene Kinder trotz Unfruchtbarkeit oder schwerer Erbkrankheiten der Eltern, intelligentere Kinder, längeres Leben, gesünderes Leben im Alter usw. Häufig genug werden diese Formen der medizinischen Behandlung als Enhancement abgestempelt und unter ethisches Verdikt gestellt. Dies ist eine zu einfache Strategie, um einen sich neu entwickelnden Bereich und ein neues medizinisches Feld zu beurteilen. Viele Kritiker bewerten die neu entstehende Medizin mit den traditionellen Mitteln einer Pflegeethik (kategorialer Fehler in der Bewertungsdimension) und sprechen von Grenzüberschreitung. Aber die Intentionen einer herkömmlichen Arzt-Patienten-Beziehung können von den neuen Typen hochtechnologisierter Medizin gar nicht eingelöst werden, da ihre Praxisstruktur eine andere ist als bei herkömmlicher Medizin. Oft genug wird die gegenwärtig sich vollziehende Transformation der Medizin nicht richtig verstanden. Mit der Projektmedizin verändert sich auch der eher private Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses auf der Basis persönlichen Vertrauens, der das traditionelle Hausarztmodell grundlegend bestimmt hat. Der gesellschaftliche Rahmen für das technische Können der Medizin als Bioingenieurskunst tritt in den Vordergrund, nicht zuletzt wegen der Finanzierbarkeit der neuen Leistungen für neue Kundengruppen, die nicht einmal mehr im klassischen Sinne krank sind, und produziert neue ethische Diskussionen um die Behandlungsbedürftigkeit mit den neuen Methoden. Zur Projektmedizin gehört auch die utopische Biomedizin als Heilversprechen für die Zukunft. Techniken der Lebensverlängerung wie Gentherapie, regenerative Medizin, Stammzellenforschung, Designerkinder und Unsterblichkeit gehören ihr zu. Der Übergang von der heilend-wiederherstellenden zur vorauseilend-präventiven Medizin (Heilung der Krankheit vor ihrem eigentlichen Ausbruch), soll Krankheit, Gebrechen, Dummheit, Hässlichkeit, letztlich alle negativen menschlichen Unvollkommenheiten in der Welt verhindern. Die utopische Biomedizin ist ein Derivat der Mängelwesen-Theorie des Menschen, die anthropologisch eigentlich schon längst überholt ist. Das statistische Modell von Gesundheit und Krankheit beschreibt das Pathologische vom Normalen aus. Krankheit wird definiert durch einen oder
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mehrere Messwerte, die eine starke Veränderung des normalen Zustandes anzeigen. Nun ist nicht zu leugnen, dass diese Krankheitsdefinition bei Infektionen und ähnlichen Erkrankungen gute Dienste leistet. Aber bei vielen Erkrankungen im Rahmen der Inneren Medizin hat man deutliche Schwierigkeiten mit statistischen Krankheitsbestimmungen. Normal ist statistisch gesehen die gerade Mitte. Problematisch hierbei ist die Kontinuität zwischen Normalem und Pathologischem. Dies macht es schwierig, Grenzen festzulegen. Zudem ist nicht unmittelbar einsichtig, warum schon ein bloßer Durchschnittswert als therapeutische Norm anerkannt werden soll (vgl. Malherbe 1990, 138 f.). Außerdem ist die Interpretation einer statistischen Aussage (z. B. über Normalität) als werthafte nicht statthaft, denn eine solche Ableitung könnte aus ethischer Sicht nur als naturalistischer Fehlschluss gewertet werden. Das biomedizinische Krankheitskonzept knüpft an das statistische Krankheitskonzept an und betrachtet Krankheit als Funktionsstörung, Medizin als Reparaturbetrieb, Gesundheit als das Funktionieren von körpereigenen Organen, Systemen und Prozessen (vgl. Marquard u. a. 1988, 73). Dabei werden häufig zudem noch mechanistische Konzepte zugrunde gelegt, die dem Wandel des Kausalitätsverständnisses und den damit veränderten Vorstellungen von Prognostizierbarkeit noch nicht Rechnung tragen (vgl. Irrgang 1995, 150–157). Andererseits ist nicht zu leugnen, dass aufgrund einer verfeinerten Diagnostik in vielen Fällen der Zustand der Krankheit eindeutig zu bestimmen ist. Allerdings könne Krankheit nur im Falle einer starken Abweichung von der Norm eindeutig bestimmt werden (vgl. Marquard u. a. 1988, 11 f.). Das cartesische Gedankengebäude, für das nur das Wägbare und Messbare zähle, habe Viktor von Weizsäcker 1936 mit seiner neuen Gesundheits- und Krankheitsdefinition überwunden. Er führte den Gedanken der Rückkoppelungseffekte in die Medizin ein. Im traditionellen Modell wurden die Fortschritte bei der Behandlung körperlicher Schäden erkauft durch Vernachlässigung der Zunahme psychischer Belastungen und Stressfaktoren, die ihrerseits zu schweren Erkrankungen führen können. Nur eine Krankheitskonzeption, die die Selbstorganisation offener Systeme zu ihrem Ausgangspunkt mache, könne diesen Phänomenen Rechnung tragen (vgl. Findeisen 1990, 13). Die ärztliche Behandlung, die die Erhaltung bzw. Ermöglichung eines bestimmten Lifestyles (z. B. Mobilität bis ins hohe Alter) zum Ziel hat, vermengt Behandlung (Therapie) mit Verbesserung (Enhancement). Die Beschränkung auf Reparatur bei vorliegenden Erkrankungen restringiert allerdings die ärztliche Tätigkeit über jedes vernünftige Maß hinaus. Der Anspruch auf ärztliche Leistungen jedenfalls, die von Ärzten erbracht werden müssen, ist auf ärztlich diagnostizierte Erkrankungen beschränkt. Damit wird eine gewisse Normativität institutionell-gesellschaftlicher Art, die im Krankheitsbegriff enthalten ist und nicht ethisch begründet wird, unterstellt. Dabei wird wohl in gewisser Weise auf naturalistische Fehlschlüsse zurückzugreifen sein. Insofern lassen sich vier Krankheitsbegriffe unterscheiden: (1) ein naturwissenschaftlich-biologischer Krankheitsbegriff: als Defekt und Normabweichung im Sinne der Störung von Organfunktionen, (2) ein gesellschaftlicher Krankheitsbegriff als Störung von sozialen Rollen mit Rechten und Pflichten und einer Neudefinierung für den Zeitraum der Erkrankung, (3) ein subjektiver Krankheitsbegriff: Störung des Wohlbefindens, Leiden, Unfähigkeit der
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Übernahme normaler sozialer Rollen und (4) ein leiborientierter Krankheitsbegriff: Konvergenz von subjektiven und objektiven Komponenten. Die Krankheitserfahrung und die Behandlung von Patienten müssen korrespondieren. Es geht nicht um die Behandlung von Krankheiten, sondern von Patienten. Sehr wichtig ist diese Einsicht besonders bei psychischen Krankheiten in Abhängigkeit von der Krankheitseinsicht des Patienten. Diese Krankheitseinsicht des Patienten ist durchaus wichtig und zu berücksichtigen bei den ärztlichen Bemühungen um einen Patienten. Dabei ist der Doppelaspekt von „Illness“ und „Disease“ von Subjektivität und Objektivität in der Definition von Gesundheit und Krankheit zu berücksichtigen (vgl. Irrgang 1995). Im traditionellen Verständnis reduziert sich die Rationalität der Autonomie in der Realisierung einer autonomen Entscheidung. Die Alternativen ließen sich spieltheoretisch ausrechnen. Wer aber dem Einzelnen eine willkürliche Verfügungsgewalt über seinen Körper zubilligt, nimmt zumindest indirekt in Kauf, dass das Weiterleben anderer Menschen gefährdet wird. Unser Wissen und Können sind zu umfangreich und kompliziert geworden, so dass in wesentlichen Bereichen kaum noch jemand in der Lage ist, die Folgen seiner Entscheidungen wirklich zu beurteilen. Autonomie muss also anders verstanden werden. Eine Ethik der Selbstverwirklichung im gemeinschaftlichen Kontext (konkreter Verantwortlichkeit oder eingebetteter Autonomie) opponiert gegen die traditionelle Pflichtethik als reine Verbotsmoral. Seit Hegel bedeutet Selbstverwirklichung Realisierung des wahren Selbst oder des eigenen Selbst, wobei das Selbst nicht vorliegt, sondern sich als permanente Aufgabe darstellt. Selbstverwirklichung sollte im Hinblick auf Langzeitverantwortung als Vision für den stets neu erforderlichen Selbstentwurf gesehen werden, die selbst die Alltagsroutine durchwebt. Für Selbstverwirklichung sind unterschiedliche Visionen möglich. Selbstverwirklichung ist wohl nur im Rahmen einer gemeinschaftlichen Praxis erreichbar, in ihr konstituiert sich das Selbst erst in einem permanenten Rückkoppelungsprozess in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, so dass Selbstverwirklichung jedenfalls in der Interpretation der Hermeneutischen Ethik nicht als egoistisch-hedonistische oder narzisstische Lebenseinstellung verstanden werden kann (vgl. Irrgang 2007a). Dabei gibt es verschiedene Begriffe der Selbstheit, sowohl im Hinblick auf das soziale Selbst, wie auf das atomistische Selbst (vgl. Tauber 2005, 84–86). Dieser neutrale, rationale, unabhängige, objektive und wissende Agent bzw. Handelnde entstammt aus zwei Quellen, nämlich aus der Wissenschaft und aus der Politik. Dahinter steht der freie Cowboy, der wilde Mann aus den Bergen, der herumfahrende Seemann, jeweils personifiziert in verschiedenen Formen das amerikanische Ideal repräsentierend. Für Kant ist die Autonomie charakterisiert durch die Fähigkeit von Menschen, sich selbst zu kontrollieren durch eigene moralische Vernunft, die unabhängig ist von subjektiven Wünschen und Bedürfnissen (vgl. Tauber 2005, 98). Kant bezieht sich niemals auf ein autonomes Selbst, oder auf eine autonome Person oder gar auf ein autonomes Individuum, aber immer auf die Autonomie der Vernunft, die Autonomie der Ethik, die Autonomie der Prinzipien und die Autonomie des Willens. Dieser Ansatz ist für eine Ethik des Konkreten zu abstrakt. Konkrete Autonomie ist eingebettet in Beziehungen, lebt im Einklang mit der Autono-
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mie der Anderen selbst in Konflikten mit ihnen, ignoriert nicht wechselseitige Verpflichtungen und Erwartungen. Eine Spannung zwischen Autonomie und Beziehung, bzw. Einbettung, ist nicht leicht zu überwinden. Autonomie muss in einen sozialen Kontext gestellt werden, in dem Individuen sich auf Grund wechselseitiger Beziehungen gegenseitig helfen und unterstützen. Damit erreichen sie verschiedene Arten von Autonomie und dadurch handeln sie so frei wie möglich, gemäß den Kriterien die gerade präsentiert wurden. Dies kann man relationale Autonomie nennen (vgl. Irrgang 2007a). Es gibt verschiedene Grade von Freiheit, außerdem hat Freiheit, bzw. Autonomie keine zusammenhängende Bedeutung. Man kann personale Autonomie nicht auf eine rationale Wahl zurückführen. Sie ist eine Frage des Charakters, persönlicher Kompetenzen. Außerdem sind die emotionalen Einflüsse auf die Entscheidungsfindung nicht zu leugnen. Autonomie erfordert nur, dass wir alle moralisch verantwortlich sind, oder aber auch, dass wir der Selbständerung fähig sind. Nur wenige Entscheidungen ähneln dem Ideal der Autonomie in einem strikten Sinn. Es gibt Notwendigkeiten für die Erschließung, es gibt eine autonome Autorisierung und es gibt eine wirksame Zustimmung. Die Verantwortlichkeit, die Ärzte und Schwestern akzeptieren, indem sie einem Patienten helfen, schließt ein, dass sie die Optionen des Patienten, die ihm noch bleiben, unterstützen wollen (vgl. Tauber 2005, 130–139). Krankheit selbst kann dem Patienten einen Teil seiner rationalen Fähigkeiten und Kompetenzen rauben und so dazu führen, dass bestimmte seiner Überzeugungen, Meinungen und Werte nicht mehr in demselben Sinne ausgeübt werden können, wie bei einem voll kompetenten und autonomen Menschen. So kommt es dazu, dass die Autonomie von Föten, von Kindern, eingeschränkten Erwachsenen möglicherweise graduell abgeschwächt ist. Allerdings muss man nicht so weit gehen. Kranke sind zwar nicht immer im vollen Sinne autonom, aber wenn jemand seine Situation versteht, so kann er nach wie vor personal entscheiden. Autonomie ist Selbstgestaltung und Selbstbestimmung, Recht auf Privatheit und Privatsphäre, auch im Krankenhaus, Recht auf Erhalt der Würde, auch bei verminderter Kompetenz. Insofern ist Patientenautonomie nicht auf Willkür der Entscheidung zu reduzieren. Das Selbstbestimmungsrecht impliziert ethisch gesehen, dass der Mensch die Sinnbedingungen seines Daseins in der Handlungssituation selbst entwerfen muss (vgl. Czuma 1974), wobei er auch die Beurteilungskriterien für die Sinnbedingungen der Anwendung selbst in eigener Verantwortung entwickeln muss. Angesichts des Pluralismus der praktischen Vernunft des Menschlichen ist nicht mehr zu leugnen, dass es unterschiedliche gruppenspezifische Humanitätsideale gibt, die sich um Universalisierung bemühen. Das Fehlen eines allgemein anerkannten Verbindlichkeitskriteriums für praktische Vernunft macht es erforderlich, Kriterien der eigenen subkulturell gedeuteten Vernunft zu entwickeln, wobei Selbsterhaltung den Grund aller subkulturellen Pluralität darstellt. Die Idee der Humanität verschmilzt bei Pico della Mirandola mit der biblisch-augustinischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen vor dem Hintergrund des KünstlerGenius der Renaissance-Philosophie (vgl. Irrgang 1986). Für die Gestaltung des eigenen Lebens ist ein Begriff leiblicher Gesundheit und Krankheit zu entwickeln. Hier ist die Einsicht entscheidend, dass Krankheit zum
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ganz normalen, zum durchschnittlichen menschlichen Leben gehört. Maßstab der Patientenautonomie sollte die eigene Leiblichkeit sein. Das bedeutet die Berücksichtigung des eigenen Körpers und seiner Gesundheit, soweit sie mit vertretbarem Aufwand aufrechterhalten werden kann oder doch zumindest soweit wieder hergestellt zu werden vermag, dass ein leibliches Leben in Selbstachtung und Selbstgestaltung geführt zu werden vermag. Das heißt, die leibliche Orientierung für die körperliche Gesundheit gibt Maßstäbe, die eine Patientenautonomie realistischer werden und damit anwendbarer machen lassen, als wenn wir allein Kants Selbstzwecklichkeit zu Grunde legen würden. Die körperlichen Werte (biochemische bzw. physiologische Werte für die Gesundheit des Körpers) sollten soweit wie möglich in Einklang gebracht werden mit dem subjektiven Wohlbefinden und dem eigenen Lebensentwurf für leibliches Dasein, der bisweilen ja durchaus krank machende Elemente enthalten kann und enthält. Problematisch sind solche chronischen Krankheiten, die subjektiv im Anfangsstadium nicht oder nur wenig beeinträchtigen, langfristig aber die leibliche Existenz nachhaltig schädigen und zu einem frühen Tod oder Bettlägerigkeit bzw. intensiver Pflegebedürftigkeit führen können. Dies sind körperliche Hindernisse für die leibliche Selbstgestaltung und für die leibliche Autonomie. Allerdings bedeutet Leiblichkeit nicht, dem modernen Körperlichkeits- oder Gesundheitskult bzw. dem Jugendlichkeitswahn oder Langlebigkeitsphantasien verfallen zu sein. Vielmehr untersteht die gesamte menschliche Leiblichkeit einem menschlichen Gestaltungswillen und einer entsprechenden Kompetenz. So können zeitweise Gesundheitsanforderungen zurückgestellt werden, um andere Lebensziele zu verwirklichen (gefährliche Reisen in die Tropen, Extremsportarten oder Verwirklichung eines Lebenswerkes). Chronische Krankheiten, Suchtpotentiale, aber auch schwere körperliche Mängel und gravierende Unfälle bedrohen die leibliche Selbstgestaltung und die eigene Gesundheit, also auch die leibliche Patientenautonomie. Allerdings kann man auch mit Behinderungen, eingeschränkter Gesundheit und Krankheit ein gelingendes leibliches Leben führen. Die technologisierte Medizin, die Technik der letzten 50 Jahre, unterstützte häufig körperorientierte medizinische Strategien. Sie enthält aber auch Potenziale, leibliche Patientenautonomie und die damit verbundene Ermächtigung zur Selbstgestaltung zu stärken. Neue Handlungsspielräume für die leibliche Selbstgestaltung bis hin zu möglicheren Formen auch des Enhancement sind nicht nur eine Bedrohung für Werte, die sich verändern müssen oder dadurch gezwungen werden, sich zu verändern, sondern auch eine Chance auf mehr Selbstverwirklichung und mehr Freiheit. Mehr Freiheit im Rahmen der Patientenautonomie ist einerseits eine Last, weil wir uns entscheiden müssen, und zwar in Bereichen, in denen es früher möglicherweise keine Entscheidungsmöglichkeit gegeben hat. Auf der anderen Seite bedeuten Handlungsspielräume in der leiblichen Selbstgestaltung einen Zugewinn an menschlicher Humanität. In diesem Sinne sollte ärztliches Handeln Patienten in ihrer Leiblichkeit begleiten, natürlich auch tätig werden, wo dies erforderlich ist. Die Neulandentscheidungen im Bereich der Biomedizin erfordern eine Professionalisierung auch der Medizin, die allerdings nicht nur an diesen Technologien und ihren neuen Bedürfnissen wie Möglichkeiten orientiert sein sollte, sondern letzt-
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endlich an der leiblichen Integration medizinischer Maßnahmen in einen Lebensentwurf, den der potenzielle oder der tatsächliche Patient anstrebt trotz oder möglicherweise wegen der entsprechenden Erkrankung. Eine hermeneutische Medizinethik der menschlich-leiblichen Patientenautonomie verbindet einen kohärentistischen Ansatz mit prima-facie-Bewertungskriterien der Patientenautonomie und wird unterstützt durch Kasuistik und Folgeanalysen. Sie schlägt folgende Grundwerte vor: (1) Erhaltung der leiblichen Integrität als Grundlage für autonome Selbstgestaltung, (2) Heilung von Krankheiten oder Verbesserung leiblicher Kompetenzen zur autonomen Selbstgestaltung des eigenen Lebens (auch bei neurodegenerativen Erkrankungen), (3) Partnerschaft bei der Begleitung des Arztes in allen Fragen der gesundheitlichen Lebensgestaltung, (4) Wahrung der Würde des Patienten auch bei andauernder Bettlägerigkeit, (5) Berücksichtigung von Gemeinschaftsaspekten durch Arzt oder Patient bei finanziellen und gesundheitsbedingten Gütern und (6) im Zweifelsfalle Auswahl des Weges mit dem geringsten Schadenspotential. Lebensqualität – verstanden als das übergreifende Wohlbefinden einer Person – ist ein vages und komplexes Konzept, an welchem allein sich die großen normativen Fragen nach der Natur und Bedeutung von Glück, der Subjektivität oder Objektivität von Wohlergehen, nach den Grenzen von Selbstbestimmung und Fürsorgepflicht durchbuchstabieren ließen. Zu Recht ist Medizinern immer wieder vorgeworfen worden, dabei ihr Urteil zu sehr auf objektivierbare körperliche Krankheit statt auf subjektives Kranksein mit seinen physischen, psychischen und sozialen Dimensionen zu stützen. Die Lebensqualitätsforschung aber sieht sich methodischen wie normativen Schwierigkeiten gegenüber. Weitgehend unumstritten ist zwar, dass die Beurteilung der Lebensqualität von einsichtsfähigen Patienten selbst und mehrdimensional vorgenommen werden muss, wofür unterschiedliche Checklisten und Fragebögen entwickelt wurden. Dann aber fragt man sich, wie zergliedernde Mehrdimensionalität wieder in einen quantifizierbaren Wert zusammengefasst werden kann, ohne paternalistische Außenurteile einfließen zu lassen (vgl. Schöne-Seifert 2007, 64 f.). Wie auch immer; man tut gut daran, sich die mangelnde Schärfe und Objektivität des medizinischen Begriffs der Lebensqualität ständig in Erinnerung zu rufen. Besonders problematisch sind stellvertretende Urteile über Lebensqualität bei Entscheidungen zum tödlichen Therapieverzicht bei Schwerstkranken ohne eigene Urteilsfähigkeit. Welchem Maßstab solche Urteile gehorchen sollen, ist ein Problem, das maßgeblich auch von der amerikanischen wie deutschen Rechtsprechung behandelt worden ist und das seine Bedeutung angesichts möglicher Irrtümer missbräuchlicher Urteile erhält. Je ernster zu befürchten ist, dass eine Gesellschaft oder einzelne ihrer Mitglieder sich gegen die bekundeten mutmaßlichen oder wohl verstandenen Interessen von Patienten entscheiden könnten – sei es aus Mitleid, ökonomischen Motiven, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit oder menschenverachtender Ideologie, desto restriktiver müssen die Maßstäbe der Stellvertreterbeurteilung sein. Ein Problem besteht in der Vermischung von Patientenwillen und objektivem Außenurteil, ein weiteres in den durch Krankheitsumstände (etwa Demenz) möglicherweise veränderten Präferenzen. Daher muss tendenziell auf eine striktere Unterscheidung zwischen a) tatsächlich bekundetem (antizipierendem) Willen, b)
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Mutmaßungen über den hypothetischen Patientenwillen und c) wohlverstandenen Interessen vorgenommen werden (vgl. Schöne-Seifert 2007, 66 f.). Im technischen, insbesondere medizinischen Fortschritt riskiert der Mensch sich selbst, verändert sich und definiert sich ständig neu – als Individuum wie als Gattung. Permanenter Wertewandel ist kein triviales Problem, sondern muss vielmehr in ständig neuer Reflexionsarbeit bewältigt werden. Die Angst vor diesem Wandel, die Angst vor der Freiheit ist schließlich die Angst des Menschen vor sich selbst, vor dem eigenen Abgrund, vor dem eigenen Wesen. Hightech-Medizin hat die Tendenz, sich von den klassischen Aufgaben der Medizin abzukoppeln und ein Eigenleben zu führen. Sie bewegt sich jenseits des Bereichs des sittlich Selbstverständlichen. Die ersten Formen der Hightech-Medizin, also Intensiv- und Apparatemedizin, waren weitgehend Notfallmedizin und versuchten im Sinne der klassischen Ethik Leben zu retten. Der moderne Patient erwartet mehr – Hilfe zur eigenen Lebensgestaltung. Bei Projekt-Medizin hat man Zeit zur Planung, ja die Verpflichtung zur Planung des zu Erreichenden im technischen Unternehmen. In der Hightech-Medizin wird Medizin ein Teil hypermoderner Technologie. „In einer Welt steigender Ungewissheit und zunehmenden globalen Wettbewerbs braucht man für die richtigen Geschäftsentscheidungen ein neues Denken und innovative Ansätze. […] Nur wenig können wir tun, um unser Schicksal tatsächlich zu beeinflussen. […] Pragmatisch mit dem Leben umzugehen bedeutet auch, zu wissen, was man beeinflussen kann und was nicht“ (Makridakes u. a. 2010, 26 f.). So ist als erstes einzusehen, wie sehr die Erkenntnisse der Medizin von Formen des Nichtwissens bestimmt sind. Um die eigene Gesundheit bestmöglich managen zu können, müssen wir die Grenzen der medizinischen Wissenschaft ausloten. Dabei ist einzusehen, dass die Medizin keine exakte Wissenschaft ist (vgl. Makridakes u. a. 2010, 32). Durch das unerschütterliche Vertrauen in die Experten entsteht eine Kontrollillusion. Tatsächlich aber ist das Leben ein gefährliches Abenteuer. „Höhere Ausgaben für die eigene Gesundheit bedeuten nicht automatisch eine bessere medizinische Versorgung. […] Zusätzliche Arztbesuche und Untersuchungen sind oft mit unnötigen Behandlungen und Krankenhausaufenthalten verbunden, die weitere unnötige Risiken mit sich bringen. Ein klassisches Beispiel für das Paradox der Kontrolle“ (Makridakes u. a. 2010, 63). Projektmedizin lässt sich nicht allein mit traditionellen medizinethischen Kriterien des Arzt-Patienten-Verhältnisses bewerten, sondern unterliegt allgemeineren Bewertungsgrundlagen einer Verantwortungs-Ethik (vgl. Irrgang 2007a). Allerdings gelten für Verfahren auch der projektorientierten Medizin eine zumindest indirekte Patientenautonomie und die Forderung der Patienten-Zentrierung. Abhängig ist nämlich die Bewertung der jeweiligen Projekte vom zu Grunde gelegten Konzept eines gelingenden Lebens und der eigenen Lebens- und Selbstgestaltung des Patienten. Dies umschreibt den Sachverhalt einer indirekten Patientenautonomie in der ethischen Bewertung projektorientierter Medizin. Eine richtige oder falsche Entscheidung über die Behandlung einer Krankheit bzw. deren Beendigung ist von der Vorhersehbarkeit von Folgen der Bewältigung von Risiken abhängig. Die Risiken menschlicher Handlungen aber sind im Vorhinein kaum abzuschätzen. Da eine echte Beurteilung einer Handlung immer erst im Nachhinein möglich ist, je-
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denfalls bei einer Entscheidung unter Unsicherheit, sollte der Begriff der Patientenautonomie im Horizont einer Philosophie als Lebenskunst eine zusätzliche Dimension erhalten. Das Modell der rationalen Wahl ist durch eine moderne Interpretation der Patientenautonomie im Sinne einer Philosophie der Lebenskunst zu unterfüttern. Der Arzt ist Helfer im Aufbau von Dispositionen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen in Abhängigkeit von der körperlichen Konstitution des Patienten. Er greift also in die Selbstgestaltung eines Menschen gerade auch durch Projektmedizin ein, die grundsätzlich institutionell und gesellschaftlich eingebunden bleibt. Selbstverwirklichung ist die Möglichkeit, die eigenen Dispositionen, Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Befähigungen durch Training, Lernen und Erziehung im kulturell-institutionellen Kontext zu realisieren und auszugestalten. Die neuen Möglichkeiten wunschorientierter Medizin sind nicht grundsätzlich negativ zu bewerten, sondern stellen eher eine gesellschaftliche und ethische Aufgabe dar. Sie sind Ausdruck eines technikinduzierten Wertewandels, der in vielen Bereichen innovativer Technikentwicklung auftritt. Dies führt zu einer anwachsenden Macht des Patienten, der zu ihrer Ausübung Kompetenzen in der Technikbewertung erwerben muss, aber auch des Arztes im Rahmen der präventiven Medizin. Die wunschorientierte oder personalisierte Medizin führt zu einer Patientenzentrierung des Gesundheitswesens auf der Basis medizinisch-wissenschaftlicher Forschung, die der Integration klinisch-fachärztlicher Erfahrung bedarf. Die stärkere Integration der Facharztpraxis in die Hausarztkonzeption ist zu begrüßen, wobei Fachärzte sich durch klinische und praktische Erfahrungen auszeichnen sollten, nicht nur durch Forschungskompetenzen. Klinische Erfahrung und damit Bewährung in der Praxis ist das Bewertungskriterium, das über die Anwendung forschungsbasierter Medizin entscheidet, nicht forschungserzeugte Wunschbilder oder Träume von Patienten, auch in der Projektmedizin. Ein zentrales ethisches Problem in diesem Zusammenhang ist die Ermöglichung klinischer Erfahrung. Eine an Realisierbarkeit orientierte angewandte Ethik weist daher auf die Bedeutsamkeit klinischer Erfahrung und auf Versuche an und mit Menschen hin. Wissenschaftliche Forschung, medizinisch-klinische Erfahrung und Patientenzentrierung (auf seine Wünsche und Bedürfnisse) – diese drei Ebenen begründen angemessene Bewertungsgrundlagen für eine mögliche Realisierbarkeit wunschorientierter Medizin, die sich zu Recht als neue personalisierte Medizin betrachtet. Klinische Praxis dient der Erprobung von Medikamenten sowie von technischen Mitteln und Verfahren zur Diagnostik sowie zur Therapie. Die Explosion des medizinischen Wissens stellt Arzt, Patient und das Gesundheitswesen insgesamt vor nicht geringe Herausforderungen, denn aus diesen erwachsen neue Handlungsmöglichkeiten. Um diese bewältigen zu könnten, sollten die drei Ebenen wissenschaftliches Wissen, klinisches Wissen und fallbezogenes Wissen von Fach- und Hausärzten integriert werden. Personalisierte Medizin bedeutet nicht unbedingt, dass man das Genom eines Patienten kennen muss, sondern vor allem seine Situation. Personalisierte Medizin sollte die Situation des Erkrankten im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext berücksichtigen. Gelegentlich hilft nichts anderes, als dass der Patient aus gewohnten Lebenskontexten herausgenommen wird, eine andere Lebens-
2.3 Prädiktive Diagnostik und humangenetische Beratung
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form führen darf und diese zu leben lernt. Medikamente können eine Änderung der Lebensumstände nur in Grenzen ersetzen. Aus dem Prinzip der personalen leiblichen Individualität folgt das Recht auf Entwicklung der eigenen Individualität. Die Sorge um sein leibliches Dasein in seiner Verletzlichkeit und Krankheitsanfälligkeit ist Kern der neuen medizinischen Ethik. 2.3 PRÄDIKTIVE DIAGNOSTIK UND HUMANGENETISCHE BERATUNG Das Humangenom-Projekt und die Entdeckung krankheitsauslösender Gene brachten neue Krankheitsbilder und neue diagnostische Möglichkeiten. Genetische Information ist aber nicht automatisch medizinisches Wissen, die dazu erforderliche Umwandlung und Interpretation muss sorgfältig vorgenommen werden. Um prädiktiv (vorhersagend) sein zu können, müssen genetische Daten erst im medizinischen Sinne interpretiert werden. Die Erstellung eines genetischen Profils und auf dieser Basis vorgenommene Zuschreibung von Krankheit oder Behinderung oder auch dessen forensischer Gebrauch sind keinesfalls naturwissenschaftliche Datenerhebungen, sondern Teil einer medizinischen bzw. forensischen, also gesellschaftlichen Praxis und damit wertdurchdrungen und somit eine dem Patienten fremde professionelle Interpretation. Um eugenische Implikationen zu vermeiden, beschränkt sich humangenetische Beratung heute auf die Feststellung eines individuellen genetisch bedingten gesundheitlichen Risikos auch bei noch Ungeborenen. Das genetische Beratungsgespräch im Rahmen einer medizinisch-präventiven Praxis gehört heute zu den ärztlichen Dienstleistungen im engeren Familienkreis ohne eugenische Nebenabsichten, ohne Beachtung der Effekte auf Gesellschaft, Staat und Politik mit dem Ziel der Leidensverminderung. Zudem ist zu klären, worin sich eugenische von medizinisch-präventiver Praxis unterscheidet, denn auch individuelle Wünsche, z. B. von Eltern, können sich selektionistisch auswirken. Ob es sich aber um eine neue Eugenik von unten handelt, müsste noch genauer herausgearbeitet werden (vgl. Bartram u. a. 2000, Irrgang 2002). Mit der genetischen Deutung vieler Krankheitsursachen im Rahmen einer prädiktiven Medizin können Krankheiten diagnostiziert werden, bevor es überhaupt zu einer Symptomausbildung kommt. Es handelt sich um Krankheitsanlagen, nicht um Krankheiten. „Patienten“ im Sinne der prädiktiven Medizin sind daher Menschen, die Aufklärung über genetische Information haben wollen, welche medizinische Relevanz haben kann. Gesundheit und Krankheit sind Weisen der Selbstzuschreibung bzw. der sozialen Rollenzuschreibung. Da es ein objektives Maß (trotz aller medizinisch beschreibbaren Tatsachen) ärztlichen Handelns aufgrund des Fehlens eines entsprechenden Krankheitsbegriffes nicht gibt, ist eine medizinische Ethik in Fragen der prädiktiven Medizin an den Bedürfnissen des potentiell Kranken und seinem potentiell mitbetroffenen Umfeld zu orientieren. Er hat das Recht auf Informationserhebung, aber auch das Recht auf Nichtwissen, die Folgen auf mögliche Mitbetroffene müssen berücksichtigt werden. Es gibt ein ethisch begründetes Recht auf Nichtwissen des möglicherweise Betroffenen um das eigene Genom insbesondere dann, wenn Krankheiten zwar diag-
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nostiziert, aber nicht geheilt werden können. Mit der Ausübung des Rechtes auf Nichtwissen um Erkrankungsdispositionen wählt man ein anderes Leben. Es ist ein Leben unter dem Leitgedanken der Unsicherheit, aber auch der Hoffnung. Ein Recht auf Nichtwissen um das eigene Genom ist insbesondere dann zu rechtfertigen, wenn dieses Wissen Leiden verursacht, z. B. Angst vor Krankheit oder deren soziale Konsequenzen wie Stigmatisierung, Diskriminierung oder höhere Versicherungspolicen. Viele Erbkrankheiten sind nicht kausal therapierbar, manche können durch Ersatztherapien in ihrer Wirkung abgemildert werden. Bei den meisten Ratsuchenden liegen noch gar keine Symptome vor. Insbesondere bei krankheitsrelevanten Befunden, die im Rahmen einer Untersuchung des eigenen Genoms erhoben werden, empfiehlt sich eine humangenetische Beratung durch den Arzt. Diese sollte unter dem Leitbild einer Selbstbestimmungsaufklärung stehen. Oberstes Kriterium in der angelsächsischen medizinischen Ethik im Hinblick auf die Beratungssituation ist die Nichtfestgelegtheit des Ergebnisses (non-directiveness, non-directivity). Das Beratungsgespräch zielt wie jede andere ärztliche Aufklärung auch auf (objektive) Information, Sensibilisierung und praktische Rationalität. Dabei darf sich „non-directivity“ nicht auf die bloße Vermittlung von Information beschränken, sondern muss eine eigene Entscheidung der Klienten ermöglichen, vorbereiten und zumindest die Entscheidungssituation strukturieren. Non-directivity wird häufig mit wertneutraler Information und neutraler Indifferenz im naturwissenschaftlichen Sinne gleichgesetzt. Dies ist nicht die richtige Interpretation im Sinne der Patientenautonomie. Der Grundsatz der Unparteilichkeit sollte dem Patienten helfen und nicht ihn einschränken. Eine ethische Direktive auch bei nicht direktiver Beratung ist die personale Selbstbestimmung und die Vermeidung von Leiden, aktuell und auch zukünftig (vgl. Irrgang 1995, Irrgang 2002, Bartram u. a. 2000). Aufklärung darf nicht zur strategischen Manipulation des Patienten entarten. Vielmehr ist bei der Aufklärung das Modell der herrschaftsfreien Kommunikation zugrunde zu legen (Marquard 1988, 74). Die im Konzept des „informed consent“ angelegte Sicherungsaufklärung über die Risiken eines ärztlichen Eingriffs ist im Sinne der Patientenautonomie zu erweitern und als Verpflichtung zur Selbstbestimmungsaufklärung zu formulieren. Hier reicht es nicht aus, bestimmte Risiken einer Therapie zu benennen, vielmehr muss der Sinn der gesamten Behandlung zur Debatte stehen sowie mögliche Alternativen aufgezeigt werden. Die Aufklärung des Patienten über die therapeutischen Absichten des Arztes geht als Aufklärungspflicht aus der Anerkennung des Patienten als selbstverantwortlicher Person hervor, die nicht nur Objekt der Behandlung, sondern Partner in der Arzt-Patienten-Beziehung ist. In der neueren medizinethischen Diskussion hat sich für dieses Gespräch der Begriff der Begleitung eingebürgert. Begleiten bedeutet im Allgemeinen, mit jemandem mitgehen oder jemandem zum Schutz Gesellschaft leisten. Nicht der Begleiter, sondern der, der begleitet wird, ist die Hauptperson. Begleitung fordert die Aufmerksamkeit und Sorge für einen Menschen, der seine Lebensprobleme in dieser Situation nicht alleine bewältigen kann. Unter dem Einfluss der Naturwissenschaften ist der kranke Mensch in der Medizin immer mehr in den Hintergrund gerückt, während die Krankheit und deren Bekämpfung die Aufmerksamkeit auf
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sich zog (Eser 1989, 153 f.). Dieser Tendenz muss eine patientenorientierte medizinische Ethik entgegenzuwirken versuchen. Besondere Probleme bereitet die präsymptomatische Diagnostik autosomal-dominant erblicher, noch nicht therapierbarer Erkrankungen des Erwachsenenalters wie Chorea Huntington und Alzheimer. Diese Diagnose sollte nur im Erwachsenenalter, im Rahmen ausführlicher Beratungen und auf ausdrücklichen Wunsch des Ratsuchenden stattfinden. Prädiktive Medizin im Hinblick auf spät ausbrechende Erkrankungsdispositionen setzt eine umfassende Beratung voraus. Die molekulare Medizin ist bisher noch stärker bestimmt durch Erkenntnisgewinn in der Grundlagenforschung und weniger durch Überführungen in die klinische Praxis. Das Humangenom-Projekt hat zu einer vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms sowie des Genoms von einer Anzahl von Modellorganismen geführt. Viele Erkrankungen kommen familiär gehäuft vor, folgen aber keinem mendelschen Erbgang, d. h. statistischen Regeln der Vererbung. Es sind die sogenannten „komplexen“ Erkrankungen, an deren Entstehung eine erbliche Prädisposition und Umweltfaktoren beteiligt sind. Die erbliche Komponente kann sehr unterschiedlich sein und häufig ist sie das Resultat mehrerer interagierender Gene (Polygen). Die Erklärung der DFG zur Humangenom-Forschung und zur prädiktiven genetischen Diagnostik vom 20.6.1999 plädiert für einen verantwortlichen Umgang mit neuem genetischen Wissen und qualifizierte Beratung. Bei prädiktiver und genetischer Diagnostik ist eine rechtswirksame Einwilligung der zu untersuchenden Person einzuholen und die Zustimmung zu dokumentieren. Testergebnisse sind untersuchten Personen im Rahmen einer ärztlichen Beratung mitzuteilen und zu erklären. Prädiktive Untersuchungen am Arbeitsplatz sind nur dann zuzulassen, wenn es um den voraussehbaren Ausbruch einer genetischen Krankheit geht, die mit dem Arbeitsverhältnis in unmittelbarem Zusammenhang steht. Sie sind nicht zur Voraussetzung eines Versicherungsvertrages zu machen. Außerdem sollte eine angemessene Vermittlung der Anwendungsmöglichkeiten der Humangenomforschung an die Öffentlichkeit erfolgen. Diese beinhaltet neue Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf genetisch bedingte Krankheiten (vgl. DFG 2000, 37–40). Problematisch ist aus ethischer Sicht die Pränatale Diagnostik (PND). Ein moralisches Recht auf die Kenntnis des Genoms der eigenen Kinder darf als umstritten angesehen werden, da die drohende Abtreibung das Lebensrecht und das potentielle Selbstbestimmungsrecht des Embryos missachtet (vgl. Irrgang 1995, 238). Andererseits können schwere Erkrankungen von Kindern den Lebensplan von Eltern massiv beeinflussen und erhebliche Belastungen für Familien nach sich ziehen, so dass ein generelles Verbot der Kenntnis des Genoms der eigenen Kinder als überzogen erscheint. Abtreibungen aus genetischen Gründen stehen im Verdacht, eugenische Maßnahmen zu sein. Da Eltern in der Regel das zukünftige Wohl ihres Kindes im Auge haben, nicht aber die Auswirkungen auf den Genpool, ist diese Unterstellung wohl nicht zutreffend. Dennoch können Elternwünsche diskriminierend sein und zu Abtreibungen führen. Die ethische Problematik der Abtreibung wird im nächsten Kapitel näher diskutiert. Auswirkungen in den Einstellungen gegenüber Behinderungen und Behinderten sind ebenfalls nicht auszuschließen, reichen aber für ein Verbot der pränatalen Diagnose nicht aus. Insbesondere weil die pränatale
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Diagnose in vielen Fällen entlastende Informationen anbietet und damit Abtreibungen eher verhindert als induziert, ist sie als das kleinere Übel ethisch akzeptabel (vgl. Irrgang 2002). Auch die psychosozialen Folgen der vorgeburtlichen Diagnostik sind zu beachten (vgl. Petermann 1997, 111). Die Wartezeit bis zum Eintreffen des Befundes und die Unsicherheit, ob eine Behinderung vorliegt, sowie die Entscheidung über Leben und Tod ihres Kindes stellen extreme Belastungen für die Schwangere bzw. Eltern dar. Gerade in der Pränataldiagnostik wäre eine einsame Entscheidung der Schwangeren oder der Eltern ethisch nicht zu rechtfertigen. Andererseits sollte auch der Arzt die letzte Entscheidung über die Zumutbarkeit eines behinderten Kindes nicht fällen dürfen. Die Behinderung alleine kann als ethisch relevanter Grund für eine Abtreibung angeführt werden. Die begründete Entscheidung der Eltern nach einer intensiven Beratung ist aus der Sicht der Autonomie der Betroffenen, die zu einer begründeten Entscheidung im Hinblick auf ihre leibliche Lebensgestaltung kommen können, zu bevorzugen. Eine schwere Beeinträchtigung des Familienlebens und eine schwere Krankheit des Kindes gehören zu den Voraussetzungen für eine solche Begründung, wobei unter Anerkennung der Grenzen der Vorhersehbarkeit der Einzelfall geprüft werden muss, vor allem unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Krankheitsbilder bei einer Krankheitsdisposition. Nicht alle Elternwünsche sind ethisch vertretbar, so z. B. der nach einem Stammhalter. Bedeutet der Elternwunsch eine Diskriminierung des Heranwachsenden, sind Elternwünsche nicht berechtigt. Im Zusammenhang mit einer In-vitro-Fertilisation (IVF) ist auch eine Präimplantationsdiagnostik (PID) möglich. Bei dieser Methode wird in einem frühen Stadium der Zellteilung eines Embryos eine Zelle entnommen und auf bestimmte Erbkrankheiten hin untersucht. Bis zur Ergebnisfeststellung kann er eingefroren werden. Weist er die vermutete Erbkrankheit nicht auf, wird er im Rahmen eines Embryonentransfers übertragen. Diese Methode ist umstritten, weil die Zellentnahme als implizites Klonen interpretiert wird (Herauslösung einer Zelle aus dem Achtzellverband, die als selbständiger Klon interpretiert wird, aus dem nur theoretisch ein menschliches Individuum werden könnte, da die entnommene Zelle durch die Verfahren der Genomanalyse zerstört wird). Erschwerend kommt hinzu, dass diese Methode nur im Rahmen einer IVF vorgenommen werden kann, die nur eine geringe Erfolgsrate hat. Die Durchführung einer IVF, nur um eine PID vornehmen zu können, erscheint daher als problematisch. Die PID ist ein diagnostisches Verfahren ohne Therapie, weswegen ihr selektionistische Interessen unterstellt werden. Aber sind es selektionistische Interessen, wenn Eltern versuchen, auch bei erheblichen genetisch bedingten Erkrankungen eigene und möglichst gesunde Kinder zu bekommen? Das Leben ist unsicher und es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind, aber es darf auch keinen staatlichen oder moralischen Zwang geben, Embryonen mit erheblichen genetisch bedingten Beeinträchtigungen austragen zu müssen. Da die PID vor der Einnistung erfolgt und die Entnahme einer Zelle zu Diagnosezwecken nicht darauf abzielt, einen Menschen zu klonen, könnte diese Methode ethisch auch positiv bewertet werden. Aber die nicht exakt bestimmbare Grenze zwischen Krankheitsvermeidung und möglicherweise diskriminierender
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Selektion spricht nicht für diese Methode. Hinzu kommt die Möglichkeit der Adoption als Alternative zu dem Versuch, eigene Kinder mit genetisch bedingten Erkrankungsrisiken technisch auszuschließen, obwohl nicht zu leugnen ist, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen sich eigenen Nachwuchs wünscht. Ethisch gesehen ist es keinesfalls besser, eigene als fremde Kinder großzuziehen (aber auch nicht umgekehrt). Die geringe Anzahl von medizinischen Indikationen und der hohe technische Aufwand, um ein eigenes Kind zu bekommen, sind ebenfalls keine ethischen Argumente für diese Methode. Im Hinblick auf die PID ist der moralische Status des Embryos von Bedeutung. Es zeigt sich, dass bei der Einführung der PID ohne rechtlich oder andersartige regulatorische Barrieren nach einer kurzen Etablierungsphase mit einer recht schnellen Ausweitung der Praxis zu rechnen ist. Die PID wird vorwiegend zur Verbesserung der Erfolgsaussichten der IVF durch Selektion der Embryonen mit chromosomalen Anomalien eingesetzt. Die PID zur Diagnose monogener Erkrankungen und von Chromosomendefekten bei Paaren mit einem bekannten genetischen Risiko macht hier mittlerweile den geringeren Teil der Fälle aus (vgl. Hennen, Sauter 2004, 3–5). Es lässt sich indikationsbasierte von zweckorientierter PID unterscheiden. Im engeren Verständnis zielt PID auf die Untersuchung von extrakorporal erzeugten, sehr frühen Embryonen auf vermutete genetische Störungen mit Krankheitswert ab. Bei diesen Formen bzw. Indikationen der PID können klare Parallelen zur herkömmlichen PND gezogen werden. Eine zweite, weitergreifende Definition bzw. Anwendung der PID umschreibt sie als Auswahl besonders geeigneter Embryonen. Derzeit können zwei solcher Zwecke benannt werden: (1) Die Suche von potentiellen Spendern von Nabelschnurblut oder Knochenmark für ein bereits geborenes, schwer erkranktes Geschwisterkind, (2) die Geschlechtswahl des zukünftigen Kindes aus Gründen der individuellen Lebensplanung. Dieses nennt man social sexing oder family balancing (vgl. Hennen, Sauter 2004, 17–23). Die frühe Etablierung eines grundsätzlichen Schutzes des menschlichen Embryos durch den Gesetzgeber im Jahr 1990 hat in Deutschland zusammen mit dem Menschenwürdeartikel des Grundgesetzes deutliche Barrieren gegenüber medizinischen Eingriffen in die Embryonalentwicklung geschaffen. Es lässt sich feststellen, dass die praktische Anwendung der PID international weiter fortgeschritten ist als in der Diskussion. Voraussetzung für die Durchführung von PID ist eine ausführliche Aufklärung und Beratung des Paares über das Verfahren, seine Vor- und Nachteile sowie mögliche Folgen der Methode. Dem Paar muss eine psychosoziale Beratung angeboten werden. Der eigentliche Verstoß gegen das Embryonenschutzgesetz wird darin gesehen, dass ein Embryo nicht gezeugt werde, um eine Schwangerschaft herbeizuführen, sondern für diagnostische Zwecke, was verboten ist. Dagegen kann eingewandt werden, dass das Ziel der IVF mit PID zweifellos die Schwangerschaft ist. Die Gefahr einer Erwartungshaltung nur für gesunde Kinder besteht: Aber gerät das Recht auf Leben eines behinderten Menschen in Gefahr, wenn man im Zusammenhang der PID eine Auswahl zugunsten des nicht behinderten Lebens vornimmt? Die Gefahr des Missbrauchs rechtfertigt nicht das Verbot des rechten Gebrauchs. Zur Diskriminierung Behinderter durch PND oder PID: Kaum ein Behinderter will selbst behinderte Kinder. Natürlich muss einem behinderten Kind,
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das geboren wurde, alle erdenkliche Liebe und Zuwendung zuteil werden. Aber muss in Deutschland alle 90 Minuten ein geistig behindertes Kind geboren werden? Hinter der Vorstellung, Wunschkinder zu fabrizieren, Fortpflanzung zu managen und auch das Sterben souverän beherrschen zu können, verbergen sich Extremvisionen persönlicher Autonomie und medizinisch-technischen Könnens. Kontrovers sind die Möglichkeiten der Biomedizin häufig vor allem deshalb, weil die Meinungen auseinander gehen, was unter Autonomie überhaupt zu verstehen ist. Man hätte gleich vor der Illusion warnen sollen, es ließe sich zum moralischen Status des ungeborenen menschlichen Lebens ein Konsens finden. Die Positionen zwischen den Befürwortern eines uneingeschränkten Schutzes der Embryonen nach Verschmelzung von Samen- und Eizelle und den Befürwortern eines abgestuften, wachsenden Schutzes der Embryonen liegen so weit auseinander, dass sie nicht zu vermitteln sind. Es wäre völlig unverantwortlich, einem geborenen Behinderten ein VollzugsIch nur aufgrund seiner Behinderung abzusprechen. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass ein genetisch „potentiell“ behinderter Embryo schon in frühen Entwicklungsstadien ein Vollzugs-Ich hat. Die neuen Techniken lassen sich nicht mit dem Eugenik- und Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten vergleichen. Die PID wird von Eltern durchgeführt, um ein gesundes Kind zu bekommen, nicht um eine rassistisch oder eugenisch definierte Volksgemeinschaft zu verbessern. Nicht die Selektion im Sinne einer Auswahl als solche ist ethisch verwerflich, sondern die eugenische Zielsetzung, günstige Erbanlagen in einer menschlichen Population zu fördern, d. h. die Instrumentalisierung menschlicher Individuen zugunsten des Genpools. Gegen behinderte Kinder würde argumentiert, wenn die PID verpflichtend wäre. Dies zu fordern wäre in der Tat unsittlich. Dann könnte man von einer Eugenik im klassischen Sinne sprechen. Dieses gilt es zu verhindern, nicht PID überhaupt. Und wenn man die PID nicht als Krankenkassenleistung bezahlt, kommt der Verdacht auf, „Eugenik“ bleibe den Reichen vorbehalten. PID aber könnte in der Versicherung Teil eines Risikosonderpaketes sein für Eltern mit besonderen genetischen Risiken. Da wir nicht genau wissen, ab welchem Stadium in der Embryonalentwicklung dem Embryo Personalität zugesprochen werden muss, ja nicht einmal, ab wann dies geschehen soll, bedarf es einer gesellschaftlichen Einigung darüber, ob wir – wie die Kirchen dies vorschlagen – den sichersten Weg gehen sollten oder aber einen liberaleren Weg verantworten können, der dem ärztlichen Handeln wie den betroffenen Eltern und der Forschung mehr Handlungsspielraum lässt. Voraussetzung dafür ist, dass die neuen Techniken (wie die PID) nicht eugenisch im klassischen Sinn des Wortes (Verbesserung des Genpools als Handlungsziel) gestaltet werden können. Mit der Unterstellung einer neuen Eugenik von unten werden Traditionslinien und Kontinuitäten hergestellt, die es so nicht gibt. Zielsetzung ist die Vermeidung einer schweren genetisch bedingten Erkrankung, nicht eugenische Selektion. Im Hinblick auf die Zumutbarkeit für die Eltern werden aus sozialen wie aus genetischen Gründen Ausnahmen von der Respektierung des Lebensrechtes des Embryos bzw. Fetus geduldet. Wenn wir Konsistenz in unseren moralischen Grundüberzeugungen anstreben, müssen wir nach der Zumutbarkeit von Kinderlosigkeit
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bei den Paaren fragen, von denen mindestens ein Elternteil Träger der Anlage einer schweren Erbkrankheit ist. Darf ihnen die Bemühung um leibliche Kinder verwehrt werden? Diese Frage ist nicht einfach mit Ja zu beantworten. Am klarsten ist noch der Hinweis auf die IVF, deren geringe Erfolgsquote nur eingeschränkt zumutbar ist. Da sich dies für längere Zeit nicht ändern wird, ist dies der wichtigste ethische Einwand gegen die PID. In Erweiterung der Möglichkeiten der PND durch die PID ist zum ersten Mal eine im wissenschaftlichen Sinne echte Eugenik möglich, d. h. bestimmte Allele könnten mittelfristig aus einer Population eliminiert werden, ohne dass die Fortpflanzungswünsche der betroffenen Gruppe von Menschen unterdrückt werden müssten (vgl. Kollek 2000, 15). Es ist allerdings nicht die durch Sozialdarwinismus und Rassenhygiene diskreditierte Form der Eugenik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch die Konvergenz von Gen- und Reproduktionstechnik, die in der PID ihren vorläufig deutlichsten Ausdruck findet, wird demzufolge ein Instrumentarium für die Beeinflussung der Eigenschaften menschlichen Nachwuchses bereitgestellt, dessen Dimensionen heute erst zu erahnen sind (Kollek 2000, 22). Prädiktive Medizin im vorgeburtlichen Bereich ist im Unterschied zur klassischen Eugenik keine Instrumentalisierung der Mutter, um gesunden Nachwuchs zu bekommen, falls die eigene Entscheidung der Mutter (der Eltern) nach hinreichender Aufklärung verantwortungsbewusst getroffen wurde. Eine Instrumentalisierung des Embryos erfolgt auch nicht, wenn ein verbesserter Gesundheitszustand angestrebt wird. Als Instrumentalisierung ist der Wunsch nach einer Geschlechtsselektion des eigenen Kindes ohne medizinische Indikation anzusehen und daher nicht vertretbar. Auch bei der Abtreibung aus genetischen Gründen und bei der Verweigerung der Einpflanzung unter PID liegen Instrumentalisierungen vor, die nur durch schwere nachteilige Folgen für den in Zukunft Betroffenen und seine Familie ethisch plausibel gemacht werden können, auch wenn sie nicht als Realisierungen eines sittlichen Gutes gelten dürfen. Sie sind bestenfalls mit Einschränkungen sittlich erlaubt. Bei der Konstruktion und dem Design von neuem Leben geht es insbesondere um die Frage nach der Erlaubnis von Qualitätskontrollen der heranwachsenden Embryonen. Sie sind in der Tat ethisch gesehen höchst problematisch, vor allem wenn sie nicht therapeutisch legitimiert werden können. Diskussionen erregte ein kleines Kind namens Adam, das von den Eltern mit Hilfe von PID ausgewählt wurde, um als Knochenmarkspender für das erkrankte Schwesterchen dienen zu können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der kleine Junge nicht vollständig instrumentalisiert wurde. Dem Verfahren wurde vorgeworfen, dass hier menschliches Leben auf Probe erzeugt und nach bestimmten Merkmalen ausgewählt wurde. Aber Adam kann trotz seiner Instrumentalisierung für das Schwesterchen auch als Kind selbst geliebt werden. Dabei tritt das Problem heute noch nicht in voller Schärfe auf, denn man kann bislang nur irgendein menschliches Wesen schaffen, bald aber wird es gelingen, ein bestimmtes zu erzeugen. Damit ist die Kategorie der Natürlichkeit weithin hinfällig geworden. Aber die Natur verfolgt keine Zwecke und kann uns also auch keine Handlungsanleitung geben. Der Mensch ist das Wesen, für das es natürlich ist, künstlich zu sein. Dies liegt in der
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Ausübung der menschlichen Freiheit. Daher wird eine umfangreiche reproduktive Autonomie gefordert. Und man braucht starke Gründe, einer Frau nach der Menopause oder einem homosexuellen Paar die Möglichkeit der modernen Reproduktionsmedizin vorzuenthalten (vgl. Schramme 2002, 49–57). Möglicherweise lassen sich solche finden. Ist es Ausdruck der reproduktiven Autonomie, wenn ein gehörloses Paar einen gehörlosen Embryo auswählt? Angesichts der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Gehörlosenkultur kann diese Frage positiv bewertet werden. Im Hinblick auf Designerkinder oder Designermenschen ist zu berücksichtigen, dass die gentechnische Verbesserung dieses Menschen um seiner selbst willen geschieht, nicht wegen einer Verbesserung des Genpools der Gattung. Der noch nicht geborene Mensch soll gesund werden, sich besser behaupten können usw. Menschenzüchtung (als Gattungsideal) ist eine Instrumentalisierung bei den nachgewiesenermaßen falschen Vorstellungen von Züchtung in der klassischen Eugenik. Bei der gentechnischen Verbesserung der eigenen Kinder, die man Eugenik von unten nennt, geschieht eine Instrumentalisierung des Kindes nur dann, wenn man Kinder ausschließlich als technische Produkte betrachtet, die Kinder nach Elternwünschen entwirft. Dies wird allerdings kaum der Fall sein, wenn man sich ein eigenes gesundes Kind wünscht, dem man möglichst viele Zukunftschancen mitgeben möchte. Vielmehr kann man in diesem Fall davon ausgehen, dass es ein besonderes Bestreben der Eltern gibt, das Kind möglichst gut auszustatten. Bedenklich ist der Elternwunsch dann, wenn die Perfektion des geborenen Kindes Voraussetzung dafür wäre, dass es geliebt wird. Tendenzen einer Eugenik von unten hat prädiktive Medizin im Bereich der pränatalen Diagnostik vor allem solange, wie es nicht möglich ist, therapeutisch einzugreifen, sondern die einzige Antwort auf die Diagnose eines gravierenden Erbdefektes die Selektion ist, d. h. die Verweigerung der Implantation bzw. die Abtreibung. 2.4 HUMAN DESIGN ZWISCHEN THERAPIE UND ENHANCEMENT Das Genom eines Menschen ist immer noch ein Zufallsprodukt auf der Basis der elterlichen Genome. Human Design möchte diese genetische Basis erweitern oder präzisieren, indem es bestimmte Gene, spezifische Merkmale codieren und beim Wunschkind hervorrufen soll. Das größte, bislang noch ungelöste Problem bei der Gentherapie ist es, über einen längeren Zeitraum eine stabile Genexpression zu erzielen, die dann zu gewünschten Merkmalsausprägungen führt. Viele geniale Ansätze scheitern, weil die Genexpression nach einigen Monaten abfällt. Diese Inaktivierung von Transgenen kann unter anderem durch DNA-Methylierung verursacht werden. Hierbei handelt es sich um eine postreplikative Modifikation der DNA mit vielfältigen Funktionen, die häufig unter dem Begriff Epigenetik zusammengefasst werden, da es sich um übergeordnete Regulationsmechanismen handelt, die über das statische genetische Alphabet mit seinen berühmten vier Buchstaben hinausgehen. So spielt DNA-Methylierung eine wichtige Rolle bei der Regulation der Genexpression und ist essentiell für eine normale Entwicklung. In den letzten Jahren
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mehren sich auch Hinweise, dass eine fehlerhafte DNA-Methylierung zur Entstehung von Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, führen kann. Aufgrund seiner zentralen Rolle bei der Regulation bzw. Fehlregulation der Genexpression kommt der Epigenetik eine wachsende Bedeutung in der Genmedizin zu (vgl. Raem u. a. 1999, 111 f.). Seit 1990 wird die somatische Gentherapie beim Menschen eingesetzt. Bisher existiert noch kein eindeutiger Beweis, dass Gentherapie von echtem therapeutischen Nutzen ist. Die Ergebnisse der ersten Untersuchungen sind jedoch insofern ermutigend, als bisher keine wesentlichen, unerwarteten Nebenwirkungen auftraten. Die Übertragung von Laborergebnissen ans Krankenbett erfordert hier noch viel Zeit und Geduld. Es bestanden unrealistische Erwartungen auch seitens der beteiligten Wissenschaftler. Der anfängliche Enthusiasmus im Zusammenhang mit der somatischen Gentherapie ebbte jedoch wieder ab. Deshalb gewann die Grundlagenforschung gegenüber klinischen Studien wieder an Gewicht (vgl. Raem u. a. 1999, 323). Unter Gentherapie versteht man alle Verfahren, die das Ziel haben, genetische Erkrankungen durch geeignete Veränderungen des Genoms kausal zu behandeln. Ein intaktes Gen, das die Fehlfunktion des defekten Gens ausgleichen soll, wird in eine genetisch defekte Zellen eingeschleust und dort so zur Expression gebracht. Gentherapie zielt darauf ab, krankheitsverursachende Anomalien im menschlichen Genom zu kompensieren entweder (1) durch das Einbringen fehlender genetischer Information, (2) durch Einfügen funktionsfähiger Gensequenzen zusätzlich zu den vorhandenen „defekten“ Abschnitten oder (3) durch Austausch eines defekten Gens durch funktionsfähigen Ersatz. Voraussetzungen für die Durchführung einer Gentherapie sind (1) überwiegend monogene Fehlfunktionen, (2) Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung, (3) die unzureichende Wirksamkeit bisheriger Therapien, (4) die detaillierte Kenntnis des Phänotyps, (5) ein ordnungsgemäßer Einbau des Gens ins Genom – das bisher größte Problem –, und (6) eine in-vitro-Behandlung im Rahmen der Fortpflanzungsmedizin. Gerade der fünfte Punkt ist aufgrund der derzeit gängigen Methoden des Gentransfers nicht zu garantieren, was sich jedoch in absehbarer Zeit ändern könnte. Die chemischen Methoden (unter Zusatz von Chemikalien wird die Zellwand durchlässig; zusätzliche DNA kann ins Zellinnere gelangen und zufällig eingebaut werden) sind in Erfolgsrate und Einbaugenauigkeit völlig unzuverlässig; die physikalischen (Mikroinjektion und Elektroporation) haben zwar eine höhere Erfolgsrate, sind aber von der Einbaugenauigkeit her unzureichend. Der Gentransfer mittels Viren, Retroviren und Adenoviren ist zwar sowohl von der Genauigkeit des Einbaus als auch von der Erfolgsrate her besser, bleibt aber unbefriedigend. Zudem werden Restrisiken vermutet. Die für den Vektor veränderten Eigenschaften eines Retrovirus könnten sich im Körper restituieren und Krankheiten auslösen. Gegenwärtig sind alle Methoden wenig effizient. Sie schädigen die Zelle und können nicht garantieren, dass das substituierte Gen funktionstüchtig ist. Außerdem führen sie zu Mutationen im Erbgut, die nicht absehbar sind und weder zu kontrollieren noch bis auf Ausnahmen rückgängig zu machen sind. Seit 2007 ist die gezielte Mutagenese immer mehr theoretisch denkbar und technologisch realisierbar. Die TAL-Cut-Technologie hat ein praktikables gezieltes Genom-Engineering für
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Säuger entwickelt. Sie stellt daher eine gerichtete Genommodifikation dar, mit der sich Eigenschaften von Zellen und Organismen in präziser und nutzbarer Weise steuern lassen. Die Technik beruht auf einer Kombination von DNS-bindenden TAL-Peptid-Bausteinen aus der Pflanzenwelt und Nukleasen-Domänen von Restriktionsenzymen. Anstelle der etablierten Methoden von Gen Targeting sind Zinkfinger Nukleasen (ZFN’s) und TALENS als Designer Nukleasen ein umfassendes und fundamentales methodisches und technisches Hilfsmittel der modernen Gentechnologie. Im Vergleich zu den Zink Finger Nukleasen sind TALENS erheblich billiger, deutlich schneller und haben keine Positionseffekte (vgl. Nguyen, Fliskowska 2012, 8). Dies erhöht die Prognostizierbarkeit der Auswirkungen des Verfahrens auf das Zielgewebe deutlich. Die Entwicklung der TAL-Cut-Technologie in den letzten drei Jahren ist schnell vorangekommen, wobei jetzt die Phase der Standardisierung und der Etablierung eines gängigen methodischen Werkzeugs im Rahmen der Gentechnologie erforderlich erscheint (vgl. Joung, Sander 2012, 5). Da hier in alle Zellen das neue genetische Material eingetragen werden muss, eignen sich nur relativ wenige Zelltypen für die somatische Therapie, nämlich wegen ihrer Regenerationsfähigkeit Knochenmarkstammzellen (zur Behandlung aller das Blut betreffenden Erbkrankheiten) und Haut-, Leber-, und Muskelzellen. Keimbahntherapie wird derzeit nur im Tierversuch erprobt. Die gentherapeutischen Behandlungsverfahren sind meist aufwendig und teuer und sind in der Regel jeweils nur bei recht wenigen Individuen anwendbar. Da die Auswirkungen von Erbkrankheiten sich aber sehr häufig in gravierenden Behinderungen manifestieren, erscheint es ethisch durchaus gerechtfertigt, weitere Forschung in therapeutischer Absicht vorzunehmen, sofern nicht wirksame und einfache Substitutionstherapien zur Verfügung stehen. Allerdings sind die Gefahren der jeweiligen Therapieform zu berücksichtigen und zu vermeiden. Somatische Therapie soll ein Individuum heilen, betrifft aber nicht das an die Nachkommen weitergegebene Erbgut. Trotz großer anfänglicher Verheißungen sind die Erfolge noch spärlich. Nach dem missglückten Versuch des US-Wissenschaftlers Cline, in Israel und Italien Fälle von Sichelzellanämie unter Täuschung der Patienten und der Genehmigungsbehörden zu behandeln (vgl. Sass 1991), wurde die erste wirklich effektive Gentherapie durch Blaese und Anderson 1990 in den Vereinigten Staaten an einem vierjährigen Mädchen (vgl. Verma 1991) und an einem Jungen in Sizilien durchgeführt. Beide Patienten litten an der Immunkrankheit ADA-Mangel. In diesem Fall ersetzten die Wissenschaftler einige der weißen Blutkörperchen des Mädchens und transferierten neue Kopien des ADA-Gens in die Zellen, um sie zurück in den Blutkreislauf des Mädchens zu geben. Die modifizierten Zellen waren in der Lage, die fehlende Substanz ADA zu bilden und das Immunsystem des Mädchens verbesserte sich bemerkbar. Somatische Gentherapie ist voraussichtlich eine medizinische Therapie für die Zukunft (vgl. Chadwick 1998, 124). Behandlungsstrategien im Rahmen der somatischen Therapie und erste Anwendungsversuche betreffen krankhafte Veränderungen des Blutes. Hier kann durch Transplantation gentechnisch veränderter Knochenmarkszellen des Erkrankten z. B. Sichelzellanämie in Zukunft behandelt werden. Auch Thalassämien, basierend auf Fehlern in der Hämoglobinproduktion, könnten durch das Einbringen gen-
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technisch veränderter blutbildender Zellen im Knochenmark in ihren Auswirkungen herabgemindert werden. Hämophilie A, beruhend auf einem Fehler bei der Produktion des Blutgerinnungsfaktors VIII, und Hämophilie B, beruhend auf einem Fehler bei der Produktion des Blutgerinnungsfaktors IX, erscheinen durch das Einbringen von synthetischen Genen in Leberzellen oder in T-Lymphozytzellen therapierbar. Länger wird der Erfolg bei der Hypercholesterinämie (erblich erhöhte Cholesterinbildung) dauern. Hier müssten Leberzellen transgen verändert werden. Bei der Duchenne-Muskeldystrophie müssten Muskelzellen, insbesondere embryonale Muskelzellen, die sich zu Muskelfasern ausbilden, transgen verändert werden. Da das zugrundeliegende Gen kurz vor der Identifikation steht, bestehen gewisse Hoffnungen, denn das Einspritzen anderer Gene in Muskelzellen war bereits von Erfolg gekrönt. Gentherapie wird aber auch in der Krebsbekämpfung einzusetzen sein. Die Therapie basiert auf folgendem Prinzip: Ein Stück Krebsgewebe eines Patienten im fortgeschrittenen Stadium wird im Labor kultiviert unter Bedingungen, die Krebszellen absterben lassen. Die entsprechenden Lymphozyten werden vermehrt. Diese T-Zellen bzw. Lymphozyten werden im Labor gezüchtet und in die Vene des Patienten gespritzt und sollen die Tumore bekämpfen. Bei Vorversuchen verringerte diese Methode die Größe der Krebsgeschwüre bei etwa der Hälfte der Patienten. So wird das Krebs-Konzept auf der Basis der Humangenetik darauf hinauslaufen, das Immunsystem des Patienten zu stärken. Auch für Aids und manche chronischen Krankheiten wie Herz- und Gefäßkrankheiten sind Gentherapien denkbar. Die somatische Gentherapie ist die einfachste und am wenigsten kontroverse Form von Gentherapien. Sie bearbeitet DNA, die in einem Menschen enthalten ist, oder somatische Zellen. Jede Art von Wandel, die durch diese Therapie hervorgerufen wird, ist begrenzt auf den Patienten, an dem die Behandlung vorgenommen wird. Veränderungen werden nicht an die Kinder des Patienten weitergegeben. 1993 wurden Experimente in London im Hinblick auf eine somatische Gentherapie an zystischer Fibrose (CF) durchgeführt. Bei diesem Therapieansatz mussten Patienten ein feines Spray inhalieren, in dem sich eine Kopie jenes Genes befand, welches dem Patienten beim Krankheitsbild von CF fehlt. Die somatische Gentherapie wird in der medizinethischen Literatur nahezu einmütig mit einer normalen Organtransplantation verglichen. Dies ist zwar ungenau, aber enthält immerhin den wahren Kern, dass es sich in beiden Fällen um eine Substitutionstherapie handelt. Sie ist als Therapie vom Modell des „informed consent“ aus gesehen nicht problematisch, da die zu behandelnde Person selbst zustimmen kann und entscheidet, ob sie die damit verbundenen Folgen auf sich nehmen will. Unter den normalen Einschränkungen für medizinische Eingriffe darf daher die somatische Therapie aus der Perspektive einer Ethik der Patientenautonomie als erlaubt gelten, vorausgesetzt es treten keine vorhersehbaren Komplikationen auf. Das könnte aber bei einem derart schwerwiegenden Eingriff gerade in der Einführungs- und Erprobungsphase der Fall sein. Für diese wären gesonderte ethische Überlegungen anzustellen. Sie könnten darauf hinauslaufen, angesichts des hohen Risikos in der Erprobungsphase derartige Versuche nur bei Todesgefahr des Patienten vorzunehmen.
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Das Klonen, genauer bezeichnet als somatischer Zellkerntransfer (SCNT), geht folgendermaßen vor sich: Angeregt durch einen Stromstoß verschmelzen die entkernte Eizelle mit dem Zellkern des zu klonierenden Organismus. Nach 10 bis 20 Minuten startet die Reprogrammierung, ohne dass bislang jemand etwas weiß, wie und warum dies geschieht. Beteiligt ist dabei wahrscheinlich MPF, der Maturation Promotion Factor, der nicht nur die Zellteilung initiiert, sondern auch bei der Reprogrammierung eine besondere Rolle spielt. Dieser ist Zentrum des Konzeptes der Epigenetik, der Lehre von den Vererbungsmechanismen, die „oberhalb“ der reinen DNA-Ebene liegen. Zu diesen Mechanismen gehört auch die Methylierung. Außerdem bedarf es für das therapeutische Klonen bisher noch enorm vieler Eizellen, und das Klonen klappt nur in Ausnahmefällen. Reproduktives Klonen kommt z. B. für Paare in Frage, denen die Gameten für die Fortpflanzung fehlen. Dies wäre eine neue Möglichkeit im Rahmen der Reproduktionsmedizin (vgl. Spektrum 4/99, 63). Das Klonen bei Unfruchtbaren oder bei homosexuellen Paaren kann einen Ausweg aus der Kinderlosigkeit bieten. Wenn sich eine lesbische Frau klonen lässt, stellt sich die Frage, wer dadurch geschädigt wird. Eine eindeutige Antwort gibt es wohl nicht, so wird sich das Klonen also nicht verhindern lassen (vgl. Silver 1998, 172–177; Irrgang 1998b), obwohl es evolutionär betrachtet wenig Sinn macht. Es ist ein weiteres Werkzeug, das in Fertilisationskliniken benutzt werden könnte, um ihren Kunden zu helfen, ihre reproduktiven Ziele zu erreichen. Z. B. kann SCNT einem Paar, das weder über genügend Spermien noch Eizellen verfügt, zu einem eigenen biologischen Kind verhelfen (genauer gesagt zwei Kindern, wobei je eines mit einem Elternteil korrespondiert). Dies mag möglicherweise das Recht eines Paares auf Kerntransfer als einen Ausdruck reproduktiver Freiheit legalisieren (vgl. Stock, Campbell 2000, 63). Im Hinblick auf das Klonen ist derzeit das größte Problem die Gewinnung einer genügend großen Anzahl von Eizellen. Am Anfang stand ein hoher Verbrauch an diesen Zellen. Die öffentliche Diskussion war bestimmt durch falsche Vorstellungen vom Klonen als Erzeugung identischer Menschen (vgl. Spektrum 4/99, 62). Die Auswirkungen auf geklonte Kinder sind noch nicht abzusehen und eine ganze Reihe ethischer Probleme, vor allem die eigene Identität betreffend, werden aufgeworfen. Andererseits würden Wunschkinder mit besonders hoher Zuneigungsrate entstehen können (vgl. Spektrum 4/99, 65). Selbst eineiige Zwillinge sind aber keine identischen Menschen, umso weniger ein Klon. Differenzen treten auf durch die verschobene Zeitachse des neuen Individuums und den Steuerungsprozess der Embryonalentwicklung des Klons durch mitochondriale DNA der Leihmutter, die bei eineiigen Zwillingen fehlt. So kann man durch Klonen nicht quasi unsterblich werden oder einen geliebten Menschen nach dessen Tod ersetzen. Verfahren des Klonens sind zudem an die Methoden der Invitro-Fertilisation, bei Männern an Leihmutterverfahren gebunden. Diese bislang noch sehr aufwendigen Methoden mit bescheidenem Erfolg ermöglichen keine leichte Anwendung des Klonens bei Menschen. Genau betrachtet kann aus dieser Perspektive kein Mensch, der sich klonen lassen möchte, eigentlich ein Motiv dafür haben, sich klonen zu lassen (vgl. Irrgang 1998b). Angesichts des Standes der Ungewissheit in der Wissenschaft des Klonens kann das Kind, das durch Klonen ge-
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schaffen wird, durch diesen Prozess möglicherweise in höchst umfangreichen Maße geschädigt werden, wobei uns viele der hier drohenden Gefahren heute noch unbekannt sind. Ängste im Hinblick auf physische Schäden des Kerntransfers beim Klonen sind durch die Forschung beim Klonen von Säugetieren induziert. Über die Hälfte der Tierfeten, die mit Hilfe dieser Methode gezeugt wurden, zeigten extreme Abnormitäten einschließlich Defekten an Herzen, Lungen und anderen Organen (vgl. Chadwick 1998, 57). Psychologische Probleme könnten dadurch entstehen, dass ein Kind sich als Produkt eines anderen versteht und nicht denselben Prozess der Selbstentdeckung durchlaufen kann wie andere Kinder, denn es ist ständig konfrontiert mit dem Exemplar seines genetischen Vorgängers. Außerdem könnten die Wünsche der Eltern und ihre Erwartungen das Kind so dominieren, dass es nicht seinen eigenen Weg gehen dürfte. Die Eltern könnten ein Wunschkind erwarten mit einigen von ihnen explizit gewünschten Eigenschaften. Das Faktum, dass der Klon als Kopie einer existierenden Person in von seinem Original verschiedener Art und Weise heranwächst – insbesondere in unterschiedlichen Umgebungen und möglicherweise erzogen von verschiedenen Eltern oder zumindest durch Eltern mit unterschiedlichen Grundeinstellungen – lässt vermuten, dass der Klon nicht der Replikant eines Anderen oder einer früheren Person zu sein vermag. Die Effekte des Klonens auf die Gesellschaft könnten sehr unterschiedlich ausfallen. Die Erwartung, dass mit Hilfe des Klonens eine Armee von Sklaven oder Soldaten oder Monstern erzeugt werden könnte, ist eher als gering einzuschätzen. Aber andere Gefahren sind realistischer, z. B. dass das Klonen möglicherweise Familien schwächt, indem sie ihre Probleme erhöht (vgl. Chadwick 1998, 58–60). Die Ausdehnung der Gentherapie auf die Keimbahn fordert zwei technische Entwicklungen. Die erste besteht in der praktischen Prozedur, die veränderten Gene bzw. die neuen Gene in die menschliche Eizelle einzuführen. Dieser Prozess muss sicher verantwortbar und überhaupt praktizierbar sein. In idealer Weise sollte er es uns erlauben, eine ganze Menge von Verbesserungen in das Ei einzuführen und zwar zugleich, und diese sollten so geschehen, dass der Rest des genetischen Programms nicht unterbrochen wird. Die zweite betrifft die Identifizierung der genetischen Grundlagen erwünschter Merkmale. Diese zwei Voraussetzungen sind sehr schwierig zu erfüllen, aber die Genetiker sind mit Hochdruck an der Arbeit, um immer näher an diese Phänomene vorzustoßen. Zusätzliche Chromosomen für menschliche Eizellen werden in naher Zukunft zusätzliche Hilfsfunktionen übernehmen können. Es könnte wünschenswert erscheinen, bestimmte Genkassetten inaktiviert im menschlichen Genom zu lassen bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Empfänger groß genug geworden ist, um nach einem informierten Konsens in der Erwachsenenzeit selber entscheiden zu können, ob dieses zusätzliche Chromosom aktiviert werden soll oder nicht. Damit könnte der Einbau zusätzlicher Chromosomen oder Keimbahntherapie insgesamt reversibel gestaltet werden. Es könnte sehr nützlich sein, spezielle Formen der Konstruktion des menschlichen Chromosoms einzuführen, um den Gentransfer leicht handhaben zu können, und überprüfen zu können, ob diese Gene richtig mit anderen Genen kooperieren (vgl. Stock, Campbell 2000, 11–15). Zur Bewertung ist es wichtig, die Ziele der menschlichen Keim-
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bahntherapie zu betrachten und die Zwangslagen zu reflektieren, die möglicherweise bei ihrer Einführung entstehen. Es ist zu erwarten, dass der Druck, Keimbahntherapie einzuführen, nicht von den Regierungen oder von Diktaturen kommen wird, die eine Superrasse kreieren wollen, sondern sehr viel stärker von Eltern, die wünschen, die Chancen ihrer biologischen Kinder verbessern zu können, effektiv innerhalb ihrer Gesellschaft zu funktionieren (vgl. Stock, Campbell 2000, 31–33). Die Steigerung menschlicher Kompetenzen meint nicht, dass das Kind mit neuen menschlichen Kräften ausgestattet wird, sondern genauer, dass bestimmte Allele entwickelt werden, die wünschenswerte Eigenschaften haben, die nicht auf den Genomen der Eltern zu finden sind. Ein Beispiel ist die Resistenz gegenüber der HIV-Infektion. Ungefähr 1 % der Menschen in unserer Gesellschaft zeigen bemerkenswerte Resistenzen gegenüber der HIV-Infektion. Die betreffenden alternativen Gene (Allele), die für diese Resistenz verantwortlich sind, sind bereits identifiziert und charakterisiert. Diese Fähigkeit wird es erlauben, genetische Kompetenzen zu beschreiben, die unser Risiko vermindern, bestimmte Erkrankungen zu bekommen wie Diabetes, Herzschwäche, Krebs, neurologische Erkrankungen usw. Ein potentielles Problem beim Gebrauch artifizieller Chromosomen als einen Weg für Keimbahntherapie beim Menschen kann allerdings in der zweiten Generation auftauchen. Man muss sicherstellen, dass für Kinder der zweiten Generation sich Menschen paaren, die beide ein solches zusätzliches Chromosom aufweisen. Die Alternative könnte darin bestehen, dass man zwei zusätzliche künstliche Chromosomen in die menschliche Keimbahn einbringt. Die Unfähigkeit künstlicher Chromosomen zusammenzufinden, kann aber auch zur Sterilität führen. So stehen der Keimbahntherapie noch beträchtliche Schwierigkeiten ins Haus, die überwunden werden müssen (vgl. Stock, Campbell 2000, 37–39). Wir bewegen uns in ein neues Zeitalter der Evolution, in dem die Menschen in der Lage sind, unterschiedliche Arten von Kreaturen hervorzubringen. Es gibt Stimmen, die von einem Fortschritt in der genetischen Entwicklung der Menschheit sprechen und solche, die grandiose Gefahren im Sinne einer negativen Utopie anführen (vgl. Irrgang 2002c). Wenn aber – als Zukunftsutopie – die Keimbahntherapie keineswegs riskanter wäre für Menschen als die natürliche Empfängnis, wäre es dann nicht ethisch verpflichtend, genetische Erkrankungen zu eliminieren (vgl. Stock, Campbell 2000, 100–102)? Die Keimbahntherapie ist in einem sehr frühen Stand der Entwicklung, eigentlich noch nicht einmal in einem experimentellen Stadium. Es gibt einen weltweiten Bann gegen ihre Entwicklung, aber die ethische Debatte über ihre Akzeptabilität ist eher in der letzten Zeit angewachsen (Chadwick 1998, 124). Vor allen Dingen könnte ein Interesse daran bestehen, die menschliche Lebensdauer zu verlängern, Intelligenz zu verbessern und physische Fähigkeiten des Menschen umzugestalten. Eine mögliche gesellschaftliche Konsequenz könnte in einer vorherbestimmten menschlichen Lebenszeitspanne unter sozialer Kontrolle bestehen (vgl. Stock, Campbell 2000, 114–116). Gentherapie könnte aber auch benutzt werden, um die Größe von Kindern zu erhöhen, die einen Mangel an Wachstumshormonen haben und damit weit unterhalb der Norm in der Bevölkerung liegen. Dies würde als Therapie gelten. Aber dieselbe oder sehr ähnliche Techniken könnten herangezogen werden, um die Größe eines normalen Kindes anwachsen zu las-
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sen, sodass sie damit oberhalb der mittleren Höhe für Menschen liegen würde. Dies würde dann eine Verbesserung (Enhancement) von menschlichen Eigenschaften darstellen. Diese Möglichkeiten haben Ängste vor Designerbabies anwachsen lassen, weil effektive gentechnische Verbesserungsbehandlung möglicherweise an Keimbahnzellen ansetzen muss. Die Linie zwischen Therapie und Verbesserung ist keineswegs klar und für einige der Diskutanten hat dies zu der Schlussfolgerung geführt, dass jede Form der Keimbahntherapie, egal welche Intentionen am Anfang zu Grunde gelegen haben mögen, unvermeidbar zur Entwicklung von Verbesserungsideologien technologischer Art führen müssen. Solche „Slippery Slope“-Argumente werden sehr häufig herangezogen, um Keimbahntherapie im Ganzen zu desavouieren. In der Tat sind die pragmatischen Schwierigkeiten mit der eher akzeptierten somatischen Gentherapie schwerwiegend und führen gelegentlich dazu, dass die Keimbahntherapie zumindest als therapeutische Lösungsmöglichkeit in Erwägung gezogen wird (Chadwick 1998, 125). Sollte man benachteiligte Kinder in die Welt setzen? Wissentlich doch wohl nicht unbedingt. Ist es ungerecht, begabte Kinder in die Welt zu setzen? Trotz des Gedankens des Übermenschen scheint diese Idee nicht grundsätzlich verwerflich zu sein. Man könnte vorschlagen, dass es ein gesetzlich geregeltes Auswahlverfahren für Kandidaten für In-Vitro-Fertilisationen gibt in Analogie zu denen z. B. bei der Adoption. Sind Homosexuelle und alleinstehende Eltern geeignet für eine solche Methode, zu Kindern zu kommen? Wir haben kein klares Wissen davon, was Eignung für die Elternrolle letztendlich bedeutet (Harris 1995, 196–220). Wir haben nicht die Möglichkeit, akkurat vorherzusagen, wie sich Keimbahntherapie auf die zukünftigen Kinder auswirken wird oder gar auf ihre Nachkommen, weil alle Gene immer im Konzert mit anderen Faktoren wirken. Erfolgreiche Elternschaft erfordert auf jeden Fall, dass wir flexibel genug sind, unsere Kinder zu akzeptieren, wer immer sie sind. Konservative Lebensschützer identifizieren die Keimbahntherapie mit der typischen Hybris des wissenschaftlichen Technokraten. Er sei blind für die Langzeitfolgen der Wechselwirkung seiner Technik mit der natürlichen Ordnung. Bei vielen Naturrechtlern ist das Genom konstruiert als das ontologische Zentrum unseres Daseins, die Hauptdeterminante unserer individuellen wie artgemäßen menschlichen Charakteristiken, die Notwendigkeit und der zureichende Grund, der uns so gestaltet wie wir sind. Das Genom hat praktisch die Rolle bekommen eines säkularen Äquivalentes der Seele. Die Konsequenz daraus ist, dass der Wissenschaftler und der Mediziner den Priester ersetzen. Posthumane Visionen teile ich nicht (vgl. Irrgang 2005a). Auch durch Keimbahntherapie oder Klonen erzeugte menschliche Individuen bleiben Menschen, deren neue Fertigkeiten der Ausbildung und daher der Erziehung bedürfen. Auch Intelligenzverstärker, sollten diese einmal gentechnischer Art sein, werden Erziehung nicht überflüssig oder Kinder nicht hassenswert machen. Allerdings sollten sich Eltern in Zukunft noch viel genauer überlegen, was sie sich und anderen zumuten können und dürfen (denn solche Kinder sind möglicherweise nicht leicht und angenehm zu erziehen). Die Hoffnung auf eine sofortige Wirkung einer neuen molekularbiologisch begründeten Medizin hat sich bislang nicht erfüllt – wir wissen auch warum: Leben
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2. Veränderungen im Verständnis von Krankheit, Behandlung und Rolle des Arztes
ist viel komplexer als wir das noch vor zehn Jahren dachten. Forschung, Wissenschaft und Technik sind keine Magier und Zauberer. Wir brauchen hier Geduld, damit Entwicklungen auch ethisch reflektiert wachsen können. Technik ist ambivalent, kann misslingen und missbraucht werden, aber das ist keineswegs ihr Wesen. In den Lebenswissenschaften und in der Biomedizin kommt es zu einer Ausweitung des technisch-wissenschaftlichen Anteils an den Mitteln der Medizin. Dies per se mit Instrumentalisierung, Anonymisierung und Verdinglichung gleichzusetzen, verkennt den Ansatzpunkt moderner biowissenschaftlicher und technischer Zugänge zum Phänomen Leben. Diese sind höchst erfolgreich. Eine zu personalistische Sichtweise führt zu antiszientistischen Vorurteilen, indem wissenschaftliche Objektivierung als Verdinglichung und Reduktionismus gebrandmarkt werden, Technisierung mit Instrumentalisierung identifiziert wird und Unnatürlichkeit als das Böse schlechthin gilt. Dies sind ideologische Totschlagargumente und beruhen letztendlich auf alten manichäischen Vorstellungen über Natur und Technik, einem Schwarz-Weiß-Denken.
3. ETHISCHE PROBLEME AM LEBENSANFANG 3.1 DER MORALISCHE STATUS DES EMBRYOS UND DIE LEIBLICHKEIT DER EMBRYONALENTWICKLUNG: DREI MODELLE Hinsichtlich des moralischen Status des menschlichen Embryos lassen sich drei Grundmodelle der ethischen Bewertung unterscheiden: (1) das Naturrecht, (2) der Gradualismus und (3) der Utilitarismus. Das erste Modell vertritt eine metaphysische Position in einer biologistischen oder in einer personalistischen Version, die gelegentlich miteinander vermischt werden. Dieses Konzept stellt die Kontinuität der menschlichen Person vom ersten Moment (wann immer dieser ist) bis zum Tod in den Vordergrund ihrer Argumentation und sieht das Wesen der menschlichen Person in seinen Genen präformiert. Die zweite Position betrachtet Menschsein als einen Entwicklungsprozess, in dem personales Menschsein (welches als anthropologische Voraussetzung ein menschliches Gehirn hat, welches als Grundlage für menschliche Personalität gesehen wird) in Entwicklungsstufen (Graden) erreicht wird. Gemäß der dritten Position ist personales Menschsein erst nach der Geburt realisiert. Der Utilitarismus vertritt daher keine nennenswerten Restriktionen im Umgang mit menschlichen Embryonen. Betrachten wir die einzelnen Positionen nun genauer und vergleichen sie miteinander. Modell 1 (Naturrecht) argumentiert folgendermaßen: Der Mensch wird biologisch durch die Gattung, molekularbiologisch durch das Genom, anthropologisch durch seine Mangelhaftigkeit oder sein Potenzial usw. definiert. Menschsein ist nicht eindeutig zu bestimmen. Ob mit der Gattung und dem Genom der Mensch nur biologisch definiert ist, ist unklar. Insofern können auch mehrere Formen von Menschenwürde unterschieden werden, ästhetische, soziale und verliehene, expressive, moralische und gattungsbezogene Würde. Somit gibt es eine Folgenindifferenz des Menschenwürdeprinzips (vgl. Knoepffler 2004, 25–41). Die Argumente, die in der Embryonendebatte im Vordergrund stehen, sind das Speziesargument, das Kontinuitätsargument, das Identitätsargument und das Potenzialitätsargument (kurz: SKIPArgumente). Das Speziesargument lautet: (1) Jedes Mitglied der Spezies Mensch hat Würde, (2) jeder menschliche Embryo ist Mitglied der Spezies Mensch; also (3) jeder menschliche Embryo hat Würde. Das Kontinuitätsargument lautet: (1) Jedes menschliche Wesen, das aktual Person ist, hat Würde, (2) jeder menschliche Embryo wird sich, unter normalen Bedingungen, kontinuierlich (ohne moralrelevante Einschnitte) zu einem menschlichen Wesen entwickeln, das aktual Person ist; also (3) jeder menschliche Embryo hat Würde. Das Identitätsargument lautet: (1) Jedes Wesen, das aktual Person ist, hat Würde, (2.1) viele Erwachsene, die aktual Person sind, sind mit Embryonen in moralrelevanter Hinsicht identisch, also (2.2) die Embryonen, mit denen sie identisch sind, haben Würde, (2.3) wenn irgendein Embryo Würde hat, dann alle, also (3) jeder Embryo hat Würde. Das Potenzialitätsargument
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
lautet: (1) Jedes Wesen, das potenziell Person ist, hat Würde, (2) jeder menschliche Embryo ist ein Wesen, das potenziell Person ist, also (3) jeder menschliche Embryo hat Würde. Diese Argumente gehören in gewisser Weise zusammen (vgl. Damschen, Schönecker 2003, 1–5). Das Kontinuitätsargument weist darauf hin, dass die Entwicklung des Embryos ohne moralrelevante Einschnitte vorangeht und greift implizit auf das Identitätsargument zurück. Identität unter moralischer Rücksicht ist aber nicht identisch mit genetischer Identität. Wer mit der genetischen Identität argumentiert, erreicht das Gegenteil von dem, was er eigentlich will. In der religiösen Tradition ist die Seele als Identitätsfaktor zu sehen, nicht die Natur eines Lebewesens. Gegen das Identitätsargument spricht, dass Identität relativ ist. Zu fragen ist: Inwiefern gibt es größere Übereinstimmungen zwischen einem gestrigen und heutigen Ich, als zwischen mir und einem Embryo. Nun ich bin meinem gestrigen Ich ungleich ähnlicher als einem Embryo (vgl. Damschen, Schönecker 2003, 135–144). Es gibt verschiedene Lesarten von Potenzialität, nicht alle überzeugen (vgl. Damschen, Schönecker 2003, 173). Zu unterscheiden sind: (1) Potenzialität als logische Möglichkeit (Positivität), (2) Potenzialität als Wahrscheinlichkeit (Probabilität) und (3) Potenzialität als dispositionelle Möglichkeit (aktive Potenzialität; vgl. Damschen, Schönecker 2003, 223). Dabei ist insbesondere die dispositionelle Möglichkeit im Hinblick auf die Embryonalentwicklung interessant. In dieser Form kann es Abgrenzungsprobleme lösen, spricht dann aber eher für einen Gradualismus. Hinsichtlich des Potenzialitätsargumentes muss passive und aktive Potenzialität unterschieden werden. Dabei ist es interessant zu überprüfen, inwiefern sich aktive Potenzialität gradualistisch verfeinern lässt. Eine dispositionelle Potenzialität ist die grundsätzliche Fähigkeit, eine Fähigkeit auszubilden. Der Gebrauch des Begriffs Individuum für die frühen Embryonalphasen ist nicht gerechtfertigt. Das Potenzialitätsargument ist abhängig von einer bestimmten Ontologie. Und das semantische Argument rekurriert auf die Unterscheidung von etwas und jemand (vgl. Knoepffler 2004, 59–71). Bei der Frage nach dem moralischen Status des Embryos will der Sinn, in dem der Ausdruck „Status“ verwendet wird, genau beachtet sein. Denn Status kann einerseits die Verfassung von etwas meinen, wie sie deskriptiv erfasst ist. Oder andererseits die Stellung bzw. der Standard, der jemandem zugemessen wird bzw. den jemand einnimmt. Dabei wird diese Frage gestellt, um die Antwort auf die Frage auszudrücken, als welches Gut der menschliche Embryo in vitro zu betrachten ist. Offenkundig ist, dass wir in Bezug auf den geborenen Menschen den Ausdruck „Mensch“ nicht nur in einem deskriptiven Sinne verwenden (vgl. Honnefelder 2002, 80–82). Die Vernunftbegabtheit wird als eine Art spezifische Eigenschaft verwendet, die für diese Art von Lebewesen nicht annähernd gilt bzw. kennzeichnend ist. Insofern es zum Menschen gehört, ein Lebewesen zu sein, das seiner Natur nach das Vermögen besitzt, selbst gesetzte Zwecke zu verfolgen, können wir den Menschen mit Kants Sprachgebrauch auch Person nennen und ihn im Hinblick auf den konkreten Willen, der ihm als Zweck an sich selbst zukommt, eine Würde zuschreiben. Damit wird deutlich, dass Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies, Identität, Kontinuität, Personalität und Potenzialität nicht voneinander getrennt werden können (vgl. Honnefelder 2002, 84– 91), allerdings nicht als Lebewesen (mit einem spezifischen Genom), sondern als
3.1 Der moralische Status des Embryos und die Leiblichkeit der Embryonalentwicklung
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leibhaft verfasster Mensch. Honnefelders spezifische Verknüpfung von naturalistischen und metaphysischen Schlüssen heben den Fehlschlusscharakter allerdings nicht auf, wie Honnefelder zu meinen scheint, sondern potenzieren ihn. Das Vermögen der Subjekthaftigkeit, das den moralischen Status des Menschen begründet, schreibt Honnefelder bereits bei der Verschmelzung von Samen und Eizelle dem Embryo zu (vgl. Honnefelder 2002, 109). Honnefelder interpretiert Subjektivität naturalistisch und metaphysisch, wenn er einer menschlichen Zelle nach ihrer Konzeption bereits Subjektivität zuspricht (vgl. Honnefelder 2002, 101). Die biologistische Variante des Naturrechtes vertritt einen Präformismus in der Embryonalentwicklung, insbesondere Blechschmidt 1976, nämlich die Auffassung, dass mit der Befruchtung das Wesen des Menschen in seiner individuellen Eigenheit einschließlich seiner seelischen Komponente gegeben sei. Entgegen diesem Fundamentalismus genetischer Art betont die Forschung heute gemäß dem Modell Epigenese die völlige Neubildung aller Teile des Organismus. Mit Blechschmidts Auffassung und der älteren Genetik wird das Wesen des Menschen mit der Codierung seiner Anlagen im Genom gleichgestellt, also eine Art von Präformismus vertreten. Heute wissen wir, dass es neben der genetischen Vererbung mindestens drei konkurrierende Systeme epigenetischer Vererbung gibt. Nur wenige Merkmale sind monogen. Hier erscheinen Vorstellungen eines strengen genetischen Determinismus noch einigermaßen berechtigt. Die meisten Merkmale hingegen sind polygen mit einer außerordentlichen Variationsbreite der Merkmalsauslösung. Der rätselhafteste Grundvorgang der Entwicklung ist die Morphogenese. Die Ausbildung der Form des Körpers im Ganzen wie in seinen Teilen ist eine Leistung embryonaler Zellverbände, die von vielen Faktoren abhängt. Die Menschenwürde spielt unter der Voraussetzung des personenzentrierten Ansatzes im philosophischen, theologischen, juristischen und medizinischen Diskurs eine wichtige Rolle, denn die mit ihr verbundenen Rechte, das Recht auf Leben, das Recht auf Selbstbestimmung (Autonomie I) und das Recht auf Forschungsfreiheit (Autonomie II) sind bei den Fragen nach der verbrauchenden Embryonenforschung, Forschung an embryonalen Stammzellen und dem Schwangerschaftsabbruch berührt. Unter der Annahme, dass Embryonen Personen sind, reguliert die Menschenwürde die Beantwortung der Frage in folgender Weise: Das Leben von Personen ist auf Grund der ihnen zugesprochenen Würde als Bedingung der Möglichkeit für Autonomie der konkreten Verwirklichung von Autonomie vorgeordnet. Es darf also nicht das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen oder seine Forschungsinteressen das Lebensrecht eines menschlichen Embryos (einschließlich der einzelnen totipotenten Zelle) verletzen. Des Weiteren gilt, dass das Forschungsinteresse dem Selbstbestimmungsrecht untergeordnet ist. Es darf also keine Forschung an Menschen gegen ihren Willen ausgeführt werden. Es darf aber auch keine Forschung an menschlichen Embryonen gegen den Willen ihrer Eltern, also in Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Eltern durchgeführt werden. Damit erweist sich die Menschenwürde als ein hilfreiches regulatives Prinzip, auch wenn es die zentrale ethische Entscheidung, ob wir nämlich dem Embryo eine personale Würde zusprechen oder nicht, aus sich heraus nicht beantworten kann (vgl. Knoepffler, Haneel 2000, 65 f.).
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
So einleuchtend der Gedanke auch erscheinen mag, eine Verletzung der menschlichen Würde mit der Instrumentalisierung eines Menschen gleichzusetzen, so führt er als Beweis genommen jedoch nicht weit. Nach allgemeiner Auffassung hat das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde absolute Geltung. Dies bedeutet, eine Verletzung der Menschenwürde darf niemals und unter keinen Umständen geduldet werden. Allerdings müsste man Instrumentalisierungen als solche unterscheiden. Neben dem Mann, der eine Frau vergewaltigt, um seine Lust zu befriedigen, gibt es beispielsweise auch die Frau, die mit einem Mann flirtet, um ihren Partner eifersüchtig zu machen. Müssen wir beide Handlungen nun gleichermaßen verurteilen, nur weil beide Handlungen gleichermaßen einen Menschen instrumentalisieren? Sicher nicht. Dass durch einen solchen Hinweis wenig gewonnen ist, wird spätestens dann klar, wenn wir Handlungen wie Mord oder Totschlag mit Handlungen wie Folter oder Geiselnahme vergleichen. Letztere enthalten offensichtlich eine Instrumentalisierung ihrer Opfer, erstere dagegen nicht. Für die Beurteilung ist dies jedoch ohne jeden Belang. Alle vier Handlungen stellen Verbrechen dar. In der bioethischen Diskussion hat der Begriff der Menschenwürde jedoch nichts verloren. Hier dient er fast ausnahmslos als ideologische Waffe, mit der man seine Gegner mundtot machen will. In Ermangelung eines Argumentes zieht man das Schlagwort einer Menschenwürde aus dem Ärmel, um die Diskussion zu beenden. Wer will schließlich auch weiter diskutieren, sobald eine biomedizinische Technologie einmal als grobe Verletzung der Menschenwürde entlarvt worden ist (vgl. Dahl 2010, 72 f.). Wer von einem inhaltlich zu eng definierten Begriff von Menschenwürde aus argumentiert, erhebt das eigene, gruppenspezifisch, kulturabhängig oder religiös interpretierte Verständnis des Menschen zu einem allgemeingültigen Begriff. Um dies zu vermeiden, ist der Begriff Menschenwürde als Voraussetzung sittlichen Handelns in gewisser Weise offen zu halten. Dann kann man zwar aus diesem Begriff keine klaren ethischen Grenzziehungen ableiten, aber es bleibt immerhin möglich, bestimmte Verletzungen oder Verstöße gegen die Menschenwürde zu vermuten oder namhaft zu machen (vgl. Borsi 1989, 19). Die Einsicht in die Personenwürde des Menschen und der damit verbundene Anspruch auf sittlich richtige Behandlung lässt von sich aus offen, worin diese jeweils besteht. Die Personenwürde nivelliert nicht die Unterschiede zwischen den Menschen (vgl. Schüller 1978, 541). Der Rückgriff auf die Personenwürde gibt kein Entscheidungskriterium an die Hand, wenn das Wohl der einen Person im Konkurrenzverhältnis zum Wohl einer anderen Person steht. Und das sind die sittlich relevanten Fälle in der medizinischen Ethik. Denn wenn ich z. B. angesichts einer Typhusinfektion den Infizierten isoliere, betrachte ich ihn als Instrument, falls nicht, dann die anderen, die von ihm infiziert werden. Bei derartigen Konflikten greift der Instrumentalisierungsvorwurf nicht. Sittlich relevant ist vielmehr die Frage, unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt sein könnte, zugunsten der einen Betroffenen anderen Nachteile zuzumuten (vgl. Schüller 1978, 552). Dieser Grundsatz ist daher durch die fundamentale Handlungsregel der Berücksichtigung der Patientenautonomie zu ersetzen. Der naturrechtliche Argumentationstyp in der Medizinethik (paternalistisch) arbeitet häufig mit dem Instrumentalisierungsverbot. Die These von der Selbst-
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zwecklichkeit menschlicher Personen und das Instrumentalisierungsverbot unterscheiden instrumentelles bzw. strategisches Handeln von kommunikativem oder sittlich zurechenbarem Handeln. Besonders klar tritt Immanuel Kants Argumentation in seiner Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zutage (Kant 1975, Bd. 6, 59–61). Kants Argumentation verbietet nicht jede Instrumentalisierung eines Menschen, fordert aber die personale Anerkennung des anderen als Person, da er potenziell sittlich zurechenbar Handelnder sein kann. Kants Position impliziert so auch ein Selbstinstrumentalisierungs-Verbot (mit gewissen Einschränkungen). Gerade diesem sittlichen Grundsatz könnte die Idee einer gentechnischen Vervollkommnung des Menschen widersprechen. Kant denkt dabei ausschließlich an den erwachsenen, aufgeklärten Menschen. Im Alltag nutze ich meinen Körper als Mittel des Überlebens, der Fortbewegung, überhaupt des technischen Handelns. Das Nachdenken über die Instrumentalisierung des eigenen Körpers unter Absehung von der eigenen Leiblichkeit zeigt die Berechtigung eines Verbotes der totalen Instrumentalisierung des eigenen Körpers, der die Leib-Perspektive marginalisiert oder zerstört, aber auch die Grenzen der Instrumentalisierungsthese. Auch bei Kant ist nicht jede Instrumentalisierung eines anderen Menschen unsittlich und schon gar nicht die des menschlichen Körpers überhaupt, z. B. die Verwendung beruflich speziell ausgebildeter Menschen zu eben diesen Zwecken. Plausibler ist das Verbot der Instrumentalisierung, wenn ein Mensch umfassend instrumentalisiert, etwa gentechnisch an das Leben im All angepasst werden soll. Aber das sind die falschen technischen Utopien. Intelligente Roboter werden derartige Aufgaben viel effizienter bewältigen. Wir werden also über erlaubte und unerlaubte Formen des gentechnischen Designs von Menschen in ihrer Leiblichkeit nachdenken müssen (vgl. Irrgang 2004). Kants Selbstzweckformel begründet das Verbot unzulässiger Instrumentalisierung. Aber unzulässige Instrumentalisierung verletzt nicht immer die Würde von Personen. Wer einen anderen versklavt, verletzt dessen Würde, wer durch ein falsches Versprechen einen anderen dazu bewegt, ihm Geld zu geben, tut dies nicht, wenngleich auch er falsch handelt. Würde begründet moralische Rechte. Dabei wird eine paradigmatische Verwendungsweise des Würdebegriffs vorausgesetzt, der auf einem Anspruch auf Selbstachtung beruht. Wer sich selbst achtet, achtet sein Recht, über wesentliche Bereiche seines Lebens verfügen zu können. Dabei ist der Anspruch auf Selbstachtung und Autonomie zu unterscheiden. Würde ist also nicht nur ein Wert, sondern ein Anspruch (vgl. Schaber 2010, 11–16). Der Andere wird bei Kant als Zweck an sich selbst angesehen, wobei dies auch im Common Sense der Fall ist. Zu berücksichtigen ist allerdings die Interpretationsbedürftigkeit des Begriffes „Zweck an sich selbst“. Wenn meine Interaktion mit einem anderen Menschen ausschließlich durch meine Interessen bestimmt ist, dann behandle ich ihn nicht als Zweck an sich selbst. Ein Gangster zum Beispiel, der eine andere Person als Geisel nimmt, betrachtet diese nicht als Person. Eine Person darf nicht bloß als Mittel betrachtet werden, allerdings könnte es Situationen geben, in denen der andere bloß als Mittel gebraucht werden darf, dann nämlich, wenn dadurch eine Katastrophe verhindert werden kann. Es ist etwas anderes, einen Menschen zu benutzen oder sein Eigentum (vgl. Schaber 2010, 17–22).
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
Wenn eine Person eine zentrale Rolle in der Hervorbringung fremder Zwecke spielt, kann von Instrumentalisierung die Rede sein. Prostitution ist eine solche Instrumentalisierung. Wenn jemand sich selbst prostituieren will, ist dann Selbst-Instrumentalisierung sittlich erlaubt? Die irrationale Zustimmung zum Gebrauch als Mittel begründet keine Erlaubnis. Sklaverei ist auch dann unerlaubt, wenn es dem Sklaven gut geht und er eigentlich zustimmt, denn in diesem Falle handelt es sich um eine moralisch unzulässige Zustimmung (vgl. Schaber 2010, 23–38). Wir haben einen deskriptiven und einen normativen Begriff von Würde zu unterscheiden. Im Hinblick auf deskriptive Würde gibt es kontingente Würdeformen. Die Demütigung eines Menschen verletzt seine Selbstachtung. Die Würde einer Person gründet gemäß Schaber im Anspruch auf Selbstachtung, auf Selbst-Wertschätzung. Selbstachtung ist eine Frage des Umgangs mit sich selbst. In diesem Zusammenhang kann ein moralisches Recht auf Grundversorgung formuliert werden (vgl. Schaber 2010, 61–60). Die freiwillige Selbstversklavung verdient keine Achtung. Wenn mich jemand bittet, dass ich ihn foltere oder erniedrige, so darf ich das nicht tun. Vor anderen zu kriechen verletzt die Selbstachtung, möglicherweise auch die Klugheit (vgl. Schaber 2010, 65–78). Ist die Würdezuschreibung also nur eine soziale Zuschreibung? Bei Kant ist es der gute Wille an sich, wirklich qualifizierte Freiheit, in dem die Würdezuschreibung gründet. Es ist die Achtung meiner eigenen Würde und nicht die Achtung der anderen. Diese Würde hängt für Kant mit unserer Moralfähigkeit zusammen. Selbstachtung ist also gemäß Kant Freiheit und Grund des Würdebesitzes. Die Fähigkeit zur Selbstachtung ist allerdings ein graduelles Phänomen. Kleinstkinder oder Embryonen ab der 25. Schwangerschaftswoche haben nach dem gradualistischen Konzept Würde aus ihrer zukünftigen Bestimmung als personale Menschen heraus. Man kann Embryonen Schutzwürdigkeit zuerkennen, ohne dass man ihnen Menschenwürde zusprechen müsste (vgl. Schaber 2010, 82–84). Bei einer absoluten Würde ist Würde nicht verhandelbar. Nach Kant verleiht Moralität die Würde im Sinne eines absoluten Wertes. Der kategorische Imperativ Kants begründet Menschenwürde abstrakt. Konkrete Normierungen folgen aus der Menschenwürde nicht. Dazu bedarf es näherer anthropologischer Überlegungen. Menschenwürde ist kein Ding an sich, sondern eine Perspektive, die kategorische Verpflichtungen und absolute Würde unterstellt. Die Grenzen der erlaubten Instrumentalisierung bestehen angesichts des Wertes der Menschenwürde dort, wo Instrumentalisierung die biologischen Grundlagen menschlicher Subjektivität und sittlicher Freiheit zerstört. Für eine anwendungsorientierte Medizinethik bedarf der Instrumentalisierungsvorwurf ergänzender Kriterien, für die Überlegungen anthropologischer Art herangezogen werden müssen. Patientenautonomie sollte nach meinem Dafürhalten nicht über den Würdebegriff, sondern leiblich-personal begründet werden. Fragen leiblichen Lebens und Sterbens als Anfang und Ende eines personal-leiblichen Lebens, das nicht identisch ist mit dem Beginn und Ende eines menschlichen Körpers, gehören zu den Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins als Voraussetzungen des menschlichen Praxisvollzuges und der Möglichkeit, sittlich zurechenbar handeln zu können. Unser leiblicher Vollzug ist auf Sprache und Wissen angelegt und begründet ein spezifisches In-der-Welt-Sein des Menschen. Der Mensch ist nicht nur ein Stück
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Fleisch. Die Leiblichkeit ist ein zentraler Grundzug einer existenzialen Anthropologie im 21. Jahrhundert (vgl. Irrgang 2009). Menschenwürde ist in diesem Kontext auch keine abstrakte Idee, sondern der Wert des Menschen in seiner verletzlichen Leiblichkeit. Zu ihr gehört die Geburtlichkeit wie die Sterblichkeit. Daher ist vorgeburtliche Leiblichkeit als Sonderfall von Leiblichkeit zu betrachten. Die Subjektivität eines Menschen können wir nur aus der Vollzugsperspektive, d. h. aus der Teilnehmerperspektive des halbwegs erwachsenen Menschen erschließen. Die Rekonstruktion geht vom Vollzug einer sittlichen Handlung aus, der allerdings ohne einen menschlichen Körper nicht möglich ist. D. h. kein Mensch kann moralisch handeln, ohne einen Körper zu haben. Insofern ist zur Bestimmung von Personalität das Ineinander-Verwobensein von menschlichem Körper und seiner Subjektivität (traditionell Seele oder Geist) für menschliche Handlungen konstitutiv. Der Handelnde versteht sein Handeln im Vollzug primär als geplantes Tun. Moralische Kompetenz ist eine Zuschreibung in der Vollzugsperspektive und somit grundsätzlich prä-diskursive Diskursbedingung. Eine Schwierigkeit, die Unterscheidung sprachlich plausibel zu machen, liegt darin, dass sich Askriptionen und Deskriptionen oberflächengrammatisch oft nicht unterscheiden. Die Askription (Zuschreibung) „ich bin krank“ lässt sich also als gleich strukturiert mit „er ist krank“ missverstehen. Die Ambiguität zwischen Deskriptionen und Askriptionen gehört zu den Verhexungen der Sprache, auf die Wittgenstein aufmerksam macht. Zu den weittragenden Folgen der Unterscheidung von Beschreibung und Zuschreibung gehört, dass sich das Problem des „naturalistischen Fehlschlusses“ in seiner üblichen Deutung auf Beschreibungen bezieht, jedoch nicht ohne weiteres auf Zuschreibungen. Der Handlungsurheber versteht sich in der Vollzugsperspektive selbst als praktisches Subjekt. Moralische Kompetenz ist in erster Instanz eine Zuschreibung. In der praktischen Philosophie muss Unbedingtheit der sittlich-normativen Verpflichtung im Sinne von Unabdingbarkeit gedeutet werden. Der Anspruch auf moralische Kompetenz soll durch nichts ersetzt werden können (vgl. Gethmann 1998, 139–141). Der übergreifende kulturelle Zusammenhang, in dem Leiblichkeit entsteht, ist normativer Natur, sowohl sozial institutioneller wie moralisch normativer Art. Die Gehirnentwicklung des Menschen ist die Quelle menschlicher Leiblichkeit, sie ist zugleich die Quelle unserer Kultur. Menschliche Leiblichkeit als conditio sine qua non für die Entwicklung menschlicher Personalität impliziert mit ihrem anthropologischen Potenzial indirekt moralische Würde. Die eigene Freiheit wird aber nicht im Hinblick auf Natur, sondern auf das eigene Machen Können erlebt. Von menschlicher Körperlichkeit kann von der Verschmelzung von Samen- und Eizelle bis zum Zerfall des Körpers im Grab gesprochen werden. Menschliche Leiblichkeit konstituiert sich durch die Ausbildung von Subjektivität und endet mit dem Gehirntod. Das Hirn als körperlicher Ort möglicher Leiblichkeit und Subjektivität umschreibt den Ort für die biologisch-körperliche Seite der Leiblichkeit. Leiblichkeit wird konstituiert durch Zeitlichkeit und Räumlichkeit, durch Endlichkeit, Entwicklung, Geburt und Tod. Leiblichkeit ist zuerst ein Erlebens- und Wahrnehmungsphänomen, ein Selbsterlebensphänomen. Embryonenforschung wie Studien zu Erforschung der menschlichen embryonalen Entwicklung haben zur Verbesserung der Fertilisation in der assistierten Re-
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produktion und zur Stammzellforschung geführt. Es handelt sich um biomedizinische Forschung vor der klinischen Anwendung und Überprüfung durch wissenschaftlich methodische Ergebnisse im Krankenhaus. Das Konzept des moralischen Status als solches ist falsch, denn es wird der menschlichen Natur in ihrer Dynamik nicht gerecht. Die Konzeption des anthropologischen Potenzials betrachtet die Entwicklung des einzelnen Menschen vor dem Hintergrund seiner Gattungsentwicklung, die in Kultur und Menschheitsgeschichte, also auch zur Moral führt und zu der Verpflichtung, das Individuum als einen Spezialfall der Gattung Menschheit zu interpretieren und von dort her sein anthropologisches Potenzial zu definieren. Wir leben unseren Körper und müssen ihn gebrauchen. Instrumentalisieren ist hier das falsche Wort. Dazu sollten wir unseren Körper gebrauchsfähig erhalten. Damit ist nicht gesagt, dass ein menschlicher Leib seine Würde verliert, wenn er nicht mehr wert ist, behandelt zu werden, aber möglicherweise, dass medizinische Maßnahmen ihren Sinn verlieren, wenn sie ihr Ziel nicht mehr erreichen können. Realisierbarkeit ist eine weit unterschätzte, handlungsorientierte ethische Grundregel. Angesichts der Dienlichkeit des menschlichen Körpers für die Leibkonstitution erscheint es ethisch durchaus gerechtfertigt, neben der Würde des Menschen bei der Bewertung der Behandlungspflicht auch die Frage nach dem Wert des menschlichen Lebens zu berücksichtigen. Das Konzept eines Wertes menschlichen Lebens muss das der Würde des Menschen nicht gleich ersetzen, wie dies John Harris vorschlägt. Im Gesundheitswesen lässt sich die Haltung, die eine Gesellschaft dem Menschen gegenüber einnimmt, am deutlichsten ablesen. Was verleiht dem menschlichen Leben Wert? Das Leben mancher Menschen ist zumindest in bestimmten Situationen zweifelsohne weniger wertvoll, da es in diesen in geringerem Maße wert ist, gerettet zu werden. Menschen sind grundsätzlich gleich, obwohl man fragen kann, welche Gründe wir dafür besitzen, zu bestimmten Zwecken Unterschiede zwischen ihnen zu machen (vgl. Harris 1995, 33–38). Die Würde des Embryos oder des Patienten ist nur ein Element in der Bewertung der Verantwortung, die professionell Handelnde in Heilberufen oder als Forscher übernehmen, wenn sie in einer bestimmten Art und Weise handeln oder dies unterlassen. Die Würde des Menschen erlaubt nur Gleichbehandlung. Also brauchen wir ein Kriterium, das Situationsangemessenheit ermöglicht. Das Wertkonzept sollte nicht gegen das Würdekonzept ausgespielt werden. Dem Lebenswertkonzept liegen fundamentale anthropologische Güter und Werte zugrunde. Es geht um das Leben in seiner Lustkomponente. Dies ist die erste Ebene. Dann folgt die Ebene der Gesundheit mit seiner Glückskomponente und schließlich die Leiblichkeit, das Verfügen Können über den menschlichen Körper inklusive klinischer Funktionen und psychischer Gesundheit. Und als vierte Dimension kommt dann soziale Leiblichkeit mit ihrer Dimension der Sexualität und Kommunikation. Möglicherweise ist noch ein fünfter Bereich zu unterscheiden, nämlich der künstlerische Ausdruck. Eine anthropologisch leibliche Interpretation des Natürlichen ist anzustreben, nicht bloß in seiner biologisch medizinischen Dimension. Die Position des Lebensschutzes von Anfang an ist konsequent, aber fragil. Sie kriminalisiert die Abtreibung und die Verhinderung der Einnistung, die als Abtreibung betrachtet wird. Das Instrumentalisierungsverbot betrifft dabei jeden techni-
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schen Umgang mit Embryonen und ist letztendlich zu unspezifisch. Die Gattungssolidarität wird pragmatisch begründet, stellt aber de facto nur einen schwachen Schutz dar. Voraussetzung für das abgestufte Lebensrecht ist die Einsicht in die Prozesshaftigkeit der Entstehung und Entwicklung der befruchteten Eizelle zum Menschen (vgl. Prüfer, Stollorz 2003, 54–61). Bereits in der Abtreibungsdiskussion wurde der moralische Status des Embryos kontextlos und metaphysisch diskutiert. Menschenwürde gehört nicht zu den Hauptthemen der philosophischen Ethik. Mit Freiheit, Glück, Tugend, Willen oder Lust kann es jedenfalls nicht konkurrieren. Dazu kommt die Befürchtung, das Prinzip sei so stark an die europäische Kultur, insbesondere ihren jüdisch-christlichen Anteil gebunden, dass es nicht interkulturell gültig sei (vgl. Höffe 2002, 111). Die Sonderstellung des Menschen ist ein Privileg, das man schon mitbringt, und eine Verantwortung, die man noch tragen muss; sie ist ein Mitbringsel und eine Aufgabe zugleich. Deshalb könnte man die Sonderstellung als angeboren bezeichnen. Als angeborenes Privileg ist sie eine unverdiente Würde, die allen Menschen zukommt, während sie als angeborene Verantwortung von jedem noch verdient werden muss. Die Menschenwürde ist ein Privileg, dessen man durch seine Lebensweise würdig werden soll und das trotzdem auch der Unwürdige nie verliert (vgl. Höffe 2002, 116 f.). Einen absoluten Wert besitzt dagegen niemand, es sei denn ein Wesen absoluter Vollkommenheit. Das ist jedoch nicht der Mensch, sondern allein ein Gott (vgl. Höffe 2002, 120). Nicht schon als animal rationale, sondern erst als animal morale besitzt der Mensch inneren sittlichen Wert. Dass Abtreibung in den meisten Ländern mittlerweile rechtlich unter bestimmten Auflagen zulässig ist oder zumindest straffrei bleibt, ist nicht ohne Auswirkungen auf die Bioethik geblieben. Dies war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass bestimmte Grenzen überhaupt überschritten werden konnten. Die Menschenwürde und ihre Begründung ist das eine, die Frage nach der Menschenwürde als Entscheidungshilfe für medizinethische Fragen ist das andere Problem (vgl. Knoepffler 2004, 1–6). Die Pluralität moralischer Einstellungen hat neue Freiheitsspielräume gebracht. Auf der anderen Seite hat sie die Suche nach einem gemeinsamen Band zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen Basisüberzeugungen erforderlich gemacht. Der normative Begriff der Menschenwürde nimmt in der deutschen Verfassung und wichtigen internationalen Übereinkommen eine prominente Stellung ein und wirkt damit auch rechtlich normorientierend. Er findet sich auch in der Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1945 und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948. Menschenwürde als Konstitutionsprinzip umfasst das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2), das Recht auf Selbstbestimmung (GG Art. 2), das Recht auf Gleichheit (GG Art. 3), das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (GG Art. 4) und das Recht auf Forschungsfreiheit (GG Art. 5). Dabei kann die Pflichtdimension im Begriff der Menschenwürde als Eindämmung des Selbstbestimmungsrechtes interpretiert werden (Knoepffler 2004, 7–13). Ein Problem stellt die Vieldeutigkeit des juristischen Menschenwürdebegriffs dar. Modell 2 (Gradualismus) geht auf den Warnock-Bericht zurück, den das „Department of Health and Social Security Report of the Community of Inquiry into Hu-
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man Fertilisation“ 1984 formuliert hatte (Warnock 1984). Es ist die Rechtsregelung, die scharfe Zäsuren verlangt und damit Dezisionen erzwingt. Gegen den Gradualismus wird das Kontinuitätsargument angeführt, das biologisch einsichtig sein mag, damit aber nicht automatisch einsichtig ist für die menschliche Entwicklung der Personalität. Dieses Kontinuitätsargument ist selbst Gegenstand von Zweifelsargumenten. Außerdem muss zur Begründung von Personalität ein Vollzug unterstellt werden, der an ein menschliches Gehirn gebunden ist. Es ist nachweislich bei der Konzeption noch nicht vorhanden. Der Beginn des Hirnlebens kann medizinisch nicht mit der gleichen Eindeutigkeit wie der Hirntod beschrieben werden. Dies ist allerdings kein Einwand gegen eine philosophische Position. Die Frage, wann menschliches Leben beginnt, unterstellt bereits eine biologistische Sichtweise. Die entscheidende Frage ist vielmehr die: ab wann wird der menschliche Körper zum schutzwürdigen menschlich-personalen Leib. Die biologische Embryonalentwicklung des Menschen und ihr anthropologisches Potenzial, Personalität und Subjektivität auszubilden (welche die Würdezuschreibung zu begründen vermag), sind bei der Bewertung der Schutzwürdigkeit der menschlichen Leibesfrucht zu berücksichtigen. Das menschliche Gehirn ist die biologische Voraussetzung zumindest für den impliziten Vollzug von Ichhaftigkeit, Selbst-, Todesund Leibbewusstsein. Der genaue Zeitpunkt, ab dem das anthropologische Potenzial des menschlichen Gehirns für die Ausbildung von Subjektivität und Personalität entwickelt genug ist, ist unbekannt. Vielleicht bringt die fortschreitende Gehirnforschung in Zukunft mehr Klarheit. Bis dahin müssen wir von unserem leiblichen Vollzug ausgehen, in dem wir uns vorfinden, wenn wir reflektieren. Eine vorsichtige Rekonstruktion früherer Vollzüge in Parallelität zur Ausbildung körperlicher Kompetenzen möglicherweise bis in vorgeburtliche Zustände ist alles, was wir bislang haben. Potenzialität als dispositionelle Möglichkeit setzt aber den menschlichen Leib voraus, d. h. also ein zumindest implizites Wissen um sich selbst. Gradualistische Ansätze setzen ein anderes Konzept des Menschseins und eine andere Erkenntnistheorie als das Naturrecht voraus. Um naturalistische Fehlschlüsse zu vermeiden, wird das Konzept einer anthropologisch-leibhaften Potenzialität eingeführt, die über die biologische Potenzialität des Embryos hinausgeht (denn der Mensch ist letztlich ein biologisches und ein kulturelles Wesen). Dieses orientiert sich nicht am biologischen Prozess menschlicher Individualentwicklung, sondern am menschlichen Vollzug der eigenen Körperlichkeit als menschliche Leiblichkeit (auch im Embryonalstadium), um den Übergang vom deskriptiven Status (Beschreibung der vorgeburtlichen Entwicklung des menschlichen Körpers) zum askriptiven Status (Zuschreibung von Schutzwürdigkeit und Menschenwürde) begründen zu können. Menschliche Leiblichkeit ist conditio sine qua non für den Vollzug von Freiheit (Autonomie) und Sittlichkeit (kategorischer Verpflichtung). Die Mitgliedschaft in einer Gattung Mensch begründet nicht die Zuschreibung sittlicher Menschenwürde, sondern die Zugehörigkeit zur Menschheit, einer naturalen wie kulturellen Kategorie. Ein solches Verständnis menschlicher Potenzialität stellt daher keine speziesistische Begründung des Wertes des Menschen dar. Vernunftbegabtheit oder Moralität als artspezifische Zuschreibungen sind abstrakt (und letztlich mindestens genauso kulturell wie natural bedingt) und haben nicht den glei-
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chen Wert wie individuelle menschliche Dispositionen oder Kompetenzen. Menschliche Körperlichkeit unterliegt nicht einem prinzipiellen Instrumentalisierungsverbot, vielmehr begründet seine Leiblichkeit Würde und Wert. Im Gehirntod stirbt ein menschlicher Leib in seiner Ich-Haftigkeit und Subjektivität. Der korrespondierende menschliche Körper kann erhalten werden und sollte dann zwar nicht völlig beliebig (sondern als menschliche Leiche) behandelt werden, aber darf doch in größerem Umfang instrumentalisiert werden als eine menschliche Person. Biologische Prozesshaftigkeit der Embryonalentwicklung ist zu unterscheiden von anthropologischer Potenzialität in der Entwicklung eines Menschen, bei dem von Personalität gesprochen werden darf. Diese setzt die Kompetenz des Vollzugs von Ichhaftigkeit und Subjektivität, also die ansatzweise Integration des menschlichen Gehirns in den Vollzug der Entwicklung eines Menschen voraus. Die Zuschreibung von Menschenwürde ist ein Anerkennungsakt, man kann die Verpflichtung für diesen nicht aus der Embryonalentwicklung ablesen. Mit der Befruchtung ist ein Genom festgelegt, aber nicht die konkrete leibliche Kompetenz oder Disposition (anthropologische Potenzialität) zu einem individuellen und subjekthaften Menschsein. Solange zwei konkrete individuelle Menschen aus einem Genom entstehen können (eineiige Zwillinge z. B.), ist die individuell-personale Bedeutung dieses Genoms gering. Das traditionelle metaphysische Denken betont den zeitlichen Anfang und einen abstrakten Potenzialitätsgedanken zu stark. Das menschliche Genom ist weder mit einer spezifischen individuellen Leiblichkeit noch mit Personalität zu identifizieren. Die genetische Individualität bestimmt nicht den Spielraum, in dem sich menschlich-personale Identität entwickelt, schon gar nicht naturgesetzlich. Die Einbettungsfaktoren für Embryonalentwicklung genetischer, zellbiologischer, ökologischer, sozialer und kultureller Art wurden im Konzept des genetischen Determinismus zu Unrecht vernachlässigt. Artspezifisches menschliches Leben entsteht mit der Befruchtung. Jedoch ist schon diese in sich kein bestimmbarer Moment, sondern ein Vorgang, der immerhin 24 Stunden braucht, bis sich die mit dem väterlichen und mütterlichen Chromosomenhalbsatz eingebrachten Erbanlagen in der ersten Furchungsteilung zum neuen Genom formieren. Das Genom ist aber noch nicht der Embryo, sondern seine codierte Anlage, die Furchungszellen sind in ihrem Schicksal noch nicht determiniert (vgl. Hinrichsen 1993, 32). Erst im Vier- oder Achtzellstadium setzt die Transskription des neu zusammengesetzten Zygotengenoms und damit die Produktion von embryoeigenen Proteinen ein. Erst von diesem Zeitpunkt an kann also das Genom des Embryos Einfluss auch auf seine eigene weitere Entwicklung nehmen. Man spricht daher vom möglichen Beginn der genetischen Selbststeuerung. Vermutlich werden zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal unterschiedliche genetische Programme aktiviert. Man spricht hier von der Furchung (vgl. Damschen, Schönecker 2003, 269–273). Am Ende der zweiten Entwicklungswoche schließt sich die Gebärmutterschleimhaut über der eingedrungenen Blastozyste. Die Entwicklungsphase zwischen Anheftung und Schleimhautverschluss wird unter dem Begriff Implantation oder Nidation (Einnistung) zusammengefasst. Sie beginnt am sechsten Tag nach der Befruchtung und ist etwa am 16. Tag abgeschlossen. Das ist der eigentliche
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Beginn der Schwangerschaft. Der Embryoblast hat in dieser Phase der Entwicklung die Form einer Scheibe und wird auch als Keimscheibe bezeichnet. Auf der Grundlage der ersten Achsenorganisation kommt es schließlich zwischen der ersten und vierten Entwicklungswoche durch lokale Wechselwirkung zwischen den drei Keimblättern zur Entwicklung der Organsysteme und zur Ausprägung der embryonalen Körperform. Gegenwärtige Vorstellungen über die Zwillingsbildung aus einer Zygote (eineiige oder genetisch identische Zwillinge) gehen davon aus, dass sich in einem Keim zwei Organisationszentren (Primitivknoten) ausbilden (vgl. Damschen, Schönecker 2003, 273–275). Die eigentliche Individuation ist mit der Ausbildung der ersten axialen Strukturen und der Zuordnung des Materials der Keimscheibe zu einer (oder zwei) zukünftigen körperlichen Gestalten erst am 16. Tag abgeschlossen und zugleich der letzte Zeitpunkt einer möglichen Bildung eineiiger Zwillinge. Sie ist nach der Befruchtung der wohl entscheidende Vorgang, der den Beginn der Entwicklung eines menschlichen Individuums morphologisch anzeigt. Die Ablösung von der Keimscheibe ist der Vorgang, der eine Embryogenese im Sinne der Bildung einer körperlichen Gestalt definitiv vorbereiten soll. Es ist durchaus angebracht, über die Vorentwicklung des zentralen Nervensystems hinaus diesen Grundvorgang einer Körperbildung als Individuation zu bezeichnen. Die Ordnung allen Zellmaterials in den Grundplan einer zukünftigen körperlichen Gestalt ist der eigentlich entscheidende Vorgang der Embryogenese. Die Neuralplatte kann bei menschlichen Embryonen bereits am 16. Tag nachgewiesen werden. Die kritische Periode für die Ausbildung des Neuralrohres ist der 22. bis 24. Tag. Am 24. Tag kann die Anlage für Anenzephalie entstehen (vgl. Hinrichsen 1993, 445). In der 12. Woche liegt die menschliche Gestalt vor, aber die Organe haben ihre Funktion noch nicht übernommen. Anzeichen einer Differenzierung der Hirnrinde ergeben sich, wenn um den 54. Tag erste Neuronen ihre Wanderung beenden. Immerhin kann man den Beginn der Bildung definitiver Neuronen oder den Beginn synaptischer Verschaltungen zwischen dem 70. und 80. Tag als vorgeburtlichen Zeitpunkt heranziehen, der in Analogie zum Hirntod bei der Todeszeitfeststellung die Bedingungen der Möglichkeit eines Funktionsbeginns der Großhirnrinde markiert (vgl. Knoepffler 2004, 53–55). Die Periode von der 25. zur 32. Schwangerschaftswoche ist gemäß der Entwicklung des Kortex die Zeit, während der der Fetus die Eigentümlichkeit des Menschseins erwirbt (vgl. Morowitz, Trefil 1992, 119). In der 25. Woche lässt sich eine im EEG deutlich als Gehirnstrommuster erkennbare organisierte elektrische Aktivität feststellen. So kann man davon ausgehen, dass das menschlich-personale und leibhaft konstituierte Leben irgendwann nach der 25. Woche entsteht. Bewusstsein entwickelt sich allem Anschein nach sehr früh, aber niemand weiß genau wann. Es gibt keinen isolierten Augenblick, an dem menschlich-personales Leben beginnt (vgl. Silver 1998, 71–85). Auch bei anderen großen Säugetieren ist die Hirnoberfläche gefaltet, so bei Walen, Hunden oder Menschenaffen, bei jeder Art in einer für sie charakteristischen Weise. Der Unterschied hängt damit zusammen, dass die Hirnrinde bei größeren Säugern mehr Platz benötigt, als der Schädel bietet. Besonders ausgeprägt ist das beim Menschen: Seine Großhirnrinde würde ausgebreitet etwa das Dreifache der Schädelinnenfläche aufspannen. So stellt sich die Frage, warum die großen Hirnwindungen in der
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Regel bei allen Menschen ähnlich aussehen, die kleineren Windungen aber stark variieren. Dafür wurden schon früh biomechanische Ansätze entwickelt. Beim menschlichen Fötus ist die Hirnoberfläche bis in den 6. Monat hinein noch ziemlich glatt. Erst im späteren zweiten Trimester beginnt sie sich zu falten. Zum Zeitpunkt der Geburt ist diese Entwicklung weitgehend abgeschlossen. Der Kortex besitzt jetzt in etwa seine endgültigen Windungen (vgl. Hilgetag, Barbas 2009, 60 f.). Während der ersten Schwangerschaftshälfte findet eine frühzeitige Reifung einer Struktur des limbischen Systems statt, deren Nervenfasern fast ausschließlich in den Hippocampus ziehen. Das legt nahe, dass hier schon bestimmte neuronale Schaltkreise funktionieren. Außerdem bestätigen Autopsien von menschlichen Embryonen und Neugeborenen, dass im Bereich des Hippocampus bereits alle Elemente vor der Geburt vorhanden sind. Alles in allem ähnelt das Gedächtnis offenbar bereits bei der Geburt dem eines Erwachsenen (vgl. Pascalis 2005, 60). Wir sind zugegebenermaßen noch weit entfernt davon, die präzisen Mechanismen benennen zu können, die dazu geführt haben, Gehirne auch bei anderen Arten aufzubauen. Dennoch können wir heute schon einige Rahmenbedingungen einer solchen Theorie des menschlichen Geistes formulieren. Die entwicklungspsychologische Perspektive zeigt, dass menschliche Kognition sowohl in ihren sensomotorischen wie sprachlichen Komponenten (vgl. Karmiloff-Smith, Clark 1993, 575–579) sehr speziell ist (vgl. Irrgang 2007b und 2009). Die Geburt begründet eine neue Form der anthropologischen Potenzialität durch die Unabhängigkeit von der Mutter. Nicht mit einem Schritt, sondern mit einer Vielzahl aufeinander bezogener und voneinander abhängiger Schritte erreicht der sich entwickelnde Mensch die biologischen Voraussetzungen (Gehirnentwicklung) für die Entwicklung von Subjektivität bzw. Ichhaftigkeit oder einer personalen Existenz. In der frühen Embryonalentwicklung liegt auch beim Menschen nicht nur Wachstum oder Ausdifferenzierung vor (wie etwa nach der Geburt), sondern echter Gestaltwandel. Scharfe zeitlich bestimmbare Zäsuren liegen nicht vor, aber unterschiedliche Organisationsstrukturen des Menschseins (anthropologische Potenzialitäten). Der Augenblick, in dem ein Jugendlicher rechtsmündig wird, ist nicht weniger willkürlich gewählt als die Frist bei der Fristenlösung in der Abtreibungsfrage. Daher hat sich gemäß der epigenetischen Deutung menschlicher Embryonalentwicklung in der ethischen Diskussion der Gradualismus herausgebildet (vgl. Irrgang 1995, 207–231). Potenzialität wird in der naturrechtlichen Argumentation immer als positiv unterstellt. Dies ist unrealistisch. Viele menschliche Keime tragen negative Potenzialitäten in sich und werden daher von der Natur nicht zur Einnistung „zugelassen“. Der menschliche Keim vor der Einnistung (Präembryo) und danach als Embryo (noch ohne menschliche Gestalt) ist zu unterscheiden. Weitere Differenzierungsmöglichkeiten bietet die Gehirnentwicklung. Anthropologische Potenzialität und Grad der Schutzwürdigkeit korrelieren im Gradualismus. Stufe (1) ist charakterisiert durch die Spezifität eines individuellen menschlichen genetischen Codes mit Abschluss der Verschmelzung von Samen und Eizelle (nach dem 1. Tag). Dieses genetische Programm ist in einem Keim material realisiert, aus dem sich nicht nur der neue Mensch, sondern auch die Gebärmutter herausbildet. Es realisiert sich
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gemäß dem epigenetischen Modell nicht linear-deterministisch, sondern auch aufgrund von Außeneinflüssen aus dem mütterlichen Organismus ab dem Vier-ZellenStadium. Dieses genetische Programm muss nicht zwangsläufig zur Entwicklung eines menschlichen Individuums führen. Viele der in einem Keim vorliegenden genetischen Programme erreichen nicht einmal das Stadium der Einnistung und eines biologisch-menschlichen Individuums (ca. 50 bis 60 %), andere werden zu Anenzephalen (ohne Möglichkeit der Ausbildung von Subjektivität), zu zwei menschlichen Individuen oder gar zu Tumorgewebe. Stufe (2) kennzeichnet biologische Individualität eines menschlichen Organismus nach Abschluss der Nidation und Ablösung von der Keimscheibe (14.–16. Tag). Phase (3) beginnt in der 12. Woche. Hier liegt die menschliche Gestalt vor, aber die Organe haben ihre Funktion noch nicht übernommen. Spezifisch menschliche Gehirnfunktion als Beginn der Phase (4) mit entsprechender Aktivität von Synapsen, im EEG messbarer Tätigkeit des fetalen Gehirns geben ein biologisch-medizinisches Kriterium für die Fähigkeit, Subjektivität auszubilden und ermöglicht extrauterine Überlebensfähigkeit (24.–26. Woche). Mit (5) der Geburt entsteht ein „autonomes“ menschliches Individuum mit der Unabhängigkeit von der Mutter mit den biologischen Voraussetzungen dafür, Kultur und Moral auszubilden (36. Woche). Dieses Konzept korreliert die stufenweise Herausbildung biologisch-körperlicher Merkmale und Verhaltensdispositionen (insbesondere des menschlichen Gehirns), der Entwicklung von menschlicher leiblich eingebetteter Subjektivität und Personalität. Für diese Theorie ist die menschliche Person keine Substanz, die bereits in der Keimzelle präformiert und monadenhaft ihre ganze Entwicklung in sich enthält, sondern das anthropologische leibliche Potential manifestiert sich in Phasen, die sich voneinander abgrenzen lassen. Entscheidend ist für die Schutzwürdigkeit mit hoher Dringlichkeit Personalität und Subjektivität, die im menschlichen Gehirn und seiner Entwicklung ihre naturalen Vorausbedingungen hat. Entscheidend wird für die Bewertung der menschlichen Personalität die sich entwickelnde Gestalt eines menschlichen Gehirns, welches Subjektivität und darauf basierend letztlich Moralität als sittlich zurechenbares menschliches Handeln entwickelt (vgl. Brown 2007, 592). Gemäß dieser Position bleibt die Erklärungslücke zwischen dem moralischen Wert und der Gattungszugehörigkeit als biologischer Tatsache erhalten (vgl. Brown 2007, 594). Insbesondere wird der dynamische Charakter der menschlich-personalen Entwicklung betont. Eine solche Position anerkennt eine Befähigung des Menschen für Personalität bereits beim Anfang, setzt ihre Realisierung aber erst in späteren Phasen der personalen Entwicklung an (vgl. Brown 2007, 597). Letztlich lassen sich die ethischen Probleme der Embryonenforschung mit dem Hinweis auf den moralischen Status nur dann lösen, wenn wir Unantastbarkeit und Personalität als einen dynamischen Prozess subjektiver Art begreifen und nicht gattungsmäßigbiologisch begründen (vgl. Brown 2007, 605). Modell 3, der Utilitarismus oder gar der Präferenzutilitarismus Peter Singers als Alternative zur naturrechtlichen Argumentation begründet das Tötungsverbot mit zwei Argumenten: (1) dem Schadensargument, wonach der Tod eines Menschen ein
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großes Übel sei, weil er seinen Lebenswunsch durchkreuze, und (2) das utilitaristische Nutzensummenargument, wonach man die Menge an Lust- und Wunschbefriedigung in der Welt verringere, wenn man ein Wesen töte. Beide Argumente sind aber miteinander nicht so leicht zu vereinbaren. Schaden könne man einem Lebewesen nur, wenn es über bestimmte relevante Fähigkeiten verfügt, z. B. über die Fähigkeit, einen Lebenswunsch zu entwickeln (vgl. Holzhey, Leyvraz 1991, 145 f.). Erlaubt sei nach der utilitaristischen Argumentation daher das Töten eines dauerhaft empfindungslos gewordenen und bleibenden Wesens, z. B. eines anenzephalen Säuglings. Und dies gelte, obwohl er zur vernunftbegabten Spezies homo sapiens gehört, individuiert und genetisch einzigartig ist und mit Beginn des 4. Schwangerschaftsmonats auch in gewissen Grenzen empfindungsfähig ist. Die Schmerzempfindlichkeit begründe nur ein prima-facie-Recht auf Schmerzfreiheit, aber kein Lebensinteresse und kein Lebensrecht. Auch das Potenzialitätsargument kann nur in Verbindung mit einem Identitätsargument auftreten. Doch was besagt schon die organismische Identität zwischen einem Embryo und einem geborenen Menschen für moralische Fragen (vgl. Holzhey, Leyvraz 1991, 118)? Legt man eine utilitaristische Argumentation zugrunde, dann lassen sich Lebens(un)wert-Urteile nicht vermeiden, wenn sie auch aus der Perspektive des Betroffenen gefällt werden. Da es inkonsequent ist, bei vollem Lebensschutz für das Ungeborene mit der Zumutbarkeit für die Mutter zu argumentieren, ist Schutzwürdigkeit abzustufen. Dieter Birnbacher bemängelt an der bioethischen Debatte insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, dass der Blick auf die konkreten Umstände des menschlichen Wesens in seiner Erkrankung häufig genug zu knapp und zu undifferenziert ausfällt. Eigentlich wäre der Gegenstand der bioethischen Debatte die menschliche Autonomie, stattdessen aber habe sich die Naturwüchsigkeit von Menschen und ihr Schutz in Deutschland leider in den Vordergrund gedrängt. Das ließe sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Menschenwürde bei der neuen Schlüsseldebatte um die Biomedizin in den Vordergrund getreten sei, obwohl diese angesichts der Problematik in der Regel mit der Begründungslast überfordert ist. Vielmehr müssten die Anwendungsbedingungen und ihr normativer Gehalt im Hinblick auf Menschenwürde untersucht werden. Das Recht auf ein Minimum an Lebensqualität im Sinne von Leidensfreiheit scheint Birnbacher viel wichtiger zu sein als die naturrechtliche Begründung der Menschenwürde. Würde ist für Birnbacher ein bedeutsamer und unverzichtbarer Wertgesichtspunkt eines rekonstruktiven Modells der Bioethik. Birnbacher begründet ihre Position nicht aus abstrakten Prinzipien und nicht aus apriorischen Überlegungen, sondern aus der Rekonstruktion der faktisch verbreiteten moralischen Überzeugungen und Plausibilitäten. Der Typus der rekonstruktiven Ethik begegnet uns bereits in der Antike bei Aristoteles (vgl. Birnbacher 2006b, 35 f.). Der Personenbegriff wird in der Philosophie in einer verwirrenden Vielfalt von Bedeutungen verwendet. Typischerweise wird der Personenbegriff in den Diskussionen innerhalb der Bioethik als gemischt normativer Begriff verwendet, das heißt als ein Begriff mit sowohl deskriptiven als auch präskriptiven Anteilen. Personalität wird allgemein an Kriterien der Vernunftfähigkeit i. S. von kognitiven Fähigkeiten und moralischen Fähigkeiten gebunden (vgl. Birnbacher 2006b, 57–59). Personali-
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tät in Fähigkeiten zu fundieren muss vom angestrebten Ziel – der Deckungsgleichheit der Begriffsumfänge von Mensch und Person – zwangsläufig wegführen. Für jede Fähigkeit lassen sich Wesen angeben, die im biologischen Sinne menschlich sind, aber jene Fähigkeiten nicht haben. Wir unterscheiden zwischen der Anlage, dem Besitz und der Ausübung einer Fähigkeit. Fähigkeiten sind Dispositionseigenschaften, die einem Subjekt auch dann zugeschrieben werden können, wenn es sie nicht aktualisiert. Andererseits reicht aber die bloße Anlage zum Zusprechen der Fähigkeit nicht aus. Nicht jeder, der zum Klavierspielen begabt ist, kann Klavier spielen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass, wenn der Personenstatus an bestimmte Fähigkeiten gekoppelt wird, der Besitz dieser Fähigkeiten – und nicht der Besitz der Fähigkeiten zum Erwerb dieser Fähigkeiten – über den Personenstatus entscheidet (vgl. Birnbacher 2006b, 57–63). Die Zuschreibung von moralischen Rechten macht einen Organismus weder zur Person, noch ist sie davon abhängig, dass er Personenstatus besitzt. Ist die enge Koppelung der Zuschreibung von moralischen Rechten mit der Zuschreibung von Personalität einmal gelöst, löst sich auch der Anschein der Homogenität der Gründe für die Zuschreibung von Rechten auf. Der Rückgriff auf den Personenbegriff spiegelt eine nicht bestehende semantische Bestimmtheit vor. Einen wichtigen Grund gegen den Vorschlag des Gradualismus sieht Birnbacher allerdings darin, dass sich ein abgestufter Begriff von Personalität sehr weit vom alltagssprachlichen Begriff der Person entfernt (vgl. Birnbacher 2006b, 69–74). Mein Vorschlag nimmt die Abstufung jedoch im Vorfeld von Subjektivität und Personalität vor und versucht, naturale Entwicklung des Menschseins mit kulturell-moralischer zu korrelieren. Birnbacher meint, dass man zur Begründung der (begrenzten) Schutzwürdigkeit des frühen Embryos einen grundsätzlich anderen Ansatz wählen muss als den über die Postulierung absoluter Rechte, eines absoluten Werts oder einer nicht abwägbaren Unantastbarkeit des Embryos. Man sollte anerkennen, dass der Status des Embryos seine Grundlage nicht in irgendwelchen inhärenten Eigenschaften hat, sondern in den sozialen Bedeutungsgehalten, die andere mit ihm verbinden, und die ihrerseits eng mit affektiven Haltungen und projektiven Besetzungen zusammenhängen. Birnbacher schlägt also das Prinzip der Pietät im Umgang mit Frühstadien des menschlichen Lebens vor. Das Prinzip der Pietät wird den symbolischen Wertigkeiten des Embryonenschutzes eher gerecht. Wie der Leichnam ein Symbol der Person zu Lebzeiten ist, ist der frühe Embryo ein Symbol des Lebens, dessen Potenzial er in sich trägt. In jedem Fall ist eine Strategie der Minimierung von Konflikten erforderlich. Ein Dogmatismus der Freiheit der Forschung um jeden Preis kann nicht besser sein als ein Dogmatismus der Heiligkeit des Lebens (vgl. Birnbacher 2006b, 372 f.). 3.2 REPRODUKTIONSMEDIZIN UND ASSISTIERTE FORTPFLANZUNG ALS EINFALLSTOR FÜR DAS DESIGN VON MENSCHEN Der Versuch der Kontrolle der eigenen Reproduktion ist so alt wie die Menschheit selbst (vgl. Bayertz 1987, 29). Nun wird dies mit viel Klugheit, Technik, Hormonen, Geld und Zeit bei der Fortpflanzungsmedizin fortgesetzt – und das bei einer
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Erfolgsrate von 15–20 %. Umstritten ist, ob es sich bei der Kinderlosigkeit um eine Krankheit handelt oder nicht. Nach der einschlägigen Definition der WHO gilt die Unfähigkeit sich fortzupflanzen als Krankheit (Eser u. a. 1989, 348). In Mitteleuropa sind 15–20 % der Ehen steril (vgl. Schlagheck 1989, 7) mit deutlich wachsender Tendenz. Für die steigende Anzahl von Paaren, die unter ungewollter Kinderlosigkeit leiden, ist eine Reihe von gesellschaftlichen Faktoren mitverantwortlich: freieres Sexualverhalten und Verhütungspraktiken, verschlechterte Umweltbedingungen, Belastungen am Arbeitsplatz, die Tendenz, Elternschaft ins höhere Alter zu verlegen. Die Folge davon ist die dramatische Abnahme der Zeugungsfähigkeit in den letzten fünfzig Jahren auf die Hälfte (vgl. Schlagheck 1989, 16). Die Ursachen für eine Unfruchtbarkeit können beim weiblichen, beim männlichen oder bei beiden Partnern liegen. In 40–50 % der Fälle liegt die Ursache bei der Frau, und zwar sind 40 % endokrin, 30 % mechanisch und 10 % immunologisch bedingt, bei 15– 20 % bleibt die Ursache ungeklärt. In 30–40 % der Fälle liegt die Ursache beim Mann, in 10–20 % bei beiden Partnern. Ist die Ursache der ungewollten Kinderlosigkeit diagnostisch geklärt, stehen dem Arzt die Behandlungsmöglichkeiten der intrauterinen Insemination, der In-vitro-Fertilisation (IVF), des intratubaren Gametentransfers und des intrauterinen Zygotentransfers zur Verfügung (Eser u. a. 1989, 349). Die psychosomatischen Probleme bei der künstlichen Befruchtung und der IVF sind am wichtigsten. Da die homologe Insemination wenige Probleme schafft, wird sie im Unterschied zur heterologen Insemination von den meisten Betroffenen sehr positiv gesehen (Stauber 1989, 56). Trotz aller Fortschritte und therapeutischen Bemühungen bleibt ein Großteil der Rat suchenden Paare permanent kinderlos. Ursachen ungewollter Kinderlosigkeit bei der Frau sind (1) in Störungen der hormonellen Zusammenhänge bei Eireifung und beim Eisprung, (2) in organischen Störungen wie dem Cervix-, Uterus- oder Tubenfaktor, (3) in psychosomatischen oder psychischen Ursachen und Einflüssen sowie in Ängsten und Konflikten und (4) in allgemeinen Stoffwechselstörungen (Diabetes, Schilddrüsenerkrankungen, Ernährungsstörungen, arzneimittelbedingte Störungen) zu suchen (vgl. Schlagheck 1989, 47). Die therapeutischen Möglichkeiten bei männlicher Infertilität sind sehr begrenzt. Die emotionalen Reaktionen auf die Unfruchtbarkeit gehen einher mit einer Krise der sexuellen Identität und Depressionen bei beiden Partnern (vgl. Alpern 1992, 30). Die Stärke der Irritation und das Ausmaß der Depression ist kaum zu erahnen (vgl. Schlagheck 1989, 73). Diese Erfahrung kann eine Partnerschaft beschädigen oder gar zerstören, wenn das Paar nicht eine individuelle Lösung findet, abhängig von früheren Erfahrungen (vgl. Alpern 1992, 37). Folgende ethische Bewertungsprinzipien und -kriterien lassen sich für die Fortpflanzungsmedizin formulieren: (1) Grundsätzlich zu berücksichtigen ist das Selbstbestimmungsrecht des Paares, eine Therapie für die ungewollte Kinderlosigkeit durchführen zu dürfen, sofern nicht andere geschädigt werden. (2) Aus der letzten einschränkenden Bemerkung folgt bereits das zweite Kriterium, die Berücksichtigung des Kindeswohls. Dieses Kriterium fordert, die psychische und physische Gesundheit des Kindes nicht willkürlich zu gefährden. Es geht um die Erhaltung der Würde des Menschen, der mithilfe der Reproduktionsmedizin sein Leben
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
erlangen soll. Dieser kann seine Interessen nicht selbst artikulieren. Die ethische Argumentation hat hier zunächst anzusetzen, weil es sich um das schwächste Glied handelt. (3) Die Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit darf sich nicht nur auf somatische Therapien beschränken. Entscheidend ist die psychische Betreuung. Daher ist eine psychosomatische Gesamtbetreuung erforderlich. (4) Fälle, in denen die Fortpflanzungsmedizin nicht aus therapeutischen Gründen angewendet wird, sind ethisch problematisch. Hier sind Einzelfallabschätzungen erforderlich. Auf die Lebensbedingungen des Kindes hat der Arzt keinen Einfluss. Trotzdem besteht zumindest die Verpflichtung, nach Möglichkeit das Aufwachsen von Kindern unter katastrophalen Bedingungen zu verhindern, wenn sie denn schon unter großen Mühen mit aller technischer Raffinesse auf die Welt gebracht werden. Am wichtigsten ist dabei die Frage nach einer intakten Mutter-Kind-Beziehung. Probleme zumindest können auftauchen bei einem neurotisch fixierten Kinderwunsch oder wenn keine dauerhafte Partnerbeziehung zu erwarten ist. Funktionelle Sterilität ist ein unbewusster körperlicher Schutz gegen ein Kind, für das bei einem Paar noch kein Platz ist (vgl. Lanz-Zumstein 1986, 23). Retortenkinder sind auch schon abgetrieben worden (vgl. Lanz-Zumstein 1986, 28). Andererseits sagt ein eventuell neurotisch gestörter Kinderwunsch nichts über die väterliche oder mütterliche Qualität aus, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Entscheidend ist, wie auf das ankommende Kind reagiert wird (vgl. Whehowsky 1987, 143). Mangelnde Elternliebe kann Traumata bei Kindern erzeugen, unsicher aber ist, ob bedingungslose Zuwendung diese verhindern kann (vgl. Schroeder-Kurth, Whehowsky 1988, 136). Und man kann auch nicht unterstellen, dass der Kinderwunsch generell Kompensation für unerfüllte Sexualität und Partnerschaft (vgl. Schroeder-Kurth, Whehowsky 1988, 51) sei. Die Verweigerung der ärztlichen Hilfe ist die sorgfältig zu begründende Ausnahme, zumal der Arzt häufig nicht therapeutisch ausgebildet ist und nicht kompetent beurteilen kann, ob ein Kinderwunsch neurotisch ist oder nicht. Eine mögliche Verantwortungslosigkeit der Eltern kann zwar vom Arzt nicht ausgeschlossen werden. Sie wäre aber durch den Arzt auch nicht zu verhindern. Solches kann daher billigerweise von ihm nicht verlangt werden. Größere Verantwortung obliegt dem Arzt für die Durchführung der Aufklärung. Häufig wird dem Ehepaar eine zu hohe Erfolgsrate in Aussicht gestellt, vor allem aber werden die psychischen Probleme nicht angemessen angesprochen, vielfach bleiben sie sogar völlig unbehandelt. Nur größere Universitätskliniken leisten sich einen Psychologen im Team. Selbsthilfegruppen gibt es häufiger, aber noch nicht in dem Umfang, der eigentlich gerechtfertigt wäre, um die Trauerarbeit beim ständig wiederholten Misslingen leisten zu können. Auch hier muss eine stärker patientenzentrierte medizinische Ethik fordern, dass die psychische Betreuung der Patienten intensiviert und professionalisiert wird. Denn sonst wird oder bleibt Fortpflanzungsmedizin Fortpflanzungstechnologie. So sind Aufklärung und Behandlung in Fragen der Kinderlosigkeit am Leiden der Patienten zu orientieren, nicht an den gerade jeweils zur Verfügung stehenden technologischen Mitteln. Die Einführung männlichen Samens (Sperma) in den Genitaltrakt der Frau auf technischem Wege (künstliche Insemination) ist schon seit längerer Zeit möglich.
3.2 Reproduktionsmedizin und assistierte Fortpflanzung
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Man unterscheidet homologe und heterologe Insemination. Homologe Insemination bezeichnet die Übertragung des Spermas des Ehemannes auf die Ehefrau. Samen und Eizelle stammen von einem Elternpaar. Als Indikation gilt vor allem Insuffizienz des männlichen Samens hinsichtlich Anzahl und/oder Beweglichkeit, also Subfertilität insbesondere aufgrund von Viruserkrankungen, Mumps, Masern und eventuell auch wegen Umweltbedingungen. Der Same des Ehemannes wird durch Masturbation gewonnen, gereinigt, entkeimt, in einem Nährmedium aufbereitet, um die Beweglichkeit der Spermien zu erhöhen, und schließlich mittels einer Kanüle nach dem meist künstlich stimulierten Eisprung eingeführt. Es handelt sich um ein technisch nicht aufwendiges Verfahren. Die rein organischen Belastungen halten sich in engen Grenzen und beschränken sich auf die hormonelle Stimulierung des Eisprungs. Die Sexualität wird fremdbestimmt und muss sich der Dramaturgie des Eisprungs unterordnen. Auch Projektionen auf den Arzt sind bei den Frauen möglich. Wer daher den Einzelakt der Zeugung isoliert betrachtet, wird zu keiner positiven Würdigung der Insemination kommen, denn eine Entsexualisierung der Befruchtung ist sowohl durch Insemination wie durch In-vitro-Fertilisation (IVF) nicht zu leugnen (vgl. Whehowsky 1987, 53). Trotzdem kann diese Methode bei einem Paar aufgrund des Gesamtvollzugs der Ehe als Weiterführung der ehelichen Zeugung gewertet werden. Denn eine Entsexualisierung der Befruchtung kann durchaus als geringeres Übel als die Kinderlosigkeit angesehen werden. Indikation für eine heterologe Insemination ist die Sterilität des Mannes. Sie ist fast immer unheilbar und betrifft jede 20. Ehe. Bei der heterologen Insemination stammt der Samen von einem Spender außerhalb der Ehe. Ihre Erfolgsrate ist deutlich höher als die der homologen Insemination, weil hier die Samenqualität ausgesucht werden kann. Dennoch ist das Ausweichen auf einen Spender weder ethisch noch rechtlich unproblematisch. Kein Konsens besteht darüber, ob der Samen des Spenders anonymisiert transferiert werden darf oder nicht. Der Spender hat ein Interesse, seinen Namen nicht zu nennen, entstehen doch sonst erbrechtliche Ansprüche für Kinder, mit denen ihn persönlich nichts verbindet. Anonyme Samenspende und Samenbanken erlauben aber dem Kind nicht, seine genetische Herkunft festzustellen. Diese könnte auch beim Auftreten von Erbkrankheiten wichtig werden. Vor allem aber ist bei der heterologen Insemination ungeklärt, wer nach welchen Kriterien den Spendersamen auswählt. Selbst wenn es die Eltern bzw. die Mutter sind, kann sich eugenisches Denken ausbilden. Die traditionelle Familienstruktur wird aufgebrochen. Dies ist zwar nicht per se unmoralisch, aber ein Hinweis darauf, dass die möglichen Folgen für das Kind genauer zu diskutieren sind. Schließlich könnte durch eine ärztlich assistierte Behandlung lesbischen Frauen zu einem Kind verholfen werden. Theoretisch denkbar ist in nicht allzu ferner Zukunft, dass ein lesbisches Paar mithilfe biotechnologischer Verfahren das eigene Erbgut beider Partner weitergeben kann. Eine Ethik auf der Basis der Patientenautonomie wird zwar auch in diesem Fall keineswegs Sanktionen und rechtliche Verbote fordern. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass es sich hier nicht mehr um die Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit und ein zumindest indirekt therapeutisches Behandlungsverfahren handelt, sondern um die Verwirklichung von Elternwünschen mittels eines technologischen Fortpflanzungsverfahrens, mög-
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licherweise ohne Berücksichtigung der Folgen für die Entwicklung dieses Kindes. Auch rechtliche Probleme sind neu entstanden vor allem im Hinblick auf Erbansprüche. Es besteht ein Recht des Kindes, auch seinen genetischen Vater kennenzulernen, in Schweden ist dies bereits mit 16 Jahren juristisch verankert. Gesellschaftliche Auswirkungen könnten sich im Hinblick auf eine Kommerzialisierung der Fortpflanzung ergeben. Die zweite Methode ist die In-vitro-Fertilisation (IVF) und der Embryonentransfer (ET), die als homologe Fertilisation (Indikation: Verklebung der Eileiter), heterologe Fertilisation (Indikation: Verklebung der Eileiter und Sterilität des Mannes) oder im Leihmutterverfahren (Indikation: Unfähigkeit der Frau, ein Kind austragen zu können) durchgeführt werden kann. Bei diesem Verfahren werden Eizellen aus dem Eierstock entnommen und diese außerhalb des Körpers (extrakorporal) in der Petri-Schale (in vitro heißt wörtlich „im Reagenzglas“) befruchtet. 15–20 Stunden nach dem Zusammenbringen von Samen und Eizellen im Reagenzglas ist unter dem Mikroskop erkennbar, ob eine Befruchtung der Eizelle stattgefunden hat. Nach weiteren 10–15 Stunden findet die erste Zellteilung statt. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich für die ersten der Befruchtung folgenden Entwicklungsstadien (2-Zeller, 4-Zeller usw.) die Bezeichnung Embryo durchgesetzt, auch wenn dies im strengen entwicklungsbiologischen Sinne nicht korrekt ist (vgl. Eser u. a. 1989, 560). Zutreffender wäre von Präimplantations-Embryo oder kurz von Präembryo zu sprechen. Zwei Tage nach Gewinnung der Eizelle, bewiesener Befruchtung und den ersten Zellteilungen bis zum 4–8-Zellstadium wird der Präembryo in die Gebärmutter der Patientin transferiert. Diesen Vorgang nennt man Embryotransfer. Ziel ist die Ermöglichung des Kinderwunsches der Eltern. Es handelt sich nicht um eine Therapie, da der Defekt nicht zu beheben ist. Mit Ausnahme der Mikroinjektion des Spermas in die Eizelle vollzieht sich der Befruchtungsvorgang in der Petrischale zwar in unnatürlicher Umgebung, aber sonst völlig natürlich. Die Invitro-Fertilisation ist insgesamt ethisch nicht unproblematisch, wobei die psychische Belastung stärker als die organische ist (vgl. Stauber 1986, 42). Für die In-vitro-Fertilisation ist zunächst wichtig, befruchtungsfähige Eizellen zu gewinnen. Es ist heute allgemein üblich, mit dem stimulierten Zyklus zu arbeiten, d. h. den Eierstock so mit Hormonen zu behandeln, sodass mehrere Follikel heranreifen und zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt springen. Dadurch erhöht sich die Chance, dass Eizellen befruchtet und transferiert werden können. Die Reaktion der Eierstöcke und der Verlauf der Follikelreifung werden durch Ultraschalluntersuchungen und Östrogenbestimmungen überwacht, um zeitlich so dicht wie möglich an den Eisprungtermin heranzukommen. Nur dann ist es möglich, befruchtungsfähige Eizellen zu gewinnen (vgl. Eser u. a. 1989, 562 f.). Früher wurden die Follikel noch laparoskopisch (Zugang zu den Follikeln mittels eines Schnittes in der Bauchnabelgrube) in Narkose punktiert. Heute entnimmt die transvaginale Follikelpunktion unter Verwendung von Schmerz- und Beruhigungsmitteln und Ultraschallsicht ohne Narkose Eizellen über das hintere Scheidengewölbe. Sie hat sich in der Bundesrepublik zu 90 % durchgesetzt. Dies bedeutet für die Patienten eine große Vereinfachung und Erleichterung. Zudem können überzählige Embryonen und damit eine Kryokonservierung (Einfrieren der be-
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fruchteten Eizelle im Vorkern-Stadium) vermieden werden. Bei dieser Methode wird der Ultraschallkopf in die Scheide eingeführt. Man erkennt die etwa 2 cm großen Follikel auf dem Bildschirm und kann unter Sichtkontrolle die Nadel in den Follikel vorschieben. Er wird abgesaugt und das Punktat anschließend in das Labor gebracht. Dort wird die Eizelle unter dem Mikroskop aufgesucht und in ein Reagenzglas mit Kulturmedium gegeben. Anschließend erfolgt die Zugabe der aufbereiteten Spermien (vgl. Eser u. a. 1989, 563; Alpern 1992, 25 f.). Am zweiten Tag nach der Gewinnung der Eizellen und erfolgter Befruchtung wird der Präembryo in die Gebärmutter transferiert. Dabei wird ein dünner weißer Schlauch in die Gebärmutter vorgeschoben und der Präembryo mit wenig Kulturmedium in die Gebärmutter eingespült. Der Präembryo muss sich dort noch drei Tage zur Blastozyste weiterentwickeln. Danach kann eine Einnistung in der Gebärmutter beginnen (vgl. Eser u. a. 1989, 564). Die Schwangerschaftsrate pro Behandlungszyklus liegt mit etwa 20 % in etwa gleichauf mit dem normalen Wert (17 %). Allerdings ist die Anzahl der Aborte und Fehlgeburten erhöht (20–28 % gegenüber durchschnittlich 12 %), so dass die Geburtsrate pro Behandlungszyklus höchstens bei 15 % liegt. Vielfache Wiederholungen sind in der Regel erforderlich (4–6mal), wobei die körperlichen und vor allem die psychischen Belastungen dieser Behandlungsmethode berücksichtigt werden müssen. Es wird daher heute allgemein empfohlen, nach drei bis vier Behandlungen eine längere Pause einzulegen (Eser u. a. 1989, 565). Durch hormonelle Ovulationsauslösung oder durch vorsorgliche Implantation mehrerer Embryonen kommt es wesentlich häufiger zu höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften (wie Drillingen, Vierlingen usw.). Da dies für die Mutter wie für die Kinder erhebliche Risiken mit sich bringen kann, versucht man, die Mehrlingsschwangerschaften dadurch zu reduzieren, dass nur drei befruchtete Keimzellen transferiert werden. Das eigentliche Problem bei der In-vitro-Fertilisation liegt weniger in der medizinischen Behandlung als vielmehr in der Notwendigkeit einer psychologischen Betreuung der Patienten. Eigentlich schon für die Insemination, verstärkt aber für die IVF ist eine integrierte psychosomatische Gynäkologie zu fordern. Die psychische Belastung ist bei der IVF größer als die organische. Die Behandlung über 14 Tage, dann das Warten – wieder etwa 14 Tage – und die Angst vor dem Misserfolg prägen das Leben. Hinzu kommen Bedenken gesellschaftspolitischer Art hinsichtlich unüberschaubarer Eingriffe in die Familienstruktur und bei Experimenten mit menschlichen Embryonen (Stauber 1989, 60–63). Ethisch problematisch ist mit Blick auf die Folgen für die so gezeugten Kinder der späte Kinderwunsch bei Frauen über 45 Jahren, der sich nur mittels Ersatzmutterschaft realisieren lässt. Auch bei der In-vitro-Fertilisation kann man zwischen einer homologen und heterologen Variante unterscheiden. Zudem gibt es eine dritte Möglichkeit, nämlich das sog. Ersatz- oder Leihmutterverfahren. Hier erfolgt der Embryonentransfer nicht in die genetische Mutter, sondern in eine Frau, die sich – aus kommerziellen oder mehr oder weniger altruistischen Motiven – hierfür zur Verfügung gestellt hat. Zwar wird auch die homologe IVF von konservativen Kreisen abgelehnt. Dennoch können sowohl die homologe als auch heterologe Insemination in der Regel als zumindest indirekt-therapeutisches Verfahren und damit ethisch gesehen als erlaubt
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
eingestuft werden. Ehepaaren und Ärzten kommt hier allerdings bei der Prüfung der Motivation des Kinderwunsches eine besondere Verantwortung zu, denn die Verfahren sind aufwendiger, die psychischen Belastungen erheblich höher und die Versuchung, nach all diesem Aufwand nur ein perfektes Kind zu akzeptieren, besonders groß. Kriterien zur Beurteilung des Kinderwunsches wären etwa die Frage nach potentiell neurotischen oder depressiven Störungen und z. B. nach Suchtverhalten. In der Bundesrepublik sind IVF und ET (außer in Privatkliniken) auf Eheleute eingeschränkt. Nur hier zahlt die Krankenkasse bis zu einer gewissen Anzahl von Versuchen. Die heterologe IVF birgt dieselben Gefahren wie die heterologe Insemination und verstärkt diese. Andererseits ist eine heterologe IVF, um der Geburt eines schwer behinderten Kindes vorzubeugen, ethisch gesehen vertretbarer als Abtreibung aufgrund genetischer Indikation (vgl. Eibach 1983, 173). Insgesamt betrachtet besteht die Gefahr, In-vitro-Fertilisation nicht nur als Behandlungsmethode bei ungewollter Kinderlosigkeit zu verwenden, sondern als allgemeines Zeugungsverfahren (vgl. Stauber 1989, 65), so z. B. im Rahmen einer Keimbahntherapie. Im Extremfall entsteht ein Kind aus einem über Jahre kryokonservierten Embryo und hat vier Elternteile. Eine genetische Mutter und einen genetischen Vater sowie ein soziales Elternpaar, wobei bei einer homosexuellen Lebensgemeinschaft zweier Frauen zwei Mütter sozialer Art und bei zwei Männern unter Bemühung einer Leihmutter zwei soziale Väter auftreten können. Die Verweigerung der Fortpflanzungsmedizin gleichgeschlechtlichen Paaren gegenüber könnte damit begründet werden, dass in diesen Fällen von einer Verletzung der Patientenautonomie nicht die Rede sein könne, da ein krankheitsbedingtes Nichterfüllt-Werden des Kinderwunsches nicht vorliegt. Allerdings wäre eine generelle Ablehnung eines derartigen Wunsches gleichgeschlechtlicher Paare ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht dieses Paares, das einer guten ethischen Begründung bedürfte. Eine Verantwortungsethik kann hier nicht mit Naturwidrigkeit argumentieren. Zur besseren Abschätzung der Folgen für die so geborenen Kinder wäre eine Einzelfallbewertung erforderlich. Eine Möglichkeit des praktischen Umgangs mit dem Problem könnte ein Überprüfungsverfahren ähnlich dem bei der Adoption für alle Formen heterologer Fortpflanzungsmedizin darstellen, das grundsätzlich auch gleichgeschlechtlichen Paaren offen stehen müsste. Vorurteile erschweren allerdings eine konkrete Folgenabschätzung. Doch diese zu vermeiden wäre die Aufgabe einer entsprechenden Strukturierung des Beratungs- und Überprüfungsverfahrens. Beim Leihmutter- oder Ersatzmutterverfahren kommt über die heterologe Invitro-Fertilisation noch ein fünfter potentieller Elternteil hinzu, nämlich die Ersatzmutter. Im engeren Sinn bezeichnet man mit Ersatzmutter eine Frau, die einen Embryo, der genetisch nicht von ihr stammt, für eine andere Familie austrägt. Oft sind es nicht medizinische Gründe von Seiten der Bestell-Eltern (Beruf, Reichtum), aus denen eine Ersatzmutterschaft gesucht wird. Langfristig scheint eine Ausbeutung ärmerer Frauen auf diesem Weg nicht unrealistisch. Zudem gibt es noch viele rechtliche Probleme: Die Leihmutter ist zur Abgabe rechtlich nicht verpflichtet, und die Bestellmutter könnte etwa bei gesundheitlichen Schäden jede Annahme verwei-
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gern. Zudem besteht eine intensive emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft, die so zerrissen wird. Auch die Hirnforschung spricht gegen Leihmütter, weil die Leihmutter gegen den auszutragenden Fetus eine Abwehrhaltung aufbauen muss, um das Neugeborene später überhaupt abgeben zu können. Dies wird sich auf die geistige Entwicklung bereits des Fetus auswirken. Ob damit aber eine nennenswerte Beeinträchtigung verbunden ist, müsste erst noch erwiesen werden. Die Motivation bei der überwältigenden Mehrheit der Leihmütter ist zudem meist aufgrund einer sozialen Notlage finanzieller Natur. Auch vorgeblich rein altruistische Motive haben oft psychische Gründe, abgesehen vielleicht bei nahen Verwandten. Doch hier gibt es – wie bei der Organspende unter Verwandten – eigene Probleme. Bei den Vertragseltern entsteht wegen der hohen Aufwendungen nicht selten auch unbewusst der Wunsch nach einem perfekten Kind. Zu hohe Erwartungen seitens der Eltern können zudem zu Distanzierungen bei Enttäuschungen und damit zu Entwicklungsstörungen beim Kind führen. Zudem könnten diesen Kindern Probleme daraus entstehen, dass sich ein Mensch als von Ärzten hergestelltes Wesen begreift. Gerade bei Krankheiten, etwa auch Erbkrankheiten, könnte es Betroffenen schwer fallen, ihr Schicksal anzunehmen, weil sie dann menschliches Versagen als Ursache ihres Leidens vermuten müssten. Auch die Gesellschaft könnte sich verändern, wenn sich zunehmend mehr Menschen als Kunstfehler ärztlicher Wissenschaft verstehen. Für die utilitaristische und emotivistische Interpretation impliziert Patientenautonomie und Vertragsfreiheit das Recht, dass Eltern sich zur Erfüllung ihres Kinderwunsches jede mögliche Hilfe verschaffen dürfen (vgl. Alpern 1992, 52). Die Grenzen dieser Freiheit sind dort zu ziehen, wo andere geschädigt werden (vgl. Alpern 1992, 255). Die Abneigung, für Adoptionen zu bezahlen, hat sich auf die Leihmutterschaft übertragen, trotz der ganz anderen Umstände, die hier vorliegen (Alpern 1992, 271 f.). Das Embryonenschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1990 (mehrfach geändert) verbietet Eispende und Leihmutterschaft, die Erzeugung überzähliger Embryonen zu Forschungszwecken, Embryonenreduktion (den selektiven Fetuzid) mit Ausnahme bei medizinischer Indikation, Kryokonservierung von Embryonen und Geschlechtswahl mit Ausnahmen bei Erbkrankheiten. Es besteht in der Bundesrepublik die Tendenz, aus Angst vor einer Forschung, die möglicherweise ethische Grenzen verletzt, auch medizinische Möglichkeiten stark zu beschneiden. Häufig wird dabei mit der sog. Unnatürlichkeit insbesondere der IVF und des ET argumentiert. Aber da niemand zu einer In-vitro-Fertilisation gezwungen wird, ist es im Sinne der Patientenautonomie ethisch nicht vertretbar, einem betroffenen Paar vorschreiben zu wollen, ob ihm die Tabus der Natürlichkeit wichtiger sind als die Erfüllung des Kinderwunsches. Das ethisch eigentlich drängende Problem ist nicht die Unnatürlichkeit, sondern die geringe Erfolgsrate und die häufig unzureichende Betreuung bei den Behandlungsversuchen, die scheitern. Adoption ist eine Alternative, allerdings keine einfache. Sie sollte nur dann ernsthaft ins Auge gefasst werden, wenn sich beide Partner durchaus im Stande sehen, auch ohne ein Kind ein befriedigendes und erfülltes Leben zu führen. Das Kind darf nicht nur eine Lücke füllen (vgl. Schlagheck 1989, 83). Die Zahl der
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
gesunden deutschen Säuglinge, die für eine Adoption in Frage kommen, ist sehr klein. Auch die Forderung, die Kinder nach der Geburt freizugeben statt abzutreiben, übersieht die Hauptbetroffenen. Frauen, die abtreiben, wollen keine Schwangerschaft, keine soziale Diskriminierung. So bietet sich die Adoption aus der Dritten Welt an, zumal dort zumindest in einigen Ländern unter dem Zwang wirtschaftlicher Not und sozialer Stigmatisierung Kinder sofort nach der Geburt oder nach dem Abstillen abgegeben werden. Insgesamt halte ich die Forderung, dass Auslandsadoption überflüssig und durch Inlandsadoption in der Dritten Welt ersetzt werden sollte (vgl. Wacker 1991, 199), aufgrund eigener Erfahrung und ethischer Reflexion für überzogen. Denn es ist nicht einzusehen, dass einer Inlandsadoption in der sog. Dritten Welt der Vorzug gegeben wird, obwohl die Entwicklungsmöglichkeiten bei manchen Familien im Ausland besser sind oder die Kinder gar im Inland eine Heimkarriere erwartet. Wer Adoptionen erschwert und Fortpflanzungsmedizin ablehnt, fördert indirekt Formen kommerziellen Kinderhandels. Allerdings ist auch die Anwendung von Fortpflanzungsmedizin nicht ohne Probleme. Entwicklungsstörungen und Fehlentwicklungen treten nach einer Befruchtung im Reagenzglas öfter auf als bei natürlich gezeugten Kindern. In den letzten 25 Jahren seit Louise Brown sind weit über eine Million Retortenkinder zur Welt gebracht worden. 2001 wurden in Deutschland 10.000 Retortenkinder geboren. Vier neuere Studien zur Fehlbildungsquote haben ergeben, dass in vitro fertilisierte Kinder ein 1,4 % höheres Risiko tragen, an einer genetisch bedingten Erkrankung zu leiden, als normal gezeugte. Aber insgesamt sind dies doch recht seltene Ereignisse (vgl. Lenzen-Schulte 2003, 36 f.). Auch die Spermieninjektion steht unter Verdacht, zu erhöhten Krankheitsraten zu führen. Fehlbildungen sind auch bei der Verschmelzung von Samen und Eizelle in der Petrischale möglich. Selektive Bedingungen wie bei der natürlichen Verschmelzung von Samen und Eizelle entfallen in der künstlichen Umgebung. Häufiger tritt auch Untergewicht bei der Geburt auf. Aufgrund des Kryokonservierungs-Gebotes in Deutschland ist hier die Schwangerschaftsrate deutlich niedriger. Gefahren entstehen auch durch die erhöhte Anzahl der Mehrlingsgeburten. Sie erhöhen das Fehlbildungsrisiko noch einmal und führen häufig zu Frühgeburten. Insofern sind im Hinblick auf In-vitro-Fertilisation mehr Zurückhaltung und gründlichere Begleitstudien zu fordern (vgl. Lenzen-Schulte 2003, 38–44). Im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten der Reproduktionstechnologien und der Humangenetik ergibt sich ein Problem. Jede dieser neuen Methoden der Fortpflanzungsmedizin oder der Humangenetik hilft einigen Menschen, aber zur gleichen Zeit führt es zu Widerstand und moralischen Sensibilitäten und Sensitivitäten auf der anderen Seite. Wie soll eine Gesellschaft in diesem Falle einen Ausgleich finden zwischen den unterschiedlichen Einstellungen gegenüber diesen neuen Technologien? John Harris betrachtet eine ganze Reihe der neuen reproduktiven Technologien und argumentiert nachdrücklich dafür, dass die meisten der ethischen Argumente, die gegen diese Technologien angeführt werden, schwach und fehlerhaft sind. Er verteidigt daher eine radikale Konzeption reproduktiver Autonomie. Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf den eigenen Nachwuchs sei eine Idee, die mehr verbal geäußert wird, als dass sie in der Praxis verfolgt würde (vgl. Harris, Holm 1998, 1–5).
3.3 Embryonenforschung
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John Harris hält eine Eispende für eine vielfältige Reihe von Zielen durchaus für erlaubt. Auch die Nutzung von fetalem Gewebe aus dem Bereich der Gebärmutter solle Anwendung finden können, trotz der seit relativ kurzer Zeit entstandenen Kontroverse über dieses Thema. Oft werden die Auswirkungen auf die Kinder angeführt, um diese Technik ethisch obsolet zu machen. Wenn man nicht wie üblich den Gedanken und das Kriterium der Natürlichkeit an die Fortpflanzungsmedizin anlegt, dann werden solche Gedanken wie z. B. die Wahl rassischer Merkmale des eigenen Kindes, die verschieden sind von einem selbst, oder auch Designerkinder durchaus akzeptabel (Harris, Holm 1998, 21–26). Auch für das Klonen und in gewisser Weise sogar für die Geschlechtsselektion versucht John Harris zu argumentieren. In der Tat, die Kinder, die mit Hilfe von Fortpflanzungsmedizin gezeugt wurden, werden in der Regel von Eltern geboren, die für ihren Nachwuchs bereit waren, einen höheren Einsatz sowohl emotional wie im Hinblick auf das Engagement und finanziell aufzubringen als dies normalerweise zu erwarten ist. Sie werden jedenfalls eher Wunschkinder sein als zufällig geborene. Eine Mutter nach der Menopause – das ist nicht natürlich, aber muss dies eine schlechte Mutter sein? Bei alten Vätern sagt man ja auch nichts. Wir haben uns an die neuen reproduktiven Freiheiten noch nicht gewöhnt. Darum erscheinen sie uns als fremd und als unnatürlich. 3.3 EMBRYONENFORSCHUNG, ARBEIT MIT EMBRYONALEN STAMMZELLEN, THERAPEUTISCHES KLONEN Die mit der Embryonenforschung verbundenen Erwartungen beruhen nicht zuletzt auf der embryonalen Stammzellforschung. Die medizinische Erforschung der Organgenese und der Entwicklung von Embryonen gilt als besonders zukunftsträchtig und wird daher von vielen Forschern als höchst förderungswürdig betrachtet. Einwände gegen diese Forschung werden vor allen Dingen von einer Position erhoben, die grundsätzlich mit der moralischen Würde des Embryos argumentiert. Diese geht von inneren und eigentümlichen Eigenschaften des Menschen, auch des menschlichen Embryos, aus, so dass diese Eigenschaften des Embryos seine moralische Qualität gleichsam festlegen und einen solchen intrinsischen Wert von Embryonen betonen bzw. rechtfertigen. Gemäß der metaphysischen Theorie der intrinsischen Eigenschaften rechtfertigt jede dieser Eigenschaften einen moralischen Status, der Unantastbarkeit garantiert. Die Zuschreibung von moralischen Rechten erfolgt auf einer allgemeinen und abstrakten Ebene. Monistische Ethiktypen kennen keine Alternative, pluralistische Theorien hingegen können verschiedene Formen eines moralischen Status von Embryonen anerkennen, die verschiedenen Stufen bzw. Arten von Werten korrespondieren (vgl. Brown 2007, 587 f.). Diese beiden ethischen Theorien stehen sich diametral gegenüber und bewerten daher auch embryonales Gewebe völlig anders. Dabei gibt es Spannungen zwischen beiden Theorien. Die traditionelle Naturrechtsethik identifiziert die metaphysische Theorie menschlicher Persönlichkeit mit der biologischen Theorie der menschlichen Natur. Auf diese Art und Weise wird Unantastbarkeit als metaphysischer Wert auf ein bio-
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
logisches Phänomen übertragen. Die idealistische Theorie der menschlichen Person wird mit der Konzeption der biologischen menschlichen Natur identifiziert. Die Fötalgewebeforschung ist aus der Transplantationsmedizin, den neuen Gen- und Fortpflanzungstechnologien und aus der Pränataldiagnostik heraus entwickelt worden. Es handelt sich um die Eroberung eines neuen Terrains und den Zugriff auf den Körper und die Lebensgestaltung von Frauen. Das neue Konzept des Gehirntodes, die Forderung, Anenzephale als Organspender heranzuziehen und die strukturelle Organknappheit bilden den Hintergrund für die neue Forschungsrichtung. Fötale Bauchspeicheldrüsenverpflanzungen für Diabeteskranke erscheinen als genauso möglich wie fötale Leberzellverpflanzungen. Es gibt auch schon die Verpflanzung von Fötus zu Fötus bereits im Mutterleib. In Gewebebanken kann fötales Gewebe aufbereitet und aufbewahrt werden. Experimente mit fötalem Gewebe sind seit 1878 dokumentiert. Es handelt sich um Experimente mit Abtreibungsgewebe. Wie sich in der letzten Zeit gezeigt hat, sind Nervenzellen nicht völlig unregenerierbar. Bei fötalem Hirngewebe für Parkinsonerkrankte gibt es meistens nur bescheidene Erfolge. Ein neues Programm sind gentechnisch veränderte Haut- und Muskelzellen, die vom Patienten selbst stammen. Bei einer Übertragung von fötalem Hirngewebe entsteht die Frage nach Persönlichkeitsveränderungen. Dabei können auch unvorhergesehene Entwicklungen ausgelöst werden. Wichtig ist vor allem die Frage, ob Hirngewebe als materielles Substrat für menschlichen Geist und für die Persönlichkeit eines Menschen interpretiert werden (vgl. Schneider 1995, 79). Problematisch allerdings ist das spekulative Gleichsetzen von Gehirngewebe mit persönlicher Identität. Insgesamt gibt es seit 40 Jahren Stammzelltransplantationen, wobei die Transplantation von Embryonalen Stammzellen (ES) den jüngsten Zweig darstellt. Die blutbildenden Stammzellen im Nabelschnurblut erscheinen besonders interessant. Dabei müssen die Eigentumsverhältnisse bei Nabelschnurblut geklärt werden. Nabelschnurstammzellen können nur einmal im Leben, kurz nach der Geburt, entnommen werden. Die Einlagerung von Nabelschnurblut muss privat bezahlt werden. Die sachgerechte Einlagerung von Nabelschnurblut ist aufwendig. Die kostenpflichtige Abgabe von Präparaten zu Transplantationszwecken dient dabei zunächst zur Deckung der entstehenden Kosten. Stammzellen aus Nabelschnurblut und adulte Stammzellen gelten als Arzneimittel und unterliegen den entsprechenden Gesetzen. Die Transplantation von adulten Knochenmarkstammzellen wird schon lange durchgeführt, z. B. nach Chemotherapien. Bei Leukämie werden allogene Stammzellen bevorzugt (vgl. Hauskeller 2002, 140–147). Früher wurden als Ersatzorgane im Wesentlichen nichtbiologische Substitute für Teile des menschlichen Körpers benutzt. Das Tissue Engineering möchte biologischen Organersatz erzeugen. Tissue Engineering kann definiert werden als ein interdisziplinäres Feld, in dem die Prinzipien der Ingenieurkunst und der Life-Sciences angewendet werden im Hinblick auf die Erzeugung biologischer Ersatzorgane bzw. eines biologischen Ersatzes und die darauf abzielt, vorbeugend Ersatz zu schaffen oder verlorene Organfunktionen zu restaurieren (vgl. ETCS/GZG 1998, 8). Forschungsfelder sind dabei das Herz, die Leber, die Haut, Knochen und Gewebe, Nervenzellen, um etwa Alzheimer behandeln zu können, sowie die Krebsfor-
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schung. Regeneration wird allgemein als ein Phänomen betrachtet, das auf Amphibien beschränkt ist, bei denen amputierte Glieder zurückgeformt und wieder wachsen können. In der letzten Zeit wurde ein Mäusestamm entdeckt, der eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt hat, bestimmte Wunden zu schließen, und ein Beispiel abzugeben scheint für ein Phänomen, das für eine bestimmte Form der Regeneration bei Säugetieren angesehen werden kann. Insbesondere wurde nach und nach Ohrgewebe in schnellem Wachstum entwickelt, das eine normale Gewebearchitektur wieder erlangen konnte und zwar in einer Form, die dem entgegengesetzt ist, was man sonst an Regenerationsfähigkeit bei Säugetieren gesehen hatte. Es gelang dabei, Größenwachstum mit strukturellen Elementen zu verbinden, die eine gewisse Organarchitektur ermöglichten. Außerdem wurde versucht, dieses Phänomen in seinen genetischen Grundlagen zu eruieren. Zunächst bemerkte das untersuchende Team die mangelnde Regenerationsfähigkeit bei Säugetieren, die dort durch erstaunliche Fähigkeiten der Wundheilung ersetzt zu sein scheinen (vgl. Clark u. a. 1998, 35). Das Gewebewachstum musste dabei kontinuierlich durch eine organismische Remodellierung des Organs begleitet werden. Regeneration aber involviert in großem Umfang die Ersetzung und Restaurierung von Gewebe mit einer normalen Architektur und im extremen Fall bis hin zu ganzen Organen (vgl. Clark u. a. 1998, 43). Nicht weniger vielversprechend erscheint die Stammzellforschung. Embryonale Stammzellen (ES-Zellen) können in frühen Embryonalstadien aus der inneren Zellmasse der Blastozysten gewonnen werden, aus dem der eigentliche Embryo entsteht. Bis zum Acht-Zellstadium sind diese Zellen pluripotent. Die Isolierung humaner Stammzellen wurde erst 1988 publiziert. Embryonale Stammzellen werden aus der inneren Zellmasse wenige Tage alter Embryonen entnommen. Derzeit gibt es drei Möglichkeiten, embryonale Stammzellen zu gewinnen: (1) aus sogenannten „überzähligen“ Embryonen bei der künstlichen Befruchtung, (2) aus 5–9wöchigen abgetriebenen Föten (fetale Stammzellen) und (3) durch „therapeutisches Klonen“ (Zellkerntransfer). Die fetalen Stammzellen sind Vorläufer der Eibzw. Samenzellen, daher als primordiale Keimzellen bezeichnet, die im Labor zu embryonalen Keimzellen (EG) weiterentwickelt werden und sich nicht von aus einer Blastozyste gewonnenen embryonalen Stammzellen unterscheiden. Eine Alternative zu ES-Zellen stellen gewebespezifische bzw. adulte Stammzellen dar, die aus fötalem oder adultem Gewebe isoliert werden können. Mit diesen Zellen ist eine Transplantation einfacher zu verwirklichen, da sie aus Gewebe des Transplantatempfängers isoliert werden können. Adulte Stammzellen kommen aber nur in sehr geringer Zahl vor und sind bislang noch unzureichend charakterisiert. Außerdem zeigen sie eine stärker eingeschränkte Differenzierungsfähigkeit im Vergleich zu ES-Zellen (vgl. Hauskeller 2002, 18 f.). In Tiermodellen hat sich bisher weder aus ES-Zellen noch aus EG-Zellen allein nach Transfer in den Uterus ein vollständiges Lebewesen entwickelt. Dass humane pluripotente Stammzellen alle Stufen zur Entwicklung eines lebensfähigen Menschen durchschreiten könnten, ist nach derzeitigem Kenntnisstand äußerst unwahrscheinlich. Das Maus-Modell (vgl. Hauskeller 2002, 19–29) hat wichtige Erkenntnisse gebracht, Untersuchungen am Menschen sind jedoch unerlässlich, wenn man
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die praktischen Anwendungen nicht versäumen will. Die molekularen Grundlagen der frühen Embryonalentwicklung sind beim Menschen nahezu unbekannt. Die Prozesse nach dem Zellkerntransfer in enukleierten Eizellen sind nicht verstanden (vgl. DFG 2000, 6–7). Ein langfristiges Ziel besteht in der Generierung komplexer Gewebeverbände oder ganzer Organe, womit derzeitige Engpässe und immunologisch bedingte Probleme sowie die Risiken einer Krankheitsübertragung bei der Organtransplantation umgangen werden könnten. Die ethischen Probleme dieses Bereiches liegen weniger in den (künftigen) Heilungschancen, sondern in der Art der Gewinnung der Stammzellen durch Klonierung. Die nach Methode (1) benötigten Embryonen können eigens für medizinische Zwecke in vitro gezeugt worden sein, ohne dass die Absicht bestanden hätte, sie zur Herbeiführung einer Schwangerschaft der Frau einzupflanzen. Dieses Verfahren ist in Deutschland nach dem geltenden Embryonenschutzgesetz verboten und wird auch in vielen anderen Ländern bisher weitgehend abgelehnt. In den meisten Fällen handelt es sich deshalb um sogenannte überzählige und verwaiste Embryonen, die aus einer IVF hervorgegangen sind. Die Zellverbände, die man diesen Embryonen entnommen hat, werden im Labor zum Auswachsen in undifferenziert bleibende Stammzelllinien angeregt. Bei entsprechender Stimulierung durch Wachstumsfaktoren können sich solche zu grundsätzlich allen Gewebetypen ausdifferenzieren (Fonk 2004, 233 f.). Da die bei Methode (2) bisher verwendeten EG-Zellen eine geringere Vermehrungsfähigkeit als ES-Zellen aufweisen, deutet neueren Forschungsergebnissen zufolge vieles darauf hin, dass sie nicht als wirkliche Alternative zu ES-Zellen angesehen werden können (Fonk 2004, 234). Auch wenn hier das ethische Problem weniger im Ursprung ihrer Gewinnung liegt, macht sie der ausbleibende Erfolg nicht gerade empfehlenswert. Methode (3), als Dolly-Technik bekannt, wird als reproduktives Klonen bezeichnet, da hier der zeitversetzte Zwilling bis zur Geburtsreife heranwächst (Fonk 2004, 234–236). Für den weiteren Verlauf sind nun allerdings zwei Varianten möglich: Variante (A) stellt die Übertragung der DollyTechnik auf den Menschen dar, d. h. hier wird gemäß dem Verfahren des reproduktiven Klonens der Embryo in die Gebärmutter einer Leihmutter eingepflanzt und ausgetragen. Bei Variante (B) hingegen pflanzt man ihn keinerlei Mutter ein, sondern lässt ihn bis zum vierten Tag nach Erreichen des Blastozystenstadiums heranreifen, um ihm sodann embryonale Stammzellen (ES-Zellen) zu entnehmen. Diese können sich zwar nicht mehr in alle, aber doch in viele Richtungen entwickeln, sind also noch pluripotent, aber nicht mehr totipotent. Die pluripotenten Stammzellen vermehrt man im Labor, um sie dann zu der gewünschten Organ- bzw. Gewebespezialisierung weiter zu züchten. Darin besteht zumindest die Zielvorstellung, die man bisher allerdings nicht oder noch nicht – darüber gehen die Meinungen stark auseinander – realisieren kann. Man nennt dieses Verfahren therapeutisches Klonen (Fonk 2004, 237 f.). Die Gewinnung von ES-Zelllinien ist nur eine Seite des Problems. Ärztliches Handeln wie medizinische Forschung haben auch ein Ziel. Die Gewinnung von ESZelllinien ist ethisch weder identisch noch äquivalent dem Klonen eines Menschen. Denn geklont wird eine Stammzelle, aus der nur theoretisch ein Mensch entstehen
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könnte und dies auch gar nicht soll (denn dann müsste man diese Stammzelle sich weiter entwickeln lassen und in eine Gebärmutter einbringen). Gerade beim therapeutischen Klonen könnte das Verfolgen therapeutischer Ziele als ethische Rechtfertigung herangezogen werden, insbesondere wenn man gradualistisch argumentiert und den moralischen Status eines Embryos vor und nach der Einnistung unterscheidet. In der Diskussion um die Stammzellforschung wird häufig die Intuition verbrauchender Embryonenforschung bemüht. Bei der Beurteilung dieser Forschung spielt die emotionale Komponente eine große Rolle, auf beiden Seiten. Teilt man die dieser Version einer Medizinethik zugrunde gelegte gradualistisch-evolutionär argumentierende Anthropologie, so spricht nichts gegen die Verwendung von ES-Zellen als Regenerationshilfen – bei Herzkrankheiten, Diabetes oder für das Gehirn –, wobei therapeutisches Klonen eine zentrale Funktion einnimmt. Probleme der Steuerung embryonaler Stammzellen in Kultur sind allerdings noch zu überwinden. Embryonale Stammzellen aus abgetriebenen Feten dürfen auch nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz verwendet werden. Embryonale Stammzellen in Kultur können sich nicht mehr zu einem Menschen entwickeln (vgl. Spektrum 4/99, 13–15). Konservative Lebensschützer befürchten, dass die Durchführung interpersonaler Vergleiche letztlich zur Selektion führen könnte, zum anderen scheint es ihr Selbstverständnis von Person zu verletzen, derartige Abwägungen zuzulassen (vgl. Ach u. a. 2000, 131). Man hat den Eindruck, dass sich die in aktuellen bioethischen Debatten häufig zu hörende vehemente Kritik an interpersonalen Vergleichen weniger aus theoretischen denn aus praktischen Gründen speist. Sie sehen in der Tötung und anschließenden Übertragung von embryonalem Material eine moralisch unzulässige Instrumentalisierung menschlichen Lebens. Und sie vertreten die Auffassung, die Immoralität eines Schwangerschaftsabbruchs werfe gleichsam einen Schatten auch auf die weitere Verwendung des Abtreibungsgewebes. Die Praxis der Übertragung von embryonalem Gewebe und Organen legitimiere Schwangerschaftsabbrüche gleichsam moralisch und führe daher zu einer Erhöhung der Anzahl von Schwangerschaftsabbrüchen (vgl. Ach u. a. 2000, 141). Insgesamt haben interpersonale Abwägungen aber nichts Unplausibles oder Merkwürdiges an sich. Das gradualistische Konzept vertritt bei embryonalen Zellen, die vor der Einnistung gewonnen wurden, eine liberalere Position. Verantwortung für Schwangerschaftsabbrüche bzw. Nichteinpflanzung tragen Eltern, nicht Forscher. Die Produkte der Stammzellenforschung spielen bis dato eine untergeordnete Rolle. Allerdings erwartet man einen ungeheuren Markt von 200 bis 300 Millionen Patienten. Die Behandlung von Leukämie durch Blutstammzelltransplantationen ist kostenintensiv. Das Geschäft mit dem Nabelschnurblut in entsprechenden Banken ist bereits angelaufen. Das Tissue Engineering impliziert das Konstruieren menschlichen Gewebes, so die Reparatur von Blutgefäßen, Leberregeneration, Knorpel- und Knochenersatz, Haut aus der Tube, Zellen der Bauchspeicheldrüse zur Heilung von Diabetes. Die Stammzelltransplantation ins Muskelgewebe der Herzkammer nach Herzinfarkt wird bereits probiert. Die Zelldifferenzierung und therapeutisches Klonen sind ebenfalls Optionen. Zirka 7 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Osteoporose. Der Einsatz von Stammzellen oder ausdiffe-
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renzierter Zellen zur Therapie von Knochen- oder Knorpelschäden wäre in diesem Fall sehr hilfreich und ein entsprechend großer Markt. Die Regeneration von Nierengewebe aus Stammzellen des Knochenmarkes, die Regeneration von Leberzellen und der Einsatz von Stammzellen zur Therapie neurodegenerativer Erkrankungen versprechen ein ebenfalls lukratives Geschäft. Der Verkauf von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken ist ebenfalls in der ethischen Diskussion. Patienten mit schlecht heilbaren oder unheilbaren Krankheiten sind ein entsprechend guter Markt. Mit Hilfe der Biotechnologie wurden neue, hochqualifizierte Arbeitsplätze geschaffen (vgl. Hauskeller 2002, 131–138). Für die Bewertung der verfassungsrechtlichen Schranken der Forschungsfreiheit sind die Art und Weise der Gewinnung humaner Stammzellen wichtig, die im Rahmen der Forschung mit humanen Stammzellen angewandten Methoden, die von der wissenschaftlichen Forschung verfolgten Ziele. Letztlich geht es um die Verbesserung der medizinischen Versorgung. Die wissenschaftlich derzeit noch nicht realisierbare Reprogrammierung von pluripotenten Zellen zu totipotenten Zellen wird nach den Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes als Klonen definiert und ist damit untersagt (vgl. DFG 2000, 8–10). In Deutschland ist die Gewinnung humaner Stammzellen nur aus vitalem Gewebe erlaubt. Dabei müsste die Beachtung der Rechte der betroffenen Eltern und der Pietätspflichten beachtet werden. Durch die weitere Forschung zur Gewinnung von pluripotenten Zellen ist der Weg über totipotente Zellen vermeidbar. Wichtig ist auch die Entwicklung einheitlicher europäischer Standards (vgl. DFG 2000, 11–13). Das deutsche Stammzellgesetz vom 25.04.2002 verbietet zwar im Sinne des Embryonenschutzgesetzes das Erzeugen von embryonalen Stammzellen, erlaubt aber den Import von Stammzelllinien, die vor der Einführung des Gesetzes in fremden Ländern aus überzähligen Embryonen gewonnen wurden, die bei der IVF entstanden sind. Dies scheint eine Inkonsequenz und eine Nichtkonsistenz im ethischen Umgang mit embryonalen Stammzellen zu sein (vgl. Oduncu 2003, 9). Stammzellen sind Zellen mit besonderen Eigenschaften, aber kein Organismus, kein Mensch mit einer spezifischen Würde. Gibt es einen vernünftigen ethischen Grund für die Verpflichtung, alle menschlichen befruchteten Eizellen in eine Gebärmutter zu transferieren? Dies würde im Falle einer positiven Beantwortung die Fertilisationsmedizin nahezu zum Erliegen bringen. Vor dem 16. Tag und damit vor der Einnistung kann man nicht von einem menschlichen Organismus sprechen, den man durch die Verweigerung der Einleitung der Nidation töten könnte. Moderne Gewebeforschung hat schnell zur klinischen Anwendung von Knochenmarkstransplantationen geführt. Diese werden insbesondere bei Patienten mit Formen von Leukämie durchgeführt, die andernfalls innerhalb kurzer Zeit gestorben wären. Die blutbildenden Stammzellen werden traditionell angesehen als Zellen, die im Knochenmark vorhanden sind und die Zelllinien aufbauen, die insgesamt blutbildend wirken. Diese Fähigkeit der blutbildenden Stammzellen führte zu einem Modell der Entwicklung von Stammzellen mit verschiedenen Entwicklungsstadien, die dadurch charakterisiert sind, dass sie bestimmte Marker für die Expression bestimmter Gene während des Entwicklungsprozesses entweder erwerben können oder verlieren (vgl. Haverich, Graf 2002, 1–4).
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Die Diskussion um das Klonen hat bereits großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Stammzellbiologie und dies nicht nur in der Öffentlichkeit. Jedoch hat das meiste der Stammzellbiologie nichts mit Klon-Techniken zu tun, obwohl es gewisse Überschneidungen gibt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass Stammzellen, die aus dem erwachsenen Gehirn entnommen wurden, durch den Kontakt mit einer Embryonen-Mikroumgebung reprogrammiert werden können und sich dann so ähnlich wie embryonale Stammzellen verhalten. Dies führt dazu, dass man nicht immer einen Embryo verletzen muss, um ES-Zellen zu erhalten. Damit wird die strenge Unterscheidung zwischen embryonalen und erwachsenen Stammzellen sowie die zwischen potentiell totipotenten und pluripotenten Stammzellen von Erwachsenen aufgehoben. Wenn diese in ein neues zelluläres Mikroumfeld gestellt werden, führt dies zu erneuter Aktivierung embryonaler Entwicklung dieser Zellen und macht damit eine neue Determination der Potentialität von Stammzellen möglich. Dies führt zu völlig neuen Feldern der Diskussion im Rahmen der Stammzellenforschung. Obwohl das Potential der embryonalen Stammzellen (ES- und EGZellen) schon des klassischen Typs der erwähnten Experimente in der Tat überraschend ist, sind die Implantation und Transplantation dieser Stammzellen nicht die einzigen Methoden der Stammzelltechnologie, die potentiell für eine Therapie genutzt werden können (vgl. Haverich, Graf 2002, 19 f.). In einer Art und Weise sind Stammzellen kulturelle Artefakte und man könnte argumentieren, dass diese Stammzellen, sobald sie in Kultur genommen werden, nicht mehr sehr viele Schlussfolgerungen darüber erlauben, welchen Charakter in vivo sie haben können. Mitte der achtziger Jahre wurde vorgeschlagen, dass hochgradig poröses synthetisches Material mit Polymerstruktur dazu herangezogen werden sollte, als Gerüst für menschliche Gewebezellen zu dienen. Es war ein bestimmtes Polymer, das benutzt wurde, um ein Ohr auf dem Rücken einer Maus zu generieren. Dies hat zu völlig neuen Ansätzen auch in der Entwicklung der Prothetik geführt. Damit ist auch eine prothetisch orientierte Medizin langsam auf dem Weg zu einer Verfahrensform, die mit minimalen invasiven Behandlungsmethoden auskommt. In der Zwischenzeit ist zudem gut bewiesen, dass die Gefäßbildung ein Schlüssel in der Entwicklung des Embryos darstellt (vgl. Haverich, Graf 2002, 30–36). Weniger problematisch als die Stammzelltechnologie erscheinen Gewebe-Kulturen auf der Basis adulter Zellen. Bei In-vitro-Systemen auf der Basis humaner Leberzellen werden Zellkulturen entwickelt, die im Bereich medizinischer oder anderer Forschung auch industrieller Art verwendet werden können. Der Aufbau einer Gewebebank soll helfen, Methoden für die Arzneimittelforschung und Ersatzmethoden für den Tierversuch zu entwickeln. Methoden auf der Basis humaner Gewebekulturen erlauben eine bessere Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen, weil es sich um menschliche Leberzellen handelt, an denen diese Tests vorgenommen werden. Ihr Einsatzfeld ist die Prüfung von Medikamenten auf potentielle Toxizität und die Feststellung von Nebenwirkungen. Außerdem geht es um arzneimittelinduzierte Genexpressionsveränderungen. Alternativen zu dieser Methode sind vorhanden: Tiermodelle oder Tierzellkulturen. Um diese Zellkulturen entwickeln zu können, ist menschliches Gewebe als Ausgangsmaterial erforderlich, das sonst – meist nach Operationen – verworfen wird.
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Der Patient hat in der Regel an dem bei einer Operation anfallenden Gewebe kein Interesse, sofern es sich bloß um Abfall und wertloses Material handelt. Dennoch darf daraus nicht geschlossen werden, dass der Arzt automatisch Eigentumsrechte an anfallenden Körperzellen erhält, denn dies kann sich ändern, wenn Gewebe zum Rohstoff für weitere Verarbeitungsprozesse wird. Bei einer Weiterverwendung von menschlichem Gewebe ist die Einwilligung desjenigen, von dem diese Körperzellen stammen, erforderlich. Isolierte Körperzellen eines Menschen fallen in dessen Eigentumsbereich, da sie ursprünglich ein Teil des Gesamtvollzugs des menschlichen Körpers waren, dem sie entnommen wurden. Analog ist in solchen Fällen zu verfahren, wo nicht auf das Selbstverfügungsrecht zurückgegriffen werden kann, etwa bei Verstorbenen. Allerdings ist die Bewertungsfrage des nicht transplantierbaren Gewebes von verstorbenen Spendern schwieriger zu beantworten, weil hier nicht unmittelbar lebensrettende Maßnahmen initiiert werden, sondern Forschung und kommerzielle Nutzung intendiert ist. Daher muss zumindest in Analogie zum Transplantationsverfahren die Einwilligung des Spenders vorher oder die Einwilligung der Angehörigen nach dem Tod eingeholt werden. Für den Fall, dass abgetriebene Föten als Spender von Körperzellen für eine Gewebebank infrage kommen sollten, müsste hier die Einwilligung der Eltern eingeholt werden. Eine Kommerzialisierung wird im Gesundheitswesen häufig mit kritischen Augen gesehen. Allerdings ist nicht jedes Forschen am Menschen oder mit menschlichem Gewebe im ökonomischen Kontext als sittenwidrig einzustufen. Für die ethische Bewertung ist entscheidend, ob ein Mensch instrumentalisiert wurde, um sein Gewebe ökonomisch verwenden zu können, nicht dass eine Leistung im Kontext einer technischen Aufbereitung dieses Gewebes auch honoriert wird. Die Konservierung von Geweben ist schwierig, es gibt nur ein begrenztes Wissen und die Methode der Kryokonservierung bei Gewebezellen ist nicht einfach. Die begrenzte Verfügbarkeit menschlicher Zellen als Ausgangsmaterial für Gewebekulturen verschärft die Problematik, denn knappe Güter (Rohstoffe) tendieren dazu, ökonomisch (hoch) bewertet zu werden. Dadurch entsteht die Frage, ob das Gewebe selbst bezahlt werden darf oder nur die Firmentätigkeit bzw. die professionelle Tätigkeit des Arztes oder des medizinisch-technischen Personals, die in diesem Falle als eigentumsbegründend gilt. Grundsätzlich gesehen kann Eigentum veräußert werden. Also bedarf es einer Begründung, warum ein Spender sein Gewebe nicht verkaufen dürfen soll, wenn aus Verfügungsrechten über seinen Körper Eigentumsrechte gefolgert werden können. Hier muss auf das Kriterium der Nichterlaubtheit der (Selbst-)Instrumentalisierung eines menschlichen Körpers zurückgegriffen werden. Um eine Instrumentalisierung des menschlichen Körpers und eine Kommerzialisierung zu vermeiden, muss ausgeschlossen werden, dass Menschen sich zur Gewebeentnahme nur deshalb zur Verfügung stellen, um dieses Gewebe bezahlt zu bekommen. Eine Sittenwidrigkeit kann in der Bearbeitung von menschlichen Zellen nicht gesehen werden. Erst durch die Aufbereitung der Zellen durch den Arzt erhalten menschliche Zellen ihren wirtschaftlichen Wert. Da es sich um einzelne Körperzellen handelt, die außerhalb des menschlichen Organverbundes keine Überlebensmöglichkeiten hätten, wird bei der Weiterverarbeitung von menschlichen Körperzellen nicht menschli-
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ches Leben verdinglicht, sofern ein Mensch sich nicht nur zur Gewinnung dieser Gewebezellen einer Operation unterzieht. Eine Eigentumsübertragung an bestimmten Körperzellen ist ethisch zu rechtfertigen, sofern wichtige Ziele mit Gewebekulturen erreicht werden können und keine ethischen Prinzipien (durch Manipulation bzw. Selbstmanipulation) verletzt werden. Was ist denn falsch an dem Versuch, zusätzliche Embryonen für den alleinigen Gebrauch in der Forschung zu erschaffen? Das Schicksal eines Embryos, der die Gelegenheit zur Implantation erhalten hat, ist verschieden von dem Schicksal eines Embryos, der diese Gelegenheit niemals erhalten wird. Die Forscher scheinen darin übereinzustimmen, dass Forschung an Embryonen sehr bedeutsam ist für die Entwicklung der Medizin und für neue Behandlungsmethoden. Die Standards für die Akzeptabilität für Forschung an Embryonen sind strenger als die Restriktionen, die die Forschung an Kindern betreffen. Die härteste Opposition gegenüber Embryonenforschung kommt von den Advokaten eines Glaubens, dass alle Menschen das Werk Gottes und als solches vollkommen sind (vgl. Friele 2001, 78–84). Vielleicht sollten menschliche Embryonen nicht für die Forschung ausdrücklich produziert werden, aber diejenigen, die bereits produziert wurden, z. B. zu Zwecken der IVF, und die überflüssig sind, sollten möglicherweise für wichtige Experimente bis zum 14. Tag ihrer Existenz genutzt werden dürfen. Dies ist auch ein Weg, den die PID ermöglichen würde (vgl. Friele 2001, 108). Es ist wohl möglich, eine Linie zu ziehen zwischen negativer und positiver Eugenik und all die Tendenzen auszuschließen, die in die Nähe von positiver Eugenik kommen (vgl. Friele 2001, 112). Beobachtungs-, Bewertungs- und Interventionspraxis greifen in den Life-Sciences ineinander. Dabei sollte die Frage leitend werden, warum es Stammzellforschung geben soll, und an die Stelle der dauernden Frage nach dem moralischen Status des Embryos treten (vgl. Hauskeller 2002, 173–185). Selbst Ludger Honnefelder geht davon aus, dass bei einem Embryo, der zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erzeugt worden ist, dieser Zweck aber aus nicht behebbaren Gründen nicht ausgeführt werden kann und bei dem daher der Würdeschutz nur noch in der Form des Sterben Lassens zu verwirklichen ist, eine Abwägung des Lebensschutzes angesichts von hochrangigen, dem Lebensschutz dienenden Zielen möglich ist. Daher stelle es keinen Verstoß gegen den gebotenen Würdeschutz dar, in diesem Falle embryonale Stammzellen für Forschungszwecke hochrangiger Art zu verwenden (vgl. Honnefelder 2002, 109). Ein Gradualist kann reproduktives Klonen, das zu einem menschlichen Klon z. B. zur Vermeidung oder Umgehung einer schweren Erbkrankheit führen soll, anders als negativ bewerten, insbesondere reproduktives Klonen befürworten, das zu einem Ersatzorgan führen möchte (therapeutisches Klonen). Ein Gradualist kann auch die Erzeugung von Präimplantationsembryonen zu Forschungszwecken für vertretbar halten, selbstverständlich nicht für beliebige Forschungs- oder therapeutische Zwecke. Entscheidend ist in diesem Falle das Ziel der Gesamthandlung, hier die Erzeugung eines Ersatzorgans, für die die Verwendung eines Klonierungsprozesses (als methodischer Schritt) im Präimplantationsstadium zugestanden werden kann. Ob Stammzellforschung zu einer Therapie werden wird, wissen die Forscher wohl heute nicht. Sie können dies bei einem umfassenden Verbot auch nicht heraus-
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finden. Diese Grenzziehungsmethode ist der falsche Weg für eine Bioethik. Vielmehr ist die entscheidende Perspektivenverschiebung in der Stellung der Frage z. B. derart: Was denn Stammzellforschung überhaupt soll. Dies unterstellt allerdings, dass es in der Forschung durchaus hochrangige Langfristziele gibt, die solche Eingriffe erlauben könnten, wie nachwachsende Organe. Aber solange nicht klar ist, wie der wissenschaftliche Weg zu ihnen führt, ist es empfehlenswert, vorsichtig zu agieren und eher an pluripotenten als an totipotenten Zellen zu arbeiten. Dennoch sollten die alternativen Wege nicht aufgrund eines Apriori-Vorurteils heute nicht beschritten werden. 3.4 LEBENSSCHUTZ UND ABTREIBUNG (MEDIZINISCHE INDIKATION), PRÄNATALDIAGNOSTIK UND PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK 3.4.1 Pränataldiagnostik Der Begriff Pränataldiagnostik (PND) bezeichnet Untersuchungen an ungeborenen Kindern (Föten) und schwangeren Frauen zur Früherkennung von Entwicklungsstörungen, um eine frühzeitige optimale Betreuung bzw. Behandlung der Schwangeren und des Kindes einzuleiten. Die technischen Voraussetzungen einer solchen Untersuchung waren bereits in den 1950er Jahren mit der Entwicklung der Sonographie (Anwendung des Ultraschalls in der Medizin) gegeben. Dieses neue bildgebende Verfahren, das gegenüber dem Röntgenverfahren den Vorteil eines höheren Weichteilkontrastes und keiner Strahlengefährdung hat, fand erstmals insbesondere in der Kardiologie, Angiologie und Augenheilkunde Anwendung, im selben Zeitraum auch in der Gynäkologie. 1958 gelang dem britischen Geburtshelfer Ian Donald erstmals die sonographische Darstellung eines ungeborenen Kindes, was zugleich als Grundlage und Beginn pränataler Diagnostik bezeichnet wird (vgl. Hepp 1999; Kowalcek, Bachmann & Mühlhof 1999). Die technische Weiterentwicklung der Ultraschallgeräte ermöglichte eine hohe Detailauflösung und damit die Erkennung von strukturellen Fehlbildungen fetaler Organe. So wurde die Diagnose von Bauchwanddurchbrüchen, Zwerchfellhernien, Verlagerungen der Herzachse, Fehlbildungen von Organen wie z. B. der Lunge oder der Nieren, Fehlbildungen der Extremitäten oder Verschlüssen (Obstruktionen) im Magen-Darm-Trakt möglich. Diese nicht-invasive, äußerliche Untersuchungsmethode wurde durch die Entwicklung invasiver Techniken erweitert. Seit Ende der 1960er Jahre (erstmals publiziert 1966 in „The Lancet“ von M. W. Steele und W. R. Breg) war die Entnahme (durch Punktion der Fruchtblase) und chromosomale Untersuchung von im Fruchtwasser enthaltenen fetalen Zellen (Amniozentese) während des zweiten Schwangerschaftsdrittels möglich. Anfang der 1980er Jahre (Erstveröffentlichung von Ward et al. sowie Rodeck et al. 1983) folgte das Verfahren der Chorionzottenbiopsie, bei dem Zellen aus den Zotten der Eihaut (bildet später die Plazenta) während des ersten Schwangerschaftsdrittels entnommen, kultiviert und einer genetischen Analyse unterzogen werden. Als weitere Maßnahmen zur Entnahme fetaler Zellen wurden die Frühamniozen-
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tese (1987), also die Untersuchung der im Fruchtwasser befindlichen fetalen Zellen bereits ab der 10. Schwangerschaftswoche, die Punktion fetaler Gefäße und fetaler Organe sowie die Entnahme von Blut aus der Nabelschnur (1999) entwickelt. In neuerer Zeit steht zunehmend auch die pränatale MRT-Untersuchung der Feten als nicht-invasive Diagnostik zur Verfügung, die vorrangig in Ergänzung der pränatalen Sonographie bei unklaren Befunden ab der 20. Schwangerschaftswoche zur Anwendung kommt. Eine vorgeburtliche Diagnose zu genetischen Eigenschaften des Kindes lässt sich jedoch bisher anhand nicht-invasiver Ultraschall-gestützter Untersuchungen nicht stellen. So hoffte man einen anderen Forschungsweg zur nichtinvasiven Diagnostik, also einer Diagnostik ohne Eingriffsrisiko, zu eröffnen, indem aus dem Blut der Mutter die in kleinsten Anteilen vorkommenden kindlichen Zellen genutzt werden sollten. Es wurde jedoch keine praxissichere Methode gefunden, die kindlichen Zellen selektiv anzureichern, um sie einer weiteren Untersuchung zuzuführen (vgl. Holzgreve 2014, 11). 1997 gelang es Dennis Lo in Oxford, zellfreie DNA-Fragmente des Fötus im mütterlichen Blut nachzuweisen, womit der Grundstein für eine neue, nicht-invasive, genetische Diagnostik gelegt worden war. Herkömmliche Sequenziermethoden konnten jedoch nur qualitative Unterschiede der DNA des Fötus zum mütterlichen Erbgut zuverlässig darstellen. Inzwischen sind mit den in den letzten Jahren entwickelten neuen DNA-Sequenziertechniken die Voraussetzungen geschaffen worden, auch zahlenmäßige Chromosomenveränderungen beim Fötus nicht-invasiv nachweisen zu können. Seit Mitte 2012 ist in Deutschland der erste genetische Test zur Bestimmung der fetalen Trisomie 21 aus dem Blut der Schwangeren auf dem Markt. Bei auffälligem Testergebnis muss allerdings eine invasive Diagnostik zur Bestätigung angeschlossen werden (vgl. Holzgreve 2014, 11 f.). Bislang sind invasive Untersuchungsverfahren mit unterschiedlichen und von verschiedenen Faktoren abhängigen Risiken, z. B. erhöhtes Verletzungsrisiko für den Fetus und erhöhtes Risiko einer Fehlgeburt, belastet (vgl. Henn 2006, 23–25). Dementsprechend hat auch bei dem besonderen Wunsch der Schwangeren bzw. des Elternpaares nach Wissen über den Gesundheitszustand des Kindes der Arzt über die Inanspruchnahme einer invasiven Untersuchung abzuwägen zwischen den Risiken der Untersuchung und der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Behinderung. Dies kann jedoch weitreichende gesellschaftliche und juristische Konsequenzen nach sich ziehen: Diejenigen Ärzte, die von einer invasiven Untersuchung abraten, sehen sich bei der Geburt eines Kindes mit durch die Untersuchung feststellbarer Behinderung mitunter Schadensersatzansprüchen (vgl. Riedel 2006; siehe auch Kap. 3.4.3) ausgesetzt. Auch deshalb ist in Deutschland mittlerweile ein flächendeckendes Angebot von pränatalen Untersuchungen mit hoher diagnostischer Sicherheit etabliert, das durch den inzwischen recht hohen Bekanntheitsgrad verschiedener Untersuchungsverfahren bisweilen den Eindruck von „Vermeidbarkeit“ von Kindern mit Behinderung vermittelt (Honnefelder 2000). Tatsächlich bestehen – abgesehen etwa von Herzfehlern, Spina bifida, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten – für einen nicht unbedeutenden Anteil pränatal festgestellter Anomalien (insbes. Chromosomenanomalien, monogene Erbleiden) keine Behandlungsmöglichkeiten (weder pränatal in uteri noch postnatal) zur ursächlichen bzw. vollständigen Heilung
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der Erkrankung oder Behinderung. Unter dieser Prämisse ist der Wunsch der werdenden Mutter bzw. Eltern nach einem (gesicherten) genetischen Test verständlich und nachvollziehbar, der aber zumindest latent eine „Schwangerschaft auf Probe“ – mit einhergehender psychischer Belastung – und bei Diagnose einer Behinderung, Fehlbildung oder Erkrankung des Fetus in der Konsequenz häufig den Abbruch der Schwangerschaft (medizinische Indikation) nach sich zieht. Allerdings liegt das durchschnittliche Risiko, ein Kind mit Behinderung zu bekommen, für ein Elternpaar ohne spezifische Wahrscheinlichkeitserhöhung bei ca. 3 %; wobei dies eher auf mögliche Geburtskomplikationen (2–3 %) als auf eine genetisch bedingte Erkrankung (0,3–1 %) zurückzuführen ist. Bei einer tendenziellen Fokussierung der PND auf dieses vergleichsweise geringe Risiko einer genetisch bedingten Erkrankung entstehe – so die Bedenken der Kritiker der PND – in der Gesellschaft der Eindruck, dass durch die diagnostischen Möglichkeiten der Pränataluntersuchung Behinderungen und Fehlbildungen vermeidbar seien. Es scheint sich subtil eine Entwicklung abzuzeichnen, dass Schwangere dafür verantwortlich gemacht werden, ein mit allen Möglichkeiten der Medizin abgeklärtes gesundes Kind zu bekommen; zunehmend würde die Nicht-Inanspruchnahme der pränataldiagnostischen Möglichkeiten und somit das Nichtwissen um eine genetisch bedingte Erkrankung des Fetus als Schuld oder Haftung betrachtet (Maier 2000, 14, 121). Diesen Eindruck unterstützt eine Studie von 2001 (vgl. Lenhard 2006, 42–44), wonach sich mittlerweile die große Mehrzahl der befragten Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom mit Schuldvorwürfen konfrontiert sieht, keine Diagnostik durchgeführt und – insbesondere bei Kenntnis der Diagnose – die Geburt des Kindes nicht verhindert, also nicht abgetrieben zu haben. Dabei gab die Mehrheit der in der Studie befragten Eltern (68,5 %) an, dass sie sich auch mit Wissen um eine zu erwartende geistige Behinderung ihres Kindes nicht für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden würden. Diese Aussage ist zugleich Indiz dafür, dass Pränataldiagnostik auch außerhalb des Kontextes der Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch hilfreich ist. Abgesehen davon, dass der Grad bzw. die Ausprägung der Behinderung beim geborenen Kind nicht immer zweifelsfrei prognostiziert werden kann, kann ein auffälliges Ergebnis einer Chromosomenanalyse zu einer Weiterführung der Schwangerschaft unter Akzeptanz einer zu erwartenden Behinderung des Kindes führen. Häufig äußern sich Eltern nach dem Austragen des Kindes durchaus zufrieden mit der Tatsache, dass sie sich bereits vor der Geburt ihres Kindes auf die bevorstehende Herausforderung hätten einstellen können (Henn 2006, S. 25). Pränataldiagnostik ist im eigentlichen Sinne nicht mit Blick auf einen Schwangerschaftsabbruch, sondern auf das Schwangerschafts„management“, die Art der Geburtsleitung und die Planung von Therapien nach der Geburt gerichtet. Ein typisches Beispiel ist die Schwangere mit vorzeitigen Wehen bei im Ultraschall erkanntem Herzfehler. Eine Chromosomenanalyse dient hier zum Erkennen von Chromosomenanomalien, die mit dem Überleben des Kindes nicht vereinbar sind; eine Unterdrückung der natürlicherweise beginnenden Fehlgeburt wäre in diesem Falle fatal. Ein pränatal festgestellter Herzfehler des Fetus etwa gibt Anlass, die Geburt in einem Zentrum mit Anbindung an eine Kinderkardiologie durchzuführen. Ein
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pränatal erkannter Bauchwanddefekt des Kindes kann durch eine geplante Schnittentbindung mit Operation unmittelbar nach der Geburt oft vollständig geheilt werden, wohingegen ohne die Diagnose eine ‚natürliche‘ Geburt tödlich verlaufen würde (Henn 2006, 26). Die komplizierten medizinischen Zusammenhänge und die immer weiter zunehmenden technischen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik implizieren unmittelbar (medizin)ethisch relevante Fragen und Entscheidungen, die etwa von Henn hinsichtlich der Indikationsstellung, Aufklärung, den Untersuchungsparametern, der Abbruchsindikation, des Haftungsrisikos und der Finanzierung zur Diskussion gestellt werden (vgl. Henn 2006, 26 f.): (1) Welche pränatalen Untersuchungen sollen in welchem Umfang wem (allen Schwangeren; bestimmten, z. B. durch ihr Lebensalter definierten Gruppen; nur auf individuellen Wunsch) zukommen? (2) Welche Standards für frauenärztliche, humangenetische, psychosoziale Beratung vor und nach der Pränataldiagnostik sind erforderlich und wie sollen/können diese geregelt werden? Für welche vorgeburtlich darstellbaren Eigenschaften sollen Untersuchungen überhaupt zulässig sein? (bislang rechtlich unklar sind z. B. pränatale Vaterschafts- und Geschlechtsbestimmungen). (3) Genügt das im § 218 StGB (siehe Kap. Schwangerschaftsabbruch) vorgesehene Kriterium der für die Schwangere angesichts der pränatalen Diagnose „nicht zumutbaren“ Weiterführung der Schwangerschaft? (4) In welchem Maße müssen Ärzte nach Verzicht auf pränataldiagnostische Maßnahmen mit rechtlichen Konsequenzen rechnen („Kind als Schaden“)? (5) Inwieweit sollen die Kosten von Pränataldiagnostik vom Solidarsystem getragen werden oder von der Schwangeren selbst? Drohen umgekehrt künftig Haftungsausschlüsse für durch Suchtests und Pränataldiagnostik „vermeidbare“ Behinderungen? In der allgemeinen Wahrnehmung der Schwangeren scheint PND schon gar nicht mehr als freiwillige Option, sondern als routinemäßiges Verfahren im Rahmen der Schwangerenvorsorge angesehen zu werden, was die hohe Inanspruchnahme der PND bei gleichzeitig niedrigem Aufklärungsniveau allein hinsichtlich der Begrifflichkeit und Bedeutung von PND der Schwangeren erklärt (vgl. BZgA 2006). Bedenklich sind vor allem die Anzeichen einer ungerichteten Inanspruchnahme der PND. Häufigste Beweggründe der Schwangeren, sich einer pränataldiagnostischen Untersuchung zu unterziehen, sind offenbar das Anraten des Arztes und das – in diffuser Sorge vor eventuellen gesundheitlichen Abweichungen des Nachwuchses – Vermeiden von Schuldgefühlen. Eine mögliche Heilungschance bei festgestellter Gesundheitsstörung des Kindes wird lediglich von einer Minderheit der Schwangeren als Option und Ziel der PND gesehen (vgl. BZgA 2006; siehe auch Eilert 2014). Das wirft insbesondere die Frage nach den Inhalten individueller Aufklärung und Beratung der Schwangeren zur PND auf. Wie aus den validen Daten einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2006 ersichtlich (BZgA 2006), wurde von der deutlichen Mehrheit der befragten Schwangeren (60–70 %) die Beratung über Art und mögliche Ursachen von Entwicklungsstörungen oder Anlagen für Erkrankungen, über die Fortführung oder den möglichen Abbruch der
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
Schwangerschaft sowie über die vor- und nachgeburtliche Therapie als sehr gut und gut eingeschätzt. Eine genau gegenteilige Einschätzung besteht zur Beratung über mögliche Folgen für die Schwangere bzw. Mutter und deren Familie, zu den Möglichkeiten der Vorbereitung auf das Leben mit dem kranken oder behinderten Kind und der Inanspruchnahme psychologischer und finanzieller Hilfen. Sofern die pränatale Beratung nur auf medizinische, verfahrenstechnische und wahrscheinlichkeitsprognostische Inhalte reduziert wird, ermöglicht sie der Schwangeren und den werdenden Eltern keine wirkliche Entscheidungsfreiheit. Eher könnten sich die Sorge vor gesundheitlichen Störungen des Kindes und damit nicht definierte ängstliche Erwartungen in der Schwangerschaft, Schuldgefühle bei Nicht-Inanspruchnahme der modernen Nachweisverfahren sowie Vorbehalte gegenüber der individuellen Familienplanung mit einem kranken bzw. behinderten Kind verstärken. Hierbei kommt den psychosozialen und ethischen Beratungsinhalten eine hohe und besondere Relevanz in der pränatalen Beratung zu; die aus den zahlreichen Konfliktpotentialen für die betroffenen Frauen bzw. Eltern resultierenden Belastungen müssen offensiv angesprochen werden. Eine angemessene Aufklärung und Beratung zur Inanspruchnahme und zu den Folgen setzt allerdings zunächst die Bewertung der Befunde in ihrer Zuordnung und Prognose des Krankheitswertes voraus. Mit modernen pränataldiagnostischen Methoden werden nicht nur relativ eindeutige Diagnosen wie bei Chromosomenfehlverteilungen möglich, sondern auch genetische Normabweichungen mit völlig unklarem Krankheitswert feststellbar sein. Unklassifizierte Varianten oder sogenannte Copy Number Variants (CNV), also submikroskopische strukturelle Chromosomenveränderungen, vermögen oftmals nur vage Prognosen von Krankheitsassoziationen aufzuzeigen; die Korrelation zwischen nachweisbarer Deletion bzw. Duplikation eines Chromosomenabschnitts und dem Phänotyp ist nicht immer klar (Bartholdi 2008, 108). Dementsprechend würde bei Einbeziehung solcher Analysen in ein pränatales Screening die Differenzierung zwischen eindeutig „positiv“ oder „negativ“ einzustufender PND-Befunde deutlich schwieriger und unschärfer, zumal diese genetischen Varianten nicht unbedingt zur Ausbildung eines Merkmals führen müssen oder aber interindividuell ganz unterschiedliche Merkmalsausprägung zeigen (vgl. Bartholdi 2008, 108, am Beispiel TAR-Syndrom und Autismus). Aber auch unabhängig von einer zukünftig bestimmbaren genetischen Korrelation stellt sich für die moderne Reproduktionsmedizin die Frage nach der Bewertung von Merkmalen bzw. Eigenschaften. Beachtenswert dürfte dabei sein, dass nicht zuletzt aus medizinischer Sicht – betrachtet man manche Beschreibung in der Retrospektive – der pathogene Charakter und die Schwere der Krankheitssymptomatik im Laufe der Zeit auch durchaus abweichend bewertet worden sind. Noch eindrücklicher ist die Erkenntnis, dass das Vorliegen bestimmter genetischer Anomalien (etwa der Geschlechtschromosomen wie beim Klinefelter Syndrom) mit einer „normalen“ Lebenserwartung bei relativ unauffälligem klinischen Befund, also kaum oder keinen organischen und/oder mentalen Einschränkungen, einhergehen kann. Zudem sind in neuester Forschung inzwischen auch außergenetische, vom genetischen Code unabhängige Regulationsmechanismen auf chromosomaler Ebene bzw. bei der Proteinsynthese (siehe Epigenetik, Proteomik) erkannt worden,
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womit zukünftig – bei verbesserten Diagnosemöglichkeiten – auch in der PND andere oder weitere Kriterien zu bestimmen wären, d. h. dass womöglich nicht vordergründig die genetische Abweichung das entscheidende Kriterium sein kann (vgl. Eilert 2014). Eine ethische Dimension erlangt die Bewertung, wenn danach gefragt wird, welche Eigenschaften gesellschaftlich erwünscht und positiv bevorzugt werden sollen und welche als unerwünscht in ihrer Fortpflanzung zu verhindern sind. Eine offene Diskussion über die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz merkmalsgebundener Abweichungen des Menschen in zukünftigen Generationen hat in ihrer Konsequenz auch unmittelbare Auswirkungen auf die Indikation und Zulassung bestimmter Analyseverfahren als pränatales Screening. Nur wenn es gelingt, werdenden Eltern eine freie, auf angemessener Aufklärung basierende Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme pränataler Diagnostik zu garantieren, kann sie ethisch vertretbar sein (vgl. Henn 2006, 27). 3.4.2 Präimplantationsdiagnostik Präimplantationsdiagnostik (PID) ist ein Diagnose-Verfahren, das Eltern, die ein hohes Risiko für die Geburt eines Kindes mit einer schweren erblichen Krankheit haben, die Geburt eines Kindes ermöglicht, das von der betreffenden Krankheit nicht betroffen ist (vgl. Leopoldina Stellungnahme 2011). Es handelt sich also um eine gezielte genetische Untersuchung eines nach In-vitro-Fertilisation (IVF) erzeugten Embryos auf Chromosomenaberrationen und schwere Erbkrankheiten vor dessen Implantation in die Gebärmutter der Frau. Das Verfahren ist seit den frühen 1990er Jahren verfügbar und wurde bereits bei der Zeugung von über 10.000 Kindern weltweit angewendet (vgl. Erläuterungen 2011, 7,9). In vielen (darunter den meisten europäischen) Ländern ist PID gesetzlich geregelt; während sie z. B. in Italien, Österreich und der Schweiz verboten ist, gelten in China, Großbritannien, Israel, Indien und den USA weitaus weniger rechtliche Einschränkungen. Nach dem vom Deutschen Bundestag 2011 erlassenen Gesetz1 ist PID in Deutschland begrenzt zulässig, nämlich ausschließlich zur Vermeidung von schweren Erbkrankheiten sowie von Tot- und Fehlgeburten aufgrund einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos. Die verbreitete Anwendung der PID weltweit ist nicht zuletzt auf eine Ausweitung des Indikationsspektrums zurückzuführen. So wird heute die PID nicht nur zum Nachweis von etwa 200 Erbkrankheiten genutzt, sondern auch, um etwa die Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation zu erhöhen oder zur Geschlechterselektion mit oder ohne Krankheitsbezug. Eine Ausweitung der Indikation wird auch gegenüber 1
Gesetz zur Regelung der PID (PräimpG) vom 21.11.2011, zit. in: Wiesing 2012, 430–431. Die Anwendung von PID ist jedoch erst mit der rechtskräftigen Verordnung (VO) über die rechtmäßige Durchführung einer PID erlaubt. Nach der Zustimmung zu einem VO-Entwurf mit Änderungsauflagen durch den Bundesrat am 01.02.2013 beschloss das Kabinett am 19.02.2013 eine entsprechend geänderte Fassung der VO, die am 01.02.2014 inkraft getreten ist.
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
dem Indikationsspektrum der Pränataldiagnostik (PND) beschrieben; so würden mittels PID Krankheiten diagnostiziert, die auch bei einer PND untersucht werden könnten, deren Diagnose aber nicht üblich ist. Das zentrale Anwendungsgebiet der PID ist der Nachweis genetisch bedingter, d. h. erblicher Krankheiten, die familiär gehäuft auftreten. Weniger häufig wird die PID auch im Rahmen allgemeiner Risikovorsorge angewendet, namentlich zur Entdeckung spontaner Neumutationen in einer durch genetische Krankheiten bisher unbelasteten Familie. Grundsätzlich werden drei verschiedene Formen genetischer Erkrankungen unterschieden: 1. monogene Erbkrankheiten, 2. multifaktoriell bedingte Erkrankungen sowie 3. Chromosomenstörungen. 1. Monogene Erbkrankheiten können einen autosomal-dominanten (1), einen autosomal-rezessiven (2) oder einen geschlechtsgebundenen Erbgang (3) aufweisen. Monogen bedingte Erkrankungen können jedoch auch durch eine spontane Neumutation in einer bisher unbelasteten Familie auftreten (vgl. Geraedts, Wert 2009, 315–325). Zu den häufigsten (1) autosomal-dominanten Erbkrankheiten, die mittels PID diagnostiziert werden, gehören die Huntington-Krankheit sowie die myotone Dystrophie. Die Huntington-Krankheit (Chorea Huntington) ist eine neurodegenerative Erkrankung mit einer Häufigkeit von etwa 1:15000. Das durchschnittliche Manifestationsalter liegt bei etwa 40 Jahren. In etwa 10 % der Fälle manifestiert sich die Krankheit bereits im Alter unter 20 Jahren. Die mittlere Lebenserwartung beträgt nach Ausbruch der Krankheit etwa 15 Jahre. Eine Therapiemöglichkeit besteht nicht. Die myotone Dystrophie ist eine degenerative Muskelerkrankung, die sich typischerweise entweder bereits nach der Geburt oder erst zwischen dem 2. und 4. Lebensjahrzehnt manifestiert. Die Häufigkeit der Krankheit beträgt etwa 1:8000. Neben der Muskulatur sind viele Organe betroffen, wobei eine sehr variable Expressivität vorliegt. Die Gesamthäufigkeit der autosomaldominanten Erbkrankheiten wird auf etwa 7:1000 geschätzt, d. h. sieben von 1000 Geburten sind davon betroffen (Grimm 2006, 235 ff.). (2) Autosomal-rezessive Erbkrankheiten treten nur bei homozygoten Trägern des mutierten Gens in Erscheinung, nicht aber bei heterozygoten. Entdeckt werden die heterozygoten Träger gewöhnlich erst, wenn ein erkranktes Kind geboren wird. Die Gesamthäufigkeit der autosomal-rezessiven Erbkrankheiten wird auf etwa 2,5:1000 geschätzt (Grimm 2006). Als wichtige Beispiele sind die Zystische Fibrose – eine der häufigsten angeborenen Stoffwechselerkrankungen (1:2500) – sowie spinale Muskelatrophien (1:10000) zu nennen (Grimm, Holinski-Felder 2006, 277 ff.). (3) Manche Erbkrankheiten werden durch Genmutationen auf dem Geschlechtschromosom X verursacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind an einer X-chromosomalen Erbkrankheit erkranken wird, ist abhängig von dessen Geschlecht, der genetischen Disposition der Eltern sowie der Art des Erbgangs. Die Gesamthäufigkeit aller bekannten X-chromosomal-rezessiven Erbkrankheiten wird bei männlichen Lebendgeborenen auf 0,8:1000 geschätzt. Beispiel für eine X-chromosomal-rezessive Erbkrankheit ist die Duchenne-Muskeldystrophie. Sie stellt die häufigste Form der progressiven Muskeldystrophien dar (1:3000), wobei nur männliche Nachkommen erkranken. Die Muskelschwäche manifestiert sich bereits in den ersten Lebensjahren und führt zum Verlust der Gehfähigkeit zwischen dem 10. und
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dem 12. Lebensjahr. Die Lebenserwartung beträgt etwa 20–25 Jahre. Die Krankheit ist nicht therapierbar. 2. Multifaktoriell bedingte Erkrankungen kommen durch ein kompliziertes Wechselspiel sowohl genetischer als auch nicht genetischer Faktoren zustande. Als Beispiele können so unterschiedliche Krankheiten wie Morbus Alzheimer, Neuralrohrdefekte, Schizophrenie oder einzelne Suchterkrankungen angeführt werden. Multifaktoriell bedingte Erkrankungen sind im Vergleich zu monogenen Erkrankungen wesentlich häufiger und im medizinischen Alltag von größerer Bedeutung. Bisher sind aber erst wenige Gene bekannt, die an der Entstehung von multifaktoriell bedingten Erkrankungen beteiligt sind und mittels PID nachgewiesen werden können. 3. Chromosomenstörungen oder -aberrationen werden gewöhnlich in numerische Störungen (1) sowie in strukturelle Störungen (2) eingeteilt: (1) Bei einer numerischen Chromosomenstörung ist entweder die Anzahl der einzelnen Chromosomen (Aneuploidie – Monosomie und Trisomie) oder des gesamten Chromosomensatzes (Polyploidie; führt zum Absterben des Embryos bzw. Fötus) fehlerhaft. Chromosomenaberrationen sind in der Regel nicht ererbt, sondern entstehen spontan während der Reifung der Keimzellen. (2) Als strukturelle Chromosomenstörungen werden chromosomale „Umbauten“ entweder innerhalb eines Chromosoms oder zwischen verschiedenen Chromosomen bezeichnet (Utermann 2006, 307 ff.). Seit etwa Ende der 1990er Jahre wird die PID immer häufiger bei unfruchtbaren Paaren in meist fortgeschrittenem Alter angewendet, die z. T. bereits mehrere Fehlgeburten oder mehrere erfolglose IVF-Zyklen erlitten haben. Dabei ist das erklärte Ziel, Embryonen mit numerischen Chromosomenstörungen, die für die genannten Probleme als ursächlich angesehen werden, auszusondern, um so die Erfolgsrate der IVF zu verbessern (vgl. Munné 2009, 403 ff.). Heute ist dieses so verstandene Aneuploidie-Screening die häufigste Indikation für eine PID (vgl. hierzu Goossens 2009, 1786 ff.). Allerdings häufen sich die Hinweise, dass das Screening die Erfolgsrate der IVF nicht erhöht, sondern im Gegenteil eher vermindert; über die Gründe könne aber bislang nur spekuliert werden. Kritisch wurde aber auch vorgebracht, dass die Analyse der Erbinformation einer einzelnen Zelle grundsätzlich keine Rückschlüsse über die Entwicklungsfähigkeit des Embryos erlaube (vgl. Erläuterungen 2011, 19). Die PID wird auch fruchtbaren Frauen über 35 Jahren angeboten, bei denen infolge ihres fortgeschrittenen Alters ein erhöhtes Risiko besteht, Kinder mit einer chromosomalen Störung (insbesondere Trisomie 21) zu bekommen. Mittels PID sollen diejenigen Embryonen ausgesondert werden, die einen anormalen Chromosomensatz aufweisen. Seit 2001 wird die PID auch mit dem Ziel durchgeführt, einen Embryo auszuwählen, der immunologisch verträglich mit einem schwer erkrankten Geschwister ist, zur Erzeugung eines sogenannten Retter- oder Designbabys. Dabei geht es um folgendes Szenario: Eltern haben ein Kind, welches an einer erblichen Krankheit leidet, die die Blutbildung oder die Immunabwehr schwer schädigt. Dem erkrankten Kind kann durch eine geeignete Blutstammzellenspende wirksam geholfen werden. Am ehesten findet man unter Geschwistern einen immunologisch verträglichen Spender, doch die Wahrscheinlichkeit der Immunkompatibilität liegt bei 25 %.
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
Mittels IVF und PID kann die Wahrscheinlichkeit erheblich gesteigert werden. Dabei wird nach immungenetischen Kriterien unter den in vitro erzeugten Embryonen derjenige Embryo ausgesucht, der zum erkrankten Geschwister passt. Zugleich wird ausgeschlossen, dass das „Retterbaby“ ebenfalls Anlageträger für die gleiche Krankheit ist. Die PID zur Auswahl eines immunkompatiblen Embryos wird bisweilen auch dann eingesetzt, wenn das zu heilende Geschwister an einer nicht erblichen Krankheit wie etwa Leukämie leidet. In diesem Fall wird die PID ausschließlich im Interesse des erkrankten Kindes durchgeführt. Die PID wird zunehmend auch einzig mit dem Ziel durchgeführt, das Geschlecht des Embryos zu selektieren. Diese Indikation wird gewöhnlich als „social sexing“ oder als „family balancing“ bezeichnet. In den USA wie auch in Europa sei keine generelle Präferenz für eines der Geschlechter beobachtet worden. In anderen Ländern stellt der Wunsch nach männlichen Nachkommen dagegen die wesentliche Motivation für die Geschlechtsselektion dar. In Europa wird die PID in knapp 2 % der Fälle zur Selektion des Geschlechts ohne Krankheitsbezug angewendet. In den USA sind es etwa 10 % aller PID-Zyklen (Goossens 2009, 1786–1810; vgl. auch Wilhelm 2011). In den USA wird die PID vereinzelt auch Paaren mit einer genetisch bedingten Anomalie angeboten, die sich Kinder mit der gleichen Anomalie wünschen. Beispiel ist die erbliche Taubheit, die mittels PID nachgewiesen werden kann. Etwa 3 % der IVF/PIDKliniken in den USA bieten diese Art von Diagnostik an (vgl. Erläuterungen 2011, 21). Hinsichtlich der technischen Durchführbarkeit ist die PID als Verfahren schwierig, zumal in der Regel höchstens zwei Zellen für den Test zur Verfügung stehen und das Verfahren nicht wiederholt werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Testergebnis korrekt ist, läge bei etwa 90–95 %, dennoch sei das Risiko von Fehldiagnosen (falsch negative Untersuchungsergebnisse) nicht zu vernachlässigen (Murken 2006). Deshalb wird allen betroffenen Paaren empfohlen, während der Schwangerschaft zusätzlich eine PND durchzuführen. Die Diskussion um Zustimmung oder Ablehnung der PID entzündet sich an der (ethischen) Bestimmung der mit ihr verbundenen Wertmaßstäbe. Dabei stehen diese Werte in engem Zusammenhang mit grundlegenden Fragen unseres menschlichen Selbstverständnisses insgesamt. Während die PID auch international nur sehr vereinzelt völlig uneingeschränkt Zustimmung findet, wird sie insbesondere von der katholischen Kirche, Gentechnikkritischen Gruppen sowie einzelnen Frauenorganisationen grundsätzlich abgelehnt. Auch einige Stimmen aus Philosophie und Ethik möchten die PID weiterhin uneingeschränkt verboten sehen. Die Argumente, die dabei eine Rolle spielen, betreffen einerseits das Verfahren selbst und seine unmittelbaren Auswirkungen, andererseits die Fernwirkungen des Verfahrens, die durch seine Etablierung und Verbreitung zu befürchten seien. Diese können sich auf die indirekt betroffene, heutige Gesellschaft beziehen, insbesondere aber auch auf die gesellschaftliche Situation in der Zukunft. Neben Argumenten einer implizierten technischen Verfügung über den weiblichen Körper und damit Entwürdigung der Frau, der widernatürlichen technischen Einflussnahme auf den Prozess der menschlichen Fortpflanzung oder einer schädlichen Verzerrung der natürlichen Familienstrukturen, wenn die Anerkennung
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und Liebe für Kinder von deren überprüften genetischen Eigenschaften abhängig gemacht würde, wird die Ablehnung vor allem aber mit der Schutzwürdigkeit des Embryos sowie mit der Gefahr einer Diskriminierung kranken und behinderten Lebens und letztlich Selektion nach Wert und Unwert menschlichen Lebens im Sinne der Eugenik begründet (vgl. Habermas 2002). Kernfrage der PID ist, was ein Embryo – in vivo oder in vitro – ist und was mit ihm gemacht werden darf. Befürworter der PID sehen in ihm keinen vollständigen Menschen, sondern eine Vorstufe dazu. Diese erfordere zwar besondere Formen des (Be-)Handelns – etwa „mit Respekt“ (Maio 2002, 160–163; Maio 2009, 90–95) –, keinesfalls aber genieße ein Embryo die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Der Lebensschutz für Embryonen ist jedoch schon allein aufgrund der von breitem gesellschaftlichen Konsens getragenen Rechtslage (die einen abgestuften Lebensschutz nicht erkennen lässt) nicht so einfach zu begründen: im Mutterleib erzeugte Embryonen sind vor der Nidation („Pille danach“, „Spirale“) nicht geschützt; in vitro erzeugte Embryonen sind durch das Embryonenschutzgesetz privilegiert und dürfen nicht getötet werden; bis zur 12. Schwangerschaftswoche ist der Fötus nur durch die Beratungspflicht geschützt und darf ansonsten abgetrieben werden; ab der 13. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt darf der Fötus nur getötet werden, um Gefahren für die Mutter abzuwenden; der volle Lebensschutz ist erst mit vollendeter Geburt erreicht (Riha 2008, 127 f.). In diesem Zusammenhang wird häufig das Argument vorgebracht, mit der Akzeptanz sowie den Möglichkeiten und Praktiken des Schwangerschaftsabbruchs und der vorgeburtlichen Diagnostik seien Entscheidungen getroffen, denen gegenüber ein Verbot der PID eine Ungleichbehandlung bedeuten würde. Gemeint ist, dass die Unantastbarkeit des Embryos in vivo durch die Zulassung der PND und daraus folgender medizinischer Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch faktisch widerlegt sei und es ungerecht wäre, dem Embryo in vitro einen unverhältnismäßig höheren, gar absoluten Schutz gewähren zu wollen. Unverständlicherweise werde so das Lebensinteresse eines nur wenige Zellen großen Embryos höher geachtet als jenes eines bald lebensfähigen, noch nicht geborenen Kindes. Dementsprechend sei die Zulassung der PID ethisch geradezu geboten, könne sie doch den Frauen und Paaren die Belastung einer „Schwangerschaft auf Probe“ ersparen (NEK-CNE 2005, 5). Demgegenüber bestreiten Kritiker grundsätzlich die Vergleichbarkeit beider Situationen. Im Falle der PID werde von vornherein eine Konfliktsituation herbeigeführt, im Gegensatz zur unbeabsichtigten Notlage im Falle der natürlichen Schwangerschaft (vgl. Haker 2002, insbes. 224 ff.). So wie die Handlungsoptionen in beiden Fällen (in vivo vs. in vitro) grundverschieden seien, könnten auch die moralischen Maßstäbe nicht einfach übertragen werden. Einer der Hauptbegriffe in der ethischen Debatte um die PID ist der der „reproduktiven Autonomie“ (Haker 2002, 186 ff.; grundlegend Robertson 1994; vgl. Kap. 2.3). Wie bei der herkömmlichen Fortpflanzung und Elternschaft, die für viele Menschen zu den essenziellen Zielen ihrer Lebensplanung und Selbstentfaltung gehört, müsse es auch im Fall der PID in der individuellen Entscheidungsbefugnis der Einzelnen bzw. Paare bleiben, ob sie eine solche Maßnahme für sich nutzen wollen oder nicht; reglementierend einzugreifen sei nicht statthaft. Andererseits
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könne aber – abgesehen davon, dass die Gesellschaft dem Fortpflanzungsgeschehen nicht schlechthin gleichgültig gegenüberstehe – die Entscheidung für oder gegen ein Kind nicht als reine Privatangelegenheit verstanden werden, wenn sie auf der Grundlage von Wissenschaft und Industrie bereitgestellter technischer Hilfsmittel getroffen wird und somit weite Bereiche der Gesellschaft zwingend in den Prozess involviert (vgl. Haker 2002, 61–100, 245–302). Eine der ethisch klaren Konfliktlösungen wäre der Verzicht betroffener Paare auf ein eigenes Kind. Der Verzicht auf ein Kind kann vom Staat aber keinesfalls verlangt werden. Eine gesetzliche Zulassung der Embryonenauswahl durch die Frau (im Rahmen einer begrenzten PID-Zulassung, siehe Regelung in Deutschland) kann – so die Stellungnahme der Leopoldina 2011 (vgl. Wiesing 2012, 432–434) – maßgeblich zur Vermeidung einer sog. „Schwangerschaft auf Probe“ und späten Schwangerschaftsabbrüchen beitragen. Zugleich wird das Verwerfen (Absterben) nicht betroffener Embryonen vermieden, da sie aufgrund einer Auswahl der Frau transferiert werden dürfen und so ihr Überleben und Austragen ermöglicht und gesichert wird. Heutige, auf den wissenschaftlichen Ergebnissen beruhende Untersuchungsmethoden verstoßen nicht gegen das Embryonenschutzgesetz (Ausschluss einer Totipotenz der Embryozellen ab dem 4. Tag; Zellentnahmemethoden ohne erhöhte Verletzungsgefahr des Embryo oder Minderung seiner Einnistungshäufigkeit in der Gebärmutter). Die Würde der Frau wird nicht verletzt, weil sie selbst nach ihrem Gewissen entscheiden kann. Die PID darf nicht für staatliche oder gesellschaftlich definierte Ziele verwendet werden, die außerhalb des Wohls des betroffenen Paares liegen. Allerdings gilt das Verbot auch für eine Wunschregulierung der Zusammensetzung genetischer Anlagen von Kindern nach dem Willen der Eltern, für eine Geschlechtsbestimmung ohne genetischen Krankheitsbezug, für die Nutzung von Embryonen für Forschungszwecke und für Untersuchungen auf neu entstandene, also nicht erbliche Chromosomenstörungen (Aneuploidie-Screening)2. Bei der begrenzten Zulassung und damit Anzahl von Untersuchungen (für Deutschland wird ihre Zahl auf nicht mehr als einige hundert PID pro Jahr geschätzt) dürften auch die befürchteten gesellschaftlichen Auswirkungen der PID für weniger bedrohlich gehalten werden. Mit Bezug auf die bis zu 20-jährigen Erfahrungen in denjenigen Ländern, in denen die PID angewendet wird, wurden tatsächlich erkennbare Anzeichen für solche Entwicklungen, etwa der Entsolidarisierung mit Menschen mit Behinderung, verneint. Und sofern die befürchteten Tendenzen wirklich auftreten sollten, wären sie keineswegs unkorrigierbar.
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Ausführliche Erläuterung der Argumente für und gegen einzelne Zielsetzungen der PID (1. zum Nachweis von Erbkrankheiten, 2. für infertile Paare und Frauen im fortgeschrittenen Gebäralter, 3. zur Auswahl immunkompatibler Embryonen, 4. zur Auswahl beliebiger Merkmale ohne Krankheitsbezug, 5. zur positiven Selektion einer genetisch bedingten Anomalie) siehe in Erläuterungen 2011, 26–32.
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3.4.3 Schwangerschaftsabbruch Der Schwangerschaftsabbruch [synonym: Abtreibung/künstlicher Abort/Interruptio] gehört zu den meistdiskutierten und schwierigsten Problemen der medizinischen Ethik (Wiesing 2012, 157). Abgesehen von der Auseinandersetzung über ein „Recht“ auf Abtreibung als zentrale politische Debatte in vielen Staaten, der Frage nach der Bedeutung weltanschaulicher Hintergrundannahmen für die Gesetzgebung oder Forderung nach (reproduktiver) Selbstbestimmung (vgl. Kap. 2.2) wird die Diskussion vor allem von der Frage nach der moralischen Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs geleitet. Damit verbunden sind zugleich weitere schwerwiegende Fragen, etwa nach dem Beginn menschlichen Lebens, nach dem Status menschlicher Embryonen und Feten, nach einer Begründung eines „Rechts auf Leben“ oder nach einer Bewertung menschlichen Lebens. Das Ziel einer Ethik des Schwangerschaftsabbruchs besteht vorrangig darin, die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch zu versachlichen und transparenter zu machen. In der Abtreibungsdebatte gibt es inzwischen eine kaum noch überschaubare Vielzahl mehr oder minder gut begründeter Positionen. Stellvertretend kann vor allem auf zwei paradigmatische Positionen verwiesen werden, die der Einfachheit halber als „konservative“ bzw. „liberale“ Position bezeichnet werden. Von Vertretern einer konservativen Position in der Abtreibungsdebatte wird menschlichen Embryonen ein Würde- und Lebensschutz zugeschrieben und die Frage nach dem moralischen Status von Embryonen und Feten häufig mit dem Verweis auf den Beginn menschlichen Lebens beantwortet. Entscheidender Moment für den Beginn menschlichen Lebens sei – so die Mehrheitsmeinung – die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, da es sich hierbei um die einzig „willkürfreie“ und eindeutig feststellbare Zäsur handle (Wiesing 2012, 163, Verweis auf Schockenhoff, ebda. 178). Oftmals wird die Zuschreibung eines Würde- und Lebensschutzes menschlicher Embryonen auch mit den – freilich umstrittenen – sog. SKIP-Argumenten (Spezies-, Kontinuitäts-, Identitäts- und Potentialitäts-Argument; siehe Kap. 3.1) begründet. Die Anhänger der konservativen Position sind demnach der Auffassung, menschliches Leben sei „um seiner selbst willen“, also ohne Bezug auf dessen tatsächliche Eigenschaften oder Fähigkeiten, moralisch schutzwürdig (vgl. Wiesing 2012, 164). Die Anhänger einer liberalen Position vertreten demgegenüber die Auffassung, dass für die Frage nach dem moralischen Status eines Wesens (und damit, wie es moralisch behandelt werden müsse), allein dessen jeweils individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten und somit dessen Interessen entscheidend seien. Demzufolge wären menschliche Embryonen nicht schon deshalb moralisch schutzwürdig, weil sie der Gattung Homo sapiens angehören. Vielmehr müssten jene Eigenschaften und Fähigkeiten näher bestimmt werden, die für die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft ausschlaggebend seien und ein Lebewesen mit eigenen moralischen Ansprüchen ausstatteten (vgl. Wiesing 2012, 165; Thomson 2000, 162). Dass ein Wesen Interessen in einem moralisch relevanten Sinn haben könne, setze – zumindest nach einer Variante dieser liberalen Moralkonzeption – eine Empfindungsfähigkeit voraus. Bezogen auf die Abtreibungsdebatte hieße das, die mit dem Schwangerschaftsabbruch einhergehende Tötung wird (erst) mit dem Zeit-
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
punkt des Auftretens der Fähigkeit des Fetus zur (Schmerz-)Empfindung rechtfertigungspflichtig. Die Auseinandersetzungen über den Schwangerschaftsabbruch sind nach Wiesing häufig deshalb so unfruchtbar, weil die Diskussion oftmals auf unterschiedlichen argumentativen Ebenen geführt wird und nicht zwischen einer moralischen Bewertung und einer angemessenen rechtlichen Regelung unterschieden wird (Wiesing 2012, 167). Die medizinische Perspektive zum Schwangerschaftsabbruch berücksichtigt die Interessen der Mutter sowie sozialmedizinische Aspekte, und zwar: – – – – –
die Frage nach dem günstigsten Zeitpunkt, ggf. terminliche Grenzen, hinreichend wirksame, sichere und schonende Methoden, Risiken, somatische und psychische Folgen, soziale Ursachen/Bedingungen in ihrem Einfluss auf Gesundheit und Krankheit (Riha 2008, 128).
Allerdings ist der Arzt in seiner Position des Heilkundigen und in der konkreten Situation der Arzt-Patienten-Begegnung immer – so auch bei dem von ihm ausgeführten medizinischen Eingriff, dem Abort – auch mit der Frage nach einer ethischen Fundierung seines Handelns konfrontiert. Die Orientierung auf die im sog. Hippokratischen Eid bereits formulierten medizinethischen Leitkonstanten, insbesondere seiner strengen Haltung zur Abtreibung, hilft uns hier nicht weiter, zumal dieser Haltung auch Lehren zur Entstehung menschlichen Lebens und zum Lebensbeginn3 zugrunde lagen, die in sich widersprüchlich waren, nämlich einerseits präformistisch, andererseits von einer Sukzessiv-Beseelung ausgingen, und die erst im 19. Jahrhundert mit der Erstbeschreibung der Säugetiereizelle 1826 und dem Wissen um Vereinigung von Ei- und Samenzelle als Beginn des Embryos widerlegt werden konnten. Zudem war in dem von einer paternalistischen Position bestimmten ärztlichen Pflichtenkodex das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. in diesem Fall der schwangeren Frau überhaupt nicht berücksichtigt. Unter der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Embryonalentwicklung hatte das staatliche und kirchliche Recht im Laufe des 19. Jahrhunderts endgültig den Beginn strafbewehrten Schutzes menschlichen Lebens auf den Empfängnistermin verschoben. Die Strafbarkeit der Abtreibung führte vor allem in der Weimarer Republik seitens der Arbeiterbewegung – angesichts der sozialen Notlage kinderreicher Familien – zu Protesten. Eine staatliche Restriktion oder Tolerierung von Abtreibung wurde hier vor allem in ihren sozialen Folgen bzw. als soziale Indikation betrachtet, bei denen die strafrechtlich relevante Frage zum Beginn menschlichen Lebens relativ unerheblich blieb. So begründete der damalige gesundheitspolitische 3
Bis ins 19. Jh. hatte die aristotelische Lehre von der Sukzessiv-Beseelung weitgehend unbestritten gegolten. Demgemäß käme es erst Wochen nach der Empfängnis zum Lebensbeginn, da das Spermium im Uterus lediglich abgelegt und ausgebrütet würde. Der ganze Embryo wäre im Samen nur angelegt und würde erst im Lauf seiner Entwicklung zum Leben erwachen. Siehe Bruchhausen, Schott 2008, 199 f.
3.4 Lebensschutz und Abtreibung
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Sprecher der SPD und Arzt Julius Moses im Deutschen Reichstag die Ablehnung der SPD zum „Abtreibungsparagraphen“ unter anderem damit, dass eine soziale Krankheitserscheinung – und das sei die Abtreibung – nicht durch das Strafgesetz geheilt werden könne. Überhaupt stand bei der ganzen von Ärzten geführten Debatte um Befürwortung oder Ablehnung der Abtreibung nicht die Frage nach einem dem Embryo zuzuweisenden (menschlichen) Leben (was naturwissenschaftlich weitgehend geklärt war), sondern der Umfang seiner ausnahmslosen Schutzwürdigkeit im Mittelpunkt (vgl. Bruchhausen, Schott 2008, 200). Die medizinethische Perspektive bei der Abtreibung zielt also auf eine Abwägung von moralphilosophischen und Rechtspositionen sowie auf die sozialen Folgen ab. Dies schließt ein – – – – – –
Rechtfertigungsgründe, die Rechte der Mutter bzw. der schwangeren Frau (Selbstbestimmungsrecht, körperliche Unversehrtheit, Chancengleichheit), Lebensrecht des Embryos bzw. des Fötus, Folgen von Liberalität (Abtreibung als Mittel der Familienplanung oder der Eugenik), Folgen von Restriktionen (Kindstötung und Kindsaussetzung, Gesundheitsgefährdung von Frauen durch illegale Abtreibung und hohe Entbindungszahlen) und soziale Gerechtigkeit (Kostenübernahme, Verfügbarkeit von Informationen und Verhütungsmitteln, Hilfsangebote) (vgl. Riha 2008, 129).
Rechtlich ist die Abtreibung in Deutschland nach wie vor ein Straftatbestand (§ 218 StGB), der jedoch nicht erfüllt und damit straflos ist, wenn (§ 218a (1) StGB) – – –
die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt eine Bescheinigung (lt. § 219 Abs. 2 Satz 2) nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
Der Schwangerschaftsabbruch darf vom Arzt auf Verlangen der Schwangeren innerhalb der vorgeschriebenen Frist – wobei er sich aufgrund ärztlicher Untersuchung von der Dauer der Schwangerschaft überzeugt haben muss – straffrei vorgenommen werden, wenn er der Frau Gelegenheit gegeben hat, ihm die Gründe für ihr Verlangen auf Abtreibung darzulegen, und sie über die Bedeutung des Eingriffs (Ablauf, Folgen, Risiken, mögliche physische und psychische Auswirkungen) ärztlich beraten hat (§ 218c). Zudem muss ihm eine Bescheinigung über die Beratung der Schwangeren von einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle vorliegen. Diese Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die im Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Vordergründig dient sie dem Schutz des ungeborenen Lebens (§ 219, Abs. 1). Ebenso bleibt die Abtreibung straffrei, wenn – unter Einwilligungsvorbehalt der Schwangeren – der Abbruch der Schwangerschaft „unter Berücksichtigung der
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3. Ethische Probleme am Lebensanfang
gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“ (§ 218a (2) StGB). Die Abtreibung aus medizinischer Indikation ist nicht an eine Frist gebunden, ist also theoretisch bis zur Geburt und damit bei lebensfähigen Kindern erlaubt. Für die hieraus entstandenen Konflikte zwischen Frauenarzt, Hebamme, Kinderarzt und Jurist bestehen derzeit keine gesetzlichen Regelungen. Die klinische Situation für einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation beschreibt zum Beispiel Florian Steger am „Fall“ einer 37jährigen Patientin, die in einem akuten Erregungszustand in einer Psychiatrischen Klinik notfallmäßig aufgenommen und behandelt wird. Bei der Patientin wird eine leichte Intelligenzminderung diagnostiziert. Im Gespräch mit der behandelnden Ärztin berichtet die Patientin, sie habe von ihrer Schwangerschaft in der 15. Schwangerschaftswoche erfahren und wolle sich den Embryo aus dem Bauch herausschneiden. Nach zwei Wochen psychiatrischer Notfallbehandlung stellt sich für das Behandlungsteam die Frage des Schwangerschaftsabbruchs. In der Klinischen Ethikberatung muss nun – nach Klärung der Faktenlage – eine medizinethische Empfehlung erarbeitet werden. Selbst vorausgesetzt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der psychischen Erkrankung nachgewiesen und die Beeinträchtigung des psychischen Gesundheitszustandes als schwerwiegend diagnostiziert worden ist, stellt sich die Frage, ob die schwangere Frau ihren Willen klar artikulieren kann, ob eine psychisch kranke Frau eine Willenserklärung abgeben kann und wie dann damit umzugehen ist. Soll die Selbstbestimmung der Patientin gewahrt sein, obwohl erhebliche Psychopathologika vorliegen, und wie steht es mit dem Lebensschutz des Embryos? (vgl. Steger 2011, 89 f.) Die Straffreistellung des Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation rechtfertigt aber nicht eine Abtreibung wegen einer Erkrankung oder Behinderung des noch ungeborenen Kindes; eine „embryopathische Indikation“ gibt es nicht. Für deren (Wieder)Einführung gibt es derzeit auch keine politische Mehrheit. Dennoch gehören Abtreibungen nach pränataler Diagnostik mit dem Ergebnis schon einer Wahrscheinlichkeit einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung des Kindes durchaus heute zum medizinischen Alltag. Gerechtfertigt wird die Abtreibung häufig mit dem Argument, das Wissen um die vorliegende Schädigung des Fötus und die absehbaren Folgen für sein (Über-)Leben bedingt ursächlich eine (nach ärztlicher Erkenntnis) Beeinträchtigung des physischen bzw. hier vor allem psychischen Gesundheitszustandes der betreffenden Schwangeren. Die Gefahr einer gesundheitlichen Beeinträchtigung hat aber der Arzt lt. medizinischer Indikation abzuwenden, womit rein rechtlich § 218a Absatz 2 zur Anwendung käme. Allerdings hat der Gesetzgeber mit ‚echter‘ medizinischer Indikation die psychische Erkrankung und keine ‚Belastung‘ im landläufigen Sinne gemeint. Die nachweisliche psychiatrische Indikation ist vergleichsweise selten (Riha 2008, 130). Hieraus ergeben sich – abgesehen von der grundsätzlichen Debatte um den moralischen Status von Embryonen und Feten und deren Schutzwürdigkeit – eine
3.4 Lebensschutz und Abtreibung
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Reihe von (medizin)ethischen Fragen und Problemen (vgl. Riha 2008, 129 f.), die vor allem im Sinne einer angewandten Ethik für das Handeln des Arztes von besonderer Bedeutung sind: Bei der Bewertung der Abtreibung nach pränataler Diagnostik tritt die eigentliche, ursprüngliche Aufgabe der Pränatalmedizin (siehe Kap. 3.4.1.) in den Hintergrund. Frauenärzte empfehlen eine Pränataldiagnostik, um sich gegen Haftungsansprüche abzusichern. Ein gesundes Kind wird sozusagen als „Garantieleistung“ im Zuge der Schwangerenbetreuung erwartet (siehe Kap. 3.4.1). Dieses Dilemma wird mit der Ausweitung der Arzthaftung im Zivilrecht noch verstärkt, seit der Bundesgerichtshof vom „Kind als Schaden“ gesprochen hat. Damit haftet der betreuende Arzt für den Unterhaltsschaden, „wenn bei richtiger Information das Kind aufgrund der medizinischen Indikation (§ 218a, Abs. 2 StGB) abgetrieben worden wäre“ (OLG München 15.02.2001), d. h. wenn nach fehlerhafter Pränataldiagnostik ein erbkrankes oder behindertes Kind zur Welt kommt; der Arzt haftet nicht für die Schädigung des Kindes, sondern für das Unterbleiben eines Schwangerschaftsabbruches. Andererseits ist aber das Drängen der Schwangeren zu einer Abtreibung strafbar und die medizinische Indikation erstreckt sich nicht auf den Gesundheitszustand des Kindes, sondern der schwangeren Frau. Das Abortrisiko nach einem diagnostischen Eingriff ist höher (um eine Zehnerpotenz), als die Wahrscheinlichkeit, etwas „Pathologisches“ zu entdecken (betrifft v. a. späte Schwangerschaften in Erwartung eines lang ersehnten Kinderwunsches). Insofern vorgeburtliche diagnostische Tests kein therapeutisches oder lebenserhaltendes Ziel haben, sind sie per se allein auf Schwangerschaftsabbruch ausgerichtet; eine Abtreibung wird zunehmend als „zwingende“ Konsequenz einer entdeckten Auffälligkeit betrachtet. Die Akzeptanz von Behinderung und erblichen Krankheiten sinkt in der Gesellschaft angesichts der pränataldiagnostischen Möglichkeiten, obwohl die meisten geistigen Behinderungen pränatal nicht diagnostizierbar sind und manche gar nicht erblich bedingt sind, sondern erst unter der Geburt entstehen.
4. GESUNDHEIT UND GESELLSCHAFT 4.1 SOZIALE HERAUSFORDERUNGEN DER MEDIZIN, GESUNDHEITSÖKONOMIE UND KOSTEN-NUTZEN-ANALYSEN Parallel zur technologischen Weiterentwicklung der Medizin im letzten Jahrhundert stieg die Lebenserwartung der Menschen in Europa rapide an. Dies führte zu einer Zunahme der Multimorbidität im Alter. Jetzt muss gefragt werden, ob „bis zuletzt“ immer alles getan werden muss bzw. getan werden darf, um Menschenleben zu erhalten. Bei diesen Entscheidungen sind gerechte Kriterien erforderlich. Wie aber bekommen wir gerechte Verteilungskriterien im Gesundheitswesen? Die Terminologie der Gesundheitsökonomie stellt eine kalte, wissenschaftlich-technische Begriffswelt dar, die ohne Schwierigkeiten auch auf die Produktion und den Verkauf, auf das Marketing von Möbeln oder von Kraftfahrzeugen anwendbar ist. Sie hat längst und in bestürzendem Maße Einzug in die Sprache unseres Gesundheitssystems und unserer Gesundheitspolitik gehalten, die gleichzeitig nach mehr Ganzheitlichkeit, menschlicher Wärme und Zuwendung verlangt (vgl. Mohr, Schubert 1992, XIf.). Hier werden Begriffe und Konzepte eines Wertes des Lebens und von Lebensqualität immer wichtiger. Kommerz versus Altruismus: Dies ist einer der alten falschen Dualismen, die ungeeignet sind zur Beschreibung des Gesundheitswesens. Dienstleistungen, die für den Patienten nützlich sind, können für Professionelle ökonomisch interessant und zugleich sittlich sein, dies erscheint aus der Perspektive der Ethik gar nicht so abwegig. Insgesamt hat die Ethik die Aufgabe, eine Konvergenz der Perspektiven und der Argumentationen wie der Ebenen herbeizuführen oder auszugestalten. Zunächst gilt es einmal die ökonomischen Besonderheiten der medizinischen Leistungserbringung herauszuarbeiten. Es gilt, das medizinische Leistungsgeschehen unter Berücksichtigung ökonomischer Gesichtspunkte zu bewerten und zu steuern. Die ärztliche Leistung wird offenbar nicht im Rahmen eines normalen Marktgeschehens erbracht, sondern primär und idealtypisch bestimmen andere als ökonomische Gesichtspunkte die Beziehung zwischen Arzt und Patienten. Dazu zählt, dass der Arzt seine Leistung ohne Kenntnis der Kaufkraft des Nachfragers, aber auch ohne Rücksicht auf den gesamtwirtschaftlichen Wert des Patienten oder auf persönliche Beziehungen zu ihm erbringt. Er ist nur darauf bedacht, ein beim Patienten unabweisbar vorhandenes Bedürfnis zu befriedigen. Er handelt altruistisch und damit gewissermaßen entgegen jener elementaren egoistischen Grundhaltung, die der Einzelne auf der Suche nach persönlichem Nutzen einnimmt. Die Bereitschaft des Arztes zur grundsätzlich unentgeltlichen Hilfe ist ein Sonderfall jener altruistischen Haltung, die ihren Ursprung nicht in angeborenen Triebkräften hat, sondern als eine im Zuge der Sozialisation anerzogene Haltung eigenen Gruppenmitgliedern gegenüber entstanden und üblich ist (vgl. Mohr, Schubert 1992, 1 f.). Die Gleichheit des Anspruchs auf eine angemessene medizinische Ver-
4.1 Soziale Herausforderungen der Medizin
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sorgung ist in den meisten Industrieländern ein gesellschaftspolitischer Wert an sich geworden, und mit dem Aufbau eines Krankenversicherungssystems ist die ökonomische Beziehung zwischen Arzt und Patient auf eine verbindliche Grundlage gestellt worden, mit rechtlich definierten Ansprüchen auf beiden Seiten. Als man im Zuge der Gestaltung des Sozialstaates einen kaufkraftunabhängigen Leistungsanspruch gewährte, wurden die Rechte des Patienten und die Vergütung ärztlicher Leistungen festgelegt und dabei das Honorar von einem Ehrensold zu einer Gebühr, wie sie auch für andere Dienstleistungen üblich ist. Dies hat die Frage der ärztlichen Vergütung zumindest grundsätzlich aus dem ethischen Bereich herausgeführt, denn das, was rechtlich normiert ist, bedarf im Allgemeinen keiner ethischen Leitvorstellungen mehr. Allerdings gibt es im Gesundheitswesen keinen vollständigen Markt. Angesichts dieser Besonderheiten ist in den letzten Jahrzehnten eine Konzentrierung des Leistungsgeschehens auf das medizinisch Notwendige immer wieder kontrovers je nach gesellschaftlicher Position diskutiert worden, ohne dass dieses medizinisch Notwendige jedoch definiert worden wäre. Kosten-Nutzen-Analysen von Behandlungsverfahren oder Prioritätenlisten nach Behandlungserfolgen oder nach ökonomischen Effekten sind nicht selbst schon Entscheidungen, sondern Entscheidungsgrundlagen (vgl. Mohr, Schubert 1992, 3–6). Zwei so gegensätzliche Begriffe wie Lebensqualität und Gesundheitsökonomie müssen also verknüpft werden. Dabei sind bewertbare Kriterien, aus denen sich Lebensqualität zusammensetzt, zu formulieren. Zu diesen gehören Lebensstandard und Lebensstil. Es stellt sich erneut die Frage, ob hier die Solidargemeinschaft einzutreten hat, um das Ausmaß der Lasten mit dem Ziel einer besseren Lebensqualität dieser Gruppen zu mindern. Dies ist sicher zu bejahen, bedarf aber auch bestimmter Kriterien, um die Realisierbarkeit zu überprüfen. Dazu müssen (1.) die Lasten definiert werden, ihr Beeinträchtigungsmaß ist zu quantifizieren. (2.) Verfügbare Therapien sind festzustellen, deren Effektivität – nicht nur deren Wissenschaftlichkeit – zu bestimmen. (3.) Die Kosten für Prophylaxe und Therapie sind festzulegen und (4.) letztlich eine Kosten-Nutzen-Kontrolle durchzuführen (vgl. Mohr, Schubert 1992, 11–15). Die Entwicklung der modernen Medizin ist eng mit der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft verknüpft. Beide sind ohne die Fortschritte der Wissenschaft und Technik nicht denkbar und bedingen sich gegenseitig. Dies führte zu einer Rationalisierung der Medizin. Dabei steht Dienst vor dem Profit als Orientierung. Helfen ist eingebettet in einen ethischen Code (vgl. Mohr, Schubert 1992, 17–22). Zwischen der Rationalisierung und Effizienzorientierung in der Medizin und Rationierung der vorhandenen Mittel besteht ein Unterschied. Angesichts der zunehmenden Krankheitslast wird häufig eine solche Rationierung gefordert, wie sie insbesondere in Krisensituationen auch schon früher immer gelegentlich erforderlich war. Insbesondere bei Rationierung stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit. Gerechtigkeitsfragen lassen sich sinnvoll in solche der verteilenden und solche der wiedergutmachenden bzw. ausgleichenden Gerechtigkeit unterteilen. Diese Unterscheidung wurde bereits von Aristoteles eingeführt (vgl. Mohr, Schubert 1992, 35–37) und bedarf einer eigenen Hermeneutik (vgl. Irrgang 1998). Als ethische Grundlage einer Gesundheitsökonomie insgesamt aber empfiehlt sich eher die So-
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4. Gesundheit und Gesellschaft
lidarität, die ein wenig von Gerechtigkeitsüberlegungen kontrolliert wird. Auch andere Formen der Rationalität wie Effizienz sind erforderlich. Gesundheit ist heute keine Frage der Gabe und Fügung mehr, sondern eine Aufgabe und eine Frage der Organisation. Gesundheit unter Knappheitsaspekten ist als Gegenstand der Gesundheitsökonomik zu betrachten. Gesundheit wird in diesem Zusammenhang als ökonomisches Gut angesehen. In der Marktwirtschaft geht es insgesamt um die Nachfrage nach Gesundheitsgütern. Dabei gibt es eine Lenkung durch den Markt und eine Lenkung durch Zentralverwaltung, die beide im Gesundheitswesen praktiziert werden. Gesundheitsgüter lassen sich als Dienstleistungen interpretieren. Dienste aber sind nicht lagerfähig, weisen eine mangelnde Rationalisierbarkeit und eine geringe Kapazitätselastizität auf (vgl. Herder-Dorneich 1980, 1–5). Gesundheitsgüter sind als Zukunftsgüter zu betrachten, die im Allgemeinen geringer geschätzt werden als aktual benötigte Güter. Gesundheitsgüter sind auch als Kollektivgüter zu betrachten, bei denen das Trittbrettfahrersyndrom oder die Nichtausschließbarkeit auftritt. Die Steuerungseffizienz der Marktwirtschaft ist insbesondere bei Dienstleistungen unter den Voraussetzungen von Transparenz und Präferenzen gegeben. Die Zentralverwaltungswirtschaft kann auf individuelle Präferenzen nicht eingehen und hat auch wenig mit Transparenz zu tun. Schwierigkeiten entstehen für die Marktwirtschaft dadurch, dass der Kranke bzw. Konsument kaum die Qualität der Dienstleistung beurteilen kann. Die Zentralverwaltung ist bei Zukunftsgütern besser. Insofern sind Vielfachsteuerungen und die Kombination von Systemen zur Beschreibung heranzuziehen und als Strukturmodell des Gesundheitswesens zu erarbeiten (vgl. Herder-Dorneich 1980, 13–19). Das erweiterte Strukturmodell umfasst Regierungen, Krankenversicherungen, Kassenärztliche Vereinigungen, Patienten und Ärzte. Reine Märkte herrschen bei privaten Krankenversicherungen vor, komplexe Systeme stellen die gesetzlichen Versicherungen dar und Zentralverwaltungen sind der öffentliche Gesundheitsdienst. In Deutschland gibt es seit 1883 eine Krankenversicherung, seit 1884 eine Unfallversicherung und seit 1889 eine Alters- und Invalidenversicherung (vgl. Herder-Dorneich 1980, 20–22). Die Gesundheitsversorgung wird also staatlich geregelt. Die Prinzipien der Organisation des Gesundheitswesens sind (1) Fürsorge, Versicherung und Versorgung, (2) Fremdhilfe und Selbsthilfe, (3) Solidarität und Subsidiarität, (4) Kausalprinzip und Finalprinzip, (5) Organisation der Träger, (6) Zwangsprinzip und Freiheitsprinzip. Bei den Prinzipien sind Prinzipienkombinationen möglich, allerdings zeigen sich die Grenzen der Prinzipienkataloge recht bald. Krankenversicherungen haben die Aufgabe des Risikoausgleichs und der sozialen Steuerung. Die Selbstbeteiligung bei Sachleistungen oder bei der Kostenerstattung bringt einen individuellen Anreiz, Gesundheitsleistungen sparsam einzusetzen. Bei vielen Krankenversicherungen besteht eine Zwangsmitgliedschaft (vgl. HerderDorneich 1980, 25–49). Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen handeln (1.) als Tarifpartner die Preise für ärztliche Leistungen weithin autonom aus. Sie handeln (2.) auch die Struktur des gesamten Gesundheitssystems aus. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat verschiedene Ursachen. Sie sind bedingt durch steigende Arzneimittelpreise, durch Krankenhausversorgung, durch Patientenkarrieren (die Nachfra-
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geseite) und durch ärztliche Leistungen (die Angebotsseite; vgl. Herder-Dorneich 1980, 137–143). Das System der Arzneimittelversorgung, die Weiterentwicklung des Systems ärztlicher Leistungen, der Ausbau von Selbstbeteiligung als Steuerung auf der unteren Ebene und das Konzept der Vielfachsteuerung sind zusammenzubringen, damit mehr Rationalität durch Kostentransparenz entsteht (Herder-Dorneich 1980, 157–178). Die prädiktive Medizin ist nicht notwendigerweise eine präventive Medizin, aber eine gute Voraussetzung dafür. Präventive Medizin tendiert dazu, Patientenautonomie einzuschränken. Sie greift die Patientenautonomie bei Patienten an, die änderungsunwillig sind, obwohl Änderungen dringlich erforderlich wären. Es gibt bei dieser Art von Medizin ethische Bedenken über die Datenschutzfragen hinaus (vgl. Irrgang 2012). Mit der Gesundheitsökonomie und Fragen einer effizienten Verwendung der Mittel im Gesundheitswesen stellt sich in zunehmendem Maße und mit zunehmender Dringlichkeit die Zieldiskussion für das Gesundheitswesen überhaupt. Es müsste diskutiert und letztendlich entschieden werden, welche Behandlungen von den Krankenkassen gezahlt werden sollen. Ein weitergehender Schritt wäre die Diskussion, welche Behandlungen überhaupt angeboten werden sollen. Dies würde aber eine gewisse Kritik an den liberalen Prinzipien des Gesundheitswesens auf der Basis der Patientenautonomie implizieren. Denn Patientenautonomie fordert, dass der Patient die Wahl hat, welche medizinischen Leistungen er für sich anwenden möchte oder nicht. Die Frage nach der Bezahlung durch eine Krankenkasse stellt demgegenüber einen weiteren, späteren Schritt dar. Im Zusammenhang mit der Beschränkung von medizinischen Leistungen stellt sich immer häufiger die Frage nach der Gerechtigkeit in der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten. Gibt es ein Recht auf Gesundheitsfürsorge? Fürsorgeleistungen aber sind nicht einklagbar. Die individuelle Lebensverbesserung ist ein legitimes Ziel, allerdings auch die Rationierung knapper Güter in Mangelsituationen, insbesondere in Notfallsituationen. Hier müssen Prioritäten gesetzt werden und sind auch Kosten-Nutzen-Analysen erlaubt. Effizienz ist ein Aspekt, der nicht unterschätzt werden sollte. Eine Frage der Gerechtigkeit ist aber, unverschuldete Nachteile auszugleichen (vgl. Schramme 2002, 118–130). Beklagt wird eine Medikalisierung der Lebenswelt. Gesundheit wird zunehmend zu einer Ware. Nicht unschuldig daran ist der nicht berechtigte Glaube, Gene seien für alles verantwortlich zu machen. Gefordert wäre also statt einer Bioethik eher eine Art Geisteswissenschaften der Biomedizin und Biowissenschaft, eine Art von „medical humanities“ (vgl. Schramme 2002, 143– 152). Das Problemfeld Budgetierung ist ethisch nicht einfach zu strukturieren. Wenn Ethik die Reflexion von Moral ist mit dem Ziel, eine vertretbare ethische Empfehlung zu erarbeiten, dann empfiehlt sich die Position einer Verantwortungsethik, die sowohl von ethischen Grundsätzen wie von konkreten Folgenabschätzungen ausgeht. Dabei stehen gewisse ethische Grundsätze untereinander in einem Spannungsverhältnis wie Patientenwohl und Patientenautonomie oder ausgleichende Gerechtigkeit und Solidarität mit Verteilungsgerechtigkeit („Jedem das Seine“). Das Versicherungsprinzip beruht auf der Umverteilung von Risiken im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit (Gesunde – Kranke, Junge – Alte, Arme – Reiche).
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4. Gesundheit und Gesellschaft
Die Organisation des Versicherungsprinzips kann je nach Gerechtigkeitskonzept unterschiedlich ausgerichtet sein. Eine Gemeinwohlorientierung realisiert sich am besten in einer nationalen Krankenversicherung, Eigenverantwortung wird von privaten Krankenkassen propagiert oder gar eine Freistellung von der Versicherungspflicht gefordert, sowie das Prinzip Solidarität in den gesetzlichen Krankenkassen. Kostenfaktoren für den wachsenden Finanzbedarf im Gesundheitswesen erwachsen der technologischen Herausforderung (eher Produkt-, weniger Prozessund Organisationsinnovationen), der Alterung der Bevölkerung aufgrund des Erfolges der Medizin und einer Veränderung der Familienstruktur (Singlehaushalte, alte alleinstehende Frauen). Eine Verschärfung des Kostendrucks entsteht durch Rückkoppelungseffekte. Budgetierung ist jedoch wahrscheinlich dennoch ein falsches Mittel der Kostendämpfung. Zentral für ethische Empfehlungen ist das Arzt-Patienten-Verhältnis. Dabei ist von einem Konflikt zwischen Arzt und Patienten über die Honorierung auszugehen. Eine erfolgsabhängige Komponente des Arzthonorars ist nicht einfach zu realisieren und vom Patienten schwer zu beurteilen. Daher dürfen ergänzende Sachwalter wie Staat, Krankenversicherung oder Berufsverbände auftreten. Die Patientenautonomie erlaubt dem Patienten die eigene Entscheidung über die Art der Behandlung in Absprache mit dem Arzt. Außerdem sollten Anreizstrukturen für erfolgsorientiertes Handeln von Arzt und Patient (z. B. Prävention) geschaffen werden. Eine Einigung in diesen Fragen dürfte jedoch nicht leicht zu erzielen sein. Ethische Anforderungen an die Ausgestaltung des Gesundheitswesens können wie folgt vorgeschlagen werden: (1) Sicherung einer Basisversorgung nach dem Solidaritätsprinzip (2) Stärkung der Patientenautonomie und der Eigenverantwortlichkeit des Patienten (auch durch Selbstbeteiligungen) (3) Ausdifferenzierung der versicherten Leistungen nach Wunsch des Patienten gemäß dem Leitbild der eingebetteten Patienten (4) Anreizsysteme für Prävention, aber keine Life-Style-Medizin (wegen Diskriminierung) (5) Gesundheitserziehung ist Aufgabe der Gesundheitsdienste, aber auch des Staates (6) Überdenken der privaten Krankenversicherung, überhaupt des ärztlichen Abrechnungssystems. Die gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen gehört zu den großen ethischen Herausforderungen moderner Gesellschaften. In fast allen Industrienationen sind die Gesundheitsausgaben mit den Jahrzehnten überproportional angestiegen, und dies unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Gesundheitssysteme. Der medizinisch-technische Fortschritt eröffnet immer neue, häufig kostspielige Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, die den Bedarf an medizinischen Leistungen und damit auch die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung in die Höhe treiben. Grundsätzlich bieten sich hier drei verschiedene Optionen: (1) Krankenversicherungen und medizinische Leistungen werden allein nach marktwirtschaftlichen Prinzipien verteilt. (2) Die medizinische Versorgung erfolgt ausschließlich im Rahmen eines umfassenden staatlich organisierten Gesundheitswe-
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sens. (3) Man wählt ein Mischsystem aus marktwirtschaftlichen und staatlich regulierten Versorgungsformen. Bei dieser Variante besteht die Herausforderung darin, die richtige Balance von Marktmechanismen und staatlicher Regulierung zu finden (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 333). Da die Gesundheitsausgaben aber offenbar weniger mit dem Alter als mit der Nähe zum Tod korrelieren, wird kontrovers diskutiert, inwieweit diese demografische Entwicklung tatsächlich zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen beiträgt. Eine Begrenzung der Gesundheitsausgaben erscheint aus ethischer Perspektive grundsätzlich gerechtfertigt, da der Gesundheitssektor mit anderen öffentlich finanzierten Bereichen wie Bildung, Umweltschutz, Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot und der Gewährleistung der inneren Sicherheit um prinzipiell begrenzte Ressourcen konkurriert (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 334 f.). Nach dem ökonomischen Argument weisen die Märkte für Gesundheitsgüter Eigenschaften auf, die zu einem Marktversagen führen. Ohne Regulierung kann deshalb keine optimale Allokation erreicht werden. Darüber hinaus besteht auf den Gesundheitsmärkten keine vollständige Markttransparenz, die es den Patienten erlauben würde, Qualität und Preise verschiedener Anbieter zu vergleichen (vgl. Düwell, Steigleder 2003, 337). Gesundheit ist ein eher subjektives Konzept, wodurch Probleme der Bedeutung und des Maßes von Gesundheit entstehen. Die Kosten, die durch die Produktion von Verbesserungen im Gesundheitswesen und in der Gesundheit entstehen, müssen nicht ausschließlich monetär sein. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Prävention von Krankheiten. Es geht darum, vorsymptomatische Erkrankungsdispositionen zu erkennen. Umfassende Prävention zielt nicht nur auf eine Reduktion der Sterblichkeit im Allgemeinen (also eine Frage der Makroökonomie und der Makroprävention). Eine bessere Gesundheit schafft vielmehr auch mehr Wohlstand (vgl. Cohin, Henderson 1991, 9). Kosten-Nutzen-Analysen für Prävention im Vergleich zur ansonsten erforderlichen Behandlung sind durchzuführen. Außerdem müssen die sozialen Ziele abgeklärt werden, an denen sich die Gesundheitsökonomie ausrichten soll (vgl. Cohin, Henderson 1991, 37). Vergleichsmaßstäbe für Prävention und Behandlung müssen noch entwickelt werden. Die Gesundheitsökonomie hat sich bislang nicht genug um die Prävention gekümmert. Ökonomische Gesichtspunkte spielen insgesamt in der Gesundheitspolitik eine zu geringe Rolle. Sie sind aber erforderlich auch im Sinne einer realistischen Ethik. Bei der Frage, wie ein Patient sich einen Hausarzt vorstellt, kommen die Worte „Geld“ oder „Kosten“ überhaupt nicht vor. Das bedeutet, im Augenblick der Krankheit ist es dem Patienten vollkommen egal, wie viel seine Gesundheit kostet. Die Ansprüche der Patienten an Ärzte sind sehr hoch, es wird gefordert. Patienten möchten, dass zu ihrem Nutzen gehandelt wird. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Patienten soll oberstes Gebot eines ärztlichen Handelns sein. Stattdessen scheint derzeit ein guter Arzt nur der zu sein, der wirtschaftlich arbeitet. Denn für Vertragsärzte wird das Gebot der Wirtschaftlichkeit immer mehr zum Schicksal bzw. zum Verhängnis. Je mehr die Schere zwischen dem, was zwar nach dem Stand der medizinischen Erkenntnis möglich wäre, und dem, was aber nicht mehr bezahlbar ist, auseinanderklafft, desto mehr werden Vertragsärzte im
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4. Gesundheit und Gesellschaft
Hinblick auf die Entscheidung, was jetzt noch ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein hat, in die Pflicht genommen. Es geht im Gesundheitswesen nicht mehr um erfolgreiche Behandlung, sondern nur mehr um gesundheitsökonomische Steuerung und Steigerung der Effizienz (vgl. Seewald, Schoefer 2008, 9–14). Bevor die Krankenversicherung eingeführt wurde, musste Krankheit im Rahmen familiärer Solidarität abgesichert und behandelt werden. Die im Rahmen der Familiensolidarität oft nur begrenzt mögliche Hilfe für Kranke und Alte hat den Menschen früher das Drama der Entscheidung über den Verzicht auf Hilfe bzw. über ihre Verweigerung gewiss nicht selten in unverminderter Härte aufgebürdet, vermutlich überwiegend als Teil des Konfliktes zwischen den Generationen. Mit dem Angebot einer allgemeinen gleichermaßen zugesicherten Krankenversorgung hat die staatliche Autorität die in früheren Zeiten auf diesem zentralen gesellschaftlichen Feld zuständigen Familienmitglieder weit übertroffen. Bei der Arzt-Patienten-Beziehung sind also zwei miteinander im Bunde, die beide nach Besserem, womöglich gar nach dem Besten streben, und das ist, wie so oft, teuer. Die notwendige Krankenbehandlung in den Grenzen des wirtschaftlich Vertretbaren und Zweckmäßigen ist von der Kassenärzteschaft durchzuführen. Dabei kommt es in der Rationierung zu einer Art von Gewaltausübung. Was aber geschieht mit den Kranken, wenn sich die Rationierung schließlich nicht mehr vor ihnen verbergen lässt? Die Rationalisierung der durchgezogenen Gesundheitsreformen ist vom Glauben an das Machbare ausgegangen. Die von der Politik geleugnete, von den Ärzten aber heimlich zu vollziehende Rationierung könnte in ihrer verdeckten Gewalttätigkeit für gefährlichen Sozialsprengstoff sorgen (vgl. Seewald, Schoefer 2008, 20–26). Eine Reform im Gesundheitswesen sollte erforderliche Maßnahmen am Patienten definieren. Die Einigung auf diese wird ebenfalls nicht einfach sein. Es gilt den medizinischen Standard zu definieren (vgl. Seewald, Schoefer 2008, 34) und den Patienten einzubeziehen. Dabei stellt die Bestimmung des Notwendigen in der Medizin und in der Pflege durchaus ein Problem dar. Wohl kaum jemand wird die Notwendigkeit der Kostendämpfung im Gesundheitsmarkt grundsätzlich leugnen, aber die Frage ist, ob es zur Rationalisierung in einer wachsenden Gesundheitswirtschaft kommen muss, und wenn ja, in welchem Ausmaß. Die Ansprüche an Medizin und Gesundheit ist jedenfalls bei den Patienten im Wachsen begriffen. Dabei ist die Ökonomisierung des Medizinbetriebs als Bedrohung des Arzt-Patienten-Verhältnisses aufzufassen (vgl. Seewald, Schoefer 2008, 76–82). Die Medizin greift häufig genug in die Privatsphäre des Patienten ein. Die Finanzierungsbasis verschwindet zusehends angesichts der Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit oder gering bezahlter Arbeiten. Die externen Reformanlässe werden durch systemimmanente Schwierigkeiten noch verstärkt. Hinzu kommt der Vorwurf der Verschwendung und der Vernachlässigung größerer Einsparpotentiale, eine mangelhafte Qualitätskontrolle und -sicherung, aber auch eine teilweise übertriebene Anspruchshaltung eines Teils der Versicherten. Rationierung bzw. Limitierung der knappen Grundgüter nach rationalen, transparenten und vor allem gerechten Kriterien zur Verteilung scheint damit das oberste Gebot (Fonk 2008, 60 f.). Eine der tragenden Säulen und zugleich das wichtigste Prinzip der sozialen Versicherung im Krankheitsfall ist das Solidarprinzip. Es umfasst den Solidaraus-
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gleich zwischen Gesunden und Kranken, zwischen höheren und niedrigeren Einkommen, zwischen Jungen und Alten und zwischen Ledigen und Familien. Daher muss man sich fragen, ob hinter dem Ruf nach einer Stärkung der Eigenverantwortung letztlich nichts anderes steht, als dass sich die Solidargemeinschaft stillschweigend zu verabschieden beginnt. Natürlich gibt es Anlässe, das Solidarprinzip im Gesundheitswesen zu überdenken. Und tatsächlich gilt neben dem Solidaritätsprinzip in ganz entscheidender Weise auch die Eigenverantwortung des Einzelnen (vgl. Fonk 2008, 69). Darf die Forderung nach Solidarität aber bedeuten, dass das Autonomieprinzip selbst in Frage gestellt wird? Das beinhaltet, dass der Einzelne die freie Wahl oder Entscheidungsmöglichkeit über den angestrebten Gesundheitszustand bzw. für oder gegen eine Fürsorge im Krankheitsfall haben müsste. Dabei entscheidet jeder Bürger autonom im Rahmen seiner individuellen Bedürfnisse über das Ausmaß und die Struktur seiner medizinischen Versorgung (Fonk 2008, 62 f.). Die Forderungen des Ethikers laufen darauf hinaus: Der Hausarzt als Dienstleister, der Chirurg als Monteur und der Patient als Kunde ist ein absolutes Horrorszenario. Die Brisanz des sich wandelnden Arzt-Patienten-Verhältnisses ist gegen solche Gefahren keineswegs gefeit. Der Arzt darf außerdem auch nicht angesichts der neuen Möglichkeiten prädiktiver Medizin zum Versicherungsagenten mutieren. Die Neubestimmung des medizinischen Mindeststandards bzw. des entsprechenden Krankheitsversicherungsschutzes kann und darf nicht die Sache des Arztes sein (Fonk 2008, 73). Im Gesundheitswesen lässt sich eine Expansion der Leistungen und der Wünsche feststellen, wobei die Realität auf eine Beschränkung der sozial finanzierten Gesundheitsleistungen hinausläuft. Bei Notfällen überantwortet sich der Patient weitgehend dem Arzt und zwar einer ihm oft völlig fremden Person. Das Vertrauen in den Arzt und seine Fähigkeiten kann der Patient oft genug nicht überprüfen. Es hängt letztlich an professionellen und staatlichen Garantien, die das Vertrauen absichern. In der Medizin gibt es keine Garantien auf den Erfolg, sondern nur auf das sich Bemühen um den Erfolg. Es handelt sich hierbei um ein rollengebundenes antizipatorisches Vertrauen, wobei die normativen Grundzüge der Arztrolle im Vordergrund stehen (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 13–18). Gemäß dem Modell der Patientenautonomie steht der Wille des Patienten über seinem Wohl. Insofern gibt es für den Arzt hierbei eine Verpflichtung zur Selbstkontrolle und eine weitgehende Autonomie der Profession, die allerdings durch Standesregeln wie den Patientenwillen eingeschränkt werden. So stellt sich die ethische Frage, ob das codifizierte Selbstverständnis des Arztes angesichts der Patientenautonomie erhalten bleiben muss oder vielleicht sogar angesichts der neuen technologisierten Medizin ausgedehnt und stärker betont werden sollte. Die Verantwortung für den Patienten, aber auch für die Allgemeinheit ist Grundzug des ärztlichen Standesethos, wobei die Gefahr einer zerstörerischen Allzuständigkeit der Medizin in der Tat vermieden werden sollte. Die Arztrolle hat sich jedenfalls historisch bewährt, auch der Arztberuf als freier Beruf verdient Vertrauen. Im Begriff „freier Beruf“ verbinden sich Zuverlässigkeit und kreatives Unternehmertum. Eingeschränkt wird die ärztliche Freiheit nicht zuletzt durch die Abrechnung nach einer Gebührenordnung. Allerdings ist bei der Ausübung der ärztlichen Freiheit oft die Freiheit von anderen stark
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betroffen, weshalb die ärztliche Freiheit nur eine bedingte und funktionale Freiheit sein kann. Über der ärztlichen Freiheit steht die Situationsangemessenheit der ärztlichen Entscheidung (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 19–29). Vor diesem Hintergrund hat sich der Begriff der so genannten „evidenzbasierten Medizin“ (EbM) eingebürgert. EbM zu praktizieren bedeutet, individuelle klinische Erfahrung mit den besten zur Verfügung stehenden externen Ergebnissen der systematischen Forschung zu verbinden. Wissenschaftliche Analysen und Metaanalysen in ihrer fallorientierten Zuspitzung sollen mit klinischer Expertise und der Erfahrung des jeweiligen Arztes kombiniert werden. Ich selbst schlage vor, diese Vorgehensweise als Resultat technologiebasierter Medizin zu begreifen, die nach ihrer klinischen Überprüfung auf Durchführbarkeit und Integration in das Gesundheitssystem als „projektorientierte Medizin“ auftritt. Sie soll eine wichtige Rolle in der zukünftigen Medizin erhalten, nicht mehr nur am Heilen von Krankheiten orientiert sein, sondern auch andere Ziele der menschlichen Selbstgestaltung als Gegenstand einer medizinischen Versorgung begreifen. Die neuesten Forschungsergebnisse müssen also mit den Wünschen und Ansprüchen der Patienten im Sinne der Patientenautonomie in optimaler Weise in Verbindung gebracht werden. Es geht nicht um einfache Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um die Besonderheiten des Einzelfalles. Insofern kann man die neue Medizin, die im Entstehen begriffen ist, auch projektorientierte personalisierte Medizin nennen (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 31–34). Entscheidend ist der Nutzen wissenschaftlicher Ergebnisse für die Behandlung des Patienten. Wissenschaftliche Erkenntnis, Patientenwohl und Patientenwille stellen somit begrenzende Faktoren der Freiheit des ärztlichen Handelns dar. Sie sind aber jeweils vernünftig begründbar – insofern keine echte heteronome Begrenzung der Freiheit des Arztes, sondern autonome Ausübung seines Standesethos. Kann aber die Evidenz wissenschaftlicher Erkenntnisse für die ärztliche Praxis überhaupt genutzt werden? Dies dürfte nur nach klinischer Überprüfung der Ergebnisse möglich sein und setzt eine besondere Kompetenz des Arztes voraus, der die relevanten Besonderheiten eines Einzelfalls für die ärztliche Praxis herauszufinden vermag. So wird projektorientierte technologisierte Medizin wie Organtransplantation (eventuell einmal Xenotransplantation), Fortpflanzungsmedizin einschließlich PND und PID, Gentherapien, Stammzellforschung und Regeneration, aber auch Langlebigkeit und Neurochips ethisch vertretbar für den medizinischen Alltag gestaltet werden können. Was also nützt die allgemeine wissenschaftliche Erkenntnis im Einzelfall? Die externen Nachweise stellen heutzutage ein Wissen dar, das mit aufwendigen Studien an einem Kollektiv ermittelt wurde. Damit ist in der Tat nicht garantiert, dass die Anwendung dieses Wissens in einem spezifischen Einzelfall hilfreich ist (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 34–39; Irrgang 2012). Die Berücksichtigung der fallbezogenen Besonderheiten individueller Verhältnisse führt zu einer methodisch reflektierten Vorgehensweise. Selbst gesicherte Indikationsregeln bedürfen einer Vermittlung im Einzelfall und dazu erforderlich sind Urteilskraft und Urteilsvermögen. Bei der Nutzung wissenschaftlicher Evidenz entstehen Verzerrungen auf verschiedenen Ebenen. Wissenschaftliche Studien beschränken sich auf das, was messbar ist. Hinzu kommt die Schnelllebigkeit des
4.1 Soziale Herausforderungen der Medizin
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entsprechenden wissenschaftlichen Wissens. Fachliche Vorgaben, Leitlinien, Standardisierung und ärztliche Freiheit gehören zusammen. Hier muss der Arzt selbstkritisch vorgehen angesichts der Gefahr eines latenten Paternalismus. Die Rückbindung an den Handlungskorridor, der dem Arzt durch die Nutzer vorgegeben ist, ist dabei strengstens zu berücksichtigen. Die Leitlinien für die evidenzbasierte Medizin zu entwickeln und den Umgang mit ihnen zu institutionalisieren ist Aufgabe medizinethischer und standesethischer Überlegungen zum Arztberuf. Allerdings ist evidenzbasierte Medizin kein Kochbuch (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 40–48). Mittelknappheit liegt dann vor, wenn der Arzt nicht diejenige Behandlung auswählen kann, die dem Wohlergehen seines individuellen Patienten am besten dient. Der ärztliche Grundkonflikt besteht darin, dass Ärzte als Doppelagenten nicht nur für einen, sondern für mehrere konkurrierende Patienten entscheiden müssen. Die Budgetierung zwingt den Arzt, eigene Interessen ins Spiel zu bringen. Das ärztliche Ethos hat für diese Konflikte keine Prioritätsregeln. Die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und der demographische Wandel sind die größten Herausforderungen für die solidarische Finanzierung einer Gesundheitsversorgung. Soll sich eine Gesellschaft eine Erhöhung der Gesundheitsansprüche leisten? Dies steht allerdings im Konflikt mit anderen öffentlichen Aufgaben, die nicht mehr finanziert werden können. Insofern sollte eher für eine Rationalisierung denn für eine Rationierung im Gesundheitswesen plädiert werden. Zentrale Probleme sind die Beseitigung von Diskriminierung im Gesundheitswesen und die Sorge um die Qualität medizinischer Versorgung (vgl. Wiesing, Marckmann 2009, 50–72). Die heutige Medizin ist Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Wäre die Medizin nicht so gut wie sie ist, blieben uns viele unangenehme Entscheidungen erspart. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist bei einem Teil der Bevölkerung in den westlichen Industrienationen ein grundsätzlicher Wandel der Anschauung erkennbar: In einer Welt knapper Güter besteht nicht zwangsläufig die Bereitschaft, große Teile des Einkommens für Versicherungsschutz aufzuwenden (vgl. Niederlag u. a. 2008, 62). Die großen Trends der Medizintechnik bis 2025 sind Biomolekularisierung, Miniaturisierung und Computerisierung (vgl. Niederlag u. a. 2008, 115). Als Schlussfolgerung für die Formulierung von Patientenautonomie im Rahmen der Medizinethik könnte das Arzt-Patienten-Modell nun ausdifferenziert werden: im Bereich der Hausarztebene kann das Partnerschaftsmodell weiterhin in Geltung bleiben, im Bereich des Facharztes aber auch ein Kundenmodell angewandt werden, das sich am Vertragsmodell des Informed Consent orientiert (Irrgang 1995, Irrgang 2012). Angesichts der anwachsenden technischen Möglichkeiten ist eine Ausweitung des Prinzips der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung des Patienten nun unausweichlich. Der Fürsorgestaat kommt einmal mehr an die technologisch erfahrenen Grenzen. Insofern ist eine abgestufte Krankenversicherung mit Basisversorgung (staatlich) und (privat) zubuchbaren weiteren Leistungsmodulen eine denkbare Alternative zu unserem gegenwärtigen dualen System.
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4.2 DAS PROBLEMATISCHE GEHIRN: KÖRPERLICHE UND SEELISCHE KRANKHEITEN – EINE NEUE LIFESTYLE-MEDIZIN? Ein Hausarzt ist ein niedergelassener (freiberuflicher) oder in einem medizinischen Versorgungssystem angestellter Facharzt für Allgemeinmedizin auch mit Spezialgebieten oder für Innere Medizin mit Schwerpunkten. Er ist die erste Anlaufstelle in der Gesundheitsversorgung neben dem Apotheker oder der Notfallversorgung. Oft ist er auch der Familienarzt, so dass ein Vertrauensverhältnis über einen längeren Zeitraum hin aufgebaut werden kann. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist ein häufigerer Besuch des Patienten beim Arzt angesagt, so dass zu einer gewissen Kenntnis der Patientengeschichte auch Wissen um das soziale wie familiäre Umfeld hinzukommt. Dies macht den Hausarzt zum idealen Berater in Gesundheitsfragen, der auch bei speziellen Problemen (z. B. Auslandsreisen) erste Ratschläge zu geben vermag. Diese Versorgungsleistungen werden immer wichtiger, da die Möglichkeiten medizinischer Diagnostik zunehmen, sich die Nahrungsmittelindustrie um Angebote bemüht, die die Grenzen zwischen Nahrungsmittel und Medikament verschwimmen lassen, und Enhancement in eigener Regie immens im Vormarsch begriffen ist. Forscher ‚erfinden‘ die Lebensmittelwelt neu. Sie optimieren die Verarbeitung der Esswaren und kreieren verblüffend naturgetreuen Ersatz für Fett, Salz oder Zucker und verleihen Speisen ganz neue Eigenschaften (vgl. Technology Review 10/2010, 61 f.). Allerdings ist Functional Food eine Täuschung. Wenn ein solches Produkt tatsächlich eine Wirkung hat, etwa eine Cholesterin senkende Margarine, handelt es sich um eine Art Medikament und nicht um ein Lebensmittel. Gesunde Menschen brauchen das nicht – wer aber krank ist, sollte zum Arzt oder Apotheker gehen (vgl. Technology Review 10/2010, 67). Auch die gesellschaftlich und politisch hoch relevante Entwicklung, die seit einiger Zeit unter verschiedenen Begriffen wie Lifestyle-Medikamente, Alltagsdoping oder Enhancement zunehmend diskutiert wird, verändern das Bild der Alltagsmedizin. Bisherige Tendenzen betrafen überwiegend das Feld der Psychopharmaka, woraus sich vorrangig mögliche Perspektiven einer mentalen Leistungssteigerung und emotionaler Kontrolle ergeben. Konkreter anwendbar als für Doping im Sport dürften aber Anwendungen vor allem im Grenzbereich der Behandlung von altersbedingten Einschränkungen sein, zum Beispiel bei der Therapie von überdurchschnittlichem Muskelabbau. Weil ein Muskelabbau üblicherweise bereits im mittleren Lebensalter einsetzt und die Frage, wann dieser so stark ist, dass er als pathologisch angesehen werden kann, nicht eindeutig zu beantworten ist, steigt die Zahl potenzieller Konsumenten von möglicherweise als Drogen anzusehenden Medikamenten enorm und die Höhe möglicher Umsätze ebenso (vgl. Gerlinger u. a. 2008, 66 f.). Enhancement nennt man die gezielte medizinische Verbesserung geistiger Fähigkeiten oder der psychischen Befindlichkeit von Gesunden. Sie stellt sich dar als pharmakologische und nicht-pharmakologische Interventionen bei der Behandlung pathologischer Befunde. Insbesondere die Tiefenstimulation und der NeuroChip als Schnittstelle zwischen Gehirnen und Computern zeichnen sich als mögliche Enhancement-Methoden am Horizont ab (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 9).
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Dabei könnten ein ethisch motiviertes Verbot des Dopings und die Autonomiekonzeption in einen Konflikt geraten, welcher allerdings durch das hier entwickelte Modell eingebetteter Autonomie entschärft zu werden vermag. Neuro-Enhancement zielt ab auf (1) Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit, (2) Aufhellung der Grundstimmung, (3) Erweiterung kognitiver Fähigkeiten, (4) Korrektur moralischer Defizite und (5) transhumane Erweiterungen des Menschseins (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 19 f.). Anti-Aging und Antidepressiva zur Stimmungsaufhellung gehören dazu, wie auch neue Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen wie Prozac. Im Zusammenhang mit diesem Medikament wurde umfangreiche Werbung für das Enhancement bei affektiven Grundstimmungen betrieben. Außerdem gibt es invasive Geräte zur Neurostimulation, z. B. des Vagus-Nervs. Nootropika dienen der Verbesserung des kognitiven Vermögens, wie beispielsweise das ursprünglich gegen Bewegungsschwindel entwickelte Piracetam. Dieses führte zur Erhöhung des Blutflusses im Gehirn, womit eine Steigerung der Lernfähigkeit und der Gedächtnisleistung verbunden war (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 20–23). Aber auch Ginkgo und Ginseng haben wie Koffein Wirkungen auf das menschliche Gehirn. Noch haben wir kein klares Bild über die molekularen Grundlagen der Gedächtnisbildung und des Gedächtnisverlustes. Aber Modafinil als Antagonist von Noradrenalin, welches auf den Wach-Schlaf-Rhythmus wirkt, kann schon als emotionaler Verstärker angewendet werden. Bei Alzheimer bemüht man sich um eine schnellere Signalverarbeitung, Ritalin wird zur Leistungssteigerung verwendet, hat aber ein hohes Missbrauchspotenzial und Abhängigkeitsrisiko, pharmakologische Mittel zur Aggressionsreduktion bis hin zu Liebesvermittlern und Vertrauenshormonen werden bereits verwendet oder zumindest projektiert (vgl. SchöneSeifert u. a. 2009, 24–28). Einen Schritt weiter geht die Entwicklung eines künstlichen Hippocampus zur Restitution von Gedächtnisleistungen. Dieser Gedanke befindet sich zwar erst im Projektstatus, aber hat das Potenzial, Enhancement in Richtung Posthumanismus zu erweitern. Tatsächlich möglich aber ist die Bedienung von Türen, Lichtschaltern, Computern durch implantierte Elektrodenfelder bei Querschnittsgelähmten bis zum Hals. Auch zur Restitution von Locked-in- und Schlaganfallpatienten werden vernetzte Implantate zur Datenübertragung vorbereitet. Ethische Probleme bestehen insbesondere bei der Benutzung von Neuroenhancement im Einzelnen zur Verbesserung der eigenen Position bei Konkurrenzsituationen wie Prüfungen oder am Arbeitsplatz (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 28–30). Kompensatorisches ist von fortschreitendem Enhancement zu unterscheiden. Dabei entsteht allerdings das Problem der Normalität. Warum sollte man nicht einen gesunden geistigen Körper verbessern dürfen oder normalen Alterungsprozessen entgegenwirken? Zu unterscheiden sind (1) Wiederherstellung von Fähigkeiten, die ein Individuum einmal hatte; (2) Bereitstellung von Fähigkeiten, die ein Mensch normalerweise hat, die ihm aber aufgrund einer Krankheit fehlen, (3) Erhalt von Fähigkeiten, die man durch natürliche Alterungsprozesse zu verlieren droht und (4) Steigerung von Fähigkeiten über das normale Maß hinaus (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 32). Ein Projektziel ist dabei die Bereitstellung der Fähigkeit zu verantwortlichem, sozialverträglichem Verhalten, das bei so genannten Psycho- oder Soziopathien eingeschränkt ist. Die
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ethische Orientierung an mittleren Prinzipien wie Nichtschädigen, Fürsorge und Gerechtigkeit leitet ethische Werte wie Selbstbestimmung an und ermöglicht die moralische Güterabwägung hinsichtlich der Rechte anderer. Eltern sollten sich bei ihren Kindern oder bei Entscheidungen für ihre Kinder an das Prinzip der Schadensvermeidung halten. Außerdem sind Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit zu berücksichtigen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird es Enhancement-Maßnahmen nicht auf Krankenschein geben. Trotzdem: Ist eine generelle Skepsis gegen Psychopharmaka überhaupt ethisch berechtigt? Und ist es sittlich unerlaubt, zur Verbesserung des eigenen Lernverhaltens eine Pille zu schlucken, sofern dies wirklich einmal möglich sein sollte? Allerdings weisen Erfahrungen in der Pädagogik darauf hin, dass wirkliches Lernen wiederholte Aneignungsprozesse voraussetzt. Schwächt Enhancement die Entwicklung unserer Kompetenzen und Fähigkeiten unserer menschlichen Authentizität, mit Schwierigkeiten umgehen zu können? Wie sind Persönlichkeitsveränderungen zu bewerten? Wer entscheidet über die Wiederherstellung einer Persönlichkeit bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit? (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 33–43). Nikotin verbessert erwiesenermaßen kognitive Leistungen. Legt man einen Krankheitsbegriff zu Grunde, dann stellt sich die entscheidende Frage, welchen mentalen Zuständen wir überhaupt einen Krankheitswert zuordnen können. Bei persönlichen Enhancement-Maßnahmen spielen Normalitätsvorstellungen keine nennenswerte Rolle. Allein aus einer speziestypischen Norm lassen sich noch keine ethischen Normen ableiten. Das Programm individueller Anstrengungen und Bemühungen, die eigene Leistungsfähigkeit im Alltag zu steigern, entsteht durch die gesellschaftliche Einbettung, da diese solches Verhalten belohnt. Insgesamt ist der Enhancement-Begriff selbst normativ aufgeladen, und zwar in einem doppelten Sinn, nämlich eher negativ als widernatürlich und über die normale medizinische Behandlung hinausgehend. Für eine unvoreingenommene Diskussion über den Enhancement-Begriff sollte er jedoch von jeder normativen Last befreit werden (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 51–59). Der kriterienorientierte Ansatz der ethischen Bewertung von Enhancement empfiehlt die Berücksichtigung (1) von Nützlichkeit beziehungsweise Wirksamkeit auch bei Gesunden, (2) des Schadensrisikos bzw. von Nebenwirkungen, (3) der Autonomie und (4) der Abwägung und Gewichtung der Kriterien. Letztendlich entscheidet die Situationsabhängigkeit, die gesellschaftliche Erlaubtheit. Jedenfalls ist die Anwendung von Enhancement-Maßnahmen nicht intrinsisch schlecht, sondern kann fallweise gerechtfertigt werden. Dabei besteht eine Abhängigkeit der Maßnahmen vom eigenen Konzept eines gelingenden Lebens (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 60–66). Die klassische Ethik suchte nach Grenzen, die in der Sache selbst liegen. Häufig wird dabei auf das Kriterium der Eingriffstiefe zurückgegriffen, eine Verletzung der Grenze zwischen innen und außen postuliert. Das nicht-therapeutische Eindringen gilt als ethisch besonders problematisch. Neue Prothesen sind zunächst keine Leistungsverbesserer. Es geht z. B. zunächst um die verlorene Fähigkeit zur räumlichen Orientierung. Der Verlust des Gehörs ist für eine Musikerin besonders schlimm, der Verlust des Namensgedächtnisses für andere Berufsgruppen. Ein Neurochip aber bedeutet das Eindringen in die körperliche Integrität einer
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Person. Eingriffstiefe als Kriterium ist aber schlechte Metaphysik. Die Benutzung der Implantate erfordert ein intensives Training wie die Ausübung jeder anderen Kompetenz, ist also ohne eigene Anstrengung nicht erfolgreich zu gebrauchen. Behinderte betrachten Prothesen oft als Chance für ein ganz normales Leben, eine negative Bewertung von Prothesen diskriminiert also Behinderte (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 69–85). Insgesamt wird die autonome Entscheidung für das kognitive Enhancement eher toleriert als eine Entscheidung für andere, zum Beispiel für eigene Kinder. Eigene Wunschvorstellungen müssen für andere nicht immer überzeugend sein, auch nicht für den Nachwuchs. Aber was soll an der Verbesserung des Potenzials für Informationsverarbeitung im Sinne einer Intelligenzverstärkung falsch sein? Das entscheidende Kriterium ist nicht die Tatsache der Verbesserung, sondern ob durch das Resultat der Veränderung eine gewisse Offenheit des Lebensweges erhalten bleibt. Gesundheit gilt als das normale Funktionieren des Körpers, geistige Gesundheit setzt das normale Funktionieren des Gehirns voraus. Es gibt verschiedene Definitionen von Intelligenz oder von Formen von Intelligenz. Außerdem gibt es Spezialbegabungen. Es gibt keine allgemeine Intelligenz, die man durch Enhancement-Maßnahmen verbessern könnte. Bereits Feinberg sprach 1980 von einem Recht des Kindes auf eine offene Zukunft (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 94–105). Häufig nehmen Patienten, die durchaus leistungsstark sind, andererseits von Depressionen und Angstzuständen geplagt sind, Psychopharmaka, um ihr Arbeitspensum weiterhin aufrechterhalten zu können. Medikamente helfen einige Zeit, dann folgt das Burnout. Für den Arzt bedeuten solche Fälle ein ethisches Dilemma. Soll man ihnen wirklich helfen oder sie nur wieder fit machen? Helfen würde bedeuten, den Patienten für mehrere Wochen aus seiner Stresssituation heraus zu holen. Aussetzen im Beruf kommt aber meist nicht in Frage. Der Patient will einfach nur wieder funktionieren. Ein paar Tage Klinik, Medikamente gegen die Angstzustände und Schlafstörungen, auch zur Leistungssteigerung, die ihn arbeitstauglich machen sollen, eine psychiatrische Beratung vielleicht als Hilfe. Seinen Lebensstil will der Patient nicht ändern. Symptomlinderung geht in Leistungssteigerung über (vgl. Szentpetery 2008b, 34). Viele Ärzte berichten von einer zunehmenden Zahl von organisch weitgehend gesunden Spitzenkräften, die nach Mitteln verlangen, mit denen sie noch besser werden oder das hohe Niveau dauerhaft halten können. Das gilt anscheinend vor allem für Naturwissenschaftler. In einer nicht repräsentativen Umfrage der Fachzeitschrift „Nature“ gab jeder fünfte Forscher an, schon mit Hirndoping experimentiert zu haben, 12 % betreiben es regelmäßig. Das Bedürfnis, dem eigenen Gehirn chemisch auf die Sprünge zu helfen, ist alles andere als neu: Kaffee und Energiegetränke zum Wachbleiben, Traubenzucker für die Konzentration, Alkohol zum Entspannen und pflanzliche Präparate bei leichten Gedächtnisstörungen und Gemütsschwankungen sind so verbreitet wie gesellschaftlich akzeptiert. Dazu kommen in bestimmten Branchen illegale Drogen wie Kokain oder die Aufputschmittel Speed oder Ecstasy. Noch ist das so genannte Neurodoping hierzulande nicht die Regel, doch Psychiater berichten, dass die Grenze zwischen Medikament und Droge, sowie zwischen krank und gesund verschwimmt, ähnlich wie zuvor schon der Unter-
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schied zwischen Wiederherstellungs- und Schönheitschirurgie oder Erektionsstörungen und dem Wunsch, allzeit sexuell bereit zu sein; Müdigkeit und mangelnde Konzentration werden zu Symptomen, die es zu beheben gilt (vgl. Szentpetery 2008b, 34–36). Akademiker haben die Vorzüge solcher Medikamente jedenfalls längst entdeckt. In der Nature-Umfrage lag unter den dopenden Forschern Ritalin mit 62 % vorn, gefolgt von Provigil, was 44 % der Befragten zu nutzen angaben. Wir sind technisch denkende Menschen – ich muss es packen, notfalls mit chemischen Krücken. Alltagsdopingmittel sind Alkohol, Nikotin und legale Medikamente. Es sei ein Irrglaube, dass das Burnout-Syndrom oder Stress durch ein paar Pillen zu beheben sind. Es geht längst nicht mehr nur um überarbeitete Manager und überehrgeizige Forscher. Einen viel größeren Markt machen alte Menschen aus. Für diese Zielgruppe schuf die Pharmaindustrie bereits den Krankheitsbegriff „mild cognitive impairment“, die leichte Gedächtnisstörung. Tatsächlich steht aufgrund des immer genaueren Verständnisses der molekularen Grundlagen des Lern- und Erinnerungsvermögens zu erwarten, dass die nächsten Medikamente, die auch beim kognitiven Aufrüsten von Gesunden eine Rolle spielen werden, aus der Neuroforschung stammen werden (vgl. Szentpetery 2008b, 37 f.). Vorausgesetzt, dass kein Schaden für den Betroffenen selbst oder für andere entsteht und Nebenwirkungen gering bis vertretbar sind, spricht nichts dagegen, seinem Gehirn mit Medikamenten auf die Sprünge zu helfen, finden die Befürworter dieser Medikamente. Das Dumme ist nur, dass es dieses Medikament nicht gibt. Denn zumindest die heute verfügbaren Neurodoping-Pillen haben alle ihre Nebenwirkungen (vgl. Szentpetery 2008b, 39). Nach offiziellen Schätzungen nutzten im Jahr 2007 mehr als 1,6 Millionen USBürger Medikamente als Neuroenhancer, die eigentlich für die Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verschrieben werden. Zu den Neuroenhancern gehören Methylphenidat mit Handelsnamen Ritalin, die Amphetamine Adderall und Benzedrin sowie Modafinil. An einigen Universitäten gab ein Viertel der Studenten an, diese Präparate schon einmal geschluckt zu haben. Die Einnahme solcher Präparate wird mit steigendem Durchschnittsalter und fortschreitender Globalisierung voraussichtlich zunehmen. Medikamente würden künftig immer weniger als bloße Medizin gegen Krankheiten gelten. Die Forscher rechnen damit, dass Psychostimulantien – sobald ihre Wirksamkeit und Unschädlichkeit bei Gesunden einmal belegt ist – breite Anwendung zur Leistungssteigerung in Unterrichtsräumen und Verhandlungszimmern finden. Studien, die eine Wirkung solcher Substanzen auf das Gedächtnis und andere Formen der Informationsverarbeitung zeigen, dienen den Autoren als Argument, das Hirndoping auf eine Stufe zu stellen mit Erziehung, Gesundheitsvorsorge und Datentechnik (vgl. Stix 2010, 47 f.). Manche Wissenschaftler meinen, die Debatte sei überflüssig, denn wirklich schlauer werde man doch nur durch mühsamen Wissenserwerb. Einige, die an Wirkstoffen gegen den Gedächtnisverlust bei Demenz forschen, halten Doping des gesunden Gehirns bestenfalls für eine vage Möglichkeit. Die Idee, Medikamente könnten das Denken bei Gesunden verbessern, ist fast ein Jahrhundert alt und hatte zwiespältige Konsequenzen. Der Chemiker Gordon Alles führte 1929 den synthetischen Wirkstoff Amphetamin als billigen Ersatz für die pflanzliche psychoaktive Substanz
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Ephedrin ein. Er entwickelte auch den Hauptinhaltsstoff der Partydroge Ecstasy, MDMA, einen Abkömmling des Amphetamins. Im zweiten Weltkrieg wurden verschiedene Amphetamin-Derivate verwendet, um die Soldaten wach zu halten und ihren Kampfgeist zu stärken (vgl. Stix 2010, 48 f.). Bei gesunden älteren Männern beobachteten die Forscher kaum eine positive Wirkung. Allerdings können Neuroenhancer Herzrhythmusstörungen auslösen und als Lifestyle-Droge missbraucht werden. Weder Modafinil noch Amphetamin wurden aufgrund tieferer Einsicht in die Funktionsweise des Gehirns entwickelt. Deren Wirkungsweise auf das Zentralnervensystem (ZNS), die hauptsächlich in der Ausschüttung der Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin besteht, ist erst später erforscht worden. Vor kurzem wurde dabei entdeckt, dass es sich neben anderen um Dopamin handelt. Dieser Neurotransmitter wird durch Amphetamin verstärkt und ist für dessen Suchtpotential verantwortlich. Erst 2006 wurde klar, dass Modafinil auch böse Hautausschläge verursachen kann. Auch wenn die alten Muntermacher nun als Kognitionsverstärker für Studenten, Börsianer und Softwareprogrammierer gepriesen werden, dürften sie – so zumindest Stix – aber kaum mehr bewirken als ein doppelter Espresso (vgl. Stix 2010, 50 f.). Was wir angesichts der Diskussion um Neuroenhancer also wirklich brauchen, ist eine tabulose Debatte vor dem Hintergrund, dass diese Dinge in der westlichen Welt bereits heimlich praktiziert werden (vgl. Stix 2010, 52 f.). Pharmakologische Rekonsolodierungshemmer lassen sich potenziell als Lifestyle-Medikamente einsetzen, um die eigene Risikobereitschaft zu erhöhen, oder auch zur Manipulation anderer Menschen. Es gibt keine scharfen Grenzen zwischen Lebhaftigkeit und Hyperaktivität und die Diagnoseerstellung ist deshalb bei ADHS schwierig (vgl. Hennen u. a. 2007, 149). Ritalin lässt sich allerdings nicht nur zur ADHS-Behandlung einsetzen, sondern auch zur Leistungssteigerung bei nicht Betroffenen. Ritalin steigert Aufmerksamkeit, Konzentration und Durchhaltevermögen – sowohl psychisch als auch physisch. In hoher Konzentration kann es zudem zu Halluzination und Euphorie führen. Illegal wird Ritalin häufig unter dem Namen Speed verkauft. Die Pharmakotherapie der Depression ist nach wie vor unbefriedigend, da sie nur bei ca. 70 % aller Betroffenen wirkt. Weiterhin ist schwer voraussagbar, welches Antidepressivum im individuellen Fall wirksam ist. Der Stimmungsaufheller Prozac wird in den USA im großen Stil als Lifestyle-Medikament eingesetzt. Die Effekte von Prozac werden von vielen Patienten anscheinend nicht als die Persönlichkeit verändernd wahrgenommen, sondern als Unterstützung angesehen, zu sich selbst zu finden (vgl. Hennen u. a. 2007, 152–155). LifestyleDrugs, d. h. für nicht medizinisch indizierte und verschreibungspflichtige, sondern für Stimmungsaufhellung oder Leistungssteigerung benutzte Psychopharmaka fördern die Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und führen zu einer Steigerung der Arbeitsmotivation, zu einer Verbesserung von Lernen und Gedächtnis, zur Stimmungsstabilisierung und Steuerungsbehebung, zur Steigerung des Selbstvertrauens, haben Auswirkungen auf Kreativität und künstlerische Ausdrucksfähigkeit, dienen zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit wie der Stressbewältigung, Hemmung von Aggression und Gewalt sowie dem Löschen unerwünschter Erinnerungen (vgl. Hennen u. a. 2007, 165–169).
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Für Psychopharmaka, die das Gedächtnis verbessern oder gar selektiv modellieren, die Aufmerksamkeit steigern, die Sinne aufnahmebereiter machen oder den Appetit zügeln, das Selbstwertgefühl oder Energieniveau zu heben, gemeinschaftsschädigende Antriebe unterdrücken und unerwünschte Stimmungen vertreiben, die kaum Nebenwirkungen haben und erschwinglich sind, wäre eine ungewöhnliche Nachfrage und ein entsprechender Markt zu erwarten. In die Persönlichkeit von Menschen wird bereits seit langem eingegriffen – nicht nur durch den Gebrauch von Psychopharmaka, sondern auch durch Psychotherapie, durch Erziehung und prägende Erlebnisse. Eingriffe in die Persönlichkeit berühren insbesondere den freien Willen und die Selbstkontrolle der betroffenen Personen, ihre Verantwortungsfähigkeit, aber auch ihr Selbstverständnis, ihre Beziehung zu sich selbst. Was manche der neuen pharmakologischen Verfahren von herkömmlichen unterscheidet, ist die potenzielle Wirksamkeit und Zielgerichtetheit der Eingriffe. Dabei stellt sich die Frage, ob nach solchen Eingriffen noch die gleiche Person existiert. Von besonderem Interesse sind Eingriffe ins Gedächtnis. Die Identität eines Menschen ist eng mit seiner Lebensgeschichte verknüpft. Wird das Gedächtnis an eigenen Erlebnissen verändert, etwa indem bestimmte Inhalte gelöscht, neu rekombiniert oder überhaupt erst ins Bewusstsein gerufen werden, kann dies seine Persönlichkeit in ihren Grundfesten erschüttern, auch wenn Erinnerungen eine eher flexible Basis der Persönlichkeit darstellen. Dass ADHS bei Jungen etwa viermal so häufig diagnostiziert wird wie bei Mädchen, ist zweifellos zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass Jungen tendenziell ein ungeduldigeres und aktivitätsbetonteres Verhalten aufweisen, das zu den modernen Lebensbedingungen anscheinend schlechter passt und ihre Entwicklungschancen gerade auch im schulischen Umfeld verschlechtert (vgl. Hennen u. a. 2007, 170–172). Medikamentöse Eingriffe ins Gehirn könnten eher unerwünschte Eigenschaften unterdrücken, statt mentale Fähigkeiten zum Umgang mit Problemen zu stärken. Eigenverantwortung wird abgelöst durch den Verweis auf eine psychisch bedingte Krankheit. Wenn man Neuroenhancement gesellschaftlich gestattet, müssten die Zugangsmöglichkeiten zu solchen Substanzen gerecht und fair gestaltet werden. Da die infrage kommenden psychoaktiven Substanzen eine erhebliche Leistungssteigerung bewirken können, tritt ihre Problematik besonders in Situationen des Wettbewerbs und der Konkurrenz zutage – zwischen Schülern, Arbeitnehmern etc. Die erste Frage lautet, ob man den Einsatz in solchen Situationen ächten soll, analog zur Einnahme von Dopingmitteln im Sport. Das scheint gerechtfertigt zu sein, wenn gerade diverse kognitive Leistungen oder ein Wissensstand getestet werden sollen wie in Prüfungen und Examina oder Musikwettbewerben. Aber ein Verbot wird problematisch in vielen anderen Typen von Wettbewerben, wie etwa zwischen zwei Verhandlungsteams mit konkurrierenden Gesellschafts- und Geschäftsinteressen. Die zweite Frage ist, ob und wie man diejenigen, die solche Mittel nicht nehmen wollen, schützen kann, wenn andere – vielleicht die Mehrheit – dazu bereit sind (vgl. Hennen u. a. 2007, 174–176). Eine noch stärkere Medikalisierung abweichenden Verhaltens, insbesondere auch eine zunehmende Selbstmedikation könnte negative Auswirkungen auf den Stellenwert der psychotherapeutischen Versorgung haben, die trotz einer vergleichsweise guten Gewährleistung in Deutschland durch das Psychotherapeuten-
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gesetz in großen Teilen der Bevölkerung mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat. Wenn auch für leistungssteigernde Psychopharmaka ein Arztvorbehalt gelten würde, berührte dies fundamental den ärztlichen Handlungsauftrag. Da es sich nicht um eine therapeutische Verwendung handelt, für deren Angemessenheit der diagnostische Befund objektive Anhaltspunkte gibt, sind die Kriterien der Vergabe durch den Arzt subjektiv und klärungsbedürftig. Was weiß der Arzt über Lebensqualität oder Glück bei einer gesunden Person (vgl. Hennen u. a. 2007, 177)? Wissenschaftlich unbestritten ist, dass der Geist im Gehirn durch neuronale Prozesse realisiert wird und dass es keine davon unterschiedene geistige Substanz gibt. Dass Geist aber auch in Kultur realisiert, sich in symbolischen Systemen objektiviert und auf die individuellen Gehirne zurückwirkt, ist ebenso unbestreitbar. Solange nicht absehbar ist, wie sich beide Perspektiven ineinander auflösen lassen, bleibt das Verhältnis zwischen Geist und Gehirn eine spannende philosophische Frage. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass es in näherer Zukunft ernsthaft Anlass zur Revision unseres lebensweltlichen Selbstverständnisses als kulturell und sozial geprägte verantwortliche Subjekte unseres Handelns geben wird. Hier sind die kulturellen Implikationen einer Veränderung des Krankheitsverständnisses (Stichwort: Zunahme der Medikation und biologischer Reduktionismus) möglicherweise von besonderer Brisanz, da es sich um mentale Erkrankungen handelt (vgl. Hennen u. a. 2007, 180–184). In diesem Zusammenhang spielt das kognitive Enhancement eine wichtige Rolle. Hier treten folgende Probleme auf. Die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Nutzung von Enhancement-Technologien sind fließend und/oder können sich durch Veralltäglichung der Nutzung verschieben. Insbesondere mit Psychopharmaka ist eine Dual Use Problematik verbunden. Zu medizinischen Zwecken gezielt entwickelte Medikamente eröffnen die Möglichkeit, sie zu anderen als medizinischen Zwecken einzusetzen. Der heutige Umfang von Suchtmittel- und Medikamentenmissbrauch zeigt, wie schwierig auch bei einer vorgeschriebenen medizinischen Indikation die Einschränkung einer erweiterten Nutzung ist. Bei der Nutzung von Enhancement-Technologien handelt es sich um Methoden der Selbstmanipulation, bei denen zunächst unklar ist, in welcher Weise ein regulierender Eingriff legitim und wirksam sein kann (vgl. Hennen u. a. 2007, 186). Wenn Intelligenz als erstrebenswert gilt, muss man dann nicht auch alle technischen Mittel einsetzen, diesen Wert realisieren zu können? Da Einschränkungen in der langfristigen Folgenabschätzung ethisch nicht zu tolerieren sind, besteht da nicht sogar eine Pflicht, diese Einschränkungen zu vermeiden und so Methoden der Intelligenzsteigerung anzuwenden (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 108–100)? Für eine Gesellschaft ist mindestens durchschnittliche Intelligenz entscheidend und da schon ein leichter Rückgang gefährlich erscheint, wurden immer wieder eugenische Programme propagiert. Genetische Selektion, genetische Manipulation, Leihmutterschaft und hormonelle Manipulation von Embryonen stehen genauso zur Diskussion wie pädagogische Frühförderung. Entscheidend für die ethische Bewertung ist die Frage des Wohlergehens des Individuums, dessen Intelligenz technisch gesteigert werden soll. Diese Frage wurde kontrovers diskutiert, ohne dass es zu einer abschließenden Bewertung gekommen wäre (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 108–135).
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Könnten medikamentöse Änderungen der Persönlichkeit zu „echteren“ Gefühlen und zu „authentischeren“ Menschen führen? So steht emotionales Enhancement zur Diskussion, eine mögliche Intensivierung von Gefühlen wie z. B. Vertrauen durch Vergabe des entsprechenden Hormons. Muss jede Veränderung der Persönlichkeitsstruktur negativ bewertet werden? Authentizität gilt als Selbsterfindung und Selbst-Kongruenz und ist ein zentraler Wert in der westlichen Welt. Der authentische Selbstbezug schließt autobiografische Navigation mit ein. Interessant könnten Versuche zur medikamentösen Veränderung im Spannungsfeld zwischen Anerkennung des Gegebenen und kreativem Gestalten werden (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 143–157). Aus der Sicht der Selbstgestaltung des eigenen Lebens und der Persönlichkeit ist gegen Enhancement nichts grundsätzlich einzuwenden, wenn sich die entscheidende Person des damit verbundenen Risikos bewusst ist. Nebenwirkungen müssen in Kauf genommen werden. Ein prozedurales Verständnis von Persönlichkeit hält Wechsel im Lebensweg auch grundsätzlicherer Natur nicht für ethisch verwerflich, nicht zuletzt weil es in der Geschichte immer wieder Bekehrungserlebnisse gegeben hat (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 160–181). Prozac als Lifestyle-Droge und Antidepressivum könnte als Authentizität generierendes Mittel angesehen werden, welches mehr Gelassenheit und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben hervorbringt. Die vollständige Veränderung und Transformation einer Person hängt oft mit der Wahl von Optionen zusammen. Der Biokonservativismus und die biologische Psychiatrie geraten hier in einen Gegensatz. Man kann nicht immer das Künstliche und das Natürliche von Emotionen unterscheiden. Ist also das künstliche Gefühl nicht authentisch? Oder lassen sich naturidentische Gefühle herstellen? Ist der künstliche Ursprung für Emotionen im eigenen Subjekt ein Indikator völliger Unauthentizität? (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 191–209). Um Eigenschaften von Menschen zu verbessern, wurden staatlich gelenkte eugenische Klinikprogramme eingesetzt. Diese sind heute kaum noch durchsetzbar und durch ein radikales dezentrales Enhancement ersetzt worden. Dieses könnte die Welt für ihre Benutzer letztendlich vielleicht schöner machen, wenn alle Bürger verantwortungsbewusst und autonom wären. Wenn Enhancement aber als Privileg verstanden wird, setzt dies vorgeburtliche Maßnahmen voraus. Es könnten dabei drastische Formen der Zweiklassengesellschaft entstehen. Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit könnten gefährdet werden. Bei einem Enhancement für jedermann käme möglicherweise ein Rationalisierungsanspruch für Arbeitnehmer heraus. Allerdings könnte ein Druck auf die nicht veränderungswilligen Individuen in einer Gesellschaft entstehen. Bei flächendeckender Anwendung von Enhancement könnte sich das besonders nachteilig für Technikskeptiker auswirken. Immerhin wäre bei einer moderaten Form kompensatorischen Enhancements die Stellung des Technikskeptikers nicht problematisch. Auf jeden Fall sollten drastische Kumulationen vermieden werden. Dabei lassen sich vier Ebenen unterscheiden: (1) Gesundheits-Enhancement, (2) Körper-Enhancement, (3) allgemeines mentales Enhancement und (4) spezielles mentales Enhancement (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 221–239). Die neue neurobiologische Diskussion über Willensfreiheit greift in diesen Enhancement-Disput ein. Determination der Handlung schließt Anders Können aus.
4.2 Das problematische Gehirn
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Urheberschaft aber verbindet sich mit Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit. Sie setzen bestimmte organische Tatbestände voraus, die möglicherweise nicht vorliegen, z. B. bei Gehirntumoren oder bestimmten genetischen Konstellationen. In diesen Fällen kann die Willensfreiheit auch eingeschränkt sein (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 257–275). Bei einer Kompatibilitäts-Position schließen sich Freiheit und Determinismus nicht gegenseitig aus (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 277–288). Verändern sich nicht Konzepte menschlicher Handlung, politischer Freiheit und einer sozialen Zukunft angesichts von Enhancement? Eine nachhaltige, vorsorgeorientierte Enhancement-Politik erscheint erforderlich (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 305–314). Um Enhancement-Maßnahmen durch Krankenkassen finanzieren zu lassen, bedürfte es einer Erweiterung des Krankheitsbegriffes. Jedenfalls kann man bezweifeln, ob Enhancement in den Kernbereich ärztlicher Tätigkeiten gehört. Auf der anderen Seite sind Lebensqualität oder Normalität (zum Beispiel hinsichtlich der Körpergröße) wichtige Ziele, zu deren Realisierung technologische Maßnahmen eingesetzt werden könnten. Allerdings führen Technokratie und Kommerz zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des Arztes (vgl. Schöne-Seifert u. a. 2009, 325–338). Die Ersetzung persönlicher Arbeit beim Psychotherapeuten oder in der Schule und Universität durch Psychopharmaka wäre eine schreckliche Vision. Allerdings lässt sich bezweifeln, ob so etwas technisch überhaupt realisierbar ist und Lernen, Gedächtnisleistungen und der Erwerb von Kompetenz durch genetische Manipulation oder Gen-Doping ersetzt werden können. Bei einem reduktionistischen Menschenbild werden von der neuen Technik Dinge erwartet, die diese nicht leisten kann. Eine Sprachdroge wird genauso wenig helfen wie das Buch unter dem Kopfkissen oder der Nürnberger Trichter. Bei einer rein äußerlichen Betrachtungsweise des Menschen und seiner emotionalen wie intellektuellen Kompetenzen entstehen Ängste, die sich bei genauerer Interpretation und Analyse des leiblich-menschlichen Kompetenzerwerbs möglicherweise zerstreuen lassen (Schöne-Seifert u. a. 2009, 249–361). Aufgrund der ständig anwachsenden Möglichkeiten der technischen Selbstmanipulation wird Autonomie immer schwieriger zu leben. Andererseits wächst die Kompetenz zur Autonomie im autonomen Umgang mit anderen und diesen neuen technischen Produkten auch an. Entscheidend ist hier ebenfalls das Maß für Experimente mit sich selbst, insbesondere mit dem eigenen Körper. Wie sich die anwachsende Prothetik und das Re-Design menschlicher Körper auf das allgemeine Leibverständnis auswirken, ist zu untersuchen. Es ist für einen Außenstehenden nicht immer einfach zu bewerten. Die Probleme bei der Bestimmung des Lebenswertes und der Lebensqualität werden sich auch hier einstellen. Das Kriterium der Patientenautonome (Zustimmung des Betroffenen) lässt sich zwar anwenden, problematisch ist die Bewertung der Folgen der Entscheidung für andere, also vor allem im Bereich der Reproduktionsmedizin. Die Veränderung des eigenen Körpers muss nicht zwangsläufig zum Lebensdrama werden. So manche werden das Wissen um ihr Re- oder Neudesign und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen in ihrem Leib- und Lebensentwurf mehr oder weniger problemlos integrieren und als Quasi-Zufall (sozialer Zufall) wie die Geburt in einer spezifischen Familie akzeptieren können. Wer nicht weiß, dass er konstruiert und nicht gezeugt wurde, wird dies auch nicht zum Problem erheben.
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4. Gesundheit und Gesellschaft
Nicht nur der Arzt braucht ein Standesethos, sondern in zunehmendem Maße der medizinische Laie als Patient, der leiborientiert sein Leben selbst gestalten soll. Nun dient gerade intellektuelle Leistungssteigerung einem gelingenden Leben. Wenn man allerdings von sich selbst zu viel erwartet und von anderen mehr verlangt wird, als man selbst zu leisten vermag, dann bedarf es in der Tat eines verständnisvollen ärztlichen Begleiters, der die Rückkehr zur Gesundheit managen hilft. Ethische Fragestellungen durchgreifen in der Medizin der Zukunft in noch stärkerem Maße als bisher auch den Patienten. Ethischer und medizinischer Kompetenzerwerb werden zu einem konstitutiven Bestandteil des Arzt-Patienten-Verhältnisses in gesellschaftlich-kultureller Einbettung in der Entwicklung der zukünftigen Medizin. 4.3 VERTEILUNG DER RESSOURCEN; RATIONALISIERUNGSKRITERIEN, GERECHTIGKEIT UND GLEICHHEIT Gleichbehandlung und formale Gerechtigkeit sind nicht nur ethische Grundsätze in der unmittelbaren Arzt-Patienten-Beziehung, sondern verpflichten zur Folgenabschätzung und Berücksichtigung aller Betroffenen im Gesundheitssystem bis hin zur Gesellschaft. Der Arzt kann nur dann unbedenklich den sich ihm anvertrauenden Patienten ohne Einschränkung oder Differenzierung die breite Palette medizinischer Leistungen gewähren, wenn diese Leistungen auch von der Gesellschaft in Gänze getragen werden (können). Doch selbst wenn die hierfür notwendigen (finanziellen) Mittelaufwendungen bereitgestellt werden könnten und wollten, käme eine solche Situation der unbegrenzten Ressourcen und deren Verteilung nach den Bedürfnissen und Wünschen jedes Einzelnen gewissermaßen einer Utopie gleich. Und dies schon deshalb, weil die Bedürfnisse des Einzelnen nicht unbedingt mit denen der Gemeinschaft konform gehen müssen. Konsens gibt es sicherlich bei der allgemeinen Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber Schwächeren, Kranken. Aber wie weit geht der Gerechtigkeitssinn, wenn etwa Fragen nach der „Selbstverschuldung“ einer Krankheit, dem „bewusst“ eingegangenen Risiko einer schweren Schädigung (von Risikosportarten bis zur „ungesunden“ Lebensweise) oder nach dem Beitrag bzw. Wert des Einzelnen für die Gemeinschaft, oder nach der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit kostenintensiver medizinischer Maßnahmen für Menschen im hohen Alter gestellt werden. Auch die Festlegung auf das „medizinisch Notwendige“ suggeriert zwar eine Gleichbehandlung aller in vergleichbaren Umständen, dient aber schon allein aufgrund fehlender Normierung letztlich als Instrument der Begrenzung medizinischer Leistungen; eine Verteilungsgerechtigkeit ist damit keineswegs schon per se garantiert. Es mag eine allgemeingültige Feststellung sein, dass ein Menschenleben nicht an seinem ökonomischen Wert messbar ist bzw. sein sollte und demzufolge auch die Bewertung von Gesundheit und Krankheit des Menschen nicht vordergründig wirtschaftlichen Überlegungen und Normativen unterworfen werden darf. Aber nicht erst heute stellt die Medizin bzw. das Gesundheitswesen durchaus einen wichtigen Wirtschaftsfaktor im Staatswesen dar, was auch in dem gegenwärtigen Begriff vom Gesundheitsmarkt deutlich zum Ausdruck kommt. Wie sehr die öffentliche
4.3 Verteilung der Ressourcen
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Gesundheitsversorgung von der Ökonomie bestimmt ist, zeigt sich allein schon darin, dass immer wieder – in allen Industriestaaten und zwar unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Gesundheitssysteme – über (tatsächlich) steigende Gesundheitsausgaben geklagt, eine „Kostenexplosion“ beschwört (siehe dazu Braun, Kühn, Reiners 2000, 253–257) und eine Rationalisierung und Rationierung von Ressourcen im Gesundheitssystem gefordert, zum Teil auch mehr oder weniger erfolgreich politisch durchzusetzen versucht wird. Der medizinisch-technische Fortschritt hat seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem die Verbesserung hygienischer Bedingungen, die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit und die gezielte Behandelbarkeit bzw. Vermeidung von Infektionserkrankungen bewirkt, was in der Folge zu einem wesentlichen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung führte. Dieser Erfolg ist vom Gemeinwesen nicht zuletzt auch unter wirtschaftlichem Aspekt (Arbeitskräfte/Wirtschaftswachstum) positiv bewertet worden, so dass neben dem beginnenden Aufbau eines geforderten und möglich gewordenen staatlich regulierten Sozial- und Fürsorgewesens auch die Medizin als solche sowie die medizinische Versorgung zunehmend staatlich gefördert wurde. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gelang der Medizin die erfolgreiche Behandlung „westlicher“ Volkskrankheiten, der sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sowie der funktionelle Ersatz von Organen, womit neben der Verlängerung der Lebenszeit insbesondere auch eine Verbesserung der Lebensqualität des Individuums, also des betroffenen Patienten erreicht werden sollte und (selbst bei nicht einheitlicher Definierung von Lebensqualität) auch wurde. Innerhalb der letzten Jahrzehnte habe sich allerdings die Relation zwischen finanziellen und personellen Aufwendungen im Gesundheitssystem für neue diagnostische und therapeutische Verfahren und dem erreichten Nutzen (Verbesserung von Lebensqualität und Lebenserwartung) für das Individuum wie auch die Gemeinschaft verschoben. Auf der einen Seite stünde ein vor allem durch enorme Aufwendungen in der Forschung erreichtes, sich nahezu alle fünf Jahre verdoppelndes medizinisches und naturwissenschaftliches Wissen (siehe molekulare Grundlagenforschung zur Erkenntnis grundlegender genetisch determinierter Mechanismen für die Entstehung von Krankheiten); auf der anderen Seite sei ein immer größerer Aufwand an eingesetzten Mitteln nötig, um selbst kleine Verbesserungen für den Gesundheitszustand der Gemeinschaft fassbar und messbar zu erreichen (Kraus, Wilms 2000, 115). Das eigentliche Grundproblem resultiert also aus der Diskrepanz zwischen dem durch den medizinisch-technischen Fortschritt eröffneten prinzipiell Machbaren (was letztlich auch die Bedürfnisse prägt, wie andererseits das aktuelle Lebensgefühl und der Zeitgeist – Streben nach Gesundheit, Jugend, Vitalität, Erfolg – die Ausrichtung der Medizin beeinflusst) und der tatsächlichen Finanzierbarkeit. Der größte Anteil der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist Teil des öffentlichen Gesundheitswesens und wird über gesetzliche Krankenkassen (fast 60 %)4 finanziert. Sie unterliegt demnach nicht den Mechanismen eines sich selbst 4
Weitere Ausgabenträger: (Stand 2011) öffentliche Haushalte 4,8 %, soziale Pflegeversicherung 7,5 %, gesetzl. Rentenversicherung 1,4 %, gesetzl. Unfallversicherung 1,6 %, private Kranken-
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4. Gesundheit und Gesellschaft
regulierenden Marktes, sondern der Umsetzung politischer Zielvorgaben unter Einhaltung ökonomischer Rahmenbedingungen (vgl. Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 137). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes beliefen sich die Gesamtausgaben zur Gesundheitsversorgung (Prävention/Gesundheitsschutz, ärztliche und pflegerische Leistungen, Heil- und Hilfsmittel, Unterkunft/Verpflegung) mit stetig steigender Tendenz für das Jahr 2011 auf knapp 300 Milliarden Euro, was 3.590 Euro je Bewohner und Jahr und einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11,3 Prozent entspricht. Im Vergleich zum Vorjahr seien damit die (absoluten) Ausgaben um 1,9 Prozent gestiegen. Der allerdings für die Gewichtung etwas aussagekräftigere Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP ist leicht zurückgegangen (2009 waren es noch 11,8 %). Und auch unter den OECD-Ländern rangiert Deutschland (2011) bei den Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben „nur“ an neunter Stelle. Über dem OECD-Durchschnitt liegt Deutschland jedoch bei den personellen Ressourcen und gehört beim Versorgungsgrad mit Krankenhausbetten zu den Spitzenreitern5. Und noch eine statistische Angabe: 2011 lag die Lebenserwartung bei Geburt für die gesamte Bevölkerung in Deutschland bei 80,8 Jahren, im OECD-Durchschnitt bei 80,1 Jahren. Unter den OECD-Ländern ist die Lebenserwartung in der Schweiz mit 82,8 Jahren am höchsten, gefolgt von Japan und Italien (82,7 Jahre). Was sagt dies nun über die Qualität der Gesundheitsversorgung aus? Eigentlich nur, dass Deutschland hinsichtlich des finanziellen Aufkommens im oberen Drittel der entwickelten Industrienationen rangiert und das Gesundheitswesen einen beträchtlichen Anteil an den Gesamtausgaben des Staates einnimmt, und dass die Kapazitäten insbesondere auf die stationäre Betreuung (zumindest quantitativ) gelenkt wurden, womit zugleich auch das Erfordernis einer (durchschnittlich) höheren Zahl von Pflegekräften begründet ist. Andererseits wird aber gerade von stationären medizinischen Einrichtungen – nicht zuletzt in der Altenpflege – fehlendes Pflegepersonal beklagt und sogar ein Pflegenotstand ausgerufen. Ein großes Problem hinsichtlich der Finanzierbarkeit wird auch bei der Verschreibung von Heilmitteln für ältere, pflegebedürftige Patienten gesehen. Ganz besonders prekär zeigt sich diese Situation bei der Pflege und medizinischen Versorgung Demenzkranker, deren weitere Zuspitzung für die nächsten Jahre/Jahrzehnte angesichts zunehmenden Lebensalters und der damit höheren Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, prognostiziert wird. Schon jetzt würden von den 1,2 Millionen an Demenz erkrankten Menschen in Deutschland nur etwa 125.000 Patienten eine therapiegerechte Behandlung erhalten. Nur weniger als der Hälfte der Patienten, bei denen eine Demenzerkrankung diagnostiziert wurde, würden Antidementiva verschrieben, da sie teuer sind (etwa 120 Euro im Monat pro Patient müssten einkalkuliert werden) und
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versicherung 9,4 %, Arbeitgeber 4,3 %, priv. Haushalte/Organisationen 13,7 %. Vgl. Angaben des Statistischen Bundesamtes www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/ Gesundheitsausgaben. Deutschland (2011): auf 1.000 Einwohner 3,8 Ärzte und 11,4 Krankenpfleger (OECD-Durchschnitt: 3,2 Ärzte und 8,7 Pfleger); 8,3 Krankenhausbetten (incl. Vorsorge- u. Rehabilitationseinrichtungen) je 1.000 Einwohner (OECD-Durchschnitt: 4,8 Betten)
4.3 Verteilung der Ressourcen
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die Ärzte Angst haben, damit ihr Medikamentenbudget zu sprengen, und weil der Nutzen nicht bei allen klar erwiesen ist (Sonnet 2010). Allein diese Beispiele verdeutlichen, dass trotz der zunächst recht üppig erscheinenden finanziellen Ausstattung des Gesundheitswesens der Eindruck eines finanziellen Defizits und einer dauerhaften Reformbedürftigkeit des Gesundheitssystems besteht. Die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens ist allerdings vorrangig abhängig von den Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), worauf wiederum gesellschaftliche Faktoren wie Demographie und Erwerbsarbeit Einfluss haben. Die finanziellen Mittel bleiben also immer begrenzt, selbst auch bei anderen Modellen zur Rekrutierung staatlicher Mittel etwa über eine Steuerfinanzierung oder Ausweitung der Beitragsveranlagung (die aber immerhin zur höheren sozialen Gerechtigkeit beitragen könnten und somit nicht nur aus rein ökonomischen Überlegungen zu hinterfragen sind). Wenn also bestimmte Ressourcen nicht beliebig verfügbar sind, bedarf es ihrer Zuweisung, woraus sich das ethische Problem einer gerechten Verteilung – wie und nach welchen Kriterien – ableitet. Die Ebenen der Zuweisung begrenzter Ressourcen (Allokation) sind (1) das Gesundheitswesen „als Ganzes“, d. h. im Verhältnis bzw. in Konkurrenz zu sonstigen Sozialausgaben/Budgets und anderen staatlichen Aufgaben (zugewiesener/gewichteter Anteil am Bruttosozialprodukt) – Makroallokationsebene I, (2) innerhalb des Gesundheitswesens (Verteilung des Gesamtbudgets auf Teilbereiche der medizinischen Versorgung, zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, zwischen Prävention, Therapie und Rehabilitation) – Makroallokationsebene II, (3) die einzelnen medizinischen Versorgungseinrichtungen bzw. die Patientengruppen (Einzelbudgets für Krankenhäuser, Praxen, Fallgruppen) – Mikroallokationsebene I, (4) der konkrete Patient – Mikroallokationsebene II. Hierbei geht es sowohl um gesellschaftliche und politische Grundsatzfragen – etwa das Recht auf medizinische Versorgung und das Recht auf Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, die Zuweisung der Verantwortlichkeit auf die Gesellschaft oder den Einzelnen –, als auch um ökonomische und medizinethische Überlegungen (vgl. Riha 2008, 134 f., Wiesing 2012, 285 f.). Aufgrund neuer/besserer Behandlungsmöglichkeiten, der auch damit gestiegenen Erwartungshaltung und Bedürfnisse der Bevölkerung, der guten Versorgung mehr chronisch Kranker angesichts höherer Lebenserwartung, und der der Medizin zunehmend zugewiesenen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben (siehe etwa WHODefinition von Gesundheit) steigen die Kosten für medizinische Leistungen, während die wirtschaftliche Basis nicht im selben Maße wächst, was zu einer Mittelknappheit führt. In dem Maße nimmt natürlich auch die Allokationsfrage zu, d. h. die (auch ethisch zu stellende) Frage, wie die Gesundheitsausgaben zu begrenzen sind. Hierfür bieten sich grundsätzlich die beiden Strategien der (1) Rationalisierung und der (2) Rationierung an. Mit der (1) Rationalisierung wird die Effizienz der medizinischen Versorgung durch das Ausschöpfen der Wirtschaftlichkeitsreser-
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4. Gesundheit und Gesellschaft
ven gesteigert. Mit weniger Mitteln wird der gleiche medizinische Effekt oder mit den gleichen Mitteln ein größerer medizinischer Effekt erzielt. Beispiel hierfür könnte die gemeinschaftliche Nutzung und damit effizientere Auslastung von medizintechnischen Geräten durch mehrere Ärzte, auch unterschiedlicher Fachbereiche (insbesondere im ambulanten Bereich) sein, oder die Vermeidung doppelter/ mehrfacher Erhebung der selben diagnostischen Parameter (z. B. Laborwerte) bei einem Patienten, der vom niedergelassenen Arzt in eine Klinik zur weiteren stationären Betreuung überwiesen worden ist. Diese keineswegs neuen Vorschläge scheiterten bislang vor allem am in Deutschland geltenden Kosten- bzw. Leistungsabrechnungssystem für Ärzte und Krankenhäuser, was also insbesondere der Makroallokationsebene II und der Mikroallokationsebene I zuzuordnen ist. Andererseits scheint es schwierig abzuschätzen, ob und inwieweit durch Rationalisierungsmaßnahmen allein ein quantitativ spürbares Einsparpotential zu erreichen ist, da die kostensteigernden Faktoren wie demographische Entwicklung und medizinischer Fortschritt unbeeinflusst bleiben. (2) Rationierung hingegen führt zur Kostensenkung durch das vorrübergehende oder dauerhafte Vorenthalten nützlicher medizinischer Leistungen, was auch die Reduzierung der Qualität oder das Vorenthalten medizinisch notwendiger Leistungen einschließen kann. Allerdings müsste dies erst die Bestimmung der relativen Wichtigkeit verschiedener medizinischer Maßnahmen voraussetzen (vgl. auch folgend Wiesing 2012, 288–296). In Abhängigkeit von der Verteilungsebene wird zwischen expliziter und impliziter Rationierung unterschieden. Explizite Rationierung erfolgt nach verbindlichen, festgelegten Kriterien (auf der oberen Mikroebene) und kann zum generellen Ausschluss von Leistungen oder zur Einschränkung von Indikationen/Versorgungsstandards führen. Diese Rationierung kann von einer definitiven Begrenzung der Ressourcen bis zu einem privaten Zukauf knapper Leistungen reichen. So bedeutet etwa die Begrenzung des Leistungskatalogs der GKV nicht, dass die hierbei ausgeschlossenen medizinischen Leistungen grundsätzlich dem Patienten verweigert würden, sondern dass die Kosten von der GKV nicht übernommen/erstattet werden und der Patient finanziell selbst dafür aufkommen müsste. Bei der impliziten Rationierung erfolgt die Zuteilung jeweils im Einzelfall durch die Leistungserbringer, evtl. unter Beteiligung des Patienten (untere Mikroebene) und resultiert aus Budgetierungen und finanziellen Anreizen für die Leistungserbringer oder Patienten. Häufiges Beispiel ist, dass ein (Vertrags-)Arzt am Ende des Quartals Heil- und Hilfsmittel nicht mehr verschreibt, weil dessen hierfür zugewiesenes Budget ausgeschöpft ist oder er die dauerhafte Verschreibung sehr kostenintensiver Medikamente für die spezifische (und nicht durch preisgünstigere Mittel zu ersetzende) Medikation eines Patienten verweigert, weil dies sein Arzneimittelbudget wesentlich übersteigt und er Sanktionen (infolge von Wirtschaftlichkeitsprüfungen durch die Kassenärztliche Vereinigung) befürchten muss. Die Verantwortung für die Einschränkung medizinischer Maßnahmen trägt hier der Arzt. Nach Kraus und Wilms sei bereits seit Descartes die nutzbringende Anwendung des Wissens in den Dienst des menschlichen Wohlergehens zu stellen. Die traditionelle philosophische Antwort auf eine ausufernde Begehrlichkeit infolge einer dem
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Menschen innewohnenden tendenziellen Unersättlichkeit, eines Immer-mehr-Wollens (Platon) – was mitursächlich für eine Ressourcenverknappung sei – wäre nicht Rationierung oder Rationalisierung, sondern das Maßhalten bzw. die Besonnenheit. Und Besonnenheit ist eine Begrifflichkeit mit moralischem Inhalt, der eine umfassendere Auseinandersetzung mit den Problemsituationen erfordere, als nur marktwirtschaftlich orientierte gesundheitsökonomische Strategien, und als Regulativ dem hohen Anspruch der jeweiligen individuellen Entscheidung im Arzt-Patienten-Verhältnis ethisch gerecht werden würde (vgl. Kraus, Wilms 2000, 121 f.). Doch kann Besonnenheit nicht als Regulativ für Verteilungsprinzipien in einer Gesellschaft mit zunehmender Ressourcenverknappung dienen. Wenn Leistungseinschränkungen im Gesundheitswesen unvermeidlich sind, muss vielmehr vorab geklärt werden, welche Leistungen und Leistungsbereiche der öffentlichen Gesundheitsversorgung wichtiger oder weniger wichtig sind, d. h. welche medizinischen Maßnahmen, Indikationen, Patientengruppen oder ganze Versorgungsbereiche Vorrangigkeit/Priorität haben sollen – und zwar im Sinne einer verbesserten Versorgungsqualität. Die Priorisierung dient damit durchaus nicht einseitig nur einer bloßen Rationierung zur Kostensenkung aus marktwirtschaftlichen Überlegungen, sondern bietet aus ethischer Sicht die Möglichkeit, Versorgungsqualität und Gesundheitsausgaben nach klar vorgegebenen (gesellschaftlichen, persönlichen, sozialmedizinischen, medizinischen) Kriterien gegeneinander abzuwägen und zu einem optimalen Einsatz knapper Ressourcen beizutragen. In Deutschland gibt es hierzu bislang noch keinen breiten gesellschaftspolitischen Diskurs (vgl. Wiesing 2012, 292; Marckmann 2009, 85–91). Bei Leistungsbegrenzungen stellt sich die Frage, wie die Grenzen der Gesundheitsversorgung gerecht gezogen werden können, d. h. wie und welche Bedingungen eines fairen Verfahrens zur Leistungsbegrenzung zu definieren sind und welche ethischen Maßstäbe gelten, an denen sich die Verteilung inhaltlich orientieren sollte. Leistungsbegrenzungen sind nicht direkt aus einer ethischen Theorie ableitbar, doch die Kriterien einer gerechten Verteilung sind vorrangig ethisch determiniert. So gehören zu den formalen Verfahrenskriterien etwa Transparenz (begründete Aufklärung/Information der Patienten/Versicherten über Leistungsbegrenzungen und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien), Gleichbehandlung (gleiche Zuteilungskriterien, um Patienten in vergleichbaren medizinischen Situationen auch gleich zu behandeln), Autonomie (Widerspruchsmöglichkeit im Einzelfall bei vom Patienten gewünschter, ihm aber nicht zugänglicher/gewährter Leistung), aber auch die demokratische Legitimierung der Entscheidungen, die Partizipation der Bürger/ Patienten am Entscheidungsprozess und die Sicherstellung zur tatsächlichen Einhaltung der Kriterien. Für die unmittelbare Arzt-Patienten-Beziehung dürften aber die inhaltlichen (materialen) Kriterien von noch größerer Relevanz und zudem ethisch am besten begründbar sein. Diese Kriterien betreffen (1) die Chancengleichheit, (2) die medizinische Bedürftigkeit, (3) den erwarteten medizinischen Nutzen (Nutzenmaximierung und Schadensvermeidung) und (4) die soziale Wertigkeit bzw. das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Ist das vorherrschende Kriterium gerechter Verteilung die (1) Chancengleichheit, haben alle Patienten in vergleichbaren (medizinischen) Umständen die gleiche Wahrscheinlichkeit, eine entsprechende/qualitativ gleichwertige (krankheitsbezo-
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4. Gesundheit und Gesellschaft
gene) medizinische Leistung zu erhalten. Auf zum Beispiel die Transplantationsmedizin und die knappe Ressource Spenderorgane bezogen hieße dies, alle Patienten haben die gleiche Chance/Wahrscheinlichkeit, ein Organ zu bekommen. Eine solche Verteilung ließe sich über ein Losverfahren realisieren, was aber den Nachteil hätte, dass weder die medizinische Bedürftigkeit noch der zu erwartende medizinische Nutzen bei der Vergabe berücksichtigt würden. Das Kriterium der (2) medizinischen Bedürftigkeit impliziert, dass gemessen am Schweregrad der Erkrankung und der Dringlichkeit der Behandlung diejenigen Patienten Vorrang genießen sollten, die am meisten der medizinischen Hilfe bedürfen. Schwierig ist eine Abwägung und Entscheidung der Zuteilung unter diesem Kriterium jedoch, wenn bei mehreren Patienten gleichzeitig der gleiche Schweregrad der Erkrankung festgestellt und die gleich hohe Dringlichkeit der Behandlung geboten ist. Ebenso problematisch ist die Entscheidung nach medizinischer Bedürftigkeit bei schwerstkranken Patienten, denen auch mit hohem Ressourcenaufwand nur wenig geholfen werden kann, wenn diese Ressourcen alternativ anderen Patienten effektiv, also mit guter Heilungsaussicht, zugute kommen könnten. Das Kriterium des (3) erwarteten medizinischen Nutzens bedeutet, dass Leistungsbegrenzungen zunächst bei den Maßnahmen und Indikationen ansetzen sollten, die für den Patienten nur einen geringen Nutzengewinn oder gar einen Schaden – nach dem utilitaristischen Prinzip auch für die Allgemeinheit – erbringen. Bei vorrangiger Befolgung dieses Kriteriums würden medizinische Leistungen nach dem größtmöglichen kollektiven Nutzen zugeteilt. Schwere Krankheiten würden unter Umständen nur deshalb nicht geheilt, weil mit denselben Ressourcen viele andere Patienten mit (sowohl medizinisch als auch finanziell) ‚günstigerer‘ Prognose behandelt werden könnten. Andererseits müssten aber zur größtmöglichen Schadensvermeidung gerade Schwerkranken die medizinischen Leistungen zukommen, da sie andernfalls sterben würden. Diese Zuteilungsproblematik nach Nutzenmaximierung und Schadensvermeidung lässt sich nicht zuletzt anhand der Transplantationsmedizin verdeutlichen. Hier geht es immer um schwere Erkrankungen, aber wenn der kollektive Nutzen nach der Dauer der Transplantatüberlebenszeit bemessen wird, würden nur die Patienten mit guter oder sogar identischer HL-Antigen-Übereinstimmung (Histokompatibilität) ein Organ erhalten, oder vorrangig junge Patienten mit wenigen Begleiterkrankungen. Alte Menschen, Kranke mit Antikörpern oder mit seltenen Blutgruppen wären benachteiligt. Um den größtmöglichen Schaden zu vermeiden, würden knappe Organe bevorzugt an Kinder vergeben, da sie andernfalls schwere Wachstums- und Entwicklungsrückstände erleiden würden (siehe Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 137 f.). Ernsthafte Vorschläge und Begründungen für eine „faire“ Verteilung medizinischer Leistungen nach dem Alter gibt es übrigens schon. Unter den Bedingungen von Knappheit sei es durchaus gerecht, die medizinische Versorgung ab einem bestimmten Lebensalter (z. B. 80 Jahre) auf reine Komfort- und Palliativmedizin zu beschränken und die damit frei werdenden Mittel für die medizinische Versorgung jüngerer Patienten einzusetzen. Denn jeder Bürger sei erst jung und altere und somit würde niemand diskriminiert, wenn eine solche Rationierung von den jetzt Jüngeren antizipierend beschlossen werde (vgl. dazu Schöne-Seifert 2007, 185).
4.4 Ethisch-moralische Probleme der Transplantationsmedizin
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Hiermit wird aber schon das Kriterium des (4) Kosten-Nutzen-Verhältnisses und der sozialen Wertigkeit berührt, also das Verhältnis von Ressourcenaufwand zum erwarteten medizinischen Nutzen und der Würdigkeit für die Zuteilung knapper Ressourcen. Letzteres ist besonders umstritten, da es generell eine Wertigkeit eines Menschen für die Gesellschaft oder auch die Frage nach der Schuldhaftigkeit an einer Erkrankung impliziert. Zur Abwägung von Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit und zur Standardisierung der Rationierungskriterien soll der Evidenzgrad, der wissenschaftliche Nachweis des erwarteten Nutzens und der entstehenden Kosten berücksichtigt werden. Maßnahmen, deren Nutzen durch wissenschaftliche Studien nur schlecht belegt ist, sollen eine geringere Priorität haben. Die „wissensbasierten“ Leitlinien sollen aber nicht nur der Verteilungssteuerung, sondern auch oder vor allem der Qualitätssicherung dienen. Ethisch wohl am ehesten vertretbar, aber zugleich von großer Herausforderung, ist eine Kombination der genannten (sicherlich noch nicht vollständigen) Verteilungskriterien, d. h. die Bestimmung des relativen Gewichts der Kriterien bei der Mittelverteilung. Hierfür muss eine plausible intersubjektive Bewertung medizinischer Maßnahmen erzielt werden, was wiederum eine Einigkeit über die Ziele zukünftiger Medizin voraussetzt; es bedarf der Priorisierung von Leistungen und Leistungsbereichen der öffentlichen Gesundheitsversorgung, und es braucht einen Konsens über die Regulierung des (finanziellen) Beitrags des Einzelnen für die (Solidar-)Gemeinschaft zur Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens. Noch – so Schöne-Seifert (2007, 186) – werde die gesundheitspolitische Aufgabe der Zukunft allzu häufig als reine Effizienzsteigerung dargestellt, ohne auf die massiven Gerechtigkeitsprobleme hinzuweisen, die als gesellschaftliche Aufgabe auch dort gemeistert werden müssen, wo schon ein relativ egalitäres Versorgungssystem besteht. 4.4 Ethisch-moralische Probleme der Transplantationsmedizin 4.4 ETHISCH-MORALISCHE PROBLEME DER TRANSPLANTATIONSMEDIZIN Die Entwicklung der Transplantationsmedizin beginnt – zunächst zur technischen Substitution lebenswichtiger Organe – seit den 1950er Jahren mit der partiellen Herzprothetik (künstlicher Klappenersatz, seit 1953) und der Konstruktion von kompletten Kunstherzen. 1967 hatte der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard (1922–2001) in Kapstadt die erste erfolgreiche Implantation eines Kunstherzens zum Ersatz der Herzfunktion durchgeführt. Die Vision, einen technischen Organersatz zu schaffen oder Organe durch Fremdorgane zu ersetzen, hatte die Chirurgie schon lange zuvor. Die bereits im 16. Jahrhundert von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré (1510–1590) eingeleitete Entwicklung zum technischen/ prothetischen Ersatz von Extremitäten (Hand- und Beinprothesen) zur Rehabilitation Amputierter wurde vor allem im 20. Jahrhundert durch die beiden Weltkriege bei der immensen Zahl von notwendigen Extremitätenamputationen forciert, was in der prothetischen Chirurgie zu einer Perfektionierung des Extremitätenersatzes führte (vgl. auch folgend Eckart 2005, 285–289). Der prothetische Ersatz war aber
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noch kein Organersatz. Die unter dem Einfluss einer naturwissenschaftlich, einschließlich solidarpathologisch fundierten Medizin lokalistisch ausgerichtete Chirurgie hatte sich zwar bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Erhalt von Organen und die Wiederherstellung gestörter bzw. nicht vorhandener Organfunktionen konzentriert, die praktikable Umsetzung ist aber erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich geworden. Seit den 1960er Jahren gehören Organverpflanzungen international zunehmend zum Repertoire der modernen Medizin. Die Hoffnung, durch Organersatz Krankheiten vollständig heilen und das Leid der meist todkranken Patienten mildern zu können, führte allerdings nicht selten zu sehr gewagten Eingriffen (Wiesemann, Biller Andorno 2005, 60), wobei hier bisweilen eher nur das medizinisch-technisch Machbare der eigentliche Antrieb war. Ein chirurgischer Eingriff etwa am Herzen war nur unter den Bedingungen des ruhenden und unblutigen Herzens möglich, wofür – um die Funktion des Herzens zu umgehen, zugleich aber die Blutversorgung (Kreislauf) und auch Beatmung des Patienten während der Operation aufrecht zu erhalten – eine extrakorporale Kreislaufmaschine notwendig war. Im Tierversuch gelang dem US-amerikanischen Chirurgen John Gibbon (1903–1973) bereits 1937 tatsächlich der kurzfristige Ersatz von Herz- und Lungenfunktion. Durch den Krieg unterbrochen, konnte er erst in den 1950er Jahren seine Forschungen wieder aufnehmen und erstmals 1953 eine verbesserte Herz-Lungenmaschine bei der Operation am menschlichen Herzen (bei einem 18jährigen Mädchen mit einem Herzklappendefekt) einsetzen. Parallel zur partiellen Herzprothetik und Implantation von Kunstherzen – die allerdings bis heute keine dauerhaften Erfolge zeitigen – hat sich die Herzchirurgie auch auf die Transplantation von natürlichen Herzen ausgerichtet. 1959 gelang erstmals die Herztransplantation bei einem Hund, der einige Tage überlebte. Bis 1965 konnte die Überlebenszeit auf mehrere Monate gesteigert werden, was vor allem auf das 1959 zur Verhinderung der Abstoßungsreaktion entwickelte Immunsuppressivum Azathioprin und die verbesserten Methoden zur Konservierung des Spenderherzens zurückzuführen ist. Dennoch bereitete gerade die Bekämpfung der Abstoßungsreaktion des Organismus der Transplantationsmedizin noch bis um 1980 die größten Probleme (1980 Einführung des Cyclosporins). Zum ersten Mal ein menschliches Herz (von einem Unfallopfer) hat 1967 Christiaan Barnard6 am Groote-ShuureKrankenhaus in Kapstadt erfolgreich transplantiert. Relativ früh begannen auch Experimente zur Transplantation der Niere; erste Tierversuche (beim Hund) wurden bereits 1902 unternommen. Versuche der Transplantation zwischen Tier und Mensch (Verpflanzung von Schweine- und Ziegennieren auf den Menschen), aber auch zwischen gleichen Arten blieben jedoch erfolglos, so dass die Transplantation in den 1920er Jahren aufgegeben wurde. Die erste erfolgreiche Nierentransplantation, allerdings auch nur mit kurzer Überlebenszeit der Patientin, gelang 1953 in Paris (Spenderniere von Mutter für ihre 16jährige Tochter); eine nur ein Jahr später in Boston (zwischen Zwillingsbrüdern) vorge6
Erhebliche Beiträge zur Entwicklung der Operationstechnik soll der Südafrikaner Hamilton Naki, Mitglied in Barnards Transplantationsteam, geleistet haben. Da Schwarzafrikaner, wurden seine Leistungen jedoch aufgrund der Apartheid lange verschwiegen.
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nommene Nierentransplantation war mit einer Überlebensdauer von 8 Jahren erstmals längerfristig erfolgreich. Die Transplantation bei genetisch nicht identen Personen ist seit 1962 (unter Immunsuppression) möglich geworden. Wegen der erheblichen Operationsrisiken in der Anfangsphase der Nierentransplantation schien auch hier ein künstlicher Ersatz erforderlich und hat die Forschungen zur Entwicklung eines leistungsfähigen Hämodialyseverfahrens vorangetrieben. Erstmals klinisch erfolgreich wurde die sog. künstliche Niere 1954 an der Universitätsklinik Freiburg eingesetzt. Heute ist es allerdings nicht mehr das hohe Risiko der Operation, sondern die unzureichende Zahl von Spendernieren, die den Einsatz des inzwischen hochleistungsfähigen Hämodialyseverfahrens unumgänglich gemacht hat. Ein noch heute sehr riskantes und kompliziertes Verfahren ist die Lebertransplantation (Verpflanzung einer gesunden Leber eines Verstorbenen oder eines Teils der Leber eines Gesunden), die zum ersten Mal 1963 in den USA durchgeführt worden ist. 1977 ist auch in Dresden die von Helmut Wolff (geb. 1928) vorgenommene Lebertransplantation erfolgreich verlaufen; sie war zugleich die erste Lebertransplantation in der DDR und im gesamten Ostblock. Auch wenn insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre Lebertransplantationen keine unbedingte Ausnahme darstellen, sind hinreichende Aussagen über die Langzeitprognosen der lebertransplantierten Patienten spärlich, auch wenn eine Statistik von 2005 der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) eine Überlebensrate nach einem Jahr von über 90 %, nach fünf Jahren bei über 80 % und nach zehn Jahren immer noch bei über 70 % ausweist. Die Möglichkeit der Transplantation ist bislang (medizinisch-technisch) auf bestimmte Organe begrenzt, nämlich Herz, Lunge, Niere, Leber, Bauchspeicheldrüse (vorrangig zusammen mit Nierentransplantation, bei Diabetikern mit Nierenversagen) und Darm (seit 2001 weltweit jährlich nur etwa 150 Transplantationen). Transplantationsmedizin umfasst aber nicht ausschließlich nur die Verpflanzung eines Organs. Transplantate sind darüber hinaus auch Gliedmaßen (Finger, Zehen), Gewebe und Zellen (z. B. Blutstammzellen, Chondrozyten). Die Art der Transplantation (autolog, syngen, allogen, xenogen) bezeichnet die Artzugehörigkeit von Spender und Empfänger, also ob Spender und Empfänger dieselbe Person oder genetisch identisch (z. B. eineiige Zwillinge) sind, der gleichen oder einer anderen Art (Mensch/Tier) angehören. Dies ist nicht nur von medizinischer Relevanz, sondern birgt zugleich ethische und rechtliche Probleme, etwa im Zusammenhang mit den Entnahmebedingungen, der Lebendspende, der Übertragung fetalen Gewebes und der Verteilung knapper Organe. Neben der Verantwortung des Arztes zur sorgfältigen ärztlichen Abwägung von Nutzen und Risiken bei einer Organersatztherapie für den Patienten, erstreckt sich diese Verantwortung auch auf die Spender von Organen oder Geweben. Bei der Lebendspende werden Teile des Körpers eines lebenden Menschen zur Behandlung eines anderen Menschen verwendet. Die Entnahme von Geweben oder Organen zum Zweck der Transplantation stellt somit einen Verstoß gegen die Fürsorge- und Schadensvermeidungspflicht des Arztes dem Spender gegenüber dar. Zudem trägt der Spender das größte Risiko bei der Lebendtransplantation. Der Verstoß gegen die
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Schadensvermeidungspflicht kann nur durch die informierte und freiwillige Zustimmung des Spenders sowie eine sorgfältige Schaden-Nutzen-Abwägung – d. h. die Organentnahme darf weder das Leben noch die Gesundheit des Spenders nachhaltig gefährden – gerechtfertigt werden (Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 60). Die Zustimmung zur Organspende hat allerdings auch ihre problematische Seite, wenn sich Angehörige oder andere nahe stehende Personen zur Organspende moralisch unter Druck gesetzt fühlen oder andererseits von der Idee fixiert sind, unbedingt helfen zu wollen (besonders häufig bei Eltern für ihr Kind) und die Risiken ausblenden. Zudem können auch Kranke gegenüber den Spendern schwere Schuldgefühle entwickeln, insbesondere dann, wenn der Spender eine Komplikation erleidet oder gar, wenn z. B. die zweite Niere versagen sollte, selbst in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät. Dass auch gesellschaftliche Erwartungen bei der Lebendspende anzunehmen sind, begründen Wiesemann und Biller-Andorno mit der Tatsache, dass Frauen zwischen zwei- und achtmal häufiger als Männer Organe (v. a. Nieren) spenden (Kirste 2002), aber nur halb so häufig Organe empfangen. Aus all diesen Gründen wird gefordert: eine umfassende psychosoziale Evaluation von potenziellen Spendern und Empfängern, eine Information und Aufklärung, die keine Handlungszwänge begründet sowie das wiederholte Angebot für unsichere Spender (aber auch Empfänger), die Bereitschaft zur Organspende zu widerrufen (vgl. Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 61). Darüber hinaus wird von einigen Transplantationsexperten eine unabhängige Prüfung, ob die Organspende sinnvoll ist, gefordert und für die Einführung eines „Spenderanwaltes“ plädiert. Die Entnahme und Übertragung eines Organs von einem lebenden Spender kommt in Deutschland nur bei regenerierbarem Gewebe (Knochenmark), paarigen Organen (Niere) oder Organen, die auch teilweise übertragen werden können (z. B. Leber), infrage. Die häufigste Form der Lebendorganspende ist die Nierenlebendspende – weil der Spender seine Nierenfunktion nicht einbüßt, aber auch, weil die Transplantation einer Lebendniere deutlich größere Erfolge als mit einer Leichenniere oder mit der sog. künstlichen Niere (Hämodialyse) zeigt. Bei regenerierbarem Gewebe beschränkt sich das Entnahmerisiko für den lebenden Spender im Wesentlichen auf die Nebenwirkungen der Punktion und der Narkose. Die Spende von nicht regenerierbaren Organen setzt den Spender hingegen einer größeren Gefahr aus, sowohl wegen des notwendigen operativen Eingriffs, als auch wegen der möglichen Folgen (z. B. bei Versagen der zweiten Niere). Die Leber- und Pankreasteilspende stellt allein schon durch die Operation ein hohes Risiko dar. Somit liegt auch der Anteil der Lebendspende bei Lebertransplantationen in Deutschland bei nur 8 %. Die Lebendspende nicht regenerierbarer Gewebe und Organe ist in Deutschland besonderen Restriktionen unterworfen. Lebendspende ist nur zulässig (vgl. Transplantationsgesetz 1997 sowie Änderungsgesetz vom August 2012), wenn (1) der Organspender mit dem Organempfänger verwandt ist oder ihm in besonderer Verbundenheit offenkundig nahe steht; (2) der Organspender volljährig ist und er nach eingehender Aufklärung über die Art des Eingriffs und mögliche mittelbare und Spätfolgen in die Organentnahme (schriftlich) eingewilligt hat. Die Aufklärung hat in Anwesenheit eines
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weiteren Arztes und erforderlichenfalls einer anderen sachverständigen Person zu erfolgen. Die Einwilligung kann schriftlich oder mündlich widerrufen werden; (3) die freiwillige Einwilligung durch eine nach Landesrecht zuständige Kommission begutachtet wird (zur Feststellung, dass auf den Spender kein psychischer oder finanzieller Druck ausgeübt wurde). Der Kommission muss ein nicht unmittelbar oder mittelbar selbst an der Transplantation beteiligter Arzt, eine Person mit der Befähigung zum Richteramt und eine in psychologischen Fragen erfahrene Person angehören; (4) zum Zeitpunkt der Organentnahme kein Organ eines toten Spenders zur Verfügung steht; (5) sich Spender und Empfänger zur ärztlichen Nachbetreuung bereiterklären. Der Hintergrund der insbesondere unter (1) und (3) genannten Festlegungen ist, den Missbrauch im Zusammenhang mit Lebendspenden („Organkäufe“) zu vermeiden. Organhandel ist ein internationales Problem, wobei offensichtlich vor allem die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation potentieller Spender in ärmeren Ländern oder Gegenden ausgenutzt wird. Da der Organhandel nur schwer zu unterbinden sei, wird von einigen Medizinethikern auch angesichts des großen Bedarfs an Organen eine Legalisierung der kommerziellen Lebendspende, allerdings unter strengeren Regelungen, gefordert. Damit könne effektiver dafür gesorgt werden, dass Spender tatsächlich eine angemessene geldwerte Entschädigung für ihre Organspende (bzw. das gespendete Organ) erhalten und Zwischenhändler ausgeschaltet werden. Kritiker hingegen verurteilen die nicht altruistische Lebendspende und somit gegebene Instrumentalisierung des Körpers eines Menschen für die Zwecke anderer generell als moderne Form der Sklaverei (Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 62). In Deutschland darf eine Lebendspende nicht aus kommerziellen Gründen erfolgen. Mit der Änderung des Transplantationsgesetzes (2012) wurde dementsprechend – aber auch um die Spendenbereitschaft zu erhöhen – die Absicherung von Lebendspendern dahingehend verbessert, dass sie künftig Anspruch insbesondere auf Krankenbehandlung, Vor- und Nachbetreuung, Rehabilitation, Fahrtkosten und Krankengeld sowie im Falle der Arbeitsunfähigkeit auf Lohnfortzahlung haben. Darüber hinaus bezieht sich der Unfallversicherungsschutz (auch rückwirkend bis 1997) nun auf alle Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit einer Organspende, die über eine regelmäßig entstehende Beeinträchtigung hinausgehen und mit der Spende im ursächlichen, aber nicht zeitlich festgelegten, Zusammenhang stehen. Die Mehrzahl der heute durchgeführten Transplantationen erfolgt mit Organen, die bei einem Leichnam entnommen wurden. In Deutschland sind postmortale Organspenden mehr als vier Mal so häufig als Lebendspenden, wobei hier wiederum die Nierenspenden fast die Hälfte aller sogenannten Totspenden ausmachen (vgl. Jahresbericht DSO 2012, 20). Allerdings ist seit 2011 ein zahlenmäßiger Rückgang der postmortal gespendeten Organe (insbesondere von Nieren und Lebern) zu verzeichnen, so dass 2012 wieder der Stand von 2004 erreicht wurde; und auch für 2013 ist eine weitere rückläufige Tendenz erkennbar. Nach Aussage der DSO seien
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zwischen Januar und März 2013 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 18 Prozent weniger Organspenden registriert worden. Die rückläufige Bereitschaft zur Organspende dürfte wohl nicht zuletzt auch den offenkundigen und öffentlich gemachten Organspende-Skandalen in der Bundesrepublik geschuldet sein. Aber nicht erst seitdem wird das Transplantationsverfahren von der Diskussion um ethische Grundfragen begleitet, die trotz – auch gesetzlich fixierter – Verfahrensrichtlinien und -regelungen auch heute längst nicht abgeschlossen ist. Für die ethische Bewertung der Organentnahme vom menschlichen Leichnam spielen vor allem die beiden Prinzipien der Selbstbestimmung und der Hilfeleistung eine zentrale Rolle, wobei die Hilfeleistung einem anderen Menschen zugute kommt, als demjenigen, dessen Selbstbestimmung es bei der Organentnahme zu respektieren gilt (vgl. Wiesing 2012, 316). Breiter Konsens besteht zur Regelung der Verfügung über Spenderorgane. Spenderorgane werden nicht als Eigentum des Organspenders betrachtet. Im Vordergrund der Diskussion um die Selbstbestimmung und die Persönlichkeitsrechte steht vielmehr die Frage, unter welchen Bedingungen Organe legitim entnommen werden dürfen. Grundsätzlich können drei Modelle der postmortalen Organspende unterschieden werden: (1) die (enge) Zustimmungs- oder Entscheidungslösung, die eine postmortale Organentnahme nur dann erlaubt, wenn der Spender zu Lebzeiten seine Erlaubnis dazu erteilt hat; (2) die erweiterte Zustimmungslösung, die eine Organentnahme auch dann erlaubt, wenn ein naher Angehöriger nach dem Tod des (potentiellen) Organspenders stellvertretend zustimmt; (3) die Widerspruchslösung, die eine Organentnahme erlaubt, sofern der Spender zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Mit der erweiterten Widerspruchsregelung wird bestimmten Hinterbliebenen zusätzlich das Recht gegeben, nach dem Tod des potentiellen Spenders als „Boten des Willens“ des Verstorbenen zu Lebzeiten zu fungieren. Eine spezielle Unterart der erweiterten Widerspruchsregelung bilden die Informationsregelungen. Hierbei gilt zunächst der zu Lebzeiten geäußerte Wille des potentiellen Spenders. Ist dieser nicht bekannt, gilt eine Organentnahme dann als zulässig, wenn bestimmte Hinterbliebene informiert werden und innerhalb einer bestimmten Frist nicht widersprechen. In Deutschland hat sich schließlich (2012) die erweiterte Zustimmungslösung durchgesetzt und damit die bisherige Entscheidungslösung ersetzt. Eine Gewebeund Organentnahme war auch schon mit dem Transplantationsgesetz von 1997 (§ 4) dann zulässig, wenn der Spender in die Entnahme eingewilligt hat (z. B. Organspenderausweis) oder, falls weder eine schriftliche Einwilligung bzw. ein Widerspruch des möglichen Organspenders vorliegt und auch dem nächsten Angehörigen keine entsprechende Erklärung bekannt ist, wenn der nächste Angehörige der beabsichtigten Organentnahme zustimmt. Dem Angehörigen fällt also die schwerwiegende Aufgabe zu, sich im Sinne des Patienten bzw. Verstorbenen und in Anbetracht der soeben erhaltenen Todesnachricht kurzfristig zu entscheiden. Entspre-
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chend dieser Problematik und der Tatsache, dass nur sehr wenige Menschen zu Lebzeiten ihre Entscheidung deklariert und dokumentiert haben (etwa wegen ungenügender Informiertheit, Verdrängung des Problems oder wegen des bürokratischen Aufwands) sollen nun nach dem neuen Gesetz alle Erwachsenen in Deutschland von ihrer Krankenkasse zu ihrer Haltung zur Spenderbereitschaft befragt werden. Sie werden über die Organspende informiert und aktiv aufgefordert, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden und dies in einem Organspendeausweis zu dokumentieren. Die Befragung soll in festgelegten zeitlichen Abständen (2014, 2017, danach alle fünf Jahre) wiederholt werden. Über die grundsätzliche Zulässigkeit der Organentnahme von menschlichen Leichnamen besteht weitgehend Einigkeit, da hier das Prinzip der Hilfeleistung, nämlich zur Rettung oder erheblichen Qualitätsverbesserung des Lebens des Organempfängers, wirkt und Priorität hat. Bei einer konsensfähigen moralischen wie rechtlichen Regelung müssen allerdings sowohl die Interessen möglicher Organempfänger als auch die Ansprüche der Angehörigen des verstorbenen Organspenders, aber auch die Interessen der Gesellschaft beachtet werden. So ist durchaus umstritten, ob das Prinzip der Hilfeleistung auch zu einer moralischen Verpflichtung führt, Organe nach dem Ableben zur Transplantation freizugeben, oder welches Gewicht den Wünschen, Gefühlen oder Überzeugungen der Angehörigen beigemessen werden sollte, und welche institutionellen Rahmenbedingungen garantiert sein müssen, um das notwendige Vertrauen in die Transplantationsmedizin zu fördern (Wiesing 2012, 317 f.). Rechtfertigungsbedürftig bleibt jedoch der Eingriff in den Leichnam, was sich aus der Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Leichnams ableitet. Der Leichnam darf durch die Organentnahme nicht zu einer bloßen Sache degradiert werden, sondern muss einen moralischen Schutz genießen. Der Tod und das Sterben sollten dem Zugriff von Verwertungsinteressen entzogen bleiben. Ein respektloser, instrumentalisierter Umgang mit Toten könnte auf den Umgang mit Lebenden ausstrahlen (Wiesing 2012, 318). Unabdingbare und gesetzliche Voraussetzung der postmortalen Organspende ist der irreversible Ausfall aller Funktionen des ganzen Gehirns, also des Großhirns, Kleinhirns und Stammhirns. Der Hirntod kann mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden (Transplantationsgesetz § 3 Abs. 2). Die Diskussion darüber, ob der Hirntod als Tod des Menschen aufzufassen ist, geht vor allem auf ein 1968 von der Kommission der Harvard Medical School erstelltes Gutachten zur Definition des irreversiblen Komas als Todeskriterium zurück. Mit dem medizinischen Fortschritt (hier insbesondere in der Intensiv- und Notfallmedizin) könne die Atmung und Herz-Kreislauf-Funktion immer häufiger auch bei Menschen aufrechterhalten werden, deren Gehirn irreversibel zerstört sei. Die Anwendung des Hirntod-Kriteriums erlaube in diesen Fällen die Einstellung der intensivmedizinischen Maßnahmen, da es keine Verpflichtung gebe, tote Menschen weiter zu behandeln. Die Einführung bzw. Festlegung des Hirntod-Kriteriums war also sozusagen den technischen Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin geschuldet, um den Tod eines Menschen tatsächlich exakt feststellen zu können bzw. hierfür (neue) Kriterien zu entwickeln. Allerdings steht der Vorschlag des Hirntod-Kriteriums durchaus auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Möglichkeit zur Transplantation und der hierfür not-
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wendigen Beschaffung von Organen, was übrigens schon in dem KommissionsGutachten begründend angeführt wurde (vgl. Gutachten des Ad hoc-Komitees in Wiesing 2012, 360 f.). Als sichere Todeszeichen galten/gelten die Totenflecken, die Leichenstarre und die Autolyse – bei Auftreten dieser Todeszeichen wäre eine Entnahme eines funktionstüchtigen Organs aber nicht mehr gegeben. Und der Herztod als ein bislang allgemein anerkanntes Kriterium des Todeseintritts konnte nun mit den intensivmedizinischen Maßnahmen aufgehoben, zumindest verzögert werden, was eine wesentliche Voraussetzung für die Transplantation darstellte. Und schließlich könnte der Abbruch intensivmedizinischer Maßnahmen in unzweifelhaft aussichtslosen Fällen (wie irreversibler Ausfall des ganzen Gehirns) auch ohne Feststellung des Hirntodes erfolgen. Das Hirntod-Kriterium stand also sehr wohl auch im unmittelbaren Interesse der Organgewinnung. Diesbezüglich ist auch bereits kurz nach Veröffentlichung des Harvard-Gutachtens vorgeworfen worden, mit der Neudefinition des Todesbegriffs sei das Ziel verfolgt worden, den Todeszeitpunkt so weit vorzuverlegen, um Gewebe und Organe für Transplantationszwecke gewinnen zu können. Hauptkritikpunkt war jedoch, dass gar keine explizite Definition des Todesbegriffs formuliert worden sei. Es bedürfe nämlich erst der Klärung, ob der Zustand des irreversiblen Funktionsverlustes des Gehirns auch tatsächlich unserem Todesverständnis entspricht. Die Diskussion um den Todesbegriff ist vorrangig bestimmt von einer moralischen, biologischen und ontologischen Ausrichtung. Der moralischen Strategie zufolge zielt die Frage hinsichtlich der Todesdefinition zum Beispiel auf den moralischen Status des Menschen im irreversiblen Koma ab oder wie die Interessen dieser Menschen gegen die Interessen möglicher Organempfänger abgewogen werden können. Die biologische und die ontologische Herangehensweise hingegen beziehen sich bei der Definition auf das Ende der Existenz eines Individuums (Tod des Organismus als Ganzem bzw. Tod der Person). Die trotz oder wegen heutiger intensivmedizinischer Möglichkeiten erheblichen Schwierigkeiten der zeitlich genauen Feststellung des Lebensendes und die schwierige Fassbarkeit des Übergangs vom Leben zum Tod hat bei einem Großteil der Menschen – ähnlich der Scheintod-Debatte im 18. Jahrhundert – Ängste ausgelöst und verhindert, den Willen zur Organspende nach dem eigenen Tod zu bekunden. Nach biologischem Verständnis vermag aber nur ein Organ, das Gehirn, seine Funktion über den Tod hinaus nie zu behalten. Mit dem Tod ist die Funktion des Gehirns (biologisch das Zentralorgan des Organismus) endgültig erloschen. Über den Hirntod hinaus sind zwar noch Zellfunktionen nachweisbar, mitunter werden auch physiologische Lebensäußerungen/Körperfunktionen beschrieben, doch seien sie nicht Ausdruck einer Lebendigkeit, die individuell in Erscheinung tritt. Maßgeblich bei der Todesfeststellung eines Menschen sei – so u. a. der Neurophysiologe und Psychiater Reinhard Platzek – nicht die Funktion beliebiger Zellen, sondern nur derjenigen, welche die Zentralisation und damit die Repräsentation des gesamten Körpers (in seiner psychosomatischen Einheit) leisten, also der Hirnzellen. Der Hirntote würde nie mehr frei als Individuum Mensch in seiner psychosomatischen Wirklichkeit in Erscheinung treten. Dementsprechend sollte der Arzt nicht einem Biologismus Vorschub leisten,
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sondern sich bei der Frage, welches „Leben“ zu schützen ist, die Lebendigkeit selbst zum Maßstab werden lassen, wenn Lebendigkeit freie, vernunftgeleitete Intention impliziert (vgl. Platzek 2000, 91–98). Übrigens, die mitunter geäußerten Bedenken oder Ängste, jeder Verstorbene würde als potentieller Organspender in der „Zielfahndung“ der Transplantationsmedizin stehen, sind unbegründet. Lediglich ein Prozent aller Verstorbenen kommt überhaupt aus medizinischer Indikation als Organspender infrage. Nur Verstorbene, bei denen der Hirntod festgestellt wurde und bei denen keine medizinischen Kontraindikationen (bezüglich der Organfunktion oder der Gefährdung des Empfängers durch übertragbare Krankheiten) vorliegen, sind potentielle Organspender. In der Auseinandersetzung um das HirntodKonzept stellt sich aber nicht nur die Frage, wann der Mensch tot ist, sondern grundlegender, wer oder was der Mensch überhaupt ist, was personale Identität heißt, wie Leib und Seele, Körper und Geist zusammenhängen. Es werden also Fragen nach den Grundkategorien des Menschseins an sich aufgeworfen (Wiesing 2012, 356). Weltweit und auch in Deutschland hat sich inzwischen ein weitgehend einheitliches Konzept für Kriterien der Feststellung sowie der Beurteilung (klinische Tests) des Hirntods entwickelt, so dass der Hirntod gut von verwandten neurologischen Zustandsbildern (Dauerkoma, apallisches Syndrom) unterscheidbar ist (vgl. ausführlich Schmiedek, Pohlmann-Eden 1998, 148–152). Der Nachweis des Hirntods ist erbracht, wenn innerhalb von 24 Stunden (für Kinder gelten längere Untersuchungsintervalle) von zwei unabhängigen Untersuchungen/Ärzten festgestellt werden kann, dass – unter Voraussetzung einer primären (direkten) oder sekundären (indirekten) Hirnschädigung – die klinischen Symptome des Komas, fehlende zentrale Reflexe (d. h. der Hirnstammreflexe wie Schlucken, Husten), fehlende Spontanatmung (Atemstillstand) sowie weite, lichtstarre Pupillen auftreten. In der ethischen Bewertung der postmortalen Organspende von besonderer Relevanz ist neben der Diskussion um Selbstbestimmung und den Todesbegriff einschließlich des Hirntod-Kriteriums insbesondere auch die Verteilungsgerechtigkeit angesichts stets beklagter unzureichender Bereitstellung (wegen absoluter Knappheit) von Spenderorganen, womit zugleich aber auch grundsätzliche Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bei medizinischen Versorgungsmitteln bzw. überhaupt im heutigen medizinischen Versorgungssystem berührt werden (vgl. Kap. 4.3). Die Verteilung von Organen erfolgt zunächst dahingehend unterschiedlich, ob es sich um das Organ eines Lebendspenders oder um ein Postmortalorgan handelt. Die Lebendorganspende kann nach deutschem Gesetz immer nur auf eine nahestehende Person gerichtet sein (siehe unter Zulässigkeit von Lebendspende). Zum Zweck einer effizienten Verteilung postmortaler Organe wurde im Verbund von Deutschland, Österreich, Slowenien und den Benelux-Staaten die Stiftung Eurotransplant begründet. Eurotransplant informiert die entsprechenden Transplantationszentren, d. h. die von den Landesregierungen für die Organtransplantation zugelassenen Kliniken, über die – z. B. von der DSO in Deutschland – gemeldeten Spenderorgane mit den entsprechenden Labordaten im Abgleich mit und der Vermittlung an die am besten geeigneten Organempfänger.
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2012 wurden in Deutschland 1.584 potentielle Organspender gemeldet, wovon (nur) 1.046 Organspenden realisiert wurden, was vorrangig auf die Ablehnung von Angehörigen zur Organspende zurückzuführen ist. Seit 2006 werden Personen nicht als potentielle Organspender gemeldet, deren Angehörige bereits vor der Hirntodbestimmung ihre Ablehnung signalisiert haben (diese Zahl ist also nicht in der Angabe von 438 aufgrund der Ablehnung nicht realisierter Organspenden enthalten). In 70 Fällen wurde die Organentnahme abgebrochen, da beispielsweise ein Tumor festgestellt wurde. In 15 Fällen lagen andere medizinische Gründe (inkl. Herzkreislaufstillstand), in 19 Fällen sonstige Gründe (keine Einwilligungsberechtigung, Gespräch nicht zumutbar, keine Freigabe durch Staatsanwalt) vor (DSO Jahresbericht 2012, 13). Derzeit würden 12.000 Menschen auf ein Spenderorgan warten; alle acht Stunden stirbt ein Mensch, den ein fremdes Organ hätte retten können. Erstes Kriterium der Organzuteilung, welches von Eurotransplant vorgenommen wird, ist die Dringlichkeit. Das zweite Kriterium ist die Erfolgsaussicht. Als Vergabekriterien ausgeschlossen sind Wohn- und Behandlungsort eines Patienten, seine Zahlungsfähigkeit bzw. sein sozialer und familiärer Status, prinzipiell auch sein Alter. Wie ist nach diesen Kriterien gerecht zu entscheiden, welcher Patient von mehreren voraussichtlich bald ein geeignetes Organ erhält, wenn alle betroffenen Patienten dringend ein Organ zur Rettung ihres Lebens benötigen und bei Eurotransplant auf der Warteliste stehen und die auch die gleiche medizinische Erfolgsaussicht haben? Greifen wir auf das von Steger vorgestellte klinische Fallbeispiel von drei Patienten mit fortschreitendem Leberversagen zurück: ein 45jähriger Vater von noch schulpflichtigen Kindern mit Leberversagen nach Hepatitis-C-Infektion unbekannter Ursache mit guter Compliance7; ein 30jähriger Schreiner, der infolge einer Leberzirrhose wegen langjährigem Alkoholabusus seit längerem arbeitsunfähig, aber seit mehreren Monaten abstinent ist und über eine fragliche Compliance verfügt; ein 68jähriger Antikhändler mit Leberzirrhose unbekannter Ätiologie, der von allen drei Kandidaten am längsten auf eine Transplantation wartet und über eine gute Compliance verfügt (vgl. Steger 2011, 100). Das der Organzuteilung von Eurotransplant zugrunde liegende Kriterium der Dringlichkeit (Bedürftigkeit) wird von den Parametern Lebenserhalt, Lebensqualität und Wartezeit bestimmt, die hinsichtlich ihrer ethischen Begründbarkeit einige Probleme beinhalten. Wie ist etwa moralisch begründbar, dass die Entscheidung der Dringlichkeit primär am Lebenserhalt und nicht vorrangig an der Verbesserung der Lebensqualität orientiert ist; begründet eine längere Wartezeit das moralische Vorrecht auf eine Zuteilung? Als alternative, derzeit nicht genutzte, Verteilungskriterien werden aber durchaus auch Parameter wie sozialer Wert und Alter des Patien7
Compliance (engl. synonym „adherence“): in der Medizin Oberbegriff für das kooperative Verhalten des Patienten im Rahmen der Therapie; gute Compliance bedeutet konsequentes Befolgen der ärztlichen Ratschläge. Zu den fünf Dimensionen der Compliance (WHO), der Messung von Therapietreue, Non-Compliance und Förderung der Compliance vgl. wikipedia.org/wiki/ Compliance_(Medizin).
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ten diskutiert, was etwa die Frage aufwirft, ob die Vergabe an Jüngere sinnvoller ist als an Ältere, oder auch genereller Art nach der (persönlichen) Wertigkeit des Patienten. Auch mit dem Kriterium der Erfolgsaussicht ist nicht nur der medizinische Erfolg im Sinne der Organentnahme (Gewebeverträglichkeit) gemeint, sondern auch – wenngleich umstritten – die Beurteilung des gesellschaftlichen (einschließlich wirtschaftlichen) Nutzens einer Transplantation. Inwieweit ist es moralisch zu rechtfertigen, die zu erwartenden arbeitsfähigen Lebensjahre hervorzuheben oder nach einer „Selbstverschuldung“ der Krankheit (wobei dann auch noch der zu erbringende Nachweis problembehaftet wäre) die Organzuteilung abzuwägen? (vgl. Steger 2011, 103; Schöne-Seifert 2007, 146–148; Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 65). Die Auswahl der Verteilungskriterien beruht letztlich auf Wertentscheidungen und lässt sich nicht medizinisch-wissenschaftlich begründen. Selbst vermeintlich ‚rein‘ medizinischen Kriterien wie die Gewebekompatibilität liegt ein ethisches Kriterium zugrunde, nach welchem der Nutzen der übertragenen Organe für den Empfänger zu maximieren ist (vgl. Wiesing 2012, 282). In der Transplantationsmedizin würden die Probleme einer „fairen Rationalisierung“ allerdings überwiegend nicht als Gerechtigkeitsproblem verhandelt, sondern als „prozedural-medizinische Fachfragen“ den Experten bei Eurotransplant überantwortet (vgl. Schöne-Seifert 2007, 147). Die Verteilungskriterien haben sich kaum der öffentlichen Kritik ausgesetzt gesehen und die der Bundesärztekammer mit dem Transplantationsgesetz zugewiesene Richtlinienkompetenz (Erstellung von Richtlinien zur Vermittlung des Organs „nach dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“) wird staatlich nicht kontrolliert. Dies dürfte wohl auch nicht ganz unwesentlich die in jüngster Zeit als „Organspende-Skandale“ aufgedeckten Betrugsversuche bei der Organzuweisung provoziert haben. Hintergrund war hierbei nicht (oder weniger) der Tatbestand der persönlichen Bereicherung, sondern vielmehr die Manipulation/ Fälschung von medizinischen Daten durch Ärzte, um ihre Patienten als hochdringlich einzustufen und damit ganz oben auf die Warteliste von Eurotransplant zu bekommen. Diesbezüglich sind die einzelnen Organisationen (Eurotransplant, DSO, Transplantationszentren, Bundesärztekammer) gefordert, die Zuverlässigkeit der Kriterien zu prüfen und die Datenlage zu verbessern, um die Zuweisung von Organen nachvollziehbar und transparent zu machen und so letztlich eine gerechte Verteilung zu gewähren.
5. ETHISCHE PROBLEME AM LEBENSENDE 5.1 SELBSTBESTIMMTES ALTERN UND DIE MÖGLICHKEITEN DER LEBENSVERLÄNGERUNG Eine philosophische Lebensform manifestierte sich in der Geschichte der Philosophie in drei Paradigmen, nämlich (1) als Sorge um sich selbst, (2) als Weltweisheit und (3) als Wissenschaft. Heute versteht sich Philosophie weitgehend im Wissenschaftsparadigma. Das Ego des Bodybuildings, die Konjunktur des Körpers, Körperaufklärer und Fitnesskultur – im Kult um den eigenen Körper kommt der Leib immer weniger in den Blick. Die Überwindung des Leibes macht einen VerfügungsKörper frei und ist Ausdruck einer Seinsvergessenheit des Menschen. Die Verkörperlichung ist identisch mit einer Verdinglichung des Menschen und Ausdruck eines alltäglichen Vergessens (vgl. Kaltenborn 2001, 91–97). In der Antike waren spirituelle Übungen für geistige Menschen durchaus üblich und angesagt. Die philosophische Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf das Wissen, sondern auf die eigene Person. Propagiert wird eine tiefgreifende Umwandlung der Denk- und Seinsweise des Individuums. Die Überwindung der Leidenschaften und Ausschweifungen ist dabei nur eine Seite. Wichtiger ist, dass die Philosophie den Menschen lehrt, nur das erreichen zu wollen, was man auch erreichen kann. Dies macht eine Änderung der Sehweise erforderlich, wofür Lektüre, Meditationsübungen und Therapie empfohlen werden (vgl. Hadot 1991, 13–16). Geistige Wachsamkeit, Konzentration – die Stoiker empfahlen die Philosophie als Kunst, das Leben zu üben. Dies umfasst, mit anderen reden zu lernen, Selbstgespräche, sterben lernen und die Verwandlung des Wertes des Lebens in einen Aufstieg zu einem universalen Denken. Voraussetzung für die Durchführungen der Übungen ist die Willensfreiheit. Die wahre Philosophie in der Antike ist geistige Übung. Die philosophischen Theorien werden in den Dienst der geistigen Praxis gestellt. Sie dienen dem Sich Losreißen von alten Gewohnheiten (vgl. Hadot 1991, 17–41). Marc Aurel war eines der Bespiele für die Sorge um sich selbst. Die Bewertung und die Einschätzung der Dinge, die einem im Leben begegnen, waren entscheidend, es geht um eine Disziplinierung des Begehrens und das Erlernen der Gleichgültigkeit gegenüber gleichgültigen Dingen (vgl. Hadot 1991, 78–91). Auch in der Moderne gibt es Lebenswege im Sinne einer vorbildlichen Lebensweise. Sokrates, Kierkegaard und Nietzsche sind solche paradigmatischen Menschen mit entsprechenden Lebensformen. Sokrates gestaltet sich selbst in der Hebammenkunst, Kierkegaard in der Ironie und Nietzsche in der experimentellen Lebensform, und sie thematisieren darin Hermeneutik. Philosophie als Lebensform heißt, Weisheit auszuüben, um Seelenruhe und Autarkie zu erreichen. Auch Platons Eros stellt eine solche Lebensform dar. Der Diskurs über die Philosophie ist nicht die Philosophie selbst. Die Fragen des Lebensstils und die Technik des inneren Lebens sind mit zu berücksichtigen. Dabei ist die Universitätsphilosophie als
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Diskurs über die Philosophie ebenso wenig Philosophie selbst (vgl. Hadot 1991, 118–172). Augustinus behandelt in seinem Werk Hortensius nicht die Philosophie selbst, sondern den Weg zu dieser. Hier sind die skeptischen Einwände gegen Philosophie selbst zu beachten. Er argumentiert folgendermaßen: was diejenigen angeht, die die Philosophie zwar gelten lassen, aber fordern, dass man sie mit Maß betreibe, verlangen sie eine Art von Zurückhaltung in einer Sache, die man, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, nicht leicht einschränken und zurückdrängen kann. Sollte sich die Philosophie aber als sehr schwierig erweisen, so darf man doch mit dem Suchen nach der Wahrheit nicht eher aufhören, als bis man sie gefunden hat. Denn die Philosophie ist mit wenigen Richtern zufrieden, meidet mit Absicht die Menge und ist gerade ihr verhasst und verdächtig. Augustinus hat den Tadlern der Philosophie im Hortensius geantwortet, und was für die Akademie zu sagen ist, hat er wohl in den vier Büchern der Academica hinreichend genau dargelegt. Dennoch missbilligt Augustinus nicht Kritik an seiner Position, sondern begrüßt diese vielmehr. Die Philosophie ist ein Heilmittel für die Seele, bemüht sich um die Heilung und Bewahrung des Körpers. Jetzt hat sie uns nur ein winziges Lichtlein gegeben, das wir, verdorben durch schlechte Sitten und Meinungen, rasch und so gründlich auslöschen, dass uns nirgendwo das Licht der Natur erscheint. Denn in unserem Geiste sind Samen der Tugenden eingeboren, und wenn sie heranwachsen dürften, würde uns die Natur von selbst zum seligen Leben hinführen (Cicero 1990, 9–13). Die Philosophie ist der Hafen und der Durchgang zum Festland des glückseligen Lebens (Cicero 1990b, 19), Wegemetaphern finden sich bereits in der vorsokratischen Literatur und Philosophie. Nicht das Finden, sondern allein schon das Suchen dieser Weisheit ist höher zu achten als der Besitz von Schätzen und Herrschaft über die Völker und als alle Lust, die nach Belieben den Körper umströmen möchte (Cicero 1990, 31). Glückselig sei der, der nach seinem eigenen Willen lebt (vgl. Cicero 1990, 79). Hier bereits wird das Ideal der Autonomie als Grundprinzip der eigenen Lebensgestaltung formuliert. Der Mensch muss also so erzogen werden, dass ihm die richtige Einsicht das zurückerstattet, was ihm die fehlerhafte Gewohnheit entzogen hatte (vgl. Cicero 1990, 85), nämlich Autonomie. Eudaimonia ist gemäß dem Hortensius von Augustinus das, was ein Mensch vernünftigerweise will, wenn ein Mensch bei seiner Lebensführung das Gute für sich selbst, aber auch für seine Angehörigen und für die ganze Menschheit will. Auch der anfangs erwähnte Protrepticos des Aristoteles (Aristoteles 1969) gehört in diese Traditionslinie. Hier wird Phronesis zu einem entscheidenden Faktor bei der Suche nach der Eudaimonia, d. h. der Suche nach der rechten Lebensführung, um in einem umfangreichen Sinne Gesundheit zu realisieren. Allerdings ist einzuwenden, dass Gesundheit nicht der oberste Wert eines selbstbestimmten ethischen Lebens sein kann, sondern letztlich dienenden Charakter hat. Für ein modernes Modell der Sorge um sich selbst ist die bereits analysierte Bioethik von Beauchamp und Childress heranzuziehen, die Patientenautonomie in den Kontext einer Minimalethik des „nicht Schadens“ stellen. Das Hausarztmodell ist das Modell des Beraters und des Gesundheitsmanagers vor dem Erfahrungshintergrund der Alltagsgesundheit. Dieses Modell von Beauchamp und Childress trifft insbesondere
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auf das Modell (1) Hausarztmodell zu. Daneben muss aber ein neues Modell, eher orientiert am Informed Consent, für die Biomedizin und andere Bereiche der Apparatemedizin entwickelt werden, nämlich das Facharztmodell (2). Hier erscheint für verschiedene Spezialisten ein expliziter Behandlungsvertrag aufgrund des Wissenschaftskontextes und der Professionalisierung erforderlich. Für den dritten Bereich der sog. personalisierten Medizin, aber auch der anderen Bereiche der zukunftsorientierten Wunschmedizin (Gesundheitsdesign, Merkmalsgestaltung, Enhancement), das biomedizinische Hightech-Modell (3) ist Patientenautonomie an Langzeitverantwortung oder Zukunftsverantwortung zu orientieren. Alle drei Arten einer Medizinethik sind für den professionellen Umgang mit dem Altern heranzuziehen. Statt den Jungbrunnen (wunschorientierte Medizin) zu suchen, sollte es uns künftig stärker darum gehen zu verstehen, was Altern überhaupt ist, wie es mit Krankheit zusammenhängt und wie wir die gewonnene Lebenszeit genießen können. Wie steht es denn um die im Alter gewonnen Jahren wirklich? Sind sie von einem stetig voranschreitenden Verlust geprägt, so dass sich zumindest unter Umständen das Leiden nur verlängert? Oder ist nicht doch die Zahl der guten Jahre unter den zusätzlichen überproportional hoch? Letzteres nennt man das Konzept der komprimierten Morbidität, eine Verdichtung des Verfalls auf eine verhältnismäßig kürzere Zeit am Ende, so dass bei verlängertem Leben in der Tat eine Chance auf mehr gute als schlechte Jahre bestünde. Das größte faktische Problem sind hierbei die Demenzen, das heißt der Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit. Da das Erleben im Gehirn stattfindet und umgekehrt Demenzen auf Erkrankungen des Organs zurückgehen, nimmt das Studium des alternden Gehirns eine besondere Stellung in der Altersforschung ein. Allerdings ist in den letzten Jahren wieder mehr ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt, dass geistiges Altern nicht nur das Gehirn betrifft, sondern einen ganzen Organismus (vgl. Kempermann 2008, 74–76). Wir verlieren zunehmend die Stützung und Lebensanleitung durch große Institutionen. Dies führt zu einer aufwendigen Suche nach uns selbst und kann zu ziemlich einsamen Wegen führen. Wir bedürfen der inneren und äußeren Bewegung als Kräfte gegen den körperlichen Abbau im Alter. Es geht um die Reorganisationskraft durch Kreativität. Dazu müssen wir die Erkenntnis einsetzen als Mittel, um richtig und gut leben zu können. Dabei lässt sich ein gewisses neues Interesse an sich selbst und an Selbstgestaltung feststellen. Hierbei hilft, die Vielfalt weltweit anzuschauen, um auf einen eigenen Weg zu kommen. Die Fragwürdigkeit fordert zudem zusätzlich heraus. Viele Kulturen mussten mit einem kürzeren und weit beschwerlicheren späten Leben umgehen. Zentral für das Menschsein ist die Neotonie – die Verzögerung des Entwicklungsgeschehens des Menschen und sein längeres Jungbleiben. Im 21. Jh. schieben wir die Krankheiten und Sterblichkeit, d. h. die Lebensgrenzen, enorm hinaus und von uns weg. Dies führt zu einer Ausdehnung der strukturellen Jugendlichkeit des Menschen. Im Alter sollte man die Fantasie pflegen, denn die Fantasie ist die Triebkraft und die Tochter des Denkens. Außerdem führt Fantasie zur Wahrnehmung von Verantwortung (vgl. Rosenmayr 2007, 1–9). Es gilt die Kreativitätschancen im späten Leben zu erkennen. Der dramatische Anstieg der mittleren Lebenserwartung erfordert eine neue Grundeinstellung ge-
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genüber dem Alter und im Alter. Der dramatische Kampf gegen die Multimorbidität wird im zunehmenden Maße gewonnen im Sinne einer Verlängerung des menschlichen Lebens. Prothetik ist insgesamt als positiv zu bewerten. Allerdings ist AntiAging zumindest ambivalent. Sicher gibt es ein Reparaturbedürfnis im Hinblick auf das Altern, weil die einen oder anderen Prozesse nicht mehr ihren normalen Weg gehen, aber das Verwischen aller Spuren des Alters durch verschiedene technische Möglichkeiten ist nicht der richtige Umgang mit dem Phänomen des Alters. Die Göttin der Morgenröte war gekennzeichnet durch eine fortdauernde Jugend. Insofern muss man, um ein gewisses Alter erreichen zu können, eine Umprogrammierung im Gehirn im Hinblick zum Beispiel auf Ernährungsgewohnheiten erreichen. Zurückhaltung und Steuerung begünstigen ein Gelingen des Alters. Insofern bedarf es einer doppelten asketischen Kompetenz der Übung und Einschränkung der Wünsche. Es ist letztendlich ein Kulturumschwung erforderlich, um die neuen Probleme des Alterns bewältigen zu können (vgl. Rosenmayr 2007, 19–28). Die Krise im späten Leben ist nicht zu leugnen. Die Selbstvergegenwärtigung ist wichtig, denn ein Umdenken erfordert ein Innehalten. Der Mensch lebt über die biologische Fruchtbarkeit hinaus. Altern ist bestimmt durch abnehmende Fähigkeiten, durch Verlust an Organfunktionen, Verlust von Gehirnleistungen und Einschränkungen des Bewegungsapparates. Durch die Zunahme älterer und hoch betagter Menschen in den Industriegesellschaften entsteht zusätzlicher sozialer und medizinischer Bedarf. Es kommt zu einem Anwachsen der Hilfsbedürftigkeit. Die Eltern haben noch keinen Platz in unserer Kultur gefunden. Dabei kommt es zu einem Erschrecken über die Endlichkeit unserer selbst. Zuwendung hilft das Älterwerden zu ertragen. Das Alter ist durch eine gewisse Illusionslosigkeit und einen Skeptizismus gekennzeichnet, es sollte eine eigene Moral entwickeln und auf separate Notwendigkeiten hinweisen (vgl. Rosenmayr 2007, 32–50). In der Geschichte des alten Europas wurde Hinfälligkeit zunächst als Bedrohung empfunden. Die alten Hochkulturen schränken die Gerontokratie ein. Auch das Christentum verfolgt dieselbe Tendenz; es verbindet eine Altersirrelevanz mit einer verallgemeinerten Mitmenschlichkeit. Die Integration der Älteren variiert je nach Haushaltstypen zwischen bäuerlicher Großfamilie und industrieller Kleinfamilie. Die altersbedingt reduzierte Arbeitsfähigkeit ist eines der Probleme. Sie betrifft insbesondere die körperliche Seite des Leiblichen. Die Aufklärungsepoche gibt jedoch dem Alter einen eigenen Status. Dies hängt damit zusammen, dass es zu Individualisierungsschüben in den oberen und einigen der mittleren Schichten kommt. Die Praxis des sich Rechenschaft Gebens führt zu einer Art Aufwertung auch des Älterwerdens. Nicht zuletzt hat die Einführung des Rentenversicherungssystems zur Aufwertung des Alters geführt (vgl. Rosenmayr 2007, 55–79). Das Hervortreten des höheren Alters geschieht vor allem im 20. Jahrhundert. Eine Verschlechterung durch eine unangemessene, oft selbstschädigende Lebensweise führt zu Konsumoldies im Rahmen einer Spätlebenslethargie. Dies zeigt das Fehlen einer Alterskultur an. Alter als Massenphänomen ist menschheitsgeschichtlich eine völlig neue Erscheinung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Solidarisierung der Älteren. Das Singledasein hat Anerkennung gefunden, insofern ist es auch im Alter nichts Besonderes. Dies ist eine Folge von mitgliederschwachen Familien.
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Eine weitere Konsequenz der industrialisierten Lebensweise ist eine Intimität auf Abstand. Die Eltern werden versorgt, meist jedoch aus der Distanz heraus und nicht so intensiv wie in früheren Tagen (vgl. Rosenmayr 2007, 85–89). In Afrika sind das Senioritätsprinzip und die Führungsrolle miteinander verbunden. Die Geheimgesellschaften entfalten die Initiation. Die Geheimnisse der Initiation verleihen Abwehrkraft gegenüber okkulten Angriffen wie Hexerei, Koroté als magische Zufügung von Schäden oder Flüchen. Seniorität als Prinzip der Rangzuweisung dient der Stabilisierung einer Sippe. Das Reich der Ahnen wird als moralisches Reich ausgedeutet. Die Seelen der Ahnen gehen in ein Neugeborenes zurück. Modernisierung erzeugt nie automatisch und durchgehend den Verlust des Respekts vor den Alten. Die Weisheit der Alten bezieht sich insbesondere auf deren Kompetenzen im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund. Allerdings gibt es einen Machtwandel durch Modernisierungsprozesse: Es entstehen immer mehr junge Revolutionäre. Einer der Gründe dafür sind Spannungen zwischen den arbeitenden Vätern und ihren nicht arbeitenden bzw. arbeitslosen Söhnen. Oft ist dies eine Folge einer abrupten Technisierung und Ökonomisierung. Die neuen kulturellen Standards werden von den Jungen gesetzt. Diese haben ganz andere Lernerwartungen als Erwachsene (vgl. Rosenmayr 2007, 93–146). Im Buddhismus genießen Mönche mehr Verehrung als die Alten. Einsicht in das Altern und die Vergänglichkeit ist Ausgangspunkt der buddhistischen Lehre. Im China ist der Ahnenkult die eigentlich herrschende Religion. Meditation als Führung im Lebenslauf verbindet sich mit dem Geist des Pflegens und Verehrens. Die Form der Spätlebenskreativität kann sich bei verarmten Alten allerdings recht spät und nur mit Mühe durchsetzen. Sowohl in Indien und in China ist diese daher schwer zu erreichen. Das erfüllte Schicksal des Mannes der Oberschicht auf der einen Seite, auf der anderen Seite die bösen Alten, die Hexen und böse Stiefmutter, das sind Strukturmuster, die sich kulturübergreifend herausgebildet haben (vgl. Rosenmayr 2007, 149–194). Das Leben in Zerstückelung erfordert eine neue Flexibilität. Dies ist eine Herausforderung an die neuen Alten (vgl. Rosenmayr 2007, 207–213). Kreativität ist in sich selber und im Lebenslauf zu finden. Selbstveränderung ist die Voraussetzung dafür, eigene Wege zu gehen. Es geht darum, ein neues Ichideal zu suchen und zu entwickeln. Sich selber zu akzeptieren und zu bejahen ist dabei sehr wichtig. Die Rückkehr zu unerfüllten Wünschen und die Bildung als Suche nach Einblick in sich selbst gehören zusammen. Deblockieren und Umdenken sind zum Beispiel bei Sexualität im Alter sehr wichtig: Es geht darum, alte Knoten zu lösen, um Spannkraft neu entstehen zu lassen (vgl. Rosenmayr 2007, 219–235). Das Alter wurde in der Philosophie lange vernachlässigt. Die geistige Erneuerung in der christlichen Mystik ist einer der Ansätze, nicht zuletzt weil sich hier eine frühe Philosophie des Ichs und der Individualität entwickelt haben. Diese ist mit Namen wie Ockham, Petrarca und Descartes verbunden. Auch Montaigne als Frühaufklärer ist hier wegweisend. Denn die Aufklärung brachte eine neue Philosophie des Lebens. Dazu gehört auch das ärztliche Wissen um die Naturkräfte. Das Gefühl erhöhter Lebensgeschwindigkeit und die Polarisierung von Bewusstsein und Körper sind ebenfalls Phänomene des Alters. Kommt es auch zu einem wachsenden
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Bewusstsein der eigenen Endlichkeit? Wichtig ist dabei die Subjektivität der eigenen Lebensentwicklung. Todesvergegenwärtigung ist eine der Voraussetzung für die Überwindung der Angst. Es geht um den eigenen Kontext des Erlebens. Um Glück zu finden, bedarf es einer Grundeinstellung. Dabei sollte man mit den eigenen Kräften haushalten (vgl. Rosenmayr 2007, 241–275). Das konsumorientierte Bild vom Glück im Alter wird dominiert durch Konsum im Alter auf Reisen, im Garten und auf Festivals. Auf der anderen Seite entsteht ein neues Bild des Alterns, wo sich der alternde Mensch durch eigene Aktivitäten selber verwirklicht, nicht zuletzt durch ehrenamtliche Tätigkeiten (vgl. Rosenmayr 2007, 281–286). Das Alter sollte anerkannt werden. Die Zahl der Alten wird sich in unserem Land von 1970 an gerechnet bis 2050 mehr als verdoppeln. Führt dies aber notwendigerweise in das Methusalem-Komplott (Schirrmacher)? Im Alter altern Organe verschieden schnell, abhängig von dem Leben, das man geführt hat. Wenn man bei der Retrospektive in seinen Boden hineinschaut, erscheint so viel an Schuld und Versagen, an nicht gelebten, an unerfüllten Sehnsüchten, so dass es das Wichtigste ist, Nachsicht gegenüber sich selbst und den anderen zu entwickeln. Nur so lässt sich die Kompetenz zur Daseinsbewältigung im Alter erhöhen. Das Leben ist Kampf und Widerstand gegen den Untergang. So bedeutet schöpferisch Altern kreativ zu bleiben und Sicherheit in sich selbst zu gewinnen. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür ist der Erhalt der Gesundheit und der Erhalt der eigenen Kompetenzen. Die Selbstbegrenzung und die Fähigkeit, anderes zu akzeptieren, sind in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Allerdings ist mit dem Problem des Methusalem-Komplotts eine Frage beschrieben, die in der Tat von nicht geringer Bedeutung ist: Werden die Erfahrungen der Älteren in einer hypertechnologischen Gesellschaft nicht tatsächlich durch die ständige Innovation entwertet? Die neue rastlose, urbanindustrielle Gesellschaft stellt eine Herausforderung dar gegenüber der Symbolik der Einheit des Lebens, insofern sie in einer traditionellen Ikonographie des menschlichen Lebenskreises dargestellt worden ist. In der Zivilisation und Kultur des 20. Jahrhunderts der Jugendlichkeit wurde das alte Alter gettoisiert. Aus der Perspektive einer Kultur der Jugendlichkeit wurde nicht so sehr die traditionelle Form des Lebenszyklus angegriffen, sondern Alter wurde zu einer marginalisierten Form des Lebens, welche durch Armut, Mangel und Unfähigkeit gekennzeichnet wurde, als eine individuelle Erfahrung. Die Konsequenz einer Individualisierung der Gesellschaft ist, dass das Alter weniger eine kollektive Erfahrung wird und die Lebensführung weniger invariant wird von traditionellen Erfahrungen und Erwartungen. Aber mit der Wendung hin zu einer neuen Art der Kompetenz und der Fitness kommt es zu einer Umwertung der Alten, also zum Phänomen der neuen Alten. So ist heute vor allen Dingen die Abwesenheit eines kohärenten Leitbildes für Alter und hohes Alter zu beklagen (vgl. Johnson 2005, 156–162). Die Reduktion der Kalorienzufuhr ist einer der Wege, Alterungsprozesse hinauszuzögern, und die Generation der 80er und älter erwartet die Erfahrung der Fruchtbarkeit einer frugalen Diät. Heute liegen die normalen Sterbeprozesse zwischen 80 und 120 Jahren. Daher sind Prävention und die Behandlung chronischer Krankheiten für ein Verständnis des Alters von zentraler Bedeutung (vgl. Johnson
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2005, 167–169). Eine zentrale Frage ist, ob sich Selbstbilder mit dem Alter ändern. Die Selbstdefinition bzw. das Selbstverständnis ändert sich von geringen Differenzierungen zwischen dem Selbst und Anderen und einem großen Einfluss von sozialen Konventionen im frühen Leben hin zu Definitionen, die kontextuelle, prozessorientierte und eine auf das eigene Ich bezogene Grundhaltungen von Selbstheit im späteren Alter unterstützen. Die sich selbst regulierenden Mechanismen können dabei Quellen der Stabilität und des Wandels darstellen (vgl. Johnson 2005, 239). Ein kontextuelles Modell des Selbst impliziert, dass der soziokulturelle Kontext auf das Selbst und seine Definition der Identität zurückbezogen wird (vgl. Johnson 2005, 276). Das existenzielle Selbst beschäftigt sich mit Zeit, Gesundheit und Tod, das physikalische Selbst im Sinne des Körpers beschäftigt sich mit dem Körper, mit der Gesundheit, der Funktionalität und seinem Erhalt (vgl. Johnson 2005, 284). Zentral für das Alter sind der Kompetenzverlust und die Frage seiner Substitution (vgl. Johnson 2005, 287). Durch das anwachsende Alter ergeben sich neue Probleme bei alternden Eltern mit in der Zwischenzeit erwachsenen Kindern mit neuen Familien. Dies bringt neue Perspektiven im Hinblick auf zwischengenerationelle Beziehungen mit sich. In diesem Zusammenhang kann zum einen das Solidaritätsmodell entwickelt werden, in dem die ältere Generation ihren heranwachsenden jungen Familien mit Enkeln hilft. Dabei ist realistischerweise von einem Solidaritäts-Konflikt-Modell auszugehen, welches die Einbettung in das soziokulturelle Umfeld mit berücksichtigt (vgl. Johnson 2005, 413 f.). Den verbesserten Bildungschancen sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch im Erwachsenenalter wird eine zentrale Rolle für die Förderung und Erhaltung von Potenzialen bis in das hohe Alter zugeordnet. Die Handlungsempfehlungen weisen zum einen auf die Notwendigkeit hin, sich gesellschaftlich sehr viel stärker für die Erhaltung von Kompetenz, Leistungskapazität und Gesundheit älterer Menschen zu engagieren. Zum anderen wird hervorgehoben, dass die Verantwortung der Gesellschaft für die Versorgung älterer Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen deutlich wachsen wird und die Gesellschaft sich darin in besonderer Weise der ethischen Grundlagen dieser Verantwortung bewusst sein sollte (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 15 f.). Ein zentrales Ziel ist selbstbestimmtes Leben im Alter, wozu Prävention und lebenslanges Lernen gehören (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 19–21). Die Altersstrukturveränderungen betreffen das System der Alterssicherung. Der Wandel der Familienstrukturen, insbesondere die Patchwork-Familien, verändert die soziale Lage der Alten. Gerade in dem Verzicht auf ein Zusammenleben im Alltag sehen viele ältere Menschen einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Zufriedenheit, Solidarität und gegenseitiger Unterstützungsbereitschaft in den intergenerationellen Beziehungen. Eine Gemeinwohlorientierung ist in diesem Zusammenhang erforderlich. In dieser ressourcenschaffenden neuen Gemeinwohlorientierung, die individuelle und altruistische Motive bewusst verknüpft, ist ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel zu erkennen (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 55–59). So wird auch eine Charta für eine kultursensible Altenpflege gefordert. Betont wird die aktive Rolle des Individuums auch im Alter. Unter Altersforschern besteht heute Einigkeit, dass im Alterungsprozess auftretende Veränderungen in physiologischen, psychologischen und sozialen Merkmalen nicht einfach eine bio-
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logische oder gar eine genetische Notwendigkeit widerspiegeln. Die ausgeprägte Heterogenität des Alters verweist vielmehr auf Unterschiede in der Verfügbarkeit und Nutzung von Ressourcen. Inwieweit es Menschen gelingt, die mit dem Alterungsprozess einhergehenden Veränderungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zu kompensieren, und inwieweit sie in der Lage sind, ein an persönlichen Bedürfnissen, Zielen und Präferenzen orientiertes Leben zu führen, hängt in vielfältiger Weise von den jeweils verfügbaren Ressourcen ab (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 67–73). Gesundheitliche Beeinträchtigungen und Krankheiten gehören – neben den ökonomischen – zu den bedeutsamsten Risiken der Lebenslage älterer Menschen (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 81). Daher wird immer wieder auch eine altersfreundliche Gesellschaft gefordert. Auch wenn Alter nicht mit Krankheit gleichgesetzt werden darf, so ist in der körperlichen Dimension das höhere Lebensalter mit einer zunehmenden Anzahl von Einschränkungen, Einbußen und Verlusten verbunden. Die seelisch-geistige Dimension kann durch Kompetenzen gekennzeichnet sein, die auf eine kontinuierliche Akkumulation, Elaboration und Ordnung von Erfahrungen und Wissen zurückgehen. Schließlich lassen die Befunde die Folgerung zu, dass im zunehmenden Lebensalter die individuelle Variabilität in der Arbeitsfähigkeit deutlich absteigt. Diese Ergebnisse sprechen insgesamt für ein höheres Risiko der Leistungseinbußen bei Mitarbeitern, die in Berufen stehen, die sehr hohe Anforderungen an die Informationsverarbeitungs- und Reaktionsgeschwindigkeit, sowie an die physische Leistungsfähigkeit stellen. Gerade in diesen Berufen sind Förderungsmaßnahmen erforderlich (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 102–105). Empirische Arbeiten deuten auf die auch im hohen Alter gegebene Resilienz hin. Trotz der Verluste in dieser Phase ist die Lebenszufriedenheit dieser Menschen nicht geringer und es treten Belastungsstörungen und somatoforme Störungen nicht häufiger auf als bei jüngeren Menschen. Bei älteren/alten Menschen gibt es eine stärkere Tendenz zur passiven interpersonal orientierten und emotions-regulierenden Bewältigung (dominante Techniken: Akzeptieren, Distanzieren, Neubewertungen); bei den Jüngeren (Durchschnittsalter: 40 Jahre) hingegen zur aktiven interpersonal orientierten, handlungsorientierten Bewältigung (dominante Technik: planvolle Problemlösung). Diese Befunde legen eine Wachstumshypothese nahe, die postuliert, dass sich die kognitive und emotionale Differenzierung des Menschen im Lebenslauf auch in der Entwicklung von Bewältigungsstrategien widerspiegelt. Die Fähigkeit zur Neubewertung einer Situation, zu deren Akzeptanz sowie zur Impulskontrolle wird im Sinne von Wachstumsprozessen gedeutet (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 114 f.). Etwa zehn Prozent der über Fünfundsechzigjährigen leiden an einer manifesten depressiven Störung, bei weiteren sechzehn Prozent besteht eine unterschwellige depressive Störung. Depressionen stellen eine der Hauptursachen für Behinderung in den europäischen Ländern dar (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 130). Zentrales Ziel muss die Verbesserung und die Erhaltung einer möglichst weitgehenden Selbstständigkeit der Betroffenen sein. Die bewusst angenommene Abhängigkeit kann als eine Form von Selbstbestimmung interpretiert werden (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 162). Neue Formen des Zusammen-Wohnens, etwa im Sinne eines
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Mehrgenerationenwohnsitzes oder einer Wohngemeinschaft, neue sozial-räumliche Konstellationen, aber auch eine Versorgungskultur mit einem neuen Kundenorientierungsverständnis (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 217) sind denkbar. Dabei könnten auch Mischmodelle aus Personen mit und ohne Unterstützungsbedarf bzw. mit verschiedenen Kompetenzen eingerichtet werden (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 231). Die neuen Alten können als Emanzipierte für das Wohnen mit Unterstützungsbedarf verstanden werden. Nicht mehr das Handicap, das mit Behinderung und Altern einhergehen mag, steht im Vordergrund, sondern Handicaps sind für Situationen hinderliche oder eben förderliche Lebensumstände. Die tatsächlich vorhandenen und verfügbaren Ressourcen einer (vor-)schnell generell als behindert oder altersbedingt gehandicapt bezeichneten Person gewinnen dann an Bedeutung für passende Unterstützungsaufgaben und Leistungen (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 244). Wir werden als Menschen zu uns selbst inmitten eines gemeinsamen Lebens mit anderen. Erst auf dem Grund der Gemeinsamkeit kann sich so etwas wie Einsamkeit, Subjektivität und das Bewusstsein von Individualität entwickeln. Unser Leben ist die Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit, die wir selbst sind. Die Ganzheit des Lebens ist niemals außerhalb von konkreten Situationen. Was für die Ausbildung personaler Identität in Kindheit und Jugend bis hin zum jungen Erwachsenenalter gilt, erfordert mit Blick auf die spätere Lebenszeit und speziell auf das Alter eine entsprechende Erweiterung und Vertiefung. Verstehen kann man das Leben erst rückwärts, gelebt werden muss es aber nach vorn (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 280–283). Altern kann insgesamt als Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation verstanden werden. Dabei ist das physische Altern, das psychische Altern, das soziale Altern und das kulturelle Altern zu unterscheiden. Das Tempo des gesellschaftlichen Wandels und der geschichtlichen Veränderungen hat sich in den letzten einhundert Jahren so gesteigert, dass Entfremdung und Verständnislosigkeit älterer Generationen nicht überraschen können. Die Erfahrung der Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit manchen Glücks vermag eine Kraft zur Desillusionierung und zur gelassenen Täuschungslosigkeit wachzurufen, die Goethe als Entsagung gestaltet und die bei ihm nichts kläglich Verzichtendes hat, sondern sogar die höchst Form existenzieller Souveränität und humaner Selbstbehauptung des alternden Menschen bei wachem Verstand ist. Das Leben kann im Alter höchst intensiv sein. Insofern ist eine Kultur humanen Alterns zu fordern (vgl. Bertelsmannstiftung 2007, 285–290). Wir sind wahrscheinlich die letzte Generation mit einer normalen Lebenserwartung von 80 bis 85 Jahren. Die Lebenserwartung ist im Laufe der Geschichte auch ohnehin schon stark gestiegen etwa durch bessere Hygiene und Impfungen. Altern hat viele Ursachen, über die sich die Wissenschaftler immer noch uneins sind. Körper und Geist altern zwar nicht im gleichen Takt, aber aufeinander bezogen. Somit kommen wir auch beim Thema „erfolgreiches Altern“ um die Betrachtung des Körperlichen nicht herum. Es hat sich herausgestellt, dass manche der Antioxidantien mehr tun, als freie Radikale abzufangen. Das gilt beispielsweise für das im grünen Tee enthaltene Epigallocatechingallat oder noch bekannter das im Rotwein vorkommende Resveratrol. Eine andere Methode ist die Kalorienreduk-
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tion, die bei Mäusen erfolgreich getestet worden ist. Bei Menschen ist die lebensverlängernde Wirkung der Kalorienreduktion bisher unbewiesen. Sie durchzuhalten erfordert eisernen Willen, denn die notwendige Minderung um 30 % bringt Einbußen an Lebensqualität und ist nicht ganz nebenwirkungsfrei. Eine These geht von einer zunehmenden Ansammlung von Abfallprodukten in den Zellen aus, die deren Leistungsfähigkeit immer mehr einschränkt. Einer wieder anderen Idee zufolge könnte unsere Sterblichkeit überhaupt genetisch determiniert sein. Allerdings verlief die Suche nach entsprechenden Erbfaktoren bislang wenig erfolgreich. Zwar existieren mit Sicherheit genetische Faktoren, die Altern und Lebensspanne beeinflussen, allerdings eben nicht in dem engen Sinne, dass es ein Alters- oder auch ein Todesgen gäbe. Beim Fadenwurm etwa verdoppelt sich die Lebensspanne, wenn man die Aktivität eines Gens namens „Daf-2“ unterdrückt. Es codiert für einen Rezeptor im Insulinsystem. Andere Gene wirken positiv auf die Lebensspanne der Tiere, wenn man ihre Aktivität erhöht. Das Nebeneinander verschiedener Theorien vom Altern führte, wohl nicht überraschend, zu dem Schluss, dass es sich biologisch betrachtet um einen multifaktoriellen Prozess handelt (vgl. Kempermann 2008, 78). Steigende Anfälligkeit für oxidativen Stress, die Akkumulation von fehlgefalteten Proteinen, das vermehrte Übergewicht einzelner, wirkmächtiger Gene und all die anderen diskutierten Faktoren wären Auswirkungen von Veränderungen in einem System, das in seiner Komplexität nicht mehr anschaulich ist. Aus der Betrachtung des Alterns aus der Systemperspektive ergibt sich unmittelbar die außerordentliche Variabilität der Prozesse. Kurzum, wenn wir lernen, verändert sich die Struktur des Gehirns als Folge seiner Funktion. Das ist aber nur die eine Richtung. Denn die veränderte Hirnstruktur ist ihrerseits wieder Grundlage für neues Verhalten, inklusive neues Lernen (vgl. Kempermann 2008, 78 f.). Und das Training des Gehirns ist immer noch die beste Methode, es jung und fit zu halten. Eine Handvoll Gene, die ganz verschiedenartigen Organismen über harte Zeiten hilft, kann zugleich deren Gesundheit und Lebensdauer insgesamt enorm steigern. Ihre Funktionsweise liefert vielleicht die Schlüssel, Alterskrankheiten zu bannen und auch unsere Lebensspanne auszudehnen. In gewisser Weise kann Hefe als Modell dienen. Dort findet sich ein spezielles Gen namens SIR2, das in vergleichbaren Formen bei allen bisher untersuchten Lebewesen vorkommt, einschließlich des Menschen. Dieses Gen kodierte für ein Enzym, das auf völlig neuartige Weise aktiviert wurde. Das Kürzel steht für Silent Information Regulator, Regler stummer Information. Die auf Schmalkost gesetzten Tiere leben länger; dies wurde bereits vor über 70 Jahren entdeckt. Nun könnten wir vor der Möglichkeit stehen, die Wirkweise der Extremdiät zu verstehen. Heute nehmen wir an, dass der Kalorienmangel Stress auf den betreffenden Organismus ausübt. Da Schmalkost Depots abbaut, sorgt sie möglicherweise für ein hormonelles Muster, das Knappheit signalisiert, was wiederum Abwehrmechanismen der Zellen aktiviert. Das Protein Sir 1 registriert die Ernährungssituation und legt dann fest, wie viel Fett in den Zellen gespeichert, und damit auch, welches Hormonmuster von ihnen erzeugt wird. Langfristig besteht die Hoffnung, dass die Entschlüsselung der Geheimnisse von Langlebigkeit mehr erlauben wird, als bloß altersbedingte Erkrankungen zu behandeln (vgl. Sinclair, Guarente 2006, 34–41).
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Bestimmte Substanzen, wie der Rotweinbestandteil Resveratrol, machen diese Enzyme aktiver, vor allem Sir 1, das als Wächter der Zelle funktioniert. Es greift immer dann ein, wenn der Organismus gestresst ist, oder nicht genug Nahrung bekommt. Es signalisiert dann anderen Proteinen, den Körper vor Krankheiten zu schützen, etwa indem zellulärer Abfall besser beseitigt wird. Der Effekt der längeren Lebenszeit war bisher nur von Mäusen bekannt, bei denen man Labortieren 30–40 % weniger zu essen gab. Wir wissen aus Tierstudien, dass Resveratrol bei Mäusen gegen Krankheiten wie Diabetes, Osteoporose, Grauen Star, Krebs, Herzerkrankungen, Alzheimer und viele mehr wirkt. Die Mäuse können außerdem zweimal so lang und schneller laufen als gesunde Artgenossen (vgl. Sinclair 2010, 35). Die Übertragbarkeit der Laborergebnisse auf den Menschen ist jedoch nicht bewiesen; ein einsatzfähiges Medikament gibt es nicht. Ray Kurzweil spricht von der Unsterblichkeit und dem Griff nach dem Lebensbaum. Die Geheimnisse des Nichtalterns sind ein alter Traum des Menschen, wie schon am Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren im 15. Jh. zu sehen ist. Es geht im Alter um die Erhaltung des biologischen Milieus. Wir entdecken gerade, dass der Mensch für ein langes Leben programmiert ist. Die Erneuerungschancen an den genetischen Wurzeln zu erhöhen und die Folgekosten von Krankheiten einzusparen, ist eines der wesentlichen Forschungs- und Therapieziele der neuen Gentherapie gemäß Kurzweil. Auch das Ummodeln der Psyche durch die Einsicht in ihren inneren Code scheint immer wahrscheinlicher und möglicher zu werden (vgl. Rosenmayr 2007, 14–18). Wir beginnen auf molekularer Ebene zu verstehen, welche Veränderungen Ursache für den scheinbar unausweichlichen Zerfall des Organismus sind. Der eigentliche Umbruch aber hat nach der Überzeugung mancher Wissenschaftler längst stattgefunden. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, haben Evolutionsbiologen geklärt, warum wir überhaupt altern – dabei hat die Antwort auf diese Frage weitreichende praktische Konsequenzen. Heute weiß man: die Lebenszeit ist in den Genen festgeschrieben. Jeder Art steht eine gewisse Spanne zur Verfügung, und auch innerhalb der Spezies gibt es genetisch bedingte Unterschiede. Warum müssen nahezu alle Lebewesen sterben – trotz der langen Entwicklungszeit, die das irdische Leben in Anspruch genommen hat? Wäre Unsterblichkeit nicht ein praktisches und erstrebenswertes Ziel der Evolution? Wie sich zeigt, ist der Wunsch nach ewigem Leben eine grundlegende und uralte Sehnsucht des Menschen (vgl. Benecke 2002, 9). Zellen haben ein Gedächtnis. Je älter ein Mensch ist, desto seltener können sich seine Zellen in einer künstlichen Kultur teilen. Damit gibt es bestimmte Wachstumsfaktoren für die Weiterentwicklung von Zellkulturen (vgl. Benecke 2002, 33). In höheren Organismen gibt es so genannte „Selbstmordgene“, einige von ihnen sind bereits bekannt und heißen: ced – 3 und ced – 4. Sie sind zum Beispiel auch in jeder Körperzelle des Fadenwurms vorhanden, des Modellorganismus der Genetiker. Sicher ist jedenfalls, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Altern, das streng genommen ab dem 25. Lebensjahr beginnt, und dem Programm unserer Gene gibt, die das Altern fest vorschreiben. Nach etwa sieben Jahren sind wir im wahrsten Sinne des Wortes neue Menschen. Nur Nerven und Muskeln werden praktisch nicht erneuert (vgl. Benecke 2002, 37–40).
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Dem neuen Konzept zufolge finden sich die Hirnareale in einem permanenten Zustand gebrauchsabhängiger Fluktuation: Verändert sich das Verhalten, etwa als Reaktion auf gewandelte Anforderungen des täglichen Lebens, baut sich auch das Gehirn um – erkennbar etwa daran, dass sich die Zuständigkeiten eines Areals erweitern oder mindern. Selbst geringfügige Verhaltensänderungen können solche plastischen Reorganisationen in Gang setzen. Ein verstärkter oder verringerter Körpergebrauch kann zu Reorganisationen im Gehirn führen. Schon ein geringfügig eingeschränktes Laufverhalten führt zu raschen, aber reversiblen Änderungen der kortikalen Gebiete. Einiges wurde wieder hergestellt, anderes blieb unbeeinflusst, wieder anderes verschlechterte sich sogar. Letzteres gilt insbesondere für degenerative Veränderungen wie etwa die länger werdende Latenzzeit. Die Haltung in einer anregenden, zu Aktivitäten anleitenden Umgebung ist also kein Jungbrunnen, in den man alt hinein und runderneuert wieder hinaussteigt. Die Ratten in den bisherigen Experimenten mit Langlebigkeitsgenen entwickelten vielmehr – nicht im bewussten Sinne natürlich – neue Strategien kortikaler Verarbeitung wie auch neue Formen des Verhaltens und erweiterten damit ihre Alltagskompetenz auf gleichsam innovative Weise. Besonders bemerkenswert ist, dass die anregende Umgebung ihren positiven Einfluss selbst noch im Greisenalter der Tiere entfaltet. Mit andern Worten: Zumindest für Ratten scheint es nie zu spät zu sein, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit durch neue Herausforderungen zu trainieren. Es handelt sich gewissermaßen um eine Optimierung, die durch plastische Anpassungsprozesse zu Stande kommt und die das Bestmögliche trotz irreversibler degenerativer Einbußen herausholt (vgl. Dinse 2008, 60–62). David Sinclair und Leon Kass einschließlich ihres Lehrers Lenny Guarente haben ein moderates ungefähr 30%iges Anwachsen der menschlichen Lebensspanne in der nächsten Zeit auf Grund von biomedizinischer Intervention vorhergesagt. Kass propagiert eine extreme oder unendliche Lebensverlängerung und hat sein Projekt Coping With Methuselah (Nachmachen von Methusalem) genannt (vgl. Grey 2004, 723). Die Verjüngungstherapie erscheint technisch leicht durchführbar und ist bei größeren Lebensspannen ebenfalls durchzuführen. Die These einer Kopie von Methusalem ist vor allem demographisch orientiert. Die extreme Lebenserwartung könnte bald genug eintreten, sodass davon bereits lebende Menschen profitieren. So könnte in den nächsten 25 Jahren eine Steigerung auf 100 Jahre Lebenserwartung durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Dies wird zu unermesslichem ökonomischen Wandel in der Gesellschaft führen, nämlich zur Eliminierung von Rente und Ruhestandsgehältern (vgl. Grey 2004, 724–726). Ein Menschheitstraum: Vitalität, Gesundheit und ein langes Leben. Theoretisch ließe sich der Alterungsprozess wohl verzögern. Wirksame Therapien müssten allerdings den Kampf gegen viele zerstörerische biochemische Prozesse gleichzeitig aufnehmen. In den vergangenen 150 Jahren ist dank Hygiene und Medikamenten gegen die Infektionskrankheiten die Lebenserwartung in den Industrieländern erheblich gestiegen. Diese Erfolge aber verhindern nur ein zu frühes Sterben. Keine Therapie kann bisher den genetisch determinierten Alterungsprozess verlangsamen, den allmählichen Verlust körperlicher Funktionen. Gebrechlichkeit bleibt das Los der meisten Menschen über 80. Doch ist es offenbar nicht prinzipiell unmög-
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lich, den Alterungsprozess aufzuschieben. Denn experimentell ist dies in den letzten Jahrzehnten bei verschiedenen Tierarten gelungen. Die verwendeten Methoden lassen sich jedoch nicht auf den Menschen anwenden. Gene für Krankheiten, die sich erst nach der Reproduktionsphase bei sexueller Vermehrung auswirken, können von der natürlichen Auslese nicht erfasst werden. Irgendwann im Laufe dieses Jahrhunderts wird es wohl gelingen, den menschlichen Alterungsprozess erstmals nennenswert hinauszuzögern. Dabei entstehen eine Reihe ethischer und sozialer Fragen. Werden sich die sozialen Sicherungssysteme anpassen? Was wird aus der Altersrente mit 65 oder 67? Was aus der Erwartung unserer Kinder, dass wir sterben und ihnen ein Erbe hinterlassen? Wird die Überbevölkerung noch zunehmen? Ist es sogar vielleicht unmoralisch, wenn sich die Betagten so ans Leben klammern? (vgl. Rose 2008, 10 f.). Die medizinischen Technologien für Langlebigkeit, z. B. therapeutische Stammzellentherapie, regenerative Medizin und die neuen Reproduktionstechnologien, basieren auf dem Versprechen einer Verlängerung des Lebens (vgl. Turner 2007, 19). 5.2 LANGZEITPFLEGE, ALTERSSUIZID, ÄRZTLICHE STERBEBEGLEITUNG, DAS STERBENDE KIND Die gezielten massenprophylaktischen Möglichkeiten (z. B. Impfung) zur Eindämmung von bislang eine hohe Morbidität und Mortalität bereits im Kindesalter verursachenden Infektionserkrankungen sowie die zunehmend effektive Behandlung akuter Erkrankungen haben seit dem beginnenden 20. Jahrhundert nicht unwesentlich zu der sich seitdem abzeichnenden Tendenz einer eminent steigenden durchschnittlichen Überlebenszeit und damit eines erreichbaren hohen Lebensalters für die Gesamtbevölkerung beigetragen. Damit einher ging zugleich die Herausforderung der Medizin, sich in Diagnostik und Therapie auf die nun häufiger chronisch manifestierten Krankheitsverläufe auszurichten sowie sich der Menschen im höheren/hohen Lebensalter mit mehreren (chronischen) Begleiterkrankungen anzunehmen. Für das ärztliche Handeln bedeutete dies aber nicht nur eine „Umstellung“ auf Krankheiten, die überwiegend erst im höheren Erwachsenenalter auftreten bzw. sich manifestieren, sondern vor allem ein Umdenken der Ärzte in ihrem Anspruch, eine Krankheit heilen zu wollen und zu können. Dauerhaft Kranken kann zwar bis zu einem gewissen Grad geholfen, sie können jedoch nicht geheilt werden. Die Überschneidung mehrerer/verschiedener ethischer Problemfelder wird bei dem gerade auch dem medizinischen Fortschritt zu verdankenden „Phänomen“ des alten Menschen bzw. Patienten überdeutlich. Umstritten ist bereits die Definition des Alters, zumal sie nicht primär vom biologischen (physiologischen) Vorgang des Alterns ausgeht, sondern vom soziokulturellen Verständnis geprägt ist. Altern – was nach neuerer Auffassung unmittelbar nach der Vereinigung von Samen- und Eizelle beginnt und mit dem Tod endet – ist nicht zwangsläufig mit Krankheit verbunden, aber die mit dem Altern einhergehende verringerte Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit des Organismus führt zu einer erhöhten Störungsanfälligkeit. Das Alter ist somit ein bedeutender Risikofaktor für die Gesundheit; in Abhängigkeit vom Alter
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kommt es zu physiologischen Veränderungen der Organsysteme und die Prävalenz von (altersassoziierten) Erkrankungen steigt an. Typische altersassoziierte Erkrankungen sind etwa Arthrose, Herzleiden und Krebs, während z. B. Asthma nicht altersbezogen ist. Der „Scheitelpunkt“ physiologischer Veränderungen (wie renaler Plasmafluss, max. Atemzeitvolumen, Vitalkapazität, Nervenleitgeschwindigkeit, Muskelkraft bzw. Herzminutenvolumen) liegt bereits zwischen dem 1. und 30. Lebensjahr. Wollte man also „Alter“ im Sinne eines degenerativen Abschnitts des Alterns nur nach den physiologischen Veränderungen definieren, würde die Festlegung auf ein bestimmtes Lebensalter weit vorverlegt werden müssen. Aber Altern ist auch von nicht-biologischen Faktoren abhängig und in seiner gesellschaftlichen Relevanz hat nicht die Bestimmung des biologischen Alters des Individuums Vorrang. In der westlichen Welt wird Alter meistens sozial definiert und häufig am Renteneintritt („Ruhestand“ als dritte Phase der klassischen Dreiteilung des Lebenslaufes nach der Phase „Bildung“ und „Arbeit“) bemessen. In Abhängigkeit verschiedener und sich qualitativ verändernder Einflussfaktoren auf den Alterungsprozess (biologisch die Abnahme der Adaptionsfähigkeit und Zunahme der Störungsanfälligkeit des Organismus, individuelle Pläne und Ziele, gesellschaftliche Rahmenbedingungen) wird inzwischen eine neue/weitere Differenzierung der Phase des Alters gefordert. Vom Deutschen Zentrum für Altersfragen wird etwa vorgeschlagen zu unterscheiden nach: (1) „reifes Erwachsenenalter“ (Ende des zweiten Lebensalters), was dem chronologischen Alter ab 50/55 Jahren entspricht und charakterisiert wird von Berufserfahrung und Kompetenz, gegebenenfalls gesundheitlichen Einbußen, aber mit hoher interindividueller Variabilität, (2) „drittes Lebensalter“, etwa ab 60/65 Jahren, Übergang in den Ruhestand, in der Regel gute Gesundheit und vielfältige Aktivitäten, hohe interindividuelle Variabilität, und (3) „viertes Lebensalter“, etwa ab 80/85 Jahren, erhöhtes Risiko für Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit und Demenz, hohe interindividuelle Variabilität (vgl. Tesch-Römer 2006, 21). Auch wenn sich Alter nicht standardisieren lässt und die „Gruppen“ inhomogen sind (z. B. durch unterschiedlichen Wohlstand gekennzeichnet), werden mit der dem Vorschlag zugrundeliegenden Studie sowohl die sich immer noch hartnäckig haltenden Vorurteile über das Alter (v. a. in der Wirtschaft – wie weniger belastbar, weniger innovativ, unflexibel) widerlegt, als auch die individuellen Bedürfnisse des alten Menschen in den Blick genommen. Daraus lässt sich letztlich auch begründend ableiten, dass der alte Mensch eine ausgeprägte Individualmedizin benötigt. Die aus (medizin-)ethischer Sicht zu stellende Frage ist, inwieweit aus der Alters-Definition und aufgrund der generellen gesellschaftlichen „Wertigkeit“ von (hohem) Alter etwaige Konsequenzen im – individuellen, sozialen, kulturellen – Umgang mit dem Patienten und für die Bereitschaft zur Hilfestellung einschließlich Qualität und Kosten medizinischer Behandlung für den Patienten resultieren. Die Medizin ist nicht vorrangig mit den gesunden und aktiven Senioren, sondern mit den multimorbiden Patienten konfrontiert, weshalb dort besonders ausgeprägte negative Altersbilder existieren (vgl. Riha 2008, 156), was wiederum Einfluss auf die Therapieentscheidung und letztlich Zuweisung und Verteilung medizinischer Leistung haben könnte. Als Negativfaktoren, die das Altersbild prägen, werden genannt: Multimorbidität, mehrere Ursachen für ein Symptom (Multikausalität), verschie-
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dene Krankheitsverläufe, die unabhängig voneinander zum Tode führen können (Multifinalität), Verminderung des Intellekts/der Kommunikationsfähigkeit, Immobilität, Intoleranz z. B. gegenüber Medikamenten, physische und psychische Instabilität, Inkontinenz, iatrogene Störungen. Daraus ergeben sich nicht nur Herausforderungen des Arztes hinsichtlich seiner medizinischen Fachkenntnisse und des angemessenen Aufwandes an einzusetzenden diagnostischen und therapeutischen Mitteln und Möglichkeiten, sondern auch hinsichtlich seines (psychologischen) Einfühlungsvermögens, seiner Empathie sowie Zuwendung (was auch den Zeitfaktor einschließt) für den Patienten. Seine grundsätzliche Pflicht und Aufgabe – nämlich unter Achtung des Selbstbestimmungsrechtes und der Würde des Patienten, der Gleichbehandlung und SchadenNutzen-Abwägung Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern – kann und darf der Arzt auch nicht beim alten, multimorbiden Patienten einschränken, nur weil etwa dessen sogenannte Compliance (kooperatives Verhalten im Rahmen der Therapie/Bereitschaft, sich gegen die Erkrankung zur Wehr zu setzen) infolge der genannten Faktoren vermindert ist bzw. vom Arzt als fraglich eingeschätzt wird. Es gibt jedoch Situationen – so in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung formuliert (2011, 346) –, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sind. Dieses Problem stellt sich aber nicht nur in der medizinischen Behandlung des alten (multimorbiden) oder sterbenden Menschen. Der Glaube an die Machbarkeit aller Dinge und der damit einhergehende Versuch, alle Behandlungsmöglichkeiten für den Patienten in vollem Umfang und mit allen Mitteln gemäß dem Auftrag des Arztes auszuschöpfen, könne (vgl. Fritsche 2000, 33) uns auf einen Irrweg führen, so dass eine gewollte Handlung der Humanität sich in eine inhumane Verhaltensweise umkehrt. Der Arzt müsse auch die Grenzen des Menschenmöglichen, also auch seines Vermögens, und seines Heilauftrages erkennen. Wenn die Begrenzung von Diagnostik und Therapieverfahren geboten ist, dann tritt eine palliativmedizinische Versorgung in den Vordergrund. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden. Palliativmedizin ist nach Definition der WHO „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“ (Deutsche Krebshilfe 2013, 7). Palliativmedizin ist also nicht, wie oft fälschlich angenommen oder vermittelt, ausschließlich auf die Sterbebegleitung, schon gar nicht auf Sterbehilfe (vgl. Kap. 6.3) ausgerichtet und schließt auch nicht nur den alten Kranken in die Behandlungsoptionen ein. Vielmehr geht es hierbei um medizinische und pflegerische Maßnahmen, die nur gegen die Symptome und nicht gegen die Ursachen einer Erkrankung wirken; es besteht kein kuratives Therapieziel. Im Vordergrund der Behandlung steht der Erhalt der Lebensqualität, nicht die Lebensverlängerung um je-
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den Preis. Die Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsstadien leiden unter Schmerzen, Müdigkeit, Schwäche, Übelkeit und anderen Symptomen, die so belastend sein können, dass das Leben unerträglich zu sein scheint. Mit einer unterstützenden Behandlung (Supportivtherapie) – Medikamenten, Palliativoperationen, palliativpflegerischen, physio- und psychotherapeutischen sowie physikalischen Maßnahmen – können diese Beschwerden oft soweit gelindert werden, dass das Erleben nicht nur auf das Leiden eingeschränkt ist, wieder andere Gedanken und Tätigkeiten möglich sind und die verbleibende Lebenszeit wieder als lebenswert empfunden wird. Supportivtherapie z. B. bei Patienten mit einer Tumorerkrankung (das sind die meisten Patienten, die zurzeit in Deutschland palliativmedizinisch behandelt werden müssen; vgl. Dt. Krebshilfe 2013) bedeutet, dass Nebenwirkungen oder Komplikationen, die infolge der Krebsbehandlung auftreten können, vermieden oder beseitigt werden. Typische Beispiele hierfür sind die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie oder einer Pilzerkrankung nach einer Strahlenbehandlung. Für die Behandlung von Schmerzen, aber auch anderer Symptome wie Atemnot und Übelkeit, sind Stufenpläne erarbeitet worden (siehe Empfehlungen der WHO), nach denen der Einsatz z. B. von Schmerzmitteln nach Applikationsart (oral), als Dauertherapie (in festgelegten zeitlichen Abständen, nicht nur Bedarfsmedikation) und entsprechend ihrer analgetischen Wirkung empfohlen ist (Leitlinien). Entsprechend der „analgetischen Stufenleiter“ wird nach dem Schweregrad der Schmerzen differenziert, das heißt, dass bei leichten Schmerzen Medikamente der Stufe 1 (Nichtopioide, z. B. Metamizol), bei mittelstarken bis starken Schmerzen die Anwendung schwacher Opioide wie Tramadol in Kombination mit Nichtopioiden (Medikamente der Stufe 2) und in der Stufe 3 die starken Opioide in Kombination mit Nichtopioiden empfohlen werden. Palliativversorgung beschränkt sich aber nicht nur auf ‚rein‘ medizinische Maßnahmen, sondern umfasst darüber hinaus die pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung des Menschen. Leider werden die Möglichkeiten der Palliativmedizin noch weitgehend unterschätzt, so dass sowohl entsprechende Stationen als auch das speziell geschulte Personal noch in nur ungenügender Zahl vorhanden sind. Die Qualität und das Ausmaß palliativer Versorgung und Betreuung sind demnach nicht nur abhängig von der ärztlich-ethischen Einstellung zur medizinischen Behandlung Kranker ohne kurative Zielstellung. Sie werden maßgeblich auch von ethisch relevanten gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen bestimmt, etwa bei der Frage nach der generellen Ausrichtung von Gesundheitsversorgung – vordergründig auf Lebensverlängerung oder Lebensqualität –, nach der Verantwortlichkeit/Zuständigkeit und damit zugleich nach der Zuweisung bzw. Verteilungsgerechtigkeit von Ressourcen innerhalb des (öffentlichen) Gesundheitswesens. Hinsichtlich des Betreuungsgrades, d. h. nach Anzahl und Verteilung stationärer und ambulanter Dienste/Einrichtungen, ist die palliativmedizinische Versorgung in Deutschland noch vergleichsweise (regional) unterentwickelt, wobei sich die zunächst vorrangig an der modernen Hospizbewegung orientierte Ausrichtung überhaupt erst seit den 1990er Jahren hier durchzusetzen begann. Die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert zumindest in der wissenschaftlichen Literatur nachvollziehbaren palliativmedizinischen Bemühungen (palliative Krankheitsbehandlung/
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ärztliche Sterbebegleitung) traten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Etablierung und den Erfolgen der modernen, naturwissenschaftlich fundierten Medizin in den Hintergrund und fanden letztlich erst mit dem 1967 von der englischen Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders (1918–2005) begründeten St. Christopher Hospiz in London ihre praktische und moderne Umsetzung. In Deutschland wurde die erste Palliativstation 1983 an der Kölner Universitätsklinik, das erste stationäre Hospiz 1986 in Aachen gegründet. Die folgenden stationären Hospize waren zumeist von Bürgerinitiativen, Vereinen und kirchlichen Einrichtungen begründet und anfangs fast ausschließlich mit Spendengeldern finanziert sowie durch ehrenamtliche Mitarbeit unterstützt worden. 1994 hatte sich als neue und eigenständige medizinische Fachgesellschaft die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin konstituiert; 1999 wurde der erste Lehrstuhl für Palliativmedizin (Universität Bonn) und 2008 der erste Lehrstuhl für „Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin“ (Universität WittenHerdecke) eingerichtet. Die Entwicklung palliativmedizinischer Versorgung ist also sowohl wissenschaftlich-inhaltlich als auch organisatorisch eher erst neueren Datums. Da Palliativmedizin inzwischen nicht nur wissenschaftlich anerkannt, sondern auch als eine Aufgabe der öffentlichen Gesundheitsversorgung erkannt wurde, dürfte/müsste die verstärkte Bereitstellung öffentlicher Mittel auch zur Installation stationärer und ambulanter Einrichtungen der Palliativversorgung im besonderen gesellschaftlichen bzw. staatlichen Interesse liegen. Ein eher der qualitativen Situation geschuldetes ethisches Problem stellt (noch oder gerade heute) die Langzeitpflege dar, vor allem deshalb, weil die damit einhergehende Abhängigkeit von anderen Personen (Pflegepersonal, pflegende Angehörige) und Einordnung in eine Institution (bei stationärer Betreuung) dem heutigen Verständnis von Autonomie, Intimität, Lebensqualität und Würde widerspricht. Die Notwendigkeit und Pflicht zur Hilfeleistung ist unbestritten, die Frage ist, inwieweit trotz der unvermeidlichen Abhängigkeit dennoch die Selbstbestimmung und Würde des Patienten gewahrt wird bzw. gewahrt werden kann. Weit mehr noch als die Ausstattung (Komfort) der Pflegeeinrichtung ist für den – hier vorwiegend alten – Patienten Umfang und Qualität der Pflegeleistungen entscheidend, die eben nicht nur mit der sogenannten Grundpflege – wie Körperpflege, An- und Auskleiden, Lagern des Kranken – abgegolten ist. Die noch häufig praktizierte „3-S-Regel“ – satt, still, sauber – beinhaltet noch nicht einmal alle zu berücksichtigenden Grundbedürfnisse, geschweige denn, dass hiermit die entscheidenden ethischen Kriterien und Ansprüche erfüllt wären. Dies dürfte auch einer der wesentlichen Gründe sein, weshalb Langzeitpflege oder schon die drohende Pflegebedürftigkeit vielfach das Schreckensbild des Alters schlechthin (Riha 2008, 157) darstellt. Insbesondere problematisch ist der Umgang mit pflegebedürftigen Patienten, bei denen psychische Störungen bzw. Krankheiten vorliegen. Viele psychische Erkrankungen werden nicht diagnostiziert, zumal es vielfach fließende Übergänge etwa einer Persönlichkeitsstörung oder chronischer Schmerzen zur Depression gibt, und manifeste psychische Krankheiten mit ihren symptomatischen Ausprägungen wie Verstimmung, Rückzug, Antriebslosigkeit werden häufig nur als altersbedingte
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persönliche/charakterliche Eigenheiten missverstanden. Es ist davon auszugehen, dass für psychische Erkrankungen, beispielsweise eine Depression, sowohl eine innere (genetisch determinierte) als auch äußere Ursache besteht, d. h. ein für Depression anfälliger Patient wird durch seine Lebensumstände depressiv. Eine Depression nimmt im Alter nicht zu, sie wird nur bei alten Menschen öfter verkannt. Andererseits ist nun nicht jeder alte Mensch zugleich auch psychisch krank, bloß weil er alt und pflegebedürftig ist. Das Leiden beschränkt sich also nicht nur auf eine „echte“ psychische Krankheit, sondern die Patienten haben schon eine lange Vorgeschichte von Einsamkeit und (körperlicher) Krankheit, viele leiden auch darunter, ihren Angehörigen (real oder auch nur befürchtet) eine physische, psychische oder auch finanzielle Belastung zu sein. Diese Leidensgeschichte und Ängste, negative Erwartungshaltungen in den Vorstellungen einer drohenden Pflegebedürftigkeit und das Misstrauen gegenüber Pflegeeinrichtungen sind ein nicht unwesentlicher Grund für einen eingeschränkten Lebenswillen oder das Gefühl der Sinnlosigkeit des weiteren Lebens, was sich nicht zuletzt im (Alters)Suizid bzw. Suizidversuch äußern kann. Bilanzsuizide sind im höheren Alter häufiger als bei Jüngeren. Zwar würden laut wissenschaftlicher Studien Lebenskrisen, Versagensängste oder der wirtschaftliche Ruin als alleiniger Hintergrund eines Suizids nur in ca. 5 bis 10 % der Fälle vorkommen und nahezu 90 % aller Suizide in westlichen Gesellschaften seien auf diagnostizierbare psychische Erkrankungen zurückzuführen. Da die Diagnose aber häufig erst nach einem erfolgten Suizid als Verdachtsdiagnose gestellt wird und hierfür nur die Suizidhandlung an sich und die Beschreibungen von Angehörigen herangezogen werden können, ist diese Aussage zumindest fragwürdig (zu Suizid/ärztlich assistierter Suizid siehe auch Kap. 6.3.). Vereinsamung und Mangel an Selbstbestimmtheit sind auch die beiden Hauptvorwürfe, die die Kritiker in der Diskussion um die „Würde“ im Sterben vorbringen. Das Sterben, seine Umstände und seine Wahrnehmung haben sich in der Gegenwart nachhaltig verändert, wofür mehrere, sich oft bedingende, Faktoren benannt werden (vgl. Schöne-Seifert 2007, 109): Das Sterben wird zunehmend medizinisch überwacht, so dass gegenwärtig Patienten seltener zu Hause und häufiger in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sterben (vgl. Nationaler Ethikrat 2006), was wiederum ein Grund dafür ist, dass Sterben heutzutage einsamer erfolgt. Gleichzeitig wirksam und von ursächlichem Einfluss sind die zunehmende Säkularisierung des Sterbens (keine Rituale des Abschieds, keine Trostformeln mehr) und die fortschreitende Auflösung engerer familiärer Lebensformen. Darüber hinaus haben auch die derzeitigen Möglichkeiten, das Sterben bis in Phasen hochgradigen körperlichen und geistigen Verfalls aufzuschieben, zu einer gewissen Tabuisierung des Problems Sterben im Arzt-Patienten-Verhältnis heutiger Prägung geführt. Noch unter der hippokratischen Medizin gehörte die Prognose des Krankheitsverlaufs – also auch die Bestimmung bzw. Voraussage einer zum Tode führenden Krankheit – zur wichtigsten Aufgabe ärztlicher Tätigkeit, da der Arzt um die Begrenztheit seiner (medizinischen) Möglichkeiten wusste und er häufig den Patienten seinem Schicksal und der Fürsorge seiner Angehörigen überlassen musste.
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Dank des medizinischen Fortschritts sind Krankheiten heute nicht nur sicherer erkennbar, sondern auch häufiger heilbar bzw. kann ihr Verlauf verzögert, abgemildert und die Lebenszeit verlängert werden. Diese Erfolge haben aber zugleich zum Glauben an den unbegrenzten medizinisch-technischen Fortschritt und zur Überschätzung des Machbaren verführt. Und obwohl es absolute Gewissheit ist, dass jeder Mensch einmal sterben muss, soll dies nicht aufgrund der Fehlbarkeit von Medizin und ärztlichem Handeln, d. h. nicht aufgrund einer Krankheit, passieren. Offensichtlich wird Sterben und Tod vielfach – von den Ärzten selbst – als Schuldeingeständnis angesehen, nicht ausreichend geholfen zu haben. Und diese Haltung berührt das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht nur deshalb eminent, weil über das Sterben wohl noch weitgehend geschwiegen wird, sondern weil die Selbstbestimmung des Patienten mittelbar und unmittelbar eingeschränkt werden könnte. Vorrang bei der Entscheidung für oder gegen medizinische Interventionen hat immer der Wille des Patienten, auch in der Phase des Sterbens. Dies enthebt den Arzt allerdings auch weiterhin nicht von seiner Pflicht zur Nutzen-Schaden-Abwägung, d. h. er hat – in Absprache mit dem Patienten – über die Fortsetzung oder den Abbruch einer kurativen Therapie in Abhängigkeit davon zu entscheiden, ob die medizinischen Bemühungen in dieser Situation des Patienten noch sinnvoll sind, also zu einer Verbesserungen des Gesundheitszustandes des Patienten führen können, oder im Gegenteil nur eine zusätzliche Belastung (evtl. sogar einhergehend mit einer Verschlechterung der Lebensqualität) für den Patienten darstellen. Umso wichtiger ist es, bei der ärztlichen Sterbebegleitung einige Grundsätze zu beachten (vgl. Riha 2008, 158; siehe auch unter Palliativmedizin): Die medizinische und pflegerische Zuwendung wird fortgesetzt, wobei der Schwerpunkt auf dem Erhalt der Lebensqualität (z. B. durch optimale Schmerztherapie) liegt. Dies berührt auch die pflegerische Grundversorgung, etwa die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr des Patienten. Sterbende haben weder Hunger noch Durst, weshalb eine rein „formale“ Versorgung zur Absicherung der „Bilanz“ hier geradezu abwegig ist. Wichtiger ist die Beachtung individueller Bedürfnisse bzw. Anzeichen von Missbefinden (z. B. oft quälende Mundtrockenheit). Nicht selten wird von Sterbenden auch bewusst die Nahrungsaufnahme verweigert. Eine künstliche Zwangsernährung, z. B. perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), ist in diesem Falle grundsätzlich ausgeschlossen, auch wenn dadurch der Zeitpunkt des Todeseintritts vorverlegt würde. Schwieriger ist die Entscheidung, wenn der Patient/Sterbende seinen Willen nicht mehr äußern kann, etwa im Zustand des sog. Wachkomas (vgl. passive Sterbehilfe Kap. 6.3). Da die Patienten an körperlichen Einschränkungen und damit zugleich an ihrer Abhängigkeit von Fremden leiden, ist ihnen in besonderem Maße mit Freundlichkeit und Respekt zu begegnen. Es mag in diesem Zusammenhang zwar nur ein marginales, allerdings recht häufig anzutreffendes Phänomen sein, dass vor allem ältere pflegebedürftige oder sterbende Patienten vom Pflegepersonal geduzt oder mit „Oma“/„Opa“ betitelt werden, obwohl der Patient hierfür weder die Veranlassung noch die Berechtigung gegeben hat. Diese wohl eher gedankenlose, wenngleich durchaus eine Wertvorstellung offenbarende Verhaltensweise ist nicht mit der geforderten Freundlichkeit und Zuwendung gegenüber dem Patienten zu verwechseln.
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Zuwendung ist vielmehr ein Grundprinzip, um der häufig bestehenden existenziellen Einsamkeit Sterbender zu begegnen, um dafür zu sorgen, dass Sterbende nicht allein sind oder sich allein gelassen fühlen. Hierbei sind insbesondere auch die Angehörigen einzubeziehen und zu ermutigen, mit dem Patienten zu reden (und den Patienten auch zu Wort kommen zu lassen, da er bestimmte Dinge noch „loswerden“ will), oder auch Hilfe bei der Krankenhausseelsorge, bei Hospizvereinen, über den psychosozialen Dienst zu erbitten. Noch (ethisch) umstritten ist die sogenannte terminale Sedierung bei sehr unruhigen, ängstlichen und körperlich schwer beeinträchtigten Patienten. Palliativmediziner verstehen unter der terminalen Sedierung die Verabreichung von Medikamenten, die das Bewusstsein sterbender Patienten dämpfen oder auch völlig ausschalten, um belastende Symptome wie Angst oder Schmerzen zu lindern und die Phase bis zum Eintritt des Todes erträglicher zu machen. Sie wird als Bestandteil der Symptomkontrolle gesehen, die bei Beachtung der palliativmedizinischen Standards nicht zur Lebensverkürzung führe. Letzteres wird allerdings in der medizinethischen Literatur kontrovers und kritisch diskutiert und die Frage aufgeworfen, ob und wann terminale Sedierung bereits der Sterbehilfe (vgl. Kap. 6.3.), die den Zeitpunkt des Sterbens bzw. Todeseintritts gezielt oder in Kauf nehmend vorverlegt, zuzuordnen ist. Nach Frewer (2005, 813 f.) sei die medizinethische Bewertung der Sedierung am Lebensende von den genauen zeitlichen Abläufen der Sedierung sowie von der Wahl der therapeutischen Optionen bei Ernährung und Flüssigkeitszufuhr abhängig. Bei intermittierender Form der Sedierung erlangen die Patienten zwischenzeitlich wieder das Bewusstsein und können neu entscheiden. In diesen Fällen sollte besser von einer „palliativen“ Sedierung gesprochen werden. Um eine terminale Form handelt es sich nur, wenn der Tod während der Sedierung eintritt. Grundsätzlich aber sollen Maßnahmen der Therapiebegrenzung nicht zur Ausgrenzung der Sterbenden führen, sondern zu einem bewussten und fürsorglichen Umgang mit ihnen beitragen. Doch ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung aller Beteiligten mit dem Sterben und eine gute menschliche Betreuung wäre ein menschenwürdiger Umgang mit schwer kranken und sterbenden Patienten nicht möglich (Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 78), was gleichermaßen für Betroffene jeden Alters gilt, auch für sehr junge Menschen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit konnte insbesondere seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert infolge der medizinischen, hygienischen und sozialen Entwicklung deutlich gesenkt werden. Erreichte im westeuropäischen Mittelalter über die Hälfte aller Kinder noch nicht einmal das 14. Lebensjahr, lag die Kindersterblichkeit8 1870 in Deutschland bei 25 % und sank bis 1930 auf unter 10 %, bis 1970 auf etwa 2,5 %. Wohl vor allem auch auf die Weiterentwicklung der Geburtsund Perinatalmedizin zurückzuführen ist, dass derzeit nur noch weniger als vier 8
Die Kindersterblichkeit berechnet sich nach dem Anteil der Kinder, die im Alter von 1 bis 5 Jahren gestorben sind, bezogen auf 1.000 Lebendgeburten. Die Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahr (also von Geburt bis zum vollendeten 1. Lebensjahr) wird als Säuglingssterblichkeit bezeichnet; sie lag 2012 für Deutschland bei 0,3 % (673.544 Lebendgeborene, 2.202 Gestorbene im 1. Lebensjahr; siehe Angaben des Statistischen Bundesamtes 2013).
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Sterbefälle von Kindern im Alter von ein bis fünf Jahren bezogen auf 1.000 Lebendgeborene registriert werden müssen. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes sind in Deutschland 2011 insgesamt 951 Kinder im Alter von ein bis 17 Jahren gestorben9. Verglichen selbst schon mit folgenden Altersjahrgängen ist die Sterberate im Kindes- und Jugendalter deutlich am geringsten. Dementsprechend werden das Sterben und der (drohende) Tod eines sehr jungen Menschen auch deshalb als besonders gravierend und „ungerecht“ empfunden, weil nach der allgemeinen Wahrnehmung nur Alte sterben. Die besondere Belastung bei der Betreuung und Begleitung schwer kranker und sterbender Kinder resultiert vor allem aber aus der Unsicherheit im Umgang mit den Patienten im Kindesalter und der Angst vor Emotionen und Kontrollverlust. Die Überzeugung des Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856–1939), „die Furcht vor dem Tod ist dem Kind fremd“, habe – so Dietrich Niethammer (2008) – noch bis in die 1980er Jahre hinein das Verhältnis zwischen den schwer kranken Kindern/Jugendlichen und den Eltern, Familienangehörigen, Ärzten und Psychologen geprägt und Kindern den offenen Umgang mit deren Krankheit verwehrt. Denn Sterben und Tod würden die Kinder nicht verstehen und sie müssten sogar vor einer Auseinandersetzung mit dem Geschehen bewahrt werden. Es war und ist mitunter noch heute üblich, dass somit ängstlich vermieden wurde, mit den Kindern über die Krankheit und deren Bedrohlichkeit oder gar über das mögliche Sterben zu reden. Und die Kinder redeten nicht, weil sie ihre Eltern schonten, weil sie spürten, welchen Schrecken sie ihnen einjagen würden, wenn sie über ihre eigenen Ängste reden würden. „So blieben die Kinder in ihrer Not alleine, und es kam fast konsequent zum Schweigen der Kinder, wenn sie sterben mußten“ (Niethammer 2000, 99). Kinder entwickeln in der Regel erst mit neun Jahren eine eigene reale Vorstellung vom Tod, Kleinkinder erleben den Tod noch eher als reversible Trennung. Mit dem Schuleintritt erahnen Kinder die Endgültigkeit und im Grundschulalter sind schon Ängste vor Tod und Sterben möglich (Riha 2008, 158). Kranke Kinder hingegen erkennen (früher) den Zusammenhang zwischen der Erkrankung, einer Lebensbedrohung und einem vorzeitigen Lebensende. Kinder haben eine lebhafte Phantasie und entwickeln magische Vorstellungen vom Unbekannten, so dass es für sie keineswegs schonend ist, wenn ihnen nicht wahrheitsgemäß gesagt wird, was auf sie zukommt, und sie fürchten müssten, dass die Eltern mehr und schlimmere Dinge wissen oder sie schreckliche ungeahnte Behandlungen zu erwarten haben. Das Kind soll also von Anfang an über seine Krankheit informiert werden, nur das ‚Wie‘ ist altersabhängig. Niethammer schlägt vor, mit dem Kind einen „Vertrag“ zu schließen, an den sich alle (gemeint sind hier vorrangig die behandelnden/betreuenden Ärzte und Psychologen) grundsätzlich halten und der beinhalten sollte: Du kannst immer alles wissen, auch wenn es schlimm ist. Wir werden Dich niemals belügen. Wir werden versuchen, Dich und Deine Eltern mit Euren Problemen nie 9
2011 waren je Altersjahrgang durchschnittlich 42 Kinder verstorben, mit Ausnahme der 1Jährigen mit 105, sowie der 16- und 17Jährigen mit 111 bzw. 140 Verstorbenen; die niedrigste Sterberate in der Altersgruppe der 1–17Jährigen wurde für Kinder im Alter von 7 Jahren (27 Verstorbene) ausgewiesen.
5.2 Langzeitpflege, Alterssuizid, ärztliche Sterbebegleitung, das sterbende Kind
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allein zu lassen. Du wirst nie auch nur einen Tag unnötig in der Klinik sein (Niethammer 2000, 99 f.). Fast alle Kinder möchten ihr Lebensende zu Hause verbringen, aber nicht immer (angegeben wird, nur zur Hälfte aller Fälle) geht der Wunsch in Erfüllung, was insbesondere darauf zurückgeführt wird, dass die wenigsten Kliniken in Deutschland den Eltern eine ambulante häusliche Palliativversorgung mit der Option zur kurzfristigen stationären Behandlung im akuten Notfall zusichern können. Noch zu häufig verbleiben die Kinder bis zum Tod in der Klinik und die Hälfte aller Kinder, die zum Sterben auf einer onkologischen Station weilen, würden aufgrund der Klinikstrukturen kurz vor dem Tod sogar noch auf der Intensivstation behandelt. Dass dieses Argument nicht von der Hand zu weisen ist, bezeugt das Beispiel Großbritannien, wo ein höherer palliativmedizinischer Versorgungsgrad generell und speziell für Kinder besteht und 75 % der Kinder zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung versterben (Hübener 2004). Dies dürfte aber nicht ausschließlich nur auf die Quantität, d. h. die Anzahl bestehender stationärer und ambulanter palliativmedizinischer Dienste, zurückzuführen sein, sondern vor allem auch auf die Kindern und Eltern gewährte qualifizierte Hilfestellung bei der Betreuung und Begleitung des sterbenden Kindes. Selbst wenn mit dem Kind alles besprochen ist, wenn ihm die Sicherheit gegeben wurde, geliebt und beruhigt Abschied nehmen zu können, wenn es keine Todes- und Trennungsängste hat, sind es oftmals die Eltern, die mit der Situation überfordert sind, ihrem Kind beim Sterben unmittelbar vor dem Tod (begleitet vielleicht von Erstickungsanfällen) zusehen zu müssen und nichts mehr tun zu können. Für die Eltern ist es dann eine größere Sicherheit und Entlastung, das Kind in intensivmedizinischer Betreuung zu wissen. Und das Kliniksystem kommt diesem Bedürfnis entgegen. Die Herausforderung in der palliativen Betreuung von Kindern sind die altersabhängig unterschiedlichen Bedürfnisse und die Vielfalt der Erkrankungen. Abgesehen davon, dass ein schwer krankes/sterbendes Kind der fachspezifischen pädiatrischen Betreuung bedarf und dementsprechend auch eigene, spezielle Hospize bzw. palliativmedizinische Stationen und ambulante Dienste notwendig sind, gibt es entsprechend der Bedürfnisse des Kindes erfahrungsgemäß auch deutliche Unterschiede hinsichtlich der palliativmedizinischen Behandlungsoptionen. So würde eine große Anzahl von Kindern eine Schmerztherapie gar nicht wollen, „weil sie lieber Schmerzen haben und ganz wach sind“ (zit. n. Hübener 2004). Insofern hat Palliativmedizin auch die Autonomie, den Willen und die Bedürfnisse des Kindes zu respektieren und zu berücksichtigen, und bei etwaigen widersprechenden Interessen gemeinsam mit den Eltern eine vom Wohl des Kindes bestimmte Konfliktlösung herbeizuführen.
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5. Ethische Probleme am Lebensende
5.3 DER STERBENDE PATIENT, AKTIVE UND PASSIVE STERBEHILFE, ÄRZTLICH ASSISTIERTER SUIZID Der Tod ist das unabwendbare Schicksal aller Lebewesen und damit auch aller Menschen und stellt einen Zustand dar, nämlich der definitiven Abwesenheit der Lebenserscheinungen. Der Tod als unabänderliches Ende des Lebens ist durchaus – wenngleich ohne eigene Erfahrung – im Bewusstsein der Menschen verhaftet, doch hat sich der Anspruch, zumindest der Wunsch, wie der Eintritt des Todes „erlebt“ werden möchte, gewandelt. Viele Menschen wünschen sich einen einfachen, natürlichen, unverhofften, schnellen, schmerzlosen Tod – das ist an sich nicht neu und nicht spezifisch erst für unsere heutige Zeit. Vielmehr hat sich die Akzentuierung von der Selbstverständlichkeit und damit auch Schicksalsergebenheit, also nicht selbst für den Tod verantwortlich zu sein, verschoben in Richtung einer Plan- und Kontrollierbarkeit des Todes. Letztlich kommt damit aber gar nicht so sehr die aus der Ungewissheit resultierende Angst vor dem Tod per se, sondern vor der Phase bis zum Tod, dem Sterben, zum Ausdruck. Alle Menschen sind sterblich, doch stirbt jeder Mensch auf seine persönliche Weise, die weder zeitlich noch qualitativ vorhersehbar und bestimmbar ist. Mit der erlangten (und zuerkannten) Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben – und damit auch über seinen Tod – und den nicht zuletzt von Medizin und technischem Fortschritt geschaffenen kurativen und mehr noch präventiven Voraussetzungen und Möglichkeiten von Gesundheit und langem Leben ist auch der Wunsch entstanden, das eigene Sterben verbessern, verschönern, gestalten, kontrollieren und planen, verschieben oder sogar abschaffen zu können. Letztlich verliert damit auch der Tod seinen naturgemäßen und selbstverständlichen Charakter (vgl. insbes. Jordan, Frewer 2008, 244–246). Problematisch wird es aber, wenn sich dieser Wunsch nach einem leichten, raschen, leidensfreien Tod bzw. Sterben zu einer idealistischen Vorstellung, einem anzustrebenden Ziel wandelt und man vermeint, die letzte Lebensphase eines Menschen von dritter Seite (etwa vom Arzt oder dem pflegenden Personal) bewerten zu müssen. Wenn nämlich die Idealvorstellung, das Elend eines Patienten abschaffen zu wollen und zu können, versagt – zumal mit alleiniger Hinwirkung auf Schmerzfreiheit und Vitalität –, ist der Gedanke nicht weit, dem Kranken nicht das Leiden, sondern das Leben zu nehmen (vgl. Platzek 2002, 216). Der „gute Tod“ (griech. Euthanasía) war ein Tod, dem man gefasst und in Würde entgegensehen konnte. Im antiken Griechenland und auch in anderen Kulturen wurde zwischen zwei Arten des Todes unterschieden: einem Tod, der „an der Zeit“ ist, wie etwa der Schlaf (in der griechischen Mythologie wurde der Gott des sanften Todes Thánatos auch häufig zusammen mit Hypnos, dem personifizierten Gott des Schlafes, abgebildet), und einem vorzeitigen Tod, der den Menschen aus dem Leben reißt (Ker). Der Begriff Euthanasie bezog sich ursprünglich auf den „Thanatos“-Tod, einen „guten“, „leichten“ und relativ schnell eintretenden Tod, in Abgrenzung zu einem schweren Sterben mit vorhergehender langer Krankheit. Für Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.) bedeutete Euthanasie die eng mit der vernünftigen Lebensführung verknüpfte rechte Vorbereitung auf den Tod; Kindstötung und Sterbehilfe wurden nicht als „Euthanasie“ bezeichnet (zur Entwicklung des Euthanasie-Begriffs vgl. Grübler 2010, 11–28).
5.3 Der sterbende Patient, aktive und passive Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid
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Wenn ein Kranker seinem unheilbaren Leiden, schweren Schmerzen oder einer Entwürdigung durch Krankheit entgehen wollte, wurde auch das ärztliche Wissen gesucht. Andererseits hat die Macht des Arztes, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch den Tod herbeiführen zu können, in der Geschichte schon häufig Anlass zu Befürchtungen gegeben. Deshalb gebot bereits der antike „Hippokratische Eid“, der Arzt habe seine Kenntnisse nicht für eine Tötung durch Gift zur Verfügung zu stellen (Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 74). Die Bedeutung von Euthanasie im Sinne von Sterbehilfe deutet sich zum ersten Mal bei Francis Bacon (1561–1626) an, der in seinem Werk Euthanasia medica das griechische Wort wieder aufgreift und zwischen einer euthanasia interior, der seelischen Vorbereitung auf den Tod, und einer euthanasia exterior, die dem leidenden Menschen sein Lebensende leichter und schmerzloser, notfalls mit Inkaufnahme einer Lebensverkürzung, bereiten soll. Mit Berufung auf Bacon hat im 19. Jahrhundert etwa der Arzt und Medizinhistoriker Karl Friedrich Heinrich Marx (1796–1877) den Begriff „Euthanasie“ im unverfälschten Sinne auf ein Lindern des Sterbens zurückgeführt. Dem Sterbenden durch Zuspruch, Beistand und medikamentöse Linderung seiner Leiden das Sterben zu erleichtern („Todeslinderung“), entsprach zwar dem Zeitgeist, wurde von Marx aber erstmals als moralische Aufgabe des Arztes formuliert und in den ärztlichen Pflichtenkanon aufgenommen. Zugleich betonte er die Trennung der theologischen Seelsorge am Kranken/Sterbenden von der psychischen Hinwendung und (medikamentösen) Betreuung durch den Arzt (vgl. Michler 1990, 327 f.). Heutiger Konsens in der ethischen Debatte um Sterben und Tod besteht in der Auffassung, ein Arzt hat sowohl für gutes Leben als auch für gutes Sterben zu sorgen und einen guten Tod zu begleiten (Steger 2011, 118). Konkrete, für jeden einzelnen Sterbenden gültige Richtlinien kann es nicht geben, doch gelten auch hier die generellen Grundsätze der Medizinethik. Die ärztliche Tätigkeit sollte bestimmt sein zum Erhalt menschlichen, das heißt für den konkreten Patienten akzeptablen und möglichst sinnvollen Lebens, sie soll den ganzheitlichen Interessen des Kranken dienen. In der Kompetenz und Entscheidung des Arztes liegt es, ob seine medizinischen (medizin-technischen) Maßnahmen sinnvoll oder sinnlos sind, nicht aber zu beurteilen, ob das Leben seines Patienten sinnvoll oder sinnlos ist (vgl. Fritsche 2000, 36). Auch ärztliche Maßnahmen am Ende des Lebens müssen sich am Willen des Patienten orientieren. Die besondere Schwierigkeit resultiert – sofern überhaupt das Gespräch über den Tod gelingt – aus dem Problem, was der Patient von seinem Arzt verlangen kann bzw. zu welchem Handeln oder Unterlassen ein Arzt berechtigt ist. Wenn es um den Umgang mit Todkranken und Sterbenden geht, unterscheidet man zwischen Sterbebegleitung (siehe Kap. 6.2.), die alle Formen der Zuwendung und Hilfe beinhaltet, die den Zeitpunkt des Sterbens unbeeinflusst lassen, und der Sterbehilfe, die diesen Zeitpunkt gezielt oder in Kauf nehmend vorverlegt (vgl. Schöne-Seifert 2007, 111). Als Sterbehilfe gelten (1) der ärztlich assistierte Suizid (ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung), (2) die aktive direkte Sterbehilfe, (3) die passive Sterbehilfe und (4) die indirekte Sterbehilfe10. 10
In seiner Stellungnahme aus dem Jahr 2006 hat der Nationale Ethikrat alternative Bezeichnungen vorgeschlagen: Therapien am Lebenden (statt indirekte Sterbehilfe), Sterbenlassen des
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5. Ethische Probleme am Lebensende
Die moralische Wertung der Selbsttötung, d. h. die beabsichtigte Beendigung des eigenen Lebens, wurde und wird kulturell, unter dem Einfluss der verschiedenen Weltanschauungen, sehr unterschiedlich betrachtet und kontrovers diskutiert, zum Teil auch politisiert. Die Meinung zur Selbsttötung hat sich aber in den letzten Jahren mit Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht (Möglichkeit, in Verwirklichung letzter Autonomie eine subjektiv unerträgliche Situation zu verhindern oder zu beenden; vgl. Riha 2008, 161) tendenziell stark gewandelt, was sich schon allein in der Vermeidung des Wortes „Selbstmord“ widerspiegelt. In der Rechtswissenschaft zeichneten sich in der Zeit der Aufklärung vereinzelte Forderungen zur Liberalisierung des Suizids ab, dessen Ausführung in vielen Gebieten Europas bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein weiterhin als Straftatbestand geahndet wurde. In Deutschland ist der Suizidversuch als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts straffrei, grundsätzlich ebenso die Teilnahme (Beihilfe), da eine strafbare Beihilfe zu einer Tat eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat voraussetzt. Beihilfe zum Suizid bedeutet die Selbsttötung mit Hilfe einer Person, die ein Mittel zur Selbsttötung bereitstellt – solange der Suizident die sog. Tatherrschaft über das Geschehen hat und freiverantwortlich handelt. Sofern die andere Person die letzte todbringende Handlung vornimmt, ist kein Suizid mehr gegeben. (1) In zunehmendem Maße wird auch die moralische/ethische Legitimierung des ärztlich assistierten Suizids bei schwerstkranken Menschen gefordert. Ärzte werden am ehesten mit der Problematik konfrontiert, dass Patienten sicher, schmerzlos, aber auch würdevoll aus dem Leben scheiden wollen, da sie hierfür das ärztliche Wissen suchen und vom Arzt Rat und Hilfe erhoffen. Umfragen zufolge stünde immerhin ein Drittel der deutschen Ärztinnen und Ärzte der Frage des assistierten Suizids offen gegenüber. Auf dem 115. Deutschen Ärztetag 2012 ist allerdings ein generelles Verbot organisierter Sterbehilfe beschlossen worden, wobei im Vordergrund die Sorge stand, dass die „zunehmende Kommerzialisierung der Sterbehilfe befürchten lässt, dass sich verzweifelte Menschen immer häufiger für einen organisierten Suizid entscheiden“ (Dt. Ärzteblatt 2012). Nachfolgend hatte sich auch die Bundesregierung dem Problem mit der Vorbereitung eines Gesetzentwurfes zum Verbot gewerbsmäßiger Sterbehilfe angenommen. Für Kontroversen hat dabei der Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium gesorgt, wonach die Beihilfe zum Suizid im privaten Rahmen weiterhin nicht unter Strafe steht, unter den „nahe stehenden Personen“ allerdings auch Ärzte oder Pflegekräfte benannt worden sind. Die Nichtahndung der Suizidbeihilfe für Ärzte sollte dann gelten, „wenn eine über das rein berufliche Verhältnis hinausgehende, länger andauernde persönliche Beziehungen“ entstanden sei, wie dies beim langjährigen Hausarzt der Fall sein kann (zit. Dt. Ärzteblatt 2012). Dieser Satz wurde aus dem Kabinettsbeschluss mittlerweile entfernt; das Problem und dessen ethische Diskussion bestehen weiterhin. Die Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, seien überwiegend der Auffassung, „keine Freiheitsgrade des Handelns mehr zu haben“ (zit. n. Ärzte Zeitung Patienten (statt passive Sterbehilfe) und Tötung auf Verlangen (statt aktiver direkter Sterbehilfe). Vgl. Wiesing 2012, 235.
5.3 Der sterbende Patient, aktive und passive Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid
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2012). Deshalb solle verstärkt über die Möglichkeiten der Palliativmedizin und des würdigen Sterbens aufgeklärt werden; Palliativmedizin einschließlich adäquater Schmerzreduzierung bei schwer Erkrankten könne das Risiko von Suiziden senken. Abgesehen davon, dass der Patient auch das Recht hat, eine palliativmedizinische Behandlung abzulehnen oder abzubrechen, werden wohl bei aller und zugegebenermaßen gerade in Deutschland noch sehr ausbaufähiger palliativmedizinischer Betreuung dennoch Situationen nicht gänzlich auszuschließen sein, die dem Patienten das (Weiter)Leben unerträglich machen und mit seiner persönlichen Würde unvereinbar sind. Allein jeder zweite Hausarzt sei laut einer von der Bundesärztekammer 2009 in Auftrag gegebenen anonymen Umfrage unter etwa 550 Medizinern in Klinik und Praxis um Beihilfe zur Selbsttötung gebeten worden. Wie viele Ärzte Schwerstkranken aus menschlicher Anteilnahme und in Respektierung ihres Wunsches dieser Bitte nachgekommen sind, ist nicht bekannt. Nun ist nach dem medizinischen Modell eine suizidale Handlung immer unfreiwillig, irrational und Ausdruck eines (psychischen) Krankheitszustandes, der also nicht unterstützt werden darf, dem gegengesteuert werden muss. Eine dem Patienten damit zugeschriebene Inkompetenz der Entscheidungsfähigkeit und die in diesem Moment gleichzeitige Aberkennung seiner Autonomie müssten zwangsläufig die alleinige Konsequenz nach sich ziehen, den ärztlich assistierten Suizid grundsätzlich nicht zuzulassen. Das Problem würde sich also ethisch und rechtlich für den Arzt gar nicht erst stellen. Ist es aber nicht eine sehr verengte und anmaßende Sicht, jedem Patienten mit suizidaler Absicht eine ‚echte‘ psychische Erkrankung zuzuschreiben oder zu unterstellen, die das Selbstbestimmungsrecht außer Kraft setzt? Ist der Arzt nicht sogar verpflichtet, das Leid eines Schwerstkranken in einer aussichtslosen Lage zu lindern, und zwar auf eine Weise, wie es sich der Patient selbst wünscht? Und kommt der Bundesärztekammer aufgrund der Satzungsautonomie tatsächlich das exklusive Recht zu, auch in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, wie das Grundrecht auf Gewissensfreiheit, eingreifen zu können; das heißt, wird etwa mit dem Beschluss der Bundesärztekammer über ein Verbot des ärztlich assistierten Suizids (mit berufsständischen Konsequenzen) die Freiheit der Gewissensentscheidung des Arztes in die Beliebigkeit einer Ständeorganisation gestellt? Der mit seinem offensiven Plädoyer für die ärztliche Beihilfe zum Suizid gewissermaßen einen Tabubruch eingehende Notfallmediziner Michael de Ridder berichtete z. B. in einem Spiegel-Interview (Spiegel 2010, 170) von einem Patienten mit einem inoperablen, bereits zu bluten beginnenden Tumor im Hals. Die Lebenserwartung des Patienten konnte auf nur noch wenige Wochen prognostiziert werden. In diesem Zustand – so die eigene Aussage des Patienten – wollte er sich seiner Familie und auch sich selbst nicht mehr zumuten. Die ihm gewährte Hilfe seines Hausarztes zur Selbsttötung bezeichnet de Ridder als ethisches Handeln. In einem anderen ‚Fall‘ geht es um eine ihm seit mehreren Jahren bekannte junge Wissenschaftlerin, die seit einem Unfall vom Kopf an abwärts gelähmt und völlig gefühllos ist. Ihr Wunsch nach Einstellung der künstlichen Beatmung wurde verweigert (siehe passive Sterbehilfe) und ihr wurde sogar vorgehalten, sie sei die einzige Patientin auf der Station, die nicht leben wolle. In ihrem Zustand, nichts berühren und fühlen, keine Bewegung, keine Arbeit mehr tun zu können, will sie aber nicht mehr
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leben – ein Leben, das ohne Hochleistungsmedizin gar nicht stattfinden würde und das sie aus eigener Kraft nicht beenden kann. „Da kann ich doch nicht verfügen: Die Frau wird am Tag soundsovielmal gedreht, sie wird ernährt, und weil wir das technologische Know-how dazu haben, ist sie verpflichtet, noch 40 Jahre da zu liegen, damit sie unseren ethischen Maßstäben gerecht wird“ (Spiegel 2010, 170). Übrigens wird in diesem Falle nicht nur die Berechtigung zum Handeln, sondern auch zum Unterlassen ärztlicher Beihilfe ethisch infrage gestellt. Das von der Bundesärztekammer de facto verhängte Verbot ärztlich assistierten Suizids hat die schon länger geführte Diskussion nicht beendet und wird sie auch weiterhin nicht verhindern, zumal sich auch jenseits der Palliativmedizin immer wieder Probleme für den Arzt auftun. Und die Palliativmedizin selbst scheint bezüglich der Sterbebegleitung durchaus auch die Möglichkeiten eines „guten“, erleichterten Sterbens mit gezielter oder in Kauf nehmender Vorverlegung des Zeitpunktes zu thematisieren, auch wenn die Statuten der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) verbieten, den Sterbeprozess zu beschleunigen. Zudem wird schon u. a. in der Schweiz, in Belgien und den Niederlanden der ärztlich assistierte Suizid – rechtlich sanktioniert – praktiziert. In der Schweiz ist die Hilfe zur Selbsttötung, sofern kein egoistisches Motiv vorliegt, nicht strafbar. Nach den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften sei die Suizidhilfe aber nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit. Auch gibt es keinen rechtlichen Anspruch auf eine Beihilfe zum Suizid. Ein Sterbegesetz ist durch bundesgesetzliche Regelung erarbeitet, aber noch nicht in Kraft gesetzt worden. Seit Juni 2012 gibt es jedoch die ersten durch Volksabstimmung gefassten Gesetze in einigen Kantonen der Schweiz. Als wesentliche Voraussetzungen für die Beihilfe zum Suizid ist unter anderem geregelt, dass eine schwere und unheilbare Krankheit vorliegen und die Urteilsfähigkeit des Sterbewilligen gegeben sein muss. Ob die Kriterien erfüllt sind, entscheidet ein Chefarzt oder Klinikleiter zusammen mit dem Pflegeteam und dem behandelnden Arzt. Eine Regulierung jeglicher, also nicht nur der gewerbsmäßigen, Form der organisierten Suizidbeihilfe wird auch vom Deutschen Ethikrat gefordert, allerdings auch kontrovers diskutiert. Weitgehende Übereinstimmung gibt es zur Auffassung, es sei menschenunwürdig, Patienten in qualvollen Situationen ohne Hoffnung auf Besserung gegen ihren Willen am Leben zu erhalten, auch wenn dies technisch möglich wäre. Auch das Argument der „schiefen Ebene“, d. h. die Ablehnung einer ‚an sich‘ moralisch akzeptablen Handlung mit der Begründung, sie würde unweigerlich weitere Schritte mit schließlich nicht wünschenswerten Konsequenzen nach sich ziehen (vgl. Wiesing 2012, 239), ist für den ärztlich assistierten Suizid nicht zuletzt mit dem Kommerzialisierungsverbot und der Nichtgewährung eines Rechtsanspruchs auf Beihilfe zum Suizid weitgehend ausgeschlossen. Dennoch werden sowohl von Gegnern als auch Befürwortern einer gesetzlichen Regelung mögliche negative Auswirkungen im Machtmissbrauch oder einer Abstumpfung gegenüber Patienten gesehen. Die entscheidende Frage scheint aber zu sein, ob der Arzt kraft seiner Profession zur Suizidbeihilfe berechtigt sein soll oder nicht und ob das ärztliche Berufsrecht gewissermaßen ein „ethisches Zwangsdiktat“ auferlegen darf (vgl. Ärzte Zeitung 2012).
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Als wesentliche Voraussetzungen für eine mögliche ärztliche Beihilfe zum Suizid wird (von den Befürwortern) gefordert, dass eine schwerwiegende, irreversible Krankheit vorliegt, die Entscheidung des Patienten dauerhaft und ohne äußeren Zwang zustande gekommen ist, nachweislich keine psychiatrische Erkrankung vorliegt und der Arzt den Patienten sehr gut kennt. Unter Hervorhebung dieser Grundsätze ist auch in Deutschland bereits in der Rechtsprechung ein Präzedenzfall geschaffen worden. Ein im Jahr 2007 von der Berliner Ärztekammer verhängtes Verbot zur praktizierten Beihilfe eines Arztes ist vom Berliner Verwaltungsgericht 2012 mit der Begründung aufgehoben worden, dass es gemessen am verfassungsrechtlichen Maßstab der Freiheit der Berufsausübung und der Gewissensfreiheit des Arztes seitens der Kammer unzulässig sei, den ärztlich assistierten Suizid uneingeschränkt zu verbieten. Die Grundrechte seien dann beschränkt, wenn der Arzt zu der betreffenden Person eine lang andauernde, enge persönliche Beziehung pflegt, und er in einen Gewissenskonflikt gerät, weil die Person eine freiverantwortliche Selbsttötung wünscht. Dabei müsse es sich um eine mit unerträglichen Schmerzen verbundene irreversible Krankheit handeln, für die alternative Mittel der Leidensbegrenzung nicht ausreichend zur Verfügung stehen (Kluth 2012). Die Berufung auf die Gewissens- und Berufsfreiheit von Ärzten ist allerdings in anderen Rechtsverfahren (z. B. Verfassungsbeschwerde 1999 zur Beschränkung der Lebendspende bei Organtransplantation) schon zurückgewiesen worden, da beide Grundrechte ihre Schranken im Schutz von Freiheit und Leben anderer Personen finden würden und der Arzt deshalb keinen Anspruch darauf habe, überall und immer sein Gewissensgebot umzusetzen, das ihn zur Hilfe verpflichtet. Und nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (2002, 2011) sei eine staatliche Regelung, die die Beihilfe zum Suizid uneingeschränkt unter Strafe stellt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar (vgl. Kluth 2012). Kriterien für die Zulassung einer ärztlichen Beihilfe zum Suizid sind also zuvorderst nicht von der Rechtslage her zu bestimmen, sondern unter (medizin)ethischen Prämissen festzulegen, wobei der Patient selbst, sein freier Wille und die Abwägung von Nutzen und Schaden in seiner individuellen Situation (was auch die Differenzierung/Abgrenzung von versuchten „Mitteilungen“, Hilferufen von Suizidenten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, einschließt) oberste Priorität haben müssen. Die Verschiedenheit der jeweiligen persönlichen Voraussetzungen dürfte sich einer Gesamtregelung widersetzen (Riha 2008, 162), was jedoch eine ethisch fundierte Entscheidung über die Berechtigung des Arztes zur Suizidhilfe nicht ausschließt bzw. – da das Problem als solches schon längst besteht – sogar zwingend erforderlich macht. Es sei auch in diesem Zusammenhang nochmals darauf hingewiesen, dass die unkommentierte Reflexion auf den sog. „Hippokratischen Eid“ als (selbst ‚nur‘ standesethische) Begründung einer unärztlichen und damit abzulehnenden Handlung hier weder angebracht noch hilfreich ist. (2) Die aktive direkte Sterbehilfe ist die beabsichtigte Tötung eines Kranken, bei der also der Arzt die Tatherrschaft behält. Sie dient der absichtlichen Beschleunigung des Sterbevorgangs und liegt vor, wenn der Tod eines Patienten – vorrangig medikamentös z. B. durch eine Überdosis von Kaliumchlorid, Schmerz- und Beru-
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higungsmitteln, Narkosemitteln – gezielt verursacht wird. Auch die als „Tötung auf Verlangen“ bezeichnete Sterbehilfe, um den tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsch eines Todkranken oder unerträglich Leidenden zu betonen, bleibt eine aktive direkte ‚Hilfe zum Sterben‘ in der klaren Absicht, das Leben eines Menschen zu beenden (Lebensverkürzung als primäres Ziel einer Intervention). Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Häufig wird bei der Begründung auf die historischen Erfahrungen mit den Tötungsverbrechen an (Geistes-) Kranken in der Zeit des Nationalsozialismus verwiesen. Eine Gleichsetzung der aktiven Sterbehilfe mit den (illegalen, gesetzlich nicht legitimierten) „Euthanasie“Aktionen, sprich gezielten Krankenmorden, im Nationalsozialismus verbietet sich jedoch allein schon deswegen, da sie in endgültiger Konsequenz der Selektion, Vermeidung und Beseitigung von erblich bedingten Krankheiten (Eugenik) diente, von Amts wegen erfolgte und nicht der Willensbekundung und der freiwilligen Zustimmung der/des Betroffenen bedurfte bzw. dieses Grundrecht sogar ausgeschlossen war. Solange Eugenik als bevölkerungspolitisches Regulativ gedacht und benutzt wird, ist die Gefahr einer Pervertierung immer gegeben. Selbst ‚positive‘ Mechanismen, etwa der (staatliche) Anreiz für so genannte Leistungsträger der Gesellschaft, sich für mehr als nur ein eigenes Kind zu entscheiden, sind eugenische Maßnahmen, die zwischen guten, ‚gesunden‘, erwünschten und schlechten, ‚kranken‘, unerwünschten angeborenen Eigenschaften selektieren. Bei gesellschaftlichem Konsens oder bestimmter politischer Konstellation können auch diese als positiv bewerteten Absichten umschlagen in eine Ausgrenzung und schließlich Vernichtung von Menschen mit für die „Volksgesundheit“ unerwünschten Merkmalen. Für die Definition von „gesund“ und „krank“ ist bereits angesichts des derzeitigen Erkenntnisstandes biogenetischer Forschung ein breiter Spielraum gegeben. Derartige Auswüchse kann Ethik nicht von vornherein ausschließen, aber sie kann durchaus mögliche Konsequenzen einer Handlung ‚mitdenken‘ und abwägen, um zu entscheiden, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen eine Handlung moralisch akzeptabel und begründet ist oder nicht. Ob jedoch das Argument des „Dammbruchs“ – z. B. eine (auch begrenzte) Freigabe der aktiven (freiwilligen) Sterbehilfe würde unweigerlich zur unkontrollierbaren Ausweitung der EuthanasiePraxis führen – überzeugen kann, hängt vor allem davon ab, ob der Eintritt der befürchteten Folgen als wahrscheinlich deklariert werden kann (Wiesing 2000, 199 f.). Als weiteren Grund gegen die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe führen insbesondere standesethische Publikationen an (übrigens auch schon vor 1945), dass ein Vertrauensverlust in die Ärzte drohe, wenn ihnen erlaubt wäre, ihre Patienten unter bestimmten Bedingungen ‚aktiv‘ zu töten (vgl. Wiesing 2000, 198; vgl. auch Grübler 2010, 29–41). Tötungshandlungen – unter welchen Voraussetzungen und Begründungen auch immer – seien mit dem Selbstverständnis eines Arztes grundsätzlich nicht vereinbar. Das Argument des drohenden Vertrauensverlustes verliert aber an Überzeugungskraft, wenn viele Patienten aktive Sterbehilfe für sich erwägen. Wenn Ärzte nicht bereit sind, den wohlüberlegten Wünschen ihrer Patienten an deren Lebensende zu folgen und die Patienten dadurch nicht die Sicherheit haben, auch über die Gestaltung ihrer letzten Lebensphase selbst bestimmen zu können, kann das Vertrauen in die Ärzteschaft sogar gefährdet sein. Die inhaltliche Bestim-
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mung ärztlicher Fürsorgepflicht muss weitgehend den Patienten selbst überlassen bleiben (vgl. Wiesing 2000, 198 f.). Nur am Rande sei hierzu auch vermerkt, dass ein befürchteter Verlust zunächst das Vorhandensein eines Vertrauensverhältnisses voraussetzt. Bei einer langanhaltenden und starken Bindung zwischen dem (Haus-) Arzt und seinen Patienten dürfte insofern eine eingeschränkt zulässige aktive Sterbehilfe gerade nicht zu einem Vertrauensverlust führen, als der Patient darauf vertrauen könnte, dass der Arzt eher in der Lage ist, derart schwierige Entscheidungen im alleinigen Interesse des Patienten zu treffen. Und schließlich ist die moralische Unterscheidung zwischen Töten und (absichtlichem) Sterbenlassen in der moralphilosophischen Diskussion höchst umstritten. In moralischer Hinsicht sei – so die Gegner einer Freigabe der aktiven Sterbehilfe – der herbeigeführte Tod infolge aktiven Einwirkens auf den Patienten anders zu bewerten, als durch (passiven) Verzicht lebenserhaltender Maßnahmen. Dem entgegen halten die Befürworter einer liberalen Regelung, weshalb es moralisch unakzeptabel sei, einen Menschen unter gewissen Bedingungen zu töten, wenn es zugleich moralisch zulässig oder gar geboten sein kann, ihn unter denselben Bedingungen absichtlich sterben zu lassen, obgleich sein Leben hätte verlängert werden können. Ungeachtet dieser moralphilosophischen Kontroversen bewerten die deutsche Rechtsprechung und die standesethischen Stellungnahmen die Formen (aktiv oder passiv) der Sterbehilfe unterschiedlich, was sich dann auch in Verbot oder Zulassung oder auch (moralischem) Gebot für die Ärzte widerspiegelt (vgl. Wiesing 2012, 236 f.). Die deutsche Debatte um legitime Formen von Sterbehilfe ist insbesondere durch die Regelungen in den Niederlanden (wieder) angeregt worden. Seit 2002 ist dort die aktive Sterbehilfe von Strafe freigestellt, wenn sie bestimmten Sorgfaltskriterien entspricht. Wichtigste Bedingung ist der nachgewiesene und unter Zeugen mehrfach geäußerte Wunsch des Betroffenen. Das Leiden des Patienten muss unerträglich, andauernd und nicht behandelbar sein. Ein zweiter Arzt muss dies prüfen und bestätigen. Schließlich muss der Arzt, der die aktive Sterbehilfe durchführt, sein Vorgehen einer Kommission anzeigen (vgl. Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 76 f.). Dem Gesetz waren empirische Untersuchungen vorausgegangen, wonach in den Niederlanden aktive Sterbehilfe trotz eines gesetzlichen Verbots praktiziert wurde. Bei der Abwägung von moralphilosophischen und Rechtspositionen wurden also insbesondere auch die Folgen von Restriktionen bedacht. Denen werden allerdings von den Kritikern der Praxis in den Niederlanden die befürchteten Konsequenzen der Liberalisierung entgegengehalten. Denn unter den bekannt gewordenen Fällen wäre eine beträchtliche Anzahl von Patienten, von denen keine klare Willenserklärung vorgelegen habe. Dies deute auf eine unerwünschte, schleichende Ausweitung der Kriterien hin. Nun sind Rechtsverstöße nicht immer, und auch hier in beiden Fällen nicht, mit absoluter Sicherheit auszuschließen, aber bei der ethischen Bewertung einer Handlung ist die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass eine unerwünschte Folge eintritt, zu prüfen; und zwar jede Handlungsoption für sich, d. h. nicht im gewichteten Vergleich, ob eine befürchtete Konsequenz mehr oder weniger folgenschwer als die andere sein könnte. Wenn die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe allein aus der
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5. Ethische Probleme am Lebensende
(bestätigten) Befürchtung einer schleichenden Ausweitung der bereits definierten Kriterien heraus abgelehnt wird, brauchte eigentlich nur die Rechtsfähigkeit und -verbindlichkeit der Kriterien bzw. des Gesetzes geprüft werden. Hinter diesem Argument steht allerdings eine viel weiter gehende, grundlegende Debatte um die moralische Zulässigkeit – unter bestimmten Bedingungen – der Tötung von Patienten durch den Arzt, die neben der Autonomie des Patienten und den standesethischen Grundsätzen des Arztes auch generelle ethische Probleme zu Leben und Tod, der Bewertung (etwa im Sinne der Menschenwürde) von und dem Umgang mit Leid und Leiden, aber auch zu ‚Gleichheit‘ und Verteilungsgerechtigkeit beinhaltet, und die von geradezu fundamentalen Überzeugungen geprägt ist. (3) Passive Sterbehilfe ist der Verzicht auf lebensrettende/lebenserhaltende Maßnahmen oder der Abbruch lebensverlängernder Behandlungsmaßnahmen. Während der ärztlich assistierte Suizid und die aktive Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen unabhängig vom medizintechnischen Fortschritt (wenn auch offenbar verstärkt im darwinschen Zeitgeist der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) öffentlich diskutiert wurde, gewann die passive Sterbehilfe ihre Brisanz erst durch künstliche Eingriffe zum Lebenserhalt bzw. zur deutlichen Verlängerung der Lebenszeit. Bis zur Ära der Antibiotika, der künstlichen Ernährung und Infusionen zur Aufrechterhaltung wichtiger Lebensfunktionen des Organismus beendeten interkurrente Infektionen, Verdursten und Verhungern das Leben bewusstloser Patienten zumeist in einem überschaubaren Zeitraum. Mit der Einführung und den immensen Fortschritten der Intensivmedizin kann also ein wesentlicher Grund für das Aufleben der SterbehilfeDiskussion gesehen werden. Denn ein künstlicher Lebenserhalt oder gar eine Lebensverlängerung wurde nicht immer zugleich auch als Verbesserung der Lebensqualität eingeschätzt. Damit stellte sich nicht mehr nur die Frage, wie lange ein beatmeter Patient am Leben erhalten werden soll. Vielmehr war nicht zuletzt angesichts der mit Reanimation und Intensivtherapie ansteigenden Zahl Überlebender mit schwersten neurologischen Ausfällen bis hin zum ‚Wachkoma‘ und zum Locked-in-Syndrom im Einzelfall eine ethische und rechtliche Abklärung des Nutzens im Sinne der individuellen Lebensqualität gefordert (vgl. Bruchhausen, Schott 2008, 157). Bei der passiven Sterbehilfe im Sinne einer Therapiebegrenzung werden in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004) unterschieden: 1. Sterbende, die palliativ betreut werden, eine menschliche Betreuung erfahren und eine Basisversorgung erhalten; 2. Patienten mit infauster Prognose (d. h., dass der momentane Zustand des Patienten eine Heilung nicht ermöglicht und mit dem konsekutiven Tod zu rechnen ist), bei denen entsprechend ihres Willens das Therapieziel von Lebenserhaltung auf palliativmedizinische Versorgung geändert wird; 3. schwerst beeinträchtigte Neugeborene, bei denen keine Aussicht auf Besserung besteht und mit Zustimmung der Eltern eine lebenserhaltende Behandlung unterlassen oder nicht weitergeführt wird;
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4. Patienten, die eine schwere zerebrale Schädigung und anhaltende Bewusstlosigkeit (z. B. bei apallischem Syndrom) haben; sie sind grundsätzlich lebenserhaltend zu therapieren. Bei der Vielfalt der Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin ist die Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe nicht immer gegeben bzw. einsichtig. Warum sollte das Abstellen eines Geräts zum Erhalt lebenswichtiger Funktionen, etwa zur Beatmung, ‚passiver‘ sein, als die Injektion eines tödlich wirkenden Mittels? Greift der Arzt denn dabei nicht auch ‚aktiv‘ in den Sterbeprozess ein? Argumentiert wird, dass es bei der Definition von passiver Sterbehilfe nicht auf Handeln versus Unterlassen ankommt, sondern darauf, dass man gleichsam der Natur ihren Lauf lässt, weil sich nach menschlichem Ermessen nur das Sterben selbst technisch verlängern, aber nicht mehr abwenden lässt (vgl. Riha 2008, 163). Aber auch dieses Argument birgt das Problem, dass vor allem unter den Bedingungen der modernen Intensivmedizin oft nicht eindeutig feststellbar ist, ob und wann der ‚natürliche‘ Sterbevorgang begonnen hat und wie lange er sich noch hinziehen wird. Deshalb orientiert sich eine andere Definition von passiver Sterbehilfe vorrangig am Willen des Patienten: Passiv ist die Sterbehilfe dann, wenn der Patient die Einwilligung in eine Behandlung nicht gibt bzw. die Einwilligung für die Fortführung einer Behandlung entzieht und die Berücksichtigung des Patientenwillens den Tod zur Folge hat (vgl. Wiesemann, Biller-Andorno 2005, 76). Nicht immer ist aber der Patient einwilligungsfähig, kann seinen Willen äußern. Die Therapie Einwilligungsunfähiger nur dann dem Arzt zu erlauben, wenn eine ausdrückliche Einwilligung des Patienten in eine Behandlung vorliegt, ist nicht praktikabel. Etwa in einer Notfallsituation muss der Arzt schnell handeln, und da von einem allgemeinen Lebenswillen auszugehen ist und vom Arzt eine Garantenstellung zugunsten des Lebens verlangt wird, kann dem herbeigerufenen Notarzt kein Vorwurf gemacht werden, wenn er den Patienten z. B. intubiert, obwohl der Patient eigentlich die Therapie abgelehnt hätte. Nach deutscher Rechtsprechung ist die Rechtfertigung einer Therapie bei Einwilligungsunfähigkeit an den mutmaßlichen Patientenwillen gebunden. Die Frage ist, wie für die konkrete Ablehnung einer bestimmten medizinischen Intervention der mutmaßliche Patientenwille rekonstruiert werden kann. Der Umgang mit der Behandlung und Versorgung von Patienten im „vegetative state“ (Wachkoma/apallisches Syndrom) ist eines der umstrittensten Themen in der internationalen bioethischen Debatte. Seit Ende der 1980er Jahre haben sich auch mehrere Gerichte mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Um eine (juristische) Herleitung der Tauglichkeit der mutmaßlichen Einwilligung hat man sich in Deutschland insbesondere nach dem BGH-Urteil von 1995, mit dem die Anklage wegen versuchten Totschlags gegen den Sohn einer Patientin und deren Hausarzt aufgehoben wurde, bemüht (siehe umfassend Tolmein 2004, insbes. 18–55, 106– 110; vgl. auch Benzenhöfer 2009, 182–187). Gegenstand war der geplante Abbruch der künstlichen Ernährung bei einer 70jährigen Frau, die sich seit 1990 mit einem sogenannten hirnorganischen Psychosyndrom in einem Pflegeheim in Kempten befand. Noch im selben Jahr hatte sie einen Herzstillstand erlitten, wurde reanimiert
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und nach mehrwöchigem Krankenhausaufenthalt als 100prozentiger Pflegefall mit der Diagnose ‚apallisches Syndrom‘ in das Pflegeheim zurückverlegt. Ab Ende 1992 wurde sie über eine Magensonde ernährt. Der Bewusstseinszustand hatte sich nicht verändert. Zu Beginn des Jahres 1993 wandte sich der behandelnde Arzt an den Sohn der Patientin und schlug vor, die Sondenernährung einzustellen und die Patientin nur noch mit Tee zu ernähren, was den Tod in etwa zwei bis drei Wochen zur Folge gehabt hätte. Nach kurzer Bedenkzeit stimmte der Sohn, der gleichzeitig als Betreuer eingesetzt war, zu. Er holte keine Rechtsauskunft ein und beantragte nicht die Genehmigung seiner Einwilligung in den Abbruch der Sondenernährung beim zuständigen Vormundschaftsgericht. Mit dem Pflegepersonal war der auf den Tod der Patientin zielende Abbruch der künstlichen Ernährung nicht besprochen worden, was die Beantragung des Heimleiters auf eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts zur Folge hatte. Ein Abbruch der Sondenernährung wurde abgelehnt, woraufhin der Sohn der Patientin den Antrag stellte, die künstliche Ernährung seiner Mutter doch noch beenden zu dürfen. Diesem Antrag wurde nicht entsprochen; inzwischen war der Vorgang auch an die Staatsanwaltschaft Kempten weitergeleitet und ein Ermittlungsverfahren gegen den Sohn der Patientin und den behandelnden Arzt eingeleitet worden. Das am Landgericht Kempten anhängige Verfahren endete mit einem Schuldspruch, der später in der Revision durch das BGH aufgehoben wurde. Zwar sei nach Feststellung des Gerichts der Tatbestand des versuchten Totschlags erfüllt, doch aufgrund der mutmaßlichen Einwilligung der Patientin sahen die Richter das Handeln von Sohn und Arzt als gerechtfertigt. In der nachfolgenden rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung ging es vor allem um die Begründung, weswegen sich die mutmaßliche Einwilligung eignen soll, das Selbstbestimmungsrecht zu realisieren, obwohl sie von Dritten festgestellt wird, und warum die mutmaßliche Einwilligung in Fällen des gezielt zum Tod führenden Behandlungsabbruchs ebenso als Rechtfertigungsgrund Verwendung finden soll, wie bei Eingriffen, die den Erhalt des Lebens sichern (vgl. Tolmein 2004, 106 f.). Eine einheitliche Argumentation gibt es offensichtlich bislang nicht, wenngleich man sich auch bemüht hat, die Tauglichkeit der mutmaßlichen Einwilligung (zumindest für Patienten im „vegetative state“) nicht nur zu behaupten, sondern dogmatisch herzuleiten. Danach gehe es nicht um eine orakelhaft anmutende Feststellung innerer Gedanken des Betroffenen, sondern um ein normatives Konstrukt, das auf wahrnehmbaren, tatsächlichen Umständen beruhend eine nachvollziehbare Vermutung darüber darstellt, welche Entscheidung vom Rechtsgutträger (also Patient) in der konkreten Situation zu erwarten wäre. Da allerdings die Individualsphäre sowohl durch die Weiterbehandlung als auch durch die Einstellung der Behandlung verletzt werden kann, sei eine Risikoabwägung erforderlich. Das Risiko bestimmt sich dabei zum einen nach dem möglichen Schaden, der bei einer im Widerspruch zum Willen des Betroffenen eintretenden Rechtsgutverletzung eintreten würde, und zum anderen aus der Wahrscheinlichkeit, dass dem Willen des Betroffenen nicht entsprochen würde (vgl. Tolmein 2004, 107, 109). Die Einstellung einer lebenserhaltenden Maßnahme wie der künstlichen Ernährung setzt jedoch deren Beginn voraus; die Frage ist, warum über den Abbruch und
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nicht über die Aufnahme einer Sondenernährung – zu deren Zeitpunkt der Patient auch schon einwilligungsunfähig ist – befunden werden soll. Da es sich bei der künstlichen Ernährung um eine lebensrettende/-erhaltende Maßnahme handelt, die zwar auf einen längeren Zeitraum zielt, aber nicht als Dauerlösung erscheint, und zu einem Zeitpunkt begonnen wird, an dem die Perspektive der Behandlung und ihre Erfolgsaussichten nicht klar sind, kann die mutmaßliche Einwilligung (mit der Hypothese des Überlebenswillens des Patienten) recht problemlos angenommen werden (vgl. Irrgang, Oehmichen 2005). Die Situation, wenn nach Monaten oder gar Jahren eine Entscheidung über den Abbruch der Maßnahme beantragt oder gefällt wird, ist eine ganz andere. Hier geht es um die Entscheidung, den Sterbevorgang nicht künstlich zu verlängern und damit den absehbaren Tod nicht (mehr) zu verhindern, und diese Entscheidung muss zwingend dem Betroffenen vorbehalten sein. Zur Rekonstruktion des mutmaßlichen Willens sind – vor allem durch Befragung der Angehörigen des Patienten – konkrete Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere frühere (zufällige oder gezielte) mündliche oder schriftliche Äußerungen zu einzelnen medizinischen Maßnahmen in bestimmten Situationen, religiöse, weltanschauliche und moralische Überzeugungen sowie sonstige persönliche Wertvorstellungen des Patienten. Zunehmende Bedeutung haben auch formale Instrumente, insbesondere die Benennung eines Bevollmächtigten (durch Vorsorgevollmacht) oder eines zukünftigen Betreuers (durch Betreuungsverfügung) sowie die Patientenverfügung (vgl. auch Kap. 6.4). Eine Patientenverfügung ist eine schriftliche Vorausverfügung einer Person für den Fall, dass sie ihren Willen nicht mehr (wirksam) erklären kann und ist auch nur dann anzuwenden, wenn der Patient nicht mehr entscheidungsoder einwilligungsfähig ist. Sie bezieht sich auf medizinische Maßnahmen, d. h. der (spätere) Patient bestimmt, welche Handlungen/ärztliche Heileingriffe durchgeführt oder unterlassen werden sollen, und steht meist im Zusammenhang mit der Verweigerung lebensverlängernder Maßnahmen. Seit 2009 ist die Patientenverfügung und insbesondere die Verbindlichkeit der Patientenverfügung nach deutschem Recht gesetzlich geregelt (siehe 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts v. 01.09.2009). Eine Klärung der Rechtslage wurde nicht zuletzt aufgrund der (vermeintlichen) Zunahme einer Missachtung von Patientenwillen und Patientenverfügung durch ärztliches und pflegerisches Personal als notwendig erachtet. Demzufolge ist nun auch die zuvor geltende Einschränkung, wonach dem Willen eines Patienten, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten, nur gefolgt werden durfte, wenn der Tod nahe bevorsteht, entfallen. Auch die medizinethisch besonders umstrittenen Konstellationen des sog. Wachkomas und der Demenzerkrankung, mit denen oftmals kein nahe bevorstehendes Lebensende verbunden ist, schränken die Geltung der Patientenverfügung nicht mehr ein. Damit ist rechtlich anerkannt, dass es auch außerhalb eines unmittelbar bevorstehenden Todes von der Gesellschaft anzuerkennende Gründe und Motive gibt, vom Leben zu lassen, und dass auf ein mögliches Weiterleben verzichtet werden kann, ohne dass jemand gegen seinen Willen von Dritten daran gehindert werden darf. Dennoch werden auch weiterhin unterschiedliche Interpretationen des verfassten oder mutmaßlichen Willens von
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einwilligungsunfähigen Patienten zwischen Ärzten, Pflegenden und Angehörigen formuliert, zumal eine fachkundige Beratung zur Erstellung der Patientenverfügung nicht zwingend vorausgesetzt wurde. Zudem besteht die Befürchtung, eine Patientenverfügung könne die krankheitsbedingte Prognose eines Patienten verschlechtern (siehe Erbguth 2007, 38–40). Es gäbe einen wachsenden Druck von Angehörigen kritisch Kranker auf Ärzte, Therapiebegrenzungen durch Unterlassung bereits sehr früh zu vollziehen, ohne dass die in einer Verfügung geäußerte Bedingung der hohen Wahrscheinlichkeit einer schlechten Prognose zu diesem Zeitpunkt schon feststeht. Die damit zu immer früheren Zeitpunkten eingeforderten Festlegungen von Ärzten auf eine günstige oder ungünstige Prognose führten bei initial negativen Prognoseeinschätzungen und daraus folgender Unterlassung therapeutischer Maßnahmen ‚naturgemäß‘ zu ungünstigen Verläufen, meist dem Tode, was im Nachhinein die initial negative Prognose zu bestätigen scheint. Bei zunehmender Nicht-Zulassung prognostisch schwieriger Krankheitsverläufe würden überraschend gute Verläufe kaum mehr auftreten und wahrgenommen, womit sich bei den Therapeuten die Erfahrung einer vermeintlichen Aussichtslosigkeit dieser Erkrankungskonstellation entwickelt. Dieser Prozess könne als „self-fulfilling-prophecy“ zu einer generellen Abwärtsspirale der therapeutischen Bemühungen führen. Die Befürchtung ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen, doch liegt es in der auf Fachwissen und Erfahrung beruhenden Entscheidung des Arztes, wann und welche Prognose er zum Krankheitsverlauf geben kann, und seiner Pflicht, die Angehörigen eingehend aufzuklären. Der Patientenwille beinhaltet (überwiegend) nicht, vorzeitig sterben zu wollen, sondern sein Leben nicht ‚sinnlos‘ zu verlängern. In der Regel ist also eine längere Dauer lebenserhaltender Therapie gegeben, ohne dass sich der Arzt weder über den in der Patientenverfügung bekundeten Willen hinwegsetzen, noch dem Drängen der Angehörigen nachgeben müsste. Andererseits aber müsse – wie es ein „christlicher Heim- und Hausarzt“ mit fast 40jähriger medizinischer Berufserfahrung in einer Leserzuschrift forderte (Grzsgorek 2012) – dem Arzt, der sich zu einer außergewöhnlichen Maßnahme bei einem Patienten wie Dauerbeatmung oder künstlicher Ernährung in der Hoffnung auf Besserung entschließt, auch das Recht zugestanden werden, diese Manipulation zu beenden, wenn die gut gemeinte Therapie sich im Laufe der Zeit gegen den Menschen richtet, also nur ein ‚Dahinvegetieren‘ bedeutet. Als (4) indirekte Sterbehilfe wird die in Kauf genommene Beschleunigung des Todeseintritts als (unbeabsichtigte) Nebenwirkung einer Medikamentengabe, z. B. einer gezielten Schmerzbekämpfung, definiert. Im Vordergrund der ärztlichen Handlung steht somit die mögliche Herbeiführung der Schmerzfreiheit (im Sinne einer besseren Lebensqualität) des Sterbenden. Der vorzeitige Tod, eine Lebensverkürzung ist nicht Ziel der Handlung. Eine gesetzliche Grundlage zur Sterbehilfe (Sterbehilfegesetz) gibt es in Deutschland bislang nicht, so dass auch ein Sterben durch „indirekte Sterbehilfe“ nicht gesetzlich geregelt ist, wofür aber seit längerem Regelungsbedarf angemeldet und schon seit Mitte der 1980er Jahre Alternativentwürfe bzw. Empfehlungen vorgelegt wurden (vgl. Strätling et al. 2003).
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Aus rechtswissenschaftlicher Sicht besteht jedoch die einheitliche Meinung, dass der Arzt im Falle einer indirekten Sterbehilfe straffrei bleiben muss und sieht den Rechtfertigungsgrund in einer Mischung von Notstand und rechtfertigender Pflichtenkollision. Dadurch wird ausgeschlossen, dass sich der Arzt außerhalb der notwendigen Sorgfalt und damit des erlaubten Risikos bewegt. Nach Definition des Bundesgerichtshofs wird eine „ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen […] bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, dass sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann“ (vgl. BGHSt 42, 301; 46, 279). Nach Ansicht des höchsten deutschen Strafgerichts kann sogar die Nichtgewährung/-verabreichung notwendiger Schmerzmittel mit der Begründung, keinen vorzeitigen Tod herbeiführen zu wollen, als Körperverletzung oder unterlassene Hilfeleistung bestraft werden (vgl. Kap. 6.2. Palliativmedizin). Sofern also der Arzt den Patienten aufgeklärt hat und sein Handeln darauf ausrichtet, Leiden zu lindern, ist diese indirekte Sterbehilfe straffrei; würde der Arzt die Schmerzmittel geben, um den Tod zu bewirken, muss er mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Beispiel: Ein Patient mit einem Karzinom im Endstadium hat sehr starke Schmerzen und bittet den Arzt, diese Schmerzen zu lindern. Er weiß, dass dadurch die Kreislauf- und Nierenfunktionen beeinträchtigt werden können, unter Umständen so stark, dass dadurch der Tod etwas eher eintreten könnte als durch die Hauptkrankheit (Krebs). Meist tritt dieser Tod aber nur wenige Stunden oder Tage vor dem Tod ein, der auch ohne diese Medikamente eingetreten wäre. Die moralische Relevanz ergibt sich bei der indirekten Sterbehilfe mit der Frage, wie im Einzelfall unterschieden werden kann, ob es sich bei der Lebensverkürzung um eine lediglich in Kauf genommene Nebenfolge oder eine beabsichtigte Konsequenz der Schmerztherapie handelt. Zudem ist die moralische Unterscheidung zwischen Töten und (absichtlichem) Sterbenlassen in der moralphilosophischen Diskussion höchst umstritten, was sich bei der indirekten Sterbehilfe auf die Frage bezieht, ob die Absicht der Sterbehilfe leistenden Person tatsächlich einen so deutlichen ethischen Unterschied begründet, wie er üblicherweise zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe gesehen wird (vgl. Wiesing 2012, 236 f.). Aus medizinischer Sicht ist indirekte Sterbehilfe in der Praxis selten, weil die häufig als Grundlage einer Schmerzbehandlung eingesetzten Opiate oder Benzodiazepine das Sterben entgegen früheren Ansichten in der Regel nicht verkürzen. Im Gegensatz zu manchen anderen Medikamenten haben Opiate – korrekt eingesetzt – keinen schädigenden Einfluss auf innere Organe. Auch bei lang andauernder Einnahme sind keine Spätschäden zu erwarten. Opioide hemmen die Schmerzempfindung hauptsächlich in Gehirn und Rückenmark und heben die Schmerzschwelle an, ohne dass andere Sinneswahrnehmungen wie Temperatursinn oder Berührungsempfindlichkeit beeinträchtigt werden. Zu einem optimalen Behandlungskonzept in der Schmerztherapie gehören allerdings noch zusätzliche Schmerzmittel bzw. Begleitmedikamente, um damit die Morphindosis zu reduzieren und die Therapie verträglicher zu gestalten. Wie bei jeder ärztlichen Intervention ist selbstverständlich auch für die Schmerz(mittel)behandlung die Aufklärung und Einwilligung des Patienten vorauszusetzen, auch bei einer medizinisch angezeigten Dosierungssteigerung.
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5. Ethische Probleme am Lebensende
5.4 PATIENTENAUTONOMIE UND PATIENTENVERFÜGUNG Patientenverfügungen sollen die Selbstbestimmung von Patienten und Sterbenden stärken. Diesem Anspruch werden sie jedoch nur gerecht, wenn Menschen bei der Anpassung ihrer Patientenverfügung umfassend beraten werden können, wenn bei der Anwendung einer Patientenverfügung eine sachgemäße Interpretation der Patientenverfügung gewährleistet ist, was unter Umständen eine ethische Beratung notwendig macht, und wenn eine wirkliche Freiheit bei der Willensbildung sowie bei der Wahl für Behandlungsalternativen gegeben ist, was eine flächendeckende und qualitativ hochwertige Palliativ- und Hospizversorgung voraussetzt (May, Charponnier 2005, 161). Eine Patientenverfügung sichert dieses Selbstverfügungsrecht durch die prospektive Kommunikation und die Willensäußerung für den Fall, dass eine direkte Kommunikation nicht möglich ist. Der Selbstbestimmung liegt ein philosophisches Problem zu Grunde. Neben der individualistischen Interpretation kann Autonomie als ein sozialer Wert mit vertragstheoretischen Bestandteilen angesehen werden, wenn die Begründung auf gegenseitiger Beachtung beruht. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, eine Kontrolle über die persönliche, ethische Autonomie des Individuums auszuüben. Die begriffliche Abgrenzung zwischen Selbstbestimmung, Autonomie, Unabhängigkeit und Freiheit ist häufig nicht scharf und deutlich. Würde, Freiheit und somit Autonomie im Sinne von Unverfügbarkeit und Selbstbestimmung des Menschen sind nicht von Alltagsfähigkeiten oder -leistungen abhängig. Autonomie muss sich daher auf eine Person beziehen (vgl. May 2001, 21–23). Einer solchen Ethik geht es um die Stärkung ethischer Kompetenz und Mündigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Selbstbestimmung ist das Kennzeichen einer formalen Kompetenz des Subjektes zu autonomen Entscheidungen. Der Patient hat gemäß dieser Konzeption das Recht, eine falsche Entscheidung zu treffen, oder eine falsche Handlung zu begehen. Eine Konsequenz sind Konflikte zwischen der Selbstbestimmung des Patienten und dem Nutzen für den Patienten. Das Prinzip der Selbstbestimmung hat in der europäischen bioethischen Diskussion einen geringeren Stellenwert als in den USA eingenommen (vgl. May 2001, 37– 40). Der kompetente Mensch muss die Fähigkeit besitzen, einzuschätzen, was er tut und welche Reichweite seine Entscheidung haben kann. Dabei gibt es naturalistische Rechtfertigungsversuche für Grade von Personalität. Wichtiger als diese sind aber die Ansätze zu einer verbesserten Kommunikation in der Arzt-Patienten-Beziehung (vgl. May 2001, 46–49). Eine umfangreiche, verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden, klinischen Entscheidungskonflikten in Krankheitssituationen ist anzustreben (vgl. May 2001, 50–52). Ist Fürsorge also tatsächlich als Gegenposition zur Selbstbestimmung zu sehen (vgl. May 2001, 60)? Die Ethik der Fürsorge beschreibt das Einfühlen in das Geschick des einzelnen Menschen und auf das Mit-Leiden. Eine Ethik der Fürsorge bietet die Chance der Entlastung und Hilfe in schweren Krisensituationen unter Rückgriff auf traditionelle, europäische Denkweisen. Vertrauen wird so zum Schlüsselbegriff einer Ethik der Fürsorge. Die Ethik der Fürsorge soll Basis einer hilfreichen Ethik der Selbstbestimmung sein (vgl. May 2001, 65). Der Begriff des Behandlungsabbruchs im Zusammenhang mit der Diskussion um Tötung auf Verlangen wird wegen der
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sprachlichen Konnotationen kritisiert und sollte durch den Begriff der Therapiezieländerung ersetzt werden. Selbst bei einer minimalen Therapie und bei einer Rückführung der Therapie auf die in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von 1998 beschriebene Basisbetreuung durch menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit, sowie Stillen von Hunger und Durst findet eine Therapie durch den Arzt statt. Eine Alternative zum Behandlungsabbruch wird mit „begleitendem Spontanverlauf“ umschrieben. Es geht allein um den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und die Konzentration auf Hilfestellungen beim Sterbeprozess (vgl. May 2001, 76). Eine Ethik der Fürsorge und eine patientenorientierte, umfassende Aufklärung nähern sich an die Position der Patientenautonomie an und unterscheiden sich nur durch eine jeweilige Schwerpunktsetzung, wenn eine ausführliche und angemessene Aufklärung stattfindet (vgl. May 2001, 350). Ziel ist also in der medizinischen Ethik eine eingebettete Autonomie, eine verantwortungsbewusst ausgeführte Patientenautonomie (mit Folgenabschätzung für Andere, auch für die Gemeinschaft und die Öffentlichkeit). Selbstbestimmung und Selbstgestaltung gehören auf jeden Fall zusammen und gehen zurück auf das griechische autos (selbst) und nomos (Gesetzgebung). Dabei besteht eine gewisse Verantwortung für die Gesetzgebung, genauso wie für die Selbstgestaltung. Patientenautonomie ist nicht identisch mit Freiheit von Krankheit und Behinderung, sondern meint Umgehen Können mit seinen eigenen, körperlichen Umständen. Patientenautonomie meint daher die Sorge um sich selbst in der Gemeinschaft mit Anderen. Es lassen sich vier Positionen unterscheiden: 1. individualistische Interpretation (Präferenzutilitarismus), 2. vertragstheoretische Position (Gerechtigkeit und gegenseitige Verpflichtung), 3. verantwortungsethische Interpretation (Konsequenzenabwägung), 4. deontologischnaturrechtliche Position. Persönlichkeit kann als Voraussetzung für Autonomie begriffen werden (vgl. Quante 2002, 175). Voraussetzung hierfür ist die reflexive Authentizität (vgl. Quante 2002, 193). Persönlichkeit wird verstanden i. S. eines evaluativen Selbstverständnisses, welches wiederum die Basis von Handlungsautonomie darstellt (vgl. Quante 2002, 213). Im Hinblick auf das Thema „selbstbestimmtes Sterben“ ist davon auszugehen, dass Personen zu einer wertenden Identifikation mit ihrer eigenen Existenz fähig sind. Auf dieser beruht der Wert ihres Lebens. Dennoch bleibt der Wert vom Wohl aufgrund der internen evaluativen Stellungnahme geschieden. Eine leid- oder schmerzvolle Existenz kann trotzdem als wertvoll angesehen werden. Ob dies der Fall ist, hängt davon ab, wie sich eine Person zu ihrer eigenen Existenz verhält. Das Prinzip des Respekts vor personaler Autonomie verlangt jedenfalls, diese Identifikation mit der eigenen Existenz zu respektieren, wenn sie Ausdruck eben dieser Autonomie ist. Sie zu Gunsten des objektiven Standards der Lebensqualitätsmessung zu ignorieren, ist nicht verantwortbar, weder im Falle einer positiven noch im Falle einer negativen Identifikation (vgl. Quante 2002, 267). Wichtig sind vorsorgliche Verfügungen. Die Diskussion vorsorglicher Verfügungen bringt recht Unterschiedliches zu Tage. Das heutige Betreuungsrecht in Deutschland hat seine historischen Wurzeln im römischen Zwölftafelgesetz um
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450 v. Chr., in der Figur des Kurators. Ein festgelegter männlicher Kurator erhielt die Vormundschaft als Macht und Gewalt über einen freien Bürger zu seinem Schutz; für psychisch Kranke wurde die Vormundschaft durch einen in der Regel nahen Verwandten ausgeübt. Im germanischen Recht gab es die „Muntschaft“ als universelles Schutzverhältnis. Die Wurzeln der Patientenverfügungen als Ausdruck der Wünsche und Werte reichen in den USA mehr als 25 Jahre zurück und wurden in Kalifornien 1976 formuliert (vgl. May 2001, 103–105). Für die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wurde vom Konkursrichter Wilhelm Uhlenbruck nach persönlichen Erfahrungen bereits 1978 der so genannte „Patientenbrief“ vorgestellt, in dem der durch einen Unfall oder Krankheit nicht mehr einwilligungsfähige Patient dem behandelnden Arzt seine Wünsche für die medizinische Behandlung mitteilt. Für die vorsorglichen Verfügungen gibt es verschiedene Instrumente: Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patientenverfügung. Eine Behandlungsvereinbarung stellt eine Kombination von Betreuungsverfügung und Patientenverfügung dar (vgl. May 2001, 227). Mit einer Vorsorgevollmacht bevollmächtigt (nach deutschem Recht) eine Person eine andere Person, im Falle einer Notsituation bzw. einer später eintretenden Geschäfts- und/oder Einwilligungsunfähigkeit (z. B. durch altersbedingten Abbau von geistigen Fähigkeiten) alle oder bestimmte Aufgaben für den Vollmachtgeber zu erledigen, d. h. im Namen der betroffenen Person zu handeln. Sie ist eine Willenserklärung, die einem anderen Menschen die rechtsgeschäftliche Vertretung erlaubt und setzt deshalb voraus, dass der Vollmachtgeber zum Zeitpunkt der Erstellung bzw. Erteilung der Vollmacht über seinen freien Willen verfügt. Im Unterschied zur Patientenverfügung wird mit der Vorsorgevollmacht festgelegt, wer handeln soll, nicht, was der Bevollmächtigte im Fall unheilbarer Krankheit bei Einwilligungsunfähigkeit des Patienten anordnen soll. Eine Vorsorgevollmacht kann die Patientenverfügung nicht ersetzen. Von der Bundesärztekammer wurde empfohlen, eine Patientenverfügung immer mit einer Vorsorgevollmacht zu kombinieren, weil die gewählte Vertrauensperson als Bevollmächtigte den Patientenwillen gegenüber dem Arzt artikulieren und gegebenenfalls durchsetzen kann. Soll die Vorsorgevollmacht auch zur Einwilligung in medizinische Behandlungsmaßnahmen berechtigen, müssen die betreffenden Maßnahmen ausdrücklich (schriftlich) genannt werden. Gleiches gilt, wenn der Bevollmächtigte berechtigt sein soll, eine freiheitsentziehende Unterbringung des Vollmachtgebers zu veranlassen oder ihn vor Gericht zu vertreten. Mit der Vorsorgevollmacht ist die Einschaltung staatlicher Stellen, also die Bestellung eines rechtlichen Betreuers, entbehrlich, wenn der Bevollmächtigte vor Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit klare Handlungsanweisungen erhalten hat. Fraglich ist, ob die rechtliche Verpflichtung der Einschaltung eines Betreuers oder Bevollmächtigten bei Einwilligungen in Heilbehandlungen auch immer genügend Beachtung von den Ärzten findet. Die Entscheidung über eine geschlossene Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahmen wie das Festbinden am Bett, Anschnallen im Rollstuhl, Sedierung mit Medikamenten oder über Einwilligungen in Behandlungen, die als gefährlich gelten, darf jedoch nur mit vorheriger richterlicher Genehmigung getroffen werden.
5.4 Patientenautonomie und Patientenverfügung
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Ein Nachteil der Vorsorgevollmacht kann die fehlende Kontrolle sein, wenn etwa der bevollmächtigte Familienangehörige aufgrund einer neuen Situation andere Interessen verfolgt, als für den Vollmachtgeber vorhersehbar war. Eine Vollmacht garantiert einerseits eine weitestgehende Freiheit vom Staat und staatlicher sowie betreuerischer Bevormundung, entbehrt aber andererseits den Schutz, den der Staat mit Hilfe der Betreuerbestellung der Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes zur Verfügung stellt (vgl. May 2001, 168). Wenn der Betreuer keine Vertrauensperson ist und er seine eigene Entscheidung an die nicht mehr einholbare Meinung des Patienten setzen muss, dann könnte vielleicht das Bedürfnis für eine gerichtliche Kontrolle der Entscheidung des Betreuers gegeben sein (vgl. May 2001, 123 f.). Hierauf sowie auf das Verfahren, dass für den selbst nicht mehr handlungsfähigen Betroffenen (z. B. nach einem Unfall, (Hirn-)Infarkt, bei psychischer Erkrankung, Altersdemenz usw.) das örtlich zuständige Amtsgericht als Betreuungsgericht erforderlichenfalls einen Betreuer bestellt, kann im Vorfeld mit einer Betreuungsverfügung Einfluss genommen werden. Das Betreuungsgericht hat bei der Auswahl eines Betreuers die in der Betreuungsverfügung getätigten Vorschläge zu berücksichtigen. Während bei anderen Vorsorgemöglichkeiten (Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung) die betroffene Person auf das Vertrauen gegenüber dem Bevollmächtigten bzw. den Ärzten angewiesen ist, übernimmt hierbei das Gericht die Kontrolle über die Einhaltung der Vorgaben der Betreuungsverfügung. Zudem sind die in der Verfügung geäußerten Wünsche für das Gericht grundsätzlich auch dann zu beachten, wenn sie von einem Geschäftsunfähigen geäußert wurden. In den Unterlagen zu den Gesetzgebungsverfahren hat sich der Gesetzgeber gegen eine zu hohe Fallzahl von Betreuungen pro Betreuer ausgesprochen. Nur eine persönliche Betreuung ermöglicht es, die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde zu wahren (vgl. May 2001, 312 f.). Die Eignung eines Betreuers kann nicht abstrakt beurteilt werden, weshalb insbesondere seit 1997 eine Diskussion über das Anforderungsprofil für professionelle Betreuer sowie zu umfangreichen Tätigkeitskatalogen für Berufsbetreuer geführt wird (May 2001, 315–317, 321). In dem Zusammenhang wurden auch Tugendkataloge für die Betreuer bzw. Bevollmächtigten aufgestellt (vgl. May 2001, 347). Diese Anforderungsprofile sollten auch bei der Ausbildung des Berufsstandes berücksichtigt werden. Eine Patientenverfügung ist eine schriftliche Vorausverfügung (voraus greifende Selbstbestimmung, Willensbekundung) einer Person zu medizinischen und begleitenden Maßnahmen für den Fall, dass sie ihren Willen nicht mehr (wirksam) erklären kann. Erstmals gesetzlich geregelt wurde die Patientenverfügung in Deutschland nach intensiver gesellschaftlicher und parlamentarischer Diskussion durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts, das am 1. September 2009 in Kraft trat. Ziel war es, für alle Beteiligten mehr Rechtssicherheit im Hinblick auf die Ablehnung lebensverlängernder oder -erhaltender Maßnahmen im Vorfeld des Sterbens (Behandlungsverzicht) zu schaffen. Patientenverfügungen können Festlegungen in Form von vorauserteilten Einwilligungen in die Einleitung, den Umfang oder die Beendigung bestimmter Maßnahmen, Ablehnungen bestimmter Maßnahmen oder Anweisungen an behandelnde Ärzte und das Behandlungsteam
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enthalten (vgl. May 2008, 212). Eine Patientenverfügung ist formfrei, muss aber für die Entscheidungsbefugnis schriftlich abgefasst sein. Eine Patientenverfügung sollte 1. von einem urteilsfähigen, 2. von einem informierten Patienten, 3. ohne Zwang formuliert und 4. – als weiteres Kriterium der Selbstbestimmtheit – wohl überlegt sein. An welchen Kriterien aber muss sich die Wohlüberlegtheit orientieren? Bis zu welchem Maß muss sie konsistent sein? Trotz aller Vorsicht gibt es keine risikolosen Entscheidungen bei der Auslegung und Anwendung einer vorsorglichen Verfügung (vgl. May 2001, 193). Im Sinne der verlängerten Autonomie versprechen Patientenverfügungen eine größere Steuerungs- und Kontrollmöglichkeit für das eigene Leben (vgl. Quante 2002, 268). Der Vorteil des Patiententestamentes besteht in der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechtes, Nachteile erwachsen aus der zeitlichen Verschiebung. Diese kann dazu führen, dass nicht der aktuelle Wille dokumentiert wird (vgl. Schramme 2002, 30–41). Patientenverfügungen werden nur in seltenen Fällen die konkret eingetretene, aktuelle klinische Situation so präzise treffen, dass über die Interpretation kein Zweifel aufkommen kann (May, Charponnier 2005, 160). Denn die Patientenverfügung ist in dem Maße für den Arzt bindend, als die Handlungsanweisung für die aktuelle Situation zutrifft. Allerdings dürfen Patientenverfügungen kein ethischer Persilschein bei ökonomischen Zwängen und Zwangssituationen sein. Die Patientenverfügung kann nicht eine fundierte fachliche und ethische Kompetenz des behandelnden Arztes ersetzen (May, Charponnier 2005, 135). Selbstbindung und Vorsorge für die eigene Zukunft sind jedoch nicht die einzigen zentralen Elemente unserer Persönlichkeitsvorstellungen (vgl. Quante 2002, 272, 291). Zudem gibt es Grenzen personaler Autonomie und Konflikte innerhalb von ihr (vgl. Quante 2002, 287). Demzufolge muss die biografische Identität von Patientenverfügungen berücksichtigt werden. Biografische Identität ist die Grundlage für personale Autonomie. Auf der anderen Seite steht das Patientenwohl, das das medizinische Personal oft besser beurteilen kann als der Patient. Das Patientenwohl wiederum bestimmt sich nicht allein durch rein medizinische Parameter. Insofern hängt dieses Prinzip sehr eng mit der Patientenautonomie und dem Grundsatz des informierten Einverständnisses zusammen. Patientenautonomie setzt Kompetenz, Freiwilligkeit, Informiertheit, Zustimmung voraus, wobei es ebenfalls ein Recht auf Nichtwissen impliziert. Unbenommen bleibt dabei das therapeutische Privileg in seltenen Situationen, in denen die Aufklärung des Patienten diesem selber schaden könnte und in denen die „barmherzige Lüge“ gerechtfertigt erscheinen könnte. Ein gewisser Paternalismus im Sinne eines Handelns zugunsten einwilligungsunfähiger Patienten lässt sich ebenfalls begründen. Allerdings sollte ein starker Paternalismus, der auch über einwilligungsfähige Patienten verfügen möchte, abgelehnt werden. Der Versuch, die Einwilligung des Patienten zu umgehen, ist ethisch gesehen nicht statthaft. Auch die Frage, ob Gesundheit nicht wichtiger ist als Selbstbestimmung, geht hier an dem ethischen Problem vorbei. Auf jeden Fall sollte das scheinbar objektive medizinische Kriterium des Wohlergehens aus ethischer Perspektive nicht unbedingt höher bewertet werden. Die Patientenverfügung ist insbesondere eine Frage der Einwilligungsfähigkeit, wenn sie hinsichtlich ihrer Legitimität überprüft wird. Bei weit in die Zukunft
5.4 Patientenautonomie und Patientenverfügung
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reichenden Entscheidungen stellt sich die Frage nach der Vorhersehbarkeit der Zukunft und der Verbindung zwischen Willenserklärungen des einwilligungsfähigen Menschen und Äußerungen des bewusstseinsgetrübten und nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten, für den die Patientenverfügung zur Anwendung kommen soll. Die Mindestkriterien für die Ermittlung des mutmaßlichen Willens hat der Bundesgerichtshof 1994 vorgegeben. Dies sind frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine religiösen Überzeugungen, seine sonstigen persönlichen Wertvorstellungen, seine altersbedingte Lebenserwartung oder das Erleiden von Schmerzen. Ist die Ermittlung des individuellen mutmaßlichen Willens nicht möglich, so soll nach Ansicht des Bundesgerichtshofes auf Kriterien allgemeiner Wertvorstellungen zurückgegriffen werden (vgl. May 2008, 213–215). Patientenverfügungen, die z. B. ein dementes Dahinvegetieren verhindern wollen, stehen vor grundsätzlichen Schwierigkeiten. Bekanntlich können sich Menschen an vieles anpassen. Und liegt bei Demenzen überhaupt noch dieselbe Person vor? Und die moralischen Probleme verstärken sich noch bei einem Stellvertreter oder Vormund. Der mutmaßliche Patientenwille ist nicht immer leicht zu eruieren. Er setzt Kenntnisse der tiefsten Wertüberzeugungen des Patienten, der nicht mehr einwilligungsfähig ist, voraus. Auch Überlegungen zur Lebensqualität des Betroffenen sind dabei nötig. Gerade bei Entscheidungen zum Tod ausschließlich auf einen mutmaßlichen Willen zurückzugreifen, ist moralisch gesehen heikel. Kann der Tod jemals im vorrangigen Interesse eines Patienten sein? Kann er eine Wohltat sein? Ein weiteres Problem und am schwierigsten sind Entscheidungen für Patienten, die niemals kompetent sein werden, von Geburt an geistig Schwerbehinderte oder Anenzephale (vgl. Schramme 2002, 42 f.). Ein plötzlicher, unerwarteter Tod kommt heute eher selten vor; häufiger ist ein länger dauerndes Sterben im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Für andere Menschen ist nur ein selbst bestimmter Tod durch Suizid die richtige Weise, mit dem Sterben umzugehen (vgl. May 2001, 136). Aber auch mit einem Patiententestament kann der Patient nicht erwarten, dass der Arzt ethisch dazu verpflichtet ist, alle seine Verfügungen buchstabengetreu zu erfüllen. Beispielsweise kann kein Patient wirksam verfügen, dass der behandelnde Arzt ihn für den Fall einer unheilbaren Erkrankung und großer Schmerzen im Sinne der aktiven Euthanasie tötet. Praxisprobleme wirft auch die Unbestimmtheit vieler Patiententestamente auf: Rechtlich wirkungslos ist es, ein Behandlungsverbot an die Unmöglichkeit zu knüpfen, in Zukunft ein „menschenwürdiges Dasein“ führen zu können. Was als menschenwürdiges Dasein anzusehen ist, kann nur vom Betroffenen selbst entschieden werden und sollte darum auch vom Betroffenen aufgezählt werden. Die im Patiententestament verfügte Behandlungsverweigerung kann jederzeit widerrufen werden. Es genügt ein Zeichen mit den Augen oder ein Kopfnicken auf die entsprechende Frage des Arztes, der in jedem Behandlungsstadium verpflichtet ist zu prüfen, ob der Patient noch an seiner Erklärung festhalten will (vgl. Eser u. a. 1989). Jede Präferenzäußerung des Patienten unterliegt der abwägenden Bewertung der Behandelnden, wodurch die Werthaltungen der Behandelnden in die Entscheidung mit einfließen (vgl. May 2001, 199). Der Zustand der Nichteinwilligungsfä-
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5. Ethische Probleme am Lebensende
higkeit muss aber nicht eo ipso dazu führen, den Menschen als Objekt der Hochleistungsmedizin zu sehen. Es ist zwar selbstverständlich und ethisch geboten, eine „sinnlose“ Behandlung zu unterlassen oder abzubrechen, in der Intensivmedizin zeigt sich aber häufig erst im Verlauf einer Behandlung, ob diese erfolgreich ist oder nicht. In vielen Fällen lässt sich eine Behandlung in der Intensivmedizin also erst retrospektiv in ihrer Wirksamkeit beurteilen. Intensivmedizin als Verfahren dient der Überwachung (Monitoring), Wiederherstellung und Aufrechterhaltung gefährdeter oder gestörter Vitalfunktionen bei lebensbedrohlich Verletzten und Erkrankten. In der umgangssprachlichen Bedeutung wird Intensivmedizin meist mit neueren technischen (invasiven) Behandlungsmethoden zur künstlichen Beatmung und Unterstützung der Vitalfunktionen identifiziert. Ihre Wahrnehmung und ein verstärktes Interesse in der Öffentlichkeit werden nicht zuletzt durch Fernsehberichterstattung und TV-Serien geprägt. Ihre historischen Wurzeln liegen in der Anästhesiologie. Als direkte Folge der großen Polio-Epidemie (1952) wurde in Kopenhagen vom Anästhesisten Björn Ibsen 1954 die erste Intensivstation gegründet, zur Langzeitbeatmung der Patienten (Reisner-Sénélar 2009). Eine andere Vorstufe waren die coronary care units, Stationen zur EKG-Überwachung von Herzinfarktpatienten mit der Möglichkeit der Defibrillation bei Kammerflimmern und -tachykardie. Die Intensivmedizin ermöglicht ein medizinisch gestütztes Überleben schwerkranker Patienten über einen, je nach Krankheitsbild, längeren Zeitraum bei kontinuierlicher Überwachung. Im Gegensatz zu den damit ganz offensichtlichen positiven Aspekten wird Intensivmedizin häufig aber auch als seelenlose Apparatemedizin mit einem übersteigerten Machbarkeitswahn und Omnipotenz empfunden, der man ausgeliefert ist. Intensivmedizinische Behandlungen werden sogar als eine Zuspitzung der normalen Verhältnisse im Krankenhaus charakterisiert, weil Intensivpatienten in besonderer Weise hilflos und abhängig und oft über einen längeren Zeitraum hinweg nicht einwilligungsfähig sind (vgl. May 2001, 139 f.). Die grundsätzliche ärztliche Entscheidung im Verlauf der intensivmedizinischen Behandlung verlangt eine Handlung gemäß dem Patientenwillen, sofern dieser eindeutig festgelegt ist (vgl. May, Charponnier 2005, 132 f.). Die Aufrechterhaltung von (gefährdeten/gestörten) Vitalfunktionen ist nicht nur für die Intensivmedizin von Relevanz, sondern birgt generell für die medizinische und pflegerische Betreuung nichteinwilligungsfähiger Patienten im Sinne des Lebenserhalts oder gar einer Lebensverlängerung ein schwerwiegendes ethisches Problem. Möglich ist etwa eine künstliche Ernährung mit Hilfe der perkutanen endoskopisch kontrollierten Gastrostomie (PEG); die meist bilanzierte und stoffwechseladaptierte Sondenernährung wird mittels einer Magensonde appliziert, die durch Haut und Bauchwand in den Magen verläuft und nicht durch die Speiseröhre, wie bei der transnasalen Magensonde. Vorteil der PEG ist die verringerte Aspirationsgefahr und dass der Patient zusätzlich zur verabreichten Sondennahrung ungestört schlucken kann. Die Indikationsstellung in der terminalen Lebensphase hat allerdings einen grundsätzlichen Wandel erfahren. Während des natürlichen Sterbeprozesses kommt es bei den Patienten zu einer verminderten Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit. Intuitiv wurde angenommen, dass mit der Sondenernährung
5.4 Patientenautonomie und Patientenverfügung
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das körperliche und emotionale Wohlbefinden dieser Patienten erhalten oder sogar gesteigert und damit die Lebenserwartung erhöht werden kann. Diese Theorie wurde inzwischen mit zahlreichen Studien widerlegt. Hinzu kommt, dass das Anlegen der Sonde kein pflegerischer, sondern ein therapeutischer Eingriff ist, der somit der Einwilligung bzw. der Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen Willen des Patienten bedarf (vgl. Kap. 5.2). Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten wird die auf längere Dauer gelegte PEG-Sonde als vormundschaftsgerichtlich zu genehmigende Maßnahme angesehen, wenn die Ernährung länger als wenige Wochen erfolgen soll (vgl. May 2001, 159, Irrgang, Oehmichen 2005). Die Diskussion über künstliche Ernährung am Ende einer Alzheimer-Krankheit ist häufig eine eingeengte Fragestellung, die die Gesamtsituation des Patienten mit seiner immer zum Tode führenden Krankheit nicht erfasst (May, Charponnier 2005, 139). Der übliche Gebrauch der Begriffe Wachkoma und apallisches Syndrom suggeriert, dass es sich um ein klar abgegrenztes Krankheitsbild handelt – dieser Eindruck ist falsch und die vielleicht entscheidende Ursache der Konflikte (May, Charponnier 2005, 147). Ein eigenständiges Problem stellt die stellvertretende Entscheidung zur Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen dar. Hier stellt sich die Frage, wie das Interesse eines Patienten am besten von außen objektiv bestimmt werden kann. Diese Personengruppe sollte nur in die Forschung einbezogen werden, wenn die Forschung erforderlich ist, um die Gesundheit der medizinischen Gruppe zu fördern und nicht an einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden kann (vgl. May 2001, 126–129). Wir stoßen also allenthalben an Grenzen der Autonomie. Die Verweigerung von medizinischen Eingriffen könnte als passiver Paternalismus beschrieben werden. Die Fehler einer objektiven Theorie des Patientenwohls sind offenkundig. Außerdem ist problematisch, was als Schädigung zu verstehen ist. Die Medizin hat die primäre Aufgabe, Krankheiten zu heilen und nicht auf andere Bereiche auszugreifen. Biowissenschaften werden dann problematisch, wenn sie alle Lebensbereiche medikalisieren wollen (vgl. Schramme 2002, 44–48).
6. SCHLUSS: MEDIZINISCHE FORSCHUNG UND KLINISCHE PRAXIS IN DER TECHNOLOGISCHEN HYPERMODERNE 6.1 TIERVERSUCHE IN DEUTSCHLAND, GESETZLICHE REGELUNGEN UND ETHISCHE DISKUSSION Im 19. Jahrhundert wurden verschiedene Tierschutzgesetze erlassen. Verstärkt wurden theoretische Begründungen des Tierschutzes durch Darwins Evolutionstheorie, die eine Abstammung heute lebender Affenarten und des Menschen von gemeinsamen Vorfahren begründete, weil insbesondere zwischen höheren Säugetieren und dem Menschen nur graduelle Unterschiede bestehen. Der Eigenwert von Tieren bis hin zum Postulat einer Tierperson in der Tierethik als Grundlage für Tierrechte sollten den Tierschutzgedanken aufwerten und philosophisch-ethisch begründen, um den traditionell pragmatisch begründeten Tierschutz zu hinterfragen. Dieser orientiert den Schutz von Tieren nach Nutzungsinteressen von Menschen. In der biomedizinischen Forschung, in der Arzneimittelentwicklung, in der Prüfung von Substanzen auf ihre Verträglichkeit und Unbedenklichkeit sowie nicht zuletzt im Umweltschutz scheint eine gewisse Anzahl von Tierversuchen unumgänglich zu sein. Der Tierversuch gibt im Vorfeld der medizinischen Forschung eine Orientierung über die Wirksamkeit eines Verfahrens oder einer Substanz. Hier ist das Tier Stellvertreter des Menschen. Experimente mit Tieren sind mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Daher sollten Tierversuche, insbesondere wenn sie mit Schmerzen verbunden sind, auf das unerlässliche Maß reduziert und alle Alternativmethoden ausgeschöpft werden. Ethische Aspekte werden im Tierschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung von 1986/1987, novelliert im Jahre 1993, 2002 und 2012, berücksichtigt. Die Gesetzesfassung von 1993 hat das Tier zum Mitgeschöpf erhoben und ihm damit eine Sonderstellung unter den Lebewesen zugebilligt. Aus Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Obwohl der schöpfungstheologisch-biblische Hintergrund als Partial-Ethos für eine philosophisch-universalistische Ethik gewisse Schwierigkeiten bereitet (vgl. Nida-Rümelin 1996, 287 f.), können ethisch begründende Überlegungen die im Tierschutzgesetz formulierte Mitgeschöpflichkeit nicht nur von der Bibel her rechtfertigen, sondern auch aus der in der Präambel des Grundgesetzes formulierten Freiheit vor Gott begründen (vgl. Teutsch 1991, 46). Tiere dürfen für die wirklichen Bedürfnisse des Menschen – so die rechtliche Formulierung, was immer man darunter verstehen mag – in Anspruch genommen werden, andererseits trägt der Mensch Verantwortung für sein Handeln und steht damit unter einer Rechtfertigungspflicht. Zur Lösung vorhandener Interessenkonflikte sind sorgfältige Güterabwägungen erforderlich. Das Tier hat Anspruch auf Schutz, möglichst auf Schmerzfreiheit, Leidensfreiheit und körperliche
6.1 Tierversuche in Deutschland, gesetzliche Regelungen und ethische Diskussion
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Unversehrtheit. Dennoch gewährt das Gesetz einen gewissen Ermessensspielraum, da es die Schmerzzufügung aus einem vernünftigen Grund zulässt. Welche Gründe als vernünftig anzusehen sind, klärt das Gesetz jedoch nicht im Einzelnen. Die Tierhalternorm verpflichtet, das Tier seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen zu ernähren, zu pflegen und verhaltensgerecht unterzubringen oder zu transportieren. Es geht darum, die Grenzen zu formulieren, bis zu denen Schutzansprüche von Tieren akzeptiert werden sollen. Dazu werden in der Literatur physiologische, biochemische und biophysikalische Kriterien, aber auch pathologische und ethologische Indikatoren diskutiert (vgl. Rojahn 1986, 183 f.). Auch bei der Ausbildung von Tieren dürfen dem Tier keine Leistungen abverlangt werden, die es in der Regel nicht erbringen kann (§ 3). Die Tötung von Tieren hat sachgemäß und schmerzfrei zu erfolgen (§ 4). Nach § 4a darf ein warmblütiges Tier nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. Als Ausnahmen gelten die Notschlachtung und das Schächten. Tierquälerei geschieht heute häufig nicht mehr durch Menschen, sondern durch technische Einrichtungen (vgl. Teutsch 1983, 119). Im Vordergrund steht die tierliche Leistung und nicht das tierwürdige Dasein (Händel 1984, 161). Zwar wird die eine oder andere Stimme laut, die nach einer Verschärfung der Tierschutzgesetze ruft, dennoch enthält das Tierschutzgesetz aus der Perspektive einer ökologisch reflektierten Anthropozentrik weitgehende Forderungen, die erst verwirklicht werden sollten, bevor über einen erweiterten Tierschutz nachgedacht wird. Paragraph 7 fordert, dass Tierversuche, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind, nur dann durchgeführt werden dürfen, wenn sie (1) der Vorbeugung, Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden bei Mensch und Tier oder (2) dem Erkennen von Umweltgefährdungen oder (3) der Prüfung von Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch und Tier oder (4) der Grundlagenforschung dienen. Tierversuche zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und dekorativen Kosmetika sind grundsätzlich verboten. Versuche an Wirbeltieren sind genehmigungspflichtig (§ 8), sind auf das unerlässliche Maß zu beschränken und dürfen nur von fachkundigem Personal vorgenommen werden (§ 9). Für wissenschaftliche und medizinische Ausbildung sind Tierversuche zugelassen, soweit ihr Zweck nicht durch andere Mittel erreicht werden kann (§ 10). Ein zentrales Kapitel in der Geschichte der Behandlung der Tiere war Singers Buch „Animal liberation“ („Die Befreiung der Tiere“ von 1975). Hier vertrat er die These, dass gleicher Schaden gleich bewertet werden sollte und nicht im geringeren Maße für Tiere. Zusammen mit Richard Ryders Begriff des Speziesismus verlangte diese Position eine gleiche Betrachtung für gleich signifikante Interessen (vgl. Orlans 1993, 25). Die Analyse dessen, was es heißt, Interessen zu haben, verweist jedoch auf menschliche Wesen. Diese allein erkennen Interessen an und verfolgen kompetent Interessen. Die häufigste Art der Analyse des Interessen-Konzeptes verknüpft dieses mit Präferenzen bzw. Wünschen, wobei Empfindungsfähigkeit, insbesondere die Kompetenz, Schmerzen haben zu können, zu den Voraussetzungen dieses Modells gehört (vgl. Frey 1980, 55). Der Begriff der Präferenz impliziert Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit. Dies setzt ein mehr oder weniger
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
individuelles Selbstbewusstsein voraus. Menschliche Bedürfnisse sind viel differenzierter als die von Tieren. Außerdem fehlt Tieren das reflexive Bewusstsein, welches Menschen dazu befähigt, Erfahrungen zu machen und eigenverantwortlich zu handeln (vgl. Frey 1980, 109). Tiere sind nicht in der Lage, Behauptungen aufzustellen oder zu urteilen (vgl. Frey 1980, 120). Auch Emotionen lassen sich nicht zur Erklärung von Wünschen bei Tieren heranziehen. Frey verweist auf die Komplexität des Emotionalen beim Menschen, die sich nicht einfach auf ein StimulusAntwort-Schema reduzieren lässt. Peter Singer scheint jedoch implizit anzunehmen, dass Mensch und Tier im Grenzfallbereich so nahe beieinanderliegen (geistig schwer Behinderte, Embryonen, Menschen im Koma; höchstentwickelte Säugetiere andererseits), dass ein moralisch relevanter Unterschied nicht zu sehen ist. Dies liegt aber an Singers präferenzutilitaristischem Ansatz, der unter der Hand ethisch relevante empirische Tatsachen zu ethischen Grundsätzen erhebt. Individuelle Präferenzen und Interessen (als empirisch fassbare psychische Tatsachen) taugen nicht zur Normen- und Rechtebegründung von Tieren und für Menschen. Denn aus ethischer Perspektive kann immer gefragt werden, ob die Befriedigung bestimmter Interessen denn ethisch vertretbar ist oder nicht. Empfindungsfähigkeit, Bewusstsein und Schmerzwahrnehmungsvermögen sind ethisch relevante empirische Tatsachenfeststellungen, die in Tierschutzfragen eine wichtige Rolle spielen, ersetzen aber keinen ethischen Grundsatz (Irrgang 1997, 211 f.). Gegen Versuche, Unterschiede zwischen Tier und Mensch weitgehend einzuebnen, hat Otfried Höffe zu Recht eingewandt: „Denn im Unterschied zu Kindern und Geisteskranken […] sind Tiere nicht nur vorläufig oder aufgrund außergewöhnlicher Schäden, sondern grundsätzlich nicht mündige, nicht zurechnungsfähige Wesen. Das gilt auch für Affen, Delfine oder andere höhere Tiere, die gemäß naturwissenschaftlicher Untersuchungen über ein beachtliches Maß an Intelligenz verfügen“ (Höffe 1984, 130). Der Mensch ist Person, Tiere können dies prinzipiell nicht werden. Das Tier nämlich lebt amoralisch und wird dressiert (Höffe 1984, 131). Zudem könne man den Menschen Tierquälerei vorwerfen, nicht aber umgekehrt Tieren Menschenquälerei. Menschen können hypothetisch den Standpunkt von Tieren einnehmen und ihre natürlichen Strebungen in einer Güterabwägung berücksichtigen. Nach unserem derzeitigen Wissen kann das kein Tier. Darum ist Menschen ein moralisch höherer Wert zuzubilligen, schon weil man an sie im Unterschied zu Tieren Verpflichtungen als Sollensansprüche adressiert. Tieren fehlt die Fähigkeit zu moralisch zurechenbaren Handlungen, so differenziert ihr Verhalten uns auch erscheinen mag. Dies sagt nicht nur etwas über moralische Verdienste des Menschen aus, sondern impliziert einen höheren Wert dessen, der sittlich zurechenbar handeln kann, denn es ist vom moralischen Standpunkt aus wertvoller, sittlich zu handeln als sich nicht sittlich zu verhalten. Macht man diese Voraussetzung nicht, so hebt sich Ethik in ihrem Ansatz selbst auf (Irrgang 1997, 176 f.). Auch wenn die Anlage zu Freiheit und Sittlichkeit kein empirisch feststellbares Kriterium für den Tier-Mensch-Unterschied darstellt, kann man ohne Selbstwiderspruch dem Menschen diese Kompetenz nicht zugleich absprechen und eine Tierschutzethik fordern. Zudem unterstellt eine empirische Betrachtungsweise des Tier-
6.1 Tierversuche in Deutschland, gesetzliche Regelungen und ethische Diskussion
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Mensch-Unterschiedes eine evolutionäre Uniformitätshypothese, die unerweisbar bleibt. Der Hinweis auf die Uniformität der Natur in Beweisabsicht gebraucht, kann nur als zirkulär eingestuft werden (Irrgang 1997, 179). Dass Tiere sittlich zurechenbar handeln können, behauptet ernsthaft niemand. Allenfalls wird ein moralanaloges Verhalten wie Tötungshemmungen (vgl. Brockhaus 1975, 111) von Tieren beschrieben. Eine Moralität von Tieren kennt scheinbar das Reinkarnationssystem des Hinduismus (vgl. Rollin 1981, 7), aber auch dort ist genau genommen nicht von der Moralität von Tieren die Rede, sondern gemäß dem Karma-Gesetz von den sittlichen Konsequenzen der Handlungen von auch in Tieren oder anderen Lebewesen reinkarnierten selbständigen Seelensubstanzen. In der Philosophie wurde insbesondere seit Descartes der Tier-Mensch-Unterschied, seit Darwin das Tier-Mensch-Übergangsfeld diskutiert. Die Frage des Tier-MenschVergleiches (vgl. Teutsch 1985, 133–135) ist vor allem für den Status der Person wichtig, aber schwierig: Es ist bis heute nicht gelungen, den Unterschied zwischen Mensch und Tier begrifflich exakt zu fassen (vgl. Brockhaus 1975, 110). Aber in der Phänomenbeschreibung lassen sich doch hinreichend viele signifikante Unterschiede anführen (siehe Irrgang 2009). Der Tierschutz würde hinsichtlich der Erlaubnis zur Tötung von Tieren eine erhebliche Ausweitung erfahren, wenn wir Tieren den Status einer Person mit einem individuellen Interesse, am Leben zu bleiben, zuschreiben. Peter Singer diskutiert einen solchen Personenstatus von Schimpansen, Gorillas, Delphinen und Walen. Traditionell wird der Tier-Mensch-Unterschied und Personalität in der Rationalität und Moralität des Menschen gesehen. Wenn Personalität aber an Kriterien wie Lust-/Unlust-Empfindungen oder an Bewusstsein oder Individualität gebunden wird, dann ist die Frage erlaubt, ob es so etwas wie eine Tier-Person geben kann. Auch bei Tieren beobachte man selbstlose und geplante Hilfeleistungen, die über moralanaloges Verhalten hinausgingen. Und gelegentlich kommen psychoreaktive Verhaltensstörungen auch bei Tieren vor (vgl. Brockhaus 1975, 129). In der Tat müssen gängige Vorstellungen über Tiere und ihr Bewusstsein korrigiert werden. Verhalten von Tieren ist als fortlaufendes Anpassungsmuster zu verstehen (vgl. Griffin 1990, 125). Tiere verändern teilweise ihre unmittelbare Umgebung und erhöhen dadurch ihre Überlebens- und Vermehrungschancen auf lange Sicht. Zu diesem Verhalten gehört die Anlage von Unterkünften, Werkzeuggebrauch (vgl. Griffin 1990, 152), das Herrichten von Werkzeugen, wobei die Tätigkeit der Biber besonders faszinierend ist. Bedeutungsvoll sind auch die Kommunikationsprozesse wildlebender Affen, wobei diese Tiere Schwierigkeiten mit der Beherrschung des stimmlichen Apparates aufweisen. Das Ehepaar Gardner lehrte Affen die amerikanische Taubstummensprache. Doch selbst bei großzügiger Auslegung bleibt ein breiter Graben zwischen der Zeichenverwendung dieser dressierten Affen und der Sprache von Kindern mit vergleichbarem Wortschatz (vgl. Griffin 1990, 249). Und dies ist ein ethisch relevanter Unterschied in der Bewertung von Handlungen und ihrer Moralität. Griffin spricht von der Hypothese eines Bewusstseins von Tieren (vgl. Griffin 1990, 260). Zugang zu diesem finde man vielleicht über Tierträume. Wenn auch diese Überlegungen nicht das Konzept einer sittlich zurechenbar handelnden Tierperson begründen, so entwickeln sie doch ethisch re-
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
levante empirische Kriterien bei der Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren: Schmerzempfindlichkeit, Verhaltensrepertoire, Kommunikationsverhalten und die Möglichkeit von Bewusstsein. Ob eine Ausweitung in der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auf Tiere möglich ist, wie sie biozentrische Positionen fordern, hängt methodisch gesehen von der Bewertung des Gerechtigkeitsgrundsatzes ab. Klaus-Michael Meyer-Abich schlägt eine naturgeschichtliche Begründung des Gleichheitsprinzips als Gerechtigkeitsgrundsatz aus dem naturgeschichtlichen Verwandtschaftszusammenhang heraus vor (vgl. Meyer-Abich 1984, 175). Meyer-Abich formuliert das Gerechtigkeitsprinzip folgendermaßen: „Das Gleichheitsprinzip, dass zweierlei gemäß seiner Gleichheit gleich und gemäß seiner Verschiedenheit verschieden behandelt werden soll, ist wohl der elementarste Grundsatz der Gerechtigkeit“ (Meyer-Abich 1984, 27). Meyer-Abich glaubt, dass Menschen im Lebenswillen oder in der Schmerzempfindlichkeit weiten Bereichen der Natur gleich seien. Zwar ist nicht zu leugnen, dass im Lebenswillen oder in der Schmerzempfindung Ähnlichkeiten zwischen Menschen und zumindest Säugetieren vorliegen können. Zu bestreiten ist jedoch die behauptete Gleichheit. Zudem wäre sie empirischer und nicht ethischer Natur. Um dem Problem des naturalistischen Fehlschlusses aus evolutionär begründeten „Ähnlichkeiten“ auf sittliche Verpflichtungen zu entgehen (Irrgang 1997, 163– 182), wurde ein Gradualismus auf der Basis einer ökologisch gewendeten Gerechtigkeitskonzeption entwickelt. Zunächst ist Höffes Idee einer „abgestuften Solidarität“ (Höffe 1984, 135) zwischen Mensch und Tier zu erwähnen: „Tiere, bei denen aufgrund ihrer Organisationsstruktur (Haut- und Gehirnstruktur) ein qualitativ höherer Grad von Schmerz- und Angstfähigkeit zu erwarten ist, verdienen eine größere Rücksicht als Tiere mit einem qualitativ geringeren Grad von Schmerzfähigkeit“ (Höffe 1984, 136). Diese abgestufte Solidarität erlaubt Güterabwägungen zwischen Tier und Mensch. Dennoch besteht nach Höffe keine Notwendigkeit, ein Tötungsverbot anzuerkennen, denn Tiere haben als Gegenwartswesen kein spezifisches Verhältnis zu ihrem Tod. Der Begriff der Solidarität ist in diesem Zusammenhang ebenfalls fragwürdig, setzt er doch Hilfeleistung unter gleichberechtigten Personen voraus. Dass ein solches Verhältnis vorliegt, ist im Fall der Tier-MenschBeziehung sehr zu bezweifeln. Eine evolutionär begründete biologische Ähnlichkeit mit anderen Lebewesen, z. B. Säugetieren in der landwirtschaftlichen Produktion oder in Tierversuchen, begründet keine moralische Gleichheit, die kulturell aus der Menschheitsgeschichte und methodisch aus der Verpflichtung zu einem verallgemeinerbaren, möglichst interessefreien und unparteilichen Standpunkt im Hinblick auf alle Lebewesen gerechtfertigt werden kann. Allerdings ist unser menschliches Eingriffsrecht in Bereiche der Natur nach der Grundmaxime der Fairness gegenüber der Natur abzustufen (abgestuftes Dringlichkeitskriterium der Berücksichtigungswürdigkeit von Handlungsbetroffenen; vgl. Irrgang 1997, 204–212). Dieser Ansatz erkennt höchstentwickelten Säugetieren wie Affen oder bestimmten Meeressäugern eine sehr hohe Berücksichtigungswürdigkeit zu (vgl. Irrgang 1997, 205). Menschen können am eigenen Leibe den Übelcharakter des Schmerzes erfahren. Aber die Zufügung von Schmerz ist nicht in jedem Falle sittlich verwerflich,
6.2 Forschung am Menschen und Humanexperimente
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etwa bei lebensrettender medizinischer Therapie. So ist der Schmerz bei Tier und Mensch kein ethisches, wohl aber ein ethisch relevantes Kriterium. Schmerz (Position der Pathozentrik) tritt über Speziesgrenzen hinweg auf. Disstress, Ängstlichkeit, Furcht und Missbehagen sind Verhaltensweisen, die man auch bei Tieren ablesen kann (Position der Biozentrik). Diese alle können unter dem Oberbegriff des Leidens zusammengefasst werden, wobei menschliches Leiden hier noch ganz andere Dimensionen aufweist. Es gibt Verhalten, das Schmerz anzeigt. Die Fähigkeit, Schmerz empfinden zu können, ist bei Tieren ganz unterschiedlich. Z. B. kann der Oktopus Schmerz empfinden, obwohl er nicht über ein zentrales Nervensystem verfügt. Kopffüßler haben insgesamt ein relativ komplexes Nervensystem. Über Schmerzempfindungen bei Insekten besteht Dissens (vgl. Orlans 1993, 141–151). 6.2 FORSCHUNG AM MENSCHEN UND HUMANEXPERIMENTE – RICHTLINIEN UND DEREN DISKUSSION An Universitätskrankenhäusern wird es besonders deutlich: Medizin ist einerseits wissenschaftliche Forschung und andererseits Behandlung von Erkrankten. Angewandte Wissenschaften werden oft als Praktiken gesehen, die fortlaufende Innovationen erzeugen, die den wechselnden Umständen angepasst werden müssten. Daher sei es nicht einfach zu bestimmen, wo die Forschung beginnt und wo die Standardpraxis endet. In der medizinischen Forschung gibt es viele Behandlungsarten oder Praktiken, die zugleich schmerzerzeugend und hilfreich sind. Chemotherapien sind gewöhnlich sehr unangenehm und ihre Effektivität liegt darin, dass sie toxisch sind – am meisten toxisch zu den Krebszellen und den nicht-normalen Zellen. Das Ziel des Selektionsprinzips in diesem Fall besteht darin, Patienten herauszufinden, für die die Vorzüge der Innovationen in einer Proportion stehen zu den Schäden, die sie aktuell erleiden, oder für das Risiko, das sie eingehen (vgl. Chadwick 1998, 261 f.). Daher lassen sich zumindest theoretisch drei Bereiche unterscheiden, (1) Forschung im ärztlichen Alltag bei der Behandlung oder im Rahmen einer Therapie oder als Klinische Forschung bei der Einführung neuer Medikamente und diagnostischer Verfahren, (2) als Heilversuch noch im Versuchsstadium an ausgewählten Patienten und (3) als Humanexperiment im Sinne medizinisch-wissenschaftlicher Forschung. Das Humanexperiment verfolgt rein wissenschaftliche Fragestellungen, von deren Beantwortung der Patient unmittelbar nicht profitiert, weil allgemein medizinisches Wissen erzeugt wird. Davon zu unterscheiden sind Beobachtungen und Erfahrungen, die der Arzt bei der Behandlung seiner Patienten gewinnt. Dazwischen steht der Heilversuch, der sowohl der Behandlung des Patienten als auch zukünftigen Patienten dient. Heilversuche im Übergangsbereich zwischen reinem Experiment und reinem Heileingriff sind vor dem Experiment zu bevorzugen, jedenfalls wenn es um die Behandlung von Erkrankten geht. Durch die Biologisierung und Technologisierung der Medizin tritt der Charakter der Forschung und der Wissenschaft immer stärker in den Vordergrund. Obwohl insbesondere Tierversuche in der öffentlichen Meinung wie in der Tierethik immer kontroverser diskutiert werden,
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
werden sie von der Forschung nach wie vor als unverzichtbar angesehen. In Tierwie Menschenversuchen bemüht sich biomedizinische Forschung intensiv darum, kausales Wissen zu erarbeiten, um die Grundlagen für Prophylaktika, Diagnostika wie Therapeutika zu entwickeln. Humanexperimente gelten als erlaubt, solange keine Schädigungen der Versuchspersonen im Sinne von Straftatbeständen gegeben sind, wobei Körperverletzung oft auch nachträglich feststellbar ist, nicht hingegen die seelischen Schäden, die durch inhumane Humanexperimente hervorgerufen wurden. Die Legitimität eines Experimentes beruht auf der Einwilligung des Probanden (vgl. Knessl 1989, 75–77). Die Einwilligung zu einem Humanexperiment ist von einer adäquaten Aufklärung abhängig. Diese kann z. B. bei einem Doppel-Blind-Versuch (Arzt und Patient wissen nicht, wer aus einem bestimmten Kreis von Personen Placebos und wer das zu testende Medikament erhält) durch den Versuchsleiter nur höchst allgemein ausfallen. Daher dürfen Doppel-Blind-Versuche mit keinem Risiko verbunden sein (vgl. Knessl 1989, 77 f.). Zudem sollten Unwissende, leicht Beeinflussbare und Abhängige am wenigsten durch die medizinische Forschung herangezogen werden (vgl. Knessl 1989, 82). Heilversuche im Übergangsbereich zwischen reinem Experiment und reinem Heileingriff sind vor dem Experiment zu bevorzugen (vgl. Knessl 1989, 75). Experimente am Menschen erscheinen damit ethisch nur vertretbar unter der Bedingung, dass die Risiken für den Menschen aufgrund von Tierversuchen abschätzbar geworden sind (vgl. Schaefer 1983, 236). Aus ethischen Gründen wird die Abschaffung des Humanexperimentes gefordert, andererseits sehen Ärzte keine Alternative zu naturwissenschaftlichen Experimenten mit Trägern von Krankheiten. Humanexperimente seien im besten Interesse ihrer Patienten. Dabei müsste allerdings genauer diskutiert werden, welche Risiken einem Patienten aus Gerechtigkeitsgründen noch zugemutet werden können, wenn er von den Experimenten keinen Vorteil hat, sondern der wissenschaftliche Fortschritt oder künftig therapierbare Patienten. Hinsichtlich des erwarteten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und der Fragestellungen lassen sich medizinische Menschenversuche auf drei wesentliche Grundtypen reduzieren: (1) die Frage nach der Funktionsweise des gesunden menschlichen Organismus, (2) die Frage nach der Wirkungsweise von Giften und Medikamenten, (3) die Frage nach der Herkunft, dem Wesen und der Heilung von Krankheiten. Diese drei Grundfragen bestimmten die Menschenversuche letztlich bereits – soweit wir wissen – seit der Antike, als sie aus wissenschaftlichem Interesse mit der Intention verbunden waren, das herrschende antike medizinische Konzept der Humoralpathologie abzulösen und nach neuen Denkansätzen zu suchen (vgl. Winau 1986, 84). Am deutlichsten widerspiegelte sich dies im erwachenden anatomisch-physiologischen Interesse und war (nur) in der wissenschaftsfreundlichen Hauptstadt des Ptolemäerreiches Alexandria möglich. Die bedeutendsten Vertreter dieser Schule Herophilos und Erasistratos haben die wohl berühmtesten Menschenversuche der Antike durchgeführt: An zum Tode verurteilten Verbrechern nahmen sie Untersuchungen zur menschlichen Anatomie und Physiologie vor, wobei es sich zum Teil um sog. Vivisektionen, also Sektionen am lebenden Menschen, handelte (vgl. Reuland 2004, 5; Elkeles 1996, 154 f.; auch Ferngren 1985, 495–505).
6.2 Forschung am Menschen und Humanexperimente
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Dieses Vorgehen blieb ohne Nachahmer. Wenn auch die die Menschenversuche bestimmenden drei Grundfragen gültig blieben, so wandelte sich aber mit dem medizinischen Menschenbild, dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Art und Umfang der durchgeführten Versuche. Der Gedanke einer experimentellen Forschung konnte sich erst durchsetzen, als sich die Medizin zunehmend vom antik-mittelalterlichen Dogmatismus löste und statt der antiken Autoritäten die Berufung auf die eigene (kritische) Beobachtung zur entscheidenden Instanz in wissenschaftlichen Fragen wurde. Diese im 16. Jahrhundert einsetzende und im 18. Jahrhundert eine besondere Aufwertung erfahrende Entwicklung beruhte insbesondere auf der Forderung, Grundlage der Forschung sollten nur Beobachtung und Experiment sein, und auf der Auffassung, alles Geschaffene sei nicht nur erkennbar, sondern auch für den Menschen in irgendeiner Weise nützlich (vgl. Winau 1986, 84 f.). Die erste Phase des Experiments am Menschen (hierbei handelte es sich in aller Regel um therapeutische Versuche) führte zwar zur Herausbildung einer bestimmten Methodik sowohl des Experiments als auch des Heilversuches, nicht aber zu einer Diskussion der moralischen Begründbarkeit und der Rechte des Patienten. Und diese Position ärztlichen Handelns blieb auch, was ohne ein steiles Hierarchiegefälle vom Arzt zum Patienten kaum denkbar ist, bei den klinischen Versuchen im 19. Jahrhundert von Bestand. Bei dem ungebrochenen Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts hatte sich die moralische Frage der Zulässigkeit von Menschenversuchen kaum gestellt, obwohl die forschenden Ärzte allein schon mit den wesentlichen Grundsätzen ärztlichen Handelns, also Patientenwohl und Bewahren vor Schaden, vor einem scheinbar unlösbaren ethischen Konflikt standen. Denn um dem Patienten zu nützen, sollten sie wirksame Therapien anwenden, deren Wirksamkeit sie aber oft nur im Menschenversuch erkennen konnten und der dem Patienten möglicherweise schadete. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert sind Experimente am Menschen innerhalb und schon gar außerhalb der Medizin nur ausnahmsweise Gegenstand einer Diskussion über deren moralische Wertigkeit und Zulässigkeit (vgl. Elkeles 1996, 153). Eigentlich wurde ein Ereignis, nämlich das als Lübecker BCG-Impfkatastrophe in die Medizingeschichte eingegangene größte Impfunglück des 20. Jahrhunderts (vgl. Reuland 2004, 201–224), dessen experimenteller Charakter fragwürdig ist, in Deutschland zum Anlass genommen, auf die Durchsetzung von Richtlinien zur Zulässigkeit medizinischer Humanexperimente und hierbei insbesondere zur Einwilligung nach Aufklärung des Patienten bzw. der Versuchsperson zu dringen, was schließlich oder zunächst in den „Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ von 1930/31 (vgl. Ruisinger 2001, 28–31) seinen Niederschlag fand. Alle Ärzte seit Beginn dieses Standes probierten Methoden und Medikamente an ihren Patienten aus. Wissenschaftler oder Forscher zu sein ist aber in der Zwischenzeit zu einer beruflichen Karriere auch in der Medizin geworden. So kann ein Konflikt zwischen Humanismus und Wissenschaft gesehen werden (vgl. Spicker u. a. 1988, 20–24). Aber es zeugt von medizinisch-methodologischer Beschränktheit, wenn man glaubt, wissenschaftlich begründetes Wissen nur im Labor erarbeiten zu können. Die Wissenschaft betrachtet den Menschen als Bündel von Messda-
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
ten. Unter dem Einfluss des Positivismus entstanden die Idee der Labormedizin und die Idee der klinischen Wissenschaft. Immer deutlicher wurde die wechselseitige Abhängigkeit von klinischer Wissenschaft und experimenteller Medizin (vgl. Spicker u. a. 1988, 40–42). Im Humanexperiment machen wir den Menschen zu einem puren Ding (vgl. Spicker u. a. 1988, 126). Andererseits können Ärzte nur gut behandeln, wenn sie genau wissen. Das ärztliche Ethos des Wissens verlangt nach Humanexperimenten (vgl. Spicker u. a. 1988, 131–134). Die Spannung entsteht heute mit der Suche nach neuem und nützlichem Wissen einerseits und den ethischen Problemen andererseits, verbunden mit dem Forschungsprozess selbst in einem Bereich, in dem der Forscher mit lebendem Material oder gar dem Menschen selbst arbeitet (vgl. Spicker u. a. 1988, 145 f.). Große Bedeutung hat im kontrollierten Arzneimittelversuch die Verwendung von Placebos im Vergleich mit einer Substanz pharmakodynamisch definierter Wirkung mit dem Ziel, die arzneimittelunabhängigen Veränderungen im Befinden und in der Symptomausprägung bei Patienten abzugrenzen. Placebos (lat. „ich werde gefallen“) nannte man zunächst Substanzen, deren Darreichung das Wohlbefinden des Empfängers steigern sollte. Die Identifizierung von Placebos mit Schein- oder Leer-Medikamenten erfolgte erst mit der Entwicklung systematischer Arzneimittel(Wirkstoff-)Prüfungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In der Medizin werden Placebo-Präparate als bewusst eingesetztes Therapeutikum (ohne naturwissenschaftlich nachweisbare Wirkung) verwendet, ebenso aber auch als Vergleichssubstanz bei kontrollierten Arzneimittelprüfungen. Unter einem Placebo versteht man eine pharmakodynamisch unwirksame Substanz, deren Verabreichung unter bestimmten Bedingungen eine Wirksamkeit bei Gesunden und Kranken zukommt. Die Wirksamkeit von Placebos ist vielfach belegt, sie liegt offenbar auf der emotionalen Beeinflussung des Patienten insgesamt und seiner Psychostruktur. Sie bezieht sich in absteigender Häufigkeit auf psychologische, physiologische und biochemische Parameter. In zahlreichen Untersuchungen haben sich subjektive Erscheinungen wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Angstzustände, Müdigkeit usw. als am stärksten beeinflussbar erwiesen. Die Wirksamkeit eines Placebos ist mit der Persönlichkeit des Probanden oder Patienten, mit seiner Beziehung zum Therapeuten und mit dem therapeutischen Kontext eng verknüpft. Es hat sich nachweisen lassen, dass unter Placebogabe körpereigene Substanzen freigesetzt werden, die eine der Morphinwirkung entsprechende Schmerzlinderung bewirken (vgl. Eser u. a. 1989, 812–814). Voraussetzungen zum placebokontrollierten Versuch sind die Aufklärung des Patienten bzw. Probanden über die Versuchsplanung und sein förmliches Einverständnis, an der Untersuchung teilzunehmen. Ein Placeboversuch ist ethisch nicht vertretbar, wenn durch den Entzug einer bekannten wirksamen Therapie mit vertretbarem Nutzen-Risiko-Verhältnis eine Verschlechterung des Leidens, erst recht eine Lebensbedrohung oder auch nur eine wesentliche Verzögerung hinsichtlich Besserung oder Heilung zu befürchten ist. Damit beschränkt sich die Anwendung auf zwei Gruppen, leichtere Krankheitserscheinungen einerseits und solche, bei denen keine anerkannte wirksame Therapie verfügbar ist (vgl. Eser u. a. 1989, 817 f.). Oder je lebensbedrohender, quälender oder langandauernder eine Krankheit ist, je
6.2 Forschung am Menschen und Humanexperimente
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weniger spezifische Therapien geholfen haben oder je riskanter sie sind, umso eher werden Arzt und Patient bereit sein, eine aufgrund theoretischer oder empirischer Argumente Nutzen versprechende Arzneimittelprüfung durchzuführen und auch ein bestimmtes Maß an Risiken in Kauf zu nehmen (vgl. Eser u. a. 1989, 102). Gemäß der Ethik des Wissens gelten unkontrollierte Versuche und Experimente, die nicht durch „Blind“-Bedingungen überprüft werden, als unsachgemäß und als Verletzung der Grundprinzipien wissenschaftlicher Medizin (vgl. Spicker u. a. 1988, 150). Forschung im Bereich der Biomedizin wurde als therapeutisch unterstellt. Reine Forschung an gesunden oder kranken Menschen wird von einer Ethik des „Wohlwollens“ aber als nicht vertretbar angesehen. Eine Ethik des Wissens geht von folgenden Grundannahmen aus: (1) Die Suche nach Wissen ist wertvoll und gut. Alle experimentellen Mittel sind sittlich erstrebenswert, solange sie nicht schädigen, insbesondere bei Menschen, (2) Wissen ist per se unschuldig (aber das Bild des objektiven Wissens ist eine Idealisierung), (3) es gibt wissenschaftliche Probleme mit größerer oder geringerer Dringlichkeit, (4) Humanexperimente sollten nur dort eingesetzt werden, wo Alternativen nicht erkennbar sind und eine Evaluierung mit ausreichender Ergebnissicherheit und minimalen Risiken zu erreichen ist, (5) Suche nach der besten Forschungsstrategie, um Irrtümer auszuschließen, (6) die Wahl der korrekten wissenschaftlichen Methode kann standardisiert werden, wobei vor allem zu fragen ist, ob die neue Behandlungsmethode eine Verbesserung darstellt und verfügbar ist (vgl. Spicker u. a. 1988, 164–181). Angesichts der enormen Macht eines ungezügelten Utilitarismus muss das Individuum vor Menschenversuchen geschützt werden. Die Armen, Kranken und Minoritäten scheinen eher zu Humanversuchen herangezogen zu werden, wenn keine unmittelbaren und umsetzbaren Ergebnisse zu erwarten sind (vgl. Spicker u. a. 1988, 231– 234). Andererseits wird argumentiert, dass der, der die bessere Ausstattung von Forschungskrankenhäusern in Anspruch nehmen möchte, letztlich auch bereit sein müsse, die Unbequemlichkeiten und Risiken dieser Häuser in Kauf zu nehmen (vgl. Spicker u. a. 1988, 241). Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Versuchen mit und an Menschen. Vom erstmaligen Behandlungsversuch einer Neulandoperation mit offenem Ausgang bis hin zur Randomisierung (Sicherstellung der Objektivität von Experimenten) und Doppel-Blind-Placebo-Technik einer kontrollierten klinischen Prüfung, von der quasiexperimentellen erstmaligen Humananwendung eines potentiellen Arzneimittels bei gesunden Probanden bis zum intensiven Experiment im psychologischen Labor, formalisiert und objektiviert, ist es eine große Bandbreite. Besondere Probleme stellen Heilversuche bei Nichteinwilligungsfähigen dar, wenn z. B. bei einem Suizidanden ein neues Entgiftungsverfahren durchgeführt werden soll (vgl. Eser u. a. 1989, 493–495). Auch wenn es zum ärztlichen Berufsethos gehört, sich manchmal berufsbedingt gefährlichen Situationen auszusetzen, kann daraus nicht das Recht oder die Verpflichtung abgeleitet werden, bei Selbstversuchen nicht auf das damit verbundene Risiko zu achten (vgl. Spicker u. a. 1988, 249). Er sollte bei Selbstversuchen höchste Vorsicht walten lassen und keine nicht-notwendigen Risiken eingehen. Es ist ethisch nicht positiv zu bewerten, wenn ein Arzt krank wird und dann mit seiner Krankheit experimentiert (vgl. Spicker u. a. 1988, 257).
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
Medikamente im Tierversuch lassen sich nur in ihren Auswirkungen auf sekundäre Merkmale testen. Einen Wahn bei einer Maus oder einem Hund hat man bislang nicht gemessen. Experimente am Menschen sind daher methodisch gesehen wohl unumgänglich, wenn man auch in der Psychiatrie auf Medikamente nicht verzichten will. Zudem gibt es messtechnisch bedingte Problemfälle, die für die Verwendung von Placebos sprechen. Antidepressiva liegen mit 60 % Wirkungsrate nur knapp über der Spontanemissionsquote (40 %). Eine Quote von 20 % ist im Experiment zwischen zwei Therapeutika nur schwer auszutesten. Wenn keine Placebos genommen werden dürften, müssten Medikamente mit einem Wirkungsgrad von 50 % herangezogen werden. Hier signifikante Ergebnisse zu erzielen, ist nicht leicht. Auch wenn Doppel-Blind-Versuche mit Placebos methodisch erfolgreicher sind, ist zu fordern, dass bei Patienten, deren Zustimmung zum Experiment aus methodischen Gründen nicht eingeholt werden kann, nicht Placebos verwendet werden, es sei denn, eine anerkannte Therapie stünde nicht zur Verfügung, sondern andere Medikamente, so dass kein Patient unbehandelt bleibt. Dies gilt, auch wenn grundsätzlich Experimente zur Wissensgewinnung in Anwendungsabsicht als erlaubt erscheinen und durch diese Forderung sich die Anzahl der Experimente vergrößert und die Ergebnisse mit einem größeren Unsicherheitsfaktor verbunden sind. Nicht aussagefähige Studien unter Einbezug von Experimenten am Menschen wären allerdings sittlich nicht zu vertreten. Auch Alternativenlosigkeit (Experimentalanordnungen mit geringerem Schädigungspotenzial für die Probanden) ist eine der grundlegenden ethischen Forderungen an medizinische Versuche. Dass bei Experimenten mit Menschen besondere Vorsicht geboten ist, zeigten auch die MILGRAM-Versuche, bei denen auf Anweisung des Versuchsleiters Experimentatoren auch fiktive Versuchspersonen getötet hätten, ganz zu schweigen von gravierenden Verletzungen durch Stromstöße (vgl. Lenk 1985, 88 f.). Humanexperimenten und ihrer Ethik geht es um die Auswahl der Probanden. Die Regeln des effektiven Experimentierens sind zu beachten, da sonst keine glaubwürdigen Aussagen zu erreichen sind. In Therapie und Forschung geht es dabei darum, die geeigneten Personen auszuwählen. Die biomedizinische Forschung ist dabei möglicherweise mit unabwägbaren Risiken verbunden. Es geht um die Abschätzung der Risiken des Experimentes für den Probanden. Ein weiteres Kriterium ist das der Eignung für ein Experiment. Dabei gibt es wissenschaftliche und soziale Kriterien für die Eignung für Ziele im Bereich der Medizin, die auch ethischen Kriterien genügen. Es gilt auch ein besonderer Schutz der Leibesfrucht, den Schwachen und Armen bzw. den Einwilligungsunfähigen. Folgende forschungsethische Maximen sind bei Humanexperimenten zu berücksichtigen: (1) Ziehe keine Risiko-Patienten zu Untersuchungen heran. (2) Schädige keine Patienten, riskiere nichts außer minimalen Risiken wie bei randomisierten klinischen Versuchen (Versuchen, bei denen ein 50%iges Risiko besteht, entweder der Testgruppe für ein neues Präparat oder der Gruppe zuzugehören, die die Standard-Behandlung genießt). (3) Setze keine Versuche fort, bei denen Patienten ein anwachsendes Risiko einer Schädigung oder gar des Todes tragen. (4) Belästige keine Patienten mit Methoden, die nachweislich unwirksam sind. (5) Schütze den Patienten vor Toxizität. (6) Verwende eine Kontrollgruppe ohne Behandlung
6.3 Forschung an psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen
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nur dann, wenn keine Therapie vorhanden ist. (7) Verwende möglichst keine Placebos bei Kontrollversuchen (vgl. Spicker u. a. 1988, 148). Als unethisch müssen demnach gelten: (1) unvollständige oder täuschende Information der Versuchsperson, (2) Verletzung ihrer Selbstachtung, Würde, Privatsphäre und Vertraulichkeit, (3) schädliche Nebenwirkungen (vgl. Eser u. a. 1989, 491 f.). Kriterien für die ethische Erlaubtheit eines Humanexperimentes allgemeiner Art sind (1) Freiwilligkeit, (2) wahrhaftige Aufklärung, (3) Sicherheit vor Risiken/Nebenwirkungen und (4) Verhältnismäßigkeit der Untersuchung (vgl. Eser u. a. 1989, 499 f.). 6.3 Forschung an psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen 6.3 FORSCHUNG AN PSYCHISCH KRANKEN UND GEISTIG BEHINDERTEN MENSCHEN Die Grenzen des verantwortungsethischen Modelles der Patientenautonomie manifestieren sich auf individueller Ebene insbesondere bei psychisch bedingten Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechtes betroffener Menschen. Dies führt zu besonderen Problemen forschungsethischer Art bei Experimenten mit Nichteinwilligungsfähigen. Entscheidend für das Modell der Patientenautonomie ist der Begriff der „Kompetenz“, eine Entscheidung (Zustimmung) überhaupt vollziehen zu können, bzw. insbesondere die mangelhafte oder fehlende Fähigkeit hierzu. Da dies eine „Fähigkeit“ im Sinne eines Interpretationskonstruktes ist, die sich im Laufe der Entwicklung eines Menschen erst stufenweise herausbildet und krankheitsbedingt bisweilen eingeschränkt ist, müssen für inkompetente Patienten geeignete Vertreter oder Vormünder eine Entscheidung treffen. Für Embryonen, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche dürfen wohl in erster Linie die Eltern entscheiden. Sie sind aber verpflichtet, diese Entscheidung nach Kriterien der Sittlichkeit abzuwägen und den anwachsenden Grad der Selbständigkeit ihrer Kinder bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen. Denn auch Kinder wollen selbst bestimmen. Aber auch in den anderen Fällen erfordert es das Prinzip der Patientenautonomie, den Inkompetenten so weit wie möglich in die Entscheidung mit einzubeziehen, vor allem immer wieder zu überprüfen, ob die Inkompetenz überhaupt noch vorliegt. Letztlich sind Angehörige und Freunde als Vormünder zu bevorzugen, da sie Werteprofile und Lebenseinstellungen des Patienten besser kennen und berücksichtigen können als ein Krankenhausarzt, da diese gemäß der Patientenautonomie bei der stellvertretenden Entscheidung einen hohen Stellenwert haben. Da gemäß der Position der Patientenautonomie der Lebenssinn und die Idee der Qualität des eigenen Lebens nicht dem Menschen von außen aufgezwungen werden darf, hat der Vormund die Wertwelt des Patienten und allgemein ethische Überlegungen in Einklang zu bringen, um eine Entscheidung im Sinne des Lebensentwurfes des Patienten zu treffen, die er im Sinne einer Entscheidung für andere rechtfertigen kann. Analoges gilt für den Arzt, wenn er für Entscheidungsunfähige oder eingeschränkt Entscheidungsfähige entscheidet. Medizinische Forschung wissenschaftlicher Art beruht in der Regel auf dem Anwenden einer „Technik“, die kausalanalytisch begründet wird, sich auf einzelne Gegebenheiten am Menschen richtet und dabei ein funktionales Verständnis
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
menschlicher Wirklichkeit voraussetzt (vgl. Eser 1989, 159). In diesem Zusammenhang entsteht das medizinethische Grundproblem der Vermittlung von technischem Handeln am Menschen mit dessen Anspruch auf freie Selbstbestimmung (Eser 1989, 159). Technisches Handeln am Menschen ohne personale Kommunikation im Anspruch freier Selbstbestimmung ist Gewalt, die der Kranke im Sich-ausgeliefert-Fühlen an Technik als heteronom empfindet. Medizinische Behandlung als verantwortete Praxis ist nur dann möglich, wenn der Entschluss, bestimmte technische Mittel anzuwenden, Ergebnis von Gegenseitigkeit und Gespräch ist (vgl. Eser 1989, 162). In der Psychiatrie ist mehr noch als in anderen Bereichen der Medizin eindeutige Diagnose, klare Prognose und deutliche Bezeichnung der Therapieziele als Voraussetzungen für gute Forschung und Experimentalkunst schwierig. Eindeutige kausale Zuordnungen zwischen organischen, d. h. neurologischen und hirnphysiologischen Defekten zu psychischen Störungen und umgekehrt lassen sich nicht vornehmen. Zudem ist über die „normale“ Funktion des Zentralnervensystems und der von ihm bedingt abhängigen z. B. vegetativen Subsysteme bislang zu wenig bekannt, um Abweichungen genau feststellen zu können. Hinsichtlich ihres Krankheitsbegriffs ist daher die Psychiatrie auf dem Weg zu einer integrativen Disziplin, die Erkenntnisse unterschiedlichster Wissenschafts- und Forschungszweige in ihre Überlegungen und ihre Praxis einbeziehen muss. Was als normal gilt, kann nicht aus einer überzeitlich gültigen menschlichen Natur abgeleitet werden, sondern ist vielmehr von der Gesellschaft und ihrer Toleranz gegenüber andersartigen Menschen abhängig. Zudem ist das, was als psychisch krank gilt, in hohem Maß abhängig vom Menschenbild des Betrachters und von der gesellschaftlichen Bestimmung dessen, was als normabweichendes Verhalten angesehen wird (vgl. die umfangreiche Materialsammlung von Panleikhoff 1983–1989). So kann es zu Vorurteilen gegenüber Patienten kommen, die bis zur Gewaltanwendung oder Zwangseinweisung durch die Polizei reichen. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn Krankheitssymptome nicht adäquat objektivierbar sind. Hinzu kommt, dass manche psychiatrischen Patienten für den ersten und ungeübten Blick gar nicht krank aussehen, so z. B. Suizidale, obwohl sie aufgrund von Depressionen vorübergehend krank und momenthaft gefährdet sind. Gemäß dem Modell der Patientenautonomie setzt eine Forschung an Nichteinwilligungsfähigen entsprechend sorgfältige Aufklärung voraus. Diese Aufgabe ist gerade in diesem Falle nicht einfach und in der Psychiatrie und Psychotherapie nicht selten noch schwieriger zu begründen als in der somatischen Medizin. Darum ist eine vollständige Aufklärung des Patienten vor der Therapie oft unmöglich, in der Psychotherapie sogar Teil des therapeutischen Prozesses selbst und bleibt somit auch für den Therapeuten bisweilen zunächst vage. Dies muss in der Konzeption von Forschung in diesem Bereich berücksichtigt werden. Auch in der Psychiatrie gilt gemäß dem Ansatz der medizinischen Ethik der Grundsatz, dass der Patient (oder sein Vormund) einer Behandlung nach Aufklärung zustimmen muss. Tut er dies nicht, darf ihm nicht von vornherein unterstellt werden, er habe keine Krankheitseinsicht. Eine solche Vermutung muss näher begründet werden. Der einsichtsfähige Patient hat ein Recht auf weitreichende Aufklärung, auch wenn bisweilen vermutet wird, eine solche gefährde oder schädige den Patienten. Doch dies ist nur
6.3 Forschung an psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen
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in Ausnahmefällen zu befürchten. Aufklärung ist insbesondere erforderlich über die Nebenwirkungen von Medikamenten, nicht zuletzt um den Patienten in die Behandlung einzubeziehen und ihn dahingehend zu schulen, dass er Nebenwirkungen von Medikamenten selbst erkennen kann. Bei Fällen suizidaler Patienten findet sich nahezu durchgehend die Argumentation, der Betroffene könne eben durch seine psychische Erkrankung und den damit verbundenen reduzierten Realitätsbezug gerade nicht autonom über sein Leben entscheiden und müsse deswegen psychiatrisch betreut, d. h. am Suizid gehindert werden. Der Umkehrschluss lautet dann, die psychische Erkrankung und die Behandlungsnotwendigkeit, auch gegen den Willen des Patienten, zeige sich gerade durch den Todeswunsch des Betroffenen. Die Psychiatrie steht hier vor einem Dilemma: Einerseits soll nach dem Modell des „informed consent“ die Legitimation des ärztlichen Handelns aus der Zustimmung des informierten Patienten abgeleitet werden, andererseits schließt die oben genannte Argumentation die autonome Selbstbestimmung für alle Fälle eines Selbsttötungswunsches aus. Da die Gesellschaft zugleich ein Höchstmaß an Freiheit für den Einzelnen und Sicherheit für die Gesellschaft fordert, müssen Zwangsmaßnahmen legitimiert werden. Angesichts von Zwängen, die bestimmte psychische Erkrankungen auf Patienten ausüben, und dem damit verbundenen Freiheitsverlust, ist die weitestmögliche Wiedergewinnung der Freiheit des Patienten durch eine psychiatrisch-therapeutische Behandlung gerechtfertigt (vgl. Lungershausen 1991, 47–49). Der Zwang, der durch eine Psychose oder durch eine übermächtig erscheinende Situation in einen Suizidversuch geführt hat, muss in spezifischen Situationen durch Zwangsmaßnahmen abgebaut werden. Dies ist für die Position einer sehr eng gefassten Patientenautonomie nur schwer zu akzeptieren und führt zum Ansatz einer patientenzentrierten medizinischen Ethik, die einen Ausgleich zwischen der traditionellen Position der Perspektive des paternalistischen „Patientenwohles“ und des radikalen Selbstbestimmungsrechtes des Patienten sucht. Daher ist nicht Anpassung an eine wie immer geartete Gesellschaft das medizinethische Leitbild in der Psychiatrie, sondern das Bemühen, den Patienten seinen eigenen Weg finden zu lassen. Die älteren Methoden des Anordnens und Verbietens, der Ermahnung oder gar der Suggestion bei der Durchführung von Forschung am Menschen sowie die Verwendung von Ratschlägen seien unwirksam und verstärkten nur Abhängigkeiten. Eine intellektualisierende Interpretation geht davon aus, dass man dem Klienten nur seine Situation zu erklären bräuchte, um sein Verhalten zu verändern. Aber auch richtige Interpretationen können für Klienten nicht akzeptabel sein. Wie in der patientenzentrierten medizinischen Ethik steht bei Rogers die Forderung, dass im Zentrum der Beratung nicht ein Problem, sondern ein Individuum stehen sollte (vgl. Rogers 1972, 30–36). Der Koordinator von Forschung muss die Kraft des Klienten, seine Situation zu verändern, bereits am Anfang abschätzen und angesichts ungünstiger Umstände nichts Unmögliches erwarten (vgl. Rogers 1972, 64– 66). Die Beratung der Probanden in Fragen der Durchführung von Forschung ist als einmalige Beziehung zu konzipieren. Die therapeutische Beziehung ist keine Freund-Freund-Beziehung, aber auch kein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Berater können verschiedene Rollen spielen. Emotionalität sollte eine gewisse Rolle spielen,
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
muss aber zum Nutzen des Patienten streng begrenzt werden (vgl. Rogers 1972, 84 f.). Besondere Schwierigkeiten treten bei Doppel-Blind-Versuchen unter Verwendung von Placebos auf, wenn Patienten – krankheitsbedingt wie in der Psychiatrie – nicht zustimmen können. Medikamente in der Psychiatrie können in einigen Bereichen helfen, könnten aber bei bestimmten Krankheiten auch weggelassen werden. Neurosen lassen sich ohne Medikamente behandeln, auch Psychosen könnten ohne Medikamente belassen werden. Längere Behandlungsdauer, die von den Patienten meistens nicht als angenehm empfunden wird, und intensivere Betreuung wären dann erforderlich. Grundsätzlich kann aus ethischer Sicht der Forderung nicht zugestimmt werden, der Natur ihren Lauf und Patienten ihre Psychose durchleben zu lassen, es sei denn, ethisch relevante Gründe sprächen dafür. Zwar sind Tierversuche auch bei der Testung von Psychopharmaka eine gewisse Hilfe, dennoch ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse hier problematischer als in anderen Bereichen der Medizin. 6.4 WISSENSCHAFTLICHE UND KLINISCHE PRAXIS, WISSENSCHAFTLICHES FEHLVERHALTEN Moderne Technologie involviert Wissenschaftler, die technologisch arbeiten, und Technologien, die als Wissenschaften funktionieren. Die traditionelle Meinung, dass die Grundlagenforschung das als Wissen hervorbringt, welches die Technologen dann anwenden, bringt uns nicht weiter im Verständnis gegenwärtiger Technologie, die immer mehr Technoresearch wird. Sie haben nicht Wissenschaft und Technologie verstanden, weil diese sozial dasselbe hervorbringen (vgl. Irrgang 2008a), nur in unterschiedlicher sozialer Art und Weise. Wissenschaft und Technologie sind beide sozial konstruierte Kulturen. Die Komponenten technologischer Systeme sind sozial konstruierte Artefakte. Die Personen, die das elektrische Licht und die Elektrizitätskraftwerke aufgebaut und erfunden haben, entwickelten nicht nur Generatoren und Transmissionen, sondern auch organisierte Formen wie elektrische Reproduktion und die entsprechenden geschäftlichen Unternehmen. Weil diese Komponenten eines technologischen Systems interagieren, charakterisieren sie zentrale Elemente dieses Systems, z. B. strukturierte das Management eine bestimmte Nützlichkeit von elektrischem Licht und für elektrische Energie, indem sie diese durch ihre organisatorische Art unterstellt und Nutzungsmöglichkeiten vorschlägt, die abhängig sind von der funktionierenden Hardware oder den Artefakten in dem System. Gleichzeitig unterstellt man dem Management eines technologischen Systems, dass es oft technische Komponenten auswählt, die die Struktur unterstützen, in der eine Gesellschaft am Markt aufgetreten ist (vgl. Bijker u. a. 1987). Die Anforderungen der Praxis in Pharmakologie, Medizin, Züchtung, agrarischer Produktion, nachwachsenden Rohstoffen und in der angewandten Bioingenieurkunst (Nanotechnologie usw.) gehen über das Leistungsniveau traditioneller nichttechnologisierter Forschung und Wissenschaft (Experimentalwissenschaft) hinaus, so dass sich technologisierte Laborwissenschaft auch in der Grundlagenfor-
6.4 Wissenschaftliche und klinische Praxis, wissenschaftliches Fehlverhalten
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schung an technologisierter Forschungspraxis orientiert. Es kommt zur Aufwertung des Kunstcharakters in Technik und Technologie in der Forschungspraxis, zu einer Neubewertung des Umgangswissens bzw. impliziten technischen Wissens und zu einer Veränderung der Komponenten der Wissenschaft in der technologisierten Forschungspraxis durch technologische Praktiken. Technisches bzw. technologisches Umgangswissen und seine wissenschaftliche Reflexion bzw. Systematisierung konstituieren eine technologische Praxis, eine technologisierte Laboratoriumspraxis. Wissensgewinn ist ein pragmatisches Kriterium, welches bei der Umsetzung in Produkte und Theorien auch ethische Relevanz erhalten kann. Warum der Wissenserwerb nur um des Wissenserwerbes willen – reine Theorie oder Grundlagenwissenschaft – ethisch besonders hoch stehend sein soll, ist aus pragmatischer Perspektive keineswegs einsichtig (Irrgang 2008a). So entsteht eine neue Art technologisierter Medizin, Projektmedizin (Irrgang 2012). Die Scientific Community, die wissenschaftliche Ergebnisse hervorbringt, quasi produziert, greift dazu auf eine technologische Struktur zurück, die keinesfalls identisch mit einer industriellen Produktionsstätte ist. Methodologie, technische Verfahren und experimentelle Praktiken sind für den Problemlösungsprozess wissenschaftlicher und technologischer Probleme in einen Gesamtzusammenhang offener Art zu bringen, der Laboratoriumswissenschaft genannt werden kann. Die Beteiligung großer firmeneigener industrieller Forschungslabors sowie privater Forschungslabors von Universitätsangehörigen und Existenzgründern sind ebenfalls Ausdruck der Technologisierung, die sich im medizinischen Bereich insbesondere in der Projektmedizin manifestiert. Dabei wurde die Vermischung von Wissenschaft und Technologie vor allem soziologisch untersucht. Besonders interessant aber ist die methodologisch-epistemologische Ebene. Der Rahmen aber differenziert sich aus. Fakten werden innerhalb dieses Horizontes technisch gemacht wie neue Lebewesen oder Organe. Dieses „Machen“ ist aber keinesfalls bloß ein allgemein sozialer Tatbestand, sondern vor allem Ausdruck einer technischen Praxis. Wissenschaft wurde auch früher schon sozial konstruiert, neu aber ist die technische Signatur dieser sozialen Konstruktion von Wissenschaft, die eine eigene Art reflexiver Strukturierung erforderlich macht und zu einer eigenen Epistemologie technologisierter Forschung führt (Irrgang 2003). Die moderne Technologie, die sich insbesondere in der Informationstechnologie, der Biotechnologie, der Biomedizin und Nanotechnologie findet, gehört nicht zum Gegenstandsbereich der klassischen Ingenieur- und Technikwissenschaften, ist aber Teil des modernsten Verständnisses von Technik und muss in die wissenschaftlich-methodologische Reflexion über Technologie einbezogen werden (Irrgang 2010) und findet auch in der Medizin zunehmend Anwendung (Irrgang 2012). Technische Anwendbarkeit ist laut Ian Hacking (Hacking 1996, 431 f.) zu einem Bewährungsfeld wissenschaftlicher Aussagen erster Ordnung geworden. Wenn das richtig ist – und vieles spricht dafür – sind transgene Nutzpflanzen genauso gerechtfertigt wie synthetische Lebewesen oder gentechnisch erzeugtes Insulin. Warum sollte diese Art Bewährungswissen sittlich verwerflich sein? Weil es die alte Selbstzwecklichkeit der Wissenschaft hinter sich lässt? Grundlagenforschung nimmt in vielen Bereichen weiterhin eine wichtige Funktion ein. Der einzige Hin-
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derungsgrund dafür könnte ein ethisches Kriterium sein, wenn nämlich zu gravierend negative Risiken zu erwarten sind. Die neue Bewährung von TechnoresearchErgebnissen (sei es Wissen oder seien es technische Artefakte wie Medikamente, Nahrungsmittel, transgene Tiere und Pflanzen) erfordern Freilandexperimente genauso wie die Anwendung der Physik in Flugzeugen, Raketen, Automobilen, usw. Noch nicht ganz verstandenes Wissen nimmt auch in der Wissenschaft zu, solange sie noch Forschung ist (so Klimaforschung, Evolutionstheorie oder Entwicklungsbiologie). Wissen und Können lassen sich zwar analytisch noch unterscheiden, in der Praxis (Forschungspraxis) greifen sie aber immer mehr ineinander. Der Output von Technoresearch ist nicht mehr nur Lehrbuchwissen, sondern auch Produkte, die patentierbar sind. Expertensysteme in der Informationstechnologie, Roboter und synthetische Lebewesen, aber auch Kunststoffe, Medikamente und neue Materialien sind der Output der Forschung und Teil des wissenschaftlichen Wissens und Könnens. Selbst wenn das Wissen wertfrei sein sollte, der Umgang mit Wissen ist sittlich zu qualifizieren. Da das Risiko der Nichtvorhersehbarkeit für menschliches Handeln grundsätzlich unvermeidbar ist und nur partiell abgearbeitet werden kann, ist es nicht grundsätzlich ethisch verwerflich, solche Risiken auch einzugehen, wenn man zur Änderungen der Handlungsstrategie bereit ist, falls neue erhebliche relevante Bewertungsmaßstäbe auftreten. Die Betrachtung der Wissenschaft und Technologie als Praxis, welche Potentiale schaffen und damit Macht im Sinne von Ermächtigung hervorbringen, bewirkt eine Ethisierung der Wissenschaften. Macht ist eine Frage humaner Selbsterhaltung und grundlegender Verantwortung. Die Technologisierung der Forschung erhöht zwar die Betrugsmöglichkeit (z. B. bei der Herstellung von digitalen Photographien und bei der Erzeugung von Plagiaten), gibt aber auch Mittel an die Hand, diese schneller technisch zu entlarven. Die Technologisierung verändert vor allem das Methodenverständnis von Wissenschaft, d. h. der Praxisseite und der Forschungsseite im Sinne einer Technisierung, und betont neben dem Argumentieren immer stärker den Erfolg des Unternehmens. Fallgeschichten als experimental analoge Mittel und Gedankenexperimente können auch in der Ethik vorkommen. Die forschende Ethik kann also als Kunst verstanden werden, die dogmatisch normative Ethik als Wissenschaft. Eine forschende Ethik ist korrekturoffen, als experimentelles Vorgehen, erprobend, versuchendes Handeln mit der Bereitschaft zur Korrektur. Insofern kann als das Laboratorium der Ethik die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft angesehen werden. Die Verdrängung der akademischen Wissenschaft begann mit dem 2. Weltkrieg. Ob es im Verlauf der letzten Generation einen Sündenfall in der Wissenschaft gegeben hat, ist eine Frage, deren Erörterung jedes Mal mehr Hitzigkeit als Erleuchtung mit sich bringt. Vorläufer waren die chemische Industrie in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts und die industrielle Durchdringung der Wissenschaft in den USA. In dieser Vereinigung von Wissenschaft und Technik liegt die Hoffnung auf der Verwirklichung des ältesten Traumes auf materiellen Überfluss für die ganze Menschheit. Die Industrialisierung der wissenschaftlichen Forschung führte aber zum Wachstum der Größenordnungen und der formellen Organisation und es kam zu einer größeren Ausprägung der Interessenkonflikte. Ein Großteil der tech-
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nischen Entwicklungsarbeit wird vom Staat durchgeführt und dient dem Gebrauch außerhalb des Marktsektors etwa für militärische Zwecke. Dieses Vorwärtsstürmen ist unserer Kontrolle entglitten. Im inneren Gefüge der neuen Technik fehlt die traditionelle Disziplin, der marktwirtschaftlich zu erzielende Profit (vgl. Ravetz 1973, 63–65). Die Technologisierung der klassischen Naturwissenschaften führt zu externen Problemen, die nun der Wissenschaft selbst zugerechnet werden: von der Atombombe bis zur Umweltkatastrophe, nicht immer zu Unrecht. Ethische Probleme entstehen intern und extern im Zentrum wissenschaftlicher Forschungspraxis selbst. Nachhaltigkeit empfiehlt sich als Leitbild für die neue Allianz von Technologie, Wissenschaft und Ökonomie. Das technisch rationale mechanistische Leitbild der Moderne, das des Homo Faber, muss überwunden werden durch ein Leitbild vernetzter Technologie, einer hochkomplexen technologisierten Hypermoderne als Grundlage einer neuen technologischen Kultur des 21. Jahrhunderts (Irrgang 2011). Die Tätigkeit des Wissenschaftlers ist dadurch charakterisiert, dass die Erweiterung seines Wissens über einen bestimmten Teil der Welt für ihn ein Primärziel und nicht nur ein Instrument zur Erreichung eines anderen Zieles darstellt. Es gibt eine Reihe von Varianten des wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Wichtig sind dabei der Zeitgeist und die Anmaßung eines nicht vorhandenen Wissens. Organisierte Interessen und soziale Schichtung des Wissenschaftssystems (Statushierarchie unter Personen, Laboratorien, Nationen) interferieren in unterschiedlichster Weise mit der Entwicklung der Forschung. Nur in der besten aller Wissenschaftswelten, in der viele verschiedene Paradigmen miteinander konkurrieren, werden die negativen Konsequenzen dieser innovationsfeindlichen Belohnungsstruktur hinreichend abgefedert. Die Innovationsfeindlichkeit zeigt sich auf mehreren Ebenen. Viele Beispiele dokumentieren, dass Phänomene, die von der institutionalisierten Wissenschaft zunächst vehement und teilweise über eine sehr lange Zeit abgelehnt wurden, weil sie nicht mit der disziplinären Matrix der kursierenden Forschung kompatibel waren, sich später tatsächlich als echt erweisen können (vgl. Fischer 2007, 3 f.). Die Koppelung von sozialer, politischer, medialer und kognitiver Struktur in der Wissenschaft modifiziert den Erkenntnisprozess grundsätzlich auf eine sachfremde Weise. Eine der sozialen Basen für die Entwicklung und Durchsetzung neuer Ideen besteht in der Teilgruppe jener niedrigen Forscher, die nicht erwarten kann, durch besondere Konformität ihren Status zu erhöhen. Die höhere Dichte der Binnen- gegenüber der Außenkommunikation hat neben der Begrenzung der Quantität unkontrollierter und deshalb möglicherweise dissonanter Informationen noch eine weitere kritische Funktion gegenüber Kollegen. Eine Folge sind oft eine unsachgemäße Kollegenbewertung durch Peer-Reviews. Indizien für Fehlfunktionen in der Wissenschaft finden wir im heute nahezu flächendeckend eingeführten System der Kollegenbeurteilung. Es kann Jahrzehnte dauern, bis Spitzenleistungen als solche anerkannt und in Form von Zitaten entsprechend gewürdigt werden. Gerade die innovativsten Leistungen zählen zu denen, die am häufigsten verkannt werden, und es sind in der Regel die jungen Nachwuchstalente, die die Folgen zu tragen haben und sich enttäuscht von der Forschung abwenden. Dies sind Konsequenzen der sozialen Kontrolle im Wissenschaftssystem (vgl. Fischer 2007, 5–7).
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6. Schluss: Medizinische Forschung und klinische Praxis
Drittmitteleinwerbungen erfolgen größtenteils auf der Basis von Gutachten, die von gewählten oder bestellten Fachleuten auf der Basis der eingereichten Förderanträge geschrieben werden. Sie sind somit Teil des sog. Peer-Review-Systems, also der Bewertung von Forschungsleistung durch Fachkollegen. Dieses System hat gravierende Schwächen, die zu systematischen Verzerrungen der Bewertungen führen können. Die Peers verfügen wohl nicht über objektive Kriterien für wissenschaftliche Qualität (vgl. Fischer 2002, 109–111). Ergebnisoffenheit ist das Kennzeichen innovativer Forschung, aber sie verursacht Unbehagen bei jenen, die immer alles unter Kontrolle haben möchten, weil sie – wie etwa die Verantwortlichen für die Vergabe von Drittmitteln – anderen gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Erfolgreiche Forschung muss permanent mit dem Unvorhersehbaren rechnen und in der Lage sein, flexibel auf dieses zu reagieren. Obwohl möglicherweise der größte Teil der gegenwärtig betriebenen Wissenschaft – und vielleicht ein viel größerer der Technik – auf Planung beruhen mag, entzieht sich jedoch gerade ein strategisch zentraler Aspekt von Wissenschaft und Technik der Steuerbarkeit: Das Aufspüren neuer Pfade in unbekanntes Gelände. Man kann argumentiert, dass viele Entdeckungen durchaus planerische Elemente enthalten und auf theoretischen Erwartungen beruhen. Auf der gegenwärtig beobachtbaren Manie, alle Aspekte von Forschung planen zu wollen, beruhen einige der gefährlichsten Fehlfunktionen der Wissenschaft (vgl. Fischer 2007, 8). Unter dem Diktat leerer Kassen fordert die Politik die Wissenschaft auf, Forschungsmittel von privaten Sponsoren und von der Industrie einzuwerben. Parallel dazu macht sich die Tendenz breit, die Freiheit der Wissenschaft, einfach so herum zu forschen, zu beschneiden und sie auf gesellschaftliche Relevanz zu verpflichten. Relevante Forschung im Sinne der Politik ist freilich schwer zu bestimmen. Pathologisch ist dieser Prozess deshalb, weil die Wissenschaftler bei Veranlassung gar gezwungen werden sollen, systemfremde Werte und Codes zu ihren Primärwerten oder Primärcodes zu machen. Eine immer wichtiger werdende Fehlfunktion der Wissenschaft leitet sich aus der politisch gewollten Ökonomisierung der Forschung ab (vgl. Fischer 2007, 8–10). Wer Zitate als Maßstab für Evaluationen benutzen will, muss zumindest davon ausgehen, dass seine Datenbasis im Wesentlichen zuverlässig und stabil ist, und dass Zitate als Leistungsmaße angesehen werden können. Sind diese Voraussetzungen begründet? (vgl. Fischer 2007, 12). Zitatraten sind aber als Indikatoren für Forschungsleistungen nur bedingt geeignet (Fischer 2007, 14). Ein Zitierindex umfasst die Quellen und vorbereitenden Studien. Die Einfachheit des Zitierindexes ist Quelle seines Erfolgs. Die Zitatrate ist eine scheinbar einfache Tatsache für die Bedeutung einer Quelle, die an sich keiner Interpretation für weitere Arbeiten bedarf. Sie gilt als Indikator für Forschungsproduktivität (vgl. Garfield 1979, 1–4). Es gibt aber Probleme, Qualität in diesem Index abzubilden (vgl. Garfield 1979, 19– 35). Nun gilt die Zitierhäufigkeit als Maß für wissenschaftliche Qualität schlechthin (Garfield 1979, 98–123). Wissenschaft lässt sich als ein auf Wissenszuwachs gerichtetes methodisches Problemlösen verstehen, das anhand schriftlicher Publikationen reproduziert und überprüft werden kann. Dies ist mit der akademischen Freiheit verbunden, nach der Wahrheit zu suchen und das für wahr Gehaltene zu publizieren und zu lehren. Mit diesem Freiheits-Recht ist eine (ethische) Verpflichtung
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verbunden, nicht einen Teil des als wahr Erkannten zu verschweigen oder gar zu verfälschen (vgl. Fischer 2007, 50). So lässt sich ein normatives Begründungsfundament epistemischer Arbeit methodisch und ethisch rechtfertigen (vgl. Fischer 2007, 52 f.). Die immer stärkere Verschränkung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung ist aber nicht nur Ausgangspunkt für Fehlfunktionen in der Wissenschaft. Bei der Klimaforschung wie bei der Umweltforschung generell geht es um von der Gesellschaft gewünschte Beiträge der Wissenschaft zur Zukunftsvorsorge unserer Gesellschaft (vgl. Fischer 2007, 18 f.). Gesellschaftliche Faktoren können eine epistemisch erfolgreiche wissenschaftliche Entwicklung auslösen und beschleunigen, aber auch verzögern (Fischer 2007, 56). Das Unternehmen Wissenschaft muss, sobald es kollektiven Charakter angenommen hat, so organisiert werden, dass seine Fähigkeit zur Zielerreichung gesichert (im Idealfall maximiert) und nicht eingeschränkt wird (vgl. Fischer 2007, 71 f.). Mit „Big Science“ wird die Versuchung zum Großbetrug größer. Der Mythos des objektiven, selbstlosen Wissenschaftlers stimmt immer weniger. Die Änderung des Status der Wissenschaftler von einer Schar weniger Auserwählter zu einem von vielen ausgeübten Beruf führt zur Lockerung des Standesethos. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts unterschieden sich die Arbeitsbedingungen von Forschern grundsätzlich von denen früherer Wissenschaftler. Im ManhattanProjekt entstand Militärforschung im großen Stil. Edison war ein professioneller Erfinder, nicht mehr der klassische Wissenschaftler, der nur die Wahrheit erkennen wollte. Der gemeinsame Arbeitsstil entwickelte sich im Laboratorium und begründete das amerikanische System der Wissenschaften mit großen Forschungsinstituten (vgl. Trocchio 1999, 73–86). Über die wissenschaftliche Forschung wacht nun eine bürokratische Maschinerie, die über die Geldzuweisungen entscheidet. Voraussetzung dafür ist die Begutachtung von Finanzierungsanträgen. Mit dem allmählichen Anwachsen der Zahl der Wissenschaftler wurden die kreativen und innovativen Wissenschaftler gegenüber den mittelmäßigen prozentual immer weniger. Die schöpferischen und hoch intelligenten Menschen werden nun zunehmend von der Forschung ausgeschlossen (entsprechend dem Horizont derer, die über Forschungsanträge entscheiden). Der Wissenschaftsbetrug ist eine Begleiterscheinung vor allem der Big Science. Das Problem liegt nicht allein im System, sondern in den aufgeblähten Dimensionen, die es im letzten Jahrzehnt angenommen hat (vgl. Trocchio 1999, 89–107). Kontrollierbarkeit aber setzt das gläserne Labor, das transparente Laborbuch, das öffentliche Arbeitszimmer voraus. Doch wer sich permanent ins Reagenzglas oder auf die Tasten schauen lassen muss, gibt vorzeitig Informationen preis, die andere benutzen können, um ihn zu überholen oder auszustechen. Psychologisch ist diese Situation insbesondere für die kreativsten Forscher schwer zu ertragen. Vor allem müssen sie fürchten, dass ihre Ideen gestohlen werden. Um dies zu verhindern, werden die Beobachteten neue Strategien der Selbstinszenierung entwickeln, die den Beobachtern eher ein gewolltes als ein wahrheitsgetreues Bild vermitteln. Wer die Kontrollen übertreibt und den Kontrolleuren zu viel Macht einräumt, schädigt die Wissenschaft (vgl. Fischer 2004, 95). Schädlicher als der Schuldige, der sich durch gefälschte Daten mitunter tausende an Drittmitteln erschleicht, sind Innovation
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hemmende soziale Strukturen der Wissenschaft, die Bildung von Oligarchien und Gefälligkeitsnetzwerken, die zur unsichtbaren Fehlverteilung von Forschungsmitteln im großen Maßstab und zur Ausgrenzung hoch innovativer Wissenschaftler und unkonventioneller junger Talente führen (vgl. Fischer 2004, 100). Heute betrügen wissenschaftliche Söldner und treibt hauptsächlich Eigeninteresse zum Betrug. Die neue Art des Betrugs verweist auf das ökonomische System. Die Anwendung der Methoden und die methodologischen Regeln sind kein ausreichender Schutz mehr vor der Versuchung durch das ökonomische System. Die wissenschaftliche Praxis ist nämlich nicht nur durch methodologische Regeln bestimmt. Auch die Verletzung methodologischer Regeln kann forschungspragmatisch sehr erfolgreich sein. Methode ist ein anderes Wort für Forschung bei Platon und bei Aristoteles, nämlich die Vorgehensweise von wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Methode umfasst Kunstgriffe und ist so für Betrug und entsprechende Strategien grundsätzlich offen. Man kann nicht die Methode abschaffen, um den Betrug zu verhindern. Also bleibt nur eine gesunde Skepsis. Die These von der Gleichförmigkeit der Natur erlaubt die technische Nutzung der Natur und die Wiederholbarkeit von Experimenten. Wissenschaftliche Theorien werden immer häufiger falsifiziert: dies ist wissenschaftlicher Fortschritt. Wissenschaftlich akzeptierte Ergebnisse, die auf der Wiederholbarkeit von Experimenten basieren, erscheinen später in völlig neuem Licht. Dahinter steht das zentrale Problem des Übergangs vom Experiment zur Theorie. Es ist eine Hermeneutik der Experimente und ihrer Ergebnisse erforderlich, bevor man den Schritt zur Theoriebildung wagen kann (vgl. Trocchio 1999, 218–233). Das wissenschaftsinterne Ethos betrifft zunächst Formen wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Diese können intern wie extern konstituiert sein. Die ethische Dimension in diesem Zusammenhang manifestiert sich insbesondere in der Sachbezogenheit der Formen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, die nicht von persönlicher Feindschaft geprägt sein sollten. Die Wissenschaftlergemeinschaft konstituiert eine wissenschaftliche Öffentlichkeit in zweifacher Richtung, nämlich intern für andere Wissenschaftler zunächst der eigenen Disziplin, aber dann auch interdisziplinär, und zweitens für die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit, wobei der Wissenschaftsjournalismus wichtige Aufgaben erfüllt. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit ist am Gemeinwohl orientiert und hat einen internen Mechanismus, Fehler oder auch Betrug, falls er vorkommen sollte, zu eliminieren. Mehr braucht man auch nicht zu verlangen. Ethisch gesehen besteht die Verpflichtung, keine Fehler bewusst zu produzieren, um persönliche Vorteile davon zu haben. Wichtig scheint in diesem Zusammenhang zu sein, das Wissenschaftler nicht nur im Sinne des traditionellen Wissenschaftsethos eine interne Verpflichtung zur Rechtfertigung der eigenen Aussagen und Ergebnisse hat, sondern in der Lage sein muss, die eigenen Positionen und Beiträge zur Wissenschaft auch nach außen rechtfertigen zu können. Wissenschafts- und Technologie-Reflexions-Kultur stehen an der Schnittstelle zwischen interner und externer Wissenschafts- und Technologieethik. Das in der Forschungspraxis vorkommende Misslingen gehört nicht zu Fehlfunktionen von Forschung. Die Gültigkeit und Verwertbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis (also von Wissenschaft) ist – traditionell gesehen – im Unterschied zur
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Forschung von ihrer Genese unabhängig. Das traditionelle wissenschaftliche Ethos bezieht sich als Wissenschaftsethik auf eine Ethik des Wissens und damit auf eine Ethik der Wahrheit und ihrer Sicherung, die Forschungsethik als eine Ethik des Könnens inklusive Technoscience zielt auf Verantwortbarkeit der Ziele und Folgen von Forschung. Als weiteren Bereich gibt es die Technologieethik als Ethik von Technoresearch und Ethik des Laboratoriums. Hier entstehen Fragen der Erlaubtheit von Tierversuchen und Humanexperimenten. Eine Ethik, die den modernen Naturwissenschaften und der Forschung entspricht, ist eine Ethik der Korrekturoffenheit und der zetetischen Methode (forschende, als hermeneutische Ethik: Irrgang 2007a). Es geht um kollegiale Kritik und Selbstkritik (Respekt vor der gemeinschaftlichen Forschertätigkeit, die verbindet). Es handelt sich um eine kognitive Ethik des Wissen Wollens und nicht des Recht behalten Wollens. Man mag die Ökonomisierung der Wissenschaft bedauern, aber sie ist heute nicht zuletzt eine Konsequenz der Technologisierung von Forschung und Wissenschaft. Wissenschaft hat die Aufgabe, permanent falsches Wissen (Irrtümer) zu eliminieren, egal ob sie mit guter oder mit böser Absicht in die Welt gesetzt wurden. Wissenschaft setzt sich zusammen aus Forschung und Theorie. Das traditionelle Verständnis des wissenschaftlichen Ethos betrachtete Wissenschaft als System von Sätzen und stritt sich um deren Geltung. Als sittlich vertretbar galt alles, was der Objektivität diente. Die Art der Erzeugung dieses Wissens wurde nur als Bestätigung bzw. Falsifikation dieses Wissens zugelassen, damit im strengen Sinn als irrelevant für das Wissen und seine Geltung betrachtet. Dem klassischen Objektivitätsideal und Wertfreiheitspostulat der empirischen Naturwissenschaften entsprach ein Plädoyer für die Freiheit der Forschung und gegen eine gesellschaftliche Kontrolle der Wissenschaft. Methodisch gesehen ist es legitim, in der Beschreibung des Gesetzeswissens von seiner Erzeugung abzusehen, nicht aber wenn es um die sittliche Bewertung von Forschung und Technologieentwicklung hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Voraussetzungen und ihrer Folgen für die Gesellschaft und die Natur geht. Obwohl die Arbeitsteilung in Forschung, Vermittlung, Umsetzung und Lehre also die Wahrnehmung von Verantwortung in der Wissenschaft erschwert, ist die Vorstellung eines subjektlosen Forschungsprozesses unangemessen. Grundlagenforschung kann mittels Versuch und Irrtum Neues und Unvorhergesehenes erkennen. Dafür tragen die Forscher im Rahmen der Vorhersehbarkeit der Folgen Verantwortung. Wissenschaftsethik bewertet Ziele und Folgen der Forschung und technologischer Umsetzung im Diskurs. Damit wird die Folgenbetrachtung und Folgenbewertung, die Prognostik stärker betont als in der herkömmlichen ergebnisorientierten Forschung. In der Medizin ist neben wissenschaftlicher Laborforschung auch klinische Forschung von erheblicher Bedeutung. Der Begriff klinische Forschung umfasst in einem weiten Sinne alle Formen der Erforschung von Ursachen, Entstehung und Verlauf von Krankheiten sowie der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrer Erkenntnis und Behandlung, die aus der ärztlichen Arbeit im Umgang mit kranken Menschen, nicht nur bestimmten Krankheitssymptomen hervorgehen. Klinische Forschung wird also als die patientennahe Seite der medizinischen Forschung betrachtet (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 14). Die Sicherheit der Probanden in klini-
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schen Studien wird insbesondere durch festgelegte Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um klinische Studien durchführen zu dürfen, und die durch Ethikkommissionen und Bundesbehörden geprüft werden, durch das intensive Monitoring unerwünschter Wirkungen während der Durchführung der Studien sowie durch unterstützende Rahmenbedingungen wie die Qualifikation des Studienpersonals und Probanden-Versicherungen gewährleistet (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 57). Patienten werden in der Öffentlichkeit häufig als Versuchskaninchen bezeichnet anstatt ihnen die Vorteile der Studienteilnahme ausreichend zu verdeutlichen. Nach wie vor gilt Grundlagenforschung allgemein als gut, während klinische Forschung und Versorgungsforschung nur wenig Wertschätzung erhalten. Dieser Zustand wird durch falsche Anreizsysteme an den medizinischen Fakultäten unterstützt. Ebenfalls wird der Aufbau der notwendigen Forschungsinfrastruktur für klinische und versorgungsnahe Studien minder geschätzt (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 62). Eine wichtige Standortbedingung für klinische Forschung ist der Zugang zu Probanden, die bereit sind, an klinischen Studien teilzunehmen. Risiken können nicht völlig vermieden werden. Die Abwälzung dieser Risiken und die daraus resultierenden Auflagen für klinische Studien gegen die Chancen eines frühen Zugangs Betroffener zu innovativen Therapien und wirtschaftlichen Interessen der Hersteller und der Volkswirtschaft abzuwägen, ist schwierig. Für die Patienten und Anwender besteht ein Dilemma zwischen einer schnellen Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten und einer Minimierung der Risiken. Für die Hersteller bedeutet ein früher Marktzugang eine erhöhte Gewinnmöglichkeit, aber auch die wollen Gefahren für Anwender möglichst gering halten und eine Marktrücknahme vermeiden. Der Diskurs zur Nutzen-Risiko-Abwägung sollte in der Gesellschaft und in den Fachgremien auch im Hinblick auf eine Erhöhung der Patientenbeteiligung und Patientensouveränität weiter verstärkt werden. Auch Therapieoptimierungsstudien mit bereits zugelassenen Arzneimitteln müssen als klinische Studien genehmigt werden (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 8 f.). Generell ist die klinische Forschung, da sie entweder durch Vermarktungsinteresse der Industrie oder durch nicht abgestimmte Förderanträge der akademischen Forscher geleitet ist, noch zu wenig mit der Versorgungspraxis verbunden. Dies erschwert die Rekrutierung von Teilnehmern an Studien, trägt zur geringen Reputation klinischer Forschung im akademischen Umfeld bei und schränkt die Nutzung von Ergebnissen klinischer Forschung in der klinischen Praxis ein. Dabei geht es jedoch um die Verbesserung letztendlich der Lebensqualität der Patienten (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 10 f.). Die klinische Forschung ist ein zentraler Bestandteil der Entwicklung neuer Arzneimittel und anderer Therapiemethoden. Dabei geht es um die Zusammenarbeit der öffentlichen und industriellen Forschung. Neben den klassischen Arzneimittelwirkstoffen, den sog. kleinen Molekülen, gewinnen neuartige, auf Biotechnologie basierende Therapieverfahren immer mehr an Bedeutung für Wirtschaft und Krankenversorgung. Genannt seien hier z. B. Biopharmazeutika und Biosimilars, therapeutische Antikörper, Gen- und Zelltherapie bzw. regenerative Medizin, Tissue Engineering sowie nanoskalige Medikamententransporter. Durch ihre innovativen Wirkungsweisen können diese Therapieverfahren teils neue Risiken und Herausforderungen mit sich bringen, insbesondere in Bezug auf die
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klinische Forschung, aber auch hinsichtlich ethischer und Sicherheitsfragen (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 13). Dennoch sollte klinische Forschung nicht als „Feierabend“-Forschung angesehen werden, sondern muss Instrumente verwenden, die von der klinischen Studie über den Aufbau von Kompetenzzentren bis hin zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung von biometrischen Methoden reichen und ein definiertes methodisches Training voraussetzen. Klinische Studien können die Wirksamkeit und Sicherheit neuer Behandlungsverfahren nur unter kontrollierten Studienbedingungen beschreiben. In der alltäglichen Versorgungspraxis und über längere Zeiträume angewandt, können neue Verfahren jedoch ein anderes Wirkungsprofil und neuartige Nebeneffekte zeigen (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 64 f.). Als Teilnehmer werden in der Regel Erwachsene zwischen 18–65 Jahren ohne wesentliche Begleiterkrankungen zugelassen. Ein Großteil der Morbidität in den entwickelten Gesellschaften entfällt aber auf die Senioren, für die also – ähnlich wie für Kinder – kaum Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Studien generiert werden. Aus Patientensicht ist dieser Mangel als tragisch einzustufen. Es sei bemerkenswert, dass gerade die Bevölkerungsteile, die besonders häufig unter Alltagsbedingungen mit Arzneimitteln behandelt werden, bei den Zulassungsstudien kaum Berücksichtigung fänden (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 67). Mit den innovativen biomedizinischen Wirkstoffen sind besondere Risiken verbunden: (1) die Frage des biologischen Verbleibs von Nanopartikeln im Körper einschließlich der Verteilung, Anreicherung und Verstoffwechselung; (2) arzneimittelspezifische Wege der Aufnahme in den Körper in Abhängigkeit von der Applikationsform; (3) mögliche Nebenwirkungen, die durch die Interaktion der Nanopartikel mit dem lebenden Gewebe oder ihren Transport über biologische Schranken hinweg verursacht werden. Eine Besonderheit biologischer Arzneimittel ist ihre Wirkungsweise. Sie werden meist in Zellen hergestellt. Sie zeichnen sich durch große, komplexe und heterogene Molekülstrukturen oder noch komplexere Strukturen wie Zellen aus. In Zell- und Gewebeprodukten können deshalb z. B. zelluläre Verunreinigungen eine Rolle spielen. Die Wirkstoffe sind oft wenig stabil und erfordern besondere Herstellungs-, Lagerungs- und Applikationsbedingungen. Biologika erfordern in der Regel besondere Analysemethoden zum Nachweis ihrer Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit. Vor allem geht es um die Stabilitätsbewertung von biologischen Wirkstoffen. Neuartige Therapien sind im Tiermodell oft nur schwer einzuschätzen (vgl. Bührlen, Vollmar 2009, 72–76). Besonders ist auf das Dilemma mit der größtmöglichen Sicherheit und damit maximalen Testung des Wirkstoffes auf der einen Seite und einem möglichst schnellen Zugang zu der neuen Behandlungsmethode auf der anderen Seite hinzuweisen. Patienten besitzen über ihre Selbsthilfeorganisationen und Informationen aus dem Internet inzwischen ein häufig sehr gutes Wissen über ihre Krankheiten und die Behandlungsmöglichkeiten, auch wenn diese noch in der Entwicklung sind. Andererseits werden sie auch von der Gesundheitspolitik zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung angehalten und fordern auch selbst eine größere Patientensouveränität ein. Der Kosteneinsparungskurs bzw. die Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen könnten zukünftig dazu führen, dass innovative Medizinpro-
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dukte nicht oder nur sehr begrenzt Eingang in den Leistungskatalog der Krankenkassen finden und dass in den öffentlichen Krankenhäusern das Budget für Investitionen durch Reglementierungen begrenzt wird (Lindner u. a. 2009, 58).
GLOSSAR AIDS: Abk. für Acquired-Immune Deficiency Syndrome = erworbene Schwäche des Immunsystems. Folge der Infektion mit dem human immune deficiency virus (HIV); Abschwächung oder Verlust der körpereigenen Fähigkeit, auf eindringende Erreger zu reagieren; manifest dekompensierter Immundefekt mit opportunistischen Infektionen und/oder Tumoren. Die Krankheit, die vor allem Bluter, andere auf Bluttransfusionen angewiesene Menschen, Drogenabhängige und Homosexuelle betrifft, steht im Zusammenhang mit einer Infektion durch ein Retrovirus (HIV I u. HIV II). Die Patienten sterben an einer fortschreitenden Schwächung des Immunsystems. AIDS-Demenz: Veränderungen des Zentralnervensystems mit zunehmendem Verlust erworbener intellektueller Fähigkeiten (Störungen der Konzentration, Merkfähigkeit, Feinmotorik, psychomotorische Verlangsamung, Persönlichkeitsveränderungen). AIDS-related Complex (ARC): Vorstadium des Vollbildes von AIDS. Aktor/Akteure: Handelnder (als Individuum, Gruppe, Organisation). Alpha-Fetoprotein: Abk. AFP; ein Eiweiß, das in der kindlichen Leber des Embryos/Fötus produziert wird und dessen Menge sowohl im Fruchtwasser als auch im mütterlichen Serum bestimmt werden kann. AFP ist im fetalen Serum von der 4. Schwangerschaftswoche an nachweisbar; Übertritt von AFP ins Fruchtwasser durch fetalen Urin; erhöhter AFP-Spiegel im Fruchtwasser z. B. bei Anenzephalie oder Spina bifida. Amnionhöhle: Hohlraum, der den Fetus umgibt und das Fruchtwasser enthält. Amniozentese: Gewinnung von Fruchtwasser zur Isolierung von fötalen Zellen, deren Gene diagnostiziert werden können. Andrologie: Spezialgebiet der Medizin, das sich mit den Fortpflanzungsfunktionen des Mannes und deren Störungen befasst („Männerheilkunde“). andrologische Sterilität: Fruchtbarkeitseinschränkung bis zu völliger Unfruchtbarkeit wegen „verminderter Samenqualität“: zu wenige bzw. keine Spermien, zu schlecht bewegliche Spermien, nicht regelrecht geformte Spermienköpfe. Anenzephalie: schwerste Fehlbildung eines Neuralrohrdefektes; teilweises oder vollständiges Fehlen des Großhirns und der Schädelkalotte, unterentwickelte Hypophyse, nur bei einem Viertel der Fälle ist das Stammhirn entwickelt; genetische Faktoren sind nicht bekannt. Anthropologie: Als Lehre vom Menschen eine Disziplin im Schnittpunkt verschiedener Forschungsrichtungen, die sich mit dem Menschen befassen oder für den Menschen relevante Aussagen treffen. Biologische A. ist das Studium des Menschen als biologische Spezies; sie versucht die Evolution des Menschen und die biologischen Voraussetzungen seiner Eigentümlichkeiten zu ergründen. Antibiotika: Stoffwechselprodukte von Mikroorganismen, die andere Mikroorganismen im Wachstum hemmen oder abtöten (z. B. Penicillin, Chloramphenicol, Tetracyclin usw.). Antibiotikaresistenz: Eigenschaften von Mikroorganismen, die Wirkung von antibiotisch aktiven Substanzen abschwächen oder ganz neutralisieren zu können. Antigene: Spezifische, in der Regel körperfremde Molekülstrukturen (z. B. ein Abschnitt eines Proteins), die die Produktion von spezifischen Antikörpern hervorrufen, von denen sie dann spezifisch gebunden werden (zum Beispiel Teile der Hülle von HIV). Antikörper: im Serum im Zuge der Reaktion auf das Eindringen von Antigenen in die Blutbahn auftretender humoraler Abwehrstoff (ein Eiweiß) mit spezifischer, gegen das auslösende Antigen gerichteter Wirkung; lösliche Serum-Proteine (Immunglobuline), die als Antwort auf die Gegenwart von Antigenen von spezialisierten Zellen des Immunsystems, den B-Lymphozyten, gebildet werden und so zur Abwehr eingedrungener Fremdstoffe dienen.
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Glossar
Arzneimittelprüfung: Phase 1: Erstanwendung am Gesunden (Probanden), Suche nach dosisabhängigen Wirkungen, Verträglichkeit unterschiedlicher Dosierungen, Untersuchungen zur Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung des Wirkstoffs; Phase 2: Erstanwendung am Patienten, erwünschte und unerwünschte Wirkungen beim Patienten, Dosisfindung; Phase 3: Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit an größeren Patientengruppen, vergleichende Nutzen-Risiko-Untersuchungen zu bereits bekannten Arzneimitteln; Phase 4: Anwendungsüberwachung nach der Zulassung, Nutzen-Risiko-Überwachung des Arzneimittels unter therapeutischen Routinebedingungen; Autoimmunreaktion: durch Stoffe des eigenen Körpers ausgelöste Reaktion, die zur Bildung von Antikörpern gegen Zellen des eigenen Körpers führt. Autopoiesis: Selbstorganisation, Selbstordnung. Eigenschaft von Systemen (insbesondere lebenden Systemen), unter Beibehaltung der Struktur sich selbst zu erneuern. Balintgruppe: berufsbezogene Selbsthilfegruppe; nicht psychotherapeutisch tätige Ärzte und Angehörige medizinischer Hilfsberufe finden sich über einen längeren Zeitraum zusammen, um unter psychotherapeutischer Supervision Fälle aus der eigenen Praxis zu diskutieren; im Mittelpunkt dieser Gruppenarbeit stehen Gespräche über die Beziehung zwischen dem Behandelnden und seinen Patienten hinsichtlich aufgetretener Störmomente und positiver Einflüsse; der Gruppenprozess dient dazu, sich eigener Haltungen und Reaktionen bewusst zu werden. Basaltemperatur: geringer Anstieg der Körpertemperatur nach dem Eisprung durch die Hormonwirkung des Eierstocks. Bewusstsein: Vermögen zur Eigenreflexion, in spezifischer Weise beim Menschen ausgeprägt als ein Wissen um bestimmte, das eigene Ich betreffende Zustände. Biotechnik: (1) technische Rekonstruktion biologischer Vorgänge, also eine Theorie des Organismus aufgrund kausaler Rekonstruktion. (2) In einem weiteren Sinne kann man unter ihr auch die Untersuchung der Konstruktionen der Biologie als Vorbild für technisches Gestalten verstehen. (3) Allgemein werden mit Biotechnik Querbeziehungen zwischen Biologie und Technik und die technische Gestaltung der belebten Natur überhaupt bezeichnet. Biotechnologie: Verfahrenskunde der Biotechnik. Blastozyste: Früher Embryo mit noch undifferenzierten Zellen (64–128 Zellen). Blot: Die Übertragung von DNA, RNA oder Protein aus einem Trennmedium (Gel) auf Papier. Blut-Hirn-Schranke (korrekt Blut-Liquor-Schranke): physiologische Barriere/hochselektiver Filter (Zellsystem) zwischen Blutkreislauf und Zentralnervensystem, über die die vom Gehirn benötigten Nährstoffe zugeführt und die Stoffwechselprodukte abgeführt werden; schützt somit das Gehirn vor im Blut zirkulierenden Krankheitserregern, Toxinen und Botenstoffen; die Schutzfunktion erschwert andererseits die medikamentöse Behandlung einer Vielzahl neurologischer Erkrankungen, da auch viele Wirkstoffe diese Blut-Hirn-Schranke nicht passieren können. Burkitt-Lymphom: Eine bösartige, von Lymphozyten ausgehende Geschwulst (Lymphosarkom), die im Kindesalter auftritt und hauptsächlich in den tropischen Gebieten Afrikas vorkommt; benannt nach dem irischen Arzt Denis Burkitt. Carcinogene (Cancerogene): mutagene Chemikalien, Organismen (z. B. Viren), Strahlungen oder Umwelteinflüsse, die zur Entstehung von Krebs führen oder eine Krebserzeugung fördern können. Carcinogenität: Eigenschaft, Krebs erregen zu können. Chemotherapie: medikamentöse Behandlung von Krebserkrankungen (antineoplastische C.) oder Infektionen (antimikrobielle C.) mit Substanzen, die ihre schädigende Wirkung gezielt auf bestimmte krankheitsverursachende Zellen bzw. Mikroorganismen ausüben (Zytostatika bzw. Antibiotika, Virustatika, Antimykotika etc.); der Begriff wurde 1906 von Paul Ehrlich eingeführt zur Beschreibung der Behandlung von Infektionskrankheiten mit Methoden, die direkt gegen Krankheitserreger vorgehen.
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Chorea Huntington: (ältere dt. Bezeichnung: Veitstanz) autosomal-dominant vererbte, neuro-degenerative Erkrankung, die mit einer fortschreitenden Zerstörung des Stratiums und dementsprechend Störungen der Muskelsteuerung und grundlegender mentaler Funktionen einhergeht. Die ersten Krankheitssymptome treten meist im mittleren Lebensalter (35–50 Jahre) auf; die anfänglichen Hyperkinesien (Grimassieren, schleudernde Bewegungen von Armen und Beinen) können sich mit zunehmendem Krankheitsverlauf in Dystonien wandeln, evtl. auch Unfähigkeit von Sprechbewegungen, das Schlucken fällt immer schwerer (kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen), es kommt zum fortschreitenden intellektuellen Abbau, zu einem Dahinsiechen und schließlich zum Tod. Bisher ist keine Therapie möglich. Chorionzotten: Zellen der mittleren Eihaut des Fötus; Gewebe außerhalb der Fruchtblase in Zottenform, das in enge Verbindung mit der Schleimhaut der Gebärmutter tritt und später die Ernährung des heranwachsenden Fötus gewährleistet. Chorionzottenbiopsie: Entnahme von einigen Milligramm Chorionzotten für diagnostische Zwecke. Chromosomendiagnostik: Darstellung des Chromosomensatzes (23 mütterliche und 23 väterliche Chromosomen) mit Überprüfung der Anzahl (46) und der Strukturen der einzelnen Chromosomen zum Ausschluss einer Abweichung von der Norm (vgl. Trisomie 21). Computertomographie (CT): ist ein bildgebendes radiologisches Verfahren, wofür im Gegensatz zur Röntgentomographie die Nutzung eines Computers zwingend nötig ist, um aus den Rohdaten Schnittbilder erzeugen zu können. Diese Schnittbilder sind Ergebnis der rechnerbasierten Auswertung einer Vielzahl, aus verschiedenen Richtungen aufgenommener Röntgenaufnahmen eines Objektes und bieten im Gegensatz zu einer normalen Röntgenaufnahme eine überlagerungsfreie Darstellung der Körperstrukturen. Zudem konnten bereits mit den ersten Geräten 1972 Gewebearten mit unterscheidender Schwächung für Röntgenstrahlung dargestellt werden, was bis dahin nur sehr eingeschränkt möglich war. Copy number variants (CNV): (deutsch Kopienzahlvariation) Bezeichnung für submikroskopische strukturelle Chromosomenveränderungen, die in (wahrscheinlich) nicht-zufälliger Anordnung über alle Chromosomenpaare verteilt sind und in Anzahl und Verteilungsmuster von Individuum zu Individuum variieren. Es handelt sich um eine Variation des Erbguts, die Abweichungen der Anzahl der Kopien eines bestimmten DNA-Abschnittes innerhalb eines Genoms erzeugt. Beim Menschen sind ca. 30.000 CNVs bekannt. Bis vor kurzem nahm man an, dass Gene im Genom in der Regel in zwei Kopien vorliegen (je eine Kopie pro Chromosomensatz). Jedoch zeigen einige Gene eine Variation der Genkopienzahl zwischen verschiedenen Individuen. Meist handelt es sich um Duplikationen (mehr als drei oder vier Kopien) oder Deletionen (nur eine Kopienzahl) von Chromosomenabschnitten. Die Gene, die innerhalb der CNVs liegen, scheinen meistens keine entscheidende Rolle in der Embryonalentwicklung zu spielen, sondern sind eher in der Interaktion mit der Umwelt wichtig. Ein Teil der CNVs wurde als krankheitsverursachend oder als Risikofaktoren für komplexe Krankheitsbilder wie Autismus oder Infektionsanfälligkeit identifiziert. CNVs können aber auch „nur“ benigne Normvarianten darstellen; eine eindeutige Korrelation zwischen Verdopplung oder Deletion des entsprechenden Chromosomenabschnitts und dem Phänotyp (klinische Manifestation) ist nicht immer gegeben. Crossing-over: Das Brechen eines mütterlichen und eines väterlichen Chromosoms während der Meiose, der Austausch der entsprechenden DNA-Segmente und das Wiederverbinden der Chromosomen. Deletion: (engl. delete „löschen“), auch Gendeletion, ist in der Genetik eine Variante der Gen- bzw. Chromosomenmutation, bei der eine (oder ein Teil einer) Nukleotidsequenz fehlt. Eine Deletion ist immer ein Verlust von genetischem Material (Verlust innerhalb des Chromosoms oder eines Endabschnittes). Beispiel für eine (partielle) Gendeletion ist das Katzenschrei-Syndrom. Desperadoverhalten im Zusammenhang mit AIDS: absichtliche Weitergabe der HIV-Infektion. Diaphragma: Membran, die für Partikel ab einer bestimmten Größe nicht mehr durchlässig ist.
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Diskriminierung: Herabsetzung; Herabwürdigung; mit negativen sozialen Folgen verbundene, herabsetzende Ausgrenzung von Menschen beziehungsweise Gruppen; in der Rechtswissenschaft wird dieser Begriff nur verwandt, wenn für die diskriminierende Behandlung kein rechtfertigender Grund besteht. DNA-Fingerprinting: Verfahren zur Erzeugung charakteristischer, für das Genom eines Individuums spezifischer DNA-Fragmentmuster zur Abklärung strittiger Abstammungsverhältnisse, z. B. beim Vaterschaftsnachweis und zur Identitäts- und Spurensicherung bei Verbrechen. DNA-Klonierung: Vermehren eines DNA-Fragmentes durch Züchtung einer genetisch homogenen Zellpopulation. DNA-Sonden: Stücke von radioaktiv oder chemisch markierter einzelsträngiger DNA, die dazu benutzt werden, um durch Hybridisierung komplementäre Sequenzen zu finden und zu identifizieren (Gensonden). Eileitersterilität: Unfruchtbarkeit wegen Eileiterverschluß oder gestörtem „Eiauffangmechanismus“. Ei und Samenzelle können sich nicht im Eileiter begegnen. Ejakulat: Samenerguss, bestehend aus der Samenflüssigkeit (3–4 ml) und den Samenzellen (20– 40 Mio/ml). ELISA-Test: Enzyme-Iinked Immunosorbent Assay; Suchtest für HIV-Antikörper; allein nicht ausreichend beziehungsweise spezifisch. Embryo: Frucht in der Gebärmutter während der ersten drei Monate der Schwangerschaft. Embryo-Transfer: Übertragung des in der Retorte gezeugten Embryos in die Gebärmutter. Embryologie: Lehre von der Entwicklung des Embryos. Studium der Entstehung und Entwicklung individueller Lebewesen von der Befruchtung der Eizelle bis zur Geburt. Enzymbestimmumg: Messen von Menge und/oder Aktivität eines Wirkstoffes (Enzym) zum Ausschluss einer Abweichung von der Norm. Epidemie: gehäuftes Auftreten einer Krankheit; früher nur bei Infektionskrankheiten verwendet; bei örtlicher Begrenzung Endemie, bei weltweiter Ausbreitung Pandemie. Epigenetik: ist eines der zentralen Themen der Genetik in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Sie befasst sich mit der Frage, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle (dauerhaft) festlegen und ob bestimmte Festlegungen an die Folgegeneration vererbt werden. Grundlage sind Veränderungen an den Chromosomen, die aber nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen, wodurch Abschnitte oder ganze Chromosomen in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Genome mehrzelliger Organismen sind mit zellspezifischen, entwicklungs-gesteuerten, epigenetischen Kodierungen „überzogen“. Diese epigenetischen Kodierungen strukturieren die Chromosomen, sie steuern die Genaktivität auf zell- und gewebespezifischer Ebene und sorgen in weiten Teilen des Genoms dafür, dass große Genomabschnitte stumm geschaltet bleiben. Epigenetische Kodierungen sind jedoch potentiell reversibel und daher im Verlauf eines Lebens entwicklungsabhängiger aber auch umweltbedingter Variabilität ausgesetzt. Die Epigenetik bietet daher neue Ansätze, den Einfluss umweltbedingter Veränderungen auf das Genom zu erfassen und deren langfristige Konsequenz für das Individuum besser zu verstehen. Ethik: als wissenschaftliche Reflexion auf Moral und Ethos mit dem Ziel, Verhaltensvorschriften, sittliche Verpflichtungen und Handlungsregeln für Entscheidungen argumentativ auszuweisen und zu rechtfertigen. Gegenstand der Ethik ist die argumentative Rechtfertigung des Verpflichtungscharakters von sittlichen Überzeugungen. ethisches Urteil: Urteil, das auf ethische Standards (Prinzipien, Regeln, Normen, Kriterien) Bezug nimmt. Ethos: vom griech. „ethos“ (Verhalten, Sitte) abgeleitet; meint eine spezifische sittliche Lebensform, die von Grundhaltungen und einer gewissen praktischen Rationalität geprägt ist. Lebensformen können von spezifischen gesellschaftlichen Gruppen oder Berufsständen ausgeprägt werden. Das Ethos ist daher partikulär.
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Eugenik: Versuche, durch selektive Züchtung die genetische Beschaffenheit der Bevölkerung zu verbessern; negativ – durch Einschränkung der Vermehrung von Individuen mit unerwünschten Erbmerkmalen; positiv – durch Bevorzugung von Individuen mit erwünschten Erbmerkmalen. Euthanasie: griech. „guter Tod“, als Begriff für alle Formen der Sterbebegleitung und Sterbehilfe, ist heute eingeengt auf aktive oder passive Lebensverkürzung. Da der Begriff Euthanasie durch das Massentötungsprogramm der Nationalsozialisten in Misskredit gekommen war, setzte sich der Begriff der Sterbehilfe durch. Expertensysteme: Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz. Bei E. dient ein regelbasiertes Programmierprinzip der zielgerichteten Strukturierung von Wissen. Ziel ist die automatische und routinierte Problemlösung. E. können nicht selbständig agieren oder reagieren. Ihr Vorteil besteht vielmehr darin, dass sie mit Unsicherheiten oder Widersprüchen umgehen können. Als Einsatzgebiet kommen die Diagnose, die Expertise und die Beratung in Problemsituationen in Frage. Ferner eröffnen sie Zugänge zu Daten, selektieren sie, entwickeln Konfigurationen von Wissen, planen und leisten Hilfe bei der Strukturierung von Information. Fetus (eingedeutscht Fötus, Föten): Leibesfrucht nach dem 4. Schwangerschaftsmonat, d. h. nach Abschluss der Organentwicklungsphase ab der 16. Schwangerschaftswoche. Fetusskopie: Betrachtung des Fötus mit Hilfe eines optischen Instrumentes, das in die Fruchtblase eingeführt wird. Follikel: flüssigkeitsgefülltes Eibläschen, in dem die Eizelle im monatlichen Zyklus heranreift. Follikelpunktion: ärztlicher Eingriff zur Gewinnung der Eizelle aus dem Follikel. Absaugen von Follikelinhalt zusammen mit der Eizelle über eine Punktionskanüle, die einen Innendurchmesser von 1,2 mm hat. Die Punktion erfolgt unter Ultraschallkontrolle oder pelviskopischer Sichtkontrolle. Gameten: Keimzellen (Ei- und Samenzellen). Gelelektrophorese: Ein biochemisches Trennverfahren, bei dem die Wanderung von geladenen Molekülen in einem elektrischen Feld zu deren Trennung sowohl zu analytischen wie präparativen Zwecken ausgenutzt wird. Gen: Bezeichnung für die fundamentale physikalische und funktionelle Einheit der Vererbung. Ein Gen ist eine geordnete und definierte Sequenz von Nukleotiden (DNA), die den Bauplan einer Proteinkette, in der Regel eines Enzyms enthält. Es handelt sich um einen Abschnitt auf der DNA, welcher die Information zur Synthese eines Proteins oder einer RNA enthält. Genom: Gesamtheit der genetischen Information eines Lebewesens. Genomanalyse: Anwendung molekulargenetischer Techniken bei der Untersuchung des Erbmaterials eines Lebewesens. Der Begriff ist unscharf, denn es wird nicht das ganze Erbmaterial eines Lebewesens analysiert, wie es der Begriff eigentlich unterstellt, sondern nur ein kleiner Teil davon, oft nur ein Gen. Als Verfahren der Gen-Diagnostik dient sie dem Nachweis bzw. der Identifikation von genetischen Defekten (Erbkrankheiten) durch direkte Analyse der Nucleinsäuren aus den Zellen eines Probanden. Genotyp: Summe der Erbanlagen eines Lebewesens. Gensonde: Bezeichnung für jede Art von Nucleinsäuren, mit deren Hilfe man bestimmte DNASequenzen im Genom eines Organismus nachweisen kann. Als Sonden dienen meist klonierte Gene, Genfragmente, chemisch synthetisierte Oligonucleotide und auch RNA, die meist radioaktiv markiert werden. Gentechnik: Ansammlung biologischer, chemischer und physikalischer Methoden zur Isolierung, Charakterisierung und Veränderung (Rekombination) genetischen Materials und Einführung dieses Materials in einen (fremden) Organismus. Sie wird verwendet: (1) in der Grundlagenforschung zur Strukturerhellung der genetischen Information und ihrer Expression in Merkmalen, (2) als gezielte Mutagenese zum Zweck der Mutationsanalyse und (3) zur in-vitro-Herstellung von rekombinanter DNA. Gentechnologie: Biotechnologie, die gentechnische Verfahren verwendet.
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Gentherapie: Heilung von Erbkrankheiten durch gezielte Eingriffe in die Erbsubstanz. Gonaden: männliches und weibliches Keimzellgewebe (Hoden und Eierstock). Gonadotropine: Hormone der Hirnanhangdrüse, die auf die Gonaden (Eierstöcke und Hoden) wirken. Sie regeln im Eierstock Eizellreifung, Eizellfreisetzung und Bereitstellung der weiblichen Geschlechtshormone. Gradualismus geht von einem evolutionär bedingten Anwachsen von Komplexität, Individualität, Subjektivität und leiblich eingebetteter Personalität eines Menschen im Mutterleib aus. Die Personalität eines Menschen ist ein anthropologischer Begriff und betrifft den menschlichen Keim genauso wie seine Einbettung in verschiedene Umgebungen, welche seine Entwicklung in maßgeblicher Weise beeinflussen. So begründet dieses Modell im Einklang mit dem gradualistischen Konzept eine abgestufte Schutzwürdigkeit des Personalen und des damit verbundenen Würdekonzeptes. Zugrunde gelegt wird ein neueres biologisches Modell der Entwicklung von Lebewesen im Mutterleib als dies der klassische Präformismus war. Phasen der Selbstorganisation der Entwicklung geschehen gemäß dem epigenetischen Modell vielfach und vernetzt mit dem mütterlichen Organismus. Dabei gibt es zwar keine scharfen Zensuren, aber eine Ausbildung neuer Ebenen der Netzwerkstrukturen aufgrund sich ändernder Einbettungsfaktoren als Rahmenbedingung der Entwicklung. Folgende Ebenen der Entwicklung eines menschlichen Embryos/Fetus im mütterlichen Organismus lassen sich unterscheiden: (1) Phase der Befruchtung im vorderen Eileiter, Dauer ein Tag, am Ende dieses Prozesses steht ein individuelles Genom; (2) weitere Zellteilung und Wachstum des Zellgebildes gemäß epigenetischen Regeln der Exprimierung von Genen aus der mütterlichen mitochondrialen DNA; (3) Einnistung und Gestaltbildung in der Gebärmutter; (4) Entwicklung eines zentralen Nervensystems und Gehirnbildung in der Gebärmutter; (5) Geburt und Lösung der Mutterbindung; das Kleinkind kann nun zumindest theoretisch eigenständig existieren. Hämophilie (Bluterkrankheit): rezessiv erbliche, nur bei männlichen Nachkommen manifeste Erkrankung, die durch stark eingeschränkte Gerinnungsfähigkeit des Blutes charakterisiert ist; (1) Hämophilie A: Fehlen beziehungsweise Mangel des Gerinnungsfaktors Vlll; (2) Hämophilie B: Fehlen beziehungsweise Mangel des Gerinnungsfaktors IX (selten). heterozygot: Begriff aus der Genetik: wenn die zwei Genkopien (Allele) eines Lebewesens für ein bestimmtes Erbmerkmal verschieden sind, dann ist dieses Lebewesen in Bezug auf dieses Merkmal heterozygot; sind sie gleich, dann spricht man von homozygot. HIV-exponiert: Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von 15 Monaten, bei denen noch kein eindeutiger Nachweis der HIV-Infektion erfolgen konnte (Nachweis der Bildung eigener Antikörper zum Ausschluss passiv übertragener Antikörper von der Mutter), deren Mütter aber HIV-infiziert sind. HIV-Infekt (fälschlich HIV-Infektion): Erkrankung nach der Ansteckung mit HIV. HIV-2-Infekt: Krankheitsbild ähnlich der Infektion mit HIV-1, in Europa bisher wenige Fälle bekannt; das verantwortliche Virus ist mit HIV-1 verwandt, aber nicht identisch. HIV-Test (genauer: HIV-Antikörpertest): Laboruntersuchung zum Nachweis einer HIV-Infektion (siehe zum Beispiel ELISA-Test und Westem Blot). idiopathische Sterilität: Die Ursache der Unfruchtbarkeit ist nicht mit medizinischen Diagnoseverfahren zu erklären. Immundefekt: Angeborene oder erworbene Abwehrschwäche; Verlust der Fähigkeit, auf ein Antigen mit einer ausreichenden Immunantwort zu reagieren. Immunglobuline: Sammelbezeichnung für alle Klassen von Antikörpern. immunologische Sterilität: Die Unfruchtbarkeit beruht auf einer Befruchtungsstörung auf Zellebene. Zwischen Samenzelle und Eizelle bestehen Abwehrmechanismen, die keine Befruchtung (Eindringen der Samenzelle in die Eizelle) zulassen.
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Immunsuppression: Unterdrückung der Immunantwort mit Medikamenten oder Bestrahlung zum Beispiel bei Organtransplantationen. Immunsystem: Biologische Funktionseinheit, die die Wahrung der Individualstruktur sicherstellt und durch folgende Merkmale charakterisiert ist: Unterscheidung zwischen körpereigen und körperfremd; spezifische Reaktion auf ein Antigen; Ausbildung von Effektorzellen, die spezifisch mit dem Antigen reagieren; Ausbildung eines immunologischen Gedächtnisses. Die Elemente des I. sind auf Organebene: Thymus, Knochenmark, Milz, Lymphknoten, Tonsillen; auf Zellebene: Makrophagen, Lymphozyten, Plasmazellen; auf Molekülebene: Immunglobuline, Lymphokine usw. Impfung: (auch Schutzimpfung oder Vakzination) ist eine vorbeugende Maßnahme gegen Infektionskrankheiten. Sie beruht auf einer Erreger-spezifischen aktiven Immunisierung durch Einbringen von lebenden (meist abgeschwächten) oder abgetöteten Krankheitserregern oder Teilen davon in einen Organismus. Dagegen handelt es sich bei der Passiv-Impfung (auch Heilimpfung) um eine lediglich passive Immunisierung durch Antikörpergabe. Ziel der (aktiven) Impfung ist es, das körpereigene Immunsystem zu befähigen, auf die Infektion mit einem Krankheitserreger so rasch und wirksam zu reagieren, dass daraus keine oder nur eine abgeschwächte Infektionskrankheit resultiert. Information: Daten, insofern sie eine geschlossene Einheit bilden. lnformed consent: Einwilligung eines Patienten in eine Behandlung auf der Grundlage umfassender Information. lnkubationszeit: Zeit zwischen dem Eindringen des Krankheitserregers in den Organismus und ersten, vorübergehenden Krankheitserscheinungen beziehungsweise dem ersten Auftreten von Antikörpern im Blut. lnsemination: künstliche Besamung; Zugabe von Samenzellen zur Eizelle. Nach Trennung von der Samenflüssigkeit und Waschprozessen werden die aufbereiteten Samenzellen über die Scheide in die Gebärmutterhöhle geleitet. Unter Insemination beim intratubaren Gametentransfer versteht man das gleichzeitige Einbringen von vorbereiteten Ei- und Samenzellen in die Eileiter. Die eigentliche Befruchtung, das Eindringen einer Samenzelle in die Eizelle, erfolgt bei beiden Verfahren ohne weitere medizinische Eingriffe. Homologe Insemination bedeutet, dass der Samen vom Ehemann stammt. Bei einer heterologen Insemination würde Fremdsperma zur Anwendung kommen. Interferone: Proteine mit virostatischer Funktion. (Hypothetischer) Hemmstoff der Virussynthese, der sich nach dem Eintritt eines Virus in eine Zelle aufgrund der Wechselwirkung zwischen beiden bildet; kann heute großtechnisch hergestellt werden. intratubarer Gametentransfer: Samenzellen und Eizellen werden nach ihrer Bereitstellung im Labor gewaschen und gemeinsam in einem Katheter in die Eileiter transportiert. invasives Verfahren: den Körper der Frau belastende Befruchtungstechniken, die mit einer hormonellen Vorbehandlung und Follikelpunktion einhergehen (IVF und GIFT). In-vitro-Fertilisation: (lat. Befruchtung im Glas) Methode zur künstlichen Befruchtung außerhalb des Körpers. Sie wurde in den 1960er und 1970er Jahren von Robert Edwards, der 2010 dafür den Nobelpreis für Medizin erhielt, und Patrick Steptoe entwickelt. Katzenschrei-Syndrom (Cri-du-chat-Syndrom), das erstmals 1963 von dem französischen Genetiker und Kinderarzt Jérôme Lejeune wissenschaftlich beschrieben und nach dem katzenähnlichen Schreien der betroffenen Kinder im frühen Kindesalter benannt wurde (siehe unter Deletion). Keimbahn: Teile des Organismus, die die Geschlechtszellen (Samen, Eizellen) produzieren. Keimzelle: Geschlechtszellen eines Organismus, z. B. Sperma, Eizelle, Pollen. 1. ungeschlechtliche (Sporen); 2. geschlechtliche (Gameten), sind gegenüber den Körperzellen speziell differenziert, beweglich (männliche K.) oder unbeweglich (weibliche K.) und besitzen nur den halben (haploiden) Chromosomensatz mit dem entsprechenden (männl. oder weib.) Geschlechtschromosom. Klinefelter Syndrom: numerische Chromosomenaberration (Aneuploidie) der Geschlechtschromosomen, die bei Jungen bzw. Männern auftritt. Menschen mit diesem Syndrom besitzen ein zu-
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sätzliches X-Chromosom in allen (47, XXY) oder einem Teil der Körperzellen (mos 47, XXY/46, XY). Die Besonderheit wurde erstmals wissenschaftlich 1942 von dem US-amerikanischen Endokrinologen Harry f. Klinefelter, der zugrundeliegende Karyotyp 1959 von der britischen Genetikerin Patricia A. Jacobs beschrieben. Die Chromosomenbesonderheit wirkt sich auf die kognitive und körperliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit der Jungen und Männer aus, wobei nicht generell gesagt werden kann, welche Symptome sich in welcher Ausprägung bei einem Jungen bzw. Mann ausbilden. Generell handelt es sich um eine Keimdrüsenunterfunktion im Pubertätsalter. Klon: eine Menge genetisch identischer Individuen oder eine Kolonie genotypisch und phänotypisch identischer Zellen. Klonal: von einer Zelle abstammende Nachkommenschaft (alle Zellen eines Klons sind genetisch identisch). Klonieren: Erzeugen von erbgleichen Zellen durch ungeschlechtliche Vermehrung einer Zelle. Zu unterscheiden ist K. (1) in der Gentechnologie. Dort meint K. den Einbau eines Gens oder DNA-Abschnitts in einen Klonierungsvektor und dessen anschließende Vermehrung in geeigneten Wirtszellen. Dadurch können Gene oder bestimmte DNA-Sequenzen aus dem Genom eines Organismus in reiner Form isoliert werden. K. ist (2) in der Zellbiologie das Erzeugen von genetisch einheitlichen Zellen durch Vereinzeln von Zellen mit anschließender Aufzucht von Zellkulturen, die aus einer einzigen Zelle hochgezüchtet sind. Kommunikation: von lat. „sich besprechen mit“ meint das sich gegenseitige Offenbaren im Gespräch/Dialog. Kontamination: Verunreinigung (durch Krankheitserreger). Kortex (Cortex): Gehirnrinde. In der Evolution der Wirbeltiere hat sich das Vorderhirn zum dominierenden Gehirnabschnitt entwickelt, wobei ein bei Fischen und Amphibien zunächst schwach ausgeprägter Mantel (Archipallium) gebildet wurde. Bei Reptilien und Vögeln bildete sich eine kompliziertere Rindenschicht (Neopallium) heraus, die bei Säugetieren schließlich als 2- bis 7-schichtiger K. in komplizierter Weise gefaltet wurde und eine größere Ansammlung von Nervenzellen ermöglicht. Kryokonservierung: Tiefgefrierverfahren zur Haltbarmachung und Aufbewahrung von Zellen oder Geweben, beim Menschen z. B. auch Spermien, Eizellen, Embryonen, in flüssigem Stickstoff (bis −196 °C). Mit Hilfe des Verfahrens ist es möglich, die Vitalität der Zellen nahezu unbegrenzt aufrechtzuerhalten. Laparoskopie: (auch Bauchspiegelung) Methode zum Sichtbarmachen der Bauchhöhle und -organe mit speziellen Stablinsen-Optiken (starre Endoskope); hierfür wird das Endoskop durch einen 0,3–2 cm langen Schnitt in der Bauchdecke eingeführt. Latenzzeit: Zeitspanne, die zwischen einem Ereignis und dem Auftreten von Auswirkungen dieses Ereignisses liegt. Leihmutter: Austragen des Kindes für eine andere Frau; entweder nach Insemination mit dem Samen des „Bestellvaters“ oder nach Einsetzen eines fremden Embryos für „Bestelleltern“. Lentivirus: sich besonders langsam vermehrendes Virus; Untergruppe der Retroviren. Marker: Genetisches Merkmal, das als Markierung dient. Meldepflicht: Ärztliche Pflicht, bestimmte Krankheiten aufgrund des Bundesseuchengesetzes oder des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten anonym oder mit Namensnennung an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Metaethik: (1) Analyse der moralischen Sprache, insbesondere auf die Trennung von beschreibenddeskriptiven und normativ-vorschreibend-verpflichtenden Sätzen (>naturalistischer Fehlschluss). (2) Jede Reflexion über die Methoden der Ethik. Sie muss klären, ob normative Ethik überhaupt möglich ist. Hierzu analysiert sie das sog. Hume‘sche Gesetz, die grundsätzliche, intuitiv einleuchtende Unterscheidung von Sein und Sollen, der eine Ableitung von normativen aus deskriptiven Sätzen untersagt.
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Metaphysik: ursprünglich war M. die Bezeichnung jener Schriften des Aristoteles, die das nach den konkreten Dingen (nach der „Physik“) Stehende behandeln. Allgemein ist M. ein System von Aussagen und/oder Behauptungen über die Welt, die auf allgemeinen Prinzipien und nicht auf empirischen Methoden beruhen. Methadon: synthetisches Schmerzmittel mit morphinähnlicher Wirkung; die optisch linksdrehende Form hat den Namen L-Polamidon (Levopolamidon, Levomethadon) und ist fast doppelt so stark wirksam wie Methadon sowie vierfach stärker und länger wirksam als Morphin. MHC: Abk. für Major Histocompatibility Complex; großer Bereich eines Chromosoms, der sehr viele Gene enthält, die für die sog. Transplantationsantigene kodieren und für andere Proteine auf der Oberfläche von Zellen; beim Menschen als HLA bezeichnet, bei der Maus H2. Mikroinjektion/-manipulation: direktes Einbringen einer Samenzelle in die Eizelle unter dem Mikroskop (im Tierexperiment möglich). Beim Menschen herrschen sehr große Bedenken, da eine Auswahl ohne Beurteilungskriterien getroffen wird. Bei weiterer Entwicklung, z. B. einer Genanalyse der Keimzellen, besteht das Risiko der Menschenzüchtung. Multimorbidität: insbesondere bei chronischen Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium kommen mehrere Krankheiten bei einem Patienten zusammen, die zum Tode führen. Diese Situation hat eine Multiplizierung der Behandlungsquantität zur Folge. Mucoviszidose: Erbkrankheit; Funktionsstörung der schleimproduzierenden inneren Drüsen. Die verbreitetste letale Kinderkrankheit kommt durch ein Sekret aus Drüsen zustande, das Ausgänge verstopft und viele Gewebe funktionsunfähig macht, Atemschwierigkeiten treten ebenso auf wie eine chronische Lungenentzündung; früher starben Kinder vor dem 6. Lebensjahr; heute kommt es durch sachgerechte Behandlung zum Übergang in das frühe Erwachsenenalter; bei männlichen Patienten besteht Sterilität. Muskeldystrophie: Muskelerkrankung, die von einer Veränderung auf dem X-Chromosom ausgelöst wird und durch Muskelschwund aufgrund von Enzymdefekten zustande kommt. Der Beginn der Erkrankung zeigt sich vor dem zweiten Lebensjahr durch eine Verzögerung der motorischen Entwicklung. Bald kommt ein Watschelgang hinzu, und das Aufrichten aus dem Sitzen ist erschwert. Der Patient wird allmählich bettlägerig. Schäden der Herzmuskeln und eine muskuläre Ateminsuffizienz führen meist vor dem 20. Lebensjahr zum Tod. Mutagene: Stoffe (Chemikalien) und Strahlungen, die Mutationen auslösen. Mutagenese: Auslösung von Mutationen. Mutation: Jede Veränderung der Sequenz einer DNA. Die kleinste veränderbare Einheit ist das Nukleotid. naturalistischer Fehlschluss: Von George Edward Moore formuliertes Verbot jeden Versuchs, logisch von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Als Beispiel verweist er vor allem auf die Verwendung des Prädikates „gut“ im Sinne von „funktionstüchtig“ hin, das dann häufig zugleich als „sittlich wertvoll“ verstanden werde. Neuralrohrdefekte: Fehlbildungen, bei denen es in der Embryonalentwicklung zu einem unvollständigen Verschluss des Neuralrohrs gekommen ist; häufigste Defekte sind Spina bifida (offener Rücken) und Anenzephalie. Neuron (Nervenzelle): dem Nervensystem zugehörige Zelle, die ein Axon und einige Dendriten hat. Neurotransmitter: in den synaptischen Endungen freigesetzter Stoff, der elektrische Veränderungen im Rezeptorneuron auslöst. Northern-blot: Molekularbiologische Methode, mit der aus einem Gemisch verschiedener RNAMoleküle eine spezifische RNA identifiziert werden kann. Dazu wird eine radioaktiv markierte DNA, die zu der gesuchten RNA komplementär ist, mit dem RNA-Gemisch, das zuvor nach Größe aufgetrennt auf ein Filterpapier übertragen wurde, hybridisiert. Objektivität: Sachgemäßheit und Gegenstandsorientiertheit, Unabhängigkeit von individuellen Umständen und Zufällen sowie subjektiven Einstellungen beteiligter Personen.
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Onkogene: Klasse von Genen, deren normale Funktion in der Wachstums- und Zellteilungssteuerung der Zellen liegt. Die Gegenwart eines veränderten 0. oder ihre Über-Expression verleiht Zellen einen Tumor-Phänotyp. Sie kommen in normalen Zellen als c onc Gene (cellulär), in Retroviren als v onc Gene (viral) vor. opportunistische Infektionen: Infektionen mit Krankheitserregern, die an sich harmlos sind, wenn das körpereigene Abwehrsystem funktioniert; bei Immundefekten können diese Erreger zu tödlichen Krankheiten führen. Palliative Therapie: (lat. pallium: Mantel) medizinische Behandlung, die nicht auf eine kausale Therapie/Heilung einer bestehenden Grunderkrankung abzielt, sondern auf die Reduzierung der Folgen (Palliation), die Linderung der Symptome einer bestehenden Erkrankung; häufig bei fortschreitenden unheilbaren Erkrankungen, um deren Verlauf zu verlangsamen oder die Nebenwirkungen wie Übelkeit, Schmerz oder (reaktive) Depressionen zu reduzieren. Palliativmedizin: ist nach den Definitionen der WHO und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“. Sie geht über eine rein palliative Therapie bzw. Palliation hinaus, denn nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis, sondern die Lebensqualität, also die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung. Paternalismus: Der Arzt ist berechtigt, in väterlich-fürsorglicher Art für seine Patienten zu entscheiden, auch gegen deren Willen. Pathogenität: Fähigkeit, Krankheiten zu erregen. Pathophysiologie: Lehre von den krankhaften Lebensvorgängen und gestörten Funktionen im menschlichen Organismus; die P. beschäftigt sich vor allem mit molekularbiologischen Untersuchungen innerhalb der Zellen zur Erklärung pathologischer Abweichungen von physiologischen und biochemischen Vorgängen. Penicillin: Antibiotikum, das die Zellwand von Bakterien zerstört. Phänotyp: (Erscheinungsbild) ist in der Genetik die Menge aller Merkmale eines Organismus – sowohl morphologische als auch physiologische Eigenschaften und Verhaltensmerkmale. Der Phänotyp wird durch das Zusammenwirken von Erbanlagen und Umweltfaktoren (Modifikation) bestimmt. Die Möglichkeit auf Umwelteinflüsse zu reagieren, ist genetisch festgelegt. Phenylketonurie: Stoffwechselkrankheit; infolge eines Enzymdefektes Störung des Umbaus von Phenylalanin zu Tyrosin; führt zu geistiger Retardierung mit mehr oder minder ausgeprägtem Schwachsinn; bei frühzeitiger Diagnose ist heute Stillstand bzw. Heilung durch Anwendung einer phenylalaninarmen Kost möglich. Präskription/präskriptiv: Vorschrift, Verpflichtung, Gebot, Regel. Prävention: Verhütung der Ausbreitung einer Krankheit; vorbeugende Maßnahmen zur Verhütung oder Früherkennung von Krankheiten durch Ausschalten schädlicher Faktoren oder durch möglichst frühzeitige Behandlung einer Erkrankung. praktischer Syllogismus: ist innerhalb der philosophischen Disziplin der Handlungstheorie ein Modell menschlichen Handelns. Im Alltagskonzept bezeichnetes praktisches Schließen von Überlegungen, dessen Ergebnis die Interpretation eines Handlungsvorsatzes oder eine Handlungserklärung ist. Der Zusammenhang zwischen Prämissen und der Konklusion könnte logischer oder kausaler Art sein. Bei mentalen Zuständen müsste er kausaler, bei normativen oder modalen Aussagen logischer Art sein. Praktische Syllogismen der Ersten Person („ich soll das tun“) dienen der Selbstkontrolle, praktische Syllogismen der Dritten Person („er soll das tun!“) der Erklärung oder Rechtfertigung von Handlungen. Im praktischen Syllogismus sind ethische Urteile mit Aufforderungssätzen verbunden; sie dienen als Methode der Erschließung und Rechtfertigung von Aufforderungen sittlicher Art durch Rekurs auf ethische und deskriptive Urteile.
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Prognose: Voraussage; die aus bekannten Gesetzlichkeiten unter Angabe bestimmter Randbedingungen abgeleitete Aussage über künftige Ereignisse. Die P. ist die zeitliche Umkehrung der Erklärung, weist aber die gleiche logische Struktur auf wie diese. Promiskuität: Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern. Proteom: ist die Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen, einem Gewebe, einer Zelle oder einem Zellkompartiment, unter exakt definierten Bedingungen und zu einem bestimmten Zeitpunkt. Entsprechend des Gleichgewichts ständiger Neusynthese bei gleichzeitigem Abbau nicht mehr benötigter Proteine ist das Proteom im Gegensatz zum relativ statischen Genom ständig Änderungen in seiner Zusammensetzung unterworfen. Diese Änderungen werden über komplexe Regulationsprozesse gesteuert und werden maßgeblich durch Umweltstimuli, Krankheiten, Wirkstoffe und Medikamente beeinflusst. Psychoimmunologie: der Einfluss von psychosozialen Belastungen auf Krankheitsentstehung und -verstärkung. psychosomatisch: Körper und Seele betreffend. Reaktivierung: Wiederherstellung einer vorübergehend ruhiggestellten Funktion. Reanimation: Wiederbelebung ist die Wiederherstellung der natürlichen Atmung und der Herzaktion durch künstliche Beatmung und Herzmassage. Wiederbelebungsmaßnahmen sollen die Blutzirkulation künstlich aufrechterhalten und das Gehirn vor einem bleibenden Schaden durch Sauerstoffmangel bewahren. Reduktion: Zurückführung, Erklärung; Erklärung von Phänomenen durch Zurückführung auf andere Sätze. Rehabilitation: Gesamtheit der Beratungs-, Fürsorge- und Betreuungsmaßnahmen zur Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben. Retroviren: Viren, deren Genom aus einzelsträngiger RNA besteht. Ihre Vermehrung erfolgt über ein doppelsträngiges DNA-Zwischenprodukt. Diese DNA-Form wird von dem Virus-Enzym Reverse Transkriptase synthetisiert. Viele im Labor isolierte R. tragen Onkogene. Rezeptor: Reaktionsfähige Stellen einer Körperzelle, an denen sich wirksame Substanzen, aber auch Antigene (zum Beispiel HIV) verankern können. rezessiv: Ein Erbmerkmal (d. h. ein Gen) ist r., wenn es sich nur dann durchsetzt, wenn es in seiner Wirkung nicht durch ein dominantes verdeckt wird. Safer sex: Sexualpraktiken, die kein oder nur ein sehr geringes Risiko für eine Infektion mit HIV in sich bergen, zum Beispiel Verkehr mit Kondomen. Schutzimpfung: vorbeugende Immunisierung gegen epidemisch auftretende Infektionskrankheiten. Screening-Verfahren: Suchtest, Siebtest; speziell als epidemiologische Untersuchungsmethode zur Erfassung eines klinischen symptomlosen oder prämorbiden Krankheitsstadiums; z. B. Reihenuntersuchungen auf Lungen-Tbc. Screening: Suchdiagnostik; Untersuchung von wenig und leicht zugänglichem Material (z. B. Blut) oder mit Hilfe unschädlicher Techniken (Ultraschall) auf Abweichung vom Normalen, um auf selten vorkommende Gefahren aufmerksam zu machen. Sein-Sollens-Unterschied: Von David Hume formulierte Unterscheidung in Deskription und Präskription; Metaethik, naturalistischer Fehlschluss. Selbstorganisation: In der Theorie von Eigen die Fähigkeit spezieller Materieformen, unter gegebenen Randbedingungen selbstreproduktive Strukturen hervorzubringen. Die Entstehung des Lebens auf der Erde durch S. wird im Hyperzyklus veranschaulicht. Selektion: Auswahl. Hier: von Organismen, die einen veränderten Geno- oder Phänotyp aufweisen. S. ist das bevorzugte Überleben und die dadurch bevorzugte Vermehrung derjenigen Individuen einer Population, die durch genetisch bedingte Ursachen in einer bestimmten Umwelt bevorzugt sind. S. im molekularbiologischen Sinn bedeutet, daß nach Transfektion oder Zellfusion in einem Medium selektioniert wird, in dem nur die Zellen wachsen, die DNA aufgenommen haben bzw. die fusioniert sind.
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Sensitivität: Prozentsatz der durch einen Test als sicher identifizierten Kranken; Sensitivität = richtig Positive. Serokonversionszeit: Zeit zwischen Ansteckung und dem Auftreten von HIV-Antikörpern im Blut. Sexualität: Gesamtheit der geschlechtlichen Lebensäußerungen; (1) bisexuell: sexuelles Interesse sowohl an Männern als auch an Frauen; (2) heterosexuell: sexuelles Interesse an Personen des anderen Geschlechts; (3) homosexuell: sexuelles Interesse an Personen des eigenen Geschlechts (bei Frauen auch „lesbisch“ genannt). Spätkonvertierer, Nonresponder: Kleiner Teil der HIV-Infizierten, die im HIV-Antikörpertest negativ sind, obgleich HIV aus dem Blut isoliert werden kann. Speziesismus: Standpunkt, der die Mitglieder der Art (Spezies) homo sapiens grundsätzlich höher bewertet als alle anderen Lebewesen. Stammzellen: Blutbildende (hämatopoetische) Stammzellen im Knochenmark; Zellsystem, das sich durch Selbsterneuerung und Teilungsfähigkeit auszeichnet; aus ihnen entstehen in mehreren Schritten sämtliche Blutzellen. Sterilisation: Unfruchtbarmachen, bei der Frau durch Eileiterblockade oder operative Eileiterdurchtrennung bzw. Entfernung. Wenig Chancen auf eine „Refertilisierung“ (Wieder-Fruchtbarmachung). Auch bei der IVF wenig erfolgversprechend. Sterilität: a) Keimfreiheit; b) bei der Frau: Unfruchtbarkeit, beim Mann Zeugungsunfähigkeit. Unfruchtbarkeit, die entweder verursacht wird durch: andrologische Sterilität (durch den Mann verursachte Unfruchtbarkeit), gynäkologische Sterilität (durch die Frau verursachte Unfruchtbarkeit) oder durch sich negativ ergänzende männliche und weibliche Faktoren, z. B. immunologische Sterilität. Supervision: Beobachtung und Analyse des Verhaltens eines Therapeuten durch einen Dritten zur Aufdeckung und Korrektur von methodischen Fehlern und Behandlungsstörungen und zur Beurteilung der Kompetenz des Therapeuten. Superovulation: Eine durch Hormonbehandlung auslösbare Reifung von vielen Eizellen. Synapse: Punkt enger Verbindung zwischen zwei Neuronen, gewöhnlich zwischen dem Axon eines Neurons und den Dendriten bzw. dem Zellkörper eines anderen. Synergetik: die Lehre vom „Zusammenwirken“. Diese aus der theoretischen Physik entwickelte Forschungsrichtung setzt sich zum Ziel, verschiedene Phänomene unter dem Gesichtspunkt gemeinsamer Ordnungsprinzipien zu betrachten. Neues, interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich mit systemtheoretischen Methoden mit der Aufdeckung von Entsprechungen völlig verschiedener Wissensgebiete z. B. zwischen Physik und Chemie beschäftigt. synergistisch: Stoffe, die verstärkend wirken (z. B. verstärkt Alkohol die Wirkung der meisten Medikamente). TAR-Syndrom: (engl. Thrombocytopenia-Absent-Radius-Syndrome; synonym RadiusaplasieThrombozytopenie-Syndrom) ist ein erbliches, autosomal-rezessives Fehlbildungssyndrom mit großer Variabilität in der individuellen Ausprägung, typischerweise beidseits fehlende Speiche (Radius) bei vorhandenem Daumen und zusätzlichem Mangel an Blutblättchen (Thrombozytopenie). Testosteron: männliches Geschlechtshormon, Bildungsort: Hoden (testis). Thalassämie: Mittelmeeranämie; Gruppe von Erbkrankheiten, bei der die roten Blutkörperchen zu wenig alpha- und/oder beta-Globin produzieren. Häufig im Mittelmeerraum, im Fernen Osten, Indien und Pakistan. T-Helferzellen, T-Suppressorzellen: T-Lymphozyten mit besonderen Aufgaben bei der Abwehr von Krankheitserregern. Transfusion: Übertragung von Blut. Triploide: Lebewesen mit dreifachem Chromosomensatz, entsteht z. B. durch das Eindringen von drei Spermatozoen in eine Eizelle. Trisomie: Das Vorhandensein von drei (statt zwei) Exemplaren eines Chromosoms; führt zu Krankheiten und Fehlentwicklungen.
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Trisomie 21 (Morbus Down; Mongolismus): Syndrom beim Menschen, bei dem durch eine Genommutation (Chromosomenaberration/Polyploidie) das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorliegen (Trisomie). Die Verdreifachung des entsprechenden Erbgutes geschieht durch einen unüblichen Verteilungsprozess während der Zellteilung im Stadium der Meiose oder Mitose, die zum Entstehen von zusätzlichem Erbmaterial des 21. Chromosoms führt. Diese führt in unterschiedlichem Maße zu einer verzögerten kognitiven und körperlichen Entwicklung. Zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben wurde das Syndrom 1866 von dem englischen Neurologen und Apotheker John Langdon-Down, der es selbst als „mongoloide Idiotie“ bezeichnete. Der damit geprägte Begriff des Mongolismus (aufgrund der rundlichen Gesichtsform und mandelförmigen Augen gewisse Ähnlichkeit mit der – nach damaliger Systematik – mongoliden Rasse) gilt jedoch heute als diskriminierend und wird bereits seit den 1960er Jahren auch in Fachkreisen nicht mehr verwendet. Die genetische Ursache des Syndroms ist 1959 von dem französischen Genetiker Jérôme Lejeune erkannt worden, der entdeckte, dass jede Zelle der betroffenen Menschen 47 statt der üblichen 46 Chromosomen besaß. Dass von der Verdreifachung das 21. Chromosom betroffen ist, wurde erst später nachgewiesen. Tumorprogression: Wachstum einer Geschwulst, bei dem sich Tumorzellen mit neuen Eigenschaften durchsetzen (schnelleres Wachstum, Wirtsunabhängigkeit, Fähigkeit zur Bildung von Absiedlungen). Überstimulationssyndrom: vielfältiges Beschwerdebild nach Hormonbehandlung zur Unterstützung der Eizellreifung. Ultraschalluntersuchung (Sonographie): in der Medizin Anwendung von Ultraschall als bildgebendes Verfahren zur Untersuchung von organischem Gewebe. Die Bilder entstehen durch Dichte-Unterschiede der Gewebe oder Flüssigkeiten. Der wesentliche Vorteil gegenüber dem Röntgen liegt in der Unschädlichkeit der eingesetzten Schallwellen; auch sensible Gewebe wie bei Ungeborenen werden nicht beschädigt, die Untersuchung verläuft schmerzfrei. Sonographie ist heute ein Standardverfahren in der Schwangerschaftsvorsorge. Vorkerne: Die Zellkerne einer befruchteten Eizelle vor ihrer Verschmelzung. Westem Blot: Untersuchung zum Nachweis HIV-spezifischer Proteine; Bestätigungstest für den ELISA-Test. Zetetik: (griech. zétesis: Suche, Untersuchung) ist ein philosophischer Begriff und bedeutet eine theoretische Einstellung, für die das Suchen im Vordergrund steht. Für Immanuel Kant war die Methode des Unterrichts in „Weltweisheit“ zetetisch, also forschend, und nicht dogmatisch. In der Rechtswissenschaft wird unter Zetetik die kritische, nicht an Dogmatik gebundene Textanalyse zum Zweck der Forschung verstanden. Zystische Fibrose: neuere Bezeichnung für Mukoviszidose; autosomal-rezessiv erbliche Stoffwechselkrankheit; führt zu schweren Komplikationen im Bereich der Atemwege und des Verdauungstraktes; trotz kleinerer Erfolge in der Therapie gilt diese Krankheit immer noch als unheilbar.
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REGISTER Abortrisiko 133 Abtreibung 9, 31, 38, 49 f., 71, 73, 75 f., 92 f., 97, 110, 113, 115, 129–133, 264 Allokation 139, 157, 158 Alter(n) 170, 171, 174–186, 188, 189, 191, 192 Alterssuizid 189 Amniozentese 118, 241 Aneuploidie 125, 128, 247 Anthropotechnik 10 Approbationsordnung, ärztliche 9 Arzt-Patienten-Verhältnis 9f., 13, 14, 18, 31 f., 35–38, 53, 61, 67, 70, 130, 138, 140 f., 143, 154, 159, 189 f., 207 f. Aufklärung (Patienten/Behandlung) 35, 37, 41, 42, 52, 53, 54, 56, 69, 70, 73, 75, 102, 121, 122 Autonomie 14–17, 23 f., 31, 39–42, 47, 50, 55, 58, 63–65, 72, 74, 76, 87, 89, 94, 99, 108, 127, 141, 145 f., 153, 159, 173, 188, 193, 196, 197, 208 f., 212, 215 Behandlungsvereinbarung 210 Behinderung 49 f., 65, 69, 71 f., 74,119, 121, 128, 132 f., 179 f., 209 Betreuungsverfügung 205, 210, 211 Bilanzsuizid 189 Bioethik 13, 14, 23, 24, 41, 55–58, 93, 99, 118, 137, 173 Biokybernetik 10 Bionik 10 Chorionzottenbiopsie 118, 243 Chromosomenaberration 123, 125 Chromosomenstörungen 124, 125, 128 Compliance 170, 186 Dauerkoma 169 Designbaby (Retterbaby) 125, 126 Diagnose 11, 24, 48, 52, 56, 71–73, 76, 118–124, 126, 138, 149, 189, 204, 238 Einwilligung (Patienten/Behandlung) 35, 37 f., 41, 71, 116, 131, 146, 165 f., 170, 203–205, 207, 210–215, 222 f., 225–227
Embryo 26, 44, 71–76, 79 f., 85–87, 90–100, 104–107, 109–113, 123, 125–132, 151, 218, 227, 244 Embryonenforschung 87, 91, 98, 109, 113, 117 Embryonenschutzgesetz 73, 107, 112, 113, 114, 127, 128 Enhancement 17 f., 48, 56, 58 f., 61 f., 65, 76–83, 144–147, 150, 153, 174 Entscheiden für andere 41–60, 64, 66, 81, 147, 149 Epigenese 87 Erbkrankheiten 49, 59, 61, 70, 72, 78, 103, 107, 123, 124, 128 Erleben 10 f., 32, 47, 91, 192 Ethikberatung 24, 132 Ethikkommission 14, 19, 23, 24, 238 Eugenik 58, 59, 69, 74, 75, 76, 117, 127 Eurotransplant 169, 170, 171 Euthanasie 194, 195, 200, 213 Evidenzbasierte Medizin 143 Fehlverhalten 35, 233 Forschung 9, 11, 14, 17 f., 22–24, 33, 45, 55 f., 60 f., 66, 68, 71, 74, 77 f., 81, 84, 91–94, 98, 100, 107, 109–119, 122, 128, 142, 148, 155, 162 f., 174, 182, 200, 215–218, 221–239 Gehirn 44, 85, 91–98, 110, 113, 115, 144 f., 147–149, 151, 153, 167 f., 174 f., 181, 183, 207, 220, 242, 246, 248 Genetik 16 f., 32, 34, 55–59, 76–81, 87, 108, 122, 182, 243 f., 246, 250, 253 Gentechnologie 23, 78 Gentherapie 59, 61, 76–79, 81–83, 142, 182 Gerechtigkeit (–,Prinzip; –,Verteilung) 15, 27–29, 31, 40, 41, 43, 55, 131, 135–138, 146, 152, 154, 157, 161, 169, 171, 187, 202, 209, 220, 222 Geschlechterselektion 123 Gesundheit 11, 13,15–18, 24, 28, 36, 43,47–49, 53, 56 f., 59, 62–69, 75, 92,101, 106, 119, 121 f., 130, 132–134, 136 f., 139 f., 147, 152, 154 f., 157, 164, 173 f., 177 f., 181, 183–186, 190, 194, 212, 215, 217, 257, 259
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Register
Gesundheitsleistung 136, 141, 143 Gesundheitspflicht 13 Gesundheitsrecht 13 Gesundheitswesen 13 f., 18, 23, 32–36, 49, 53, 60, 68, 92, 116, 130, 134–145, 148, 154–157, 161, 173, 187 f., 200, 209, 256–258, 261–263 Gradualismus 85 f., 90, 93 f., 97, 100, 113, 117, 220, 246 Heilkunde 11 f., 24, 118 Heiltechnik 11 Hippokratischer Eid (–, Ethos) 9, 10, 14, 31, 32, 34–36, 130, 189, 195, 199 Hirntod 91, 94–96, 110, 167–170 Humanexperiment 14, 221–227, 237 Humangenetik 16, 32, 79, 108 Humangenetische Beratung 16, 23, 32, 49, 56, 69, 71 f., 79, 108, 121 Hygiene 180, 183 Impfung 180, 184, 223 Indikation, embryopathische 132 Individualmedizin 185 In-vitro-Fertilisation (IVF) 50, 72, 73, 75, 80, 83, 101, 103–108, 112, 114, 117, 123, 125, 126, 247 Kind, sterbendes 193 Kind als Schaden 121, 133 Klinische Praxis 11, 23–25, 33 f., 48, 68, 71, 77, 80, 92, 102, 106, 114, 122, 126, 132, 142, 147, 152, 158, 163, 169 f., 188, 193, 197, 198, 208, 212, 216, 221, 223 f., 237–239 Klonen, therapeutisches 111, 112, 113, 117 Kosten-Nutzen-Analyse 134, 135, 137, 139 Krankheit 9, 15–18, 22–26, 35 f., 42, 44, 46–48, 54–84, 101, 103, 106–108, 112–114, 117, 122–126, 128, 130–133, 135, 139–142, 144, 145 f., 148, 150–155, 159 f., 162, 164, 169, 174, 179, 181–184, 186–190, 192, 194–200, 206, 214 f., 217, 222, 224 f., 227 f., 230, 237, 239 Krankheitswert 73, 122, 146 Langzeitpflege 188 Leben, menschliches 10 f., 13,17 f., 20, 22–24, 26–29, 31 f., 39, 42, 44–53, 55–58, 60 f., 63–75, 77, 82–84, 87, 89, 90, 92–95, 98–102, 105–107, 110 f., 113, 117, 121 f., 124 f., 127, 130–135, 137, 145–147, 150, 152–157, 163–165, 169–210, 215, 220–222, 224, 227, 230
Lebendspende 163, 164, 165, 169, 199 Lebenserhaltung 16, 31 f., 63, 86, 116,120, 128, 133, 162 f., 170, 202–205, 209, 214 Lebensmittel 143–145 Lebensqualität 15 f., 24, 45, 57 f., 61, 66, 99, 134 f., 151, 153, 155, 187 f., 192, 106, 209, 213, 238 Lebensschutz 56, 83, 92, 99, 113, 117, 118, 127, 129, 132 Lebensverlängerung 22, 32, 61, 205, 206 Leib 16 f., 39, 46–52, 57 f., 61, 63–66, 69, 72, 75, 87, 89, 91 f., 94–96, 98, 110, 127, 153 f., 169, 172, 175, 220, 226, 246, 260 Leihmutterschaft 107, 151 Leistungsmedizin 198, 214 Leitlinien 41, 46, 143, 161, 187 Makroallokation 157, 158 Medizinethik 9–20, 22–25, 31, 44, 55, 61, 66, 88, 90, 113, 143, 165, 195 Medizin und Technik 10 f., 13, 21 f., 33, 50, 56 f., 59–61, 65, 68, 74 f., 78, 82–84, 100, 109, 112, 115, 118 f., 126, 135, 143, 148, 152 f., 162, 172, 179, 225, 227, 225–228, 231–234 Mikroallokation 157, 158 Molekulargenetik 55 Monogene Erbkrankheiten 124 Nanotechnologie 230, 231 Neurochip 142, 144–150 Neurowissenschaften 34, 44, 61, 66, 94, 96 f, 114, 148, 151 f., 168 f., 202, 208, 230 Nidation 95, 98, 114, 127 Patient 9–12, 14–16, 22–24, 36–38, 41–43, 46, 53 f., 57 f., 63–66, 68 f., 77–79, 102–105, 113 f., 116, 132–136, 138 f., 141, 145–149, 154, 165 f., 170, 184, 190 f., 194–215, 222–226, 229, 238 f. Patientenautonomie 10, 14–16, 22–24, 36 f., 39, 41–44, 46, 51, 54, 64– 68, 70, 79, 88, 90, 103,106f., 136–138, 141–143, 173 f., 202, 209, 212, 227–229 Patientenverfügung 37, 205f., 208–213 Patientenwille 33, 36, 37, 40, 43, 66, 67, 132, 141, 142, 190, 193, 195, 198–207, 210, 214, 229 Patientenwohl 36 f., 57, 137, 142, 212, 215, 223, 229
Register Patientenzentriert 11, 16, 45, 67 f., 71, 102, 209, 229 PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie) 190, 214, 215 Person 11 f., 14–18, 22, 25 f., 31–36, 39 f., 42, 44–47, 50, 52 f., 58, 61, 63 f., 66 f., 69, 71, 74, 79, 81, 84–91, 94–100, 103, 109, 113, 116, 134, 141 f., 146 f., 149–153, 155 f., 159, 163, 166, 168–172, 174, 179 f., 185–190, 194, 196 f., 199, 204f., 207–209, 212 f., 215–220, 222–224, 226–228, 230, 233, 236, 238 Personalisierte Medizin 60, 68, 142, 174 Prädiktive Diagnostik 48, 69–76, 137, 141 Präimplantationsdiagnostik (PID) 72–75, 104, 117 f., 123–128, 142, 256 f., 261, 263 Pränataldiagnostik (PND) 14, 41, 71–73, 75 f., 110, 118–124, 126 f., 132 f., 142, 256–259, 262–266 Pränatales Screening 122, 123 Psychiatrie 14, 34, 41, 45 f., 132, 147, 168, 199, 226, 228–230 Projektmedizin 13, 17, 56, 61, 67 f., 231 Qualitätssicherung 161 Rassenhygiene 75 Rationierung 33, 135, 137, 140, 143, 155, 157–161 Regenerative Medizin 60 f., 184, 238 Reproduktionsmedizin 76, 80, 100, 101, 122, 153 Schaden-Nutzen-Abwägung 15, 164, 186 Schadensersatzansprüche 119 Schwangerenbetreuung 133 Schwangerschaft auf Probe 120, 127, 128 Schwangerschaftsabbruch 59, 87, 113, 120, 121, 127–133 Sequenziertechniken 119 Sondenernährung 204, 205, 214 Sozialdarwinismus 75
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Standesethos, ärztliches 9–19, 22, 32, 35 f., 110, 141 f., 154, 235 Sterbebegleitung 16, 184, 186, 188, 190, 195, 198, 202, 209 Sterbehilfe 186, 191, 194, 195, 196, 200 –, aktive 195, 199, 200, 201 –, indirekte 195, 206, 207 –, passive 190, 195, 197, 202, 203 Suizid 9, 38, 184, 189, 194–199, 202, 213, 225, 228 f. –, ärztlich assistierter 189, 195, 196 Technisierung der Medizin 18 Therapie 5, 10 f., 15, 33–35, 50 f., 53 f., 56, 58–63, 66, 68, 70–72, 76–83, 101–104, 106, 110, 114 f., 117, 120, 122, 124, 135, 142, 144, 149 f., 156 f., 163, 182–188, 190 f., 193, 195, 202f., 206f., 209, 221, 228, 238 f., 246, 250 Tierversuche 162, 216 f., 220–222, 230, 237 Tod 17, 42, 50, 55, 65 f., 72, 79 f., 85, 91, 94–96, 98, 110, 116, 121, 139, 162, 166–170, 177 f., 181, 184, 186, 189–196, 198, 202–207, 213, 215, 220, 222, 226, 229 Transplantation 163–171, 199 Transplantationsgesetz 164–167, 171 Transplantationsmedizin 17, 110, 160–163, 167, 169, 171 Universalität 11 Utilitarismus 24, 26, 28–32, 43, 57, 85, 98, 209, 225 Verteilungskriterien 134, 161, 170, 171 Vorsorgevollmacht 205, 210, 211 Wachkoma 190, 202, 203, 205, 215 Wertewandel 9, 10, 67, 68 Wille, mutmaßlicher 37, 45, 203, 205, 207, 213, 215 Zwangsernährung 190
Bernhard Irrgang
Projektmedizin Neue Medizin, technologie-induzierter Wertewandel und ethische Pragmatik
Bernhard Irrgang Projektmedizin 232 Seiten mit 11 Tabellen. Kartoniert. & 978-3-515-10101-1 @ 978-3-515-10193-6
Projektmedizin umfasst verschiedene Formen der Anwendung hypermoderner Technologie in der Medizin, die in klinischen Studien und im medizinischen Alltag geprüft wurde. Ihr primäres Ziel ist nicht mehr nur die unmittelbare Behebung von Krankheiten, sondern die Realisierung von Patientenwünschen nach Selbstgestaltung, Familienplanung und Lifestyle mit Hilfe von Technoresearch. Dies hat einen technologiebedingten Wertewandel zur Folge. Die Conditio Humana emanzipiert sich von der klassischen Konzeption eines vorgegeben natürlichen Wesens des Menschen. Bernhard Irrgang erarbeitet Grundlagenwissen für ethische Diskussionen über Projektmedizin für Patienten und den medizinischen Alltag, für die Arbeit in der Schule sowie für die Vermittlung des Faches Medizinethik an medizinischen Fakultäten. Dabei handelt es sich nicht um ein Lehrbuch, sondern um eine Einführung in ethische und anthropologische Denk- und Argumentationsweisen in der Medizin, die auf einem leiborientierten Modell von Patientenautonomie beruhen. .............................................................................
Aus dem Inhalt Vorwort | Einleitung: Medizinethik zwischen Alltagsmoral und ethischer Expertise | Grenzen traditioneller Medizinethik und des Leitbilds Patientenautonomie: Vom „informed consent“ zur leiborientierten Gesundheitsgestaltung | Individualisierung, Personalisierung, Technologisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen: Ethische Modelle für Formen von Projektmedizin | Schluss: Projektmedizin, medizinische Experten, kompetente Laien und das neue Leitbild der Patientenautonomie | Literatur
www.steiner-verlag.de
Diese Medizinethik ist aus der Zusammenschau zweier unterschiedlicher Perspektiven entstanden: aus der Praxis der Medizin und aus der philosophischen Theorie der Medizinethik als angewandter praktischer Philosophie. Hintergrund für die ethische Bewertung ist eine situationsangemessene flexible Methodik auf der Basis einer leiblich-personal orientierten Anthropologie, die aktuelle biologische, medizinische, neurologisch-psychologische Kenntnisse in ein umfassendes Konzept der Patientenautonomie integriert. Die medizinische und die philosophische Sichtweise, aber auch die des Arztes und eines Patienten mit langer Krankheitserfahrung, können sich so gegenseitig befruchten.
ISBN 978-3-515-10957-4
9 783515 109574
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag