Medizin, Gesellschaft und Geschichte 36 351512084X, 9783515120845

Hatten Frauen Anfang des 19. Jahrhunderts eine Wahl bei der Art der Geburtshilfe? Marina Hilber zeigt in ihrer Studie üb

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German Pages 284 [286] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Anschriften der Verfasser
Editorial
I. Zur Sozialgeschichte der Medizin
Marina Hilber:
»[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«. Eine patientinnenorientierte
Fallstudie zum Wahlverhalten von Gebärenden
im inneralpinen Raum Tirols und Vorarlbergs um 1830
Eberhard Wolff:
Das »Quantified Self« als historischer Prozess.
Die Blutdruck-Selbstmessung seit dem frühen 20. Jahrhundert
zwischen Fremdführung und Selbstverortung
Jens Gründler:
Gesundheit im Nachkrieg. Flüchtlinge und Vertriebene
im Integrationsprozess
Elke Böthin:
Strukturen ärztlicher Fortbildung im geteilten
Deutschland 1949–1990 – eine Analyse zentralistischer
staatlicher Ausrichtung und föderaler ärztlicher
Selbstverwaltung
II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Melanie Schlott und Thilo Schlott:
Hahnemanns Patientenschaft: Die Krankengeschichte
des Fernsdorfer Amtmanns und Rittergutsbesitzers
Gottlob Friedrich Lüdicke und seiner Familie in Briefen
Jürgen Pannek:
»Die Allopathen haben mich hingerichtet; die Hydropathen
haben gar den Zapfen hinausgestoßen, und die Homöopathie
bringt mich nun gar noch um den Verstand.«
Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen
und Quellen
Daniel Walther:
Die Suche nach der richtigen Medizin – Warum wenden sich
Ärzte und Heilpraktiker der Homöopathie zu?
Luciana Costa Lima Thomaz und Silvia Waisse:
‘Heretic’ doctors: synthesis as cornerstone of French
holistic medicine in the first half of the 20th century
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte 36
 351512084X, 9783515120845

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 36

Franz Steiner Verlag Stuttgart

36

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Band 36

Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 36 (2018) herausgegeben von Robert Jütte

Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart www.steiner-verlag.de/medgg Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-undgeschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-12084-5 (Print) ISBN 978-3-515-12086-9 (E-Book)

Inhalt Anschriften der Verfasser Editorial I.

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Zur Sozialgeschichte der Medizin Marina Hilber »[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«. Eine patientinnenorientierte Fallstudie zum Wahlverhalten von Gebärenden im inneralpinen Raum Tirols und Vorarlbergs um 1830

11

Eberhard Wolff Das »Quantified Self« als historischer Prozess. Die Blutdruck-Selbstmessung seit dem frühen 20. Jahrhundert zwischen Fremdführung und Selbstverortung

43

Jens Gründler Gesundheit im Nachkrieg. Flüchtlinge und Vertriebene im Integrationsprozess

85

Elke Böthin Strukturen ärztlicher Fortbildung im geteilten Deutschland 1949–1990 – eine Analyse zentralistischer staatlicher Ausrichtung und föderaler ärztlicher Selbstverwaltung

117

II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Melanie Schlott und Thilo Schlott Hahnemanns Patientenschaft: Die Krankengeschichte des Fernsdorfer Amtmanns und Rittergutsbesitzers Gottlob Friedrich Lüdicke und seiner Familie in Briefen

153

Jürgen Pannek »Die Allopathen haben mich hingerichtet; die Hydropathen haben gar den Zapfen hinausgestoßen, und die Homöopathie bringt mich nun gar noch um den Verstand.« Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen

179

6

Inhalt

Daniel Walther Die Suche nach der richtigen Medizin – Warum wenden sich Ärzte und Heilpraktiker der Homöopathie zu?

207

Luciana Costa Lima Thomaz und Silvia Waisse ‘Heretic’ doctors: synthesis as cornerstone of French holistic medicine in the first half of the 20th century

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Anschriften der Verfasser Elke Böthin, Dr. Charité Universitätsmedizin Berlin Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin Thielallee 71 14195 Berlin [email protected] Jens Gründler, Dr. LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Karlstr. 33 48147 Münster [email protected] Marina Hilber, Dr. Universität Innsbruck Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Innrain 52 A-6020 Innsbruck [email protected] Luciana Costa Lima Thomaz, MD, PhD Pontifícia Universidade Católica de São Paulo (PUC-SP) CESIMA – Centro Simão Mathias de Estudos em História da Ciência Rua Caio Prado, 102, Salas 46–49 São Paulo – SP 01303–000 Brazil [email protected] Jürgen Pannek, Prof. Dr. Schweizer Paraplegiker-Zentrum Neuro-Urologie Guido A. Zäch Str. 1 CH-6207 Nottwil [email protected]

Melanie Schlott Hochschule Fulda Fachbereich Pflege & Gesundheit Leipziger Str. 123 36037 Fulda Thilo Schlott, Prof. Dr. Hochschule Fulda Fachbereich Pflege & Gesundheit Leipziger Str. 123 36037 Fulda [email protected] Silvia Waisse, MD, PhD Professor, Post Graduate Program in History of Science Pontifícia Universidade Católica de São Paulo (PUC-SP) Dr Brasilio Machado, 418, apt. 31 São Paulo – SP 01230–010 Brazil [email protected] Daniel Walther, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Eberhard Wolff, Prof. Dr. Universität Zürich ISEK – Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft Abt. Populäre Kulturen Affolternstr. 56 CH-8050 Zürich [email protected] [email protected]

Editorial Seit fast zwei Jahrzehnten hat das Institut für Geschichte der Medizin einen seiner zentralen Forschungsschwerpunkte auf die Patientengeschichte gelegt. Nicht wenige der am IGM bearbeiteten Projekte sind bereits in dieser Zeitschrift veröffentlicht worden. Auch im diesjährigen Band haben zwei Beiträge einen patientengeschichtlichen Fokus. In einer Zeit, in der Geburtskliniken mit Zusatz- und besonderen Betreuungsangeboten um Schwangere werben, ist es sinnvoll, auf frühere Zeiten zurückzublicken, in denen Frauen angeblich kaum eine Wahl hatten, welche Art der Geburtshilfe ihnen zuteilwurde. Dass bereits Anfang des 19.  Jahrhunderts Gebärende durchaus »wählerisch« waren und auch sein konnten, zeigt Marina Hilber in ihrer Studie über Tirol und Vorarlberg, die sich auf bislang kaum ausgewertetes Archivmaterial stützt. Der gegenwärtige Trend zum »Quantified Self« (u. a. der boomende Markt für FitnessTracker) bietet Eberhard Wolff Anlass zur Rückschau auf die Anfänge dieses Phänomens im frühen 20. Jahrhundert, als die Blutdruck-Selbstmessung durch Laien einsetzte, was aber nicht unbedingt als Fortschritt im Sinne einer »Selbstverortung« gedeutet werden, sondern auch Ausdruck einer subtilen Fremdbestimmung sein kann. Nicht weniger aktuell ist das Thema Gesundheit und Migration. Jens Gründler belegt mit autobiographischen Quellen, vor welchen gesundheitlichen Problemen und Herausforderungen die sogenannten »Heimatvertriebenen« in der unmittelbaren Nachkriegszeit standen. Elke Böthin beleuchtet einen bislang wenig beachteten Aspekt der Professionalisierungsgeschichte in beiden deutschen Staaten: den Einfluss staatlicher Strukturen auf die Ausgestaltung ärztlicher Fortbildung in der Bundesrepublik und der DDR. Die zweite Sektion dieser Zeitschrift, die traditionsgemäß Aufsätzen zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen vorbehalten ist, enthält diesmal vier Beiträge. Melanie und Thilo Schlott rekonstruieren aus der erhaltenen Korrespondenz die Krankengeschichte eines Patienten, der sich zusammen mit seiner Familie für längere Zeit bei Samuel Hahnemann in Behandlung befand. Viele Leser werden sich an die Karl-May-Lektüre in ihrer Jugend erinnern, aber vermutlich kaum den Bezug zur Homöopathie herstellen, den Jürgen Pannek literar- und medizinhistorisch unterfüttert. Wenn man die jüngsten Angriffe auf die Homöopathie in einigen sogenannten »Leitmedien« liest, fragt man sich, warum überhaupt jemand auf die Idee kommen konnte, sich als Arzt oder Heilpraktiker auf die Homöopathie zu spezialisieren. Auf diese Frage gibt eine aktuelle Befragung, die Daniel Walther ausgewertet und mit historischem Quellenmaterial verglichen hat, eine Antwort. Luciana Costa Lima Thomaz und Silvia Waisse schließlich werfen einen Blick auf gemeinsame Kennzeichen, die französische Ärzte aufweisen, die in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ganzheitliche Therapieansätze vertraten, und beziehen sich dabei ebenfalls auf Stigmatisierungsprozesse innerhalb der medizinischen Profession. Stuttgart, im Februar 2018

Robert Jütte

I.

Zur Sozialgeschichte der Medizin

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 11–41, FRANZ STEINER VERLAG

»[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«. Eine patientinnenorientierte Fallstudie zum Wahlverhalten von Gebärenden im inneralpinen Raum Tirols und Vorarlbergs um 18301 Marina Hilber Summary “[…] based on free choice and trust […]”. A patient-oriented case study on the choices of parturient women in inneralpine Tyrol and Vorarlberg around 1830 This contribution casts light on the social negotiating processes that unfolded in the first half of the nineteenth century regarding the legitimate medical care in childbed. Based on a regional case study from the rural inneralpine regions of Tyrol and Vorarlberg, decisive motives leading to the preference of a particular obstetric approach are identified and compared with the development of the medical market in the Habsburg Monarchy. The views of the patients – women who were pregnant, gave birth or were in childbed as well as their immediate supporting community  – are reconstructed in relation to their topographical and social situation in a rural surrounding. Since the choices depended strongly on the availability and reachability of obstetric care, the slow development of the obstetric market is also critically scrutinized. Aside from these external factors, the study tries, by consulting archival sources, to explore the motives that legitimized the women’s choice of obstetric support (lay-midwife, formally qualified midwife or male obstetrician). According to the sources, trust played an essential role in the formation of a positive relationship between patient and birth attendant. But economic motives and manipulation by third parties also need to be considered in this context. In addition, light is cast on the extent to which the population in question responded to the authorities’ attempts at standardizing the medical market or ignored these regulatory attempts.

1

Die vorliegende Studie wurde im Rahmen eines Postdoc-Stipendiums (2016/17) aus Mitteln des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung gefördert.

12

Marina Hilber

Einleitung Seit dem Erlass des Sanitätshauptnormativs von 1770 waren die Kompetenzen der geburtshilflichen Professionen innerhalb der Habsburgermonarchie scheinbar klar verteilt. Die aufgeklärten Sanitätsreformer unter Führung des ambitionierten kaiserlichen Leibarztes Gerard van Swieten forcierten eine Hierarchisierung des geburtshilflichen Marktes, dessen breite Basis zentral approbierte Hebammen bildeten. Sie sollten das Gros der regulären Geburtsereignisse in Stadt und Land selbständig betreuen und nur in Notfällen männliche Geburtshelfer beiziehen, welche operativ oder medikamentös in den kritischen Geburtsverlauf eingreifen konnten.2 Versuche, diese obrigkeitliche Idealvorstellung umzusetzen, erfolgten in mehreren Etappen und mit unterschiedlicher Intensität seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Zeitgleich wurde ein verstärktes Augenmerk auf die Ausbildungstätigkeit gelegt, um nicht nur die Quantität formal qualifizierter Hebammen zu erhöhen, sondern auch den Prozess der Professionalisierung voranzutreiben. In der Bevölkerung stießen diese Maßnahmen jedoch nicht immer auf Akzeptanz.3 Das in diesem Beitrag vorgestellte Beispiel der Gefürsteten Grafschaft Tirol und des Landes Vorarlberg veranschaulicht, wie stark regionale gesellschaftliche Dynamiken den medikalen Markt prägten und abseits normativer Vorgaben nach den Wünschen und Vorstellungen der Bevölkerung formten.4 Dabei zeigte sich nicht nur die lange Persistenz von Laienhebammen als Charakteristikum, sondern auch der routinemäßige Beistand männlicher Geburtshelfer. Letzterem Umstand musste schließlich auch von offizieller Seite Rechnung getragen werden, indem das Dekret der Wiener Hofkanzlei vom 15. Oktober 1841 verlautbarte, dass »[j]eder Gebärenden, welche mehr Vertrauen in den Geburtshelfer setzt, als in die Hebamme, […] es unbenommen bleiben [muss], sich an denselben zu wenden«.5 Damit wird ein Themenfeld eröffnet, das in krassem Gegensatz zum etablierten feministischen und medizinkritischen Paradigma steht, welches die Dichotomie weiblicher versus männlicher Geburtshilfe hervorhob und die Forschungen seit den 1980er Jahren maßgeblich beeinflusste.6 Dieser Forschungstradition entstammt das populäre Narrativ der unerwünschten Intrusion in die Geburtszimmer durch die männlich dominierte akademische Me2 3 4

5 6

Sanitätshauptnormativ für alle k. k. Erbländer vom 2. Jänner [Januar] 1770, zit. n. Macher (1846), S. 126–129; Horn (2008). Hilber (2015), S. 84–90. Das Konzept des medikalen Marktes umfasst die Gesamtheit medizinisch motivierter Interaktionen in der Geschichte. Ein Forschungsüberblick sowie etliche thematische Beiträge finden sich in Gafner/Ritzmann/Weikl (2012); Jütte (1991); Loetz (1993); Digby (1994); Kinzelbach (1995); Lindemann (1996); zur Entwicklung des Medizinalsystems: Wahrig/Sohn (2003); Dinges (2000). Gesetz Nr.  133: »Den Geburtshelfern steht die Ausübung ihrer Kunst frey, ohne eine Hebamme beyziehen zu müssen«, in: Provinzial-Gesetzsammlung (1844), S. 585–588. Porter (1985), S.  182. Siehe dazu aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive: Green (2008), S. 489–497.

»[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«

13

dizin, welches bis in das frühe 21. Jahrhundert vielfach unkritisch reproduziert wurde. Die machtbasierte Aneignung eines originär weiblichen Metiers, die Verdrängung und Degradierung von Hebammen oder die Verdinglichung und Herabwürdigung von (ledigen) Frauen im Zuge der Hospitalisierung der Geburt waren weitere Schlagworte einer auf die Offenlegung zugrundeliegender Misogynie innerhalb der Medizin abzielenden Forschung.7 Doch gerade die einseitige Fokussierung auf den geburtshilflichen Hierarchisierungsprozess, als dessen Verliererinnen Hebammen und Patientinnen gleichermaßen wahrgenommen wurden, limitierte das Analysespektrum auf einen geschlechtsbasierten Konflikt.8 Der britische Medizinhistoriker Adrian Wilson hielt bereits Mitte der 1980er Jahre fest, dass durch eine patientinnenorientierte Herangehensweise9 nicht nur Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen als handlungsfähige und entscheidungskräftige Akteurinnen am medikalen Markt sichtbar werden, sondern zugleich auch die pauschalierend und übergeneralisierend propagierte »weibliche Sichtweise« dekonstruierbar wird. Zu Recht wies Wilson darauf hin, dass die Wünsche, Erwartungen und Ängste von Gebärenden auf der einen und Hebammen auf der anderen Seite selten deckungsgleich waren.10 Dies wird auch an der zuvor zitierten Quellenpassage deutlich. Im Zentrum stehen dabei nicht die Anbieter und Anbieterinnen geburtshilflicher Leistungen, sondern die Rezipientinnen, jene werdenden Mütter, deren Rolle im Prozess der Ausgestaltung geburtshilflicher Marktsituationen vor allem im deutschsprachigen Raum bislang nur wenig berücksichtigt wurde.11 Thesen, wonach erst die Nachfrage nach operativer und medikamentöser Unterstützung das Vordringen männlicher Geburtshelfer in das obstetrische Feld begünstigte, konnten bislang nur für den städtischen Raum sowie eine gehobene 7

Zur unkritischen Tradierung des Ehrenreich-English-Topos, der in den 1970er Jahren die Opferrolle der Frau im Prozess der männlich dominierten Medikalisierung und gynäkologisch-geburtshilflichen Wissensaneignung konstruierte: Green (2008), S. 489–492. 8 Fischer-Homberger (1979); Frevert (1982); Huerkamp (1985); Honegger (1989); MetzBecker (1997); Seidel (1998); Hilpert (2000); Regenspurger (2005); Stadlober-Degwerth (2008); kritisch dazu: Green (2008), S. 492–498. 9 Der vorliegende Beitrag folgt Eberhard Wolffs Definition des Forschungsinteresses der Patientengeschichtsschreibung, das er als eine Auseinandersetzung mit »der Frage, wie Menschen sich zu dem verhielten, was sie in ihrer Zeit als Gesundheit, Krankheit oder Heilung ihrer selbst oder nahestehender Personen verstanden, wie sie diese wahrnahmen, wie sie zu den verschiedenen Heilpersonen standen, was für Vorstellungen sie von Krankheit bzw. Gesundheit hatten und wie sie von außen kommende diagnostische, therapeutische oder präventive Angebote einschätzten oder nutzten«, skizzierte. Wolff (1998), S. 313. 10 Wilson (1985), S. 130. Roy Porter hatte bereits in seinem programmatischen Beitrag »The Patient’s View« die Geschichte der Geburt als patientengeschichtliches Forschungsfeld definiert. Porter (1985), S. 182. 11 Dinges (2004), S. 222 f. Patientengeschichtliche Fragestellungen finden sich u. a. bei Labouvie (2001); Metz-Becker (1998); Schlumbohm (2012). Siehe auch die Analysen zu Geburt und Elternschaft im 18. Jahrhundert anhand von Selbstzeugnissen: Piller (2007), S. 108–157. Zu Schmerz- und Schamerfahrungen in einem institutionellen Umfeld siehe Hilber: Beschwerdeführung (2016).

14

Marina Hilber

Klientel bestätigt werden.12 Diese Studien betonen explizit die Handlungskompetenz von Patientinnen, die männlichen Beistand bei Geburten nicht nur akzeptierten, sondern regelrecht einforderten.13 Denn abseits sentimentaler Verklärung wurden Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett von den historischen Akteurinnen und Akteuren als mit gesundheitlichen Risiken verbundene körperliche und soziale Vorgänge wahrgenommen, welche mit spezifischen Beschwerden und Ritualen einhergingen und somit bestimmte Vorsorgen, Therapien und auch aktiven Beistand in Form einer (ausgebildeten) geburtsbegleitenden Person (Hebamme oder Geburtshelfer) nötig machten.14 Obwohl sich die Geschichte der Geburt damit unzweifelhaft zum Themenfeld der Patientengeschichte zählen lässt, suchen wir den Begriff der »Patientin« in den konsultierten Quellen vergeblich. Jürgen Schlumbohm zufolge wurde die (ledige) Gebärende erst im Zuge der Hospitalisierung der Geburt in den städtischen Gebärhäusern des ausgehenden 18.  Jahrhunderts zur Patientin. Maßgeblich dafür war der wissenschaftliche Habitus der akademischen Medizin, der nicht primär an der Versorgung, sondern an der Generierung und Vermittlung von Wissen interessiert war.15 Der medikale Markt in der rural geprägten Gesellschaft Tirols und Vorarlbergs zielte dagegen auf die Abdeckung basaler medizinischer Leistungen ab, die zu einem umfänglichen Teil die Betreuung von Geburten miteinschloss. Obwohl die Quellen durchaus von den Gebärenden, den Leidenden, den Müttern oder Gesegneten sprechen, veranschaulicht der häufig verwendete Terminus der »Partheyen« den sozialen Kontext der Inanspruchnahme geburtshilflicher Leistungen im ländlichen Umfeld des frühen 19. Jahrhunderts am deutlichsten. Die spezifische Nomenklatur verweist auf ein Geschäftsverhältnis, das von zwei Vertragspartnern über die Erbringung einer medizinischen Dienstleistung eingegangen wurde.16 Wiewohl der Begriff der »Parthey« auch eine Einzelperson – die auf Gesunderhaltung ihres eigenen Körpers und den Schutz des ungeborenen Lebens bedachte Schwangere und Gebärende – definieren könnte, liegt es nahe, die »Parthey« als eine Interessengruppe zu verstehen, die sich eingebettet in ein Familien- oder erweitertes soziales Netzwerk um das Wohlergehen der Gebärenden und des Kindes sorgte. Dieses Netzwerk bestand zweifelsohne zu einem großen Teil aus jenen Frauen, die der Gebärenden nahestanden und ihre Niederkunft unterstützend begleiteten.17 Doch auch der Ehemann oder

12 Leavitt (1986), S. 38. Digby spricht von einer Art Kettenreaktion (»self-sustaining trend«) innerhalb der Frauengemeinschaft: Digby (1994), S. 260–262, 266; Wilson (1995). 13 Green (2008), S. 489. 14 Porter (1985), S.  182; Wilson (1993). Die Verfügbarkeit unterschiedlich qualifizierter Geburtsbeistände sowie die Wahlmöglichkeiten von Patientinnen untersuchten Leavitt (1986) am US-amerikanischen Beispiel sowie Reid (2011) am Beispiel Derbyshires. 15 Schlumbohm (2012), S. 245–268. Den Begriff der Patientin verwendet auch Metz-Becker (1998) in ihrem Beitrag über die Marburger Accouchieranstalt. 16 Auch Porter beschreibt die Nachfrageseite nicht nur in den vermögenden Kreisen als »paying consumers«. Porter (1985), S. 188 f.; Tomes (2006). 17 Labouvie (2001), S. 13–16; Wilson (2016), S. 153–159.

»[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«

15

Vater als Rechtsperson und ökonomisch Verantwortlicher muss als integraler Bestandteil dieses Entscheidungsnetzwerkes gesehen werden.18 Die aktive Teilhabe gebärender Frauen und ihrer unmittelbaren Hilfsgemeinschaft war innerhalb der Habsburgermonarchie prägend für die Ausgestaltung des medikalen Marktes und wurde bereits von den Zeitgenossen als ein gewichtiger Faktor wahrgenommen. Obwohl die Wahlfreiheit schwangerer und gebärender Frauen in der Gefürsteten Grafschaft Tirol und dem Land Vorarlberg im Jahre 1841 normativ zementiert wurde, zeugt der Gesetzestext nicht nur vom aktiv gestaltbaren Handlungsspielraum einer klar definierten Gruppe, sondern auch von den bis dahin bestehenden gesellschaftlichen Ambivalenzen rund um die legitime Wahl des Geburtsbeistandes. Der vorliegende Beitrag möchte daher einerseits den Fragen nachgehen, wie und warum es zur Gesetzgebung kam bzw. welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein solches Dekret nötig machten. Anhand einer dezidiert patientinnenorientierten, quellenbasierten und mikrogeschichtlich ausgerichteten Fallstudie wird nicht nur die gängige zweidimensionale Rekonstruktion von »Professionalisierungskonflikten« zwischen Hebammen und männlichen Geburtshelfern in Frage gestellt.19 Vielmehr versucht sich die Studie der Nachfrageseite innerhalb der Bevölkerung anzunähern, jener »dritten Kraft«, die von Iris Ritzmann auch im Kontext der Kinderheilkunde erfolgreich beschrieben wurde.20 Dabei sollen die Erwartungen und handlungsleitenden Motive im Wahlverhalten von Schwangeren und Gebärenden einer qualitativen Analyse unterzogen werden. Gab es im tiefkatholischen und agrarisch geprägten Tirol und Vorarlberg tatsächlich Frauen, die einen Mann der Hebamme vorzogen? Wenn ja, welche sozialen, medizinischen oder ökonomischen Motive bestimmten ihre Wahl? Tolerierten ihre Ehemänner die vielfach postulierte Übertretung weiblicher Schamgrenzen? Wie reagierte die Geistlichkeit im »heiligen Land Tirol« auf das Eindringen von Männern in die weibliche Sphäre?21 Und gab es tatsächlich Ärzte, die sich aus freien Stücken und ohne Not mit dem oft langwierigen Geschäft der Geburtshilfe abgaben? Ein weiterer Aspekt klingt im zitierten Dekret nur am Rande an, besaß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch noch immer Relevanz: Während die Wahlfreiheit hinsichtlich approbierter Anbieterinnen und Anbieter betont wurde, darf kein Zweifel daran bestehen, dass nicht geprüfte Geburtsbeistände  – im gängigsten Fall traditionelle Hebammen – in zunehmendem Maß aus dem gesetzlich erlaubten Angebotsspektrum ausgeschlossen wurden.22 Es wird in diesem Zusam-

18 Thatcher Ulrich (1998). Über einen ähnlichen »Aktionsradius des Vaters« bei Geburten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berichtet Hoffmann (2010), S. 282–285. 19 Hilber (2009); Amann (2000); Labouvie (1999); Loytved (2002); Seidel (1998). 20 Ritzmann (2003). 21 Zur Rolle der Geistlichkeit im Kontext von Schwangerschaft und Geburt siehe Filippini (1994); Filippini (1998); Hilber: Fürsorge (2016). 22 Erste Maßnahmen, die auf ein Berufsverbot nicht approbierter Anbieterinnen und Anbieter abzielten, wurden 1773 erlassen. Nachtrag zum Sanitätshauptnormativ vom 10. April 1773, zit. n. Macher (1846), S. 145–151.

16

Marina Hilber

menhang zu klären sein, ob und wie die Gebärenden auf diese Beschränkung ihrer Wahlfreiheit im Hinblick auf gesellschaftlich etablierte Laienhebammen reagierten. Wahlmöglichkeiten Eine Kette unermeßlicher Gebirge in den verschiedensten Größen, Formen und Krümmungen, bald kahl, bald mit ewigem Eise bedeckt; mit vielen großen und kleinen, länglichten und runden Thälern, mit wenigen Flächen, unzähligen Erhabenheiten und Tiefen; durchschnitten allenthalben von Bächen und Flüssen, von Berg- und Landseen; ausgestattet mit waldigen und grasreichen Vor- und Mittelgebirgen, Felsgruppen, Hügeln und Anhöhen […] – dieß ist das Alpenland Tirol, und so schön und so wild, und in seiner Wildschönheit so erhaben, als außer der Schweiz kein anderes Land in Europa.23

Die Topographie Tirols und Vorarlbergs, die Johann Jakob Staffler 1839 mit viel Pathos beschrieb, stellte für die Ausgestaltung des medikalen Marktes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Herausforderung dar. Verfügbarkeit und Erreichbarkeit medizinischer Leistungen waren außerhalb der wenigen städtischen Zentren vielfach mit langen Anreise- bzw. Rufwegen verbunden.24 Die Passierbarkeit der Straßen und Wege in den bewohnten Gebirgs- und Tallagen wurde zudem von den jahreszeitlich variierenden klimatischen Bedingungen, insbesondere während der langen und schneereichen Winter, deutlich erschwert.25 Tab. 1: Verteilung des Sanitätspersonals in den deutschsprachigen Kreisen der Gefürsteten Grafschaft Tirols und dem Land Vorarlberg 1828–1838 Kreis

Ärzte

Wundärzte

Hebammen

Apotheker

Tierärzte

Vorarlberg

19

48

95

5

14

Oberinntal

13

47

122

3

6

Unterinntal

31

69

118

8

3

Pustertal

14

33

80

5

0

an der Etsch

29

61

82

9

4

Quelle: Staffler (1839), S. 483. Staffler gibt hier ein zehnjähriges Mittel wieder

23 Staffler (1839), S. 40 f. 24 In den 1830er Jahren zählte Staffler in Tirol und Vorarlberg insgesamt 22 Städte, wobei lediglich Innsbruck und Trient eine Bevölkerung von über 10.000 Einwohnerinnen und Einwohnern aufwiesen. Daneben benannte Staffler 29 Märkte, 1.306 Dörfer und identifizierte zusätzlich 1.331 Weiler, die er als Ansammlungen von vier bis zehn Häusern ohne Kirche definierte. Staffler (1839), S. 137 f. 25 Zirker (1998), S. 54–59.

17

»[…] aus freyer Wahl und Zutrauen […]«

Obwohl das 1770 reichsweit formulierte Ziel, zumindest für zwei bis drei benachbarte Gemeinden eine approbierte Hebamme anzustellen26, bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl erreicht war, so ließ dieses grobmaschige Betreuungsnetz jedoch einen Teil der Bevölkerung in den strukturschwachen Regionen Tirols und Vorarlbergs weiterhin un(ter)versorgt. 1835 hieß es aus dem zentralen Talort Zell im hinteren Zillertal, dass die Gebärenden der geprüften Hebamme nicht gänzlich vertrauten, daher »üben hier, was bey der gestreuten Lage der Häuser auch nicht wohl anders möglich ist, die Nachbarsweiber sehr viele Dienste«.27 Selbst in den rund um Innsbruck gelegenen Mittelgebirgsdörfern Mutters, Natters und Sellrain wurde die Geburtshilfe noch größtenteils von Empirikerinnen, sogenannten »After-Hebammen«, abgedeckt.28 In Hohenweiler, im schwäbisch-vorarlbergischen Grenzgebiet gelegen, wurde noch im Jahre 1846 dokumentiert, dass der Bevölkerung sehr daran gelegen sei, »daß sich der Wundarzt bei einer bevorstehenden Geburt nicht aus dem Ort entferne weil sie keine Hebamme haben«.29 Laut den Hauptsanitätsberichten für Tirol und Vorarlberg hielt sich die Zahl der verfügbaren Hebammen und Geburtshelfer im Untersuchungszeitraum auf einem relativ stabilen Niveau, bei leicht ansteigender Tendenz. Tab. 2: Zahl der approbierten Hebammen und Wundärzte in den deutschsprachigen Kreisen der Gefürsteten Grafschaft Tirol und dem Land Vorarlberg 1830 und 1839 1830 Kreis

Wundärzte

1839 geprüfte Hebammen

Wundärzte

geprüfte Hebammen

Vorarlberg

41

97

47

109

Oberinntal

47

117

47

121

Unterinntal

57

106

67

111

Pustertal

31

88

31

87

an der Etsch

66

82

62

83

Gesamt

242

490

254

511

Quelle: TLA, Jüngeres Gubernium, Sanitätsberichte 1831–1840, Fasz. 2458, Zl. 16209 und 17761

Der Topograph Johann Jakob Staffler kam auf der Basis einer minimal von den behördlichen Sanitätsberichten divergierenden Datenbasis für die 1830er Jahre zu einer marginal erhöhten Gesamtzahl von 497 Hebammen sowie

26 Sanitätshauptnormativ für alle k. k. Erbländer vom 2. Jänner 1770, zit. n. Macher (1846), S. 126–129. 27 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 251, Zl. 1494. 28 TLA, Kreisamt Schwaz 1833, Sanität Fasz. 218, Zl. 660; TLA, Kreisamt Schwaz 1834, Sanität Fasz. 233, Zl. 844. 29 VLA, Landgericht Bregenz 1846, Sanität Schachtel 173, Zl. 512.

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Marina Hilber

258  Wundärzten.30 Auf der Basis seiner Daten lässt sich ein Annäherungswert errechnen, welcher je nach Region einen Bezug zwischen Bevölkerung und Hebammenzahl herstellt. Dabei entfiel in Vorarlberg eine Hebamme auf 1.037  Einwohnerinnen und Einwohner, das Tiroler Unterinntal zeigte mit 1.093  Einwohnerinnen und Einwohnern je Hebamme ähnliche Werte. Das Oberinntal war hingegen mit einer Hebamme pro 762 Einwohnerinnen und Einwohnern begünstigt, während die Südtiroler Kreise Pustertal und an der Etsch mit jeweils einer Hebamme auf über 1.200 Einwohnerinnen und Einwohner die schlechtesten Verhältnisse aufwiesen.31 Berechnet man die Betreuungsdichte auf Basis der vorkommenden Geburten, so ergeben sich hinsichtlich der Hebammen folgende Werte: Erneut scheint das Tiroler Oberinntal als begünstigte Region auf, in welcher eine Hebamme rund 21 Geburten pro Jahr zu betreuen hatte. Für das Unterinntal waren es 28 Geburten, im Pustertal wurde eine Hebamme statistisch gesehen zu rund 31, in Vorarlberg zu 33 und im Kreis an der Etsch zu rund 35 Geburten jährlich gerufen.32 Sämtliche Berechnungsvarianten müssen jedoch mit Vorsicht gelesen und als Annäherungswerte verstanden werden, stellen somit kein exaktes Abbild der geburtshilflichen Verhältnisse im Land dar. Deutlich wird, dass die untersuchten Regionen unterschiedlich gut versorgt waren, wobei rein statistisch nicht von einer Unterversorgung ausgegangen werden kann. Im Monarchievergleich, der für das Jahr 1848 möglich ist, wies nur Oberösterreich höhere Zahlen hinsichtlich des Verhältnisses der Hebammen zur Bevölkerung bzw. zur Gesamtzahl der Geburten auf.33 Das offensichtliche Auseinanderklaffen zwischen den statistisch erhobenen Daten und der historischen Realität wird nicht nur an der Tatsache deutlich, dass die Statistik lediglich einen Teil der in den 1830er Jahren praktizierenden Geburtshelferinnen miteinbezog, nämlich jene Hebammen, die über eine formale Approbation verfügten, sondern auch an den zuvor präsentierten Wahrnehmungen der Bevölkerung bzw. der lokalen Sanitätsbeamten. Der gefühlte Mangel an adäquat ausgebildeten, gesellschaftlich akzeptierten und in Rufbereitschaft befindlichen Geburtsbeiständen wurde durch die geographische Abgeschiedenheit vieler Talschaften und die gestreute Lage ihrer Siedlungen noch zusätzlich verstärkt und führte in etlichen Fällen zur Kompensation durch Laienhebammen und männliche Geburtshelfer. Noch 1884 attestierte der Ministerialbeamte Dr. Josef Daimer 30 Staffler (1839), S. 483. 31 Als Grundlage für die Bevölkerungszahlen diente Staffler die Zählung des Jahres 1837. Staffler (1839), S. 132. Knapp 50 Jahre später dokumentierte der Bericht des Landessanitätsrates eine Verbesserung der Hebammendichte. 1884 wurden im regionalen Mittelwert je eine Hebamme auf 889 Einwohnerinnen und Einwohner in Tirol sowie auf 985 Einwohnerinnen und Einwohner in Vorarlberg gezählt. Wiederum waren die Verhältnisse in Nordtirol günstiger als im heutigen Süd- und Osttirol. Daimer (1886), S. 249 f. 32 Bei der Berechnung der Trauungen, Geburten und Sterbefälle verwendete Staffler ein fünfjähriges Mittel. Staffler (1839), S. 137 f. 33 Auf 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner kamen 10,43 Hebammen; die Berechnung auf 10.000 Geburten ergab einen Wert von 341,86 Hebammen für Tirol und Vorarlberg. Bolognese-Leuchtenmüller (1978), S. 276 f.

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Tirol und Vorarlberg eine ungleich verteilte Versorgung, indem rein statistisch zwar jede Gemeinde über eine Hebamme verfügte; »[i]n Wirklichkeit ist das Verhältniss aber nicht so günstig, da in den Städten und grösseren Orten sich eine grössere Zahl von Hebammen befindet, auf dem Lande aber viele Gemeinden keine Hebamme haben, sondern eine solche von mehreren Gemeinden bestellt wird.«34 Während den Dienst im ausgehenden 19. Jahrhundert vorwiegend approbierte Hebammen verrichteten35, bestand ein halbes Jahrhundert zuvor alles andere als Einigkeit über die legitime Form der Geburtshilfe. Dementsprechend sind auch die Argumente des Landrichters von Nauders im Tiroler Oberinntal zu werten, der 1836 anstelle einer zusätzlichen Hebamme einen Wundarzt als Geburtshelfer bevorzugte. Aufgrund der ausgedehnten geographischen Lage der Gemeinde Nauders mit ihren vielen abgelegenen Weilern und Einzelhöfen war besonders »zur Winterszeit […] das Fortkommen sehr beschwerlich«, weshalb man von der Anstellung einer Person »von schwachem Körperbau« absehen wollte.36 So manche Gemeinde scheute auch die finanziellen Auslagen, die im Fall der Entsendung einer Schülerin an den Hebammenkurs in Innsbruck zu entrichten waren. Die benachbarten Gemeinden Schönberg und Mieders im vorderen Stubaital wehrten sich über Jahre hinweg vehement gegen die Bestellung einer Hebammenkandidatin. Der etablierte Geburtshelfer Michael Breit »sei gut genug«37, hieß es von Seiten der Gemeindevorstände. Tatsächlich betreute Breit zwischen 1830 und 1835 die Mehrzahl der vorkommenden Geburten in Mieders, doch gab es in eben jener Gemeinde auch etliche Fälle, bei denen Frauen ohne jeglichen Beistand bzw. lediglich mit Unterstützung einer Nachbarin oder Familienangehörigen entbinden mussten.38 Erst nach massiver Intervention der Kreisbehörden konnte unter Androhung einer Geldstrafe eine ernstzunehmende Hebammenkandidatin ermittelt werden, die schließlich auch für mehrere Jahre eine Alternative zum Wundarzt darstellte. Bereits 1837, ein Jahr nach ihrer Approbation, betreute die ledige Katharina Nagiller 86 Prozent der vorkommenden Geburten in Mieders. Doch ihre Popularität hielt nur wenige Jahre an; bereits 1840 teilten sich Hebamme und Wundarzt das geburtshilfliche Segment in der Region zu gleichen Teilen. Nach ihrem frühen Tod im Jahre 1847 wandten sich die Gebärenden schließlich wieder beinahe ausschließlich an den Wundarzt, der bis in die 1850er Jahre hinein als nachgefragter Geburtshelfer dokumentiert ist.39 Der geburtshilfliche Markt präsentierte sich in den 1830er Jahren somit als ein heterogenes Konstrukt, das unterschiedlich qualifizierte Anbieterinnen 34 Daimer (1886), S. 249. Dies traf nicht nur auf die Geburtshilfe, sondern generell auf die medizinische Infrastruktur zu. Siehe dazu etwa das Beispiel des Südtiroler Landarztes Franz von Ottenthal: Dietrich-Daum/Hilber/Wolff (2016), S. 273–281; zur geburtshilflichen Praxis und Kooperation mit den lokalen Hebammen: Hilber: Landarzt (2012). 35 Daimer (1886), S. 250. 36 TLA, Kreisamt Imst 1836, Sanität Fasz. 262, Zl. 27. 37 TLA, Kreisamt Schwaz 1834, Sanität Fasz. 233, Zl. 1573. 38 TLA, Pfarre Mieders, Taufbuch 1759–1832, MF 0640-1; Taufbuch 1833–1913, MF 0640-2. 39 TLA, Pfarre Mieders, Taufbuch 1833–1913, MF 0640-2.

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und Anbieter miteinschloss und breiten Spielraum für die stark divergierenden Sichtweisen auf Legitimität und Qualität der verschiedenen Akteurinnen und Akteure zuließ. Die Ursachen dieser Situation sind jedoch nicht nur in den topographischen Herausforderungen des inneralpinen Raumes zu sehen, sondern im regionalspezifischen Prozess der Medikalisierung und Professionalisierung der Geburt. Die zentral erarbeiteten Richtlinien hinsichtlich adäquater Versorgung und verpflichtender formaler Approbation der Hebammen hatten sich in Tirol und Vorarlberg als schwer durchsetzbar erwiesen. Während geburtshilfliche Vorlesungen an der Universität bzw. dem Lyzeum inklusive Übungen am Phantom für Wundärzte seit 1754 möglich, seit 1770 verpflichtend waren, wurde die zentrale Ausbildungspflicht für Hebammen im Laufe der Zeit derart aufgeweicht, dass nurmehr jene Frauen, die sich in einem der städtischen Zentren oder einer Marktgemeinde niederlassen wollten, den Kurs in Innsbruck absolvierten. Im Jahr 1790 wurde ein weiterer Grundstein für die später diffuse geburtshilfliche Situation im Land gelegt, denn hatte zuvor lediglich ein einzelner Mediziner, in der Person des Professors für Geburtshilfe in der Landeshauptstadt Innsbruck, als obstetrischer Experte im Land gegolten, so erhob das Dekret vom 14. Januar 1790 sämtliche Wundärzte und jenen Teil der akademischen Ärzte, der über einen Magister der Geburtshilfe verfügte, zu legitimen Hebammenlehrern. Berichte über dezentralisierte Unterweisungen bei lokalen Wundärzten waren fortan häufig und bestimmten beispielsweise in Vorarlberg über Jahre hinweg die geburtshilfliche Ausbildung von Hebammen.40 So wird etwa der Rankweiler Wundarzt Karl Anton Barbisch als prominenter Hebammenlehrer genannt, der allein im Jahre 1808 elf Schülerinnen ausbildete. Doch auch andere wie der Wundarzt Brändle aus Götzis, Tagwerker aus Schruns, Mayer aus Hard, Gmeiner aus Wolfurt41 oder Wundarzt Christian Hummel aus Nenzing sind als Hebammenlehrer dokumentiert.42 Diese soziale Praxis dürfte indirekt dazu beigetragen haben, jenes obrigkeitlich induzierte hierarchische Denken in der Bevölkerung zu fördern, das dem männlichen Geburtshelfer größere Kompetenz zuschrieb und ihn um 1800 zum nachgefragten Experten avancieren ließ. Erste Belege für die Präsenz männlicher Geburtshelfer finden sich zunächst in den Städten, wo sich vor allem akademische Ärzte im geburtshilflichen Fach profilierten. So gelang es Dr. Anton Mazegger, sich in der Salinenstadt Hall vor allem bei zahlungskräftigen Kundinnen zu etablieren. Dagegen regte sich bald Widerstand im gut organisierten städtischen Hebammenwesen, worauf der Stadtrat dem Arzt schließlich im Jahr 1807 die geburtshilfliche Praxis untersagte.43 Mit einer ähnlichen Konstellation sahen sich auch die Stadtväter von Brixen konfrontiert. Auch hier petitionierten die Hebammen gegen den Stadtphysikus Dr. Philipp Wassermann und forderten 1806 ein Verbot seiner geburtshilflichen Praxis. Dabei fühlten sich nicht nur die Hebammen von der 40 41 42 43

Hilber (2015), S. 88–90. Amann (2000), S. 51. Gstach (2001), S. 84 f. Anton Mazegger war von 1797 bis 1828 Stadtarzt von Hall. Moser (1996), S. 293.

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Tatsache bedroht, dass ihm eine ungeprüfte Hebamme assistierte, sondern auch Stadtchirurg Josef Rungger führte Beschwerde aufgrund der Verdrängung aus dem Entbindungsgeschäft.44 Erst mit der Einrichtung eines zentralisierten, theoretischen und praktischen Ausbildungskurses an der nunmehrigen »Bildungsanstalt für Landwundärzte und Hebammen« (medizinisch-chirurgisches Lyzeum) in der Landeshauptstadt Innsbruck im Jahre 1816/18 wurde schließlich eine nachhaltige Maßnahme zur Förderung der geburtshilflichen Situation im Land gesetzt. Die erfolgreiche Absolvierung des von sechs Wochen auf sechs Monate erweiterten Kurses war fortan ohne Ausnahme für alle zukünftigen Hebammen verpflichtend. Dass diese Maßnahme nicht unmittelbar Früchte trug, beweist die 1822 erlassene Anordnung, weitere Schritte einzuleiten, um »das in Tyrol so sehr in Verhalt gerathene Hebammenwesen wieder empor zu bringen«.45 Dabei wurde einmal mehr eine Situation beschrieben, die nicht nur gekennzeichnet war vom Widerwillen potentieller Kandidatinnen, sich nach Innsbruck zur Ausbildung zu begeben bzw. das beschwerliche Amt der Hebamme zu übernehmen, das bis 1822 nicht einmal an einen Mindestverdienst gebunden war, sondern auch von der Skepsis der Schwangeren und Gebärenden, sich einer neu approbierten, formal geschulten Hebamme anzuvertrauen. Die sanitätspolitischen Entscheidungsträger setzten einmal mehr auf den Einfluss und die Kollaboration der Ortsgeistlichen, die dazu angehalten wurden, »die Würde, und Richtigkeit des Standes der Hebammen sowohl öffentlich, als in Privatunterredungen auseinanderzusetzen, um den Hebammen mehr Achtung zu verschaffen«.46 Das obrigkeitliche Denken orientierte sich nach wie vor an der 1770 festgelegten Sanitätshierarchie. Die routinemäßige Betreuung durch männliche Geburtshelfer stellte in diesem Denkkollektiv, das die Position der Hebammen zu stärken versuchte, keine Option dar. Zumindest in Vorarlberg traf das Dekret von 1822 allerdings auf Verhältnisse, die sich konträr zum normativ festgelegten Idealzustand entwickelt hatten. Aus diesem Grund trat mit Ende des Jahres 1822 ein kreisamtlicher Erlass in Kraft, der darauf abzielte, die scheinbar bestehende Wahlfreiheit der Gebärenden zu beschränken. Die soziale Praxis sollte über ein an die Geburtshelfer gerichtetes Verbot der exklusiven Beistandsleistung ohne Hinzuziehung einer Hebamme reguliert werden. War eine geprüfte Hebamme im Ort installiert, so durfte der Wundarzt weder bei einfachen noch bei schwierigen Geburten alleine agieren.47 Die obrigkeitliche Präferenz weiblichen Beistandes wird auch aus der Tatsache ersichtlich, dass traditionelle Laienhebammen geduldet wurden, solange keine approbierte Hebamme im Ort verfügbar war. Innerhalb von nur zwei Jahren wollte man diese tolerierten Laien jedoch flächendeckend durch zentral approbierte Heb44 45 46 47

Ritsch-Egger (1990), S. 452 f. TLA, Jüngeres Gubernium 1822, Sanität Fasz. 2440, Zl. 18631. TLA, Jüngeres Gubernium 1822, Sanität Fasz. 2440, Zl. 18631. Dekret vom 26. Dezember 1822, Zl. 5863/332, zit. n. VLA, Kreisamt I 1838, Sanität Schachtel 422, Zl. 651.

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ammen ersetzen.48 Doch die schwierige Professionalisierung der Geburtshilfe in Tirol und Vorarlberg setzte sich fort, indem auch dieses ambitionierte Etappenziel nicht erreicht werden konnte. Ganz im Gegenteil erging 1825 ein Erlass, der wiederum als eine Anpassung an die subtile Weigerungshaltung der Bevölkerung zu werten ist. Da sich in vielen Gemeinden keine Kandidatinnen fanden, die geeignet und gewillt waren, das Amt zu übernehmen, bzw. die Gemeindeobrigkeiten sich aus Kostengründen scheuten, versierte Dorfbewohnerinnen zum Kurs zu entsenden, wurde per Gubernialdekret die weitere Duldung all jener praktizierenden Hebammen verfügt, welche lediglich eine Ausbildung bei einem lokalen Wundarzt genossen hatten. Entscheidend für ihre offizielle Legitimation war das Feedback der Schwangeren und Gebärenden, denn nur jene Hebammen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten in der Frauengemeinschaft respektiert waren, durften ihren Beruf auch weiterhin ausüben.49 Teilweise versahen jene Frauen bis weit über den Untersuchungszeitraum hinaus ihren Dienst. Die in den Taufbüchern als »geprüfte obstetrix« eingetragene Anna Salchner zählte wohl zu diesen geachteten Hebammen, denn obwohl sie nicht zentral in Innsbruck approbiert worden war, genoss sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1844 das uneingeschränkte Vertrauen der dörflichen Gemeinschaft in Trins im Gschnitztal, einem Dorf inmitten der Stubaier Alpen. Im untersuchten Zeitraum von 1830 bis 1839 betreute Anna Salchner mit wenigen Ausnahmen die Mehrzahl der rund 100 Geburten. Die Beiziehung eines Wundarztes, der im rund eine Stunde entfernt gelegenen Markt Steinach situiert war, ist nicht dokumentiert. Das Beispiel mag stellvertretend für all jene mehr oder weniger friktionsarmen geburtshilflichen Beziehungen stehen, in denen die einzelnen Akteurinnen und Akteure einander in medizinischem, sozialem und ökonomischem Einvernehmen gegenüberstanden. Derartige Beziehungsgeflechte, wie sie wohl in der Mehrheit der Tiroler und Vorarlberger Gemeinden vorzufinden sind, hinterließen meist nur marginale Spuren, ganz im Gegensatz zu jenen Fällen, in denen sich Personen um ihr Recht betrogen sahen, zu Schaden gekommen waren oder dem Gesetz zuwiderhandelten. Gestärkt durch das sanitätspolitisch propagierte Ideal einer breiten Basis von zentral approbierten Hebammen sahen sich Sanitätsbeamte und Hebammen in Recht und Pflicht gesetzt, vermeintliche Gesetzwidrigkeiten im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme männlicher Geburtshilfe oder weiblicher »Kurpfuscherinnen« anzuzeigen und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen zu lassen.50 Parallel zur zahlenmäßigen Zunahme approbierter Hebammen und der Verdichtung der sanitätspolitischen Kontrollorgane im Vormärz stiegen auch die aktenkundig gewordenen Fälle der geburtshilflichen Entwicklungen abseits normativer Vorgaben. Obwohl aufgrund der Häufung aussagekräftiger Quellen in den 1830er Jahren von einem spezifischen Problem dieses Dezenniums ausgegangen werden könnte, so müssen die Ursachen der 48 TLA, Jüngeres Gubernium 1822, Sanität Fasz. 2440, Zl. 18631. 49 Hofkanzleidekret vom 14. Juli 1825, Zl. 20748, zit. n. Laschan (1847), S. 64 f. 50 Ähnliche Konstellationen wurden bereits für Braunschweig und Preußen beschrieben: Lindemann (1994), S. 183–187; Tuchman (2005), S. 31–36.

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Konflikte – wie bereits beschrieben – zeitlich früher gesucht werden. Einige der in den 1830er Jahren angeklagten Wundärzte und Laienhebammen hatten bereits seit Jahrzehnten, teils seit der Jahrhundertwende ihren Dienst an den Gebärenden erfüllt. In Jenesien nahe Bozen lag die Geburtshilfe zunächst ebenfalls in männlichen Händen, dabei betreute Wundarzt Benedikt Licklederer rund zehn Jahre lang routinemäßig die Entbindungen im Dorf, bis 1817 bzw. 1818 die ersten approbierten Hebammen, darunter seine Ehefrau, ihren Dienst aufnahmen. Das Vertrauen in männlichen Beistand hing jedoch nicht allein an der Person Licklederers, denn auch sein Amtsnachfolger Johann Neurauter wurde für einige Jahre als Geburtshelfer beansprucht. Eine Trendumkehr setzte erst 1827 ein und ließ die Geburtshilfe zur »weiblichen Domäne« werden.51 Auf die Übernahme der geburtshilflichen Kompetenzen durch eine Hebamme drängte auch der im Vorarlberger Nenzing praktizierende Landarzt Christian Hummel. So hatte er zwar selbst im Jahre 1816 eine Hebamme für den Ort ausgebildet, diese schien jedoch nicht die erste Wahl der Frauen zu sein. Die Gebärenden ließen bei Einsetzen der Wehen beinahe ausschließlich den in München geprüften Landarzt rufen. 1819 schrieb Hummel, er habe nebst anderen Arzt- und Wundärztlichen Verrichtungen das Geburtsgeschäft jeder Art unverdroßen bey Tag und Nacht schon während meiner Aufnahme, einzig aber zwey Jahre dahier besorgt […] Und da nun dieses Geschäft so überlegen schwer, die Bezahlung aber besonders für die ArmenKlasse so geringfügig ist52,

forderte er nicht nur eine höhere finanzielle Abgeltung seiner Dienste durch die Gemeinde, sondern gleichzeitig auch die Anstellung einer besoldeten Hebamme. Seine abwehrende Haltung tat seiner Beliebtheit indes keinen Abbruch, und so besorgte er bis 1830 den Hauptteil der geburtshilflichen Verrichtungen im Ort.53 Später dürfte sich eine enge Kooperation zwischen dem Wundarzt und der Hebamme entwickelt haben, denn Hummel hob im Jahre 1839 hervor, dass der Erfolg bei operativen Eingriffen in seiner Praxis »der löblichen Gewohnheit zu verdanken sey, daß der Geburtshelfer frühzeitig genug und fast immer mit der Hebamme zur Gebärenden gerufen wird«.54 Welche Motive nun aber für die Wahl eines Geburtsbeistandes entscheidend waren, welche Argumente offen artikuliert und auch verschriftlicht wurden oder nur indirekt aus den Quellen erschlossen werden können, soll im folgenden Abschnitt anhand behördlichen Quellenmaterials, das in erster Linie den administrativen Instanzen der Kreisämter entstammt, eruiert werden.

51 52 53 54

Kustatscher (2012), S. 280 f. VLA, Gemeindearchiv Nenzing, Schachtel 9, Zl. 88, zit. n. Gstach (2001), S. 84. VLA, Pfarre Nenzing, Taufbuch 1807–1853, Nr. 379-2. VLA, Gemeindearchiv Nenzing, Schachtel 9, ohne Zahl, zit. n. Gstach (2001), S. 83 f.

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Vertrauen Die Nachfrage nach medizinisch-geburtshilflichen Angeboten hing nicht nur von der Verfügbarkeit und Erreichbarkeit unterschiedlicher Anbieterinnen und Anbieter am lokalen medizinischen Markt ab, sondern begründete sich wesentlich im Vertrauen, das die Gebärenden in die Fähigkeiten des Geburtsbeistandes setzten. So genoss etwa der Wundarzt von Eppan, Franz Schöpfer, »ungetheiltes Zutrauen in der Geburtshülfe«55, denn eine eigene Hebamme gab es in dem Südtiroler Ort nicht. Auch Wundarzt Widmann in Matrei wurde »freyl[ich] 31 Jahre zu Gebährenden gerufen, aber nicht minder aus Noth /:denn die Hebammen sind hier seit langer Zeit verachtet:/ als auch aus freyer Wahl und Zutrauen, das er sich in Folge der Zeit nothwendig erwerben musste«.56 Laut dem Gemeindevorsteher der Talschaft Wildschönau genoss die geprüfte Hebamme »Zutrauen und Achtung«57, weshalb sich die Gemeinde weigerte, eine zweite Hebamme für das weitläufige Hochtal in den Kitzbüheler Alpen anzustellen. Der Patientinnenwille wurde als budgetschonendes Argument gegen eine neue Hebamme vorgetragen. Erfolg hatte man damit jedoch nicht, denn obwohl man den Professionalisierungsprozess 1834 mit der Auswahl einer zu alten Kandidatin noch verzögern konnte58, wurde 1837 schließlich eine aus formaler Sicht taugliche Kandidatin in Innsbruck approbiert59. Dass das geburtshilfliche Spektrum im Tal jedoch über das approbierte Angebot hinausreichte, beweist ein Protokoll aus dem Jahre 1838. Drei Bauern aus der Wildschönauer Fraktion Niederau waren in der Kreisamtskanzlei in Schwaz erschienen und erklärten, dass sie zu den Geburten ihrer Ehefrauen nicht die geprüfte Hebamme gerufen hätten. Diese sei aufgrund ihrer »Plauderhaftigkeit« nicht sonderlich beliebt, und man habe der Schmiedin Prem den Vorzug gegeben. Sie hätten die Laienhebamme »zu voller Zufriedenheit« gebraucht und gaben an, dass sie nicht wussten, dass dies verboten sei. Die Männer betonten in ihrer gerichtlichen Vorsprache, dass sie nicht verstünden, warum sie eine Hebamme rufen sollten, »zu der ihre Weiber kein Zutrauen haben«.60 Die Persistenz nicht approbierter Geburtshilfe sowie das Vertrauen in dieselbe wird auch an einem weiteren Beispiel deutlich: Gertraud Gruber, welche ihre Fähigkeiten in jahrelanger praktischer Tätigkeit als Gehilfin ihrer Mutter und Schwester, zweier geprüfter Hebammen, erworben hatte, ersetzte in vielen Fällen die geprüfte Hebamme in Sellrain, welche »weder durch ihr Betragen, noch durch ihre Dienstleistung ein Zutrauen zu erwerben im Stande« war.61 Trotz mehrmaliger schriftlicher Verwarnung und strikten Verbots zur Ausübung der Geburtshilfe von Seiten der Sanitätsbe55 56 57 58 59 60

ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957. TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672. TLA, Kreisamt Schwaz 1832, Sanität Fasz. 205, Zl. 1814. TLA, Kreisamt Schwaz 1834, Sanität Fasz. 234, Zl. 654. UAI, Prüfungsprotokolle Hebammen 1817–1838. TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 298, Zl. 8832. Zum Aspekt des Vertrauenserwerbs siehe Reid (2011), S. 395. 61 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 252, Zl. 6134.

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hörden62  wurden ihre Dienste von den Sellrainer Frauen nachgefragt. Aufgrund ihrer familiären Prägung »haben halt die Leute gegenwärtig zu mir Zutrauen  […] so bitten mich die anderen Leute und geben nicht nach, bis ich nicht gehe«63, gab Gruber vor Gericht an. Die Vehemenz der Nachfrage nach dieser innerdörflich akzeptierten Empirikerin wird an der Schilderung Grubers deutlich, dass »die Leute mich dazu völlig zwingen, indem sie solange bitten und weinen bis man gehen muß«.64 Der Gemeindevorsteher sowie der lokale Wundarzt unterstützten ihre Praxis, und auch das Landgericht Sonnenburg schenkte ihren Angaben Glauben, da »wiederholt schon Gemeindemänner an das Landgericht abgeordnet wurden, die im Namen ihrer Weiber bathen der Gertraud Gruber doch zu erlauben, als Hebamme sich gebrauchen zu lassen, da sie wegen den erhaltenen Verboth durchaus nicht mehr gehen wolle«.65 Obwohl der Einfluss der dörflichen Gemeinschaft anhand der Bezeugungen des Vertrauens in die jeweiligen obstetrischen Fähigkeiten im bisher Gezeigten deutlich wurde, verstärkt sich diese Sichtweise bei der Betrachtung gegenteiliger Fälle. Die mangelnde Zuversicht, solide Unterstützung zu erfahren, ließ Frauen und Männer ebenfalls aktiv werden und gipfelte teils im verbal vorgebrachten und schriftlich dokumentierten Vertrauensentzug. Die offene Kritik der Gebärenden an den Fähigkeiten der Hebamme von Kurtatsch führte dazu, dass sich diese »gebessert« habe und »wenigstens sanfter« geworden sei.66 Hatten die werdenden Mütter jedoch die Hoffnung auf Besserung verloren, blieb ihnen oftmals nur die Meidung und die Suche nach Alternativen. Wundarzt Widmann in Matrei führte an, dass die Frauen des Marktes der alten Hebamme mehrere Todesfälle anlasteten und sie deshalb vor Jahren das Vertrauen verloren hätten.67 Die Vorarlberger Geburtshelfer Fleisch aus Sulz, Barbisch aus Rankweil und Mayer aus Weiler rechtfertigten sich, Gebärenden nur alleine beigestanden zu haben, »wo die Mütter selbst durchaus nicht wollen«68, dass eine Hebamme beigezogen werde. 1834 erklärte Wundarzt Ignaz Barbisch aus St. Gallenkirch dem Landrichter, dass »fast alle Partheyen […] diese Hebamme allein bestimmt nicht bestellen wollen«.69 Dabei handelte es sich um die ledige Maria Kessler, die sich seit ihrem vor fünf Jahren erfolgreich abgelegten Examen70 nicht nachhaltig etablieren konnte. Dies war keineswegs ein Einzelschicksal, denn die fehlende Durchsetzungskraft neu approbierter Hebammen begegnet uns im Untersuchungszeitraum wiederholt. Auch aus Söll im Landgericht Kufstein wurde 1837 berichtet, dass 62 Hofkanzleidekret vom 2. Juli 1825, Zl. 20248, Gubernial-Kundmachung vom 22. Juli 1825, Zl. 14441, zit. n. Laschan (1847), S. 104. 63 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 252, Zl. 6134. 64 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 252, Zl. 6134. 65 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 252, Zl. 6134. 66 ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957. 67 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 3097. 68 VLA, Kreisamt I 1838, Sanität Schachtel 422, Zl. 651. 69 VLA, Kreisamt I 1834, Sanität Schachtel 418, Zl. 3572. Hervorhebung im Original. 70 UAI, Prüfungsprotokolle Hebammen 1817–1838.

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die neue Hebamme nur selten zu Geburten gerufen wurde. Die Stelle war anderthalb Jahre lang vakant, und man fand nur mit Mühe und Not eine Frau, die sich bereit erklärte, den Dienst zu übernehmen. »Bey der Zurückkunft der neuen Hebamme von Innsbruck wollte unter den Weibern keine die erste seyn, sich der neuen Hebamme anzuvertrauen, weil nemlich ihre Geschicklichkeit nicht bekannt war.«71 Die Söller Frauen riefen vielmehr die Hebammen ihrer Nachbargemeinden Itter und Ellmau, deren »Zutrauen« in der Zeit der Unterversorgung gestiegen war.72 Diese Fälle mögen überraschen, denn die Vertrauensfrage wurde üblicherweise schon bei der Bestellung einer Hebamme gestellt. Die Beispiele zeigen deutlich, dass der Dienst an den Gebärenden im Allgemeinen keine hohe Attraktivität73 besaß und es in Tirol und Vorarlberg schwer war, Kandidatinnen zu finden, die einerseits bereit waren, den Dienst mit all seinen Nachteilen anzutreten, und andererseits den Ansprüchen der Frauengemeinschaft sowie der Obrigkeiten gleichermaßen genügten74. Dass deren Vorstellungen und Wünsche nicht immer kongruent waren, mögen folgende Beispiele verdeutlichen. So lehnte das Landgericht die Wahl des Stadtmagistrats Kufstein ab, da die betreffende Frau die »allgemeine Stimmung nicht für sich« hatte.75 Eine von der Gemeinde Mieders im vorderen Stubaital zum Kurs entsandte Hebammenschülerin warf noch vor der Prüfung das Handtuch, weil »sie die Gemeinde Mieders durchaus nicht als Hebamme haben will«.76 Als man zur Wahl einer neuen Hebamme für die Gemeinde Angedair im Tiroler Oberinntal schritt, wurde der Zuschlag zunächst jener Frau gegeben, welche die Stimmen der dörflichen Honoratioren für sich hatte. Das Landesgubernium kippte diesen Entscheid zugunsten der von der Mehrheit der Frauen bevorzugten Kandidatin und schlussfolgerte kurz und bündig: »Zutrauen auf Sanitäts-Individuen befördert ihr nützliches Wirken.«77 Kompetenz Dass die Hebamme aus dem Südtiroler Lenzmoos das Zutrauen der Gebärenden gänzlich verloren hatte, war laut Sanitätsbericht aus dem Jahre 1833 wenig überraschend, denn aufgrund mangelnder praktischer Fertigkeiten sei »bereits jede Gebärende unter ihrem Beistand durch Vorfall ruiniert«.78 Als Konsequenz und wohl aus Furcht vor ähnlichen physischen Beschwerden mieden die Frauen die Hebamme. Selbst die Sanitätsbehörden sahen in diesem 71 72 73 74 75 76 77 78

TLA, Kreisamt Schwaz 1837, Sanität Fasz. 282, Zl. 178. TLA, Kreisamt Schwaz 1837, Sanität Fasz. 282, Zl. 178. Labouvie (1999), S. 56–66. Hilber (2015), S.  84–90. Zu den gängigen Weigerungsgründen siehe Loytved (2006), S. 99 f. TLA, Kreisamt Schwaz 1832, Sanität Fasz. 205, Zl. 8209, 8437. TLA, Kreisamt Schwaz 1834, Sanität Fasz. 233, Zl. 3397. TLA, Kreisamt Imst 1832, Sanität Fasz. 210, Zl. 24, 6238. ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957.

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Fall von ihrer Wiedereinsetzung ab.79 Ob mangelnde Kompetenz oder persönliche Animositäten die Etablierung der Hebamme Kessler in St. Gallenkirch verhinderten, lässt sich nicht endgültig klären, doch auch hier stand der Vorwurf im Raum, dass »Partheyen, die sie einmal gerufen hatten, […] sie bey künftigen Fällen nicht mehr rufen [wollten]«.80 Die Rankweiler Gerbersfrau und dreifache Mutter Josepha Walser gab bei der Befragung durch den Landrichter in Bregenz im Jahre 1839 an, dass sie den Wundarzt Karl Anton Barbisch aufgrund seiner fachlichen Kompetenz gerufen habe: »Barbisch sey besser und geschickter als jede Hebamme und daher werde sie wie bisher zu ihren Entbindungen nie eine Hebamme begehren, wenn sie anders den Barbisch erlangen könnte.«81 Tatsächlich findet sich das Attribut »geschickt« sehr häufig in der Bewertung erfahrener und praktisch tauglicher Geburtsbeistände. Die Kunstfertigkeit schloss nicht nur das praktische Wissen um den regelmäßigen Verlauf einer Geburt mit ein, sondern bezog sich wesentlich auf den schonenden Umgang mit Mutter und Kind. Vorsicht, Sanftheit und die Vermeidung zusätzlicher Schmerzen durch äußerliche und innerliche Untersuchungen wurden den Geburtsbeiständen bereits in ihrer Ausbildung nahegelegt.82 Allerdings sollten nach Ansicht der Obrigkeiten die Grenzen der Natur nicht leichtfertig überschritten werden. Deshalb monierte der Vorarlberger Kreisarzt Engstler in seinem Sanitätsbericht vom August 1839, »daß in den Landgemeinden dermalen der größte Theil der Geburthen theils mit Manual- oder Instrumentalhilfe vor sich gehe und so zu sagen der Natur nur bei höchst schnell verlaufenden Entbindungen ihre Rechte zugestanden werden!«.83 Die Gebärenden würden von den Geburtshelfern »schnelle Hilfe« sowie »schnelle Befreiung von dem schmerzhaften Geschäfte«84 erwarten und damit die Verdrängung der Hebammen begünstigen, so der Kreisarzt. Die klischeehaften Vorwürfe umfassten des Weiteren die Gewinnsucht der männlichen Geburtshelfer, die durch den Instrumenteneinsatz höhere Honorare zu erheben versuchten oder um sich »das Ansehen geleisteter wichtiger Dienste zu geben«.85 In einer patientinnenorientierten Lesart kann die Quelle aber auch dahingehend interpretiert werden, dass die Gebärenden und ihre anwesende Hilfsgemeinschaft bei langwierigen Geburten aktiv Erleichterung einforderten und ihren Geburtsbeistand mitunter nach dessen operativer Versiertheit auswählten.86 Im Fall der Färberin Breuss wurde Karl Anton Barbisch von einem Kollegen vorgeworfen, er habe die Zange ohne entsprechende Indikation zum Einsatz gebracht. Die Schilderungen der beigezogenen Hebamme lassen den Einfluss der Hilfsgemeinschaft erahnen. Obwohl der ortsansässige Wundarzt 79 80 81 82 83 84 85 86

ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957. UAI, Med. 1833–1834, Karton 9, Zl. 63/M. UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. Metz-Becker (1997), S. 202 f.; Seidel (1998), S. 405. VLA, Kreisamt I 1839, Sanität Schachtel 423, Zl. 1336. VLA, Kreisamt I 1839, Sanität Schachtel 423, Zl. 1336. VLA, Kreisamt I 1834, Sanität Schachtel 418, Zl. 3572. Seidel (1998), S. 348 f.

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Gmeiner die Gebärende am Morgen untersucht und die Lage des Kindes für regelmäßig befunden hatte, schritt die Geburt bis zum frühen Nachmittag nicht voran. Deshalb entschied sich der werdende Vater, nach Rankweil zu gehen, um dort den renommierten Geburtsarzt Barbisch zu holen. Dieser folgte dem Ruf umgehend und kam um drei Uhr nachmittags bei der Gebärenden an. Bis elf Uhr nachts versuchte Barbisch, unterstützt durch die Hebamme, die Geburt auf normalem Wege zu beenden. Doch schließlich wurde die Entbindung mittels Forceps »so geschickt bewirkt, daß Mutter und Kind nicht den geringsten Schaden erlitten«.87 Geburtshilfe war stets eine medizinische und ethische Gratwanderung zwischen dem gesetzlich Erlaubten und der situationsbedingt besten Reaktion auf die Wünsche der Patientinnen. Als weiteres Kompetenzmerkmal wurde der Erfolg, mit anderen Worten der positive Ausgang einer Geburt für Mutter und Kind gewertet. Dieser wurde als »glücklich« bezeichnet, wenn die Geburt vorteilhaft für die Beteiligten endete.88 Josepha Walser attestierte ihrem Geburtshelfer großes Können: »Barbisch habe jedesmal die Kinder mit der Zange von ihr genommen, es sey aber weder ihr noch den Kindern der geringste Nachtheil hierbei zugegangen.«89 Die im Zuge der Untersuchung gegen Karl Anton Barbisch aufgenommenen Protokolle ähneln sich, indem der Geburtshelfer von den betroffenen Gebärenden als kompetent und erfolgreich beschrieben wurde. In beinahe allen dokumentierten Fällen war der Ausgang für Mutter und Kind günstig. Die Mehrzahl der befragten Konkurrentinnen und Konkurrenten attestierte Barbisch chirurgische Expertise. Lediglich eine Aussage versuchte seine Praxis zu relativieren. Katharina Gantner, Hebamme aus der benachbarten Gemeinde Sulz, ließ sich folgendermaßen vernehmen: Im Allgemeinen sey Barbisch mit Anwendung der Zange glücklich, indessen seyen ihr doch Fälle vorgekommen, wo er den Wöchnerinnen durch sein grobes unzeitiges Benehmen Schaden zugefügt habe. Die Namen jener Weiber, welche durch ihn beschädigt seyn sollten, wollte sie nicht nennen, weil ihre Verletzung nicht gar bedeutend gewesen, und weil sie glaube, daß gerade diese Weiber dem Barbisch sehr geneigt seyen, ihm [sic!] nur vertheidigen und ihre Angabe als unwahr wahrscheinlicherweise darstellen würden.90

Die Unüberprüfbarkeit ihrer Aussagen und das Zurückhalten konkreter Details ließen die Zeitgenossen diese Aussage als unglaubwürdig abtun. Das Zitat leitet auf einen weiteren Sachverhalt über, der in den Quellen stellenweise sehr deutlich hervortritt. Die Loyalität der Frauen gegenüber ihren Geburtsbeiständen muss in etlichen Fällen als hoch eingeschätzt werden, auch wenn sich ihre Unterstützung vielfach nicht durch lautstarken Protest oder narrative Quellen belegen lässt. Die Hebamme in oben erwähntem Fall sprach von der treuen Patientinnenschaft des Karl Anton Barbisch, die ihn

87 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 88 Zur formelhaften Verwendung des Begriffs »glücklich« im Kontext der Geburt: Piller (2007), S. 133–136. 89 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 90 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M.

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ihrer Ansicht nach auch vor Gericht bedingungslos verteidigen würde.91 Auch im Fall des Wundarztes Joseph Widmann verlief die vom Distriktsarzt eingeleitete Untersuchung schlussendlich im Sande, denn weder pro noch kontra Widmann konnten glaubwürdige Zeuginnen gefunden werden. Gegen den Wundarzt wollte niemand seine Stimme erheben, und unterstützende Aussagen wären lediglich von »seinen Freundinnen« gekommen, die aufgrund des Naheverhältnisses als nicht objektiv gewertet wurden.92 In den bereits beschriebenen Fällen aus Sellrain und der Wildschönau nutzten die Frauen ihre Männer als Sprachrohre und petitionierten bei den Obrigkeiten für die Beibehaltung traditioneller Formen der Geburtshilfe. Trotz der wiederholten Vorsprachen mussten die Behörden gemäß der geltenden Sanitätsgesetzgebung abschlägige Entscheidungen treffen. Darauf reagierten die Betroffenen jedoch meist mit einer Strategie aus Ignoranz und Persistenz, indem sie die etablierten Geburtsbeistände weiterhin zu Geburten bestellten.93 Im Fall Joseph Widmanns schrieb der Kreisarzt 1838, dass der Wundarzt »unter allerlei Vorwand der Unentbehrlichkeit von Seite der Weiber«94 immer noch den größten Teil der Frauen entbinde. Diese vertrauten auf seine Expertise und – schenkt man den Ausführungen des Kreisarztes Glauben – (er-)fanden Indikationen, um sich den Accoucheur ins Haus holen zu können.95 Auf die Loyalität seines Kundenstammes konnte auch der St. Gallenkircher Geburtsarzt Ignaz Barbisch vertrauen, denn als das Kreisamt aufgrund der vermeintlichen Überschreitung seiner Kompetenzen Ermittlungen einleitete, stellten die von ihm betreuten »Partheyen« schriftliche Unterstützungszeugnisse aus. Ignaz Barbisch legte dem Landgericht Montafon am 23. August 1834 Zeugnisse über 25 Entbindungsfälle vor, bei denen die Gebärenden seinen Beistand exklusiv eingefordert hatten und die Hilfe »der Hebamme nie verlangt oder gewünscht habe[n]«.96 Weitere 13 Zeugnisse sollten beweisen, dass Barbisch die Beiziehung einer Hebamme angeraten hatte, die Gebärenden oder ihre Familien dies aber, »weil sie ihr Vertrauen einzig auf diesen Geburtshelfer setzen, zu thun nicht für richtig hielten«.97 Da das Landgericht Montafon diese schriftlichen Loyalitätsbekundungen als irrelevant für den Verfahrensverlauf erachtete, da »derley Zeugnisse aus bloßer Convenienz, oder mißverstandenen Zwecke nicht leicht verweigert zu werden pflegen«98, wurden die Schriftstücke zurückgestellt. In den behördlichen Archiven haben sich keine Abschriften erhalten. Daher lässt sich weder der exakte Wortlaut noch die Identität der unterzeichnenden Personen rekonstruieren. Dennoch wirft allein die Tatsache, dass die Beteiligten aktiv ihre Unterstützung bekundeten, ein bezeichnendes 91 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 92 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672. 93 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 252, Zl. 6134; TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 298, Zl. 8832. 94 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Fasz. 297, Zl. 9516, 9827. 95 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Fasz. 297, Zl. 9516, 9827. 96 UAI, Med. 1833–1834, Karton 9, Zl. 63/M. 97 UAI, Med. 1833–1834, Karton 9, Zl. 63/M. 98 VLA, Kreisamt I 1834, Sanität Schachtel 418, Zl. 3572.

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Licht auf die geburtshilfliche Situation in dem abgeschiedenen Alpental. Die herablassende und bevormundende Art der Argumentation von der Irrelevanz dieser 38 Stimmen zeichnet ihrerseits ein Bild von der Sichtweise der staatlichen Sanitätsbeamten auf die Mündigkeit der ländlichen Bevölkerung. Neben der Kunstfertigkeit wurden auch der Fleiß und Eifer als positives Wesensmerkmal von den Patientinnen anerkannt. »Die Hebamme ist geschickt, fleißig, human und nichtern«99, wurde im Zuge der Kreisbereisung über die Hebamme aus Montan berichtet. Auch Landarzt Ignaz Barbisch hatte sich den Quellen zufolge als »geschickter und fleißiger Mann bewährt«.100 Dieser Fleiß manifestierte sich zunächst in der sofortigen Befolgung des Rufes, der den Geburtshelfer oder die Hebamme zu jeder Tages- und Nachtzeit ereilen konnte. Die rasche Gewährleistung kompetenter Hilfe war somit essentiell und spielte eine Rolle bei der Wahl des Geburtsbeistandes. Als weiteres Entscheidungsmotiv muss die Humanität gewertet werden. Diese wird in etlichen Fällen als Menschenfreundlichkeit, als Sanftheit oder empathische Qualität hervorgehoben. Da die Hebamme im Südtiroler Kurtatsch sanfter geworden sei, wurde sie von den Frauen stärker beansprucht.101 Die Gebärenden fühlten sich dem Geburtsarzt Karl Anton Barbisch zugetan, »weil er mit seinen Kunden [sic!] gut umzugehen wisse«, gab die Hebamme Elisabeth Frick zu Protokoll. Auch die Hebamme von Altenstadt bestätigte, dass Barbisch bei den »Wöchnerinnen sehr beliebt« sei.102 Die Aussagen der Gebärenden Josepha Walser und Dorothea Koch erlauben indes tiefere Einblicke in das ArztPatientinnen-Verhältnis, das von einer deutlichen Fokussierung des Patientinnenwohls gekennzeichnet war. Beide hatten mit Hilfe Barbischs gesunde Kinder zur Welt gebracht, doch ergaben sich im Wochenbett Probleme mit dem Stillen. Der Wundarzt wurde von beiden Frauen konsultiert und riet vom Selbststillen der Säuglinge ab. Dies wurde ihm im gerichtlichen Verfahren negativ ausgelegt, begünstigte er doch damit kindliche Sterbefälle und handelte den gesetzlichen Vorgaben zuwider, die das Selbststillen forcierten. Doch seine Patientinnen waren überzeugt vom guten Rat des Geburtshelfers, der sie mit Einfühlungsvermögen unterstützt und als handlungsfähige Individuen wahrgenommen hatte. Barbisch befand die eine für zu schwach, um Zwillinge zu säugen, und erklärte, »sie habe die Wahl, ob sie die Kinder bei sich nähren wolle oder nicht«.103 Dorothea Koch berichtete, dass sie trotz mehrmaliger Versuche ihr erstes Kind »nicht an die Brust gebracht« habe. Der von der verzweifelten Mutter konsultierte Barbisch argumentierte, »wenn es nicht freywillig gehe, könne man es nicht erzwingen«.104 Basierend auf den Taufbüchern der Pfarre Rankweil konnte nachgewiesen werden, dass Barbischs Dienste zwischen 1830 und 1839 vorwiegend von Erst- bis Viertgebärenden in Anspruch 99 100 101 102 103 104

ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957. VLA, Kreisamt I 1834, Sanität Schachtel 418, Zl. 3572. ASBz, Kreisamt Bozen 1833, Sanität Bündel 362/2, Zl. 8957. UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M.

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genommen wurden. Gemeinsam stellten sie rund 70 Prozent seiner geburtshilflichen Praxis, wobei die Erst- und Zweitgebärenden deutlich überwogen. Es scheint plausibel, dass sich in Rankweil ein System der Inanspruchnahme etabliert hatte, bei dem vor allem Erstgebärende durch die Hinzuziehung des Wundarztes das Risiko schwieriger Geburten zu minimieren suchten.105 Finanzierbarkeit Insbesondere die regional verorteten Distriktsärzte dokumentierten in ihrer Rolle als gewissenhafte Staatsbeamte vermehrt ihre Bedenken hinsichtlich der individuellen wie kollektiven finanziellen Belastungen. Demnach waren die höheren Honorare, welche die männlichen Geburtshelfer selbst bei unkomplizierten Geburten erhoben, für die teils verarmte Landbevölkerung sowie die finanziell belasteten Gemeinde- und Landgerichtskassen nicht zumutbar. So drängte das Kreisphysikat von Bozen darauf, endlich eine Hebamme in St. Pauls anzustellen. »Aushülfe gewährt zwar der Accucheur [sic!] Liebkowitz, allein seine Hülfe kommt in der Regel zu hoch«106, ließ der zuständige Distriktsarzt wissen. Der geburtshilfliche Beistand des Wundarztes Michael Breit in Mieders wurde ebenfalls als zu kostspielig eingeschätzt.107 Tatsächlich bestand ein deutlicher Unterschied zwischen den 18 Kreuzern, die gewöhnlich für den Beistand einer Hebamme bei einer regelmäßigen Geburt anfielen, und dem Honorar von mindestens einem Gulden und zwölf Kreuzern, die Breit in Rechnung stellte.108 Doch von horrenden Preisunterschieden kann auch hier keine Rede sein. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die ländlichen Hebammen mit Niedrigstlöhnen abgespeist wurden, die wohl lange Zeit noch eine Aufbesserung mit Naturalien erfuhren.109 Im Vergleich zu den im Stubaital üblichen Honoraren stand etwa den städtischen Hebammen in Innsbruck im gleichen Zeitraum neben ihrem Wartgeld eine sogenannte »Amgebühr« von zwei Gulden pro Entbindung zu.110 Trotz der höheren finanziellen Auslagen war der Stubaier Wundarzt äußerst nachgefragt, und weder die Bevölkerung noch die Gemeindeobrigkeiten der betroffenen Ortschaften Mieders und Schönberg forderten günstigeren Ersatz für die etablierte Kapazität. Im Fall des Wundarztes Joseph Widmann erhob der Distriktsarzt sogar den Vorwurf des Betrugs, da Widmann seiner Einschätzung nach lediglich aus Gewinnsucht und Habgier mit der Zange hantierte.111 Mit ähnlichen Vorwürfen sah sich auch der Montafoner Geburtshelfer Ignaz Barbisch konfrontiert. Der St. Gallenkircher Dekan bezeichnete ihn sogar unverhohlen 105 Den Aspekt der Sicherheit als wahlentscheidendes Motiv spricht auch Alice Reid für die englische Grafschaft Derbyshire im frühen 20. Jahrhundert an: Reid (2011), S. 395. 106 ASBz, Kreisamt Bozen 1835, Sanität Bündel 386/1, Zl. 11774. 107 TLA, Kreisamt Schwaz 1832, Sanität Fasz. 175, Zl. 10348. 108 TLA, Kreisamt Schwaz 1833, Sanität Fasz. 218, Zl. 521, 4565. 109 Barth-Scalmani (1994), S. 369. 110 Hilber: Geburt (2012), S. 80–84. 111 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672.

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als »Kapitalist«.112 In einem Rekursschreiben (Verteidigungsschreiben) aus dem Jahre 1834 gab der Wundarzt jedoch zu bedenken, dass er sein Honorar stets unter den festgelegten Taxbestimmungen anlegte und er »wirklich armen Partheyen nicht unbedeutliche Opfer gebracht habe«.113 Auch der profilierte Montafoner Geburtshelfer wurde bis zu seinem Tod im Jahre 1870 ungeachtet seiner höheren Honorarforderungen zu Geburten gerufen. Doch nicht nur die Honorarforderungen der männlichen Geburtshelfer, auch die zahlreichen Ansuchen um Erhöhung des ohnehin niedrigen Wartgeldes der Hebammen wurden von den regionalen Behörden meist mit Missfallen zur Kenntnis genommen. Obwohl 1822 ein reichsweites Wartgeld von mindestens 20 Gulden eingeführt wurde, erhielt noch in den 1830er Jahren nicht jede Hebamme in Tirol und Vorarlberg den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Das Landgericht Rattenberg im Tiroler Unterinntal argumentierte 1834 sogar strikt gegen die Erhöhung des jährlichen Bezugs, denn ein zu hohes Wartgeld könnte das Ansehen der Hebammen nachhaltig beschädigen. »Je mehr ihnen die Gemeinden zahlen müssen, desto mehr verlieren sie an Zutrauen«114, lautete die Logik der Behörde, welche die weibliche Geburtshilfe offenbar immer noch im Dunstkreis des Nebenverdienstes und der christlichen Nächstenliebe sah115. Zusammenfassend wird deutlich, dass finanzielle Argumente ausschließlich von behördlicher Seite vorgebracht wurden. Die Bevölkerung teilte diese regulierende Sichtweise nicht bzw. nicht in jenem Ausmaß und fühlte sich nicht offen übervorteilt. Die Qualität der medizinischen Versorgung rechtfertigte aus Patientinnensicht wohl zu einem Gutteil die Höhe der Entlohnung. Dementsprechend relativierte ein Gutachten zur geburtshilflichen Situation im Land den Sachverhalt. Fabian Ulrich, Professor für Geburtshilfe am medizinisch-chirurgischen Lyzeum in Innsbruck, resümierte, wenn »die Familienväter dem Geburtshelfer viel mehr als der Hebamme zahlen [müssten], so würde die allgemeine Häuslichkeit sie gewiß bald von selbst zu den wohlfeileren Hebammen zurückzukehren antreiben«.116 Auch er glaubte offensichtlich nicht an die Macht des Geldes bei der Regulierung des Marktes, vielmehr deuten seine Aussagen auf ein diffuses Konglomerat aus fachlicher Kompetenz und persönlicher Wertschätzung der jeweiligen Geburtshelfer und Hebammen hin. Die Kontinuität etablierter Geburtshelfer, oft über Jahrzehnte hinweg, muss als Argument gegen eine Überbetonung finanzieller Motive bzw. für die Akzeptanz etablierter Entlohnungsschemata gewertet werden. Die Tatsache, dass eine Hebamme auf dem Land günstiger war als ein Accoucheur, vermochte den historisch gewachsenen medikalen Markt in der Gefürsteten

112 113 114 115 116

VLA, Kreisamt I 1841, Sanität Schachtel 425, Zl. 2768. VLA, Kreisamt I 1834, Sanität Schachtel 418, Zl. 3572, 5860. TLA, Kreisamt Schwaz 1834, Sanität Fasz. 233, Zl. 237. Barth-Scalmani (1994), S. 368 f. UAI, Med. 1837–1838, Karton 13, Zl. 107/M.

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Grafschaft Tirol und dem Land Vorarlberg nicht nach obrigkeitlichen Vorstellungen zu verändern.117 Einflussnahme Die Analyse der Wahlmotive konzentrierte sich bislang auf jene, die sehr nah an der Patientinnenperspektive lagen. Dabei wurden Erfahrungen und Erwartungen der Gebärenden und ihrer unmittelbaren Hilfsgemeinschaft im Sinne einer Innenperspektive miteinbezogen. Im folgenden Abschnitt soll hingegen gefragt werden, welche Akteurinnen und Akteure außerhalb dieser unmittelbaren Hilfsgemeinschaft Einfluss auf die Gebärende ausübten, wie sie ihre Interessen durchzusetzen versuchten und inwieweit ihre Strategien erfolgreich waren. Dabei waren es in erster Linie die geburtshilflichen Anbieterinnen und Anbieter selbst, die als Manipulatoren offener Kritik ausgesetzt waren. So warf 1837 etwa Distriktsarzt Perthaler dem Matreier Wundarzt Widmann vor, es sei ihm nur mit Hilfe repressiver Methoden gelungen, »die Ordnung ganz umzukehren u. sich hierin zum Alleinherrn zu machen«.118 Konkret lauteten die Vorwürfe dahingehend, dass Widmann die Hebamme in Misskredit bringe und sich als Retter der Mütter aufspiele. Laut Perthaler nahm er als nützliche Strategie sogar die »unbarmherzige und rächende Behandlung jener armen Gebärenden, wo zuerst die Hebamme gerufen, u. dann er benöthiget wurde, zu Hülfe«.119 Ein Regime aus Angst und Furcht vor Benachteiligung wurde auch dem Wundarzt Karl Anton Barbisch nachgesagt. Auch er wettere gegen die Hebammen und stelle ihre fachliche Kompetenz offen in Frage. So »pflege er bei jeder Geburt zu sagen, daß die Hebamme, welche vor ihm da gewesen, die Wöchnerin vernachläßigt habe und das dieselbe sammt dem Kinde, wenn er später gerufen worden wäre, leicht hätte zu Grunde gehen können«.120 Dr. Pfefferkorn, der Gemeindearzt von Rankweil, attestierte den Frauen Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit, indem er feststellte, dass solche Reden bei den Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen »leicht Eingang« fänden.121 Eine weitere Gruppe, die sich einerseits um das Wohlergehen der Gebärenden, andererseits um die Durchsetzung eigener Interessen bemühte, war die lokale Geistlichkeit. Während nämlich die Gemeindeobrigkeiten und die Bevölkerung offen gegen die Aufstellung einer Hebamme vorgingen, habe der Seelsorger von Mieders dies »schon oft gewünscht«.122 Auch der Pfarrer von Rankweil verlangte wiederholt die Einstellung der geburtshilflichen Praxis des Karl Anton Barbisch bei leichten Geburten. Interessanterweise war er der 117 Reid wertete das Familieneinkommen als Faktor, der statistisch gleichbedeutend war mit der Reputation und der lokalen Verfügbarkeit von Geburtsbeiständen: Reid (2011), S. 392. 118 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672. 119 TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672. 120 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 121 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 122 TLA, Kreisamt Schwaz 1835, Sanität Fasz. 251, Zl. 179, 6385 ex 1832.

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Schwager des Distriktsarztes Dr. Bertsch, bei dem er sich »schon früher über Barbisch schriftlich und mündlich beschwert habe«.123 Und auch dem Dekan von St. Gallenkirch war der dominante Geburtsarzt Ignaz Barbisch ein Dorn im Auge.124 Im Falle des Wundarztes Widmann beabsichtigte der Distriktsarzt, die Geistlichkeit vor Ort stärker in den Prozess der Durchsetzung obrigkeitlicher Sanitätsnormen einzubinden, denn bisher hatten sich diese äußerst bedeckt gehalten.125 Offizielle Stellungnahmen von Seiten des Dekans von Matrei sind in den Quellen nicht überliefert, allerdings deutet die fehlende Dokumentation des Geburtsbeistandes in den Taufbüchern, die seit 1825 gesetzlich vorgeschrieben war126, auf eine gewisse Opposition seitens der lokalen Geistlichkeit hin. Bis zum Jahre 1849 fehlen die Nennungen der geburtsleitenden Person; das legt die Interpretation nahe, dass Joseph Widmann von der Geistlichkeit in seiner geburtshilflichen Praxis geduldet und das Ausmaß seiner obstetrischen Tätigkeit gedeckt wurde. Generell muss jedoch von einem produktiven Zusammenwirken von Staat und Geistlichkeit im Bereich der Geburtshilfe ausgegangen werden, das in manchen Fällen die Lebenswelt und den Entscheidungshorizont der Gebärenden erreichte. Dies ist etwa im Fall Dorothea Kochs eindrücklich belegt. Sie hatte bei ihren ersten beiden Entbindungen Karl Anton Barbisch zum Beistand gewählt, bei ihrer dritten Entbindung jedoch die Ortshebamme gerufen. Über die Motive befragt, die zur Änderung ihres Wahlverhaltens führten, gab die Frau des Mesners an: »weil es die geistl[iche] und weltliche Obrigkeit lieber habe, wenn man Hebammen gebrauche.«127 Die pflichtbeflissenen Sanitätsbeamten hatten als dritte Gruppe ein Interesse an der gezielten, erzieherischen Einflussnahme auf die Bevölkerung. Sie hatten die gesetzlichen Vorgaben und die Ideologie der aufgeklärten medizinischen »Policey« ihrem Status im System entsprechend verinnerlicht. Deshalb urteilte auch der Distriktsarzt von Auer, »ein Accucheur [sic!] soll auch die Hebamme in einem Ort nie ganz ersetzen«.128 Wie weitreichend die Gefährdung der sanitätspolitischen Ordnung durch die Geburtsärzte war, fasste Johann Nepomuk Ehrhart, Studiendirektor des medizinisch-chirurgischen Lyzeums, 1838 pointiert zusammen. Obwohl seiner Ansicht nach kein juristisches Verbot routinemäßiger geburtshilflicher Betreuung durch Geburtsärzte bestehe, liegt [es] doch in dem natürlichen Gange der Dinge, daß bei leichten, ganz regelmäßigen Geburten Hebammen, und nicht Geburtshelfer zum Beystand gerufen werden; […] Es würde in der That eine Anomalie daraus entstehen, wenn Geburtshelfer, ganz besonders aber auf dem Lande das Geschäft der Hebammen übernehmen, und diese verdrängen würden.129 123 124 125 126

UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. VLA, Kreisamt I 1841, Sanität Schachtel 425, Zl. 2768. TLA, Kreisamt Schwaz 1838, Sanität Fasz. 297, Zl. 4672. Hofkanzleidekret vom 2. Juli 1825, Zl. 20248, Gubernial-Kundmachung vom 22. Juli 1825, Zl. 14441, zit. n. Laschan (1847), S. 104. 127 UAI, Med. 1839–1840, Karton 14, Zl. 62/M. 128 ASBz, Kreisamt Bozen 1835, Sanität Bündel 386/1, Zl. 11774. 129 UAI, Med. 1837–1838, Karton 13, Zl. 107/M.

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Eine Forcierung männlicher Geburtshilfe hätte zur Folge, dass ein gewichtiger Teil der Legitimation des medizinisch-chirurgischen Studiums, nämlich die Ausbildung von Hebammen, wegfiele und somit der Fortbestand des Studienzweiges gefährdet wäre. Der Sichtweise des Innsbrucker Professors für Geburtshilfe Fabian Ulrich zufolge wählten die Gebärenden primär Hebammen, »weil die dem zweiten Geschlechte eigene Schamhaftigkeit in der Regel männliche ärztliche Hülfe nicht zuläßt«.130 Doch entgegen dieser Annahme deutet das untersuchte Material darauf hin, dass Schamgrenzen angesichts von Schmerz und existentiellen Ängsten zweitrangig wurden und den Entscheidungsprozess nicht maßgeblich beeinflussten. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die untersuchten ländlichen Gesellschaften freizügiger waren, denn der therapeutische Kontakt zwischen Geburtshelfer bzw. Hebamme und Patientin folgte klar definierten sozialen Regeln. Francisca Loetz zufolge war die Körperuntersuchung bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts bereits zum gängigen Diagnosemittel avanciert und stand kaum im Gegensatz zu den Schamgrenzen der Patientinnen.131 Selbst vaginale Untersuchungen scheinen in den 1830er Jahren durchaus in Kauf genommen worden zu sein.132 Entscheidend dafür war das Fehlen von Nacktheit bei der physischen Begegnung zwischen Patientin und Geburtsbeistand.133 Abschließend sei die Einschätzung Professor Ulrichs zitiert, der urteilte: [d]aß die Sittlichkeit bei der männlichen Hülfsleistung gefährdet sey, scheint eine etwas überspannte Furcht zu seyn, welche weder durch haltbare Gründe, noch von der Erfahrung gerechtfertigt wird. Die Erfahrung hat in Ländern, wo nur ausschließlich Geburtshelfer den Gebärenden beistehen, keine größere Unsittlichkeit als in andern, wo das Gegentheil statt findet, nachgewiesen und selbst in den höheren Ständen, wo gewöhnlich Geburtshelfer Beistand leisten, ist Zucht und Ehrbarkeit noch immer eine besondere Zierde der Damen geblieben.134

Fazit Der geburtshilfliche Markt in Tirol und Vorarlberg war in den 1830er Jahren noch stark pluralistisch geprägt und von sozialen Aushandlungsprozessen bestimmt, die sich keineswegs an der normativ festgelegten, obrigkeitlich forcierten Sanitätshierarchie orientierten, sondern unterschiedliche Anbieterinnen und Anbieter miteinschloss. Die Bevölkerung hatte ihre eigenen Vorstellungen 130 UAI, Med. 1837–1838, Karton 13, Zl. 107/M. In der württembergischen Ärzteschaft wurde die legitime Wahl des Geburtsbeistandes ebenfalls kontrovers diskutiert. Die Ärzteschaft erachtete allein aufgrund sittlicher Momente eine Verdrängung der Hebammen für nicht realistisch. Gross (1998), S. 221. 131 Loetz (1993), S. 90 und S. 108. 132 Siehe dazu den regen Zulauf, den etwa die ambulierende Gebäranstalt in Innsbruck seit den 1820er Jahren durch verheiratete Frauen erfuhr. Hilber: Geburt (2012), S. 80–84. 133 Jütte (1992), S. 116–121; Stolberg (2013), S. 97–100; Hilber: Beschwerdeführung (2016), S. 79–93. 134 UAI, Med. 1837–1838, Karton 13, Zl. 107/M.

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darüber, wie sich Geburtshilfe im inneralpinen, ländlich geprägten Raum abzuspielen hatte, wer dazu befähigt war und welche (formalen) Qualifikationen dazu nötig waren. Trotz ambitionierter Anfänge um die Mitte des 18.  Jahrhunderts konnte sich die Professionalisierung der Geburtshilfe bei den Rezipientinnen sowie einem Teil der Anbieterinnen nur schleppend durchsetzen. Während die Wundärzte im Rahmen ihrer Ausbildung eine verpflichtende geburtshilfliche Schulung durchliefen, wurde der zentralisierte Ausbildungszwang für ihre weiblichen Pendants nur unzureichend durchgesetzt. Dies führte einerseits dazu, dass mancherorts Wundärzte als geburtshilfliche Experten nicht nur Hebammen ausbildeten, sondern als aktive Geburtshelfer auch zu regelmäßig verlaufenden Geburten gerufen wurden. Andererseits führte der relative Mangel an Hebammen zum Fortbestand und zur offiziellen Duldung von Laienhebammen. Insgesamt zeigte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vielfach auch darüber hinaus eine ungleiche Verteilung formal approbierter Geburtsbeistände auf dem Land. Während ein relativ gut organisiertes Hebammenwesen in den wenigen städtischen Zentren existierte, waren die peripheren Regionen vielfach unterversorgt und Gebärende im Ernstfall mit langen Rufwegen konfrontiert. Im Zuge des intensivierten obrigkeitlichen Zugriffs im Vormärz wurde das Thema legitimer Beistandswahl zunehmend kontrovers diskutiert, was sich in vermehrt dokumentierten Konflikten rund um das Geburtsbett manifestierte. Die 1830er Jahre stellten dabei einen Höhepunkt dar, der schließlich 1841 in der offiziellen Akzeptanz routinemäßiger männlicher Geburtshilfe gipfelte. Es war dies nicht das erste Mal in der Geschichte der Geburtshilfe in Tirol und Vorarlberg, dass die Wiener Zentralregierung auf die sozialen Verhältnisse vor Ort reagieren musste und die gelebte soziale Praxis nachträglich legitimierte. Dennoch wird die Präferenz weiblicher Geburtsbeistände durch die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten an vielen Stellen deutlich, und approbierte Hebammen konnten sich trotz der Gesetzgebung von 1841 nach der Jahrhundertmitte zusehends als geburtshilfliche Primärversorgerinnen festigen. Dies lag wohl auch am fehlenden Nachwuchs in den Reihen der Wundärzte, denn sämtliche etablierten Geburtshelfer entstammten jener Generation, die in den ersten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts gezwungen waren, die Lücken im grobmaschigen obstetrischen Netz zu schließen. Insgesamt zeigte sich am untersuchten Quellenmaterial, dass die betroffenen Gebärenden bzw. der erweiterte Familienverbund der Wahl des Geburtsbeistandes nicht indifferent begegneten, sondern teils leidenschaftlich, teils strategisch, teils subversiv und widersetzlich agierten, um ihre Vorstellungen durchzusetzen oder bestehende Gesetze auszuhebeln. Ihre Durchsetzungskraft fußte auf dem Glauben, die bestmögliche perinatale Betreuung zu erlangen, wie die unterschiedlichen Bekundungen des »Zutrauens« in die Fähigkeiten und professionellen Eigenschaften der jeweiligen Anbieterinnen und Anbieter beweisen. Die individuelle Reputation schloss aber nicht nur die theoretische und praktische Kompetenz mit ein, sondern gründete sich wesentlich in einem positiven und respektvollen Verhältnis zwischen Geburtsbeistand und Gebärender. Es konnten zudem Indizien dafür gefunden werden, dass insbe-

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sondere Erstgebärende sich dem vermeintlich kompetenteren Geburtshelfer anvertrauten. Auch die bewusste Wahl des operativ versierten Geburtsbeistandes lässt sich am Quellenmaterial erahnen. Ebenso sind Patientinnentreue und offenkundige Solidarität mit innerdörflich etablierten Geburtsbeiständen dokumentiert. Demgegenüber spielten ökonomische Aspekte sowie das Argument weiblicher Schamhaftigkeit nur eine untergeordnete Rolle bzw. wurden diese Wahlmotive lediglich von Seiten der männlichen Sanitätsbeamten ins Treffen geführt. Diese Episode aus der Geschichte der Geburtshilfe im inneralpinen, ländlichen Raum bestätigt einerseits, dass das Geburtsbett in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts  – ganz im Sinne feministischer Diktion  – ein umkämpftes Gebiet war. Doch anders als vorangegangene Studien unterstreicht der vorliegende Beitrag die Handlungskompetenz der Gebärenden und ihrer unmittelbaren Hilfsgemeinschaft, die am physischen Wohlergehen von Mutter und Kind interessiert waren. Sobald sich eine Wahlmöglichkeit eröffnete, wurde die ländliche Bevölkerung in Tirol und Vorarlberg aktiv, suchte nach der vermeintlich bestmöglichen medizinischen Versorgung und setzte sich damit nicht nur über gesetzliche, sondern auch über vermeintliche Geschlechtergrenzen in der Geburtshilfe hinweg. Bibliographie Archivalien Tiroler Landesarchiv, Innsbruck (TLA) – Jüngeres Gubernium, Sanität Fasz. 2440, 2458 – Kreisamt Schwaz, Sanität Fasz. 175, 205, 218, 233, 234, 251, 252, 282, 297, 298 – Kreisamt Imst, Sanität Fasz. 210, 262 – Pfarre Mieders, Taufbuch, Mikrofilm (MF) 0640-1, 0640-2 Vorarlberger Landesarchiv, Bregenz (VLA) – Kreisamt I, Sanität Schachtel 418, 422, 423, 425 – Landgericht Bregenz, Sanität Schachtel 173 – Pfarre Nenzing, Taufbuch, Nr. 379-2 Staatsarchiv Bozen/Archivio di Stato di Bolzano (ASBz) – Kreisamt Bozen, Sanität Bündel 362/2, 386/1 Universitätsarchiv Innsbruck (UAI) – Medizinische Fakultät (Med.), Karton 9, 13, 14 – Prüfungsprotokolle Hebammen

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 43–83, FRANZ STEINER VERLAG

Das »Quantified Self« als historischer Prozess. Die Blutdruck-Selbstmessung seit dem frühen 20. Jahrhundert zwischen Fremdführung und Selbstverortung1 Eberhard Wolff Summary The “quantified self” as a historical process. Self-measurement of blood pressure since the early twentieth century: between heteronomy and self-positioning The article starts by examining how, in the course of the twentieth century, the monitoring of blood pressure became, aside from its clinical application, also a measure carried out routinely by (potential) patients themselves. This was a long, complex and gradual journey. Analysis reveals that the self-measurements were only very rarely conducted completely autonomous and that the “self” of self-measurement tends to be a question of degree. The spreading of BP self-measurement is interpreted here as embedded in main medical developments of the twentieth century. These include the technologization of medicine, the growing focus on health risks, the emergence of a “surveillance” medicine based on “preventive self-care”, a quantified understanding of health, the implementation of standard values as well as a more active role for the patient. The concluding criticism of the currently widespread, often pessimistic ways of interpreting self-measurements, not least those of today’s “quantified self”, is based on this historical approach. These interpretations see in the self-measurements above all aspects of heteronomy, of a neoliberal coercion to self-monitor and self-optimize as well as the shifting of responsibility to the individual. In conclusion, the article tries to expand this rather negative and restrictive view by a more open interpretation. This wider interpretation sees the practice of self-monitoring as something that has evolved with and in modern times and the modern ideas regarding health and body. It explains the tendency towards self-monitoring as the expression of a more active self-observation of (potential) patients, with the aim of facilitating the self-positioning, self-orienting and self-regulation that have gained much more importance in our modern time with its pluralized life plans.

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Die Entstehung dieses Aufsatzes wurde vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM), Stuttgart, finanziell großzügig gefördert. Ich danke Prof. Dr. Robert Jütte, Prof. Dr. Martin Dinges und Dr. Pierre Pfütsch vom IGM für wichtige Kritik, Anregungen und Kommentare zu diesem Text.

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Einleitung Das aktuelle Phänomen des Selbstmessens und des »Quantified Self« Das digitale Selbstvermessen des eigenen Körpers und seiner Aktivitäten mit Gesundheits- und Fitness-Apps als umfassender Trend im Alltag unter dem Stichwort des »Quantified Self« ist – vordergründig – ein junges Phänomen. Noch vor etwas mehr als zehn Jahren konnte der Film »Stranger than Fiction« (2006) seinen Protagonisten Harold Crick als eindeutig schrulligen, pedantischen Außenseiter und Einzelgänger inszenieren, weil er die Schritte zu seiner Arbeitsstelle (der Steuerbehörde!) und die Bewegungen mit seiner Zahnbürste zählte und sein durch Zahlen strukturiertes Leben von einer digitalen Armbanduhr dominiert wurde. Heute besitzt jedes Smartphone einen Schrittzähler, und im Jahr 2014 brachte der Haushaltsgeräte-Anbieter Braun die Weltneuheit einer »smarten« elektrischen Zahnbürste mit Bluetooth-Verbindung auf den Markt, welche die Zahnreinigung mit einer App digital dokumentieren kann. Selbstmessungs-Technologien werden seit einigen Jahren als zeitgemäß-trendige Gadgets angeboten und wahrgenommen. Praktiken der digitalen Selbstmessung decken heute ein immer weniger abgrenzbares Feld zwischen Sport, Körperästhetik, Medizin und Gesundheit ab, wie es sich in einem weiten Verständnis von »Fitness« spiegelt. Es wird erwartet, dass das integrierte kontinuierliche digitale Selbsttracking des Körpers für unterschiedliche Zwecke, unter anderem auch für die Forschung der sogenannten »personalisierten Medizin«, in einem gewissen Umfang zu den selbstverständlichen Alltagspraktiken der Zukunft zählen wird.2 Das Untersuchungsbeispiel der Blutdruckmessung Der vorliegende Beitrag betrifft die Vorgeschichte dieser aktuellen Entwicklungen anhand eines medizinischen Einzelbeispiels, der Blutdruckmessung. Speziell geht es darum, wie sie im 20. Jahrhundert von einer rein ärztlichen Diagnosepraktik zu einer häufig auch durch die Gemessenen selbst durchgeführten Praxis und damit zu einem veralltäglichten Umgang mit ihnen selbst geworden ist. Blutdruckwerte zählen heute, neben z. B. der Körpertemperatur oder dem Körpergewicht, zu den wichtigsten Koordinaten einer Bestimmung des individuellen Gesundheitszustands. Ähnlich etwa den Zuckerwerten im Urin und Blut werden Blutdruckwerte präventiv im Rahmen einer Untersuchung des allgemeinen Gesundheitszustands, aber auch begleitend zur Beobachtung und Therapie der Hypertonie, regelmäßig erhoben. Das eigenständige Messen des Blutdrucks ohne die Hilfe einer Fachperson (Arzt, Apotheker, Pflegekraft etc.) hat sich spätestens seit den 1970er Jahren zum Massenphänomen entwickelt. Menschen erheben ihren Blutdruck selbst entweder im Rahmen einer Behandlung oder aus eigenem Antrieb. Sie be2

Siehe den seriösen Überblick in Lupton (2019).

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schaffen sich hierfür eines der mittlerweile günstig auf dem Markt angebotenen elektronischen Geräte, mit denen jeder Mann und jede Frau ohne spezielles Training den Blutdruck verhältnismäßig einfach selbst messen kann. Mit dem Smartphone oder einer Smartwatch alleine, wie etwa bei der Pulsmessung, ist dies bislang noch nicht möglich. Es bedarf eines Geräts, das mit einer aufblasbaren Manschette am Oberarm oder Handgelenk die feinen Druckschwankungen in der Manschette misst. Die erhebliche physiologische Variabilität des Parameters »Blutdruck« beim Menschen und die größere technische Herausforderung, ihn zu erheben – im Vergleich etwa zum Körpergewicht und auch zum Puls –, haben der Ausbreitung des Selbstmessens beim Blutdruck gewisse Grenzen gesetzt. Von ärztlicher Seite ist die Selbstmessung heute im Prinzip akzeptiert und wird – mit Vorbehalten – als nützlich betrachtet.3 Einige eher heterogene4 statistische Angaben deuten auf eine stetig zunehmende Verbreitung dieser Praxis hin. 1985 besaßen 3,9 Prozent der bundesrepublikanischen Haushalte ein Blutdruck-Messgerät. 1990 betrug die Marktsättigung 14,1 Prozent. 1989 wurde eine halbe Million dieser Geräte verkauft, zehn Jahre später etwa die doppelte Anzahl. 2012 wurden in Deutschland für 42 Millionen Euro Blutdruck-Selbstmessgeräte gekauft. Gemäß einer 2016 veröffentlichten Umfrage zur Nutzung von Fitness-Trackern maßen 31 Prozent der Gesamtbevölkerung und 60 Prozent der über 60-Jährigen ihren Blutdruck mit einem Messgerät. Kurt Schneider hatte bereits 1994 vermutet, dass das Blutdruck-Selbstmessgerät in Zukunft das »Flair des Fieberthermometers« annehmen würde.5 Die Wahl der Blutdruckmessung als Untersuchungsbeispiel für die Entwicklung von gesundheitsbezogenen Selbstmesspraktiken bietet heuristisch Vorteile. Sie hat einen spezifischeren medizinischen Charakter als etwa die Messung des Körpergewichts. Dennoch hat sie ein weiteres und weniger auf eine einzelne Krankheit oder spezifische Patientengruppe beschränktes Anwendungsfeld als etwa die Messung des Blutzuckers.6 Die Entwicklung zur alltäglichen Selbstmesspraktik zog sich – im Vergleich etwa zur Fiebermessung7 – über viele Jahrzehnte hin bis in die Gegenwart, so dass die einzelnen Schritte des Veralltäglichungsprozesses klarer herausgearbeitet werden können. 3 4 5

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Als aktuelles Beispiel für diese Akzeptanz siehe etwa Battegay u. a. (2017), als älteres Beispiel Gleichmann u. a. (1994). Der Weg zur ärztlich akzeptierten Selbstmessung war allerdings komplex. Die in der Literatur angegebenen Zahlen lassen viele Fragen offen, so dass sie eher impressionistisch verstanden werden sollten. Vgl. auch Gleichmann u. a. (1994), S. 17. Vgl. Schneider (1994), S. 26, 28, 109; Mengden/Kraft/Vetter (1998), S. A-2833; Martin/ Fangerau (2015), S. 32; https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/GemeinsamePresseinfo-von-Bitkom-und-BMJV-Fast-ein-Drittel-nutzt-Fitness-Tracker (letzter Zugriff: 8.2.2018). Vgl. hierzu Mol (2000), Wiedemann (2016) sowie die kommenden Publikationen von Aaron Pfaff, Stuttgart, Oliver Falk, Zürich, und Arleen Tuchman, Nashville. Zum Vergleich: Beim Fiebermessen war dieser Prozess von der rein ärztlichen Messung zur gleichzeitig veralltäglichten Selbstmessung nach wenigen Jahrzehnten, um die Wende zum 20.  Jahrhundert, weitgehend abgeschlossen. Vgl. Hess: Normierung der Eigenwärme (1997), S. 172.

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Fragestellungen Im vorliegenden Beitrag werden mehrere Ziele und Fragestellungen verfolgt. Er soll erstens zeigen, dass das »Quantified Self« nicht über Nacht und gleichzeitig mit dem Durchbruch einer digitalen Kultur über uns gekommen ist, sondern eine längere und komplexe Vorgeschichte, vor allem ab dem späten 19. Jahrhundert8, besitzt. So neu der Umfang und die technischen Möglichkeiten der digitalen Selbstmessung sowie der Darstellung der Daten, der Automatisierungsgrad der Gewinnung und Verarbeitung und zum Teil9 die Einbindung in die (digitale) soziale Interaktion sind, so sehr ist das Selbstmessen bereits eine typische Praxis der vordigitalen Moderne, die sich als Alltagsphänomen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ausgebreitet hat. Damals etablierte sich die Messung des Körpergewichts10 oder der Körpertemperatur mit dem Fieberthermometer11 im Alltag, um lediglich zwei prominente Beispiele zu nennen12 – ganz zu schweigen etwa von der Geschichte des Messens sportlicher Leistungen13 oder dem Kalorienzählen14. Die neuere, oft soziologischkulturwissenschaftliche Forschung über das Phänomen des »Quantified Self« zeichnet sich dagegen durch eine ausgesprochene Geschichtsvergessenheit aus.15 Bei der Interpretation von sozialen Phänomenen ist der Blick auf ihre Geschichte in der Regel aber hilfreich für deren tieferes Verständnis. Dieser Beitrag soll zweitens die Breite der vielfältigen historischen Prozesse nachzeichnen, die das heutige Phänomen des vielfachen und selbstverständlichen Selbstmessens erst ermöglicht oder befördert haben. Er soll zeigen, dass es nicht einfach die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung (vereinfacht »die Smartphones«) oder der Trend zu einer (so behaupteten) entgrenzten digitalen Überwachungs- oder Kontrollgesellschaft waren, die zur Ausbreitung von »Quantified Self«-Praktiken führten. Ich möchte zeigen, dass 8 9 10 11 12

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Das Phänomen der Selbstquantifizierung kann natürlich weiter in die Geschichte zurückverfolgt werden, doch nehmen die Unterschiede zu den hier untersuchten Messpraktiken zu. Siehe als ein solches Beispiel Maas (2016). Was heute als »Sharen« von digitalen Messdaten bezeichnet wird, fand etwa in Lungensanatorien analog in Form von Gesprächen im Sanatoriumsalltag, beim Essen, während der Liegekur, auf Spaziergängen statt. Vgl. Martin (1997). Vgl. neuerdings Bivins/Marland (2016). Hess (2000). Als Beispiel für die fließenden Übergänge zu anderen Praktiken der mehr oder weniger quantitativen Selbstdokumentation ließe sich der in den 1930er Jahren bei Frauen etablierte Menstruationskalender nennen. Vgl. hierzu, allerdings aus kontroll-, regulierungs- und normierungstheoretischer Perspektive, Schlünder (2005). Eichberg (1974). Siehe hierzu z. B. Mackert (2017). Die Autorin erwähnt darin ein im Jahre 1906 entwickeltes Kalorien-Errechnungsgerät für Ärzte und Sanatorien, mit dem die Kalorienaufnahme gemessen werden konnte. Die Möglichkeit des Selbstmessens war dabei immerhin denkbar. Vgl. Fisher (1906), insbesondere S. 431. In den letzten Jahren änderte sich dies etwas: vgl. Crawford u. a. (2015), Bivins/Marland (2016) sowie verschiedene historische Bezüge in Duttweiler u. a. (2016). Siehe auch die geplante Publikation zur von Fenneke Sysling organisierten Tagung »Histories of Measurement and Self-Making« an der Universität Utrecht, Juni 2017.

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es wichtig, aber nicht hinreichend, stattdessen eher vereinfachend ist, blutdruck-, blutzucker- oder blutfettsenkende Pharmazeutika (oder besser: die sie herstellenden umsatzinteressierten Pharmakonzerne und ihre Unterstützer) zu Hauptverantwortlichen für den Umstand zu machen, dass chronische gesundheitsgefährdende Zustände wie der Bluthochdruck massenhaft selbst oder durch ausgebildete Personen gemessen und dominant in Zahlenwerten gefasst werden und damit das Wesen von Gesundheit und Krankheit unumkehrbar verändert wurde.16 Das Beispiel der Geschichte der Blutdruck-Selbstmessung soll stattdessen die vielfältigen Bedingungen, Voraussetzungen und Entwicklungen zeigen, die notwendig oder hilfreich waren, um das Blutdruckmessen in dem Umfang zur veralltäglichten Selbstmesspraktik zu machen, die sie heute ist. In diesem Beitrag möchte ich anhand eines Einzelbeispiels drittens argumentieren, dass moderne Selbstmesstechniken nicht einfach nur Ausdruck eines zunehmenden neoliberalen Zwangs zur Selbstkontrolle und Selbst»optimierung«17 sind und sie unser eigenes Körperverständnis nicht einfach nur mechanistisch reduzieren. Das aktuelle Phänomen des »Quantified Self« erfreut sich unter solchen Deutungsperspektiven nämlich derzeit einer überaus großen Aufmerksamkeit in der (sich als kritisch verstehenden) Geisteswissenschaft wie auch in den Medien. Diese auch nur in Ansätzen darzustellen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Durch die Forschung und die Berichterstattung in den Feuilletons zieht sich ein skeptischkulturkritischer Unterton bei der Bewertung dieser Phänomene.18 Das zunehmende Selbstmessen führe demnach auf der Seite des Individuums nach kulturwissenschaftlicher Einschätzung derzeit in Richtung einer Konstruktion des Selbst, die sich in immer größerem Umfang auf gemessene Körperdaten, nicht zuletzt gesundheitsbezogener Natur, stützt. Stichwortartig werden, 16 Greene (2007), S. 239. Eher trifft dies auf die (umsatzstärkende) Senkung von Norm- und Schwellenwerten zu, um die es bei Greene auch geht. Siehe Greene (2007), S. XI, 225 und passim. Parallel zu meiner Argumentation vertritt Elliott (2015) auch die These, dass die »späte« bzw. »langsame« Einführung von Tabak-Restriktionen ab den 1960er Jahren nicht einfach nur auf den Einfluss der entsprechenden Industrie zurückzuführen ist. 17 Die Anführungsstriche sollen darauf hinweisen, dass es sich bei dem als »Selbstoptimierung« Bezeichneten in der Regel nicht um Optimierungen, sondern allenfalls Versuche der Verbesserung handelt. Vgl. Wolff (2016). 18 Als breit wahrgenommenes und besonders plakatives mediales Beispiel hierfür siehe Zeh (2012) sowie Selke (2014); teilweise auch Püschel (2015). Ein weiteres plastisches Beispiel für die vor allem in der deutschsprachigen Forschung die längste Zeit dominante Interpretation geben über weite Strecken Duttweiler/Passoth (2016) in ihrer Einleitung von Duttweiler u. a. (2016). Darin werden Praktiken des »Quantified Self« in der Regel aus der skandalisierenden Perspektive angenommener Problemzonen betrachtet: Selbstoptimierung, Kontrolle, Überwachung, Fremdsteuerung, Disziplinierung. Andere Perspektiven sind in zweiter Ebene sporadisch eingestreut (z. B. S. 15, 25), aber kaum in ein Gesamtkonzept eingebaut. Gegen Ende wird der kritische Grundgestus allerdings in ein völlig offenes Konzept aufgelöst, das im Gegensatz zum Anfang des Artikels steht. Passig (2013) hat diese kritische Herangehensweise an technische Innovationen aus der Außenperspektive analysiert (vor allem S. 85–101). Eine alternative Herangehensweise z. B. in Wolff: Bräker (2018).

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neben genereller Skepsis gegenüber technischen Innovationen, verschiedene als negativ betrachtete Entwicklungen befürchtet, etwa die Reduktion des Körperverständnisses auf Quantifizierbares mit einer entsprechenden »Dehumanisierung«, die Ausbreitung eines Imperativs der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung eines in Normalitätsvorstellungen gezwängten Körpers der heutigen Wettbewerbsgesellschaft, der Verlust von Privatheit und die Gefahr der Fremdkontrolle, Überwachung und Fremdführung der Individuen durch vorgegebene Idealvorstellungen, ein Einsatz mit dem Ziel der Kosteneinsparung etwa im Gesundheitswesen durch Verlagerung gemeinschaftlicher Aufgaben in die individuelle Verantwortung.19 Auch am Beispiel der hier fraglichen Blutdruck-Selbstmessung wurde diese Deutungsperspektive eingenommen, insbesondere von Michael Martin und Heiner Fangerau.20 Die Autoren schätzen die technische Selbstkontrolle als »janusköpfig und vielleicht sogar trügerisch« ein. Die Autonomie der propagierten Selbstmessung des Blutdrucks sei »im vollen Umfang« nur eine »scheinbare Autonomie«, eine »gesteuerte Illusion«. Die Indikationsausweitung für Hypertonie sei Teil einer »permanenten Ausweitung medizinischer Interventionen« und des Projekts einer »totalen Medikalisierung der Gesellschaft«. Mess- bzw. Selbstmesspraktiken setzten die Messenden mit ihren quantitativen Normwerten unter »Handlungsdruck«, sich in unserer Konkurrenzgesellschaft selbst zu optimieren. Untereinander verflochtene Verfechter der Selbstmessung wie Ärzte, Krankenkassen und »Gesundheitspolitik« propagierten die Selbstmessung als »moralische Verpflichtung« mit dem Ziel, den Messenden die Eigenverantwortung für die Gesundheit zu übergeben. Ziel des vorliegenden Beitrages will nicht sein, diese Argumentationen zu widerlegen, sondern ihrer skandalisierenden Engführung und der Zwangsläufigkeit eine etwas offenere Interpretation entgegenzusetzen, die diese Praxis der Selbstmessung als etwas versteht, das sich mit und in der Moderne bzw. deren Vorstellungen von Gesundheit und Körper entwickelt hat. Damit wird die Offenheit des historischen Wandels gegenüber teleologischen Modellen – von Niedergang oder Erlösung – angemessener erfasst. Dieses Vorhaben soll in zwei Kapiteln angegangen werden, welche den Charakter von Tiefenbohrungen haben. Das erste zeigt die Ausbreitung des Blutdruck-Selbstmessens als langsamen, vor allem graduellen Prozess kleiner Schritte hin zu einer Messpraxis mit einer relativ höheren Patientenautonomie. Das zweite verlegt den Schwerpunkt von angenommenen Wirkungen dieser Praxis auf die Frage, inwieweit die Ausbreitung des Blutdruck-Selbstmessens Ausdruck einer Reihe ganz zentraler Entwicklungen in der Medizin des 20. Jahrhunderts ist. 19 Vgl. z. B. Selke (2014). Die anwendungsorientierte Gesundheitsforschung dagegen deutet diese Selbstmesspraktiken zumeist diametral anders als die kritische kulturwissenschaftliche Forschung. Hier stellen sie in der Regel Wege zu einem präventiven Gesundheitsverhalten dar und werden als gesundheitsdidaktisches Instrument eines »Empowerment« positiv bewertet. 20 Martin/Fangerau (2015), im Folgenden S. 38–41. An anderen Beispielen differenzierter in Martin/Fangerau (2018).

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Das graduelle Entstehen des Blutdruckmessens als Selbstmesstechnik Das Selbstmessen des Blutdrucks ist heute eine weitverbreitete und selbstverständliche gesundheitsbezogene Praxis bei realen oder potentiellen Patientinnen und Patienten von Bluthochdruck. Der Weg dorthin war indessen komplex, abgestuft und hat sich über viele Jahrzehnte vor allem des 20. Jahrhunderts erstreckt. Er ist, im Gegensatz zur Blutdruckmessung generell, erst in Ansätzen untersucht und dargestellt worden.21 Die Anfänge liegen weit entfernt von einer Selbstmesspraktik. Invasive, »blutige« Messungen des Blutdrucks an Tieren gehen auf physiologische Forschungen der Frühen Neuzeit zurück. Bereits seit dem frühen 19.  Jahrhundert wurden Techniken zur unblutigen Blutdruckmessung entwickelt.22 Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein wurde der Blutdruck vor allem in Labors als Teil physiologischer Forschungen gemessen. Erst danach entwickelte er sich zum klinischen und später allgemeinen Indikator ärztlicher Diagnostik. Die bis heute oft angewandte klassische Messmethode des Blutdrucks mit Staumanschette am Oberarm, analoger Druckanzeige und Stethoskop zum Abhören der Fließgeräusche des Bluts ist eine Verbindung von vor allem drei Entwicklungen der Messtechnik um die Wende zum 20.  Jahrhundert.23 Es ist zum einen die Bestimmung des Wertes durch Stauung des Blutflusses und Messung, wie viel Druck (in Millimetern Quecksilbersäule »mm Hg«) von außen notwendig ist, um den Pulsschlag der Arteria radialis zum Verschwinden zu bringen, bzw. die Messung, bei welchem Wert der gestaute Puls wieder erscheint, wenn die Stauung gelöst wird. Dieses Vorgehen ist mit dem Namen des österreichischen Physiologen Samuel von Basch (1837–1905) verbunden, der an vorderster Stelle 1880 in Berlin entsprechende klinisch nutzbare Instrumente entwickelte. Der Wert wurde damals ermittelt, indem der wiederkehrende Puls mit dem Finger auf der Arterie erfühlt wurde. Hiermit konnte lediglich der systolische Blutdruck gemessen werden, der höchste Druckwert im Pumpvorgang des Blutkreislaufs. Der italienische Arzt Scipione Riva Rocci (1863–1937) entwickelte zum Zweiten für die Stauung eine aufblasbare Armmanschette aus Gummi (1896 zuerst vorgestellt), die wesentlich praktikabler für die Messung war. Die dritte technische Innovation war die akustische Bestimmung des Blutdrucks mit dem Stethoskop über die Fließgeräusche des Blutes. Die sogenannten Korotkoff-Geräusche wurden von dem russischen Arzt Nikolai Sergejewitsch Korotkoff (1874–1920) 1905 erstmals beschrieben und ermöglichten die Bestimmung des systolischen wie auch des diastolischen Blutdrucks (des niedrigsten Druckwerts im Pumpvorgang des Blutkreislaufs) durch Abhören zweier typischer Geräusche des Blutflusses beim Sinken des 21 Ausnahmen bilden etwa Fangerau/Martin (2014) oder Schneider (1994). 22 Vereinzelt wurde das qualitative Pulsnehmen und die Ermittlung eines »harten« oder »weichen« Pulses als Vorform der Blutdruckmessung bezeichnet. Siehe z. B. Schneider (1994), S. 143. 23 Vgl. zum Folgenden z. B. Fangerau/Martin (2014), S. 81 ff.; Eckert (2006); Timmermann (2011); Evans (1993); Crenner (1998). Als kurze medizinische Zusammenfassung etwa Gnädinger u. a. (2016).

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Staudrucks mit dem Stethoskop. Erst in der digitalen Ära wurde die akustische Messung bei den neueren automatischen Messgeräten durch eine oszillatorische Messtechnik ersetzt.24 Als diagnostische Alltagspraxis in Kliniken und Arztpraxen breitete sich die Blutdruckmessung mit ihren neuen Techniken ab Beginn des 20. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen zuerst in den USA aus. Der Chirurg und Neurologe Harvey Cushing (1869–1939) brachte die Technik aus Europa mit und etablierte sie zunächst am Johns Hopkins Hospital, später an der Harvard Medical School. Nach etwa 1910 wurde die Blutdruckmessung  – ebenfalls zunächst vor allem in den USA – in den Kliniken eingeführt.25 Es folgte die zunehmende Verbreitung in ärztlichen Praxen. Einen großen Einfluss auf die Verbreitung und die Etablierung als medizinische Standard-Untersuchung hatten auch USamerikanische Lebensversicherungsgesellschaften, die eine Blutdruckmessung in der Eingangsuntersuchung zur Einschätzung des Gesundheitszustands des potentiellen Versicherten forderten, nachdem eine statistische Korrelation zwischen erhöhtem Blutdruck und verringerter Lebenserwartung erkannt worden war. Die ersten Nachweise hierfür gehen bereits auf das Jahr 1907 zurück, in den 1920er Jahren hatte sich die Praxis allgemein durchgesetzt.26 Vor diesem Hintergrund einer professionell-medizinischen Diagnosetechnik entwickelte sich das Selbstmessen in einem über viele Jahrzehnte und bis heute ablaufenden komplizierten, hochgradig abgestuften Prozess. Oberflächlich betrachtet ist eine Selbstmessung (z. B. des Blutdrucks) ganz einfach eine Messung, die von der gemessenen Person selber durchgeführt wird. Bei genauerem Hinsehen teilt sich der Gesamtvorgang aber in verschiedene Teile auf, die mehr oder weniger »selbst« durchgeführt werden können. Daraus abgeleitet kann nach folgenden Fragen unterschieden werden: – –

– –

Von wem stammt die Initiative, Anregung oder Motivation für das Messen? Wie weit ist eine von einem Arzt angeregte, aber von Patienten durchgeführte Messung überhaupt eine Selbstmessung? Wer führt den praktischen Akt des Messens durch? Die gemessene Person selbst? Inwieweit ist eine Messung durch Familienangehörige dann schon eine »Fremdmessung«? Ist eine von einem Patienten, z. B. in einer Apotheke, in Auftrag gegebene Messung eine Selbstmessung oder nicht? Gehört zur Selbstmessung neben dem Erheben der Werte auch die eigenständige Registrierung der Ergebnisse und deren Verbleiben bei der zu messenden Person selbst? Gehört zur Selbstmessung auch die Einschätzung der erhobenen Werte, und mehr noch: ein »Selbst-Wissen« bzw. Bewusstsein für die Bedeutung des Selbst-Wissens?

24 Technische Details hierzu bei Stübner (1994), S. 26–28. 25 Evans (1993), S. 784. 26 Schneider (1994), S. 149; Greene (2007), S. 55, 258. Das Jahr 1907 hingegen nennt u. a. Czerniawski (2007), S. 293. Siehe auch Porter (2010), S. 73.

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Diese Fragen können nicht sinnvoll dazu dienen, eine scharfe Grenze um das Phänomen »Selbstmessung« zu ziehen. Sie können aber helfen, die zeitliche Entwicklung des Phänomens des Blutdruck-Selbstmessens als graduellen Prozess von einem »Weniger« zu einem »Mehr« genauer nachzuzeichnen. Diese Herausbildung des Blutdruck-Selbstmessens stellt sich vor allem vor dem Hintergrund dreier Entwicklungsachsen dar: erstens der Automatisierung des Messens, zweitens einer partiellen Deprofessionalisierung der den Blutdruck messenden und später auch der die Werte interpretierenden Personengruppe sowie drittens einer räumlichen Erweiterung des Ortes, an dem die Messung durchgeführt wurde, aus dem professionellen Umfeld heraus über den öffentlichen Raum in Richtung der privaten Lebenswelt des Gemessenen – ein räumlicher Prozess, der bei der Etablierung der Körperwaage ähnlich ablief.27 Entwickelt wurde die Blutdruckmessung – ähnlich der Messung der Körpertemperatur – als ausschließlich ärztlich-professionelles Messverfahren. In der Anfangszeit war ein Teil der ärztlichen Protagonisten und frühen Anwender dieser Praxis auch darauf bedacht, dass sie ausschließlich durch Ärzte und nicht durch sonstiges medizinisches Personal angewandt wurde.28 Die Verbindung mit dem Stethoskop, das damals noch ein rein ärztliches Instrument war, unterstützte die ärztliche Exklusivität der Blutdruckmessung.29 Ein erster Schritt zur Auflösung dieses Systems bestand darin, dass nicht mehr nur die Ärzte selbst, sondern nichtärztliches medizinisches Personal die Blutdruckmessung im Auftrag der Ärzte durchführte. Die Praxis verlor damit an akademisch-professioneller Exklusivität, welche das Selbstmessen zuvor am kategorischsten ausgeschlossen hatte. Die Frage, wann das Blutdruckmessen in welchem Umfang in die Hände des nichtärztlichen medizinischen Personals wanderte, wird von der vorliegenden Literatur nicht beantwortet. In den 1960er Jahren war in den USA zumindest die Messung durch Pflegepersonal üblich.30 Der Übergang fiel zusammen mit einer zunehmenden Standardisierung der Messpraxis, die sich erst in der zweiten Jahrhunderthälfte durchsetzte. Gleichzeitig war es die Blutdruckmessung, die das Stethoskop zum Arbeitsgerät auch des Pflegepersonals machte, wobei in den USA eigene, optisch unterscheidbare Instrumente für das nichtärztliche Personal angeboten und verwendet wurden. Das früheste bekannte Beispiel, bei dem die Gemessenen ihre Blutdruckwerte selber erhoben, wurde 1930 von einem Arzt der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, publiziert.31 Die Werte wurden allerdings nicht für individuell 27 Vgl. Bivins/Marland (2016). Mit dem Aufkommen des Internets und dem Teilen eigener Gesundheitsdaten z. B. über soziale Netzwerke erhielt die private Selbstmessung danach wieder eine neue Form relativer Öffentlichkeit. 28 So z. B. Samuel von Basch. Vgl. Fangerau/Martin (2014); Crenner (1998), S. 488. Nicht so allerdings Harvey Cushing. Vgl. Crenner (1998), S. 489. 29 Crenner (1998), S. 492. Heute ist das Stethoskop zwar kein rein ärztliches Arbeitsinstrument mehr, dafür aber immerhin noch ein Symbol für beruflich ausgeübte Medizin. 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Crenner (1998), S. 492. 31 Brown (1930); siehe auch Eckert (2006); Schneider (1994), S. 33.

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diagnostische Zwecke, sondern für die Forschung über situative Blutdruckschwankungen aufgenommen. Dabei ist besonders auffällig, in welchem Umfang die Selbstmessung (noch) eine seltene Ausnahme darstellte. Es handelte sich um einen 25-jährigen Patienten der Klinik, bei dem Bluthochdruck diagnostiziert worden war und der nach den Konsultationen dort offenbar selbst zu der Ansicht gekommen war, »that data on the subject could be secured by him taking his own readings of blood pressure«.32 Der Autor der publizierten Studie macht die Vorsicht sehr deutlich, mit welcher dem Patienten die Verantwortung für das Messen übertragen worden war. Die Ärzte akzeptierten die »intelligent challenge« des Selbstmessens erst nach gebührender Abwägung (»due consideration«), und der Patient wurde in der Technik »fully instructed«. Zur eigenen Legitimation bezeichnete der Autor den Patienten als »intelligent male«. Ab 1926 maß der Patient seinen Blutdruck über drei Jahre hinweg dreimal täglich selbst, an manchen Sonntagen auch im Ein- oder Zwei-Stunden-Takt. Insgesamt nahmen acht solcher Patienten an der Studie teil.33 Das Beispiel belegt damit deutlich, dass das Selbstmessen des Blutdrucks zu diesem Zeitpunkt in Einzelfällen denkbar und technisch möglich war, aber dass es eine sehr seltene Ausnahme darstellte. Es ging zumindest mittelbar auf die Initiative eines Patienten zurück. Die Ziele der Messungen und die Deutung der Messwerte verblieben aber noch weitgehend im professionellen Umfeld. Im Jahre 1940 wurde in den USA eine Studie veröffentlicht, für die Ähnliches gilt. 34 Bluthochdruck-Patienten einer Klinik in Chicago maßen über etwa zwei Jahre hinweg ihren Blutdruck zu Hause selbst oder ließen ihn durch ein Familienmitglied messen.34 Ziel der Studie war der Vergleich zwischen den Blutdruckwerten in der Klinik und in ihrem normalen heimischen Alltag. Die Selbstmessung wurde hier ebenfalls noch als Ausnahme betrachtet. Dieses Vorgehen sei für gelegentliche Forschungszwecke gedacht und »not for the purpose of having the 1,000,000 or more hypertensives in the United States secure blood pressure machines or of having the method adopted for general office use«.35 In diesem Beispiel war die vereinzelte Selbstmessung im Rahmen einer Studie bereits als Normalität akzeptiert. Eine massenhaft veralltäglichte Selbstmessung konnte bereits imaginiert, aber noch nicht als realistisch oder wünschenswert eingeschätzt werden. Diese hätte auch sicher nicht mehr primär der Forschung gedient, sondern der individuellen Diagnostik. Sie von den Patienten selber regelmäßig durchführen zu lassen, konnten sich die Studienautoren offensichtlich noch nicht vorstellen. Öffentliche Blutdruckmessungen auf Gesundheitsausstellungen, wie sie Sybilla Nikolow36 in der »Halle der Selbsterkenntnis« der NS-PropagandaAusstellung »Gesundes Leben – frohes Schaffen« in Berlin 1938 beschrieben 32 Brown (1930), S. 1177. 33 Aus Platzgründen wurde aber nur einer von ihnen in der Publikation vorgestellt. Brown (1930), S. 1178. 34 Ayman/Goldshine (1940). 35 Ayman/Goldshine (1940), S. 473. 36 Nikolow: Erkenne und prüfe (2015) bietet eine genaue Analyse des ideologischen Hintergrunds der Ausstellung und speziell der »Halle der Selbsterkenntnis« unter dem Stich-

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hat, dürften ebenfalls damals noch eine Ausnahme gewesen sein. Die Messung des Blutdrucks war in Berlin 1938 Teil eines ganzen Mess-Ensembles, zu dem auch Körpergröße, Gewicht, Puls, Atemvermögen, Kraft, Reaktionszeit und das Sehvermögen zählten. Die Werte wurden, teils automatisch, auf eine »Leistungskarte« bzw. einen »Gesundheitssteckbrief« eingetragen, welche die Besucher mit nach Hause nehmen konnten. Die Blutdruckmessungen wurden von »Fachpersonal« durchgeführt und waren im strengen Sinne keine Selbstmessungen (im Gegensatz etwa zu den dortigen Gewichts-, Kraft- oder Ermüdungsmessungen). Aber sie stellten einen ersten räumlichen Schritt aus dem Klinik- bzw. Praxisumfeld des Blutdruckmessens heraus in einen nur noch halbmedizinischen Übergangsraum dar. Dem Namen der AusstellungsAbteilung nach sollten die Messungen mit ihrem Angebotscharakter zudem »Selbsterkenntnis« fördern, also nicht nur ein Interesse an und eine freiwillige Nachfrage nach dieser Körperdiagnostik stimulieren, sondern, insbesondere mit der nach Hause zu nehmenden Messkarte und ihren Werten, ein Wissen über sich selbst generieren. Solche öffentlichen Messungen ziehen sich durch die folgenden Jahrzehnte kontinuierlich bis in die Gegenwart, wo sie unter Namen wie »Gesundheits-Checks« oder Ähnlichem firmieren und – neben allgemeinen Werbezwecken – Bewusstseinsbildung für den quantitativen Zugang zum eigenen Gesundheitszustand zu wecken versuchen und damit Arbeit am quantitativen »Selbst« ermöglichen wollen. In den 1960er Jahren wurde in Deutschland ein erstes Gerät für ein sogenanntes ambulantes Blutdruck-Monitoring (ABDM) für 24-Stunden-Messreihen entwickelt und eingesetzt.37 Diese Geräte verbleiben nur während des Messzeitraums bei den Gemessenen. Die Automatisierung des Messvorgangs, bei dem die Werte nicht mehr mit dem Stethoskop ermittelt werden mussten, sondern das Gerät selbst die jeweiligen Werte maß und als Zahl darstellte sowie ggf. speicherte und die Manschette von selbst elektrisch aufpumpte, bereitete hierfür den technischen Boden. Bei kontinuierlich steigendem Automatisierungsgrad finden die ABDM-Geräte bis heute Verwendung.38 Auch mit diesen Apparaten praktizieren die Patienten in einem engen, praktischen Sinn keine Selbstmessung, da die neueren Varianten vom Patienten kaum mehr Aktivität als das »An-sich-Tragen« verlangen, den Akt des Messens und das Registrieren der erhobenen Werte automatisch durchführen und das Auslesen der Ergebnisse sowie deren Interpretation prinzipiell ganz im ärztlich-professionellen Bereich verbleiben. Zumindest aber verschob sich mit den ABDMGeräten der professionelle Ort des Messens ein kleines Stück vom Arztberuf und seinem Umfeld weg. Und der räumliche Ort des Messens bewegte sich deutlicher in den privaten Alltagsraum der Patienten hinein. wort der (militärischen) Leistungsfähigkeit und im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitsführung. 37 Eckert (2006), S. 11; Middeke u. a. (1992), vor allem zur Technik-Entwicklung, S. 10 ff. 38 Das ABDM ist heute in der Regel selbstverständlicher Teil einer ärztlichen HypertonieUntersuchung. Vgl. z. B. Battegay u. a. (2017). In den ersten Jahrzehnten waren die ärztlichen Vorbehalte dagegen zum Teil noch bedeutend. Vgl. Schneider (1994), S. 58.

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Ebenfalls in den frühen 1960er Jahren brachte die deutsche Firma Boso ein erstes Messgerät auf den Markt, das speziell für Selbstmessungen gedacht war. Technisch unterschied es sich von den klassischen Geräten lediglich darin, dass die zwei sonst getrennten Instrumente Manschette/Druckpumpe/ Druckanzeige auf der einen Seite und das herkömmliche Stethoskop mit Ohrbügel und (Mess-)Kopf auf der anderen Seite zu einem Gerät (aber mit weiterhin getrennten Funktionen) zusammengefügt waren. Es stellte technisch also keine nennenswerte Neuerung dar, war aber explizit für die Selbstmessung konzipiert worden, was sich im späteren Namen »Boso Egotest« spiegelte. Das Produkt kam als »Versuchsballon« aufgrund der Nachfrage von Benutzern auf den Markt.39 Diese bestand also offensichtlich bereits, als noch keine speziellen Selbstmessgeräte auf dem Markt waren. Einen weiteren, ebenfalls nicht nur räumlichen Schritt aus dem professionell-ärztlichen Umfeld machten Angebote von Apotheken zur Blutdruckmessung, die in den 1970er Jahren eingeführt wurden und juristische Auseinandersetzungen um die Frage des ärztlichen Behandlungsmonopols nach sich zogen.40 Hier führte in der Regel das Apothekenpersonal die Messung durch. Automatische münzbetriebene Blutdruck-Messstationen, die den Kriterien der Selbstmessung weiter entgegengekommen wären, waren für Deutschland zumindest geplant, in den USA gab es sie Ende der 1970er Jahre etwa in Apotheken, Einkaufszentren und Kaufhäusern.41 Diese öffentlichen Messangebote dürften (ähnlich dem älteren Beispiel öffentlicher Personenwaagen) in jedem Fall Übergangsorte der Blutdruckmessung auf dem Weg in das private Umfeld und eine individuellere Motivation darstellen. Je nachdem, ob die Messung vom Apothekenpersonal oder automatisch durchgeführt wurde, war der Schritt aus der ärztlich-professionellen Exklusivität der Blutdruckmessung unterschiedlich groß. Blutdruckmessungen in Apotheken waren in jedem Fall aber weniger eng mit einem festen, ärztlich verordneten Beobachtungsplan verbunden, für den die Patienten eher in die Arztpraxis gegangen wären. Messungen an öffentlichen Orten wie Apotheken dürften so eher der Eigeninitiative der Patienten entsprungen und in diesem Sinne eher als »Selbstmessungen« zu verstehen sein. Auch wenn das Apothekenpersonal die Ergebnisse sicherlich interpretierte, konnten die Gemessenen die Werte doch in der Regel schriftlich dokumentiert mit nach Hause nehmen und im Weiteren selbst über sie verfügen. Dies war in der Arztpraxis nicht selbstverständlich.

39 Stübner (1994), S. 21. 40 Vgl. Martin (2013); Sewering (1979), hier S. 1082. Siehe auch Schneider (1994), S. 34, 60. Die Schweizerische Apothekerzeitung 112 (1974), S.  108b, berichtete etwa über diesen »neuen« Dienst am Kunden und meinte skeptisch, dass »solche Messungen aus eigener Initiative oder auf Verlangen des Kunden ohne Rücksprache mit dem Arzt […] als eine falsche Auslegung der neuen, präventionsaktiven Aufgaben des Apothekers zu betrachten« seien. Ich danke Frau Ursula Hirter vom Pharmaziehistorischen Museum der Universität Basel herzlich für den Hinweis auf diese Meldung. 41 Blutdruckmessung im Warenhaus. In: Der Spiegel H. 39 (1979), S. 280; Fangerau/Martin (2014), S. 88.

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Den größten Schritt zur Selbstmessung in einem umfassenderen Sinn bedeutete dann die Markteinführung von automatisierten Blutdruckmessgeräten für den Hausgebrauch, deren erste Modelle in den späten 1970er Jahren auf den Markt kamen und die nach einigen technischen Schwierigkeiten gegen Ende der 1980er Jahre zum Massenprodukt avancierten.42 Der Messvorgang brauchte kein Stethoskop und keine Schulung für das Erheben der Werte mehr. Die Nutzenden konnten die zahlenmäßigen Ergebnisse ihrer Selbstmessung direkt am Gerät ablesen. Schritt für Schritt waren so im Verlauf des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts relativ einfache, funktionale und bezahlbare Geräte verfügbar geworden.43 Mit diesen Geräten war erstmals eine Selbstmessung des Blutdrucks, die allen Kriterien des Selbstmessens entsprach, auf eine zumindest einigermaßen praktikable Art möglich. Die Praxis löste sich so ein weiteres Stück aus dem professionell-medizinischen Kontext und aus dem medizinisch-professionellen Raum. Im Gegensatz zu den automatisierten ABDM-Geräten für 24-StundenMessungen führten die Gemessenen die Messung selbst aktiv durch. Die Werte wurden von den Gemessenen selbst (zumindest per einzelnem Knopfdruck) – und nicht automatisiert – erhoben und ausgelesen, die Ergebnisse waren ihnen damit unmittelbar bekannt, und sie konnten auch bei ihnen verbleiben. Die Geräte waren nun auch erstmals in der Regel von den Messenden in einem eigenständigen Akt erworben worden und Eigentum der Gemessenen. Sie ließen die Patienten dabei auch deutlich autonomer agieren. Sie konnten über Zeit und Umfang der Messungen freier bestimmen und entscheiden, welche Werte sie als in ihren Augen »richtige« Messungen übernahmen und welche sie verwarfen. Diese Selbstmessungen dürften aber – je früher, desto mehr – immer noch häufig ins professionelle Medizinsystem eingebunden gewesen sein, indem sie vom Arzt empfohlen waren und einer ärztlichen Behandlung oder Betreuung zuarbeiteten. Schneider hat jedoch bereits in seinen Untersuchungen aus den 1990er Jahren festgestellt, dass die Messenden ihren Spielraum an Autonomie durchaus nutzten, wenn es um Zeit, Anlass und Häufigkeit des Messens und das Interpretieren der Messergebnisse ging. Die Messenden orientierten sich dabei oft nicht am vorgegebenen Schema, sondern »eigenmächtig« an »subjektiven Sinnstrukturen und Zweckmäßigkeitsvorstellungen«. Zum Teil passten sie ihre Medikation auch eigenständig an ihre selbst gemessenen Werte an.44 Überhaupt kämen, so Schneider, selbst ärztlich verordnete Messungen »nie ohne ein gewisses Maß an Selbstbezogenheit der Patienten aus«.45 Der »Präventionstyp«, der sich das Blutdruck-Selbstmessgerät nicht parallel zu einer Therapie, sondern aus Gründen der Gesundheitsvorsorge anschaffe, gewinne

42 Schneider (1994), S. 35, 39, 45. 43 Günstige Geräte unterschritten schon Anfang der 1990er Jahre die 100-DM-Grenze. Schneider (1994), S. 38, zu den Vertriebskanälen siehe auch S. 39. 44 Schneider (1994), S. 54 f., 57, 98–100. 45 Schneider (1994), S. 79–81, Zitat S. 81.

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an Bedeutung.46 Eine Umfrage von 1993 unter Anwendern hatte ergeben, dass Eigeninitiative der Hauptgrund für die Anschaffung eines Selbstmessgeräts war.47 Gemäß einer nicht weiter belegten Aussage wurden 2006 80 Prozent der ganzen Million verkaufter Blutdruck-Selbstmessgeräte »von den Anwendern aus eigener Initiative erworben«.48 Blutdruckmessungen im Rahmen der sogenannten »Telemedizin« (genauer: »Telemonitoring«), die sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten etablierte, stellen aus der Perspektive der Selbstmessgeräte im Grunde wiederum eine Stufe des Selbstmessens mit geringerem Eigenanteil des Gemessenen dar. Beim Telemonitoring verwenden chronisch kranke Personen, die z. B. an Herzinsuffizienz oder Hypertonie leiden, zu Hause spezielle Leihgeräte, welche Körperdaten wie Blutdruck, Puls, Gewicht, teilweise EKGs möglichst automatisch erheben und auf elektronischem Weg in ein Daten-Empfangszentrum übertragen, wo sie professionell ausgewertet werden. Der aktive Anteil der gemessenen Personen selbst ist dabei je nach Technik unterschiedlich groß. Telemonitoring-Praktiken sind also nur in einem geringeren Umfang Selbstmessungen. Der Eigenanteil der Messenden ist zunächst eher durch die technisch begrenzten Möglichkeiten verursacht, nicht durch den Wunsch nach Patienten-Beteiligung. Es sind zwar Messungen im eigenen Heim, und sie werden praktisch von den Patienten alleine gestartet, sie sind aber eindeutig durch eine ärztliche Verordnung initiiert, werden mit Leihgeräten praktiziert, und im Grundsatz werden die Messergebnisse auf elektronischem Weg umgehend in das professionell-medizinische Umfeld verbracht49 und dort interpretiert. Ziel des Telemonitorings ist zunächst kaum der autonome Umgang von Patienten mit ihren Körperdaten.50 Es ist vielmehr ein Weg des (kostensparenden) Monitorings von z. B. mobilitätseingeschränkten Patienten aus der Ferne. Ein autonomerer Umgang mit eigenen Körperdaten kann dabei natürlich gleichwohl eine Folge sein.51 Der Übergang von einer anfänglich fremdgeführten Messung der Körperdaten zu nach und nach autonomeren Messpraktiken kann sogar von den Telemedizin-Zentren intendiert sein.52 Heutige Blutdruck-Apps in Smartphones schließlich stellen keinen bedeutenden Schritt in Richtung einer höheren Autonomie des Selbstmessens dar  – im Vergleich zum reinen Messen mit Selbstmessgeräten. Sie ersetzen diese nicht, machen das Selbstmessen mit diesen Geräten lediglich graduell einfacher und bequemer, indem sie die Messdaten eigenständig und ohne 46 47 48 49

Schneider (1994), S. 27. Krecke/Lütkes/Maiwald (1994), S. 34. Eckert (2006), S. 10. Die Formulierung, dass den Patienten die Werte dabei »entzogen« werden, erscheint mir zu stark. Fangerau/Martin (2014), S. 89 f. 50 Mathar (2010), S. 192, gibt ein entsprechendes Beispiel eines Patienten, der die Notizen seiner Körperwerte gleich nach der Weitergabe an das Telemedizin-Zentrum wegwarf. 51 So gibt Mathar (2010) Beispiele von Patienten, die eine aktive und interessierte Rolle in diesem Procedere suchen und zum Beispiel selber Tabellen ihrer Messwerte erstellen. Mathar (2010), S. 198–200, siehe auch S. 178–181. 52 Mathar (2010), S. 192.

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nennenswerte Grenzen speichern, aufbereiten, mit anderen Messdaten verbinden und sie einfacher exportieren. Die Praxis des Blutdruck-Selbstmessens ist somit bei genauerer Betrachtung kein absolutes, sondern ein graduell auftretendes Phänomen. Sie führt zu einem jeweils sehr unterschiedlichen Maß an Autonomie, das sich aus verschiedenen Sektoren zusammensetzt, die einen unterschiedlichen Grad der Mess-Autonomie oder -Heteronomie darstellen. Ähnliches hat Michael Martin bereits für die Messung der Körpertemperatur herausgearbeitet.53 Bereits vor der Einführung der heute üblichen Selbstmessgeräte gab es Messungen, die von den Gemessenen selbst, mit eigenständiger Motivation und einem Bewusstsein für die Messwerte durchgeführt wurden. Die Selbstmessgeräte ab den 1970er Jahren bewirkten allenfalls eine beschleunigte Ausbreitung dieser Praxis. Nach der Einführung von Selbstmessgeräten war die Autonomie des Selbstmessens aber nicht zwangsläufig absolut, vor allem was die Motivation zur Messung und die Dokumentation und Interpretation der Messwerte betraf, die oft zumindest teilweise im professionellen Bereich verblieben. Die Veralltäglichung der Blutdruck-Selbstmessung als Ausdruck zentraler Entwicklungen von Medizin und Gesundheit im 20. Jahrhundert Die zweite Tiefenbohrung dieses Artikels betrifft die Frage, inwieweit die Ausbreitung des Blutdruck-Selbstmessens eingebettet ist in größere Entwicklungen der Medizin des 20. Jahrhunderts. Damit setzt dieser Text ganz bewusst ein Gegengewicht gegen (oft nicht historische) Forschungen, die in der Regel auf die Wirkungen von Technik (z. B. der Digitalisierung) auf die Menschen und ihre Körper fokussieren und damit ein Bild befördern, als ob Technik lediglich von außen auf den Menschen einwirkt  – oder als Instrument verwendet wird, um auf das Denken und Handeln von Menschen einzuwirken. Dieser Ansatz geht häufig einher mit einer kulturkritischen, teils skandalisierenden Perspektive auf das Phänomen. Mein Gegenbild wird stattdessen am gegebenen Beispiel darauf fokussieren, wie Technik und ihre Nutzung, eingebettet in komplexe historische Prozesse, mit den Menschen entstanden ist. Dies geschieht nicht, um das Phänomen affirmativ zu bewerten, sondern um einen weiteren Blickwinkel anzuwenden. 53 In Sanatorien der Wende zum 20. Jahrhundert konnte das Fiebermessen durch das professionelle Personal, aber auch durch die Patienten veranlasst sein. Lungensanatorien sahen regelmäßige Messzeiten vor, aber manche »Messfanatiker«-Patienten maßen ihre Temperatur häufiger. Weiterhin machte es einen graduellen Unterschied, ob die Patienten die Messergebnisse erfuhren, eine Interpretation dieser Werte erhielten oder diese sogar selbst interpretieren konnten, und wer die Werte auf welche Weise festhielt. Auch der Besitz des Gerätes durch den Patienten bedeutete einen Schritt zu einer autonomeren Form der Messung, wie etwa in Sanatorien des späten 19. Jahrhunderts, in denen Patienten ein Fieberthermometer selbst erwerben mussten. Martin (1997), insbes. S. 149, 152, 156.

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Es wäre zu schematisch gedacht, diese Prozesse als »Voraussetzungen« oder »Bedingungen« für die Veralltäglichung des Blutdruck-Selbstmessens zu bezeichnen. Eher haben sie diese Praktik(en) zwischen »ermöglicht« und »befördert«. In jedem Fall sind sie eng miteinander verbunden, bilden zusammen ein Ganzes, und heutige (gesundheitliche) Selbstmesspraktiken wären ohne sie nur schwer in ihrer Verbreitung denkbar. Dies soll weitere Hinweise liefern, dass es nicht einfach nur die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung oder der Trend zu einer (so behaupteten) entgrenzten digitalen Überwachungs- oder Kontrollgesellschaft waren, die zur Ausbreitung von »Quantified Self«-Praktiken führten, sondern komplexe und tiefgreifende historische Prozesse – die zum Teil bereits lange vor den neueren Digitalisierungsschüben abgelaufen waren. Es geht im Folgenden um beispielhafte Faktoren. Sie decken einige konstitutive Bereiche einer Gesamtgeschichte der Medizin des 20. Jahrhunderts ab und können deshalb allenfalls kursorisch abgehandelt werden. Die Verankerung von technisierter Medizin im Alltag Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Medizin des 20. Jahrhunderts durch eine starke Technisierung des medizinischen Alltags auszeichnet.54 Die Praxis des Blutdruck-Selbstmessens wurde allerdings dadurch ermöglicht oder befördert, dass sich die Verwendung von Technologie auch im medizinischen Alltag der Patientinnen und Patienten verankerte. Das bedeutet nicht nur, dass sie an ihnen angewandt wurde, wie etwa beim Parade-Beispiel der Röntgen-Diagnose, sondern dass die Menschen sie auch selbst und eigenaktiv verwendeten, ganz besonders bei messenden, diagnostischen Verfahren. Für das Fieberthermometer hat Volker Hess herausgearbeitet, wie es um die Jahrhundertwende relativ zügig in den Alltag, vor allem der Mittelschicht, integriert wurde. Roberta Bivins und Hilary Marland haben am britischen Beispiel eruiert, dass die Personenwaage in einem langsamen Prozess erst in den 1960er Jahren in den privaten Haushalten »angekommen« ist, das Selbstmessen auf öffentlichen Waagen (mit ebenso medizinischem wie ästhetischem Hintergrund bzw. als unterhaltende Freizeitbeschäftigung) aber schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbreitet war. Nur so ist nachvollziehbar, dass die Times das Selbstmessen des Körpergewichts auf öffentlichen Waagen im Jahre 1956 als »old English custom« bezeichnete.55 Der einfache Urin-Streifentest zur Erkennung von Zucker im Harn bzw. Diabetes kam als Selbsttest in den 1960er Jahren auf den Markt.56 Blutzucker-Selbsttests für Diabetiker 54 Fangerau/Martin (2014) nennen das Zusammenkommen einer Technologisierung und die zunehmende Bedeutung des Gesundheitsbereichs (Medikalisierung) eine »Technikalisierung«. 55 Bivins/Marland (2016), S. 776. Aus der Perspektive US-amerikanischer Geschichte siehe Crawford u. a. (2015). 56 Greene (2007), S. 101.

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waren ab Ende der 1960er Jahre technisch möglich und setzten sich Anfang der 1980er Jahre in größerem Umfang durch.57 Vor diesem Hintergrund bildete das Selbstmessen des Blutdrucks keine Ausnahme und wurde, abgesehen von technischen Herausforderungen, seit der Markteinführung von den Anwendern auch grundsätzlich angenommen. Systematische Widerstände gegen das Blutdruckmessen als »technisierte« Praxis, wie sie um die Wende zum 20. Jahrhundert unter Ärzten aufkamen, die ihre sinnlich-qualitativen Kompetenzen etwa des Pulsfühlens an den Rand gedrängt sahen58 oder heute von Pessimisten bei den »Quantified Self«-Praktiken beklagt werden, sind nicht bekannt. In diesem Sinne ist das Blutdruck-Selbstmessen ein integraler Teil eines zunehmend technisierten Umgangs mit dem eigenen Körper in der Medizin des »langen« 20. Jahrhunderts. Die (Selbst-)Beobachtung eines Krankheitsrisikos Die Ausbreitung der Blutdruck-Selbstmessung ist darüber hinaus eingebettet in einen ganz wesentlichen Wandel von Vorstellungen über und Umgangsweisen mit spezifischen, häufig chronischen Krankheitsformen im 20.  Jahrhundert, die eng mit dem Begriff des »Krankheitsrisikos« verbunden sind und sich in der gesundheitsbezogenen historischen Forschung der letzten Jahre bereits erheblicher Aufmerksamkeit erfreuen konnten.59 Dieser Wandel umfasst  – stichwortartig zusammengefasst – den Aufstieg des Modells des »Krankheitsrisikos« (anstelle einer Fokussierung auf die manifeste Erkrankung), konkret sogenannter »Risikofaktoren«, und damit auch des Modells eines großen Übergangsbereichs zwischen Gesundheit und Krankheit (anstelle einer Dichotomie »Krankheit versus Gesundheit«), in der Folge eine zunehmende Orientierung auf die Verhinderung des Ausbruchs von Krankheiten, die wiederum eng mit der Beobachtung von Körperzuständen zusammenhängt (um den etwas kontaminierten Begriff der »Überwachung« an dieser Stelle zu umgehen) – und zwar der gesamten, auch »gesunden« Bevölkerung. David Armstrong fasste dieses ganze Set an Veränderungen bereits 1995 unter der Formulierung »The rise of surveillance medicine« zusammen – einer Medizin, die den Körper präventiv überwachte, nicht zuletzt indem sie physiologische oder Laborwerte von Menschen bestimmte, bei denen die entsprechenden Krankheiten noch nicht ausgebrochen sein mussten, es aber erhöhte Wahrscheinlichkeiten gab, dass sie es in Zukunft könnten. Dies wiederum geschah – vor allem auf individueller Ebene – häufig durch Test- und Messpraktiken, womit die Verbindung zum Thema der Blutdruckmessung gegeben ist. Da aus verschiedenen Gründen die potentielle Patientenschaft selber eine aktive Rolle im Beobachtungsprozess spielen konnte, sollte oder musste, war ein zentraler Faktor dieses Wandels von Vorstellungen und Umgangsformen mit Krankheit, dass die Betroffe57 Für die Information danke ich Aaron Pfaff, Stuttgart. 58 Evans (1993), z. B. S. 802 f. 59 Als frühes, konzises Beispiel siehe Armstrong (1995).

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nen dieses System von Zwischenzuständen, Krankheitsrisiken und Körperbeobachtung selber verinnerlichten und Selbstbeobachtung aktiv praktizierten. Dies wurde in der Forschung als Teil eines gesamten entsprechenden Habitus, des sogenannten »präventiven Selbst«, bezeichnet.60 Anders ausgedrückt: Die Blutdruck-Selbstmessung ist gleichzeitig Produkt und Beförderer des langfristigen Aufstiegs einer spezifisch modernen (Selbst-)Beobachtungsmedizin im 20.  Jahrhundert. Das Blutdruck-Selbstmessen setzte ein Bewusstsein für die Bedeutung von Krankheitsrisiken und Körper-Selbstbeobachtung voraus und beförderte dieses gleichzeitig. Armstrong formulierte dies mit den Worten: »The ultimate triumph of surveillance medicine would be its internalisation by all the population«61, wobei ich mich dem skandalisierend-pathetischen Unterton jedoch nicht anschließen würde. Der Blutdruck musste für die Betroffenen also eine medizinische Bedeutung haben, die es naheliegend machte, ihn nicht nur bei einzelnen Arztbesuchen gemessen zu bekommen, sondern selber aktiv im Blick zu behalten. Diese Vorstellung entstand ebenfalls in einem sich über viele Jahrzehnte hinziehenden Prozess aufeinander aufbauender Schritte, in denen der Blutdruck für die Betroffenen eine immer umfassendere und spezifischere Bedeutung als Gesundheits- bzw. Krankheitsindikator erhielt. Eine erste medizinische Grundvoraussetzung bestand darin, dass der Blutdruck in der akademischen Medizin überhaupt zu einem allgemein akzeptierten und beobachteten Indikator des Gesundheitszustands wurde. Dies war erst der Fall, als sich seine Messung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kliniken und Arztpraxen etabliert hatte. Damals wurde dieser Wert allerdings zunächst noch als allgemeiner Indikator der Vitalfunktion betrachtet. Er nahm hier – reduziert auf Zahlen – den Ort ein, den lange Zeit die (qualitative) Beschreibung des Pulses besetzt hatte. Ein wie auch immer hoher Blutdruck wurde in dieser Etablierungsphase noch eher als etwas Positives und nicht als Krankheitssymptom oder Gesundheitsrisiko angesehen.62 Der US-amerikanische Chirurg und Neurologe Harvey Cushing, der die Einführung der klinischen Blutdruckmessung in den USA stark befördert hatte, sah ihren Sinn dementsprechend zunächst ausschließlich im Operationssaal, also zur Kontrolle der Kreislaufstabilität.63 Den Übergang vom Blutdruck als Vitalitätszeichen zum Bluthochdruck als Krankheit datiert Hughes Evans auf das Jahr 1913 mit einer Publikation, die »widespread acceptance« erfuhr.64 Lebensversicherungen in den USA hatten die erhöhte Sterblichkeit bei Bluthochdruck schon um 1907 in ihre Berech-

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Lengwiler/Madarász: Das präventive Selbst (2010); Pfütsch (2017), u. a. S. 30. Armstrong (1995), S. 400. Evans (1993), S. 796 f. Timmermann (2014), S. 87. Für den Blutdruck als Indiz für das Fortschreiten der Lungentuberkulose zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Martin (1997), S. 153. 64 Evans (1993), S. 784.

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nungen mit einbezogen.65 Wie in solchen Fällen üblich, zog sich dieser Übergang aber über einen längeren Zeitraum hin. Ein zeitlich versetztes deutsches Beispiel hiervon liefern die Ausgaben des »Grundrisses der pathologischen Anatomie« von Schmaus und Herxheimer.66 Das Lemma »Hypertonie« taucht darin in der 11./12. Auflage von 1915 auf. Bluthochdruck als Krankheitssymptom wird zunächst nur als Auswirkung von Nierenerkrankungen verstanden. In der 20. Auflage von 1932 erscheint dann der »essentielle« Blutdruck (ohne erkennbare organische Krankheitsursache) als Gesundheitsproblem vor allem bei älteren Menschen. Die außerwissenschaftliche Darstellung und so auch die öffentliche Wahrnehmung des Bluthochdrucks als Krankheitssymptom setzten sich ebenfalls nur langsam und stufenweise durch. Die Sport-Abteilung der Dresdener Internationalen Hygiene-Ausstellung von 1911 etwa präsentierte ein eigenes Stadion mit angeschlossenem Laboratorium zur Untersuchung der Sportler, inklusive ihres Blutdrucks. Hier wurde die Bedeutung des Blutdrucks als physiologischer Wert bereits performativ popularisiert, aber sicher noch als Messwert der Leistungsfähigkeit bzw. Vitalparameter.67 Bezeichnend ist auch die Darstellung des Blutdrucks in Fritz Kahns frühem, durch seine Illustrationen bekannt gewordenen Medizin-Buch »Das Leben des Menschen« von 1924. In der Erläuterung seiner dortigen, heute noch bekannten technikutopischen Illustration des »Dr. Futurus«, in der dieser die Atemkurve, die Herztöne, das Elektrokardiogramm, die Körpertemperatur wie auch den Blutdruck seines Patienten aus der Ferne überwacht, heißt es über den letzteren Wert: »Ein Manometerzeiger zittert langsam über einen Kreis und steht bei 145 mm still: der Blutdruckmesser, der ihn über die Füllung der Adern mit Blut, ihre Spannung und die Schlagkraft des Herzens unterrichtet.« Kahn popularisiert den Blutdruck hier noch als Ausdruck der Funktionsfähigkeit bzw. Leistungskraft des Herzens und als einen der unbedeutenderen Messwerte.68

65 Greene (2007), S. 56. Ärzte wollten diese statistische Sicht auf das Phänomen zunächst nicht auf ihre individuelle Sicht auf den einzelnen Patienten und eine mögliche (unsichtbare) Krankheit übertragen. Bluthochdruck wurde allenfalls – wie Fieber – als Symptom einer tieferliegenden Ursache betrachtet. Dass Greene an anderer Stelle schreibt, ein hoher Blutdruck sei auch lange Zeit nach dem Tod des US-Präsidenten Roosevelt (im Jahre 1945) im Zusammenhang mit dessen Bluthochdruck noch nicht als klinisch signifikant angesehen worden, lässt sich denn auch eher als Perspektivierung auf seine These hin lesen, dass es die blutdrucksenkenden Pharmazeutika und ihre Hersteller waren, die das Symptom zur Krankheit gemacht hätten. Siehe Greene (2007), S. 7. 66 Herxheimer (1907–1932). Das grundlegende Werk wurde ab 1893 herausgegeben von dem Pathologen Hans Schmaus (1862–1905) und nach dessen Tod ab der achten Auflage (1907) bis zur 20. Auflage (1932) von seinem Kollegen Gotthold Herxheimer (1872– 1936). Herxheimer wurde 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt und starb in Südafrika. Vielen Dank an Prof. Dr. Robert Jütte, Stuttgart, für den Hinweis. 67 Dinçkal (2015), S. 218. 68 Kahn (1924), S. 273. Dass Kahn die Darstellung und Erklärung der Blutdruckmessung sehr vereinfacht und sie für diese Zeit bereits überkommen ist, stellt für ihn nichts Un-

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Im Jahre 1932 schrieb der Wiener Physiologe Arnold Durig, dass Blutdruckmessapparate mittlerweile »zu den alltäglich verwendeten Geräten des praktischen Arztes« gehörten, und klagte, dass »in der Laienwelt […] eine ganze Mode von Blutdruckfurcht um sich gegriffen« habe.69 Auch der schwedische Mediziner und Hypertonie-Forscher Eskil Kylin schrieb 1937 mit einiger Distanziertheit, die »Blutdruckkrankheit« sei für große Schichten der Bevölkerung zu einer Modekrankheit geworden, die wie ein schwarzes Gespenst Angst und Unruhe hervorruft. […] Abgesehen von dem Symptom des Hochdruckes sind die Patienten gesund, leben aber in der ständigen Angst, dass jeden beliebigen Tag eine Gehirnblutung eintreten könne.70

Immerhin zeigen beide Zitate, dass die Hypertonie in der Patientenschaft der 1930er Jahre bereits allgemein als Krankheit und vielleicht bereits auch als »Risiko« verstanden wurde. Dementsprechend dürfte auch das Messen des Blutdrucks akzeptiert und nachgefragt worden sein. Das Modell der Hypertonie als Krankheit dürfte auch hinter den erwähnten öffentlichen Messungen auf der NS-Propaganda-Ausstellung »Gesundes Leben – frohes Schaffen« (Berlin, 1938) gestanden haben. Für die USA betonte Theodore Porter, dass das Thema der Hypertonie dort in den späten 1930er Jahren zum »Problem nationaler Größenordnung« geworden war71 und sich damit auch einer entsprechenden öffentlichen Wahrnehmung erfreut haben muss. Eine qualitative Weiterentwicklung dieser Vorstellungen einer Bedrohung durch hohen Blutdruck wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutsam. Auf der Basis großer und langfristiger epidemiologischer Studien wie vor allem derjenigen über die Bevölkerung des US-amerikanischen Ortes Framingham (Massachusetts) wurde in der »Public Health«-Forschung um die Mitte des 20.  Jahrhunderts das epidemiologische »Risikofaktoren-Modell« entwickelt, das Körperzustände (wie Blutdruck oder Gewicht), Umweltfaktoren und individuelle Verhaltensweisen (z. B. das Rauchen) ausfindig zu machen versuchte, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhten, frühzeitig an einer Herz-KreislaufKrankheit zu sterben.72 Dies führte zu einer verstärkten wissenschaftlichen wie auch öffentlichen Wahrnehmung des Blutdrucks.73 Der Zugang über die statistisch erhöhte Wahrscheinlichkeit setzte nun zum einen die Kategorie des Erkrankungsrisikos in den Mittelpunkt der Krankheitsbetrachtung. Der hohe Blutdruck wurde so, vereinfacht gesprochen, von einer Krankheit zu einem Risikofaktor. Mehr noch: Der Bluthochdruck wurde zur paradigmatischen Risiko-Krankheit.74 Eine andere Folge war eine allgemeine Schwerpunktverla-

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typisches dar. Vgl. Debschitz/Debschitz (2009), insbes. S.  37. Die Illustration ist auch abgebildet und besprochen in Fangerau/Martin (2014). Durig (1932), S. 7. Herzlichen Dank an Aaron Pfaff, Stuttgart, für diesen Hinweis. Zit. n. Schneider (1994), S. 159. Porter (2010), S. 74. Timmermann (2010); Madarász (2010). Martin/Fangerau (2015), S. 29 f., sprechen von einer Medikalisierung des Blutdrucks. Greene (2007), S. IX.

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gerung in der öffentlichen Gesundheit von der (am System ansetzenden) Verhältnisprävention zu Maßnahmen der (individuellen) Verhaltensprävention.75 Der Blutdruck wurde – als eine Mischform von Symptom und Krankheit – neben anderen Risikofaktoren zu einem zentralen Thema von Kampagnen für eine gesunde Lebensweise. Die Kampagnen gingen oft Hand in Hand mit Aufforderungen, sich den Blutdruck messen zu lassen, oder später: den Blutdruck auch durch Selbstmessung unter Beobachtung zu halten. Für die USA hat Jeremy Greene beschrieben, wie ab den frühen 1970er Jahren »Awareness«-Programme und -Aktionen gestartet wurden, die das Bewusstsein der Gefährlichkeit des hohen Blutdrucks und der Notwendigkeit der regelmäßigen Blutdruckmessung in der Bevölkerung erhöhen sollten. Im Rahmen des »Hypertension Education Program« wurde die Bevölkerung aufgerufen, sich den Blutdruck zu unterschiedlichen Anlässen messen zu lassen und ihre eigenen Blutdruckwerte selbst auch zu kennen. Dies hatte offensichtlich seine Wirkung. Der Bluthochdruck wurde auf diese Weise in den USA der frühen 1980er Jahre zum Hauptgrund, einen Arzt aufzusuchen.76 Im deutschsprachigen Raum hatten diese Kampagnen einen Höhepunkt in den 1980er Jahren.77 Sie setzen sich bis in die Gegenwart fort, etwa mit dem Welt-Hypertonie-Tag (17. Mai), der von internationalen Hochdruck-Ligen seit 2005 forciert wird. Der Blutdruck und seine Beobachtung wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte auch Teil eines ganzen Bündels allgemeinerer gesundheitlicher Diskurse und Praktiken, in denen es zentral um den gesundheitlichen Umgang der Menschen mit sich selbst ging, sei es im Zusammenhang mit der sogenannten »Manager-Krankheit«78 oder gesundheitsorientierten Kampagnen wie dem deutschen »Trimm Dich« der 1970er Jahre. Auch die Jogging- oder Laufbewegung wurde vor dem Hintergrund des Risikofaktors Blutdruck gesehen.79 Die Idee des körperlichen Messwerts zur Beobachtung des Gesundheitszustands war in diese Bewegungen wie eingewoben. Einen weiteren qualitativen Schritt zu einem umfassenden »BlutdruckBewusstsein« bedeutete es schließlich, dass dieser Parameter fest in ein Cluster unterschiedlicher Messwerte integriert wurde. Besonders deutlich wurde dies etwa in der ab den 1980er Jahren etablierten »nosologischen Entität« des »Metabolischen Syndroms«80, in welchem der Blutdruck zusammen mit Parametern wie dem Body-Mass-Index81, dem Puls und den Blutfettwer-

75 Lengwiler/Madarász: Präventionsgeschichte (2010), S. 22 f. sowie u. a. die dort genannte Literatur. 76 Greene (2007), S. 74–77. 77 Siehe viele historische Beispiele hierfür bis in die Gegenwart bei Martin/Fangerau (2015), S. 30–35. 78 Kury (2012). 79 Dietrich (2010), S. 294. 80 Martin Döring (2010). 81 Siehe hierzu Frommeld (2013). Zur Forschungsgeschichte siehe Blackburn/Jacobs (2014). Vielen Dank an Prof. Dr. Robert Jütte, Stuttgart, für den Hinweis auf letztere Publikation.

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ten82 zum »Kollektivsymbol« einer Krankheitsbedrohung mit entsprechenden Moralisierungs- und Skandalisierungstendenzen zusammengefasst und so in etwas Größeres eingebettet wurde83. Die hier zur Debatte stehenden Selbstmessungen konnten nur dann einen breiten Zuspruch erlangen, wenn die Vorstellung des Blutdrucks als Risikofaktor mit getragen und verinnerlicht wurde und das Wissen um die eigenen Blutdruckwerte somit als wichtig und sinnvoll eingeschätzt wurde. Bereits das oben stehende Zitat von Kylin aus dem Jahre 1937 macht klar, dass die Wahrnehmung des individuellen Risikos einer Erkrankung oder eines plötzlichen Herz-Kreislauf-Todes mit dem akademischen Risikofaktoren-Modell keine grundsätzliche Neuerung darstellte. Durch die öffentliche Thematisierung dürfte die Wahrnehmung des hohen Blutdrucks als Risiko für die kardiovaskuläre Gesundheit aber einerseits deutlich zugenommen haben, andererseits dürfte das Risiko zum »Risiko-Faktor« geworden sein. Das bedeutet, das Risiko des hohen Blutdrucks wurde einerseits konkreter und kalkulierbarer, andererseits enger in die allgemeine individuelle Lebensführung eingebettet und Teil eines wahrgenommenen generellen Gesundheitsrisikos. Robert Aronowitz hat diese sich vor allem im späten 20. Jahrhundert ausbreitende Vorstellung als ein Sich-ständig-gesundheitlich-gefährdet-Fühlen (»at risk«) bezeichnet, wobei die Grenzen zwischen einer Risiko- und einer Krankheitserfahrung verschmolzen.84 Dies beförderte zusätzlich das Interesse oder Bedürfnis, die eigenen Blutdruckwerte zu beobachten, also zu messen, zu kennen und einschätzen zu können. »Know your number« hat Jeremy Greene diesen Umstand anhand des späteren Beispiels der Blutfettwerte formuliert: »Knowledge of one’s cholesterol levels has become for many adult Americans an essential act of selfsurveillance, a window into one’s inner health.«85 Diese Selbstbeobachtung wurde so auch zum Teil des generellen Habitus, eines »präventiven Selbst«. Jörg Niewöhner versteht darunter »das sich selbst ständig beobachtende, autonome Individuum, das fähig und willens ist, auf der Basis medizinischer Informationen in sich selbst zu intervenieren, um langfristig eine bessere Gesundheit zu erzielen«.86 Nicht zufällig steht hier die Selbstbeobachtung am Anfang eines komplexen Einstellungs- und Verhaltensbündels. Dieser Habitus korreliert mit der allgemeinen Aufwertung von »Gesundheit« zu einer dominanten, sich selbst legitimierenden Wertvorstellung. Dieses Ensemble von Deutungen, Bedeutungen und Praktiken schuf die Grundlage für das populäre Bewusstsein für den physiologischen Wert des Blutdrucks, speziell als bestimmbarer individueller »Risikofaktor«. Es schuf einerseits eine größere Nachfrage nach Blutdruckmessungen und im Zuge 82 In den USA sind »verlässliche« Cholesterin-Selbsttests (auf der Basis eines Tropfens Blut aus dem Finger) seit 1999 in Apotheken erhältlich. Greene (2007), S. 192. 83 Martin Döring (2010), vor allem S. 345; siehe auch Greene (2007), S. 223. 84 Aronowitz (2010). 85 Greene (2007), S. 189. Er untersucht dies allerdings nicht weiter, weil diese Perspektive nicht seiner Hauptfragestellung entspricht. 86 Niewöhner (2010), S. 309.

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dieser intensivierten Nachfrage andererseits das Interesse an der Möglichkeit, diese Messung auch ohne die Hilfe von ausgebildeten Fachkräften und zu Hause selber durchführen zu können. In den Jahrzehnten vor der Einführung des Selbstmessens war also ein fruchtbarer Boden für diese Praxis im Bewusstsein der künftigen Anwendergruppe der neuen Geräte bereitet worden. Dieses Interesse war damit bereits Jahrzehnte vor der Markteinführung automatisierter Selbstmessgeräte angelegt und unterstützte so zunächst noch seine Vorläufer, wie etwa das eigenständige Blutdruckmessen in Apotheken. Dies macht es auch nachvollziehbarer, dass, wie oben beschrieben, die Firma Boso ein Selbstmessgerät auf den Markt brachte, das nur dem Namen nach (»Egotest«) eines war: Eine Nachfrage nach Selbsttests war über eine spezifische, neu verbreitete Art, den Blutdruck zu interpretieren, entstanden, bevor eine wirklich anwenderfreundliche Technik zur Verfügung stand. Nach der Markteinführung von Selbstmessgeräten propagierten Werbeaktionen für das Blutdruckmessen nicht nur das Bewusstsein, die eigenen Werte prüfen zu lassen und zu kennen, sondern – sozusagen als vorläufig letzten Schritt – den Blutdruck auch eigenständig zu messen. Auf welche unterschiedliche Art diese Zunahme des Selbstmessens und das steigende Interesse, eigene physiologische Werte zu kennen, interpretiert werden kann, zeigt sich bereits an der Wortwahl. Steht der Begriff »Überwachung« (oder, wie bei Armstrong, »surveillance«) im Mittelpunkt, wird das Phänomen eher als Zunahme gesundheitlicher Kontrolle des Einzelnen durch sich selbst oder – in gouvernementaler Deutung – als Fremdsteuerung durch gesundheitspolitische Machtzentren sowie als politisch intendierte Verlagerung der Gesundheitsverantwortung auf das Individuum interpretiert. Der Begriff der (Selbst-)»Beobachtung« ist hier interpretationsoffener. Er verweist zunächst allgemeiner auf ein Krankheits- oder Gesundheitsverständnis, welches das Modell des Krankheitsrisikos verinnerlicht hat und aktiv mit ihm umgeht, indem die Verinnerlichung des Denkmodells »Risikofaktor« ein bewusstes individuelles »Krankheitsmanagement« befördert.87 Er kann diesen Umgang mit Risiken auch als eigenständige Aktivität von Patientinnen und Patienten in ihr Recht setzen, ohne sie immer gleich als Fremdbestimmung zu desavouieren. Das zahlenbasierte Gesundheitsverständnis Der Blutdruck ist ein physiologischer Zustand, der mit zwei Zahlenwerten seiner Bezugsgröße (mm Hg) angegeben wird.88 Die Ausbreitung der Blutdruck-Selbstmessung im 20. Jahrhundert ist daher eng verwoben mit der um87 Aronowitz (2010), passim, insbes. S. 356, 369, 371 f., 378. Letztlich steht aber auch Aronowitz dem Phänomen mehrheitlich skeptisch gegenüber. 88 Damit soll nicht unterstellt werden, Blutdruckwerte seien »exakt«, nur weil sie auf Zahlenwerten beruhen. Gerade der Blutdruck ist bekanntermaßen ein sehr variabler Wert, der über längere Messreihen und Durchschnittsberechnungen an Aussagefähigkeit gewinnt.

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fassenden Eigenschaft der sich seit dem 19.  Jahrhundert herausbildenden, zunehmend auf naturwissenschaftliche Standards hin orientierten Medizin, Gesundheitszustände vornehmlich in Zahlenwerte zu fassen.89 Die akademische Medizin definierte seit dem späteren 19. Jahrhundert immer mehr körperliche Zustände quantitativ. Somit stellt das zunehmende Blutdruckmessen, gemeinsam mit parallelen Messpraktiken, auch in dieser Hinsicht einen Teil allgemeinerer langfristiger Entwicklungen dar, die diese neue Praxis über die Jahrzehnte hinweg beförderten. In der vormodernen, von der Humoralpathologie geprägten Medizin wurden Gesundheitszustände nicht ausschließlich, aber vor allem qualitativ beschrieben. Gemeinsam mit dem Vordringen des quantifizierenden Denkens in der (Natur-)Wissenschaft und der Gesellschaft allgemein verlagerten sich auch medizinische Erklärungsmodelle seit dem späteren 19. Jahrhundert mit zunehmender Geschwindigkeit hin zum Quantitativen.90 Im 20. Jahrhundert wurden Zahlenwerte zu einem typischen Mittel für die Einschätzung von Krankheitszuständen. Symptome erhielten zunehmend die Form von Zahlenwerten.91 Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis eines komplexen historischen Prozesses. Das Paradebeispiel für diesen Übergang ist die der Blutdruckmessung nahestehende bzw. vorangehende Pulsmessung.92 Bezeichnenderweise wurden Blutdruckwerte in der Frühphase ihrer klinischen Messung an dem Ort der Krankendossiers festgehalten, an dem zuvor der Puls qualitativ beschrieben worden war. Die quantitative Methode der Blutdruckmessung traf in ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert auf einige Skepsis, etwa bei älteren Ärzten, die bislang gewohnt waren, den Puls qualitativ zu beschreiben, und daraus auch ihre professionelle Kompetenz ableiteten. Sie befürchteten, dass das quantitative Messen ihre intellektuellen diagnostischen Fähigkeiten unterlaufe und die ärztliche Praxis dehumanisieren könnte.93 Auch die Untersuchung des Blutdrucks zielte nicht von Anfang an auf einen reinen Zahlenwert. Der Blutdruck wurde in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts ärztlicherseits auch qualitativ beschrieben, wobei die fünf unterschiedlichen Korotkoff-Geräusche einen Ausgangspunkt bildeten.94 Relikte eines qualitativen Verständnisses des Blutdrucks scheinen auch bei Kahns Beschreibung seiner »Dr. Futurus«-Illustration von 1924 noch durch. Er nennt die Zahl von 145 mm Hg als Blutdruckwert, rahmt sie aber mit den Begriffen »Füllung«, »Spannung« und »Schlagkraft« deutlich qualitativ. Seine

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Jorland u. a. (2005). Siehe auch Crenner (1998), S. 489. Greene (2007), S. 219. Kümmel (1974) hat den langsamen Übergang von der meist qualitativen zu einer praktisch ausschließlich quantitativen Beschreibung des untersuchten Pulses in der Medizin im »langen« 19. Jahrhundert detailliert nachgezeichnet. 93 Evans (1993), S. 802 f.; Schneider (1994), S. 143–145. 94 Crenner (1998), S. 492 f.

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dortigen Beschreibungen von Puls und Elektrokardiogramm sind ebenfalls qualitativ getönt.95 Damit sich auch das Selbstmessen des Blutdrucks etablieren konnte, musste es in seiner Logik von den Gemessenen mitgetragen werden und das auf Zahlen und Werten basierende Verständnis von Medizin und Gesundheit allgemein akzeptiert und verinnerlicht worden sein. Dies war angesichts anderer eigener gemessener und erinnerter Körperwerte allerdings nichts Außergewöhnliches. Die Veralltäglichung des Umgangs mit körperlichen Zahlenwerten war lange etabliert, als das Selbstmessen des Blutdrucks zum Breitenphänomen wurde. Die Angabe des Körpergewichts in Zahlenwerten war, nach der Messung der Körpertemperatur und der »Quantifizierung« des Verständnisses von Fieber, spätestens im früheren 20. Jahrhundert zu einer alltäglichen Praxis geworden. Ebenso verbreitete sich das quantitative Messen von sportlichen Leistungen. Im Kleidungsbereich setzten sich Konfektionsgrößen und das Maßband durch.96 In Kochbüchern des 20. Jahrhunderts basierten die Mengenangaben immer häufiger auf absoluten Zahlenwerten und weniger auf ungefähren, qualitativen Angaben.97 Im späteren 20. Jahrhundert traten komplexere Zahlenwerte wie der erwähnte Body-Mass-Index in den Alltag. »Die jeweiligen eigenen Werte [des Blutfetts  – E. W.] zu kennen«, war nach Greene in der US-amerikanischen Gesellschaft des späten 20.  Jahrhunderts etwas völlig Normales.98 Die Existenz solch paralleler Quantifizierungs-Praktiken machte es einfacher und normaler, auch beim Blutdruckmessen selbst mit zahlenmäßigen körperlichen Werten umzugehen und in quantitativen Kategorien zu denken. Anwenderorientierte Forschungen über das BlutdruckSelbstmessen oder das Telemonitoring haben dokumentiert, wie aktiv und differenziert die Anwender mit den gemessenen Zahlenwerten umgingen.99 Dieser Quantifizierungsprozess ist vor unterschiedlichen normativen Hintergründen immer wieder anders bewertet worden, als Durchbruch von Objektivität100, als Schein-Exaktheit, als Ausdruck eines reduktionistischen Körperbilds, als eine Kraft, welche einengende Norm-Systeme und begrenzende Möglichkeitsräume absteckt, oder als demokratisierender Faktor, der den Patienten die Möglichkeit gegeben hat, den diagnostischen Prozess mitverfolgen und mitbestimmen zu können101. An dieser Stelle soll lediglich deutlich gemacht werden, dass einerseits das Selbstmessen des Blutdrucks mit Zahlenwerten einen Teil umfassenderer und bereits vorgängig abgelaufener Quantifizierungsprozesse darstellt. Andererseits hat dieser Quantifizierungsprozess das eigenständige Bestimmen eines 95 Kahn (1924), S. 275 f., ähnlich in der Auflage von 1927. 96 Daniela Döring (2011). 97 Zur Küche als Etablierungsort von populären Messverfahren siehe auch Bivins/Marland (2016), S. 762 f. 98 Greene (2007). Mit »Know your number« beginnt der Titel von Kapitel 6 über die Blutfettwerte. 99 Mathar (2010); Schneider (1994). 100 Schneider (1994), S. 146. 101 Hess: Normierung der Eigenwärme (1997); Hess (1999); Hess (2005); Hess (2006).

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physiologischen Zustands und darüber hinaus eine Verständigung auf eine viel einfachere, praktikablere Art ermöglicht, als es zum Beispiel bei der qualitativen Beschreibung des Pulses möglich gewesen ist. Bezeichnenderweise haben sich andere, ähnlich einfache körperliche Messformen als Selbstmesspraktiken ebenfalls durchgesetzt, so zum Beispiel das auf einen Wert reduzierte Bestimmen des Blutzuckerspiegels bei Diabetes-Patienten. Andererseits haben komplexere (aber technisch durchaus mögliche) Selbsttests wie diejenigen der Blutfettwerte bei weitem keine so große Verbreitung gefunden – ganz abgesehen von noch anspruchsvolleren, weniger quantitativen körperlichen Messtechniken wie dem EKG. Normalisierungen In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurde das (Selbst-)Messen des Blutdrucks als eingebunden in zwei umfassendere Entwicklungsprozesse der Medizin des 20.  Jahrhunderts gezeigt: die quantifizierende Darstellung körperlicher Zustände auf der einen sowie das Konzept eines graduellen Erkrankungsrisikos auf der anderen Seite. Um solche zahlenmäßigen Messergebnisse vor diesem Hintergrund bewerten zu können, ist ein Orientierungsmaß unabdingbar, das in der Regel in Form von Norm- oder Vergleichswerten als Referenz besteht, deren einfachste Variante der absolute Grenzwert mit seiner simplen Unterscheidung zwischen »normal« und »unnormal« darstellt. Möglich ist aber beispielsweise auch eine Festlegung der Abweichung vom Durchschnittswert. Im Falle des Blutdrucks legen Grenzwerte fest, ab welchem Wert eine leichte oder eine schwere Hypertonie vorliegen soll. Je autonomer das Selbstmessen des Blutdrucks abläuft und z. B. auch die Bewertung der Messergebnisse einschließt, umso stärker wirken diese Bewertungssysteme auch auf die sich selbst Messenden ein. Es wäre allerdings zu einfach, dieses Einwirken als absoluten Prozess der Unterwerfung zu verstehen. In den Geisteswissenschaften wird die Wirkung solcher Grenzwerte in den letzten Jahren unter dem Begriff der »Normalisierung« gefasst.102 Messverfahren etwa wirken normalisierend auf die Wahrnehmung ein, indem sie Räume von Normalität und Nichtnormalität abstecken, gerade auch im Medizinbereich.103 Auf diese Weise werden aus Menschen mit einem bestimmten Blutdruckwert zum Beispiel Patienten gemacht.104 Neuere Forschungen zur Geschichte der Blutdruckmessung heben häufiger darauf ab, dass der lange und ebenso konfliktgeladene Diskurs über Normal- und Grenzwerte des Blutdrucks ein Paradebeispiel für die »Normalisierung« von Körperzuständen ist,

102 Diese orientiert sich nur bedingt an Jürgen Links Theorie des Normalismus als Regierungsform im Foucaultschen Sinne. Vgl. Link (2013) [ursprünglich 1997]. 103 Vgl. Sohn/Mehrtens (1999); Borck u. a. (2005); Ernst (2006); Brinkschulte/Gadebusch Bondio (2015). 104 Timmermann (2006).

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die Macht (im weitesten Sinn des Wortes) über Körpervorstellungen ausübt, »Möglichkeitsräume« des Denkbaren absteckt, Normales von Pathologischem trennt, darüber Hinausgehendes ausgrenzt und somit letzten Endes disziplinierend wirkt. Dies wurde speziell vor dem Hintergrund diskutiert, dass die Grenzwerte für Hypertonie über die Jahrzehnte immer weiter gesenkt wurden und damit eine immer größere Anzahl von Menschen als »at risk« definiert wurde bzw. wird. Direkt oder indirekt wird hier immer wieder der Einfluss der Hersteller blutdrucksenkender Pharmazeutika (in Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften) auf die Festsetzung von Grenzwerten genannt.105 Es ist legitim und wichtig zu betonen, dass dieser Normalisierungs-Raum von einflussreichen Kräften genutzt wird und mit Machtausübung (im engeren, landläufigen Verständnis dieses Begriffes) verbunden, aber nicht die einzig mögliche Perspektive auf das Phänomen ist. Wenden wir einen weiteren Begriff von Normalisierungen an, der nicht zwangsläufig auf Disziplinierung, Ausschluss, Kontrolle oder Fremdbestimmung hinausläuft, bieten sich andere Möglichkeiten, das Konzept der Normalisierung für unser Thema nutzbar zu machen. Versteht man Normalisierung offener als ein typisches Phänomen der Moderne, das Orientierungsmodelle vermittelt, könnte die Praxis der Blutdruckmessung, und besonders der Selbstmessung, als integraler Teil eines breiteren Entwicklungsstrangs der Medizin des 20.  Jahrhunderts betrachtet werden, der Gesundheit oder Krankheit mit Hilfe von – häufig quantitativen – Normalitäts-Feldern definiert. Zu ihnen gehören beispielsweise die »normale« Körpertemperatur, das »normale« Körpergewicht oder der »normale« Blutdruck mit einem popularisierten Zielwert wie »120:80«. Wurde die Normalität des gesunden Körpers in der Vormoderne etwa tendenziell als ausgeglichenes Verhältnis von »Säften«, Charakteren oder Körperfunktionen (wie dem Stuhlgang) verstanden, ist der gesunde Körper des 20. Jahrhunderts über eine Vielzahl von quantitativen Normalitäten definiert, die häufig aus dem medizinischen Labor stammen. Ein Teil von ihnen wurde in das jeweilige Bewusstsein der Betroffenen übernommen. Über Diskurse werden sie ständig neu verhandelt. Diese Offenheit korrespondiert auch in etwa mit dem, was Link als den für spätmoderne Gesellschaften typischen »flexiblen Normalismus« bezeichnet, der auf fließenden, durchlässigen Übergängen zwischen Normalität und Nichtnormalität aufbaut. Als Orientierungsfelder haben Normwerte unter anderem die Funktion einer Selbstverortung sowie einer Verständigung unter den Beteiligten und sind damit nicht immer nur Disziplinierungswerkzeuge. Auch aus dieser Perspektive wäre die Blutdruck-(Selbst-)Messung ein integraler Bestandteil der Medizin des 20. Jahrhunderts.

105 Vgl. z. B. Timmermann (2011); Martin/Fangerau (2015), S.  31; Schneider (1994), z. B. S. 42; Greene (2007), passim, z. B. S. XI, 77 f., 231.

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Pharmazeutisches Therapieangebot In seinem Buch »Prescribing by Numbers« weist der Autor Jeremy Greene auf den Einfluss hin, den auf dem Markt verfügbare Pharmazeutika gegen Bluthochdruck, hohe Blutzuckerwerte und hohe Blutfettwerte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Definitionen der dahinterliegenden Krankheiten hatten. Quantitative Messungen sowie die Definition von Normwerten spielten dabei in allen Fällen eine wichtige Rolle. Greene fokussiert hier besonders auf den Einfluss der jeweiligen pharmazeutischen Industrie bei der Gestaltung dieser Krankheitsdefinition mit dem Ziel, Absatzmärkte für ihre Produkte zu schaffen. Verkürzt ließe sich daraus schließen, dass die Ausbreitung des (Selbst-)Messens dieser physiologischen Werte letztlich eine unmittelbare oder mittelbare Folge absatzgenerierender Maßnahmen der jeweiligen pharmazeutischen Firmen darstellt. In der Tat ist der zeitliche Zusammenhang gerade im Fall des Blutdrucks augenfällig. Die ersten antihypertensiven Medikamente wurden in den 1940er und 1950er Jahren entwickelt106, also einer Zeit, in welcher der Bluthochdruck in den Fokus von Public-Health-Programmen geriet. Die ersten Betablocker kamen in Deutschland Mitte der 1960er Jahre auf dem Markt107, also in der Lift-Off-Phase der Selbstmesstechnologie. Die Ausbreitung von Antihypertensiva auf dem Markt lief somit recht parallel zur Ausbreitung des BlutdruckSelbstmessens als Alltagspraxis. Ein Einfluss der Pharmaproduzenten auf die Krankheitsdefinition über Grenzwerte, wie ihn Greene beschreibt, wird somit auch einen Einfluss auf die Ausbreitung des Selbstmessens gehabt haben. Gleichzeitig war es sicherlich nur ein Faktor unter einer Reihe anderer. Zudem ließe sich der Zusammenhang auch andersherum interpretieren. Die Therapierbarkeit des Bluthochdrucks verlieh dem Beobachten des Blutdrucks (auch der Selbstmessung) einen viel umfassenderen Sinn, wenn nicht gar unmittelbareren Nutzen als vorher.108 Eine aktivere Patientenrolle Das zentrale Merkmal der Blutdruck-Selbstmessung ist der Umstand, dass sie von der gemessenen Person zu einem gewissen Grad selbst durchgeführt wird. Wenn die gemessene Person sich selbst für eine Kontrolle entscheidet, das Gerät selbst bedient, die gemessenen Werte selbst ausliest, speichert oder interpretiert oder die Messung mit einem selbst beschafften Gerät in ihrer eigenen Wohnung durchführt, nimmt sie damit in jedem Fall eine aktivere Rolle ein als die Person, welcher der Blutdruck zum Beispiel im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung gemessen wird. 106 Timmermann (2011). 107 Schneider (1994), S. 43. 108 Schneider (1994), S. 103, spricht der Therapierbarkeit der Hypertonie »spannungsneutralisierende Effekte« der Selbstmessung zu.

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Dass Patientinnen und Patienten eine solch handelndere Rolle im gesamten Gesundheitsgeschehen spielen, ist gleichzeitig eine der hervorstechenden Entwicklungen der Medizin gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die so komplex ist, dass sie hier nur grob anhand weniger größerer Themenstränge angesprochen werden kann. In der Hochphase eines professionalisierten Arztberufs im späten 19. und den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts zeichnete sich das Arzt-Patient-Verhältnis durch eine deutliche Hierarchie aus, welche die Patientenschaft in einer eher passiven Rolle verortete.109 Bewegungen dieser Zeit, die für Patientinnen und Patienten mehr Handlungsspielraum forderten oder praktizierten, waren oft außerhalb des damals als »Schulmedizin« bezeichneten institutionalisierten Medizin-Komplexes angesiedelt. Sie agierten als »medizinkritische Bewegungen« und hatten häufiger, wenn auch nicht immer, einen Gegenkultur-Charakter.110 Die mit dem Aufkommen von AIDS in den 1980er Jahren entstandenen Patientenorganisationen geben ein deutliches Beispiel unter vielen möglichen für den generellen Trend ab, dass diese nun zunehmend eine festere, etabliertere und damit aktivere Rolle im Gesundheitsgeschehen erhielten.111 Ein anderer Entwicklungsstrang hin zu einer aktiveren Patientenrolle findet sich im Bereich der medizinischen Entscheidungsfindung. Das professionalisiert-paternalistische Modell, bei dem letztlich der Arzt medizinische Entscheidungen traf, änderte sich auf eine grundlegende Art, als sich der sogenannte »Informed Consent« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker als medizinethischer Maßstab durchsetzte. Er fordert den aktiven Einbezug von Patienten in die therapeutische Entscheidungsfindung auf der Basis einer entsprechenden Information, die sie in die Lage versetzen soll, eigenverantwortlich zu entscheiden. Auch der relative epidemiologische Übergang von akuten, oft infektionsbedingten, zu chronischen Krankheiten und mit ihm die stärkere Bedeutung von gesundheitsrelevanten Lebensstilen führte im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einer deutlichen Änderung der Rolle der Patientenschaft. Über den Präventionsgedanken zielten medizinische Interventionen, insbesondere Gesundheitskampagnen, immer häufiger auf individuelle Verhaltensweisen. Kampagnen für gesundheitsförderliches Bewegungsverhalten führten bereits in den 1970er Jahren zu Trends, die vornehmlich präventivmedizinisch motiviert waren und den Patienten eine deutlich aktivere Rolle zuwiesen.112 Neue Informationstechnologien wie vor allem das Internet hoben traditionelle Zugangsgrenzen zu professionellen gesundheitsbezogenen Informationen auf. Dies vervielfältigte die Möglichkeiten, sich als Patientin oder Patient über medizinische Themen zu informieren oder auch auszutauschen. Diese hochgradig intensivierte Gesundheitskommunikation bedeutete ebenfalls eine aktivere Rolle von Patientinnen und Patienten im Gesundheitsgeschehen. 109 110 111 112

Dinges (2013). Vgl. Dinges (1996). Z. B. Unterkircher (2008). Dietrich (2010), S. 280.

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Technische Entwicklungen ermöglichten es schließlich, diagnostische Verfahren im Privaten durchzuführen, die zuvor nur über eine Arztpraxis oder ein medizinisches Labor zugänglich waren. Der Schwangerschaftstest wäre hier etwa ein typisches Beispiel, aber auch die anderen in diesem Beitrag immer wieder als Vergleich herangezogenen gesundheitsbezogenen Selbstpraktiken. In den letzten Jahren hat sich die Anzahl der auf dem Markt für Patienten angebotenen Selbsttests vervielfacht. Auch aus dieser Perspektive erweist sich die Blutdruck-Selbstmessung als Teil sehr allgemeiner und komplexer Entwicklungen in der Medizin vor allem des 20. Jahrhunderts. Für diesen Prozess gibt es ebenfalls recht normative Deutungen, die sich im Zeitverlauf allerdings praktisch in ihr Gegenteil kehrten. Schneider hob in seiner empirisch-soziologischen Untersuchung der in den frühen 1990er Jahren verhältnismäßig jungen Blutdruck-Selbstmessung die Effekte des Selbstmessens in Hinblick auf die Patientenautonomie hervor. Sie diene der »Selbsterfahrung« und »Selbstdefinition«. Die Messenden erlebten sich als »handlungskompetente und regulationsbefähigte Subjekte«. Sie gewännen »Selbstvertrauen und Selbstsicherheit im Umgang mit der Krankheit« und würden »Experte(n) in eigenen Blutdruckangelegenheiten«. Die Selbstmessung habe so »identitätsstiftendes Potential«.113 Dies ist für diesen Zeitraum nicht untypisch, etablierte sich doch ein aktives Selbstverständnis von Patientinnen und Patienten damals gerade auf einer breiteren Basis.114 Die kritische, in den letzten Jahren dominierende Deutung der aktiveren Patientenrolle interpretiert diese unter dem Stichwort der »Responsibilisierung« als (neoliberale) Verlagerungsstrategie von Verantwortung von der Gesellschaft auf das Individuum, das in zunehmendem Umfang dazu gedrängt oder gezwungen würde, Aufgaben zu übernehmen, die zuvor in öffentlicher Verantwortung angeboten wurden.115 Die Verlagerung würde einem typischen zeitgenössischen Zwang entsprechen, sich zu gesundheitlichen Fragen aktiv verhalten zu müssen bzw. sich ständig verbessern bzw. »optimieren« zu müssen. Im gouvernementalen Sinn laufe dies nicht über Zwang, sondern über Prozesse der »Aktivierung« der Bevölkerung.116 Das »Selbstmachen« als Phänomen bzw. Trend findet derzeit viele Entsprechungen außerhalb des Medizinbereichs. Aktuelle Forschungen subsumieren es unter dem Phänomen des »DIY« (Do it yourself). Forschungen mit einem breitangelegten Interpretationsansatz sehen eine ganz ähnliche Ambivalenz des DIY wie bei der aktiveren Patientenrolle.117 Aktuelle DIY-Praktiken wie das »Urban Gardening« werden in der Regel als Formen der (alternativen) 113 Schneider (1994), S. 110, 115; siehe auch S. 102–109 sowie S. 85–90. 114 Vgl. die Beschreibungen in Schneider (1994), S. 58–62. 115 Siehe hierzu auch die eingangs zur Blutdruck-Selbstmessung herangezogenen kritischen Einschätzungen von Martin/Fangerau (2015). 116 Niewöhner (2010), vor allem S.  307–309. Mathar (2010), S.  22, nennt dies z. B. einen »neo-sozialen Aktivierungsdiskurs«. 117 Siehe im Folgenden ganz aktuell Langreiter/Löffler: Selber machen (2017). Hierin vor allem Langreiter/Löffler: Do it! (2017) sowie Kreis (2017).

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Selbstverwirklichung und Selbstermächtigung, der autonomen Versorgung, der Partizipation und Teilhabe sowie noch weitergehend der politisch intendierten Subversion und Rebellion etwa gegen Konsumismus oder Kommodifizierung verstanden. Auf der anderen Seite haben DIY-Praktiken auch eine lange Vorgeschichte der Kontrolle, Führung und Disziplinierung derer, die DIY betreiben. DIY-Tätigkeiten wie das Basteln und Nähen wurden als Erziehungsprogramme verstanden und für die bürgerliche Enkulturation der Jugend in Dienst genommen. In den Mangelgesellschaften Mittel- und Osteuropas wurde das Heimwerken staatlicherseits stark befördert, um Versorgungslücken zu füllen bzw. zu überdecken. Dort konnte die staatliche Indienstnahme dann wieder in ihr Gegenteil, in Formen von Subversion, kippen, wenn zum Beispiel in Eigeninitiative hergerichteter Wohnraum illegal bewohnt wurde. Kontroll- und Lenkungsbestrebungen lassen sich also nie ganz von den emanzipatorischen und subversiven Potentialen des Selbermachens trennen.118 Das Selbermachen ist normativ gesehen immer »zwischen Disziplinierung und Emanzipation«119 angesiedelt. Übertragen auf das Blutdruck-Selbstmessen bedeutet dies, dass es der Kontrolle und Fernsteuerung der Patientenschaft dienen kann, von dieser aber wiederum für die Kontrolle der Therapeuten eingesetzt werden kann. Kontrollierte werden so zu Kontrollierenden. Gleichzeitig erschöpft sich das Phänomen des Selbstmachens auch nicht in der Spannung zwischen Disziplinierung und Selbstermächtigung. Es ist ein Phänomen mit einem wesentlich weiteren Bedeutungsfeld. In verschiedensten Lebensbereichen beteiligen sich Konsumenten in den letzten Jahrzehnten zunehmend an der Produktion von Dingen und Dienstleistungen und werden so zu »Prosumern«. Die Gründe und Funktionen des Selbermachens sind entsprechend breit. Sie können genauso aus Notwendigkeit wie aus Vergnügen entstehen, aus pragmatischen oder ideellen Gründen, sie können Fertigkeiten ökonomisch nutzen, Qualitäten verbessern. Das Selbermachen kann symbolische Funktionen haben. Man kann sich damit distinktiv absetzen, aber im Gegenteil auch den Willen zeigen, zu etwas dazuzugehören. Viele dieser Deutungen ließen sich auf unser konkretes Beispiel des Selbstmachens, die Blutdruck-Selbstmessung, übertragen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens erscheint seine eingangs zitierte Interpretation als nur »scheinbare Autonomie« und eigentliche »moralische Verpflichtung« als eine legitime, allerdings sehr ausschnitthafte Interpretation eines größeren Phänomens. Es vermag als wesentlich grundsätzlicherer Wandel von Patientenrollen verstanden zu werden, die sich aus verschiedensten Quellen speisen und ambivalente Wirkungen haben können.

118 Kreis (2017), S. 32. 119 So die Formulierung im ursprünglichen Titel von Kreis (2017): http://hi.uni-mannheim.de/ zeitgeschichte/team/lehrende/dr-reinhild-kreis/publikationen/ (letzter Zugriff: 8.2.2018).

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Fazit und Ausblick Dieser Beitrag sollte der sehr dominierenden, wenngleich nicht durchgängigen120 Deutung, dass Praktiken der (gesundheitsbezogenen) Selbstmessung letztlich als Formen von Fremdkontrolle, Fremdsteuerung und Disziplinierung von außen anzusehen sind, anhand eines Einzelbeispiels und mit einem historischen Ansatz eine differenziertere Perspektive entgegensetzen. Die historische Herangehensweise an das Beispiel hat dabei einen komplexen und sehr abgestuften Entstehungshintergrund ausgebreitet, der für sich genommen bereits gegen eine derartig enggeführte Interpretation des Phänomens spricht. Es lässt sich sicherlich nicht einfach von der Hand weisen, dass Selbstmesspraktiken wie die Blutdruck-Selbstmessung in (gesundheits-)politischen und ökonomischen Zusammenhängen stehen, etwa indem sie den Umsatz von blutdrucksenkenden Pharmazeutika befördert haben, die Patientenschaft tendenziell in ein Modell der größeren Eigenverantwortlichkeit, in ein System mehr oder weniger enger medizinischer Normierungen oder eine Welt von Vielleicht-Kranken hineingeführt und so darauf hingewirkt haben, dass sie sich intensiver mit sich selbst, der eigenen Gesundheit oder Leistungsfähigkeit auseinandersetzen. Ob man dies einfach als andauernden neoliberalen Zwang zur sogenannten »Selbstoptimierung« deuten kann, sei aber bezweifelt. Dass das Interpretationsbündel der Fremdführung das Phänomen des Selbstmessens nicht erschöpfend erklärt, zeigt sich bereits an den in der historischen Forschung der 1990er und 2000er Jahre verbreiteteren Interpretationen von Selbstmesspraktiken als Quelle von Patienten-Selbstbewusstsein und Autonomie oder als Ort der Demokratisierung eines ehedem hierarchischen Arzt-Patient-Verhältnisses. Diese Deutungen besitzen für sich genommen aber eine ähnliche Selektivität. Normative Interpretationen, die sich eng an Wertsystemen der jeweiligen Zeit orientieren (vereinfacht etwa: Autonomie = gut, Kontrolle = schlecht, Quantifizierung = Reduktion), können in ihrer Zeit unmittelbar überzeugen, haben aber gemeinhin den Nachteil, dominant zu werden und andere, weniger normativ aufgeladene Deutungsmöglichkeiten an den Rand zu drängen. Ein alternativer, hier versuchter Interpretationsweg besteht darin, Selbstmess-Phänomene als eingebunden in umfassendere Entwicklungen ihrer Zeit zu verstehen. Das Ergebnis können tendenziell weniger wertende, skandalisierte oder euphorisierte, aber dafür breiter tragfähige Deutungen sein. Die schrittweise Veralltäglichung des Blutdruck-Selbstmessens (und anderer Selbstmesstechniken) entstand aus dieser Perspektive in einem und durch einen Überschneidungsbereich grundlegender Entwicklungen der Medizin, aber auch der Alltagskultur des 20.  Jahrhunderts: Dazu zählen die Technisierung der Medizin, ihre Methode, Körper und Gesundheit in Zahlen und Daten zu denken und in den Rahmen von Orientierungswerten zu stellen, die Etablierung eines Zustands des Erkrankungsrisikos in einem Zwischen120 Als Beispiel für einen alternativen Ansatz siehe den instruktiven Artikel über die Blutzucker-Selbstmessung von Mol (2000).

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raum zwischen Gesundheit und Krankheit, die zunehmende pharmazeutische Therapierbarkeit vieler Krankheiten bzw. Risikozustände, hier speziell der Hypertonie, sowie, als einer der stärksten Faktoren, die rundum aktivere Rolle von Patientinnen und Patienten im Gesundheitsgeschehen. Aus diesen Entwicklungen entstanden spezifische, zeittypische Bilder und Deutungen von Krankheit und Gesundheit, Umgangsweisen mit ihnen sowie Verständigungswege über Gesundheit, die sich dann in einem konkreten Phänomen wie der Blutdruck-Selbstmessung spiegeln.121 Den derzeit dominanten Deutungen möchte ich einige Begriffe entgegenstellen, die eine größere Resistenz gegenüber einer schnellen Wertung besitzen. Graduelle Aktivierung von Patientinnen und Patienten Selbstmessungen können als Ausdruck einer graduellen Aktivierung von Patientinnen und Patienten im 20.  Jahrhundert betrachtet werden. Genauer gesagt war mit ihrer aktiveren Rolle eine stufenweise Zunahme an Aufgaben und Kompetenzen sowie ein gewisser Anstieg an Expertise verbunden, die zuvor denjenigen strikter vorbehalten waren, die als professionelle Experten für die Besorgung dieser Aufgaben galten, also der Ärzteschaft. Aus deren Sicht wird dieser Prozess unter dem Begriff der »Deprofessionalisierung« gehandelt.122 Auch dies kann normativ als Responsibilisierung bzw. Autonomiegewinn (oder aus ärztlicher Sicht als Kompetenzverlust) verstanden werden, muss es aber nicht. Es kann auch als graduelle Verschiebung von Rollen, Aufgaben oder Kompetenzen bzw. eine Abschwächung ihrer jeweiligen Auftrennung unter den Beteiligten interpretiert werden. Nochmals aus einer anderen Perspektive könnte dies als stärkeres Einfließen von Medizinischem in den Alltag von Patientinnen und Patienten verstanden werden. Beobachtung und Verortung, Orientierung und Regelung Selbstmessungen könnten zudem als eine mögliche Form von Selbstbeobachtung und damit als eine Variante des Umgangs mit und der Erkenntnis und Verständigung über den eigenen Körper123 verstanden werden. Sie dienen damit der Verortung des eigenen Körpers oder der eigenen Gesundheit in einem System zahlenmäßiger Werte. In Bezug zu Normwerten gesetzt, bieten sie eine Orientierung in einem normativen System. Dies kann als Normalisierung verstanden werden, aber nur in einem möglichst weiten und neutralen Verständnis des Begriffes »Normalisierung« im Sinne der Schaffung eines 121 Alle verwendeten Begriffe sind im Übrigen bewusst so gewählt, dass sie sich schnellen Wertungen entgegenstellen. 122 So z. B. Roelcke (2016) oder (wertend) Unschuld (2009). 123 Vgl. Schneider (1994).

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Orientierungsfeldes. Gerade in einer modernen Gesellschaft, die sich durch eine generelle Vervielfältigung von Handlungsoptionen und Identifikationsangeboten auszeichnet, kommt der Funktion der Verortung und Orientierung eine besondere Rolle zu.124 Selbstmessungen sind so die Grundlage für eine Regelung körperlicher Funktionen und Zustände, eine kontinuierliche Abstimmung des Körpers mit den jeweiligen Umständen, die aber nicht automatisch als Problem angesehen werden müssen.125 Diese Begrifflichkeit schließt nicht aus, dass Beobachtung, Verortung, Orientierung und Regelung zu Phänomenen von Kontrolle, Überwachung, Unterwerfung, Reduktion, Disziplinierung, Pathologisierung, vielleicht sogar Selbstoptimierung auf der einen bzw. zu Phänomenen von Demokratisierung, Selbstermächtigung, Identitätsfindung, Autonomie auf der anderen Seite werden. Es verhindert aber, sie ausschließlich in der jeweiligen normativen Perspektive zu sehen. So allgemein und beliebig die Begriffe Beobachtung, Verortung, Orientierung und Regelung erscheinen, so wenig sind sie es. Sie sind keine Selbstverständlichkeit, sondern in der Intensität ihres Erscheinens ein recht typisches Phänomen des 20. Jahrhunderts, allgemein wie speziell auch im Bereich der Medizin.126 Neben Messpraktiken breiteten sich verschiedenste Testverfahren ab dem späten 19., vor allem aber im frühen 20.  Jahrhundert nicht nur im Medizinbereich aus.127 Der Intelligenztest ist das bekannteste Beispiel hierfür.128 In der zweiten Jahrhunderthälfte traten diese Tests dann immer häufiger als Selbsttests auf.129 Mit dem Internet schließlich vervielfältigten sich die Möglichkeiten, so dass dessen Nutzer die unterschiedlichsten Fähigkeiten oder Körperzustände in Form von Selbsttests (im Rahmen von deren Normverständnis) eigenständig einschätzen können, sei es nun wie stark und auf welche Art man farbenblind ist oder ob man bereits als Alkoholiker angesehen 124 Vormbusch (2016) verfolgt für das aktuelle Phänomen des »Quantified Self« eine ähnliche Argumentation, allerdings mit dem stark verengten Fokus auf »kulturelle und ökonomische Unsicherheit« über den eigenen Wert im Kapitalismus (S. 52 f., 59). Duttweiler geht noch einen Schritt über die Orientierungsfunktion hinaus und spricht von der Funktion der Selbstpositionierung, ohne diese allerdings genauer zu fassen. Duttweiler (2016), S. 239–242, 248. Unternährer (2016) interpretiert das »Quantified Self« als numerische »Selbstthematisierung« mit dem letztlichen Ziel der Arbeit an der eigenen Identität (S. 205), welche »die Kontinuität des alltäglichen Selbst erfassbarer, spürbarer und kommunizierbarer macht« (S. 209). 125 So der Grundtenor von Wiedemann (2016) zum Phänomen des von ihr so genannten »dauerkritischen Blicks« (S. 319) anhand der Blutzuckermessung. 126 So auch Martin/Fangerau (2015), S. 39, dort aber mit einem kulturkritischen Unterton und der Tendenz zur Anthropologisierung. 127 Z. B. Kaminski (2011); Lemke (2004); Horn (2002). Es ist nicht verwunderlich, dass Tests in dieser Literatur ebenfalls vor allem als Kontroll- und Disziplinierungsinstrumente gesehen werden. 128 Lamberti (2006). 129 Ein Beispiel ist etwa der psychologische Rorschach-Test, der in den 1950er Jahren in den USA als Gesellschaftsspiel mit dem Titel »Person-analysis« auf den Markt kam. Siehe Drune (2006), S. 98. In Deutschland kam 1989 unter dem Titel »Therapie« ein entsprechendes Spiel auf den Markt. Dankenswerter Hinweis von Iris Blum, lic. phil., Zürich.

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wird. Die Selbstverortung des Menschen hat heute – bis hin zum Tageshoroskop – einen hohen Stellenwert, und das Selbstmessen des Blutdrucks ist eines der vordigitalen Beispiele dafür. Das sich ausbreitende Modell der Krankheitsrisiken führte zudem zu einer regelnden Herangehensweise an Fragen von Gesundheit und Krankheit, die als direkte Konsequenz von Beobachtung, Verortung und Orientierung verstanden werden kann, sei es nun die pharmazeutische Regelung des Krankheitsrisikos, in unserem Fall mit Blutdrucksenkern, oder über den eigenen Lebensstil. Die stärkere Bedeutung des Selbst Größere Eigenaktivität, das Beobachten, Verorten und Regeln lassen auf eine stärkere Rolle schließen, welche die eigene Person, oder das »Selbst«, in diesen Prozessen einnimmt. Forschungen der letzten Jahre haben immer wieder auf die zunehmende Bedeutung dieses »Selbst« im 20.  Jahrhundert abgehoben.130 Ein Beispiel ist etwa die zunehmende Bedeutung von Selbsterkenntnis. Als öffentliches, letztlich politisch gefördertes Projekt unter dem Motto eines »Erkenne Dich selbst!« ist die Selbsterkenntnis des Einzelnen in körperlichen Dingen jüngst u. a. am Beispiel von Gesundheitsausstellungen eingehend beleuchtet worden.131 Als explizit auch individuell gedachtes, damit aber nicht weniger zeitgeschichtliches Phänomen, mehr über sich selbst wissen zu wollen132, fällt es nur zu oft aus dem Blick. In diesem Sinn könnte das Blutdruck-Selbstmessen auch mit dem Foucaultschen Begriff einer »Technologie des Selbst« bezeichnet werden, aber eben nicht im engeren Sinne der »Führung« oder »Beherrschung« des Selbst, sondern, neutraler, im Sinne eines »Umgangs« mit sich selbst.133 Aus dieser Perspektive könnte das BlutdruckSelbstmessen auch noch allgemeiner als ein Ausdruck einer größeren Bedeutung des »Selbst« als ein individueller Gestaltungsraum verstanden werden, der neben all seiner gesellschaftlichen Einbindung im 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit Medizin und Gesundheit besteht.

130 Siehe z. B. Eitler/Elberfeld (2015); Funke (2016). Zu einer Forschungsgeschichte des »Selbst« siehe auch Strübing/Kasper/Staiger (2016), die das »Selbst« allerdings praktisch ausschließlich als gesellschaftlich, und damit von außen hergestellt, betrachten. S. a. Pfütsch (2017). 131 Nikolow: Stillleben (2015). 132 So interpretiert Fenneke Sysling (Utrecht) in ihrem laufenden Projekt etwa die Attraktivität der populären Phrenologie (einer Art Selbstvermessungs-Technologie) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (siehe Anm. 14). 133 Dies wäre auch im Foucaultschen Denksystem möglich, wenn Foucaults offener, extrem weiter Begriff der »Macht« auch wirklich konsequent so angewandt würde. Vgl. z. B. Lorey (2015). Selbst der Foucaultsche Begriff der »Sorge um sich selbst« ist hier über den Begriff der »Sorge« in der Gefahr, emotional überhöht zu werden. Vgl. Wolff: Sorge (2018).

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 85–115, FRANZ STEINER VERLAG

Gesundheit im Nachkrieg. Flüchtlinge und Vertriebene im Integrationsprozess Jens Gründler Summary Health and Integration of German Expellees from the East in Postwar Germany This contribution focuses on medical practices and health-related experiences of German refugees at the end and in the aftermath of the Second World War. During the years 1944 to 1950 more than 12 million Germans were forced to leave their home, either fleeing or being expelled from their homes in the eastern and south-eastern parts of the German Reich. Health-related topics, especially after the end of the war and during the integration of refugees and ‘Heimatvertriebene’ have been neglected by historians although health and illness are particularly important during processes of arrival in societies. Using autobiographical texts this essay tries to explore topics that were particularly important to refugees and ‘Heimatvertriebene’. Focusing on experiences of hunger and nutrition/diet, on experiences with allied measures to prevent epidemics and everyday practices of health and illness, the article opens up new perspectives on the relationship of health and migration. It underlines the fact that the integration of millions of exiled persons posed a challenge. At the same time the contribution demonstrates that individual experiences were diverse, but dependent on age and gender and, in particular, on the time of writing. Furthermore, the contribution evaluates prospective fields of research as well as the value of, and issues with, autobiographical narratives of refugees and ‘Vertriebene’ for the social history of medicine.

Einleitung Wir waren damals durch den Krieg natürlich sehr sehr elend gewesen und haben uns in ärztliche Behandlung begeben.1 Am Tag nach der Ankunft wurden wir entlaust. Wir gingen in eine große Baracke, in der wir uns nackt ausziehen mussten. Nur ein Handtuch durften wir behalten. Die Sachen kamen in einen großen Ofen zum Entlausen. Wir gingen dann weiter zum Duschen und zum Arzt.2

Diese Zitate aus autobiographischen Berichten, die Jahrzehnte nach den Ereignissen verfasst wurden, lassen auf die Bedeutung von Gesundheitsfür- und 1 2

S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285, S. 72. Auch wenn alle genutzten Quellen in öffentlich zugänglichen Archiven ohne Beschränkung verfügbar sind, werden im Folgenden die Nachnamen der Autorinnen und Autoren anonymisiert. W., Margarete. DTA Emmendingen 2590, S. 44 f.

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-vorsorge für Vertriebene und Flüchtlinge3 in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Sie geben erste Hinweise darauf, dass diese Menschen ihren physischen und mentalen Zustand nach der Ankunft in den Besatzungszonen zu verbessern suchten und dass sie sich an Gesundheitspraktiken und -maßnahmen auf bestimmte Weise erinnerten. Im Folgenden wird anhand von autobiographischen Berichten von Vertriebenen der Frage nachgegangen, welche Gesundheitsthemen die Autorinnen und Autoren beim Verfassen ihrer Erinnerungen als relevant erachteten. Zudem wird ermittelt, welchen Stellenwert Gesundheit und Krankheit in den Ego-Dokumenten einnahmen. Dabei sind auch die Unterschiede zwischen den Autorinnen und Autoren hinsichtlich des Alters, sozialen Status und Geschlechts von großer Bedeutung, um schicht-, generations- und geschlechtsspezifische Topoi zu erkennen. Der vorliegende Beitrag ist aufgrund der Forschungslage als explorative Studie konzipiert.4 Er soll potentielle Arbeitsfelder erkunden, die durch eine Erweiterung des Quellenkorpus erschlossen werden können, und erste Deutungen anbieten. Forschung Zwischen 1944/45 und 1950 flohen mehr als zwölf Millionen Deutsche aus den ehemaligen Reichsgebieten im Osten, aus annektierten Gebieten und ehemaligen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa in die alliierten Besatzungszonen.5 Die Mehrheit wurde vertrieben oder unter Zwang ausgesiedelt. Viele waren aber auch schon vor der Niederlage geflohen und westlich der Oder-Neiße-Linie angekommen. Die wissenschaftliche Forschung zu Flüchtlingen und Vertriebenen begann im direkten Anschluss an Flucht und Vertreibung bereits Ende der 1940er Jahre.6 In den 1960er und 1970er Jahren 3

4

5 6

Die Unterscheidung zwischen Vertriebenen und Flüchtlingen wurde im Bundesvertriebenengesetz von 1953 juristisch definiert. Allerdings stand die damit verbundene Klarheit der politischen, administrativen und sozialen Wirklichkeit gegenüber, die selten den gesetzlichen Definitionen folgte. In der Praxis, so Mathias Beer, wurden die Begriffe auch nach 1953 häufig synonym gebraucht. »Der genaue Inhalt des jeweiligen Begriffs [ergibt] sich erst aus dem Kontext der Quelle selbst.« Beer (1994), S. 18. Im vorliegenden Beitrag werden, dieser Idee folgend, Flüchtlinge und Vertriebene synonym gebraucht, weil die Autorinnen und Autoren der autobiographischen Texte sich als beides empfanden und sich dementsprechend auch so bezeichneten. Der Beitrag ist aus einem Forschungsprojekt zu »Alltag und Gesundheit bei ›Heimatvertriebenen‹ nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er Jahre« am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung entstanden. In diesem Projekt wurden zahlreiche populare Autobiographien von Vertriebenen in Archiven gesichtet und die relevanten von Patrick Sälzler in einem Konvolut zusammengestellt. Auf diesen Vorarbeiten basieren die folgenden Ausführungen. Grundlegende Forschungsliteratur, Nachschlagewerke und Überblickswerke zu Flucht, Vertreibung und Integration sind u. a. Hoerder (2002); Beer (1994); Beer (2011); Kossert (2008); Benz (1985); Oltmer (2010); Bade (2008). Beer (1994), S. 14–16; Riecken (2006), S. 16–20.

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ging die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ursachen und Folgen durch die ›erfolgreiche‹ Integration und politische Veränderungen zurück. Erst ab Mitte der 1980er Jahre nahm die Forschung wieder zu. In den letzten zwei Jahrzehnten war und ist die Geschichte der Vertreibung und der Integration ubiquitär. Stephan Scholz sieht den Höhepunkt des öffentlichen und historischen Interesses um 2005, der in zahlreichen Veröffentlichungen, gerade auch in populären Medien, und in TV-Sendungen gipfelte.7 Trotz des langjährigen Interesses der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung ist das Thema ›Gesundheit von Vertriebenen und Flüchtlingen‹ sozial- und medizinhistorisch bisher kaum aufgearbeitet. In den letzten Jahren sind allerdings zwei Untersuchungen veröffentlicht worden, die für diesen Beitrag von besonderem Interesse sind. Andrea Riecken hat das Gesundheitswesen des Landes Niedersachsen in der britischen Zone in Bezug auf Vertriebene analysiert.8 Dagmar Ellerbrock hat den Zusammenhang von Gesundheitspolitik und Demokratisierung in der amerikanischen Zone in das Zentrum ihrer Betrachtung gestellt.9 Ellerbrocks Studie gewährt grundlegende Einblicke in die Entwicklungen des Gesundheitswesens und die medizinischen Herausforderungen in den Jahren zwischen 1945 und 1949. Einen besonderen Stellenwert erhält die amerikanische Besatzungsadministration. Im Vordergrund stehen die Verständigung der US-Verwaltung mit der deutschen Nachkriegsverwaltung sowie die diskursive Ver- und Bearbeitung von Krankheitsbildern. Die Vertriebenen spielen keine spezifische Rolle, sie werden nicht gesondert betrachtet, dennoch erlaubt die Studie weitreichende Einblicke in die Gesundheitsverwaltung in der US-Zone, die auch für diese Arbeit von Bedeutung sind. Andrea Rieckens 2006 erschienene Dissertation ist dagegen eine genuin medizinhistorische Arbeit. Sie beschreibt das Fehlen von Forschungen zum Zusammenhang von Vertriebenen und Gesundheit treffend: »Ein Themengebiet blieb allerdings von der Neuausrichtung und Aufbruchsstimmung der 1980er Jahre relativ unberührt: Die gesundheitlichen Folgen von Flucht, Vertreibung und Integration wurden von der Wissenschaft kaum aufgegriffen und stellen auch gegenwärtig noch ein Forschungsdesiderat dar.«10 Während die medizinische Forschung sich zwar bereits früh mit Kindern beschäftigte, wie Riecken ausführlich darlegt, blieb die physische Gesundheit der Erwachsenen weitgehend unberücksichtigt.11 In ihrer eigenen Studie erschließt sie den staatlichen Umgang mit gesundheitspolitischen und -praktischen Herausforde7

Scholz (2014). Scholz macht am Beispiel der Nutzung von Fotografien in (populär-) wissenschaftlichen Darstellungen deutlich, wie Flucht und Vertreibung ikonographisch in Szene gesetzt werden. Er weist nach, dass viele der genutzten Bilder völlig anderen Entstehungszusammenhängen entstammen und durch zahlreiche erinnerungs- und geschichtspolitische Akteurinnen und Akteure umgedeutet wurden. 8 Riecken (2006). 9 Ellerbrock (2004). Vgl. auch Ellerbrock: Gesundheit (2002); Ellerbrock: Prävention (2002); Ellerbrock: Modernisierer (2002). 10 Riecken (2006), S. 20. 11 Riecken (2006), S. 21 f.

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rungen, die durch die massenhafte Ankunft und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Niedersachsen zwischen 1945 und 1953 zu bewältigen waren. Eines der zahlreichen Ergebnisse sei hier erwähnt, da es im Verlauf des vorliegenden Aufsatzes aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet wird. Das Niedersächsische Sozialministerium sah die Vertriebenen als potentielle ›Seuchenträger‹ an und reagierte, indem es Maßnahmen zur ›Gefahrenabwehr‹ einleitete – direkt nach der Ankunft in den Übergangslagern wurden alle Personen eingehend untersucht, z. T. auch gezielt auf Geschlechtskrankheiten.12 Zudem sollten die Vertriebenen auch nach der Verteilung auf die Aufnahmegemeinden von lokalen Ärzten und den Gesundheitsämtern betreut und überwacht werden.13 Die Untersuchungen in den Grenzdurchgangs- und anderen Lagern nehmen auch in vielen schriftlichen Erinnerungen der Vertriebenen einen prominenten Platz ein. Entlausung und medizinische Untersuchungen waren die ersten Eindrücke der Ankunft. Die Perspektive der Vertriebenen auf den gesundheitlichen Alltag in der Zeit nach Flucht und Vertreibung und im Nachkrieg bis in die 1950er Jahre ist demnach bisher in der historischen Forschung nicht oder nur am Rande behandelt worden.14 Mit dem vorliegenden Aufsatz soll diese Lücke anhand von drei Themen, die Vertriebene in ihren Erinnerungen zur Sprache bringen, genauer definiert und in Ansätzen geschlossen werden. Damit soll einerseits der Bedeutung gesundheitsrelevanter Themen in den Erinnerungen nachgespürt werden. Andererseits erlauben die folgenden drei Themen, die subjektive Perspektive der Vertriebenen auf Herausforderungen und Bewältigungsstrategien zu analysieren und diese mit dem Verhalten anderer zu vergleichen.15 Zunächst wird die Bedeutung von Hunger und Ernährung betrachtet.16 Hunger war auf der Flucht und während der organisierten Vertreibungen en12 Riecken (2006), S. 277–279. 13 Die Beschränkung der Zwangsuntersuchungen auf die Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen steht dabei in der gesundheitspolitischen Tradition, Migrantinnen und Migranten oder allgemein ›Fremde‹ als gefährlich für die Gesundheit der autochthonen Bevölkerung einzustufen. Die Armutskrankheiten zahlreicher Immigrantinnen und Immigranten und die daraus resultierenden, stigmatisierenden Diskurse und Praktiken der Ausgrenzung und Abweisung finden sich in der Zeit ab dem späten 19. Jahrhundert in den Grenzregimen zahlreicher Staaten. Die USA, Großbritannien oder das Deutsche Reich entwickelten ausgeklügelte Systeme der Einwanderungskontrolle. Vgl. Reinecke (2010); Yew (1980); Lüthi (2009); Weindling (1989). 14 In diesem Aufsatz werden aufgrund der Perspektive auf die Zeit nach Flucht und Vertreibung einige Themen ausgespart. Nicht detailliert eingegangen wird auf die während der Flucht erlittenen und berichteten Misshandlungen und Vergewaltigungen. Ebenso werden die katastrophalen Versorgungsengpässe und hygienischen Bedingungen während Flucht/Vertreibung und Zwangsarbeit nur am Rande behandelt. Diese Themen werden an anderer Stelle untersucht. 15 Für den Vergleich besonders geeignet erscheint Susanne Hoffmanns Studie über gesunde Lebensstile im 20. Jahrhundert. Vgl. Hoffmann (2010). 16 Eine Untersuchung, die stark von der NS-Ideologie und Selbstentlastungsdiskursen geprägt ist, hat Ernst Günther Schenck schon 1965 vorgelegt: Schenk (1965). Über Schencks Rolle im Nationalsozialismus als Lagerarzt und bei Menschenversuchen vgl. Kopke (2001); Heer (2005); Klee (2005), S. 530 f.

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demisch und blieb in weiten Teilen Deutschlands auch nach Kriegsende allgegenwärtig. In den Großstädten und Industrierevieren war die Versorgungslage katastrophal. Die Berichte und Bilder von ›Hamsterfahrten‹ in ländliche Gebiete sind noch heute medial omnipräsent und prägen das Verständnis dieser Periode nachhaltig.17 Der Verlust aller materiellen Güter durch die Vertreibung verschärfte die Situation der Vertriebenen bei der Beschaffung von Lebensmitteln deutlich. Für sie, die nach ihrer Ankunft vielfach in ländlichen Gebieten angesiedelt wurden, blieben Hunger und Mangelversorgung daher von zentraler Bedeutung  – obwohl die Ernährungssituation in diesen Regionen wesentlich besser war. Ebenso bedeutsam erscheinen in den Erinnerungen die Umstellung und Anpassung von Ernährungsgewohnheiten, die Vertriebene in der neuen Heimat zu leisten hatten. Als zweites Thema wird die Bedeutung von Reihenuntersuchungen und medizinischen Behandlungen, besonders der ›Seuchenprävention‹, im Rahmen der Ankunft in den Durchgangslagern und nach der Ansiedelung in den Besatzungszonen untersucht.18 Die Entlausungen in den Lagern oder an Bahnhöfen waren die erste gesundheitspolitische Maßnahme, mit der die Vertriebenen konfrontiert wurden. Sie fungierten als eine Schwelle, über die man in die Nachkriegszeit eintrat. Gefragt wird daher danach, ob und wie die Entlausung von Zivilpersonen wahrgenommen wurde, wie diese die Prozedur beschrieben und im Nachhinein bewerteten oder auch für nicht erwähnenswert hielten. Zum Abschluss sollen die medizinische Versorgung sowie individuelle und familiäre Gesundheitspraktiken in der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt werden. Die Betrachtung des »gesunden Alltags« in den Erinnerungen soll Aufschluss darüber geben, inwieweit einerseits das medizinische Angebot überhaupt als relevant angesehen und genutzt wurde. Andererseits kann auf diese Weise eruiert werden, wie fehlende oder unvollständige familiäre und soziale Netzwerke das Gesundheitsverhalten beeinflussten.

17 Unabhängig davon, ob diese Bilder nun ›tatsächliche‹ Hamsterfahrten o. Ä. zeigen oder nicht, ist das kulturelle Gedächtnis von diesen Bildern besonders geprägt und beeinflusst. Die Bilder strukturieren die Erinnerung. Stephan Scholz hat auf die Probleme bei der Arbeit mit Bildern von Flucht und Vertreibung kürzlich hingewiesen. Vgl. Scholz (2014). 18 Die Praxis der Untersuchungen und besonders der Entlausung von Wehrmachtssoldaten hat bereits Dagmar Ellerbrock untersucht und bewertet: »Mit diesem Akt wurde einerseits die Kampfsituation bzw. die deutsche Niederlage perpetuiert, gleichzeitig erfuhr die Situation jedoch bereits eine Umwertung: Während militärische Waffen noch den deutschen Soldaten an sich bekämpft hatten, attackierten die DDT-Pistolen nur noch die Läuse auf den Soldatenkörpern.« Ellerbrock (2004), S. 258.

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Quellen Populare Autobiographien, die das Quellenkorpus19 dieses Beitrags bilden, haben in der historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten verstärkt Beachtung gefunden. Methodisch-theoretisch haben sie eine Umwertung erfahren.20 Autobiographien werden nunmehr als »Ausdruck von Gruppenzusammengehörigkeit und Ergebnis einer sozialen Praxis«21 verstanden. Die Texte werden demnach zum Zeitpunkt des Schreibens aktualisiert, um die Lebensgeschichten in der Rückschau in eine kohärente und einheitliche Erzählung zu formen.22 Grundsätzlich erlaubten derartige Texte daher eher Aufschluss darüber, wie die Verfasserinnen und Verfasser im Schreibprozess ihre Vergangenheit reflektieren und verarbeiten. Gleichwohl bieten die Texte auch zahlreiche Einblicke in den vergangenen Alltag, die man für die Analyse nutzen kann.23 Denn die Autorinnen und Autoren beschreiben Gesundheitspraktiken, Formen der Krankenfürsorge und -pflege, Unfälle und schwerwiegende Erkrankungen sowie das professionelle medizinische Angebot. Beispielgebend hat Susanne Hoffmann den »gesunden Alltag« im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts anhand von Autobiographien untersucht und bewiesen, dass man im Sinne einer Alltagsdiskursanalyse valide und über die individuelle Erzählung hinausgehende Erkenntnisse zu Lebensstilen und Gesundheitspraktiken mit derartigen Quellen erarbeiten kann.24 Bedeutsam bei der Analyse autobiographischer Texte erscheint zudem der Zeitpunkt des Schreibens, da ein größerer Abstand den Blick auf Ereignisse durch gesellschaftliche und individuelle Prozesse deutlich verändert. Einige der hier genutzten Texte sind zeitlich nah an den Ereignissen verfasst worden. Werner R. schrieb seine Erinnerungen im Jahr 1970, nach Tagebucheinträgen der Jahre 1945 und 1946 sowie Aufzeichnungen von 1949.25 In vielen Fällen 19 Die hier genutzten autobiographischen Texte stammen allesamt aus dem Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen. Sie sind im Rahmen der vorliegenden Studie gewählt worden, um das Potential dieser Quellen für die Geschichte des »gesunden Alltags« zu analysieren. In anderen Archiven und Quellensammlungen, wie der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, sind relevante Bestände nicht systematisch erhoben worden. Bereits veröffentlichte Autobiographien, wie aus dem Verlag Zeitgut, wurden für diese explorative Studie ebenfalls nicht systematisch erfasst. Beides wäre für weiterführende Arbeiten jedoch geboten. Vgl. aus dem Verlag Zeitgut z. B. Seiler (2004). 20 Vgl. Müller (1997); Günther (2001); Depkat (2003); Depkat (2004). 21 Depkat (2003), S. 442. 22 Bourdieu (1990); Depkat (2003); Leitner (1990). Grundsätzlich erzeugen Autobiographien eine Realitätsfiktion, die durch den ›autobiographischen Pakt‹ zwischen Autor und Publikum erzeugt wird. Darauf kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Vgl. zum Konzept Bourdieu (1990); Lejeune (1994). 23 Vgl. Müller (1997). 24 Hoffmann (2010). Umfassend ist ihre Erläuterung der theoretischen und methodischen Herangehensweise bei der Analyse von popularen Autobiographien, vgl. Hoffmann (2010), S. 53–61. 25 R., Werner. DTA Emmendingen 2246.

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wurden die Erinnerungen dagegen erst in den 1990er und 2000er Jahren aufgeschrieben. Margarete W. erstellte ihren Bericht um 1990, ließ ihn setzen und drucken.26 Peter St., Felicitas St. und Elisabet K. warteten sogar bis nach der Jahrtausendwende, um ihre Erinnerungen aufzuschreiben.27 Der Zeitpunkt des Schreibens hat jedoch kaum Einfluss darauf, ob und wie die Autorinnen und Autoren über Krankheit und Gesundheit berichten. In allen Texten werden derartige Episoden und Ereignisse in sehr ähnlicher Weise geschildert. Der zeitliche Abstand verändert dabei eher die Bewertung bestimmter Praktiken oder die Einschätzung der Schwere bestimmter Erkrankungen. Auch Schreibmotiv und Publikum sind Faktoren, die bei der Nutzung von Autobiographien als Quellen zu berücksichtigen sind. Die meisten der hier vorliegenden individuellen Lebensgeschichten waren an Kinder und Enkel gerichtet.28 Sie sollten zu einem festen Bestandteil des Familiengedächtnisses werden, damit das Wissen um Flucht und Vertreibung, aber auch um die eigene Kindheit vor und während des Zweiten Weltkriegs nicht verlorenging. Wie häufig bei popularen autobiographischen Texten ging die Initiative sogar von Verwandten aus, die zum Schreiben aufforderten.29 Dementsprechend sind darin in der Hauptsache Ereignisse und Berichte enthalten, die für die Angehörigen interessant und erinnerungswürdig sind. Allerdings sind einige Texte auch spezifisch zur Veröffentlichung verfasst und damit ins soziale Gedächtnis eingespeist worden.30 Susanne Hoffmann, die ebenfalls mit autobiographischen Beständen des Tagebucharchivs Emmendingen gearbeitet hat, konstatiert, dass »[w]ohl die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren […] diese Publizität bereits beim Schreiben angestrebt haben [dürfte]«.31 Ob und welchen Einfluss das Bewusstsein um die Veröffentlichung und eventuelle Archivierung auf die inhaltliche Textgestaltung hatte, ist schwer zu eruieren. Keine Autorin und kein Autor hat Angaben dazu gemacht. Ebenso wenig ist in den meisten Texten vermerkt, ob und in welchem Ausmaß Überarbeitungen vor der Ablieferung ins Archiv erfolgt sind – also bevor man die eigene Lebensgeschichte frei zugänglich machte. So beruhen die Erinnerungen von Claire S. z. B. auf handschriftlichen Aufzeichnungen, die sie 1971 auf Tonband aufnahm oder aufnehmen ließ und 1989 niederschrieb.32 Einige 26 W., Margarete. DTA Emmendingen 2590. 27 St., Peter. DTA Emmendingen 1745; St., Peter. DTA Emmendingen 2076; St., Felicitas. DTA Emmendingen 1137; K., Elisabet. DTA Emmendingen 1164. 28 Z. B. Sch., Anneliese. DTA Emmendingen 3105; W., Margarete. DTA Emmendingen 2590; Zadow, Reimar von. DTA Emmendingen 2206. 29 Vgl. Müller (1997), S. 306 f. 30 Durch die Archivierung sind selbstverständlich alle hier verwendeten Texte auch Teil des sozialen und kulturellen Gedächtnisses geworden, da sie jederzeit im Archiv für die Öffentlichkeit einsehbar sind. Zur Unterscheidung zwischen kommunikativem, sozialem und kulturellem Gedächtnis vgl. Assmann (1999). 31 Hoffmann (2010), S. 59. 32 S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285. Die Erinnerungen von Erika Rosa  P. beruhen zum Teil auf Briefen, die die Großmutter geschrieben hatte. Daraus nahm sie die wichtigsten Passagen und band sie in ihren Bericht ein. Vgl. P., Erika Rosa. DTA Emmendingen 972, S. 32.

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Texte wurden allerdings gezielt zur Veröffentlichung geschrieben und entsprechend bearbeitet. Ein prägnantes Beispiel ist Wolfgang P., der im Sudetenland geboren und als Jugendlicher vertrieben wurde.33 Seine Erinnerungen schrieb er zuerst im Jahr 1960 auf, die im Archiv abgelieferte Version allerdings erst 2003. Im Vorwort, das noch aus dem Jahr 1960 stammt, macht der Autor seine Schreibintention und seinen Standpunkt klar: Unsere Nachkommen aber sollen wissen, daß nicht nur der Deutsche im letzten Krieg seinen Namen mit Blut besudelt hat, sondern daß namentlich auch die Tschechen, die am wenigsten unter dem Regime des Dritten Reiches zu leiden hatten, grausame Rache an dem deutschen Volksstamm in Böhmen und Mähren nahmen, der zum Teil ebenso unschuldig war wie die hingemordeten Naziopfer.34

Die Erinnerungen P.s hatten demnach das Ziel, das Wissen um die Leiden der Vertriebenen für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Gleichzeitig reklamierte P. damit für sich den Status des Opfers. Daher wirkt der Text an vielen Stellen unversöhnlich und teilweise revanchistisch.35 Werner R.s Erzählung ist ein weiteres Beispiel für eine Autobiographie, die mit dem Ziel der Veröffentlichung geschrieben worden war. Er nahm das Vergessen der jüngeren Generation, das nach fast 25 Jahren bei vielen eingesetzt hätte, zum Anlass, seine Erinnerungen aufzuschreiben, um eine Geschichte der Vertreibung frei von »politischen Meinungen und eigener Voreingenommenheit« zu erzählen.36 Die Autorinnen und Autoren Die vorliegenden popularen Autobiographien wurden demnach von »nichtprofessionellen Hobby-, Laien- oder Gelegenheitsautorinnen und -autoren«37 geschrieben, die in der Regel keine kommerziellen Interessen mit den Texten verfolgten. Im Folgenden sollen die Autorinnen und Autoren des Quellensamples kurz anhand ihrer demographischen und sozioökonomischen Merkmale 33 P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971. Ein anderes Beispiel, das in diesem Text kaum berücksichtigt wird, ist Reimar von Zadow, dessen fünfbändige Lebenserinnerungen z. T. auch käuflich erworben werden können. Daher wird dieser Autor nicht anonymisiert. Zadow, Reimar von. DTA Emmendingen 2206. Vgl. auch http://www.von-zadow.net/ Veroeffentlichungen/ (letzter Zugriff: 17.1.2018). 34 P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 1. 35 Das Leiden der Tschechen wird hier gezielt ignoriert, um die Verbrechen an der eigenen Gruppe als besonders grausam darzustellen. Der Text von P. ist geprägt von Revanchismus und einer »Uneinsichtigkeit gegenüber fremden Leiden«, wie viele Erinnerungen von deutschen Vertriebenen. Vgl. dazu z. B. Buruma (2015), S.  115 f. Die Zeit vor der Eingliederung des Sudetenlandes ins Reich 1938 bezeichnet P. als »Tschechenjoch«, den ›Anschluss‹ als »Befreiung«. Seine eigene Situation während einer Phase der Zwangsarbeit in einer tschechischen Fabrik vergleicht er mit den Zuständen im KZ Dachau – er ist der Auffassung, dass die Sudetendeutschen schlechter behandelt wurden als die KZHäftlinge. P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 11, 13, 36. 36 R., Werner. DTA Emmendingen 2246, S. 5. 37 Hoffmann (2010), S. 398.

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vorgestellt werden. Von den 25 Autobiographien38, die das Quellensample bilden, wurden 16 von Frauen und neun von Männern verfasst. Die Frauen schrieben meist häufiger und ausführlicher über gesundheitliche Aspekte ihrer Biographie. Das hängt zum einen damit zusammen, dass einige Frauen in der Bundesrepublik Heil-/Pflegeberufe ergriffen und somit Krankheit und Gesundheit nicht nur im Schreibprozess breiten Raum einnahmen. Zum anderen wird auch ein eher traditionelles Rollenverständnis in den Autobiographien sichtbar, nämlich dass Frauen auch in den Familien eher für die Pflege erkrankter Angehöriger zuständig waren. Für die detaillierte Analyse der Erzählungen ist auch das Alter während der Ereignisse von besonderer Bedeutung, da es das Erleben und die Erinnerung in besonderem Maße beeinflusst. Die Frauen entstammen mehrheitlich der Generation der Zwischenkriegszeit: Sieben von 16 Frauen wurden zwischen 1918 und 1933, weitere fünf bis 1939 geboren. Nur eine Frau war vor der Jahrhundertwende geboren. Bei acht von neun Männern lag das Geburtsdatum in der Periode der Zwischenkriegszeit. 14 Autorinnen und Autoren waren bei ihrer Flucht bereits volljährig, allerdings nur fünf älter als 30 Jahre. Das Jahr 1945 erlebten sechs Frauen und Männer im Alter von weniger als zehn Jahren, weitere vier waren unter 14 Jahre alt.39 Allerdings gehörten zu diesen Gruppen besonders viele Männer. So waren fünf von ihnen im Alter zwischen sieben und 14 Jahren, ein weiterer war 15 Jahre alt. D. h. zwei Drittel der Autoren waren minderjährig, aber weniger als ein Drittel der Autorinnen. In den zeitgenössischen Berichten und (populär-)wissenschaftlichen Studien über die Vertreibungen bestätigt sich dieses Bild – während Jungen und Männer, die auch nur ansatzweise ›wehrfähig‹ waren, zum Volkssturm kommandiert wurden, flohen während der wilden Vertreibungen und organisierten Aussiedlungen hauptsächlich Alte, Frauen und Kinder.40 Daher ist es wenig verwunderlich, dass weniger Männer autobiographische Berichte über Flucht und Vertreibung verfasst haben und diese Männer deutlich jünger waren. Das jüngere Alter der Männer kann ebenfalls erklären, warum Frauen häufiger über Gesundheitsthemen und Krankenpflege berichten – für die Jungen und jugendlichen Männer erschienen Kriegs- und Nachkriegszeit auch als ›Abenteuer‹, in dem sie erwachsen wurden. Und die Erinnerungen an aufregende Ereignisse erschienen wohl interessanter und erinnerungswürdiger, auch hinsichtlich der Adressatinnen und Adressaten. Die Autorinnen und Autoren des Quellensamples stammen aus allen sozialen Schichten. Wolfgang P.s Vater war Schulleiter, seine Mutter war Sänge-

38 Die Anzahl von 25 Autobiographien ergibt sich, weil Peter St. zwei der in der Bibliographie vermerkten Quellen verfasst hat. 39 Die Erlebnisberichte von Kindern erinnern bei der Lektüre teilweise an Abenteuerromane. Z. B. berichtet Norbert S.  von Benzindiebstählen aus amerikanischen Armeelagern, die er mit einem Freund bei Nacht und Nebel durchführte. Vgl. S., Norbert. DTA Emmendingen 1340, S. 12. 40 Vgl. z. B. Benz (1985); Kossert (2008); Beer (2011).

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rin und unterrichtete Musik.41 Claire S. war mit einem Gutsbesitzer verheiratet.42 Dagegen war Margarete W.s Vater Brunnenbauer43, Peter St. wurde 1932 in Tilsit (Ostpreußen) in eine große Arbeiterfamilie geboren44. Bei Schul- und Ausbildung der Autorinnen und Autoren finden sich Volksschul- ebenso wie erfolgreiche Hochschulabschlüsse. Norbert S.  aus Görlitz (Schlesien) wurde nach dem Krieg Arzt, Katharina K. wurde Lehrerin, Armgard D. aus Reichenberg (Tschechien) legte die Mittlere Reife ab, und Helmuth H. arbeitete als Sanitäter und Polizist.45 Die soziale Herkunft hat allerdings genauso wenig erkennbare Auswirkungen auf die Textgestaltung oder Orthographie wie der formale Bildungsgrad. Eine mögliche Erklärung dafür liegt in den Lebensläufen der Vertriebenen nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Mehrheit der Verfasserinnen und Verfasser lebte nach Kriegsende ›Erfolgsgeschichten‹. Vielen gelangen berufliche Karrieren, sie gründeten Familien und bauten im Wirtschaftswunder sichere Existenzen auf. Die Frage, welchen Einfluss die geschilderten Biographien auf die Autobiographien nahmen, wird in den analytischen Kapiteln erörtert. Hunger und Ernährung Die Zunahme an verfügbaren Lebensmitteln im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Westeuropa und den USA wird seit den 1980er Jahren als zentraler Faktor für das Ansteigen der Lebenserwartung in den sich industrialisierenden Ländern verantwortlich gemacht.46 An diesem ›Paradigma‹ ist in der historischen Forschung zahlreiche Kritik geäußert worden.47 Für viele Menschen waren jedoch Ernährung und Essen zentrale Bestandteile einer guten und gesunden Lebensführung. Ausreichende Mengen und eine gute Qualität der Nahrungsmittel waren von großer Bedeutung. So wurde z. B. der Anstieg des Fleischkonsums im Deutschen Kaiserreich und in anderen Ländern als Fort41 Vgl. den zur Geschichte beigefügten, 2001 verfassten Lebenslauf in P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, unpag. Interessant ist, dass er seinen Lebenslauf in der dritten Person verfasst, diesen also objektiviert hat, während seine Lebensgeschichte aus Ich-Perspektive erzählt wird. Auffällig ist auch, dass er den Lebenslauf zwar vor seinem Tod geschrieben hat, aber von sich selbst als ›der Verstorbene‹ redet. 42 S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285. 43 W., Margarete. DTA Emmendingen 2590. 44 Der Autor beschreibt die wirtschaftliche Situation allerdings als sicher und stabil. St., Peter. DTA Emmendingen 1745; St., Peter. DTA Emmendingen 2076. So konnte die Familie sich eine Waschfrau leisten, der Vater war Eishockeytorwart bei den Olympischen Spielen 1936. St., Peter. DTA Emmendingen 2076, S. 6. 45 S., Norbert. DTA Emmendingen 1340, S. 1; K., Katharina Maria Anna. DTA Emmendingen 1189; D., Armgard. DTA Emmendingen 2315; H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086. 46 Thomas McKeown beschreibt den Anstieg der Lebenserwartung als Effekt von verbesserten Ernährungsstandards und dem Ausbau der Sozialhygiene. McKeown (1976). 47 Schon Fogel (1984), besonders S. 7–12; ein Überblick und weiterführende Literatur bei Kim (2000); Mercer (2014).

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schrittsindikator angesehen.48 Susanne Hoffmann und Nicole Schweig haben diese Wahrnehmungen beispielsweise für das 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum anhand von autobiographischen Texten bzw. Briefen nachgewiesen.49 Für deutsche Amerika-Auswandererinnen und -Auswanderer maßen sich erfolgreiche Migration und das ›Wunder Amerikas‹ gerade auch an den Lebensmitteln, insbesondere Fleisch, die im Überfluss vorhanden und auch für Mitglieder der unteren Schichten zu konsumieren waren. Eine gesunde Ernährung zeichnete sich durch die Größe der Fleischportion aus.50 Dieser Überfluss war zwar in Europa, gerade für sozial schwächere Schichten, nicht vorhanden. Doch auch in Westeuropa waren Hungerkrisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr vorgekommen. Erst während des Ersten Weltkrieges sollten die Deutschen unter Rationierungen und Hunger leiden, wie im ›Steckrübenwinter‹ 1916/17.51 Dieser Nahrungsmittelmangel sowie die Ersatzprodukte gingen in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung ein. Für die 25 Autorinnen und Autoren des Quellensamples waren die Mangel- und Hungererfahrungen am Ende des Zweiten Weltkrieges allerdings neu. Genau 20 von ihnen waren erst in der Weimarer Zeit und danach geboren worden. Und obwohl am Ende der Weimarer Republik in der Wirtschaftskrise Armut und Mangel herrschten, wurden diese Erfahrungen in den Autobiographien nicht mit denen der Vertreibungszeit verknüpft.52 Für die Mehrheit der Autorinnen und Autoren war die Referenzzeit eher die Zeit des Nationalsozialismus, in der für ›rassische‹ Deutsche Hunger und Nahrungsmangel bis zum Krieg – und vielfach bis zum Kriegsende – der Vergangenheit angehörten.53 Die ›neuen‹ Erfahrungen am Ende des Zweiten Weltkriegs waren daher in allen hier untersuchten Autobiographien ein bedeutendes Thema. Verständlicherweise wird die schlechte Nahrungsmittelversorgung besonders häufig in direktem Zusammenhang mit dem Geschehen von Flucht und Vertreibung erwähnt, während die Zeit bis zum Zusammenbruch bzw. bis zum Winter 1944

48 Vgl. Teuteberg (1986). 49 Wobei das Thema auch über die Kriegserfahrungen hinaus relevant war. Zwei Drittel der Aussagen bezogen sich nicht auf die Zeit der Weltkriege. Vgl. Hoffmann (2010), S. 130–148; Schweig (2009), S. 121–128. Pierre Pfütsch hat Ernährungsgewohnheiten und deren Veränderung durch gesundheitliche Aufklärung als ein Element des »präventiven Selbst« gedeutet. Vgl. Pfütsch (2017). 50 Gründler (2015). 51 Huegel (2003); Corni (2009). 52 Im Gegensatz zu den Untersuchungen von Hoffmann und Schweig lassen sich beim Thema Ernährung keine schichtspezifischen Ausprägungen in den Narrativen nachweisen. Eine Erklärung dürfte sein, dass in den Jahren 1944/45 und während der Vertreibung alle unter Mangelversorgung litten. Vgl. Hoffmann (2010), S. 137 f.; Schweig (2009), S. 121. 53 Eine Erklärung dafür kann zum einen im Alter der Verfasserinnen und Verfasser während der Weltwirtschaftskrise gesehen werden. Zum anderen waren die Auswirkungen des Mangels am Ende der Weimarer Republik weniger gravierend als während der Vertreibung, wo zur Knappheit der Ressourcen noch Gewalt und Zusammenbruch hinzutraten.

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kaum mit Mangel verknüpft wird.54 Schließlich hatte sich auch während des Krieges die Versorgungslage nicht dramatisch verschlechtert, da man aus den besetzten Gebieten Nahrungsmittel und Konsumgüter importierte. Nahezu alle Autorinnen und Autoren berichten vom Hunger auf den Flüchtlingstrecks, bei der Zwangsarbeit vor der Vertreibung oder in den Zügen, mit denen die Deutschen aus dem Sudetenland oder Schlesien ausgesiedelt wurden. Auch für die Zeit nach dem Ende der Kriegshandlungen sind zahlreiche Berichte über Hunger und Mangel in den Autobiographien zu finden. Else G. schreibt besonders prägnant über die Situation direkt nach Kriegsende in ihrem Heimatort in Pommern: »So langsam haben wir uns an das ›Wenigessen‹ gewöhnt, und wir merken auch nicht, daß wir alle fast zum Skelett werden.«55 Auch bei der Zwangsumsiedelung in Zügen waren die Nahrungsmittel knapp: »Das wenige Brot wird weiter in Häppchen aufgeteilt, die immer kleiner werden.«56 Helmuth H. berichtet von Versorgungsproblemen, die in den Regionen, in denen viele Vertriebene auf der Flucht und danach untergebracht wurden, auftraten. »Sie [die Einheimischen – J. G.] fühlten sich, als ob wir ihnen wie bei einer Heuschreckenplage alles weg fraßen.«57 Zu weiteren Herausforderungen, wie Ungeziefer und schlechte Wohnbedingungen, »kamen noch der Hunger und die Unterernährung«.58 Im Gegensatz zu anderen Vertriebenen erinnert sich H. aber auch an die Großzügigkeit und das Wohlwollen der sowjetischen Soldaten, besonders Kindern gegenüber.59 »Oft ließen sie uns an ihrer kargen und fleischlosen Kohlsuppe teilhaben. Hin und wieder bekamen wir auch ein Stück Brot. […] Sie hatten selbst nicht so viel, ihre Verpflegung war sehr bescheiden. Ganz Russland hungerte genau wie wir.«60 Dagegen nahm er die deutschen Bauern als wenig entgegenkommend wahr, die den Vertriebenen nur selten halfen.61 Der Mythos von der deutschen Volks- und Schicksalsgemeinschaft war für den Autor schon vor Kriegsende zerfallen. Peter St., der Ende September 1944 mit seiner Familie aus Osterode in Ostpreußen in den Süden von Sachsen evakuiert wurde, berichtet von Verhältnissen während der Evakuierungen, die denen während der Vertreibungen 54 55 56 57 58 59

Vgl. Hendel (2015); Münkel (1996); Melzer/Kleemann/Saller (2006); Huegel (2003). G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 52. G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 90. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 18. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 18. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 20. Eine ähnliche Erzählung findet sich in Margarete R.s Autobiographie. Hier werden ›die Russen‹ als freundlicher und großzügiger als ›die Polen‹ bezeichnet. Deren Verwaltung stellte kaum noch Nahrungsmittel zur Verfügung. R., Margarete. DTA Emmendingen 1339, S. 19. 60 H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 20. Die genannte Einstellung gegenüber den russischen Soldaten entstammt allerdings im Fall von H. einer nachträglichen Reflexion. Der Autor berichtet in aller Offenheit über seine Kindheitsüberzeugungen, die von der NS-Ideologie bestimmt waren. 61 Eine besondere Abneigung hegt H. gegen die katholisch-frommen Großbauern, die seines Erachtens die »geizigsten« waren. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 19.

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und Aussiedlungen ähnelten. Der Transport wurde in Viehwaggons absolviert, dauerte sechs Tage, und der Autor erinnert sich bis in die Details an die Transporte, die nach Ende der Kriegshandlungen aus den ehemaligen ostdeutschen Reichsgebieten stattfanden. 40 Personen waren in einem Waggon, die »hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, Wasser war nur schwer zu bekommen und […] Verpflegung gab es nur gelegentlich«.62 Ähnliche Erfahrungen während der sowjetischen Besatzung machte Erika Sch., deren Familie wenige Wochen nach dem Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte ihr Haus räumen musste, damit eine polnische Familie es übernehmen konnte.63 Die noch anwesenden Mitglieder der Familie mussten im Dezember 1945 zu einer Großmutter der Autorin nach Bad Warmbrunn ziehen. Hier erlebte Erika Sch. die Auswirkungen der Besatzung. »Es war ein Kampf ums Überleben. Wir hatten kein polnisches Geld und konnten keine Lebensmittel kaufen. Der Schwarzmarkt blühte. […] Aber irgendwie bekamen wir immer etwas zu essen.«64 Auf dem Speiseplan der Familie stand nun auch Suppe aus Eichelmehl und Brennnesselspinat. Wie viele andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geht also auch Erika Sch. auf die Notspeisepläne der Vertriebenen ein. Diese Nutzung nicht mehr gebräuchlicher Nahrungsmittel für die alltäglichen Mahlzeiten war allerdings für weit größere Bevölkerungskreise überlebensnotwendig. Für die Familie von Erika Sch. war diese Phase jedoch zeitlich eng begrenzt, denn nachdem die Mutter und eine Schwester sowie eine Tante der Autorin in einem sowjetischen Lazarett zu arbeiten begannen, verbesserte sich die Versorgung der Familie. Die arbeitenden Frauen wurden mit Lebensmitteln versorgt und durften Essensreste für ihre Angehörigen mitnehmen.65 Nachhaltig verbessert wurde der Speiseplan durch die Arbeit der Autorin als Kindermädchen einer russischen Familie. Der Vater war der Schlachter des Lazaretts, und Erika Sch. konnte sich selbst »wieder mal richtig satt« essen und auch für ihre Verwandten Lebensmittel, besonders Fleisch und Kartoffeln, mitnehmen.66 Im Gegensatz zu anderen Vertriebenen berichtet die Autorin aber nicht von Hunger oder schlechter und unzureichender Nahrung während der Transporte oder nach der Ankunft im Lager in Immendorf bei Braunschweig.67 62 St., Peter. DTA Emmendingen 1745, S. 12. 63 Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 31–33. Im Verlaufe weniger Wochen wurden alle Häuser der Siedlung für polnische Flüchtlinge requiriert. 64 Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 34 f. Die Familie hatte durch den Umzug in ein Siedlungshaus einen großen Garten und die Möglichkeit, Kleinvieh zu halten. Damit war sie unabhängig vom Marktangebot und bis zu ihrer Flucht ausreichend mit Essen versorgt. Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 13. 65 Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 36 f. 66 Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 37 f. 67 Für Ernst-Georg K. war die Nahrung im Durchgangslager zwar qualitativ dürftig, aber von der Menge ausreichend: »[W]ässerige Suppen, aber Brot. Ich erinnere mich auch an Konservendosen amerikanischer Herkunft, sehr klein, aber nahrhaft.« Gleichzeitig erinnert er sich an die erste Schokolade seines Lebens. Vgl. K., Ernst-Georg. DTA Emmendingen 3065, S. 69 f.

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Auch in der neuen Heimat in Adelebsen, im Kreis Northeim, war Hunger für die Familie kein Thema mehr. Zwar war das Kochen in engen Verhältnissen unbequem und ungewohnt, die Lebensmittel rationiert. Aber die ländliche Umgebung und eine großzügige Aufnahmefamilie sorgten für zahlreiche Möglichkeiten, zusätzliche Nahrung zu erhalten.68 Eine weitere Episode aus den Erinnerungen von Erika Sch. zeigt die Bedeutung von Essen und Nahrung in der Nachkriegszeit. Als Kinderkrankenschwester erlebte sie ein besonderes Weihnachtsfest bei einer Einladung durch amerikanische Soldaten: Die Kinder [des Kinderheims, in dem sie arbeitete – J. G.] wurden mit Gebäck und Kakao vollgestopft[,] und wir konnten essen und trinken so viel wir wollten. Zwischendurch waren wir damit beschäftigt die nassen Hosen der Kinder zu wechseln. Es kam mehrmals vor, dass die Kinder auf den Hosen der Soldaten einnässten und erbrachen. Sie weinten und waren ängstlich[.]69

Auch wenn das Kinderheim, in dem die Autorin arbeitete, ausreichend mit Lebensmitteln versorgt war, blieb dieses Erlebnis besonders lebendig in Erinnerung: Der Überfluss, der bei den amerikanischen Streitkräften herrschte, brannte sich in das Gedächtnis der Autorin ein. Essen war also auch bei guter Versorgungslage von zentraler Bedeutung. Auch Armgard D. machte in der Nachkriegszeit keine Hungererfahrungen mehr. Nach einer Flucht voller Strapazen und Entbehrungen war die Ankunft im ländlichen Franken von ausreichend Nahrung und gutem Essen geprägt. Ihre Mutter schneiderte in ihrer neuen fränkischen Heimat den Frauen des Dorfes gegen Lebensmittel Kleidung – der Mangel war vorbei.70 Während Erika Sch. und Armgard D. besonders die Nachkriegszeit im Westen als Neuanfang mit wenigen Herausforderungen bei der Nahrungsmittelversorgung wahrnahmen, erinnern sich andere Autorinnen und Autoren stärker an die Probleme und Schwierigkeiten bei der Essensbeschaffung. In Helmuth H.s Erzählung über die Nachkriegszeit wird die schwierige Versorgungssituation immer wieder deutlich. Er war mit seiner Familie in Berlin angekommen, ohne eine Genehmigung für den Daueraufenthalt zu besitzen: »Unser jetziges Leben beschränkte sich auf das Organisieren von Essbarem und dessen zum Verzehr geeignete Zubereitung. In der zerbombten Großstadt wurde es immer schwieriger, sich den täglichen Lebensunterhalt zu beschaffen.«71 Daher mussten im Umland Lebensmittel besorgt und sogenannte Hamsterfahrten unternommen werden. H. beschreibt sie eindringlich: 68 Erika Sch. nennt einige Beispiele. Für Arbeiten auf den Feldern und bei der Ernte erhielt man Teile der Ernte, der Lohn fürs Gänsehüten bestand aus Schmalzbroten. Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 43 f. 69 Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 57. 70 Vgl. D., Armgard. DTA Emmendingen 2315. Die Autorin beklagt sich im Gegenteil darüber, dass die Familie eher zu viel Essen zur Verfügung hatte und sie deswegen, zum Spott der Dorfkinder, übergewichtig war. Vgl. D., Armgard. DTA Emmendingen 2315, S. 33. 71 Vgl. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 23. Ähnlich die Erzählung von Elisabet K. über den Versorgungsmangel in der sowjetisch besetzten Zone nach dem Krieg. Vgl. K., Elisabet. DTA Emmendingen 1164, S. 34.

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»Die Menschen strömten praktisch wie riesige Heuschreckenschwärme in die zu Fuß erreichbaren Vororte. Sie wurden richtiggehend ›kahlgefressen‹. Hunger tut ja bekanntlich sehr weh.«72 Wie in vielen anderen Nachkriegsberichten von Vertriebenen macht auch H. deutlich, dass die Bauern damals die Not der Stadtbewohner für ihren eigenen Vorteil zu nutzen wussten.73 In der sowjetischen Zone war die Mangelversorgung ebenfalls ausgeprägt und weitverbreitet. Auch in ländlichen Gebieten der zukünftigen DDR war die Versorgung schlecht. Felicitas St. hatte nach ihrer Flucht nach Leipzig aufgrund ihres Status als Frau ohne Arbeit nur geringe Lebensmittelzuweisungen erhalten, und häufig waren nicht einmal diese Rationen zu bekommen.74 Ingeborg P. war mit ihrer Familie noch 1945 in der Nähe von Pirna untergebracht worden. Die Familie bekam zwar Lebensmittelkarten, die Zuteilungen waren jedoch, besonders in der direkten Nachkriegszeit, eng bemessen.75 Die Knappheit galt allerdings nicht nur für Vertriebene, sondern für alle Bewohner der sowjetischen Zone. Selbst die Soldaten der Besatzungsarmee erhielten nur sehr geringe Lebensmittelrationen. Darüber hinaus waren die Nahrungsmittel für die Autorin ungewohnt: »Anstatt Fett und Butter gab es nur Lebertran[.]«76 Dieser Mangel führte auch zu deutlich veränderten Ernährungsgewohnheiten, die sich in der Rückschau als trotz allem annehmbar erwiesen und die die Autorin, offenbar stoisch, annahm: »Kartoffelpuffer in Lebertran gebacken waren gar nicht so schlecht. Etwas Fischgeschmack war ja dabei, dafür aber auch Vitamine und Kalorien.«77 Da der Vater gelernter Elektriker war, konnte er z. B. durch Reparaturen bei Bauern zusätzliche Nahrungsmittel erarbeiten.78 Grundsätzlich blieb die Versorgung mit Lebensmitteln, auch wenn tatsächlicher Hunger in der Erzählung von P. kaum eine Rolle spielt, in der Nachkriegszeit schlecht. Nach der Bodenreform im Oktober 1945, die auf dem Gutshof, auf dem die Familie lebte, gefeiert wurde, arbeitete der Vater in einem Mineralölwerk. Dadurch wurde die Versorgungslage für die Familie besser. Die Autorin selbst kann 72 H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 24. 73 Inwieweit diese Einschätzung auf eigener Erfahrung oder Erfahrungen aus dem familiären Umfeld beruht, ist nicht zu eruieren. Allerdings legt die Ausdrucksweise nahe, dass diese Überlegungen ebenfalls einer späteren Reflexion entsprungen sind. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S.  23 f. Eine noch deutlichere Kritik an der ›Volksgemeinschaft‹ äußert Felicitas St. Vor ihrer Vertreibung aus Schlesien 1946 musste sie in einer ehemals deutschen Apotheke arbeiten, die von einem polnischen Apotheker übernommen worden war. Im Keller fanden sich gehortete Waren, die von den ehemaligen Besitzern zurückgehalten worden waren, statt sie auszugeben. St. vermutet, dass mit den Medikamenten besonders gute Geschäfte gemacht werden sollten. St., Felicitas. DTA Emmendingen 1137, S. 6. 74 St., Felicitas. DTA Emmendingen 1137, S. 8. 75 Vgl. Buruma (2015), S. 87. Auch in vielen alliierten Nationen, selbst in Großbritannien, waren die Lebensmittelrationen knapp bemessen. Vgl. das Kapitel »Hunger« bei Buruma (2015), S. 71–93. 76 P., Ingeborg. DTA Emmendingen 1971, S. 6. 77 P., Ingeborg. DTA Emmendingen 1971, S. 6. 78 P., Ingeborg. DTA Emmendingen 1971, S. 7.

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sich allerdings nicht erinnern, »jemals Hunger oder anderen Mangel gelitten zu haben«.79 Sie vermutet als Grund, dass die Eltern immer zuerst an die Kinder dachten. Auch Else G. litt in ihrer neuen Heimat immer wieder unter Nahrungsmittelmangel. Da sie aufgrund einer schweren Erkrankung kaum in der Lage war, zu arbeiten, erhielt sie keine Lebensmittelkarten. Nur durch die »Kinderkarten« oder temporäre Atteste von Ärzten konnte die Familie das Überleben sicherstellen.80 Hunger und Mangel spielen demnach in nahezu allen autobiographischen Erzählungen eine große Rolle. Die Erinnerungen an diese Erfahrungen sind den meisten Verfasserinnen und Verfassern scheinbar allgegenwärtig, und im Zusammenhang mit dem Vertreibungs- und Fluchtgeschehen gehen sie detailliert und ausführlich darauf ein. Aber auch in der direkten Nachkriegszeit sind Lebensmittelrationierungen und Mangelwirtschaft noch Thema, wenngleich schon in deutlich geringerem Ausmaß. In dem oft nur kurzen Ausgreifen der Autobiographien in die Zeit von BRD und DDR spielen Ernährungspraktiken und Essen dann kaum mehr eine Rolle  – vielleicht auch deshalb, weil die Autorinnen und Autoren nach der Flucht ›erfolgreich‹ waren und den Nahrungsmittelüberfluss im ›Wirtschaftswunder‹ ihren Angehörigen nicht erklären mussten. Während Hunger und Mangel für viele Deutsche der Nachkriegszeit zum Alltag gehörten, waren Flüchtlinge und Vertriebene bei ihrer Ankunft einer besonderen medizinischen Überwachung unterworfen. In den alliierten Zonen wurden Durchgangslager eingerichtet, in denen seuchenpräventive Maßnahmen und Reihenuntersuchungen durchgeführt wurden, um den Gesundheitszustand zu kontrollieren und die Sicherheit und Gesundheit der Einheimischen sicherzustellen. Die Erinnerungen an diese Behandlungen werden im Folgenden analysiert. ›Seuchenprävention‹ Seit Jahrhunderten gilt der Fremde als potentiell gefährlich. Seit der Verbreitung der Pest im Mittelalter standen Reisende, Umherziehende, Migranten und religiöse Minderheiten unter Verdacht, Krankheiten und Seuchen einzuschleppen und zu verbreiten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wurden diese Vorstellungen auch von Medizinern propagiert und wissenschaftlich untermauert.81 Staatliche Verwaltungen machten sich diese Vorstellungen zu eigen. Sie führten medizinische Grenzregime ein, um Zuwanderung zu kontrollieren, wie in den USA.82 Gleichzeitig behandelten sie Auswanderer mit Maßnahmen der Seuchenbekämpfung – z. B. in Ruhleben bei Berlin, wo Migrantinnen und Migranten ›desinfiziert‹ wurden, und in Hamburg, wo in der 79 80 81 82

P., Ingeborg. DTA Emmendingen 1971, S. 13. G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 112–117. Vgl. u. a. Evans (1987); Dinges/Schlich (1995); Vögele/Umehara (2015). Vgl. u. a. Yew (1980); Lüthi (2009).

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Ballinstadt alle Ausreisenden einer Untersuchung und Quarantäne unterzogen wurden.83 Die Praktiken in den Durchgangslagern für Vertriebene und Ausgesiedelte standen also in einer jahrzehntelangen Tradition. Auch im Krieg hatten viele Ärzte im Reichsgebiet und in den besetzten Gebieten in Ghettos, Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern zahlreiche Erfahrungen mit der Prävention und ›Behandlung‹ von Seuchen sammeln können.84 Das Wissen, das die Ärzte bei der seuchenpolizeilichen und medizinischen Überwachung während Ausbeutung und Vernichtung sammelten, nutzten sie nun, um die Vertriebenen in den Durchgangslagern, den Baracken und Massenunterkünften in den Ankunftsorten zu kontrollieren. Sowohl in der sowjetischen als auch in den von den Westmächten besetzten Zonen gehörten die Entlausung und medizinische Untersuchungen der Ankommenden zur Standardprozedur. Die Autorinnen und Autoren der Autobiographien erwähnten besonders häufig die eigentliche Ankunft in den Durchgangslagern, in denen sie Entlausungen und Reihenuntersuchungen unterzogen wurden. Felicitas St. berichtet über den Transport in Viehwaggons nach Leipzig und, daran anschließend, knapp über die dort stattfindende Entlausung.85 Ernst-Georg K. schreibt von seiner Ankunft im Lager Klepzig bei Köthen in Anhalt: »Hier waren wir erst einmal in Quarantäne und durften das Lager nicht verlassen. […] Zunächst wurden wir wieder mit dem furchtbaren weißen Pulver bestäubt. Dazu mussten wir alle Kleidung ausziehen, die wurde unter heißen Dampf gesetzt.«86 Claire S. wurde nach der Flucht zuerst in einem Massenlager in der Nähe von Forchheim untergebracht, in dem die hygienischen Verhältnisse, wenigstens in den Augen der Autorin, schreckenerregend waren. Auch dort gehörten Entlausung und Untersuchung zur Ankunftsprozedur.87 Grundsätzlich akzeptieren die Verfasserinnen und Verfasser in der Erinnerung die Notwendigkeit der Maßnahmen. Kritik gibt es an den Entlausungen nur selten. Auch Margarete W., die aus Polen mit dem Zug nach Hoyerswerda kam, beanstandet an den Maßnahmen nichts. Nach ihrer Ankunft wurde sie mit ihrer Familie nach einer Entlausung 14 Tage lang in Quarantäne im Lager belassen, danach wurden sie in die Nähe von Leipzig gebracht. Die Entlausung ist ihr anscheinend gut in Erinnerung geblieben, denn sie beschreibt das Prozedere sehr ausführlich und detailliert: Am Tag nach der Ankunft wurden wir entlaust. Wir gingen in eine große Baracke, in der wir uns nackt ausziehen mussten. Nur ein Handtuch durften wir behalten. Die Sachen kamen in einen großen Ofen zum Entlausen. Wir gingen dann weiter zum Duschen und 83 Vgl. u. a. Brinkmann (2007); Brinkmann (2013). 84 Ein Forschungsüberblick in Jütte u. a. (2011). Vgl. zu den Biographien und Erfahrungen der Ärzte und Medizinalbeamten in der britischen Zone auch Riecken (2006). 85 St., Felicitas. DTA Emmendingen 1137, S. 7. 86 K., Ernst-Georg. DTA Emmendingen 3065, S. 69 f. 87 S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285, S.  59. Wolfgang P. berichtet von der Ankunft, dass die Amerikaner sie zuerst mit gutem Essen versorgten und dann einer Untersuchung unterzogen – wobei er diese als oberflächlich bezeichnet. Danach kam die Entlausung mit DDT-Pulver. Der Autor hat sogar sein Attest den Erinnerungen beigefügt. Vgl. P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 55.

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Jens Gründler zum Arzt. Zuletzt bekamen wir unsere Kleider zurück. Mehrfach wurden wir mit Läusepulver bestreut. Wir mussten uns in Kabinen setzen, und dann kam von oben eine Menge von dem Pulver auf uns nieder. Wenn wir abends im Bett lagen, bestreuten sie uns wieder mit dem Läusepulver. Das war bestimmt richtig, weil wir alle noch Läuse – besonders Kopfläuse – hatten, und die waren sehr schlecht zu bekämpfen.88

Die Kritik richtete sich demnach also gegen die Erfolglosigkeit der Ungezieferbekämpfung. Helmuth H. schreibt auch von den allgemeinen und öffentlichen Entlausungen, die anscheinend schon während der Flucht von deutschen Medizinalverwaltungen regelmäßig durchgeführt wurden.89 Trotzdem, so seine Erinnerung, wurde man das Ungeziefer »nie ganz los«.90 Die Erinnerung von H.  deutet zudem darauf hin, dass der flüchtenden Bevölkerung die Praxis der Entlausung bereits vor dem Einmarsch der Alliierten bekannt und vertraut war. Auch die in den Besatzungszonen Ansässigen kannten die Prozeduren häufig noch aus der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. So entlausten Desinfektoren der Gesundheitsämter zur Prävention von Fleckfieberepidemien ausländische Zwangsarbeiter und reinigten die Arbeitslager.91 Die seuchenpräventive Behandlung der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten und Südosten Europas, die trotz ihrer Nationalität und ihres Deutschseins von vielen Einwohnern der Aufnahmeregionen als ›Fremde‹ wahrgenommen wurden92, lag daher auf der Hand93. Für einige Autorinnen und Autoren sind Entlausung und Reihenuntersuchung vielleicht daher gar nicht wert, auch nur erwähnt zu werden. Erika Sch. kam über das Lager Immendorf bei Braunschweig in die britische Zone. Obwohl auch dort Reihenuntersuchungen und Entlausungen obligatorisch waren, erwähnt sie Sch. mit keinem Wort.94 Nur in einer Autobiographie wird Kritik an den Maßnahmen geäußert. Der aus dem Sudetenland nach Österreich evakuierte Peter St. wurde vor seiner Ausreise mit anderen Deutschen nach Braunau gebracht und dort von den Amerikanern einer Entlausungsarie unterzogen. Alle Kleider wurden in großen Kesseln gekocht und unsere nackten Körper mit einer Holzspritze, die DDT enthielt (heute als Nervengift und als krebserregend verboten) bearbeitet, was eine dicke weiße Schicht auf unserer Haut hinterließ. Danach ging es unter große Freiluftduschen und dann mussten wir, in Decken gehüllt, stundenlang auf das Trocknen unserer Kleidung warten. So verging ein ganzer

88 89 90 91 92

W., Margarete. DTA Emmendingen 2590, S. 44 f. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 18. H., Helmuth. DTA Emmendingen 1086, S. 18. Vgl. z. B. Nitschke (1999), S. 183; Weindling (1989); Weindling (2000). Die Autobiographien stammen nahezu ausschließlich von Personen, die ›echte‹ Deutsche waren. Alle Autorinnen und Autoren berichten davon, dass ihre Familien auch vor der Annexion der jeweiligen Gebiete, wie dem Sudetenland, die deutsche Kultur und Sprache gepflegt hatten. 93 Auch die Wehrmachtssoldaten wurden nach der Gefangennahme häufig von alliierten Streitkräften entlaust, um das Ausgreifen von Fleckfieber auf die eigenen Soldaten zu verhindern. Vgl. Ellerbrock (2004). 94 Ein weiterer Grund kann in der Karriere von Erika Sch. gesehen werden. Sie wurde Kinderkrankenschwester. Vgl. Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 41 f.

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Tag mit einer Prozedur, die doch nichts brachte, denn wir hatten weder Läuse, Flöhe, noch sonst irgend welches Ungeziefer.95

Die Kritik, das wird in dem Zitat deutlich, richtete sich nicht gegen die Maßnahmen an sich. Zwar war DDT zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits verboten und der Einsatz damit im Nachhinein zusätzlich zu verurteilen. Auch das lange Warten auf das Trocknen der Kleidung nach der Entlausung war rückblickend anscheinend ärgerlich.96 Der Autor richtete sich aber gezielt nur gegen die Sinnlosigkeit der Entlausung, da er selbst und die anderen Evakuierten gesund und ungezieferfrei gewesen seien. Damit war die Behandlung und die – in der Rückschau – Gesundheitsgefährdung der Vertriebenen für ihn vollkommen sinn- und zwecklos. Ein weiteres Thema, das die Medizinalverwaltungen der Alliierten und der deutschen Bürokratie besonders umtrieb, war die Bekämpfung und Behandlung von Geschlechtskrankheiten.97 Die Befürchtungen, dass Syphilis und andere venerische Krankheiten sich epidemisch verbreiten könnten, waren in der Nachkriegszeit besonders virulent. Mehrere Begründungen wurden von deutschen Medizinalbeamten vorgebracht. Wesentlich war die vorurteilsgeprägte Überzeugung, dass die sowjetischen Soldaten deutsche Frauen durch »Massenvergewaltigungen« mit Geschlechtskrankheiten angesteckt hatten.98 Die autochthone Bevölkerung sollte vor der Gefahr der Verbreitung durch die Vertriebenen geschützt werden. Andrea Riecken weist darauf hin, dass die Erhebungen der Verwaltungen zwar kaum erhöhte Ansteckungsraten der Vertriebenen in den Durchgangslagern und darüber hinaus feststellen konnten. Dennoch hielten sich die vorurteilsbehafteten Verdächtigungen hartnäckig, bis hin zu Reihenuntersuchungen von Frauen auf Geschlechtskrankheiten.99 Das Thema »Massenvergewaltigungen« nahm bereits in der Dokumentation der Vertreibung durch das Bundesvertriebenenministerium einen hohen Stellenwert ein, und zahlreiche Berichte von Übergriffen wurden dort dokumentiert.100 Im vorliegenden Quellensample sind die Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee allgegenwärtig. Auffällig ist allerdings, dass die Gewalttaten – bis auf eine Ausnahme – nie den Autorinnen selbst geschehen. Die Verfasserinnen – und auch Verfasser – erzählen von Nachbarn und Bekannten, die Opfer wurden. Sie berichten von ihrer Augenzeugenschaft und manchmal 95 St., Peter. DTA Emmendingen 1745, S. 17. 96 Dagegen scheint der Autor die Prozedur selbst, also das Duschen im Freien und mit anderen, nicht als belastend empfunden zu haben. Auch andere Verfasserinnen und Verfasser erinnern sich an die Entlausung nicht als unwürdig oder erniedrigend. 97 Auch hier grundlegend: Ellerbrock (2004); Riecken (2006). 98 Eine Untersuchung, die sexuelle Gewalt von Seiten der sowjetischen Soldaten in den Blick nimmt, ist Schmidt (2007). Eine differenzierte Aufarbeitung der Formen sexueller Gewalt aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bleibt dennoch weiterhin ein Forschungsdesiderat, wie Maria Daldrup in der Rezension zu Ingo von Münchs Buch »Frau, komm!« festgestellt hat. Vgl. Daldrup (2011). Zuletzt zu Nachkriegsvergewaltigungen und den Folgen auch Satjukow/Gries (2015); Winterberg (2014). 99 Vgl. Riecken (2006), S. 91–134, besonders S. 129–134. 100 Vgl. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (1953–1962).

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von glücklichen Zufällen, warum sie selbst – und häufig auch ihre nächsten Verwandten – verschont blieben.101 Das lässt sich mit einer Reihe von Faktoren erklären. Zum einen sind Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, schwer traumatisiert. Das Sprechen und Schreiben über Vergewaltigung und sexuelle Misshandlungen waren mit starken Schamgefühlen verbunden und daher selten, insbesondere im Kontext einer konservativen Gesellschaftspolitik und Sexualmoral. Zum anderen existierte in der frühen Bundesrepublik zwar kein Schweigekartell über Vergewaltigungen im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen in der Nachkriegszeit. Auf individueller Ebene oder im familiären Kontext existierte jedoch eine ausgeprägte Tendenz, persönliche Erfahrungen sexualisierter Gewalt zu verschweigen. Darüber hinaus sind die vorliegenden popularen Autobiographien vorwiegend für eigene Angehörige geschrieben. Berichte über sexuelle Misshandlungen könnten daher verschwiegen worden sein, weil das (Selbst-)Bild der Autorinnen vor Kindern und Enkelkindern nicht mit Scham oder Trauer verbunden werden sollte. Einzig Else G. berichtet in aller Offenheit und sehr drastisch von den Vergewaltigungen und Misshandlungen, die sie erlitt. Sie erzählt auch von einer daraus resultierenden Geschlechtskrankheit. Diese Krankheit, die später als Gonorrhoe diagnostiziert wurde, behandelte sie auf der Flucht selbst, indem sie Seifenbäder und andere Hausmittel anwendete.102 Auf derartige Formen der Selbstbehandlung wird im nächsten Kapitel detailliert eingegangen. Auffällig ist in der Erzählung, dass sie ausschließlich von wohlwollenden und verständnisvollen Ärzten berichtete. Eine Erfassung oder Kontrolluntersuchung durch Amtsärzte lokaler Gesundheitsverwaltungen nach der Verteilung auf die Kreise und Gemeinden, wie das Niedersächsische Sozialministerium vorschlug, erwähnte sie dagegen nicht.103 In den Autobiographien spielen also Geschlechtskrankheiten keine Rolle. Dagegen erinnerte man sich durchaus an die Entlausungen, wenn auch meist positiv konnotiert. Entgegen der Annahme, dass die Maßnahmen – besonders in der Rückschau – als entmenschlichend, erniedrigend oder als Zwang empfunden wurden104, standen die meisten Autorinnen und Autoren der Prozedur selbst Jahre und Jahrzehnte später noch mindestens gleichgültig gegenüber. Einige unterstrichen gar die Notwendigkeit der Entlausungen, da in ihrer Erinnerung sie selbst und die anderen Vertriebenen von Ungeziefer befallen waren. Die Angemessenheit dieser Behandlung durch Medizinalbeamte war demnach akzeptiert. Diese Akzeptanz deutet an, dass autoritäre Gesundheitsmaßnahmen durch Behörden von den Betroffenen nach dem Sinn und der Zweckmäßigkeit der jeweiligen Behandlung beurteilt wurden. Die fehlende Kritik an den Maßnahmen weist darauf hin, dass professionelle Akteure einen 101 Vgl. z. B. K., Katharina Maria Anna. DTA Emmendingen 1189, S. 44; Sch.-E., Eberhard. DTA Emmendingen 3073, S. 36 f.; R., Margarete. DTA Emmendingen 1339, S. 2 f. 102 G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 81. 103 Vgl. Riecken (2006), S. 114 f. 104 Eine derartige Einschätzung der medizinischen Untersuchungen bei der Einwanderung in die USA lässt sich z. B. in vielen Erinnerungen von Migrantinnen und Migranten zwischen 1890 und 1930 finden.

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immer größeren Einflussbereich bei Behandlung, Pflege und Prävention beanspruchen konnten. Andere ärztliche Behandlungen und Untersuchungen im Nachkriegsalltag zu erhalten, gestaltete sich dagegen schwierig. Daher mussten gerade auch Vertriebene auf Praktiken der Selbsthilfe zurückgreifen, wie im Folgenden dargelegt wird. Gesunder Alltag und Integration Die Integration, das hat die historische Forschung in den letzten Jahren bestätigt, war ein langwieriger und schwieriger Prozess, der keineswegs problemlos verlief.105 Weder waren die Vertriebenen bei vielen Alteingesessenen besonders beliebt noch fühlten sie sich in ihrer neuen Heimat besonders wohl. Die Ansiedlung in konfessionell ›fremden‹ Regionen oder die Zuweisung ehemaliger Stadtbewohner in ländliche Gebiete wie das Münsterland verschärften die Konflikte zwischen Einheimischen und Vertriebenen. Die Betrachtung des Alltags dieser Gruppe hinsichtlich Krankheit und Gesundheit in der Nachkriegszeit kann dennoch einerseits den Blick für das aus der medizinischen Versorgung entstehende Konfliktpotential schärfen. Schließlich war der Gesundheitszustand in der Nachkriegszeit und der frühen Bundesrepublik ein wichtiger Faktor für eine gelingende und erfolgreiche Integration in die neue Heimat. Andererseits erlaubt diese Perspektive einen Blick auf die besonderen Herausforderungen, vor denen die Vertriebenen standen, und auf die Lösungsstrategien – wie Selbstmedikation und familiäre Arrangements für Pflege oder professionelle Angebote –, auf die sie zurückgriffen. Ein zentraler Bestandteil der Erzählungen über die direkte Nachkriegszeit, in denen die Autorinnen und Autoren bereits die Durchgangslager verlassen hatten, sind die Berichte über die neuen Wohnarrangements und die gesundheitlichen Folgen von Flucht und Vertreibung. Die Requirierung von Wohnraum für Vertriebene war besonders problematisch. In den Großstädten wie Hamburg oder Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet waren oft ganze Viertel, Wohnblocks oder Häuser zerstört. Aber auch im ländlichen Raum erwies sich die Unterbringung der Vertriebenen als schwierig. Die Einheimischen standen der Unterbringung häufig skeptisch gegenüber. Sie mussten fremde Menschen  – ›Fremde‹ in vielfacher Hinsicht: Sprache und Dialekt, Konfession, Ernährungsgewohnheiten, Kleidung – in ihre eigenen, häufig beengten Wohnungen aufnehmen.106 Große Bedeutung hatten in den Erinnerungen Berichte über Erkrankungen und Einschränkungen, die die Autorinnen und Autoren als Folgen von Flucht und Vertreibung beschrieben. Interessant sind für den vorliegenden Beitrag auch gesundheitliche Praktiken der Selbstversorgung und -medikation sowie der familiären Aufgabenzuweisung. In einer 105 Vgl. zusammenfassend Kossert (2008). 106 Vgl. z. B. zu den Problemen im ländlichen Westfalen die Beiträge von Hannelore Oberpenning und Dagmar Kift. Vgl. Oberpenning (1998); Kift (2009).

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Periode, in der die medizinische Versorgung aufgrund der Zerstörung und des Nachkriegschaos vielfach rudimentär war, bieten derartige Praktiken besonders gut Aufschluss darüber, wie gesundheitliche Krisen in Notsituationen bewältigt wurden und welches Ausmaß an Selbsthilfekapazität noch vorhanden war. Der 73-jährige Wolfgang P. beschreibt in seiner Autobiographie nach einem Bericht über die Ankunft in einem amerikanischen Durchgangslager die neue Unterkunft seiner Familie: ein Lager, in dem zuvor französische Kriegsgefangene untergebracht waren.107 Relativ ausführlich berichtet er über den ordentlichen Zustand des Lagers, die Waschbaracke und die gute Qualität der Nahrung.108 Allerdings war der Autor durch den Transport fiebrig erkrankt. Schon im Durchgangslager hatte ihn deswegen die Mutter versorgt. Und auch im Lager in Neustadt/Aisch übernahm die Mutter die Versorgung und Pflege, da es keinen Lagerarzt für die Vertriebenen gab. Für eine Untersuchung und Diagnose mussten Mutter und Sohn bei einem Arzt des Gesundheitsamtes vorstellig werden. Doch auch nach der ärztlichen Untersuchung blieb sie verantwortlich für die Pflege des Sohnes.109 Else G. war in der direkten Nachkriegszeit und darüber hinaus durch die Folgen von Misshandlungen, Vergewaltigungen und Mangelernährung auf ärztliche Hilfe angewiesen. Schon auf der Flucht und dem Weg nach Demmin in Mecklenburg musste sie einen Arzt konsultieren. Er schrieb sie reiseunfähig, so dass die Familie für eine Woche ausreichend mit Nahrung versorgt war.110 In Bütow angekommen, entwickelte Else G. eine Gelbsucht, die auf dem Gutshof, auf dem die Familie lebte, nicht behandelt werden konnte. Der Arzt, der auf dem Hof arbeitete, wurde versetzt. Seine Frau, die in der Folge für die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter zuständig war, hatte keine Medikamente.111 G.s Gelbsucht wurde schlimmer, und auch viele andere Geflüchtete in der Massenunterkunft waren schwer erkrankt. Um ärztliche Behandlung für eine weitere schwere Erkrankung zu erhalten, musste Else G. auf Anraten der Ehefrau des Arztes zu Fuß die knapp neun Kilometer zu einem Krankenhaus nach Röbel laufen.112 Die Behandlung dauerte mehrere Wochen, in denen die Frau den Weg bis zu dreimal pro Woche gehen musste. Dem behandelnden Arzt im Krankenhaus berichtete Else G. auch von den Vergewaltigungen und der daraus resultierenden Geschlechtskrankheit. Die Diagnose lautete Gonorrhoe, konnte aber aufgrund fehlender Medikamente im Krankenhaus in Röbel ebenfalls nicht behandelt werden. Die Erkrankung hatte Else G. schon auf der Flucht mit Hausmitteln behandelt und war damit, aufgrund des in der Ausbildung zur Diakonisse gesammelten Wissens, relativ 107 108 109 110 111

P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 55. P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 55. P., Wolfgang. DTA Emmendingen 971, S. 56 f. G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 102. G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 112 f. Auf eventuelle Qualifikationen der Frau, die über ihren Status als Ehefrau des Arztes hinausreichen, geht Else G. mit keinem Wort ein. 112 G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 113 f.

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erfolgreich. Die Krankheit selbst konnte aber erst nach einer weiteren Flucht, in die britische Zone nach Niedersachsen, endgültig kuriert werden.113 In der Geschichte von Margarete W. spielen traditionelles Heilwissen und Kenntnisse der Selbstmedikation eine bedeutende Rolle. Bei dem Hin und Her der wilden Vertreibungen, bei denen die Polen die Familie in die eine Richtung, die Russen sie wieder in die andere Richtung schickten, erkrankten nacheinander alle an »Hungertyphus«, der mit Fieber und Durchfall einherging. Die Mutter der Autorin kannte allerdings Hausmittel gegen diese Krankheit: »Mutter schickte mich nach Kräutern. Die wuchsen ja überall bei uns. Ich musste nun Tee kochen. Nur Tee und die Suppe vom gemahlenen Getreide – das haben die zwei zu sich genommen.«114 Während die Mutter und eine Schwester gesund wurden, blieb eine andere Schwester schwerkrank. Die Autorin selbst erkrankte dann auch, doch durch verschiedene Hausmittel – u. a. selbst hergestellten Alkohol – und die Pflege der Mutter genasen alle wieder.115 Die Autobiographien von Else G. und Margarete W. zeigen also, wie wichtig das Wissen und die praktische Erfahrung zur Selbstmedikation und Selbstbehandlung besonders in Krisen- und Notsituationen waren, in denen der Zugriff auf professionelle medizinische Angebote stark eingeschränkt gewesen ist.116 Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit mussten durch die betroffenen Frauen selbst geregelt werden. Nimmt man die Geschichte von Wolfgang P. hinzu, dann wird ein weiteres wichtiges Element der Krankheitsbewältigung in Krisen deutlich: der Rückgriff auf familiäre Netzwerke. Der schwer erkrankte Jugendliche war in den Lagern auf die Hilfe und Pflege seiner Mutter angewiesen, die damit eine traditionelle Frauen- und Mutterrolle einnahm.117 Den Müttern wurde in diesen Erzählungen ein pflegezentrierter Lebensstil zugeschrieben, den auch Susanne Hoffmann festgestellt hat.118 Dass in den Autobiographien die Rolle der Männer bei Krankheitsbewältigung und Gesundheitsfürsorge nicht erwähnt wird, hängt aber auch mit der Zusammensetzung der Flüchtlings- und Vertriebenengruppe zusammen. Die Männer kamen, wenn überhaupt, erst deutlich später zu den Familien, um dann gegebenenfalls derartige Aufgaben zu übernehmen.119 Bis dahin waren 113 114 115 116

G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 112–117. W., Margarete. DTA Emmendingen 2590, S. 37. W., Margarete. DTA Emmendingen 2590, S. 38. Vgl. mit einem Forschungsüberblick zur Selbstmedikation Baschin (2012). Mit Blick auf deutsche Amerika-Auswanderer im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Gründler (2015). 117 Ganz ähnlich berichtet Elisabet K. über die Pflege und Behandlung durch ihre Mutter, als sie an »Hungertyphus« erkrankte. Auch in ihrem Fall waren kein Arzt und kein Krankenhaus in der Nähe, so dass die Behandlung durch Angehörige geschehen musste. K., Elisabet. DTA Emmendingen 1164, S. 31. 118 Hoffmann (2010), S. 399. 119 Dass Männer im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs nur ›Gesundheitsidioten oder -muffel‹ waren, haben zahlreiche Forschungsarbeiten am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung belegt. Als Beispiele seien hier genannt: Dinges (2011); Dinges (2015); Hoffmann (2010); Schweig (2009); Gründler (2015); Pfütsch (2017). Die von Susanne Hoffmann festgestellte höhere Risikoaffinität von Männern konnte in den

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Frauen zumeist die einzigen Erwachsenen in den Flüchtlingsfamilien. Sobald allerdings der Zugriff auf professionelle Hilfe möglich war, sobald man Krankenhäuser und Ärzte erreichen konnte, wurden die Angebote in Anspruch genommen. Die Autobiographien bestätigen also, dass Selbstmedikation, familiäre Pflege und professionelle Angebote komplementär genutzt wurden, wenn es die Zeiten und Gegebenheiten zuließen. In zugespitzten Krisen jedoch, wie in der direkten Nachkriegszeit, konnten Selbsthilfe und Angebote des medizinischen Marktes jedoch auch substitutiv sein. Der Rückgriff auf Krankenhäuser und Ärzte spielt in den meisten Autobiographien eine wichtige Rolle, weil professionelle Akteure der Gesundheitsversorgung dann benötigt wurden, wenn schwere Krankheiten zu behandeln waren  – und diese waren und sind in der Erinnerung erstens viel präsenter und zweitens, und das ist wahrscheinlich noch wichtiger, auch für das Publikum von größerem Interesse. Anneliese Sch. berichtet dementsprechend ausführlich über einen Krankenhausaufenthalt in Wuppertal, den sie mit Verdacht auf »Enzephalitis«, die sich als »Hungertyphus« entpuppte, in Quarantäne verbrachte. Ihre Schwester litt tatsächlich an Enzephalitis, und ihr Zustand war lebensbedrohlich. Daher ist die Episode in der Autobiographie ausführlich geschildert.120 Über etwaige andere Erkrankungen oder Gesundheitspraktiken in der Nachkriegszeit schweigt sie. Claire S. berichtet nur sehr kurz über ihren Gesundheitszustand und die Maßnahmen, die sie ergriff: »Wir waren damals durch den Krieg natürlich sehr sehr elend gewesen und haben uns in ärztliche Behandlung begeben.«121 Sie schweigt sich über weitere Gesundheitsthemen aus. Der Vater von Erika Sch. erkrankte im Januar 1947 an einem Nierenabszess und musste in einem Krankenhaus operiert werden.122 Überhaupt spielt in manchen Autobiographien die Gesundheit der Ehemänner und Väter eine Rolle, während die eigene Gesundheit eher untergeordnet scheint.123 Felicitas St. berichtet über die Nachkriegszeit wenig, nach der Vertreibung und Übersiedelung in den Westen werden in Bezug auf Gesundheit und Krankheit nahezu ausschließlich die Rückkehr und die Leiden des Ehemannes erwähnt. Dieser war aus dem Krieg und der Gefangenschaft als kranker Mann heimgekehrt, bekam Lungentuberkulose und hatte zahlreiche Sanatoriums- und Krankenhausaufenthalte.124 Elisabet K.s Vater kam 1948 aus der russischen Gefangenschaft, verstarb aber bereits 1952 an »LungenTBC und Magenkrebs«, an denen er in der Gefangenschaft erkrankt war.125

120 121 122 123 124 125

hier untersuchten Autobiographien nur in einem Fall festgestellt werden. Vgl. Hoffmann (2010), z. B. S. 215–221. Sch., Anneliese. DTA Emmendingen 3105, S. 61. S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285, S. 72. Sch., Erika. DTA Emmendingen 3087, S. 47. Für die von Frauen geschriebenen Autobiographien gilt das in höherem Maße. Männer erwähnen den Gesundheitszustand ihrer Väter nach der Heimkehr seltener. St., Felicitas. DTA Emmendingen 1137, S. 10. K., Elisabet. DTA Emmendingen 1164, S. 37–39.

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Neben diesen Gesundheitsthemen tauchen in den Erinnerungen nur wenige weitere Gesundheitspraktiken auf.126 In einer Autobiographie wird eine präventive Gesundheitsmaßnahme avant la lettre beschrieben. Peter St. erzählt ausführlich über seine Erfahrungen mit verschiedenen Sportarten in der amerikanischen Besatzungszone.127 In seiner Schule war Sport offenbar besonders wichtig. Auch die amerikanische Militärverwaltung förderte die körperliche Betätigung der Kinder und Jugendlichen, gründete die »German Youth Activities« und stellte Material und Trainer für in Deutschland relativ unbekannte Sportarten wie Basketball bereit. In seinen Erinnerungen verbindet St. das mit den amerikanischen Bemühungen zur »Umerziehung«  – Demokratisierung durch Sport, ganz im Sinne der von Dagmar Ellerbrock beschriebenen Demokratisierung durch Gesundheitspolitik.128 Zu anderen gesundheitlichen Themen in der Nachkriegszeit schweigen die Autorinnen und Autoren. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass die Integration der Vertriebenen in der frühen BRD und DDR in der Wahrnehmung der Schreibenden für das Publikum dieser Autobiographien nicht vorrangig aus gesundheitlicher oder medizinischer Perspektive interessant war. Stattdessen berichtete man über eigene Fremdheitserfahrungen129, schwierige Integrationsbedingungen130 oder aber über Hilfsbereitschaft und die reibungslose Ankunft in der neuen Heimat131. Zum anderen scheint die Zeit Ende der 1940er Jahre und nach Gründung der BRD/DDR grundsätzlich weniger bedeutsam für das eigentliche Thema der Autobiographien gewesen zu sein. Für die Verfasserinnen und Verfasser waren die Erinnerungen an die Zeit in der alten Heimat und die Erlebnisse während der Vertreibung und in der Nachkriegszeit wichtiger, vermutlich auch wegen des ursprünglichen Zielpublikums beim Abfassen der Erinnerungen. Die Familien, so ist anzunehmen, kannten das Leben und die Biographien der Autorinnen und Autoren in BRD und DDR schließlich aus eigener Anschauung. Ausblick Die Vertriebenen mussten sich, das hat die Analyse der Ego-Dokumente gezeigt, in der Nachkriegszeit besonderen Herausforderungen stellen. Hunger und Mangel, die Unterbringung in Lagern und Massenunterkünften sowie die Folgen von Flucht und Vertreibung waren, wenigstens in ihrem Zusammenwirken, außergewöhnlich. Zwar litten auch einheimische Deutsche in vielen Regionen und Großstädten Hunger und Mangelernährung. Sie waren ebenso wie die Vertriebenen vielfach in Nissenhütten oder ausgebombten Häusern, in 126 Margarete W. berichtet von regelmäßigen Zahnarztbehandlungen. W., Margarete. DTA Emmendingen 2590, S. 48. 127 St., Peter. DTA Emmendingen 2076, S. 21. 128 Vgl. Ellerbrock (2004). 129 S. (R.), Claire (Cläre). DTA Emmendingen 285, S. 60. 130 G., Else. DTA Emmendingen 1433, S. 136–141. 131 K., Elisabet. DTA Emmendingen 1164, S. 40.

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Enge und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen untergebracht. Darüber hinaus waren viele von ihnen ebenfalls durch die Ereignisse des Krieges physisch oder psychisch versehrt und mittellos. Gleichwohl war die Lage der Vertriebenen durch das Zusammenspiel dieser Elemente als gruppenspezifisches Charakteristikum besonders. Aufgrund der fehlenden materiellen und sozialen Ressourcen akkumulierten sich gesundheitliche Risiken in der Gruppe der Vertriebenen weitgehend unabhängig von Schicht und Geschlecht. Stattdessen mussten auch Menschen, die ursprünglich aus höheren bürgerlichen Schichten kamen, auf der Flucht und während der Vertreibung in Gesundheitsfragen einen »Habitus der Notwendigkeit« ausbilden. Ohne Personal und Ärzte waren auch sie gezwungen, auf traditionelles Wissen und erlernte Praktiken der Selbsthilfe zurückzugreifen, um die Gesundheit der Familienmitglieder wiederherzustellen oder zu erhalten. Besonders den vertriebenen Frauen kam in dieser Krisensituation aufgrund der spezifischen Gruppenkonstellation die Rolle der fürsorglichen Pflegenden zu. Erst in den Jahren nach 1950, so kann vermutet werden, differenzierten sich die Lebensstile der Vertriebenen wieder verstärkt nach Schicht und Geschlecht aus. Susanne Hoffmann hat das zumindest in popularen Autobiographien des 20. Jahrhunderts für deutschsprachige Länder, besonders die BRD und Österreich, festgestellt.132 Das Schweigen der hier untersuchten Autorinnen und Autoren über die späteren Jahre lässt sichere Aussagen über Gesundheitsverhalten und Lebensstile nicht zu. Krankheit und Gesundheit waren, auch das hat die Untersuchung gezeigt, für bestimmte Perioden in den Autobiographien konstitutiv. Hunger und Ernährung waren auf der Flucht und während der Vertreibung von zentraler Bedeutung in den Erzählungen, ebenso die zahlreichen Misshandlungen durch sowjetische Soldaten sowie polnische und tschechische Milizionäre. Auch an die Ankunft in der neuen Heimat erinnert man sich mit einem gesundheitsrelevanten Ereignis – die Entlausungen waren, wenn auch meist nur kurz beschrieben, ein Angelpunkt, von dem aus der Neubeginn seinen Anfang nahm. Gleichwohl war die Zeit nach dem Neuanfang für die Verfasserinnen und Verfasser vielfach nur noch Epilog, nur noch Abschluss der Geschichte. Daher nahm diese Periode nur wenig Raum in den Erzählungen ein – und gesundheitsrelevante Themen wurden kaum noch erwähnt.

132 Hoffmann (2010), besonders S. 400–402.

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 117–152, FRANZ STEINER VERLAG

Strukturen ärztlicher Fortbildung im geteilten Deutschland 1949–1990 – eine Analyse zentralistischer staatlicher Ausrichtung und föderaler ärztlicher Selbstverwaltung Elke Böthin Summary Structures of Continuing Medical Education (CME) in Divided Germany 1949–1990 – Analysis of Centralist State Medicine Formation and Physicians’ Self-government This paper analyses the organization of Continuing Medical Education (CME) within the centralist planned health system of the German Democratic Republic and the federal system of the Federal Republic of Germany based on physicians’ self-governance from 1949 to 1990 in Germany. The development of CME is explained against the historical context. The analysis illuminates the physicians’ profile and the effects of structural relationships, differences and the resulting (professional) political, ideological and economic factors on CME. Medical training is dependent on these circumstances and cannot be free from influence. The extent of such influences is determined by the respective historical conditions and the choice of the individual physician.

Einleitung Im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen bedingt durch die zwei verschiedenen politischen Systeme die unterschiedlichen Strukturen ärztlicher Fortbildung.1 Auf die medizinischen Inhalte der Fortbildungsmaßnahmen soll hier nicht eingegangen werden. Es kann vorausgesetzt werden, dass die Aktualisierung des ärztlichen Wissens gemäß den sich stetig weiterentwickelnden medizinischen Anforderungen die Leitmaxime der Fortbildung war.2 Die folgende Untersuchung stützt sich zum einen auf normative Texte, Gesetze, Verordnungen, wie z. B. die Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), zum anderen auf Tätigkeitsberichte der Bundesärztekammer und entsprechende

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Vgl. hierzu Befragung Januar bis September 2012 von 15 Experten zur ärztlichen Fortbildung in Deutschland, Interviewerin: Elke Böthin. Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin, Charité Berlin, B-033927. Beide Systeme standen im Austausch miteinander. Siehe Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016).

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Elke Böthin

Fachzeitschriften aus beiden Ländern.3 Anhand dieser Quellen wird die Frage untersucht, welche systemischen Faktoren ärztliche Fortbildung beeinflusst haben, wer für die Strukturen und die Ausprägung in den jeweiligen Systemen verantwortlich war. Fortbildung als wichtiger Bestandteil des ärztlichen Berufslebens bietet als Instrument für berufspolitische, wirtschaftliche oder parteipolitische Strategien unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit einer Zweckentfremdung. Auch die Gründe für die staatliche Durchsetzung in dem einen bzw. die Ablehnung einer Fortbildungspflicht mit Nachweis in dem anderen System werden analysiert. Für den Aufbau der Arbeit wurden drei Kapitel gewählt. Das erste Kapitel greift die Entwicklung ärztlicher Fortbildung anhand historischer Ereignisse in der DDR auf. Die Gründung von zwei deutschen Staaten hatte ab 1949 auch Konsequenzen für die Ausgestaltung des ärztlichen Berufes und die Fortbildungsregulierung. Bis 1990 vollzog sich die Prägung des Gesundheitssystems in der DDR nach staatlichen und parteipolitischen Kriterien. Die Zeitabschnitte ärztlicher Fortbildungsstrukturen lassen sich in vier Phasen unterscheiden, die in gewissem Zusammenhang mit den politischen Zäsuren des DDR-Regimes stehen. Verkürzend können diese Etappen wie folgt beschrieben werden: Orientierung (1949–1960)  – Weiter- und Fortbildung als Forschungsauftrag; Reformierung (1961–1970) – staatlich kontrollierte ärztliche Fortbildung; Konsolidierung (1971–1988) – sozialistische Erziehung in der Weiter- und Fortbildung; institutionelle Auflösung (1989–1990) – ein Konzept ohne Zukunft in der föderalen ärztlichen Selbstverwaltung. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Entwicklungsstufen ärztlicher Fortbildung in föderalen ärztlichen Selbstverwaltungsstrukturen der Bundesrepublik. Komprimiert formuliert können zwei Etappen identifiziert werden: Konsolidierung (1949–1960)  – Berufsaufsicht durch die Ärztekammern; Orientierung (1961–1990) – Pflicht als Freiwilligkeit: Gründung von Akademien für ärztliche Fortbildung durch die Ärztekammern.4 3

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Deutsches Ärzteblatt bzw. Ärztliche Mitteilungen: Ab 1930 wurde das 1872 gegründete Ärztliche Vereinsblatt unter dem Namen Deutsches Ärzteblatt herausgegeben. 1933 wurde es mit den Ärztlichen Mitteilungen, der Zeitschrift des Hartmannbundes, zwangsvereinigt. Ab 1949 erschien es unter dem Titel Ärztliche Mitteilungen im Deutschen Ärzte-Verlag, ab 1964 wieder unter dem Namen Deutsches Ärzteblatt. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung: Gegründet 1904, herausgegeben vom »Zentralkomitee für ärztliche Fortbildung« und bis heute ein wichtiges Publikationsorgan unter dem Namen Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. Das deutsche Gesundheitswesen (erstmals 1946 erschienen) befasste sich mit allgemeinen Themen zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, gegründet von der »Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Besatzungszone« und vom Verlag »Volk und Gesundheit« herausgegeben. humanitas  – Zeitung für Medizin und Gesellschaft (gegründet 1961) erschien in der DDR wöchentlich. Schwerpunktthemen waren »theoretisch-weltanschauliche Probleme in der Medizin« sowie »ethisch-moralische Anforderungen im Arzt/Schwester/Patient-Verhältnis im Sozialismus« und auch kritische Betrachtungen der »kapitalistischen« Gesundheitspolitik. Vgl. Gerst (1997), S. 195, zur Konsolidierung der ärztlichen Selbstverwaltung.

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Das dritte Kapitel liefert eine Analyse der systembedingten Fortbildungsregularien und führt die Problematik, aber auch den Nutzen auf, die sich aus den strukturellen Unterschieden rückblickend ergeben. Eng verknüpft mit den strukturellen Gegebenheiten ist der jeweilige (berufs-)politische und wirtschaftliche Einfluss auf ärztliche Fortbildung. Ärztliche Fortbildung unter zentralistischen staatlichen Strukturen im DDR-Gesundheitswesen Ärztliches Berufsbild und Entwicklungsphasen des Gesundheitssystems der DDR Bereits vor der Gründung der DDR 1949 hatte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die Weichen für eine Verstaatlichung des Gesundheitssystems gestellt.5 Die SMAD verschloss den Zugang zu autarken ärztlichen Organisationen. Mit Befehl Nr. 146 vom 17. Juni 1946 wurden Ärztekammern in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) verboten.6 Die staatliche Ausrichtung des Gesundheitswesens führte zu einer Umgestaltung des ärztlichen Berufsbildes. Tradierte Standesorganisationen hatten in diesem Konzept keinen Platz und wurden auch nach 1949 nicht reaktiviert.7 Der angestellte Arzt als Leiter sozialistischer Kollektive und Einrichtungen mit Kenntnissen über sozialistische Leitungswissenschaften und Menschenführung war das Leitbild im DDR-Gesundheitswesen.8 Der niedergelassene Arzt in freier Praxis als Pfeiler für die ambulante Versorgung wurde bereits in der SBZ als Auslaufmodell betrachtet.9 Das Modell der Polikliniken und Ambulatorien sollte an seine Stelle treten.10 Damit einher ging der Ausbau der stationären Versorgung mit der Erhöhung der Anzahl von Krankenhausbetten sowie des medizinischen Personals.11 Bis 1989 war die Anzahl von Ärzten mit eigener Praxis auf 396 reduziert. Diese Ärztegruppe fiel mit ihrem Berufsstand im DDR-Gesundheitswesen nicht mehr ins Gewicht.12 Die Phase der Orientierung begann 1949 mit der Staatsgründung und endete 1960 mit dem Entwurf eines Perspektivplans.13 In diesen Zeitraum fällt die Gründung des ersten deutschen Gesundheitsministeriums im Jahr 1950, das konzeptionell die staatlichen Handlungen im Gesundheitswesen zu zentralisieren und die Weisungen der Führung der Sozialistischen Einheitspar5 6 7 8 9 10 11 12 13

Müller (1997), S. A-1425. Naser (2000), S. 90. Ernst (1997), S. 77 f. Bühler (1999), S. 123. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 424. Naser (2000), S. 72, 75, 77. Gesetz (1951). Naser (2000), S. 312. Vgl. Weber (2012), S. 28–55. Weber spricht dagegen vom Aufbau des Sozialismus 1949– 1961 und Ansätzen einer Konsolidierung mit dem V. Parteitag der SED und dem Ausschalten der Opposition 1958/59.

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tei Deutschlands (SED) umzusetzen hatte.14 Die beiden Eckpfeiler des DDRGesundheitswesens waren die staatliche Gesundheitsverwaltung und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB).15 Als Ansprechpartner für Ärzte zur Behandlung von Fragen ärztlicher Berufstätigkeit fungierte nun die Gewerkschaft16, die auch die Abrechnung medizinischer Tätigkeit abwickelte17. 1951 wurde die Sozialversicherung, Anstalt des öffentlichen Rechts, als Ergebnis einer Fusion der vormals selbständigen Kranken-, Renten- und Unfallversicherungskassen geschaffen18, deren Trägerschaft bis 195619 komplett vom FDGB übernommen wurde20. Unter dessen Dach waren Berufsvertretung, Abrechnungswesen und Organisation für die medizinischen Berufe zusammengefasst.21 Die aktualisierte Version der DDR-Verfassung von 1968 definierte in Artikel 45 Absatz 3 diese Aufgabe des FDGB: »Die Gewerkschaften leiten die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten.«22 Der »administrative Dualismus von Gesundheitswesen und Sozialversicherung« war strukturell somit auch in der DDR vorhanden.23 Mit der Zusage durch Artikel 35 der DDR-Verfassung, jedem Bürger ein Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft zu garantieren24, hatte das Gesundheitsministerium ebenfalls ein gesellschaftspolitisches Arbeitsziel: »Das Gesundheitswesen muß zu dieser Demokratisierung beitragen, indem es allen Menschen, aber insbesondere den werktätigen Massen, aktive Unterstützung gewährt, ihre Gesundheit zu schützen und zu erhalten.«25 Um dieses Ziel zu erreichen, war die Herausbildung eines »sozialen Bewußtseins« erforderlich.26 Dies implizierte auch eine Aufforderung an alle Bürger der DDR, daran mitzuwirken, ihre Gesundheit durch aktive Teilnahme an gesundheitsfördernden Maßnahmen zu erhalten.27 Besonders Ärzte sollten für das Konzept des demokratischen Gesundheitswesens gewonnen werden: »Arzt sein – heißt dem Volke dienen!« Zur Motivation wurde 1949 der Titel »Verdienter Arzt des Volkes« (VADV) kreiert, der im Jahr 1950 an 25 Ärzte zum ersten Mal vergeben wurde.28 Ein gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium innerhalb des Lehrplans der medizinischen Fakultäten ab 1951 ein14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Domeinski (1987), S. 41 f.; vgl. Steidle (1950), S. 1565. Müller (1997), S. A-1425. Prokop (1982), S. 30. Naser (2000), S. 110, 138 f.; vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 423. Verordnung (1951), S. 325. Verordnung Sozialversicherung (1956), S. 681. Ernst (1997), S. 28 f. Ernst (1997), S. 85; Schagen/Schleiermacher (2004), S. 401. Siehe Verfassung (1968), Art. 45 (3). Woelk/Vögele (2002), S. 43. Keck (1984), S. 793. Winter (1950), S. 1. Winter (1950), S. 2. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2009), S. 9, 27. Ernst (1997), S. 133; Winter/Redetzky/Marcusson (1950), S. 113.

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zurichten29, hatte die Absicht, Medizinstudenten zu »wahren Volksärzten«30 zu erziehen31. Den Lehrplan gestaltete die Abteilung Marxismus-Leninismus. Diese setzte sich aus drei Fachgruppen zusammen: Philosophie (1. und 2. Semester), politische Ökonomie (3. und 4. Semester) und wissenschaftlicher Sozialismus (6. und 7. Semester).32 Der Beschluss des V. Parteitages der SED vom 10. bis 16. Juli 1958 präzisierte die Aufgabe aller Einrichtungen im Gesundheitswesen, »die modernen Erkenntnisse der Medizin mit den Vorzügen der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu verbinden«.33 In seiner programmatischen Schrift zum DDR-Gesundheitswesen sollte das Ziel – der niedergelassene Arzt als Modell ohne Zukunft  – weiter gefestigt werden. Der »einzeltätige Arzt« mit seiner »isolierten Arbeitsweise« stehe für die »Trennung von stationärer und ambulanter Betreuung«, die aber zukünftig kollektiv verbunden werden sollte.34 Die Umgestaltung verfolgte die Absicht, Ärzten finanziellen Druck zu nehmen. Einkommenssorgen und pekuniäre Aspekte sollten einer »vertrauensvollen Arzt-Patient-Begegnung« nicht im Wege stehen.35 Die sogenannte »Ständige Kommission für die medizinische Wissenschaft und Fragen des Gesundheitswesens beim Politbüro des ZK der SED (Ärztekommission des Politbüros)«36 hatte zum Ziel, Ärzte für die Beschlüsse des V. Parteitages der SED zu gewinnen37. Selbst ärztlichen Parteimitgliedern wurden ein »Verharren in früherem Standesdenken« sowie eine fehlende ideelle Gemeinsamkeit mit der Politik der SED vorgeworfen.38 Die Verabschiedung des erarbeiteten Perspektivplans am 27. Oktober 196039 bereitete den Weg für eine Phase der Reformierung40. Der Bereich der Gesundheitspolitik definierte das Gesundheitswesen und die medizinische Wissenschaft41 verstärkt über die Ziele einer sozialistischen Gesellschaft42. Die konkreten Ziele waren die Verringerung der Krankenstandsrate, der Säuglingssterblichkeit und der übertragbaren Krankheiten sowie die Verbesserung einer Versorgung mit hochwertigen Arzneimitteln.43 Krankenhäuser

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Bühler (1999), S. 48. Winter (1952), S. 630. Vgl. Bühler (1999), S. 49. Zechmeister (1960), S. 513. Rohland/Spaar (1973), S. 81. Mette/Misgeld/Winter (1958), S.  74; Herrmann (1968), S.  1105; Zechmeister (1960), S. 513; vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 406 f. Thom (1974), S. 196. BArch, Bestand DQ 1/5794. Siehe Winter/Otto (1960), S. 662; vgl. Bühler (1999), S. 71. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 428. Richtlinie (1960), S. 95. Vgl. Weber (2012), S. 60–65. Weber beschreibt den Zeitraum 1961–1970 mit dem Begriff »Festigung« und dem Versuch einer Stabilisierung. Winter/Otto (1960), S. 662. Beschluß (1961); Rohland/Spaar (1973), S. 90 f.; siehe auch Zechmeister (1960), S. 513. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 430.

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sollten sich ab 1961 zu Gesundheitszentren entwickeln und die Verbindung zwischen stationärer und ambulanter Gesundheitsversorgung verwirklichen.44 Mit dem Mauerbau 1961 wurde nicht nur die Abwanderung von Ärzten nahezu gestoppt, sondern über eine Politik der sogenannten »Störfreimachung« auch Einflüsse aus dem Westen minimiert.45 Der VI. Parteitag der SED, der vom 15. bis 21. Januar 1963 stattfand, offenbart die Konzentration auf die Reformierung zwecks »umfassenden Aufbaus des Sozialismus«.46 Die Aufgabe der Heranbildung von ärztlichen »Leitungskadern« wurde von der Akademie für Ärztliche Fortbildung im selben Jahr übernommen.47 Der Akademie kam als »zentrales, wissenschaftliches Leitinstitut« dabei die Aufgabe zu, für die ärztliche Fortbildung »Informationen zu sichten und aufzuarbeiten, um diese, nun zweckmäßig moduliert, auf kürzestem Wege in das Gesamtsystem der Ausbildung und Erziehung zu transferieren«.48 Ein postgraduales Studium als Leitungskaderqualifizierung sollte ab 1969 umgesetzt werden.49 In der Zeitschrift humanitas50 wurde die Zielsetzung veröffentlicht. Zur Manifestierung der »sozialistischen Gesundheitspolitik« standen im Zentrum der Weiterbildung allgemeine politische Inhalte wie »die Vertiefung der marxistisch-leninistischen Bildung« und der »sozialistischen Menschenführung«.51 Das ärztliche Berufsbild sollte mittels einer sozialistischen Hochschulreform in einem sozialistischen Bildungssystem geformt werden. Ausbildungsziel war, die ärztlichen Absolventen durch die Einheit von Erziehung und Ausbildung zu »sozialistischen Persönlichkeiten« heranzuziehen.52 Die 3. Hochschulreform vom 3. April 1969 regelte das Promotionsrecht neu. Von nun an war der erste akademische Grad für das Medizin- und Zahnmedizinstudium das Diplom (Diplomordnung), der zweite akademische Grad der Dr. med. als Doktor eines Wissenschaftszweiges (Promotionsordnung A) und der dritte akademische Grad der Dr. sc. med. als Doktor der Wissenschaften (Promotionsordnung B).53 Zusätzlich musste eine Prüfung im Fach Marxismus-Leninismus abgelegt werden. Aufgrund geringen politischen Engagements wurde für Hochschullehrer ein staatliches Weiterbildungssystem Marxismus-Leninismus verordnet.54 Gegen Ende der Phase der Reformierung wurde 1970 ein Wandel im ärztlichen Bewusstsein registriert. Ein aktives Engagement der Ärzte für die

44 Renker (1961), S. 430. 45 Vgl. Krätzner (2011), S. 193. 46 BArch, Bestand DY 30/IV 1/VI/4, Protokoll des VI. Parteitages der SED, Bd. IV, 1963, S. 365; vgl. Rohland/Spaar (1973), S. 116–118; siehe auch Bühler (1999), S. 73. 47 Anordnung (1963), S. 431. 48 Herrmann (1968), S. 1110. 49 Mros (2003), S. 23. 50 humanitas 10 (1970), H. 20. 51 Mros (2003), S. 24. 52 Bühler (1999), S. 106 f., 252. 53 Siehe Mros (2003), S. 88. 54 Bühler (1999), S. 114.

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sozialistische Gesellschaft sei zu erkennen.55 Auch mit der internationalen Anerkennung der DDR setzte ab Anfang der 1970er Jahre eine Phase der Konsolidierung ein.56 In dieser Phase sollte durch die weitere Verknüpfung von Gesellschaftswissenschaft und Medizinwissenschaft mit der weltanschaulichen Bindung des Marxismus-Leninismus die Umformung des ärztlichen Berufsbildes zementiert werden.57 Durch wirtschaftliche Probleme in der DDR in den 1980er Jahren, die ab 1981 bereits den Niedergang eingeleitet haben58, kam es zu einer erheblichen Beeinträchtigung der medizinischen Versorgungslage59, die auch als Zeichen für die beginnende Instabilität des Systems der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« zu werten ist60. Dennoch wurde zu Beginn der 1980er Jahre durch Erich Honecker auch weiterhin die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Zentralkomitees bis in die Parteigruppen mit einem »straffen Zentralismus« beschworen.61 Die tatsächliche Lage offenbarte eine desolate DDR-Wirtschaft, die sich nur mit externer finanzieller Unterstützung über Wasser hielt, und ein schwächelndes sozialistisches Staatskonstrukt, das mit dem weiteren Ausbau von Überwachung und Kontrolle durch die Staatssicherheit stabilisiert werden sollte.62 Nach dem Fall der Mauer 1989 schloss sich die institutionelle Auflösung von Staat und Gesundheitssystem an, die mit der Umsetzung des Einigungsvertrages zum 3. Oktober 1990 besiegelt wurde. Dieses Modell für ärztliche Weiter- und Fortbildung war somit obsolet.63 Beeinflussung ärztlichen Handelns durch die Staatsideologie? – ein Forschungsüberblick Neue Strukturelemente in der Hochschullandschaft wurden bereits in der SBZ angedacht und führten ab 1954 in der DDR zur Einrichtung von Hochschulen, Instituten und Akademien, die sich parteipolitisch auszurichten hatten und politische Einstellung mit dem fachlichen Vermögen verbanden.64 Die medizinischen Akademien waren als Ergänzung der Universitätsfakultäten zu sehen und sollten diese nicht ersetzen.65 In der Phase der Orientierung lag die Konzentration darauf, den ärztlichen Nachwuchs im Studium auf die neue 55 Winter/Miehlke (1970), S. 822. 56 Vgl. Weber (2012), S. 80–90. Weber definiert den Verlauf der Jahre von 1971 bis 1980 mit den Bezeichnungen »Stabilität« und »Krise«. 57 Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 406 f., 424. Die staatliche Ausrichtung des Gesundheitswesens führte zu einer Umgestaltung des ärztlichen Berufsbildes. 58 Weber (2012), S. 96–113. 59 Erices/Gumz: Das DDR-Gesundheitswesen in den 1980er Jahren (2014). 60 Vgl. Weber (2012), S. 96. 61 Weber (2012), S. 96. 62 Weber (2012), S. 104. 63 Vgl. Jachertz/Rieser (2010). 64 Kowalczuk (2003), S. 22. 65 Ernst (1997), S. 213, 216.

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Gesellschaftsordnung einzustimmen: durch »wissenschaftlichen Sozialismus«, vermittelt während des Studiums, den späteren Arzt mit der Gesellschaft zu verbinden.66 In der Phase der Reformierung wurde eine obligatorische Fortbildung im Bereich Marxismus-Leninismus in ärztliche Weiterbildungsmaßnahmen aufgenommen, die »fachliche Ausbildung« sollte mit einer »gesellschaftswissenschaftlichen« verknüpft sein.67 Die Loyalität der »medizinischen Intelligenz«68 zur sozialistischen Ideologie und zur DDR mit einem entsprechenden Kursangebot sicherzustellen, war die Aufgabe der Akademie für Ärztliche Fortbildung69. In der sich anschließenden Phase der Konsolidierung musste jeder Abschluss, ob die Weiterbildung zum Facharzt/zur Fachärztin, Erwerb einer Promotion oder auch die in den 1980er Jahre eingeführten Kreisarztlehrgänge, mit obligatorischen Kursen im Fach Marxismus-Leninismus absolviert werden.70 Der Weiterbildungslehrgang »Zentrale Reisekader«, durchgeführt erstmals im Jahr 1988, sollte die Einhaltung der »DDR-Souveränität« bei Auslandsreisen zum Ziel haben.71 Es existierten keine Weiter- oder Fortbildungsmaßnahmen mehr ohne solche obligatorischen Kurse. Diese programmatisch beschlossene politische Erziehung hinterließ durchaus Spuren, wie der Begriff »Rotlichtbestrahlung« zeigt, eine spöttische Umschreibung für politische Indoktrination.72 Auch wenn sie belächelt wurde, bildet diese Formulierung die versuchte ideologische Beeinflussung in Fortbildungslehrgängen ab. In verschiedenen Studien wurde die Beteiligung von Ärzten an Maßnahmen der Staatssicherheit untersucht.73 Besonders in den 1980er Jahren belastete der Versorgungsmangel die Arzt-Patienten-Beziehung. Dies wurde anhand von Akten der Staatssicherheit erforscht.74 Die Realität einer problematischen Unterversorgung aus Patientenperspektive wird in der Forschungsliteratur ebenfalls widergespiegelt.75 Zu dem Thema Zwangsbehandlung in der DDR sind Untersuchungen mit unterschiedlichen perspektivischen Gesichtspunkten vorhanden. Die jüngste Untersuchung aus dem Jahr 2016 befasst sich speziell mit Zwangseinweisungen von Mädchen und jungen Frauen mit Verdacht auf Geschlechtskrankheiten. Jedoch handelte es sich bei zwei Dritteln der Eingewiesenen eher um unangepasste Charaktere, die im Sinne der sozialistischen Diktatur diszipliniert werden sollten. Die Studie identifiziert Chefärzte, die für die Patientinnen physisch und psychisch sehr belastende tägliche gynäkologische Untersuchungen sowie Medikamentengabe ohne me66 Winter (1952), S. 629. 67 Herrmann (1968), S. 1105. 68 Siehe Kowalczuk (2003), S. 32, 51. Zur Historie und Verwendung des Begriffes »Intelligenz« in der kommunistischen Politik vgl. Ernst (1997), S. 18 f. 69 Spaar (2003), S. 60. 70 Spaar (2003), S. 65. 71 Mros (2003), S. 30. 72 Wolf (2000), S. 167, 177, 194. 73 Vgl. Weil (2008); Müller (1994). 74 Erices/Gumz: Das DDR-Gesundheitswesen in den 1980er Jahren (2014); Erices/Gumz: DDR-Gesundheitswesen (2014). 75 Bruns (2016).

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dizinische Indikation verfügt haben sollen.76 Das Land Brandenburg hatte bereits im Jahr 1997 eine Studie zum möglichen Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke in Auftrag gegeben. Der Psychiatriebericht war zu dem Ergebnis gekommen, dass es eher keine messbaren Verletzungen innerhalb der ärztlichen Psychiatrie gegeben habe. Jedoch hätte ein erheblicher politischer Missbrauch der Psychologie seitens des Sicherheitsdienstes der DDR existiert. Der Fachbereich »Operative Psychologie« der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) dokumentiert dies eindringlich. Der Lehrplan sah die Übermittlung von »psychologischen Herrschaftstechniken« mit dem Ziel vor, die »konspirative Bekämpfung oppositioneller Gruppen« mittels »Zwangspsychiatrisierung« methodisch vorzunehmen.77 Dem Fazit des Berichts folgend hätte es »den politischen Mißbrauch der Psychiatrie […] im Sinne der Psychiatrisierung gesunder politischer Gegner« in Psychiatrien nicht gegeben.78 Psychiater hätten sich mehrheitlich ihrem »ärztlichen Ethos« verpflichtet gesehen und wären dem staatlichen Begehren, politische Kritiker mit Medikation zu »psychiatrisieren«, nicht nachgekommen.79 Anhand von 170 Akten inoffizieller Mitarbeiter des MfS untersuchte eine Studie aus dem Jahr 1998 die Fragestellung zur ärztlichen Schweigepflicht gemäß § 136 des Strafgesetzbuches der DDR in Zusammenhang mit politischem Missbrauch.80 Die These dieser Untersuchung, dass es »einen systematischen politischen Missbrauch nicht gegeben habe, wohl aber Übergriffe in einzelnen Fällen«81, wurde nach der Veröffentlichung sehr unterschiedlich bewertet. Die Diskussion offenbart die Schwierigkeiten eines neutralen Umgangs mit diesem emotional und politisch belasteten Thema. Die Einschätzung reicht von »böswillige Unterstellungen« über »Diffamierung« und »Verharmlosung en vogue« bis »unangebrachte Verallgemeinerung«.82 Die regulatorischen Strukturen ärztlicher Fortbildung In der Bundesrepublik bezeichnet Weiterbildung die Qualifizierungsphase des approbierten Arztes zum Facharzt und Fortbildung ausschließlich die lebenslange Wissensaktualisierung.83 Im Gegensatz hierzu wurden in der DDR die beiden Begriffe weniger trennscharf verwendet.84 Die »obligatorische Fortbildung für alle Hochschulkader« umfasste die Weiterbildung zum Facharzt und

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Steger/Schochow (2016); vgl. Bomberg (2016), S. 331. Lerch (1997), S. A-1487. Lerch (1997), S. A-1487. Lerch (1997), S. A-1487. Süß (1998), S. 11 f., 15. Jachertz (2011), S. A-1414. Siehe Leserbriefe (1999), S. A-1522–A-1524, A-2178 f., A-2182, A-2702–A-2706. Vogt (1998), S. 374. BArch, Bestand DQ 103/119, Begriffsbestimmungen 12.10.1974 »Fortbildung = Weiterbildung«.

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die »obligatorische periphere Fortbildung« (OF).85 In der DDR bestand neben der Pflicht zur Facharztweiterbildung, die 1967 eingeführt wurde86, auch eine Fortbildungspflicht. Die kontinuierliche Fortbildung, also die lebenslange Aktualisierung des ärztlichen Wissens, wurde in der DDR auch als »ständige Weiterbildung« bezeichnet.87 Die OF war 1963 zunächst als »obligatorische Qualifizierung aller Ärzte auf epidemiologischem und hygienischem Gebiet« aufgrund einer Ruhrepidemie eingeführt worden.88 Ab 1964 wurde die OF auf Zahnärzte und Apotheker ausgeweitet.89 Sie führte die Bezeichnung »peripher«, weil ihre Durchführung dezentral in den Bezirksakademien erfolgte.90 Es wurden sechs Pflichtthemen veranschlagt, die innerhalb eines Jahres überregional oder in den Bezirken absolviert werden mussten. Drei der Themen wurden vom Gesundheitsministerium angeordnet, die drei anderen konnte der Bezirksarzt nach dem Bedarf vor Ort, jedoch in Abstimmung mit der Akademie für Ärztliche Fortbildung festlegen.91 Die Anbieter ärztlicher Fortbildungsveranstaltungen waren die Akademie für Ärztliche Fortbildung als zentrale Einrichtung in Berlin und ihre dezentralen Akademien in den jeweiligen Bezirken92 sowie wissenschaftliche Fachgesellschaften, Hochschulen als auch medizinische Einrichtungen, wie z. B. Bezirkskrankenhäuser93, die als »Fortbildungszentren« der Akademie berufen wurden94. Unterstützt wurden die Weiter- und Fortbildungsangebote durch Weiterzahlung des Gehalts und eine Kostenerstattung sowie mittels Freistellung von der täglichen Arbeit.95

85 BArch, Bestand DQ 103/119, Aus- und Weiterbildung medizinischer Hochschulkader (1971). 86 Atorf (1998), S. 5. 87 Die ständige Weiterbildung (1969). 88 Anweisung (1963), S. 65. 89 Anweisung (1964), S. 12; Anweisung (1969), S. 139 f. 90 BArch, Bestand DQ 103/18, Direktorat Leitungskaderqualifizierung – Zentrale Fachkommissionen der Deutschen Akademie für Ärztliche Fortbildung (1971). 91 Müller-Dietz (1973), S. 1757–1759; vgl. BArch, Bestand DQ 103/20, Systematische Weiterbildung der Hochschulkader im Gesundheitswesen der DDR (1973). Die OF galt seit 1964 für Ärzte, Zahnärzte und Pharmazeuten, seit 1970 auch für alle anderen Hochschulkader des Gesundheitswesens auf der Grundlage jährlicher Anweisungen des Ministers – mit der Zielstellung gemeinsame Fortbildung zu Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik, des medizinischen Schutzes der Bevölkerung und allgemeiner Betreuungsschwerpunkte nach berufs- und fachspezifischer Gestaltung. 92 Verordnung (1952), S. 621, 623. 1952 erfolgte die Auflösung der Länder mit der Bildung von Bezirken; vgl. BArch, Bestand DQ 103/12, Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt, Cottbus, Magdeburg, Halle, Erfurt, Gera, Suhl, Dresden, Leipzig, K.-M.-Stadt, Berlin, Wismut [sic!]. 93 Steinbrück (1968), S. 236. 94 Arnold/Schirmer (1990), S. 86. 95 Mros (2003), S. 7–9. Seit 1951 organisierte die Vorläuferorganisation der Akademie Lehrgänge ohne Gebühren sowie Erstattung der Reisekosten; die Weiterbildungszeit wurde wie Arbeitszeit bezahlt; siehe auch BArch, Bestand DQ 103/20, Akademie für Ärztliche Fortbildung – Leitungskaderqualifizierung (1973).

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Die Phase der Orientierung (1949–1960) – Weiter- und Fortbildung als Forschungsauftrag Aus dem 1948 bereits vor der Gründung der DDR errichteten »Zentralinstitut für Sozial- und Gewerbehygiene« entstand am 8. Juli 1954 die »Akademie für Sozialhygiene, Arbeitshygiene und Ärztliche Fortbildung«.96 Diese leitete als eine Einrichtung des DDR-Gesundheitsministeriums die zentrale Organisation des Weiter- und Fortbildungssystems.97 Die Weiter- und Fortbildung der gesamten Ärzteschaft, inklusive der Zahnärzte, aber auch der Apotheker, sollte durch ein jährlich herauszugebendes Programm systematisiert werden.98 Die Akademie erhielt als eine dem Ministerium für Gesundheitswesen unterstellte sowie den Hochschulen gleichgestellte Einrichtung99 einen Forschungs- und Beratungsauftrag für die Erstellung des Jahresplans der Fortbildung für alle ärztlichen Fachrichtungen sowie für Apotheker und Zahnärzte100. Das Bildungsangebot der Akademie umfasste sowohl spezielle als auch fachübergreifende Weiter- und Fortbildungen, die als Verzeichnis ab 1956 herausgegeben wurden.101 Diese Übersicht war in den seit dem Jahr 1954 publizierten Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen vorab zu erhalten.102 Eine ärztliche Interessenpolitik mit standespolitischer Berufsorganisation hätte dem »sozialistischen Erziehungsprozess« als festem Bestandteil der Weiter- und Fortbildung im Wege gestanden.103 Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften konnten funktionell in die Vermittlung der neuen Zielstellung eingebunden werden. In der Phase der Orientierung sollte deren Aufgabe gemäß den Vorstellungen des Ministeriums für Gesundheitswesen um gesellschaftliche, d. h. konkret um ideologische und gesundheitspolitische Fragestellungen erweitert werden.104 Gesundheit wurde in der DDR als »sozialistische Gemeinschaftsarbeit« betrachtet.105 Der Minister für Gesundheitswesen, Luitpold Steidle, formulierte im Jahr 1950 die Zielrichtung: »Man wird eine sinnvolle Fortbildung der Ärzte nur dann gesichert wissen, wenn auch in den medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften nicht neben, sondern im gesundheitspolitischen Zusammenhang gedacht und gearbeitet wird.«106 Nationale medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaften zu etablieren, scheiterte in der Orientierungsphase jedoch an den noch sehr engen Bindungen der Ärzte96 Bekanntmachung (1954), S.  597; siehe auch Beschluß (1954); vgl. Befehle (1976), S. 180–182. 97 BArch, Bestand DQ 103/12, Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt, Cottbus, Magdeburg, Halle, Erfurt, Gera, Suhl, Dresden, Leipzig, K.-M.-Stadt, Berlin, Wismut [sic!]. 98 Anordnung (1955), S. 105. 99 Anordnung (1954), S. 605. 100 Mros (2003), S. 8. 101 Dambeck (1958), S. 1356. 102 Mros (2003), S. 9. 103 Rohland/Spaar (1973), S. 59. 104 Rohland/Spaar (1973), S. 62. 105 Rohland/Spaar (1973), S. 182. 106 Steidle (1950), S. 1566.

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schaft in der DDR zu den Gesellschaften in der Bundesrepublik, die wiederum Einfluss auf die Gesellschaften im Osten nehmen wollten. Die erste nationale medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaft konnte im Jahr 1953 in der DDR gegründet werden. Bemerkenswert war, dass der stellvertretende Vorsitzende der neu konstituierten Gesellschaft, Prof. Paul Friedrich Scheel, ebenfalls dem Vorstand der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft in der Bundesrepublik angehörte.107 In der Zeit von 1956 bis 1959 verlief die Gründung von nationalen medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften wegen der Verbundenheit zu den Kollegen in der Bundesrepublik verhalten. Bewusst wurde auf die Namensbezeichnung »der DDR« verzichtet und stattdessen die Begrifflichkeit »in der DDR« gewählt. Gegen Ende der Phase der Orientierung kam es gezielt im Herbst 1960 zu Gründungen von Gesellschaften »der DDR«.108 Die Phase der Orientierung kennzeichnet die Grundsteinlegung für ein zentral und staatlich gelenktes Fortbildungssystem mit Forschungsauftrag durch die Gleichstellung der Akademie mit einer Hochschule. Viele Ärzte waren in dieser Phase noch Mitglied in gemeinsamen medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Die Haltung des einzelnen Arztes konnte nach Ansicht der SED-Führung hierdurch weiterhin von standespolitischen Werten geprägt sein, weswegen Ärzte selbst als Parteimitglieder zu wenig Kooperationsbereitschaft für die berufspolitischen Ideen der Partei zeigten.109 Ein gezielter berufspolitischer Einfluss gegen parteipolitische Ziele der Einheitspartei ist wegen fehlender Standesvertretung jedoch nicht nachzuweisen. Die Phase der Reformierung (1961–1970) – staatlich kontrollierte ärztliche Fortbildung Am 13. Juli 1961 erfolgte die Umbenennung der Akademie in »Deutsche Akademie für Ärztliche Fortbildung«.110 Sie erhielt eigene Lehrstühle für die wichtigsten ärztlichen Fachgebiete.111 Die Verleihung des Habilitationsrechts erhob die Akademie zugleich zu einer Hochschule der postgradualen Ausbildung im Gesundheits- und Sozialwesen.112 Auch Bewerber anderer Fakultäten konnten gemäß den »Grundsätzen der Verordnungen vom 6. September 1956« über die Verleihung akademischer Grade an der Akademie habilitieren.113 1970 wurden die 1961 errichteten eigenständigen Institute114 – darunter die Akade107 108 109 110 111 112 113 114

Rohland/Spaar (1973), S. 68, 70 f. Rohland/Spaar (1973), S. 82, 85 f., 98. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 428. Anordnung (1961), S. 276. Vgl. Mros (2003), S. 97. BArch, Bestand DQ 1/21901, Verfahrensregelung der Habilitation; vgl. Redetzky (1961). Verordnung Verleihung (1956), S. 745. Nach Mros (2003), S. 11, setzte sich die Akademie ab 1961 aus vier eigenständigen Instituten zusammen: Deutsche Akademie für Ärztliche Fortbildung mit Lehrstühlen für die wichtigsten ärztlichen Fachgebiete, Deutsches Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Institut für Sozialhygiene sowie Institut für Planung und Organisation des Gesundheitsschutzes.

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mie mit ihren Lehrstühlen – wieder zusammengelegt115. Die Akademie galt ab sofort als »Einrichtung mit Hochschulcharakter«.116 Mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 erklärte der Rat der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität, dass »ohne Störungen durch fremde Einflüsse« Ärzte, Kliniken und Institute »ihre Pflichten erfüllen« könnten.117 Eine Mitgliedschaft in den gesamtdeutschen Gesellschaften war aufgrund dieser Entwicklung nicht mehr möglich, was die Gründung weiterer eigener wissenschaftlicher Gesellschaften in der Phase der Reformierung notwendig machte.118 Diese sollten staatlich kontrolliert sein. Die Verordnung des Ministerrates der DDR vom 9. November 1967 »Über die Registrierung von Vereinigungen« schrieb vor, dass sich alle Gesellschaften  – d. h. sechs Dachgesellschaften, 61 Zentralgesellschaften, zwölf Regionalgesellschaften, alle Bezirksgesellschaften der Gesellschaft für Allgemeinmedizin – beim Ministerium des Innern oder den Räten der Bezirke zu registrieren hatten.119 Ein Kooperationshinweis mit den medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften befand sich in dem neuen »Statut der Deutschen Akademie für Ärztliche Fortbildung« vom 26. Juni 1963 noch nicht, das die Akademie aufgefordert hatte, »eine systematische Fortbildung« für Ärzte »und der anderen im Gesundheitswesen tätigen Hochschulkader«120 aufzubauen sowie Voraussetzungen für die Durchführung obligatorischer Lehrgänge für alle Facharztkandidaten zu schaffen121. Sie sollte auch die Schwerpunktthemen für die inhaltliche Ausgestaltung der OF vorschlagen und damit die Leitlinien der Weiter- und Fortbildung für Ärzte, Zahnärzte und Apotheker im gesamten Staatsgebiet vorgeben. Die Übersichtsreferate der monatlich stattfindenden Vortragsabende wurden in der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung veröffentlicht.122 Die Akademie fungierte als »das zentrale, wissenschaftliche Leitinstitut«, welches »den Informationsstrom aus Wissenschaft und Gesellschaft für die ärztliche Fortbildung« zu bündeln hatte.123 Sie hatte »Informationen zu sichten und aufzuarbeiten, um diese […] auf kürzestem Wege in das Gesamtsystem […] zu transferieren«.124 Die Bedeutung der Akademie für die Parteidoktrin, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten, zeigte sich im Ausbau der »Einheit von Forschung, Lehre und Erziehung«. Von den Weiterbildungskandidaten wurde eine intensive Beschäftigung mit »gesellschaftswissenschaftlichen Grenzgebie-

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1970 wurden die beiden Institute für Sozialhygiene sowie für Planung und Organisation des Gesundheitsschutzes in die Akademie eingegliedert. Vgl. Mros (2003), S. 86. Anordnung (1970), S. 327. Verordnung (1970), S. 189. Rohland/Spaar (1973), S. 105. Friebel (2009), S. 49; vgl. Rohland/Spaar (1973), S. 147. Verordnung (1967), S. 861 f.; vgl. BArch, Bestand DQ 103/20, Medizinisch-wissenschaftliche Gesellschaften (1972): 73 Fachgesellschaften und 121 regionale Bezirksgesellschaften als allgemein fachgebundene regionale Gesellschaften. Anordnung (1963), S. 431. Direktive (1963). Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1962), H. 9, S. 99. Herrmann (1968), S. 1110. Herrmann (1968), S. 1110.

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ten« wie »Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Philosophie« erwartet.125 Die Struktur ärztlicher Fortbildungspolitik sollte dem Gedanken eines »nahtlosen Ineinandergreifens der einzelnen Ausbildungsabschnitte« folgen.126 Die Phase der Reformierung definierte sich durch die Einführung einer Fortbildungspflicht mit kontrollierter Teilnahme, der OF. Des Weiteren wurden Weiter- und Fortbildung systematisch verknüpft und zu dem sozialistischen Gesamtpaket geschnürt: Forschung und Lehre auch als Instrumentarium für eine politische Erziehung. Einflüsse auf die einseitige parteipolitische Staatsdoktrin waren durch den Mauerbau minimiert worden. Medizinischwissenschaftliche Gesellschaften unterlagen einer staatlichen Registrierung. Die Phase der Konsolidierung (1971–1988) – sozialistische Erziehung in der Weiter- und Fortbildung Durch die internationale Anerkennung der DDR 1971 und 1972 durch die Bundesrepublik konzentrierte man sich auf konsolidierende Elemente. Mit dem am 1. November 1971 in Kraft getretenen Statut wurde die Akademie in »Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR« umbenannt sowie zur »Leitinstitution für die Weiterbildung der Hochschulkader« ernannt.127 Die Zeitschrift für ärztliche Fortbildung firmierte nun als »offizielles Publikationsorgan der Akademie«.128 Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften wurden in die Arbeit der Akademie für Ärztliche Fortbildung intensiver eingebunden.129 Der Ausbau dieser Kooperation fand 1971 Niederschlag in der Neufassung des Statuts der Akademie für Ärztliche Fortbildung, § 5 (1): »Die Akademie arbeitet bei der inhaltlichen Gestaltung der Weiterbildung und bei der Festlegung und Lösung der Aufgaben in der Forschung eng mit staatlichen Organen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen zusammen.«130 Die Akademie erhielt mit diesem Statut vom 15. Dezember 1971 auch das Recht zur Durchführung von A- und B-Promotionsverfahren.131 Der Wissenschaftliche Rat der Akademie war befugt, akademische Grade, wie den Dr. med. und Dr. sc. med., zu vergeben.132 Die Rechtsvorschrift des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen sah die Übernahme universitärer Strukturelemente für die Akademie vor.133 Neu war auch die Implementierung von Sektionen – Sektion I: Philosophie und Wissenschaftstheorie in der Medizin; Sek125 126 127 128 129 130 131 132 133

Winter (1967), S. 1324. Schmincke (1967), S. 1317. Winter (1972), S. 1; vgl. Anordnung (1970), S. 327. Der Titel lautete Zeitschrift für ärztliche Fortbildung – Organ der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR (seit 1972); vgl. Winter (1972), S. 1. Rohland/Spaar (1973), S. 192. Anordnung (1972), S. 71; vgl. Anordnung (1963), S. 431. Vgl. Mros (2003), S. 88. Mros (2003), S. 14. Weiter- und Fortbildung (1973), S. 2; BArch, Bestand DQ 103/119, Systematische Weiterbildung der Hochschulkader im Gesundheitswesen der DDR, Stand 1973; BArch,

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tion II: Leitung, Planung, Ökonomie; Sektion III: Sozialhygiene; Sektion IV: Gesundheitsstatistik  –, die, mit hauptamtlich angestellten Professoren sowie Dozenten und von einem Rektor geführt, einem Direktor unterstellt waren.134 Der Bereich Philosophie und Wissenschaftstheorie in der Medizin (Sektion I) nannte sich ab 1976 »Sektion Marxismus-Leninismus« (M/L).135 Der Themenblock »sozialistische Erziehung« mit Teilnahmepflicht im Fach Marxismus-Leninismus war für die ärztliche Fortbildung, für die Facharzt- bzw. Fachzahnarztprüfung sowie für die Doktoranden obligat.136 1982 wurde die Sektion M/L der Akademie mit der Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls in ihrer Bedeutung weiter ausgebaut.137 Eine strukturelle Erweiterung ab 1984 bot »obligatorische zyklische Fortbildung« für Kreisärzte und Ärztliche Direktoren an. Konzipiert als Gruppenhospitation, sollte sie im Abstand von fünf Jahren stattfinden. Die Auswahl der Kliniken traf der Minister für Gesundheitswesen.138 Die Ernennung zum »Collaborating Centre« der Akademie durch die WHO erfolgte 1988.139 In der Phase der Konsolidierung war durch die Aufnahme der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften in die Statuten der Akademie und die Möglichkeit einer Weiterbildung, z. B. durch Promotion, der Wirkungskreis der Akademie ausgebaut worden. Damit war formal und strukturell die parteipolitisch ausgerichtete »Einheit von Forschung, Lehre und Erziehung« in das Programm der Akademie übernommen worden. Die Phase der institutionellen Auflösung (1989–1990) – ein Konzept ohne Zukunft in der föderalen ärztlichen Selbstverwaltung Nach dem Mauerfall im Herbst 1989 beendete der politische Umbruch das Akademiemodell für ärztliche Fortbildung.140 Die zunächst verfolgte Idee einer Umwandlung der Akademie in eine durch die Bundesländer getragene Public Health School unter Beibehaltung des Promotionsrechts konnte nicht umgesetzt werden.141 Laut Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands wurde die Akademie ab dem 4. Oktober 1990 zu einer »nachgeordneten Einrichtung« des Bundesministeriums für Jugend, Familie,

134 135 136 137 138 139 140 141

Bestand DQ 103/20, Akademie für Ärztliche Fortbildung – Leitungskaderqualifizierung (1973); Mros/Jäschke (1997), S. 80; vgl. Burkart: Gesellschaften (1984), S. A-3800. Anordnung über die Weiterbildung (1974), S. 290; Anordnung über die obligatorische Fortbildung (1974), S. 133 f. Mros (2003), S. 14. Anweisung (1977), S. 38 f.; Anweisung (1986), S. 55; Anweisung (1987), S. 37; Anweisung (1988), S. 89; vgl. Mros/Jäschke (1997); vgl. Mros (2003), S. 98. Spaar (2003), S. 61. Anweisung (1985), S. 15 f.; Burkart: Fortbildung (1984), S. A-3564. Mros (2003), S. 17. Gesetz über die Berufsvertretungen (1990), S. 711 f. Mros (2003), S. 21.

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Frauen und Gesundheit.142 Die sogenannte »Abwicklung« wurde ab dem 3. Januar 1991 eingeleitet und die Auflösung zum 30. Juni 1991 vollzogen.143 Dieses Akademie-Modell mit Forschungsaufgaben ohne parteipolitisch gelenkte Ziele hätte durchaus ein ergänzendes Konzept zu den Fortbildungsakademien der Ärztekammern – ohne diese zu ersetzen – sein können. Die Verknüpfung von Weiter- und Fortbildung innerhalb der Akademie war ein innovatives Konzept, das heute strukturell verglichen werden könnte mit der Entwicklung von Modulen, die sowohl in der Weiter- als auch der Fortbildung genutzt werden. Der eigene Lehrkörper der Akademie machte es möglich, aktuelle Themen im Gesundheitswesen aufzugreifen und deren wissenschaftliche Bearbeitung mittels der postgradualen Studiengänge sowie des Promotions- und Habilitationsrechtes anzustoßen. Fortbildung unter föderalen Strukturen ärztlicher Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Ärztliches Berufsbild und Entwicklungsphasen des Gesundheitssystems der Bundesrepublik Die Phase der Konsolidierung offenbart sich 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik, die föderal konstituiert und mit einem Gesundheitswesen in einer Selbstverwaltungsstruktur ausgestattet wurde. Bereits im September 1945 wies das Control Council den Ärztekammern in der amerikanischen Besatzungszone die ärztliche Selbstverwaltung als Aufgabe zu. Die anderen westlichen Besatzungszonen folgten nach.144 Ebenfalls zügig vollzog sich die Wiedereinrichtung der gesetzlichen Krankenkassen sowie der Kassenärztlichen Vereinigungen in den Rechtspositionen vor 1933.145 Dies entsprach dem von den Alliierten entworfenen Plan einer Dezentralisierung als gesundheitspolitisches Grundkonzept.146 Ein Ministerium für Gesundheit wurde erst am 14. November 1961 gegründet.147 Wegen der föderalen Struktur verfügte dieses über eingeschränkte Befugnisse hinsichtlich der Gestaltung des ärztlichen Berufs. Drei Faktoren werden für diesen zögerlichen Wandel in der Bundesrepublik verantwortlich gemacht: die föderale Struktur, die sich blockierenden Koalitionsparteien sowie eine sehr präsente und einflussreiche standes- und berufspolitische Verbandslandschaft.148 Diese setzte sich aus freien ärztlichen Verbänden und den wissenschaftlichen Fachgesellschaften zusammen. Die hohe Zahl an Organisa142 143 144 145 146 147

Gesetz zu dem Vertrag (1990), S. 893, Artikel 13 (2). Mros (2003), S. 22. Vgl. Gerst (1997), S. 200–203. Gerst (2004), S. 19 f. Woelk/Vögele (2002), S. 291. Die vierte Legislaturperiode (1961), S. 2429; Dr. Elisabeth Schwarzhaupt (1961), S. 2431; vgl. Leh (2006), S. 206. 148 Woelk/Vögele (2002), S. 37 f.

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tionen löste bereits 1945 Diskussionen und Befürchtungen aus, die Ärzteschaft könne daran zersplittern. Die Bundesärztekammer als Arbeitsgemeinschaft der Ärztekammern, die Ärztekammern selber und die Kassenärztlichen Vereinigungen bieten durch ihre Gremien die Möglichkeit des Austausches. Das Verhältnis von Verbänden und Körperschaften ist nicht frei von Spannungen, steht aber auch unter dem Verdacht einer »strategisch-taktischen Arbeitsteilung« für den Ausbau berufspolitischer Interessen.149 Die Kategorisierung des Arztberufs als »freier Beruf« mit freiem Niederlassungsrecht gilt bis heute als Pfeiler der ambulanten Medizin und als Kennzeichen der Definition des Arztberufs in der Bundesrepublik. Der einzelne Arzt hat dabei für die Qualität seiner dem Patienten gegenüber zu erbringenden Leistung zu garantieren.150 Freiberuflichkeit umfasst keine »Bindungslosigkeit« an die rechtliche Normierung des Arztberufs.151 Im Bewusstsein der Ärzte werden diese Normen einerseits als Schutz für das ärztliche Handeln, andererseits »als unangemessener Eingriff in ureigene ärztliche Aufgaben« wahrgenommen.152 Auch die Diskussion innerhalb der Ärzteschaft zum Umgang mit der Fortbildungsverpflichtung dokumentiert diese Ambivalenz.153 Als 2004 durch den Gesetzgeber im Bereich ärztlicher Fortbildung eine Nachweispflicht für Vertragsärzte eingeführt wurde154, verursachte diese Regelung in der Ärzteschaft deutliche Kritik155. Krankenhausärzte unterliegen seit 2006 ebenfalls einer Fortbildungspflicht mit Nachweis.156 Für Ärzte mit Privatpraxen gilt bis heute eine freiwillige Fortbildungspflicht gemäß der Berufsordnung für Ärzte.157 Die Gründe für das Beharren innerhalb der Ärzteschaft auf Fortbildung als freiwillige Pflicht erschließen sich in den folgenden Kapiteln. Medizinindustrie und ärztliche Fortbildung Hinzu kam ein weiterer Akteur, der in der DDR qua staatlicher Verfassung für ärztliche Fortbildung keine Rolle spielte: die pharmazeutische Industrie.158 Diese nahm im untersuchten Zeitraum von 1949 bis 1990 auf verschiedenen Ebenen Einfluss auf die Ausgestaltung der ärztlichen Fortbildung in der Bundesrepublik. Vertreter und Mitarbeiter der Fortbildungsgremien der Bun149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

Vogt (1998), S. 243–245. Vogt (1998), S. 468 f. Katzenmeier (2009), S. 46, 48. Taupitz (1998), S. 1. roe (1990), S. A-1221. Gesetz (2003), S.  2212 f., § 95d Pflicht zur fachlichen Fortbildung. Das Gesetz trat am 1. Januar 2004 in Kraft. Reformgesetz (2003), S. 198. Beschluss (2006). Die Vereinbarung trat am 1. Januar 2006 in Kraft. Vgl. Böthin (2013). Vgl. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 60: Durchführung von klinischen Studien der Pharma-Industrie in der DDR.

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desärztekammer bescheinigten der »Mehrzahl der von der pharmazeutischen Industrie angebotenen Kataloge, Broschüren, Monographien, Hauszeitschriften […] einen hohen Informationswert«.159 Sie wurden als hilf- und lehrreich begrüßt160, die wirtschaftliche Förderung als nützlich und dienlich betrachtet161. Gelobt wurden zudem die ausgezeichnete Didaktik, neueste Technik sowie die personelle und finanzielle Ausstattung, über die Ärztekammern zu dieser Zeit nicht verfügten.162 Ärztliche Kreisvereine sowie die Kreisstellen der Ärztekammern, die für ärztliche Fortbildung auf regionaler Ebene zuständig waren, empfanden die unterstützende Dienstleistung der Industrie auch bei der Planung, Organisation und Durchführung lokaler Fortbildungsveranstaltungen als Erleichterung und konstruktive Entlastung.163 Wurde die finanzielle Abhängigkeit des Deutschen Ärzteblatts von Werbung der Industrie kritisiert, antwortete die Bundesärztekammer im Jahre 1971, dass im Vorjahr lediglich ein knappes Drittel des Umfangs für Anzeigen zur Verfügung gestanden habe. Zudem sei das Deutsche Ärzteblatt verpflichtet, Veröffentlichungen der Arzneimittelkommission zu platzieren.164 Das Herunterspielen einer möglichen suggestiven Wirkung offenbart sich auch mit dem Hinweis, dass Produkte – z. B. Fortbildungsfilme, deren Hauptlieferant die pharmazeutisch-technische Industrie war165 – »durch die jahrelange Arbeit des Filmausschusses der Bundesärztekammer und anderer Institutionen […] eine Produktwerbung in den Filmen weitgehend verlassen« und jetzt »Werbung durch Information« pflegen würden166. Proklamiert wurde die Botschaft, dass die Präsentation von Produkten seitens der Firmen doch zunehmend in den Hintergrund trete: »Man hat eingesehen, daß neben den zweifellos großartigen Fortbildungsleistungen der Firmen eine unabhängige, von unserer beruflichen Selbstverwaltung korrigierte, also quasi amtliche Fortbildungsmöglichkeit angeboten werden muß.«167 Diese nahezu uneingeschränkte Bereitschaft zur Kooperation schaltete die eigentliche Erkenntnis über die problematische Einflussnahme im Bewusstsein aus.168 Es wurde auf »Formen der Zusammenarbeit zwischen Veranstaltern und Industrie« verwiesen, die »hochwertige, sachliche Fortbildung bei guter Zusammenarbeit« als »produktionsunabhängige Fortbildung« böten.169 Die Abhängigkeit von Informationen der Pharma-Industrie wurde geradezu 159 160 161 162 163 164 165 166

Fromm (1967), S. 1129. Lippross (1980), S. 2179. Fortbildung (1965), S. 548. Preusse (1981); Tätigkeitsbericht (1968), S. 1390; Jachertz (1970). Odenbach (1979), S. 1645, 1656. Ärztliche Fortbildung (1971), S. A-874 f. Film-Fortbildungsprogramm (1967), S. 694; Stockhausen/Schiffbauer (1973). Gastinger (1977), S.  2368; vgl. hierzu Gaudillière/Thoms (2013), S.  110: Strategie der Pharmafirmen am Beispiel von Schering durch Verknüpfung von Werbung und wissenschaftlichem Marketing. 167 Lippross (1980), S. 2178. 168 Vgl. Lenzen (2015), S. 5–12, 101 f., eine aktuelle Studie zu bis heute bestehenden Interessenkonflikten in der ärztlichen Fortbildung am Beispiel des in der Kategorie D zertifizierten Fortbildungsangebots durch die Bayerische Landesärztekammer. 169 Odenbach (1979), S. 1645.

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propagiert: »Seine erste Information über eine Neuentwicklung erhält der Arzt in der Praxis meistens durch den Pharma-Referenten der herstellenden Firma. […] Der in der Praxis beruflich leicht vereinsamte Arzt kann sich bei diesem Pharmareferenten gut informieren.«170 Dieser Austausch galt zudem als interkollegiale Kommunikation, »durch die doch erhebliche Informationsmengen über neue Möglichkeiten der Arzneimitteltherapie zu den Ärzten gelangen«.171 Viele Ärzte sahen im Pharmareferenten keinen Verkäufer, sondern einen Berater.172 Vertreter des Ausschusses »Ärzte in der pharmazeutischen Industrie« wurden neben anderen privaten Anbietern von Fortbildungsveranstaltungen zu Sitzungen des Senats für ärztliche Fortbildung geladen, um neue Möglichkeiten der Fortbildung zu diskutieren.173 Der Vorstand der Bundesärztekammer hatte 1964 die Gründung dieses Ausschusses beschlossen, um den in der Pharma-Industrie tätigen Medizinern »eine Vertretung im Rahmen der Gesamtärzteschaft in der Bundesärztekammer« zu geben und »das Verhältnis des in der pharmazeutischen Industrie tätigen Arztes zu den übrigen Teilen der Ärzteschaft […] zum Nutzen einer optimalen, medikamentösen Versorgung« zu verbessern.174 Dieses Zusammenwirken der Ärzteschaft mit der pharmazeutischen sowie medizinisch-technischen Medizin als »Komplizenschaft« zu kritisieren, berücksichtige nicht die Vorteile für ärztliche Fortbildung, wurde seitens des damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer auch 1981 konstatiert.175 Die wachsende Kritik an dem »Geben und Nehmen« sowie der »versteckten Produktwerbung« führte im September 1986 zur Gründung der »Gemeinsamen Kommission der Ärzteschaft und des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie«, deren Mitglieder die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie waren.176 Verstöße gegen den gemeinsamen Kodex blieben jedoch ohne Konsequenz, da keine verpflichtende Bindung an die Entscheidung der Kommission bestand.177 Noch 1989 waren die Vertreter der Ärzteschaft der Meinung, dass es nicht möglich sei, »eine generelle, unabhängige Fortbildung der Ärzteschaft in eigener Hand zu finanzieren«. Die Erwartungshaltung an den Staat bezog sich lediglich auf die Schaffung von Steuererleichterungen. Ein staatliches Mitbestimmungsrecht an Fortbildungsregularien war absolut unerwünscht.178 Obwohl der Ärzteschaft das Interesse der Industrie – als Wirtschaftsunternehmen das eigene Produkt auf den Markt bringen zu müssen – nicht verborgen blieb, 170 Lippross (1980), S. 2177. 171 Bourmer (1975), S. 1215; vgl Thoms (2014), S. 196–201, zur Entwicklung des Berufsbilds des Pharmareferenten vom Fachmann zum Buhmann: »Ärztebesucher, Ärztepropagandist, Pharmareferent oder Pharmaberater?«. 172 Arnold/Schirmer (1990), S. 30. 173 Vogt (1966), S. 257. 174 Schmidt (1965), S. 2395 f. 175 JK (1981), S. 1644. 176 PdÄ (1986), S. A-3349. 177 BÄK/KBV/BPI (1988), S. A-2726. 178 Jachertz (1989), S. A-1501.

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stand die Finanzierungsfrage im Vordergrund. Ärztliche Fortbildung wurde vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Einnahmeeinbußen durch Praxisschließung für die Zeit der Fortbildung sowie die Kursgebühren wurden als finanzielle Belastung empfunden. Die Phase des Wiederaufbaus als Konsolidierung (1949–1960) – Berufsaufsicht durch die Ärztekammern In der Bundesrepublik obliegen Weiter- und Fortbildungsbefugnisse den Ärztekammern bzw. Teilbereiche der Fortbildung auch den Kassenärztlichen Vereinigungen.179 Diese Aufteilung innerhalb der ärztlichen Selbstverwaltung entspricht den föderalen gesamtstaatlichen Strukturen. Dem Bund fehlt »die erforderliche Kompetenz zur Errichtung einer Bundesärztekammer als bundesunmittelbarer Körperschaft des öffentlichen Rechts, die auf dem ganzen Gebiet des ärztlichen Berufsrechts tätig werden kann«, wie der Art. 87 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 des Grundgesetzes unmissverständlich zum Ausdruck bringt.180 Aufgrund der föderalen Struktur werden die Ärztekammern als Organe der Selbstverwaltung von den Ländern beauftragt, Grundlagen für die ärztliche Fortbildung zu schaffen und die Berufsausübung zu überwachen.181 Die Bundesärztekammer verfügt nicht über eine Weisungsbefugnis gegenüber den Ärztekammern182, sondern beschränkt sich auf den Austausch über die jeweiligen Entwicklungen in den verschiedenen Ärztekammern183. Ab 1953 übernahm ein Gremium, der Deutsche Senat für ärztliche Fortbildung, die Koordinierung des Wissenstransfers, ohne selbst aktiv Ausbildung anzubieten.184 Die konzeptionelle Trennung zwischen Ausund Fortbildung spiegelt sich auch in den Richtlinien für ärztliche Fortbildung wider, die vom 56. Deutschen Ärztetag 1953 beschlossen wurden: Während die Hochschule die Grundlage der Ausbildung zum Arzt vermittelt, ist es Aufgabe der ärztlichen Fortbildung, neben der Auffrischung alter und der Vermittlung neuer Kenntnisse besonders die Bedürfnisse der Praxis in Vortrag, Diskussion, Schrifttum und praktischen Übungen zu berücksichtigen.185

In der ersten Sitzung des Deutschen Senats für ärztliche Fortbildung am 16./17. Januar 1954 in Wiesbaden wurde festgehalten, dass das »sehr bunte 179 Regelung (2005), S. A-306 f. 180 Berger (2005), S. 28. 181 Bundesärzteordnung (1961), S. 1857; vgl. Vogt (1998), S. 144–147. Die Heilberufsgesetze der Länder enthalten die Bestimmungen über die Berufsgerichtsbarkeit und erheben die Heilberufskammern in den Stand von Körperschaften des öffentlichen Rechts; vgl. Taupitz (1991), S. 564, 634, 758–760. Die Kammer- und Heilberufsgesetze der Bundesländer tragen verschiedene Bezeichnungen; Tätigkeitsbericht (1962), S. 1388. 182 Neue Satzung (1955), S. 920. 183 Satzung der Bundesärztekammer, § 2 Absatz 1 und 2 (Stand 2014): http://www.bundes aerztekammer.de/ueber-uns/satzungen-und-statuten/satzung/ (letzter Zugriff: 8.1.2018). 184 Tätigkeitsbericht der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern (1952/53), S. 15–17. 185 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1989), S. 548.

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Bild der ärztlichen Fortbildung« mit seinen vielen Facetten hinsichtlich der Methodik nicht vereinheitlicht werden sollte. Denn individuelle Gegebenheiten erforderten auch eigene Methoden, denen genügend Spielraum geboten werden müsse.186 Zwar wurde ein Informationsaustausch auf Bundesebene als notwendig erkannt und mit der Gründung des Senats für ärztliche Fortbildung initiiert, jedoch lehnte man jede Form der Vereinheitlichung ab. Zudem wurde Fortbildung als eigenständiges Segment neben Aus- und Weiterbildung definiert. Die Phase der Orientierung (1961–1990) – Pflicht als Freiwilligkeit: Gründung von Akademien für ärztliche Fortbildung durch die Ärztekammern Zeitgleich mit dem Mauerbau und der Abschottung der DDR wurde eine Orientierungsphase in der Bundesrepublik eingeleitet. Die Errichtung eines Bundesministeriums für das Gesundheitswesen ebenso wie die Diskussion in den Ärztekammern über die Einrichtung einer Akademie für ärztliche Fortbildung entfallen auf diese Entwicklungsphase. In der Sitzung vom 23. Januar 1965 befasste sich der Deutsche Senat für ärztliche Fortbildung zum ersten Mal mit dem Thema einer Fortbildungsakademie für Ärzte.187 Zur Diskussion stand die Errichtung einer mit der Akademie für Ärztliche Fortbildung vergleichbaren Institution. Danach sollte ein »ständiger akademischer Lehrkörper« mit ärztlicher Fortbildung betraut werden: Eine derartige Akademie […] wäre durchaus von den ärztlichen Standesorganisationen in eigener Regie zu übernehmen und teilweise zu unterhalten. […] Natürlich müsste die Gründung einer solchen Fakultät mit Rektor, Dekan und akademischer Selbstverwaltung in enger Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden geschehen. […] Die »Post-graduate Medical-School« der Angelsachsen bietet sich als Modell an.188

Nicht nur die Briten standen Modell. Auch die Akademie für Ärztliche Fortbildung wurde durchaus als mögliches Vorbild benannt: »Im anderen Teil unseres Vaterlandes gibt es bereits eine eigene Medizinische Fakultät, die als Akademie für Fortbildung in Ostberlin ihre Tätigkeit aufgenommen hat […].« Dieses Konzept habe sich bei der Entwicklung von Qualitätsstandards bewährt: »Für die Ausbildung und den Leistungsstandard auch der Ärzte in der Bundesrepublik könnte sich eine derartige Einrichtung nur vorteilhaft auswirken.«189 Der Bundesärztekammer lag 1969 ein Bericht über den Modellversuch vor, eine Akademie für die ärztliche Fortbildung zu gründen.190 Die Landesärztekammer Hessen hatte sich dazu entschieden, die »Akademie 186 Sitzung (1954), S. 70–72; siehe auch Deutscher Senat (1953), S. 711, sowie Tätigkeitsbericht der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern (1953/54), S. 32. 187 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1964/65), S.  38, Kurzreferat des Senatsmitglieds Prof. Dr. Schettler. 188 Schettler (1965), S. 552. 189 Schettler (1965), S. 552. 190 Kaempffer (1969), S. 721; Tätigkeitsbericht (1970); Akademien (1978), S. A-3020.

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für ärztliche Fortbildung der Landesärztekammer Hessen« mit Sitz in Bad Nauheim zu gründen. Eine freiwillige Mitgliedschaft berechtigte zur Dokumentation der Fortbildungsaktivität des einzelnen Arztes dazu, ein Diplom oder ein »besonderes Zeichen für das Arztschild« zu erwerben.191 Motivator für die Errichtung einer Akademie nach diesem Modell war die Befürchtung, der Staat könne eine Pflichtfortbildung einführen. Nur durch das Agieren der Ärzteschaft selbst könne eine solche Maßnahme verhindert werden, lautete die Argumentation.192 Die öffentliche Diskussion setzte die Ärzteschaft zunehmend mit der Fragestellung »Wann erreicht der medizinische Fortschritt den Patienten?« unter Druck.193 Im Tätigkeitsbericht von 1971/72 heißt es zu den Modellversuchen: »Bundesärztekammer und Deutscher Senat für ärztliche Fortbildung haben die Initiativen als Versuche begrüßt, für die ärztliche Fortbildung neue Wege zu erschließen.«194 Bedingt durch föderale Unterschiede erfolgte die Umsetzung von Fortbildungsakademien durch die Ärztekammern zeitlich versetzt und auf unterschiedliche Weise.195 Der Beschluss des Deutschen Ärztetages 1974, »in allen Ärztekammern den Aufbau von Akademien für ärztliche Fortbildung anzustreben«196, der 1975 nochmals bekräftigt wurde197, sah ein gemeinsames Konzept nicht vor198. Die Ausschüsse der Bundesärztekammer »Akademien für ärztliche Fortbildung« ab 1976 und »Ständige Konferenz Ärztliche Fortbildung« ab 1978 sollten den Austausch fördern.199 Die Fortbildungsexperten und Sachbearbeiter der Ärztekammern sowie die Vorsitzenden der Fortbildungsakademien erörterten Fragen zur kammereigenen Fortbildungsorganisation.200 Fortbildungsfakultäten oder -akademien mit hauptamtlichen Mitarbeitern und Dozenten, ähnlich wie Universitätslehrer in Forschung, Lehre und Praxis201, konnten sich nicht durchsetzen202. Als alternative Modelle könnten m. E. die 1975 in der Bundesärztekammer eingerichtete Abteilung »Fortbildung und Wissenschaft«203 sowie die Gründung des »Interdisziplinären Fo191 192 193 194 195

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Blöchl (1994), S. 38, 44. Blöchl (1994), S. 40, 43. Fortbildung (1969), S. 1689. Tätigkeitsbericht (1972), S. 1571; Jachertz (1973), S. 315 f. Vgl. Kerger (1986), S. 104. Bereits 1952 war eine Akademie für ärztliche Fortbildung in West-Berlin geschaffen worden, jedoch nicht initiiert von einer Ärztekammer. Die Ärztekammer Berlin wurde 1962 konstituiert; vgl. Böthin (2015), S. 154. In der Zeit von 1934 bis 1945 bestand eine Berliner Akademie für ärztliche Fortbildung. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1974/75), S. 64; vgl. Odenbach (1979) S. 1645. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1975/76), S. 86; siehe auch Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1980), S. 140. Jachertz (1975). Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1975/76), S.  88; vgl. Odenbach (1976); Jachertz (1979), S. 325. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1979), S. 164. UV (1978), S. 1410. Vgl. Schettler (1965). Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1975/76), S. 12, 86; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1977), S. 102.

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rums – Fortschritt und Fortbildung in der Medizin« im Jahre 1976 gelten204. Bis Dezember 1978 waren insgesamt zehn Akademien in den Ärztekammern etabliert worden.205 Der orientierende Blick ins Ausland führte dann auch zu der Gründung einer »Europäischen Akademie für ärztliche Fortbildung« durch die hessische Akademie im Januar 1979.206 Die bewusst hervorgehobene Verknüpfung von Fortbildung und Wissenschaft durch die Einrichtung einer entsprechenden Abteilung in der Bundesärztekammer sowie die Etablierung des Interdisziplinären Forums und die Akademiegründungen durch die Ärztekammern kennzeichnen diesen Zeitabschnitt der Orientierungsphase. Fortbildung als freiwillige Pflicht Auch anhand der Diskussion um die Nachweispflicht ärztlicher Fortbildung wird die Orientierungssuche sichtbar. Verschiedene Varianten wurden erörtert. Sie stehen zugleich für unterschiedliche Strömungen innerhalb der Ärzteschaft. Die Nachweisbarkeit von ärztlicher Fortbildung war daher regional unterschiedlich, jedoch stets durch Freiwilligkeit gekennzeichnet. Eine Variante war die freiwillige Mitgliedschaft an einer Akademie für ärztliche Fortbildung, eine andere bestand in einem freiwilligen Effizienznachweis.207 Die Vergabe einer Plakette für die Teilnahme an bestimmten Fortbildungsveranstaltungen stellte eine dritte Variante dar.208 Die Erfüllung der »zentralen Berufspflicht« dürfe »nicht durch die Vergabe besonderer, nach außen herauszustellender Diplome honoriert werden«, lautete die Kritik der Bundesärztekammer zuerst, weil dies gegen das in der Berufsordnung festgeschriebene Werbeverbot verstieße.209 Im Vordergrund müsse stets die »Freiheit des Arztes in der Wahl seiner Fortbildung« stehen, die durch solche Regelungen eingeschränkt werden könne.210 In der Sitzung des Senats im Jahr 1975 wurde dann doch positiv über die Einführung eines »besonderen Zeichens für den Teilnahmenachweis« entschieden.211 Ein Effizienznachweis »unter Wahrung des Prinzips der Freiwilligkeit« war die Maxime.212 Die Ärztetage 1976 und 1977 fixierten eine Fortbildungsverpflichtung als Berufspflicht der Ärzte in § 7 der Berufsordnung, jedoch ohne einen Kriterienkatalog zu erstellen, wie der Nachweis für eine 204 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1975/76), S. 93; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1977), S. 108. 205 Vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1975/76), S. 89; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1979), S. 167. 206 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1979), S. 162, 166, 167. 207 Schiffbauer (1975); Entschließungen (1999), S. A-1654. 208 Dauth (1991), S. A-376; cpm (1991), S. A-1334; Gr/DÄ (1973). 209 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1972/73), S. 141 f. 210 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1973/74), S. 60; Tätigkeitsbericht (1972), S. 1571; Alle Macht (1975), S. A-1185–A-1187. 211 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1974/75), S. 65. 212 Schiffbauer (1975); siehe auch Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1974/75), S. 65.

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solche Verpflichtung auszusehen hätte.213 Denn »die den individuellen Gegebenheiten des einzelnen Arztes entsprechende freie Wahl der Form der Fortbildung ist durch den Absatz 2 garantiert«.214 Die Fortbildungsverpflichtung, die bisher allgemein formuliert war, wurde in Absatz 4 des Paragraphen präzisiert: »Der Arzt muss eine den Absätzen 1 bis 3 entsprechende Fortbildung gegenüber der Ärztekammer nachweisen können.«215 Es erscheint nicht zufällig, dass die Aufnahme einer solchen Verpflichtung 1976 in die Musterberufsordnung erfolgte. Am 1. Januar 1977 trat das »Gesetz zur Weiterentwicklung des Kassenarztrechts« in Kraft.216 Unter § 368 m Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung wurde eine kassenarztspezifische Fortbildungspflicht eingeführt.217 Die Kassenärztlichen Vereinigungen hatten hiernach Bestimmungen über die ärztliche Fortbildung für die kassenärztliche Tätigkeit aufzunehmen.218 Auch die Empfehlung 1979 auf dem Ärztetag und 1984 durch die Bundesärztekammer, darauf zu achten, Fortbildung mit Blick auf Gerichtsverfahren in Arzthaftpflichtprozessen nachweisen zu können219, offenbart: Erst durch Impulse von außerhalb der Ärzteschaft kam etwas Bewegung in die Fortbildungsdiskussion. Auch die Gutachten des Sachverständigenrates für die »Konzertierte Aktion« des Bundesministeriums für Gesundheit220 aus den Jahren 1988 und 1989 sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Sie hatten für die Abrechnung bestimmter Leistungen und sogar »als Voraussetzung für eine periodische Erneuerung der Approbation« einen Fortbildungsnachweis gefordert.221 Denn Fortbildungsveranstalter hätten die Erfahrung gemacht, dass immer nur »dieselben zu sehen« seien.222 Trotz des Appells von Vertretern der Ärzteschaft, ärztliche Fortbildungsaktivitäten sichtbarer zu machen223, blieben die Delegierten des 213 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1977), S. 101; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1978), S. 235; vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1990), S. 325. In der Berufsordnung ist seit deren Neufassung auf dem Ärztetag 1976 und Änderungen auf den Ärztetagen 1977, 1979, 1983, 1985 und 1988 ›Fortbildung‹ in § 7 geregelt. 214 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1977), S. 102. 215 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1977), S. 101; vgl. Odenbach (1976). 216 Gesetz (1976), S. 3873, § 368 m Abs. 5. 217 Kassenarztrecht (1977), S. 43. 218 Hess (1977), S. 14. 219 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1980), S. 143; roe u. a. (1979), S. 1494; vgl. Odenbach (1979), S. 1644; DÄ (1984), S. A-1129. 220 Die »Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen« (KAiG) war eine gesetzliche Einrichtung von 1977 bis 2003 (Bundesdrucksache 8/166 vom 11.3.1977 und Bundesdrucksache 8/652 vom 22.6.1977), um Möglichkeiten auszuloten, Kosten im Gesundheitswesen zu dämpfen. Sie wurde mit dem GKV-Modernisierungsgesetz Ende 2003 abgeschafft. 221 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1990), S. 327. 222 Jachertz (1989); Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1990), S. 593; vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1989), S.  548, Richtlinien für ärztliche Fortbildung (in der vom 56. Deutschen Ärztetag 1953 beschlossenen Fassung); Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1990), S. 326. 223 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1990), S. 325, »§ 7a Qualitätssicherung ›Der Arzt ist verpflichtet, die von der Ärztekammer eingeführten Maßnahmen zur Sicherung der Qualität der ärztlichen Tätigkeit durchzuführen‹«; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1991), S. 309.

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Ärztetages 1990 bei der unter ihnen vorherrschenden Meinung, »jegliche Reglementierung« und »förmliche Nachweise« erneut abzulehnen224. Die Ärzteverbände und ärztliche Selbstverwaltung waren durch ihren Meinungspluralismus nicht in der Lage, sich zu einigen. Die Empfehlung der »Konzertierten Aktion« des Bundesministeriums für Gesundheit demonstriert ein wachsendes Interesse der nicht ärztlichen Öffentlichkeit an den strukturellen Fragen ärztlicher Fortbildung. Analyse ärztlicher Fortbildung unter den zentralistischen staatlichen Strukturen und der föderalen Gestaltung in ärztlicher Selbstverwaltung Ein Vergleich der Entwicklungsphasen Die Phase der Orientierung in der DDR beschäftigte sich zunächst mit den Möglichkeiten einer Abgrenzung zu den bis 1945 gemeinsamen Strukturen in Deutschland. In der Bundesrepublik setzte zeitgleich eine Konsolidierung von ärztlichen Selbstverwaltungsstrukturen ein. Dieser Verlauf war durch die jeweiligen Besatzungsmächte noch vor den Staatsgründungen 1949 vorbereitet worden. Ab sofort befanden sich beide Staaten in einem Konkurrenzverhältnis.225 Analog begannen die nachfolgenden Veränderungsprozesse im Jahr 1961. Die Orientierungsphase folgte in der Bundesrepublik auf die Phase der Konsolidierung, während in der DDR die Reformierungsphase zu dieser Zeit startete. Die Akademie für Ärztliche Fortbildung wurde als Einrichtung des Gesundheitsministeriums mit staatlichen Zielen fest verankert und mit der Durchführung der OF beauftragt. Ohne den Mauerbau wäre die Reformierungsphase in dieser Form kaum durchführbar gewesen. Die Konsolidierungsphase der DDR festigte den staatlichen Erziehungsauftrag mit einer ideologischen Fortbildungspflicht im Fach Marxismus-Leninismus. Die Phase der institutionellen Auflösung wurde mit dem Fall der Mauer eingeleitet. Der Wettbewerb, in dem beide Staaten sich befanden, könnte eine Veranlassung für die Bundesrepublik gewesen sein, ein Ministerium eigens für das Gesundheitswesen  – wie bereits zu Beginn der Orientierungsphase der DDR geschehen – einzurichten. Die Erörterungen um Akademien für ärztliche Fortbildung in der Ärzteschaft benennen die Institution der DDR als mögliches Vorbild für ähnlich aufzubauende Einrichtungen in der Bundesrepublik. Die Phase der Orientierung bleibt aufgrund der föderalen Systematik bis heute offen für Impulse, die auf Bundesebene diskutiert, jedoch regional unterschiedlich aufgenommen oder abgewiesen werden können. Zunehmend unter Druck gesetzt, ärztliche Fortbildung nicht intensiv zu betreiben, realisierte die Ärzteschaft, dass die Suche nach neuen Modellen zur Strukturierung ärztlicher Fortbildung ausgebaut wer224 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer (1991), S. 305, 309. Der Vorstandsantrag wurde mit 141 Stimmen gegen 83 abgelehnt; Jachertz (1990); siehe auch roe (1990), S. A-1221. 225 Vgl. Arndt (2006), ein Vergleich der getrennten Wege beider Systeme am Beispiel der Berliner Polikliniken und Ambulatorien in der Zeit von 1948 bis 1961.

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den musste. Sie war gefordert, sich durch Orientierung weiterzuentwickeln, wie die Diskussionen um Fortbildungsakademien und um die Nachweismöglichkeiten ärztlicher Fortbildung zeigen. Als alternative Orientierung zu der in der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR praktizierten Form einer institutionellen Verknüpfung von Wissenschaft und Fortbildung außerhalb des bekannten Lehrbetriebs einer Universität könnten die Abteilung »Fortbildung und Wissenschaft« der Bundesärztekammer und ihr Interdisziplinäres Forum gesehen werden. Auswirkungen der strukturellen Unterschiede auf ärztliche Fortbildung Das erst sehr spät eingerichtete Bundesministerium für Gesundheit hat nur sehr eingeschränkte Handlungsbefugnisse für ärztliche Hoheitsbereiche in den föderalen Strukturen. Die Stellung des Arztes ist in der Bundesrepublik durch die eigenständige, staatlich unabhängige Berufspolitik nahezu autonom. Staatlicher Einfluss auf die Ausprägung ärztlicher Fortbildung existiert nicht. Die Definition des Arztberufs als »freier Beruf« stärkte das ärztliche Selbstbewusstsein gegen eine Nachweispflicht für Fortbildung. In der DDR war der Arztberuf staatlich organisiert und kontrolliert. Ärztliche Ausbildung, Weiterund Fortbildung wurden mit der Ideologie der Parteipolitik verknüpft. Kennzeichnend waren für die regulatorischen Strukturen ärztlicher Fortbildung die Zentralisierung und Verstaatlichung durch die Etablierung der Akademie als Einrichtung des Gesundheitsministeriums mit einer Lenkungsaufgabe für ärztliche Weiter- und Fortbildung, das Ineinandergreifen von beiden Bereichen sowie die Einführung der Pflichtfortbildung. Das Ministerium für Gesundheit bestimmte über die Akademie, die nicht nur als Fortbildungs-, sondern auch als Ausbildungs- und Lehrinstitut konzipiert war. Dieser Systematisierungsprozess sowie die interdisziplinäre Verknüpfung mit anderen Fachgebieten und auch der staatlich geleitete parteipolitische Forschungsauftrag bedingten strukturell nicht nur einheitliche Methoden, sondern schufen eine kulturelle Vereinheitlichung. Die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften waren in die Arbeit der Akademie per Statut fest eingebunden. Durch die Bindung an ein staatlich kontrolliertes Konstrukt war deren Gremienarbeit lenkbarer. Somit existierten ausschließlich parteipolitisch gesteuerte Anbieter. Die Akademien in der Bundesrepublik dagegen fungierten nicht als Lehr-, sondern als Fortbildungsinstitute mit unterschiedlichen Grundformaten. Neben den Bereichen Aus- und Weiterbildung bestand Fortbildung als separates Segment, das durch eine Methodenvielfalt mit unterschiedlichen Anbietern gekennzeichnet war. In der DDR wurden Ärzte, ohne berufspolitisch Einfluss nehmen zu können, durch den diktatorischen Zentralismus und die Einflussnahme der Staatssicherheit für ein System der Einheitspartei verpflichtet. Auch wenn in der Phase der Orientierung in der DDR ärztlicherseits nur eine zögerliche Bereitschaft bestand, sich für die parteipolitischen Ideen gewinnen zu lassen, kann ein gezielter ärztlicher berufspolitischer Einsatz gegen die neuen Regelungen nicht verzeichnet werden. Berufspolitische Einflüsse wären zudem eine Kon-

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kurrenz für die Staatsdoktrin mit einem staatlichen Erziehungsauftrag gewesen. Die Gründungen eigener medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften waren  – wenn auch schon vorher erfolgt  – spätestens nach dem Mauerbau notwendig geworden. Mit der Einbindung ärztlicher Expertise in diese Gesellschaften und deren Einbindung per Statut in die Arbeit der Akademie für Ärztliche Fortbildung wurde einerseits die benötigte ärztliche Erfahrung gewonnen und konnte andererseits alternativ zu Berufsverbänden den Ärzten der Eindruck vermittelt werden, dass ihre Stimme innerhalb des zentralistisch kontrollierten Systems auf höchster Ebene durch wissenschaftliche Tätigkeit Gehör fand. Das Beispiel der Entwicklung ärztlicher Fortbildungsstrukturen zeigt: Zentral getroffene Entscheidungen haben den Vorteil einer schnelleren Umsetzbarkeit und den Nachteil, nicht für alle Regionen sinnvoll zu sein. Daher gab es auch die Möglichkeit in der ärztlichen Fortbildung der DDR, dass Bezirksärzte in Absprache mit der Akademie Wahlthemen zu den Pflichtthemen vorschlagen konnten. Ärztliche Fortbildung ist kontrollierbarer, in gewisser Weise aufgrund des zentralen Überblicks zuverlässiger, aber dadurch auch mittels der zentralen Steuerung beeinflussbarer. Die in den Entscheidungsprozess eingebundenen Akteure sind definiert und müssen festgelegten staatlichen Vorgaben folgen. Handlungsdruck wird durch die Staatsdoktrin einer Einheitspartei innerhalb des Systems ausgeübt. Föderale Entscheidungsvielfalt bietet regionalen Ideenreichtum, der auch überregional hilfreich sein kann. Da keine bundesweite Abstimmungspflicht besteht und keine institutionelle bundesweite Organisationseinheit mit Weisungsbefugnis existiert, müssen Impulse nicht unbedingt bundesweit akzeptiert werden. Ärztliche Selbstverwaltung lebt von einem freiwilligen Mitgestalten und individueller Motivation. Die erarbeiteten Ergebnisse der Analyse zentralistischer Steuerung und föderaler Selbstverwaltung legen dar, dass beide Systeme ihre strukturellen Schwächen, aber auch Stärken besitzen. In der Freiberuflichkeit der Bundesrepublik hat der einzelne Arzt für sein Fortbildungsverhalten und die medizinische Behandlung Eigenverantwortung zu tragen. In der Staatsmedizin der DDR war ärztliche Fortbildung nicht ausschließlich einer Freiwilligkeit überlassen. Die Behandlung eines Patienten erfolgte im Staatsauftrag und im Kollektiv. Das Fortbildungsverhalten ist abhängig vom ärztlichen Berufsbild, dessen Definition ein unterschiedliches Verständnis von der Rolle des Arztes bedingt: Arzt als Diener des Volkes oder Arzt in der Freiberuflichkeit. Auswirkungen von (berufs-)politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Faktoren auf ärztliche Fortbildung Wer Fortbildung finanziert, organisiert und strukturiert, übernimmt die Gestaltung und Ausrichtung der Veranstaltung. Dies gilt nicht nur für die Industriefortbildung, sondern auch für gebührenfreie Fortbildung in Strukturen mit parteipolitischer Doktrin. Ärzte konnten ohne Gehaltseinbußen Fortbildungs-

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angebote wahrnehmen und sich auf Vertretungsregelungen für eine Freistellung berufen. Auch wenn »Rotlichtbestrahlung« als Pflichtfortbildung im Segment M/L von Ärzten teilweise durchaus belächelt wurde, dienten solche ideologischen Zwangsmaßnahmen einer Indoktrination. Dieser ideologische, staatlich verordnete Erziehungsauftrag mit seiner verpflichtenden Bindung an eine Staatsdoktrin ließ alternative strukturelle Wege in der ärztlichen Fortbildung innerhalb des Systems nicht zu. Die genehmigungspflichtige Teilnahme an internationalen Fachkongressen öffnete eine Tür für den persönlichen Austausch und zu weiterer Fachliteratur – jenseits des kontrollierten Systems. Bei Unterstützungsmaßnahmen durch die Wirtschaft besteht die Gefahr einer Konditionierung auf Firmen-Produkte der Medizinindustrie, aber auch auf Programmofferten der professionellen Fortbildungsanbieter sowie der ärztlichen Berufsverbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Die verschiedenen Anbieter verfolgen auch unterschiedliche Interessen, die finanzieller, berufs- und standespolitischer oder unternehmerischer Natur sein können. Diese Einflussnahme von etlichen Akteuren bietet einerseits eine Vielfalt an unterschiedlichen Möglichkeiten, Fortbildung qualitativ hochwertig umzusetzen, andererseits ein großes Spektrum an suggestiver Verleitung durch die multiplen Anbieter. In der DDR nutzte ein diktatorischer Staatsapparat die Fortbildungsstrukturen zur Verbreitung und Indoktrination einer Staatsideologie. Er war auf Pflichtfortbildung mit Nachweis angewiesen, doch wurde durch diese strukturelle Maßnahme auch sichergestellt, dass sich Ärzte tatsächlich regelmäßig zu bestimmten medizinischen Inhalten fortbilden. Der Arztberuf als »freier Beruf« mit ärztlicher Selbstverwaltung beansprucht die Freiheit der Wahlmöglichkeit – auch in Kooperation mit industriegesponserter Fortbildung. Die Gefahr der Zweckentfremdung besteht weniger in strukturellen Vorgaben, sondern eher in einer freiwilligen Bereitschaft, zu kooperieren, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Die Schwäche artikuliert sich in der Frage, ob ärztliche Fortbildung strukturell auch wirklich jede Ärztin und jeden Arzt erreicht, wenn darüber selbst entschieden werden kann. Man begriff – und begreift  – dies jedoch als individuellen Handlungsspielraum in einem System, in dem es letztlich in der eigenen ärztlichen Entscheidung liegt, diese oder jene, durch Industrie-Förderung mehr oder weniger beeinflusste Fortbildung zu wählen. Im Gegensatz zu einer staatlichen Fortbildungsstruktur mit Pflichtkursen, die eine ideologische Indoktrination einschloss, präferierte die bundesdeutsche Ärzteschaft ein offenes und durch die industrielle Finanzierungsstruktur beeinflussbares Modell, ohne eine Indoktrination systematisch auszuschließen. Der Grad von politischer226 oder wirtschaftlicher227 Beeinflussung in dem jeweils anderen Staatskonstrukt lag zudem in der persönlichen Handlungsma226 Vgl. Wehler (2008), S.  218 f.: Analyse zur »SED-Monopolelite« mit ihrer »politischen Religion des Marxismus-Leninismus«. 227 Vgl. Lenzen (2015), S. 5–12, 101 f.: Interessenkonflikte in der ärztlichen Fortbildung am Beispiel des in der Kategorie D zertifizierten Fortbildungsangebots durch die Bayerische Landesärztekammer.

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xime des einzelnen Arztes. Das individuelle Ausmaß kann in der Erinnerung rückblickend verklärt werden. Ein vormals »zeitgemäßes« Handeln unterliegt in der Gegenwart anderen Bewertungsmaßstäben und somit einer kritischen Prüfung. Dies betrifft nicht nur den Bereich ärztlicher Fortbildung. Zwangsbehandlung gab es in beiden Staaten, was einer intensiveren Beforschung mit Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen bedarf.228 Ärztliche Fortbildung ist abhängig von strukturellen, staatlichen, (berufs-)politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Faktoren. Fortbildung kann nie wirklich frei von Einflussnahme sein. In welcher qualitativen und quantitativen Ausprägung diese erfolgt, ist abhängig von den jeweiligen zeithistorischen Rahmenbedingungen und der individuellen ärztlichen Handlungsentscheidung. Bibliographie Archivalien Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin, Charité Berlin – B-033927 Bundesarchiv Berlin (BArch) – Bestand DQ 1/5794 – Bestand DQ 1/21901 – Bestand DQ 103/12 – Bestand DQ 103/18 – Bestand DQ 103/20 – Bestand DQ 103/119 – Bestand DY 30/IV 1/VI/4

Literatur Ärztliche Fortbildung. Unzutreffende Behauptungen. In: Deutsches Ärzteblatt 68 (1971), H. 12, S. A-874 f. Akademien für ärztliche Fortbildung. In: Deutsches Ärzteblatt 75 (1978), H. 50, S. A-3020. Alle Macht im Gesundheitswesen liegt beim Regionalverband… In: Deutsches Ärzteblatt 72 (1975), H. 17, S. A-1185–A-1189. Anordnung vom 10. Dezember 1954 über die Errichtung der Akademie für Sozialhygiene, Arbeitshygiene und ärztliche Fortbildung. In: Zentralblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1954), S. 605. Anordnung vom 21. Januar 1955 über die Ausbildung und staatliche Anerkennung der Fachärzte. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1955), Teil I, Nr. 12, S. 105. Anordnung vom 13. Juli 1961 über die Umbildung der Akademie für Sozialhygiene, Arbeitshygiene und ärztliche Fortbildung. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1961), Teil III, Nr. 22, S. 276.

228 Vgl. Steger/Schochow (2016), vgl. auch https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/71122/ NRW-Landesregierung-will-Pharmaversuche-in-Kinderheimen-aufklaeren (letzter Zugriff: 8.1.2018).

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Anordnung vom 26. Juni 1963 über das Statut der Deutschen Akademie für Ärztliche Fortbildung. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1963), Teil II, Nr. 62, S. 431. Anordnung vom 30. April 1970 über die Vereinigung der Deutschen Akademie für Ärztliche Fortbildung, des Instituts für Planung und Organisation des Gesundheitsschutzes und des Instituts für Sozialhygiene. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1970), Teil II, Nr. 45, S. 327. Anordnung vom 15. Dezember 1971 über das Statut der Akademie für Ärztliche Fortbildung der Deutschen Demokratischen Republik. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1972), Teil II, Nr. 7, S. 71. Anordnung über die obligatorische Fortbildung der Hochschulkader im Gesundheits- und Sozialwesen im Jahre 1975 vom 1. September 1974. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1974), H. 17, S. 133 f. Anordnung über die Weiterbildung der Ärzte und Zahnärzte vom 23. Mai 1974. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1974), Teil I, Nr. 30, S. 290. Anweisung zur obligatorischen Qualifizierung aller Ärzte auf epidemiologischem und hygienischem Gebiet. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1963), H. 8, S. 65. Anweisung zur obligatorischen peripheren Fortbildung (OF). In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1964), H. 3, S. 12. Anweisung Nr.  7 über die obligatorische periphere Fortbildung der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker im Jahre 1970 vom 24. Oktober 1969. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1969), H. 21/22, S. 139 f. Anweisung über die marxistisch-leninistische Weiterbildung der Ärzte und Zahnärzte in der Weiterbildung zum Facharzt/Fachzahnarzt und der Doktoranden der medizinischen Wissenschaft vom 14. Februar 1977. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1977), H. 4, S. 38 f. Anweisung über die Fortbildung von Fachärzten/Fachzahnärzten zur Erhöhung der Einsatzfähigkeit bei Notfällen, Havarien und Katastrophen vom 21. Februar 1985. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1985), H. 2, S. 15 f. Anweisung zur Facharzt-/Fachzahnarztordnung vom 15. April 1986. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1986), H. 4, S. 55. Anweisung über die marxistisch-leninistische Weiterbildung der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker in der Weiterbildung zum Facharzt/Fachzahnarzt und Fachapotheker sowie der Doktoranden der Medizin vom 2. April 1987. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1987), H. 4, S. 37. Anweisung vom 22. Oktober 1988 über das Statut der Akademie für Ärztliche Fortbildung der Deutschen Demokratischen Republik. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen (1988), H. 8, S. 89. Arndt, Melanie: Die Entwicklung der Berliner Polikliniken und Ambulatorien 1948–1961. In: Lemke, Michael (Hg.): Schaufenster der Systemkonkurrenz. Köln 2006, S. 247–268. Arnold, Michael; Schirmer, Bernd: Gesundheit für ein Deutschland. Köln 1990. Atorf, Marcus: Ärztliche Weiterbildung: Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Diss. med. Univ. Gießen 1998. BÄK; KBV; BPI: Übernahme von Reisekosten durch Pharma-Veranstalter häufig nicht zulässig. Erster Tätigkeitsbericht der Gemeinsamen Kommission der Ärzteschaft und des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie. In: Deutsches Ärzteblatt 85 (1988), H. 40, S. A-2726 f. Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zum Gesundheits- und Sozialwesen. (=Veröffentlichungen des Koordinierungsrates der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR, Dokumentensammlung Volk und Gesundheit 2) Berlin 1976. Bekanntmachung des Beschlusses des Ministerrates vom 8. Juli 1954 über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen

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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 153–178, FRANZ STEINER VERLAG

Hahnemanns Patientenschaft: Die Krankengeschichte des Fernsdorfer Amtmanns und Rittergutsbesitzers Gottlob Friedrich Lüdicke und seiner Familie in Briefen1 Melanie Schlott und Thilo Schlott Summary Hahnemann’s patients: a medical history in letters of the Fernsdorf bailiff and estate owner Gottlob Friedrich Lüdicke and his family This edition of sources relates to a section of Hahnemann’s clientele that was not an immediate part of the Koethen court: the better-off patients who lived a rural life in the villages around the town of Koethen. It contains the correspondence, carried out from 1831 and 1834, between the Fernsdorf estate owner, Squire Gottlob Friedrich Lüdicke (1791/92-?), and the physician and homeopath Samuel Hahnemann. Of the sixteen documents that have been preserved 14 were written by Lüdicke, and in these letters he describes the symptoms and complaints affecting himself, his wife, his children and his mother. Two of the documents in this body of sources, composed by Hahnemann in 1834, can be regarded as the medical histories of the Lüdicke family as noted down by him. These letters reveal a broad range of illnesses with symptoms that are discussed in the way one would expect of that time. For further health-related interpretations of the letters one needs to take into account that some of the illnesses described may have resulted from the unhealthy life and working conditions on a farming estate around 1830.

Einleitung Der Arzt und Homöopath Samuel Hahnemann hat in seinen überlieferten Patientenbriefen einen medizinhistorisch einmaligen wie wertvollen Fundus hinterlassen, der nur zu einem kleinen Teil wissenschaftlich erschlossen ist.2 In den von Hahnemann selbst oder seiner meist gutgestellten Patientenschaft ver1 2

Transkribiert von Melanie Schlott und Prof. Dr. habil. Thilo Schlott (Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda) unter Mitarbeit von Sandra Dölker und Arno Michalowski (beide Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart). Vgl. die Publikationen aus der Reihe »Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte« des IGM. Krankenjournale und einige Briefe wertete aus: Hickmann (1996). Ausschließlich Briefe analysierten dann, teilweise mit umfänglichen Transkriptionen: Gehrke (2000); Ritzmann (1999); Stolberg (1999); Ritzmann (2002); Stolberg (2002); Dinges (2002);

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

fassten Briefen vermischt sich auf eigentümliche Weise praktisches ärztliches Handeln mit Schilderungen eines individuellen Lebens vor dem Hintergrund einer rigiden biedermeierlichen Gesellschaftsstruktur. In den Schriftstücken kommen vergangene Persönlichkeitstypen zum Vorschein, die gelegentlich zwischen den Briefzeilen ihre persönlichen Ängste und Hoffnungen offenbaren; daraus wird deutlich, dass der ganzheitliche Umgang mit seinen Patienten Hahnemann besondere Empathie abverlangte. Auch unter diesem eher psychologischen Aspekt gestalteten sich die Hahnemannschen heilkundlichen Praktiken über einen interaktiven Prozess zu einer gelebten medizinkulturellen Praxis, welche viele der damaligen Zeitgenossen fasziniert haben mag. Für die vorliegende Untersuchung wurden aus dem umfangreichen Bestand des Hahnemann-Archivs die Briefe von Gottlob Friedrich Lüdicke (1791/92-?) transkribiert, der in gewissenhafter Manier über die eigene gesundheitliche Verfassung und die anderer Familienmitglieder berichtete. Es ist unbekannt, ob Friedrich Lüdicke in verwandtschaftlicher Beziehung zu einem Pastor Wilhelm Gotthilf Nagel (*  18. Dezember 1796, †  7. Juni 1835) stand (siehe hierzu das Kapitel »Quellenlage«), dessen transkribierte Briefe von uns in einer früheren Edition veröffentlicht und umfassend medizinhistorisch analysiert wurden.3 Friedrich Lüdicke war ein Amtmann, der als oberster Dienstmann eines vom Landesherrn zur Territorialverwaltung von Gutshöfen geschaffenen Amtes fungierte und damit den wohlhabenderen Schichten des Bürgertums angehörte. Zur Zeit der Abfassung der Briefe besaß Lüdicke ein Rittergut in Fernsdorf bei Prosigk (heute Ortsteil der Stadt Südliches Anhalt), dessen Spuren sich weit zurückverfolgen lassen und das zuvor als Schammer’sches Rittergut bekannt gewesen war.4 Um 1830 darf man sich Fernsdorf als ein kleines Runddorf um einen Teich mit einer Kirche und einer Windmühle vorstellen, in dem schätzungsweise 200 Menschen wohnten, Vieh hielten und eine bescheidene Landwirtschaft auf Äckern und in Gärten betrieben.5 Zu dieser Zeit existierten in Fernsdorf zwei große Güter, das herzogliche Gut, welches zusammen mit dem Gut in Gnetsch verpachtet war, und das Lüdickesche Gut, welches aber weniger Privilegien besaß.6 Quellenlage In Bezug auf Friedrich Lüdicke ist die Quellensituation immer noch spärlich; im Zuge der Archivrecherchen (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Stadtarchiv Köthen) konnten keine Überlieferungen gefunden werden. Somit vermögen

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Faure (2007); Busche (2008); Brockmeyer (2009); Schriewer (2011); Heinz (2011); Dinges (2016). Kreher/Schlott/Schlott (2014); Kreher/Schlott/Schlott (2016). Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Bestand Z 70 (Abteilung Köthen), C 3e Nr.  54 Bd.  III, 1838–1839: Hutungsdifferenzen [Streitigkeiten um einen als Weide genutzten Wald] mit dem jetzigen Besitzer des von Schammer’schen Ritterguts zu Fernsdorf. Weyhe (1907), S. 264. Lindner (1833), S. 585.

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wir nur zu mutmaßen, dass er regional und beruflich gesehen mit dem weitverzweigten Köthener Kaufmannsgeschlecht der Lüdickes in verwandtschaftlicher Beziehung gestanden haben könnte, das durch Johann Gottlob David Lüdicke (*  28. November 1729, †  26. Oktober 1810) mitbegründet wurde. Es konnte nicht belegt werden, dass er mit der Ehefrau des oben genannten Pastors Nagel, einer Tochter von Johann Lüdicke, verwandt war. Was die zeitgenössischen Unterlagen betrifft, sind viele – darunter auch die Bände zur Verpachtung der Güter in Fernsdorf – bei der britischen Bombardierung von Zerbst, wo sich damals das Landesarchiv Anhalt befand, im Zweiten Weltkrieg verlorengegangen. Nachfolgend taten die sowjetische landwirtschaftliche Enteignungspolitik nach 1945 und die Kreisreformen in der DDR ein Übriges zum Verlust der gutsinternen Aufzeichnungen. Dennoch ergaben unsere Nachforschungen ein paar Hinweise: Es ist überliefert, dass Friedrich Lüdicke 1839 für sich und seine Brüder Eduard, Robert und Julius, die Mitbesitzer des Fernsdorfer Rittergutes waren, auf das Gut eine Hypothek von 15.000 Talern in Gold aufnahm7, eine erhebliche Summe für die damalige Zeit. Nur zwei Jahre später ging das Lüdickesche Gut wieder in das landesherrliche Eigentum von Herzog Heinrich von Anhalt-Köthen über.8 Über die Ursachen für diese Rückübertragung auf den Landesherrn kann nur spekuliert werden: In jener Zeit sind die Domänen um Köthen durch veränderliche Eigentumsverhältnisse gekennzeichnet. Viele der Güter gingen in fürstliches Eigentum zurück, da kein (volljähriger) Erbfolger existierte, wie aus der Literatur zu entnehmen ist.9 Daher ist vorstellbar, dass Friedrich Lüdicke möglicherweise 1841 im Alter von 49 Jahren starb, ohne einen volljährigen Erben zu hinterlassen. Ebenso kommt aber auch eine Überschuldung Lüdickes in Frage, die zum Verlust des Gutes führte. Patientenbriefe im Überblick Die Briefe von Friedrich Lüdicke an Hahnemann sind zahlenmäßig leicht überschaubar: Von den insgesamt 16 zum Materialkorpus gehörenden Briefen stammen zwei aus der Feder Hahnemanns, 14 verfasste der Amtmann Lüdicke selbst. Der Zeitraum, in dem die Briefe geschrieben wurden, reicht vom 11. November 1831 (Brief B31969) bis zum 26. Dezember 1834 (Brief E34664).

7

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Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Bestand Z 71 (Landesregierung Köthen), Nr.  30, 1833– 1841: Gesuch des Gutsbesitzers Gottlob Friedrich Lüdicke, Fernsdorf für sich und seine Brüder Eduard, Robert und Julius als Besitzer eines in Fernsdorf gelegenen Mannlehnrittergutes gegen Einsetzung desselben ein Kapital 15.000 Talern in Gold aufzunehmen. Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Bestand Z 70 (Abteilung Köthen), C 1b I Nr. 48, 1841: Die käufliche Erwerbung des Lüdicke’schen Mannlehnguts zu Fernsdorf in das landesherrliche Eigentum. Berger (2009), S. 56.

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Tab. 1: Inhalte und Chronologie der untersuchten Briefe Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über sich selbst B31969, geschrieben am 11.11.1831 B32543, geschrieben am 7.5.1832 B32550, geschrieben am 8.5.1832 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seine Frau B33106, geschrieben am 16.1.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seine Mutter B33788, geschrieben am 7.6.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seinen Sohn Oscar B331069, geschrieben am 30.8.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seinen Sohn Ferdinand B331227, geschrieben am 6.11.1833 B331231, geschrieben am 7.11.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seinen Sohn Eduard und seine Tochter Bertha B331300, geschrieben am 8.12.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seinen Sohn Eduard und seine Tochter Agnes B331305, geschrieben am 10.12.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seinen Sohn Eduard B331311, geschrieben am 12.12.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seine Söhne Eduard und Oscar und seine Tochter Agnes B331314, geschrieben am 15.12.1833 B331324, geschrieben am 20.12.1833 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke über seine Tochter Agnes B34050, geschrieben am 19.1.1834 Anamnese von Hahnemann über den Amtmann Friedrich Lüdicke und dessen Mutter E34186, geschrieben am 30.3.1834 Anamnese von Hahnemann über die Tochter Agnes und die Knaben von Friedrich Lüdicke E34664, geschrieben am 26.12.1834 Quelle: eigene Zusammenstellung

Familiäre Verhältnisse und Lebensführung Was die persönlichen Verhältnisse der Lüdickes betrifft, weisen die Briefwechsel auf eine kinderreiche Familie hin; insgesamt können aus den Schriftstücken die Namen von fünf Kindern ermittelt werden: Oscar, Eduard, Ferdinand, Agnes und Bertha. Zusätzlich wird in den Briefen Bezug genommen auf die Ehefrau und auf die Mutter von Friedrich Lüdicke, in beiden Fällen werden aber nicht deren Vornamen genannt. Die Dokumentation der Anamnese von Friedrich Lüdicke erfolgte durch Hahnemann relativ spät, und zwar am 30. März 1834, nachdem schon seit über zwei Jahren ein Briefwechsel erfolgt war. Sicherlich handelt es sich dabei nicht um die Erstanamnese. Demzufolge

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war der Amtmann Friedrich Lüdicke 1834 42 Jahre alt, er wurde also im Jahr 1791 oder 1792 geboren. Die Anamnese zeichnet das Bild eines Mannes, der als Kind häufig Kopfgrind hatte (Kopfgneis oder Milchschorf). Als junger Erwachsener zog er sich eine Gonorrhö ohne Feigwarzen zu, die mit Quecksilber therapiert wurde. Zum Zeitpunkt seiner Behandlung litt Friedrich Lüdicke unter einer chronischen Augenentzündung und Verstopfung. Über die Essgewohnheiten der Familie Lüdicke erfahren wir in den Texten viele Details, die auf eine für damalige Verhältnisse gute, abwechslungsreiche Versorgung mit Nahrungsmitteln auf dem Rittergut schließen lassen: Die Kinder essen Suppe, Hafergrütze, »Bütterbrodt«, »Fettbrodt«, Milchsuppe, Milchspeisen, Nusskuchen, weiche »Pfluckchen«10, Pfeffernüsse, Spargel und Spinat. Auch wurde den Kindern zwecks Genesung Bier verabreicht, wie wir aus einer Textstelle Lüdickes ableiten können, die sich auf den Sohn Eduard bezieht (Brief B331311): »Trinkt, seit er sich vorgestern die Milch wegbrach[,] Bier, da er jedoch gestern Abend, beim Fieber zu viel trank, bekam er Kopfschmerz […].« Details von Hahnemanns Therapie Es ist bekannt, dass Samuel Hahnemann selbst nur in Ausnahmefällen Hausbesuche machte; auch die von ihm durchgeführte Eingangsanamnese von Friedrich Lüdicke dürfte in der Köthener Arztpraxis durchgeführt worden sein. Die Briefe von Friedrich Lüdicke um 1832 fallen jedoch in eine Zeit, in der Hahnemann in Köthen in einer Gemeinschaftspraxis zusammen mit dem allöopathischen Arzt Dr. Lehmann arbeitete. In diesem zeitlichen Kontext weisen unsere Befunde darauf hin, dass offenbar doch regelmäßig Hausbesuche durch den Kollegen Dr. Lehmann stattfanden. So schreibt Lüdicke im Brief B331311: »Ich sendte Ihnen, den Wagen mit, um wenn Sie es für nöthig halten Herrn Doctor Lehmann zu sendten, sich derselben zu bedienen«. Das könnte bedeuten, dass zu jener Zeit die Hahnemannsche Patientenschaft von zwei Ärzten behandelt wurde. Die dabei verwendeten homöopathischen Medikamente stellte Hahnemann mit fürstlicher Sondergenehmigung selbst her und ließ sie (wie auch die Briefe) von Boten transportieren. War ein Brief von Friedrich Lüdicke in der Praxis eingegangen, las der Homöopath diesen noch am selben Tag, versah ihn mit handschriftlichen Bemerkungen und sandte unverzüglich die Arznei mittels Boten zurück. Hahnemann schreibt in diesem Kontext eine therapeutische Anmerkung auf den Lüdicke-Brief B32543: »Lüdicke ihm heute Ab[end] 2 § in [Eisen] †…† geschickt«, und auch Friedrich Lüdicke konstatiert in seinem Brief B32550: »Der Bothe ist erst u[m] 9 Uhr

10 Möglicherweise handelt es sich um ein im umgangssprachlichen Gebrauch als »Pflückkuchen« bezeichnetes Hefebackwerk. Dieses wird bei der Zubereitung aus verschiedenen Kuchenteilen zusammengesetzt, die nach dem Backen zum Verzehr mit den Fingern einzeln »abgepflückt« werden können.

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hier abgegangen«. Anzumerken ist, dass das Lüdickesche Rittergut nur ca. sechs Kilometer von Köthen entfernt lag. Die transkribierten Briefe zeigen, dass Hahnemann zur Behandlung der Mitglieder der Familie Lüdicke ein Spektrum bekannter homöopathischer Arzneien einsetzte, z. B. Antimonium crudum, Arnica montana, Coffea, Calcarea carbonica und Calcium carbonicum. Hervorzuheben ist in diesem Kontext eine Schilderung von Friedrich Lüdicke im Brief B32550 vom 8. Mai 1832: daß ich mich gestern nicht von der Idee trennen konnte es sei ein leichter Anfall der Cholera, und da ich nun vor Angst [u]nd Stöhnen [es] nicht mehr aus halten konnte, nahm ich 1 Tropfen Campherspiritus, nach 3 Minuten wieder einen nach ¾ Stund so wie das Stöhnen wieder anfing noch einen, u[nd] so in Summe 5 Tropfen in ca 5 Stunden ein sehr bedautende Schweiß war die Folge, doch auch große Linderung […].

Diese Schilderung des Briefautors stellte sich später als bloße Cholera-Angst heraus. Lüdickes Befürchtungen waren aber keineswegs aus der Luft gegriffen, denn die Zeit von 1830/31 war durch eine verheerende Cholera-Epidemie gekennzeichnet, die durch die deutschen Fürstentümer zog und Tausende Todesopfer forderte. Während dieses Seuchenzugs etablierte Hahnemann eine neuartige Choleratherapie mit Kampfer, die entweder in Form von Tropfen eingenommen oder inhaliert werden konnte. Im gleichen Brief B32550 schreibt Friedrich Lüdicke: »übrigens lebe ich schon seit geraumer Zeit, als Homeopath indem ich weder Kaffee noch Likör oder mehr als ein Glas Wein trinke, u[nd] das auch nur allen 8 bis 14 Tagen.« Damit erweist sich Friedrich Lüdicke im Nachhinein als ein Patient, der mit der Hahnemannschen Lehre gut vertraut war und sie auch beachtete. Bibliographie Archivalien Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Dessau – Bestand Z 70, C 1b I Nr. 48 – Bestand Z 70, C 3e Nr. 54 Bd. III – Bestand Z 71, Nr. 30

Literatur Berger, Otto: Aus der Geschichte des anhaltischen Dorfes Gnetsch, hg. zur 800-Jahrfeier der ersten urkundlichen Erwähnung des Dorfes Gnetsch 2009. Weißandt-Gölzau 2009. Brockmeyer, Bettina: Selbstverständnisse: Dialoge über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2009. Busche, Jens: Ein homöopathisches Patientennetzwerk im Herzogtum Anhalt-Bernburg: Die Familie von Kersten und ihr Umfeld in den Jahren 1831–1835. Stuttgart 2008. Dinges, Martin: Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1830. Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann. In: Martschukat, Jürgen (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt/Main 2002, S. 99–125.

Hahnemanns Patientenschaft

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Dinges, Martin (Hg.): Samuel Hahnemanns Briefe an Patienten und die Meißner-Serie. Essen 2016. Faure, Olivier: Behandlungsverläufe: Die französischen Patienten von Samuel und Mélanie Hahnemann (1834–1868). In: Dinges, Martin; Barras, Vincent (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. Stuttgart 2007, S. 197–210. Gehrke, Christian: Die Patientenbriefe der Mathilde von Berenhorst (1808–1874). Edition und Kommentar einer Krankengeschichte von 1832–1833. Diss. med. Göttingen 2000. Heinz, Inge Christine: »Schicken Sie Mittel, senden Sie Rath!« Prinzessin Luise von Preußen als Patientin Samuel Hahnemanns in den Jahren 1829 bis 1835. Essen 2011. Hickmann, Reinhard: Das psorische Leiden der Antonie Volkmann. Edition und Kommentar aus Hahnemanns Krankenjournalen von 1819–1831. Heidelberg 1996. Kreher, Simone; Schlott, Melanie; Schlott, Thilo: Der »Blut hustende« Kleinpaschlebener Pastor Albert Wilhelm Gotthilf Nagel. Biographisch-medizinhistorische Rekonstruktion auf der Grundlage von Patientenbriefen an Samuel Hahnemann. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 23 (2014), S. 109–134. Kreher, Simone; Schlott, Melanie; Schlott, Thilo: Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft – Krankengeschichten in Briefen. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 34 (2016), S. 111–207. Lindner, Heinrich: Geschichte und Beschreibung des Landes Anhalt. Dessau 1833. Michalowski, Arnold: Richtlinien zur Edition von Hahnemann-Handschriften. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9 (1990), S. 195–203. Ritzmann, Iris: Die jüngsten Patienten Hahnemanns: eine analytische Studie zur Kinderpraxis in den Anfängen der Homöopathie. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 18 (1999), S. 189–208. Ritzmann, Iris: Children as patients in early homoeopathy. In: Dinges, Martin (Hg.): Patients in the history of homoeopathy. Sheffield 2002, S. 119–140. Schriewer, Miriam Leoni: »Kann der Körper genesen, wo die Seele so gewaltig krankt?« Weibliche Gemüts- und Nervenleiden in der Patientenkorrespondenz Hahnemanns am Beispiel der Kantorstochter Friederike Lutze (1798–1878). Köln; Duisburg 2011. Stolberg, Michael: Krankheitserfahrung und Arzt-Patienten-Beziehung in Samuel Hahnemanns Patientenkorrespondenz. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 18 (1999), S. 169–188. Stolberg, Michael: The experience of illness and the doctor-patient relationship in Samuel Hahnemann’s patient correspondence. In: Dinges, Martin (Hg.): Patients in the history of homoeopathy. Sheffield 2002, S. 65–84. Weyhe, Emil: Landeskunde des Herzogtums Anhalt. Bd. 2. Dessau 1907.

Danksagung Unser besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dinges, Herrn Prof. Dr. Jütte, Frau Dölker und Herrn Michalowski vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart für die intensive fachliche Unterstützung und die Bereitstellung der Patientenbriefe.

Transkription1 n B319692

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Sr. Wohl Vertrau†…† Hrr Hofra†…† gültiges B†…† mich †…† gt, somal, als noch mehr durch das fürchterlich Resultat, in Berlin, wonach jeder Diebest†…† gene zur u†…† be ich mir, Sie um eine †…† ge von Streuküchelche†…† zu bitten, um mich †…† der heranahenden G†…† den Betrag dafür †…† größten Bereitwill†…† güten, und habe di†…† schon etwas mit†…†

1 2 3 4 5

†…† nist, danke ich †…† iebst Freund, †…† ie lieben Ihringen ganz ergebener Diener Friedr.[ich] Lüdicke

B31969 (1)

B31969 (2)

n B325433

1* 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3

7 Mai Lüdicke ihm heute Ab. [Abend] 2 § in [Ferr.] †…† geschickt tagl eins und wo nöthig und es nicht besser ist, nach 12 ten N°2 zu riechen Lieber Rhost K†…† 7 May 32 Schon heute früh 6 Uhr hatte ich Kopfschmerz weil ich jedoch nach Radegast wollte beachtete ich es nicht ob ich gleich 2 mal zu Stuhle mußte, was meine Art nicht ist. In Radegast angekommen wurden sie sehr heftig, danach gieng ich auf den Markt wo ich bei der großen Hitze, einen Fieber,,

B32543 (1)

In Anlehnung an die Transkriptionsrichtlinien von Michalowski (1990). Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über sich selbst), geschrieben am 11.11.1831, stark beschädigt, restauriert. Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über sich selbst), geschrieben am 7.5.1832, von Hahnemann beantwortet am 7.5.1832.

Hahnemanns Patientenschaft

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schauer bekam, nach dem ich in Mayblumeneßig gerochen, gab es sich etwas, aber gleich danach war es desto heftiger, und mußte wieder zu Stuhle, was weich aber wenig war. Bei der dunkelheit trat öfters Rülpsen ein, wie dies bei mir häufig ge,, schieht. Ich wollte bei Tische etwas eßen, außer etwas Suppe war mir je,, doch nicht möglich. So daß ich aufstand

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und mich auf ein Bett legte, hier hatte ich et,, was Ruhe, wenn ich aber mich aufrichtete, wars umso schlimmer besonders hat sich und ein bedrückender Schmerz in den Rippen ein,, gestellt, der die ganze Brust einnimmt, so daß ein un willkürliches Stöhnen öfters eintritt. †…† eine Angst die nur einen Cholera kranken treffen kann. Ich wollte Sie consolieren aber †…† Geburtstag bringt mich darum Es er geht daher die herzliche Bitte sich mit unserem Hahnemann zu besprechen und Hülfe daher noch †…† zu sendten Herzliche Grüße Ihr Lüdicke

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B32543 (2)

n B325504

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B32550 (1) 8 Mai Ludicke in Fernsdorf hatte 1° § mit ant. cr [Antimonium crudum] eingenom und 4° § tägl 2 abcd. und jedes Mal in 3 [Spiritus] [Salpeter] †…† dazu \riechen/ Verehrtester Herr Hofrath! ¾ 11 Uhr Abends empfieng ich Ihre Arznei, nahm sofort No 1. ein, und fühlte auch gleich große Erleichterung zu bemerken ist jedoch, daß ich mich gestern nicht von der Idee trennen konnte es sei ein leichter An,, fall der Cholera, und da ich nun vor Angst nd. [und] Stöhnen nicht mehr aus halten konnte, nahm ich 1 Tropfen Campherspiritus, nach 3 Minuten wieder einen nach ¾ Stund so wie das Stöhnen wieder anfing noch einen, u.[und] so in Summe 5 Tropfen in ca 5 Stunden ein sehr bedautende Schweiß war die Folge, doch auch große Linderung; nach Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über sich selbst), geschrieben am 8.5.1832, von Hahnemann beantwortet am 8.5.1832.

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Ihren Pulvern habe ich von 2 bis 3 Uhr geschlafen. Jetzt früh 7 Uhr ist mein Zustand folgender, noch immer viel Schweiß, ein drängen im Schlund, was das Schlucken, sehr hindert, fortwährendes leichtes Drücken vor der Stirn, was manchmal stärker wird. Schlaflo,, sigkeit, was wohl vom Schweiß herrührt, drängen beim Urinieren, ohne es zu beschleunigen, im Gegentheil geht es sehr langsam, große Hitze dabei

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Uebrigens fühle ich große Mattigkeit u. Abspanung Die ganze Nacht habe ich etwas Waßer getrunken, und früh ein kleine Taße Hafer grütz Suppe, habe auch keinen Appetit, übrigens lebe ich schon seit gerau,, mer Zeit, als Homeopath indem ich weder Kaffee noch Likör oder mehr als ein Glas Wein trinke, u. [und] das auch nur allen 8 bis 14 Tagen. No.2 wurde ich also jetzt nicht einnehmen, und er,, warte Ihre gütigen Vorschriften Genehmigen Sie verehrtester Herr Hofrath die Versicherung meiner höchsten Achtung und Ergebenheit Ihr ganz ergebener F [riedrich] Lüdicke Der Bothe ist erst u [um] 9 Uhr hier abgegangen

B32550 (2)

n B331065

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16 Jan [Januar] Lüdickens Frau in Frensdorf arn [Arnica montana] R [Riechen] sogleich und wenn nach 4 Stu [Stunden] die Nachwehen nicht wieder sind Cottea. riechen alle 8 Stu [Stunden] alle 4 St 1 § 7 § Verehrtester Herr Hofrath. arn [Arnica montana] milderten die Nachwehen der Mutter aber das Kind hatte (mit erstaunlichen Schrein) Krümungen (Krämpfe) auch etwas arn [Arnica montana] gerochen und davon besser, hat Stuhl Nebst der Anzeige, der Geburt einer klei,, nen Tochter, die mir mein gutes Weib, heute Nacht 2 Uhr geschenkt, komme ich Hr:

B33106 (1)

Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seine Frau), geschrieben am 16.1.1833, von Hahnemann beantwortet am 16.1.1833.

Hahnemanns Patientenschaft

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wohlgeboren Hülfe in Anspruch zu nehmen, meine Frau die beiläufig gesagt, stets so wohl gewesen, daß sie noch nie Arznei eingenommen, hat dieses mal schon seit 4 u. [und] 6 Wochen Kreutzschmerz gehabt so daß ich schon seit jener Zeit die Ge,, burt erwartete, die Geburt geschah jedoch nicht zu sehr schwer nur die Hüften des Kindes, die sehr stark waren, griffen sehr an. nach der Geburt stellte sich jedoch erst Rückenschmerzen u. jetzt starke Nach,, wehen, in der Mitte der \rechten/ Seite, die schon im,, mer statt halten, aber jetzt so gesteigert sind, daß ich glaube sie unterliegt, wenn wir nicht nach helfen. Die alte Hebamme

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Die Laure von Radegast, hatte, da ich heute früh die Chamillenthee gleich ┌g┐verggoß, die das Kind bekommen sollte, doch in meiner Abwesen,, heit eine Dose †…† ihr gegeben und ich glaube bestimmt, daß es daran herrührt Nur eine Stunde ging etwas Blut ab, wodurch sie \augenblicklich/ Linderung bekam, übrigens ist die Nachgeburt weg und sonst alles in Ordnung. Nach Mittag komme ich nach Cöthen wenn es beßer werden sollte, um Hr: Wohlgeb Bericht zu bringen, beeilen Sie nur ge[fällig]st †…† den Bothen der Auftrag hat zu reiten so schnell als möglich. Herzlich grüßend dero ganz Ergebener Fernsdorf 16 Jan: 1833 Lüdicke Milch nun in der Brust, stillt hat noch nie Arznei im Leben gebraucht hat sonst immer ohne Hebamme geboren

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B33106 (2)

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

n B337886

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B33788 (1) 7 Jun [Juni] Lüdicke Mutter in Hettstadt (66) den 4. April da alle 14 Tagen zu riechen Der Fuß. äußerliche Beschaffenheit: am Knöchel rund herum entzündet mit einzelnen Schörfen belegt, die leicht abfallen: (über derselben, eine ┌harte┐\gespannte/ braune Haut, aber ohne Empfindung oder Schmerz.) Der Schmerz zu welcher Zeit ereignete: Blut: vor 3 Monaten wurden verhärtete Flecke mit einem Heftpflaster zu Näßphlecken gemacht; wodurch dieser Fuß große, Entzündung erhielt und übern Spann am Schienbein viel Knochenschmerz verursachte, mit viel Jauche und Borkenausschlag. Nach dem Pulver 2 Riechen gab sich der Schmerz u. [und] zog sich mehr nach dem Knöchel äußerlich in die Haut. Jetzt ist der Schmerz immerwährend beim Gehen äußerlich in der Haut, bei der Stufe aber sonst jar nicht; (äußerlich nach der Herde zu ist es am empfindlichsten, besonders beim Auftre,, ten und am Schuhrande. In der Bettwärme befindet sich Patients Fuß am unwohlsten, ein brennendes Jucken heißt ihm immer neue kühle Stellen suchen bis denn nach u[nd] nach derselbe \sich/ daran gewöhnt wo denn die Müdigkeit das beste Gut [und] des Morgens ist die Geschwulst gefallen u.[nd] der Fuß ist schmerzlos u. [nd] immer beßer als des Abends. Wie ist es mit dem Stuhlgang? Nach dem Gebrauche von Glaubersalz \1½ Lof [Löffel]/ vor der Grippe cä 14 Tage ist es sehr gut, so daß tägl. [täglich] Stuhlgang erfolgt, was früher sehr selten geschah Wie geht der Urin ab? jetzt helle vor 8–12 Tage sehr roth u. [und] dicke. Wie der Schlaf? Jetzt beßer, vor 14 T. [Tagen] – 3 Wochen sehr schlecht Besinnungskraft. Ist jetzt etwas geschwächt. Durst. während der Grippe sehr großer Durst, jetzt giebt sichs. Geschmack in Munde: ist gut, doch verschleimt. Speisen u. [und] Getränke: noch immer gern Bier, besonders appetit auf Sauerkraut u. [und] saure Milch.

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B33788 (2) Zuwieder: sind Eierspeisen †…† schadet sehr hat sich nach langer Zeit †…† davon †…† Die Speisen haben ihren richtigen reinen Geschmack. Nach dem Essen: wenn ¼ des gewöhnlichen früherem Bedürfnißes genoßen wird, wohl, bei der Hälfte, unwohl bei ¾ erfolgt Erbrechen u. [und] ein saurer

1*

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Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seine Mutter), geschrieben am 7.6.1833, von Hahnemann beantwortet am 7.6.1833.

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Hahnemanns Patientenschaft

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Nachgeschmack, besonders nach Eiersuppe. wenn †…† ist außer ohne Sauer sein. Am besten bekomt Spargel, Spinat †…† Das Erschrecken im Schlaf ist vorbei. Beim Erwachen, Husten ┌ofters übel┐ v. [von] d. [der] Grippe. Schlaf ist gut, doch früh leichtes Aufwachen Bei Witterungsveränderung, mehr Schmerz, wenn aber der Fuß hoch gelegt wird, Linderung Bei den heißen Tagen, Schweiß an der Hand u. [und] Fuß, außer dem auch \mehr als/ am ganzen Körper. Beim Mittagsschlaf, Schweiß, u. [und] dann verdrießlich die Farbe der Gesichts†…†: ist jetzt blaßer und gelblich; ich glaube Folge der Grippe Abendschläfrigkeit/ geht tägl. [täglich] aus am anderen Beine oben an der Wade noch ein Fontanell, was ganz zugehen will ┌…┐7. ┌6 § bei 1,3,5┐/6§ 1 4 Sil. [Silicea terra]

n B3310697

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herrn Hofrath Hahnemann Wohlg [eboren] Köth [hen]

1*

Den 30 August Oscar soll 7 Tage nach dem erstenrothem Riechen an Calc [Calacarea carbonica] riechen \Lüdicke/

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Herrn Hofrath Hahnemann zu fragen wie oft Oscar an des Glas \HS/ riechen soll? Lüdicke Im Gesicht hat die Geschwulst etwas nach gelaßen, an den Füßen u. [nd] Händen stärker geworden.

B331069 (1)

B 331069 (2)

n B3312278

1* 1 2 3 7 8 9

Patient schreckt im Schlafe häufig auf. Sr [Euer]: Wohlgeboren Herrn Hofrath Hahnemann Exp. [resz] fco.[franco]9 Cöthen

B331227 (1)

Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Oscar), geschrieben am 30.8.1833, von Hahnemann beantwortet am 30.8.1833. Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Ferdinand), geschrieben am 6.11.1833, von Hahnemann beantwortet am 6.11.1833. Ausdrücklich, frei porto.

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

6. Nov. [November] Lüdicke’s Ferdinand (4) HS [Hepar Sulphuris] Calc [Calcarea carbonica] solls bis Ab [Abend] 6 Uhr riechen lassen und wäre es dann eben so schlimm als gestern Ab [Abend] 6 Uhr dann andieses [Säure] ph. †…† R. [Riechen] lassen B331227 (2) Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb [Wohlgeboren] zu Cöthen Fernsdorf den 6. Nov [November] 33. Hochverehrter Freund! Mein Sohn Eduard, diesen mt [Monat]: 4 Jahr alt, hatte vor ca 14 Tagen einen Anfang von Scharlachfriesel auf der Brust und Halse; ein starker Junge hatte er dies nicht geachtet u. [und] in meiner Ab,, wesenheit, war er bei kaltem Wetter heraus gegangen u. [und] dies war zurück geschlagen. In Folge dieses hatte er nach einiger Zeit, wo er blos pinselte u. [und] wenig aß, geschwollene Halsdrüsen, die sehr hart waren auf beiden Seiten bis hinter die Ohren, sprach kauend, schlei,, mig, u. [und] hatte zu gleich entzündeten Rachen, \u. [und]Gliederschmerz/ vor 5 Tagen erhielt er dagegen calc [Calcarea carbonica]: v. [von] Rhost, wo sich zugleich ein geschwollener Bauch mit einfand. Den anderen Tag (Abends erhielt er die Arznei) war das ganze Gesicht geschwollen, besonders die rechte Seite B331227 (3) Seite, u. [und] so schwoll der ganze Junge an, wie jüngst sein Bruder Oscar. Ich lies ihn daher diese Nacht HS [Hepar Sulphuris] †…† riechen. Sein jetziges Krankheits bild ist nun folgendes: Die Augen matt, geschwollen, besond: [besonders] d. [das] rechte. Nase, rothe Nase löcher, -u. [und] verstopft, doch Schleim seit gestern Mund, berändert, braun, mit zähem Schleim, Zunge, zäher weißlicher Schleim Rachen klagt Schmerz, wenig anscheinend Entzündung viel Durst, trinkt, nach Mitternacht, nicht so viel als vor M. [Mitternacht] röchelt u. [und] schnarcht; sonst niemals. Der ganze Körper, geschwollen, außer die Hände, Leib gespannt klagt öfter Leibschmerz, äußer,, lich. Schläft fast immer, Tag u. [und] Nacht. Brust, klagt öfter Schmerzen, gestern Abend sehr kurzer Athem,, heute zeigt er nicht mehr so arg, doch keucht er u. [und] stöhnt der ganze Junge sehr schwer u. [und] unbeholfen, sehr ärgerlich

Hahnemanns Patientenschaft

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Stuhl diese Nacht lehmig u. [und] dünn, vorher sehr wenig u. [und] schleimig überzogen Urin, ist diese Nacht klar, früher roth u. [und] trübe

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B331227 (4) Sein Verstand ist klar ohne dußelich zu sein, kann man ihn nicht alles verstehn, u. [und] dann wieder ärgerlich u. [und] schlägt um sich. Gänzliche Appetitlosigkeit schon seit 4–5 Tagen, so daß er nur ein Nußschnittchen, oder ein Sirupsbrödchen u [und] dergl: [dergleichen] des Morgens ißt. Nachmit,, tags tritt eine Art Fieber ein, wo er sehr unleid,, lich wird u. [und] nirgends Ruhe hat. Nun schikte mir Freund Rhost diese Nacht opi: ich habe es mir aber nicht gewagt ein zu geben weil ich kurz zuvor HS [Hepar Sulphuris] das Gläßchen was Sie, Verehrtester, mir f [für] Oscar gegeben hatten, hatte riechen laßen, u [und] meiner Ansicht sich beßer belladonna paßte, so überlaße ich es Ihnen, mir meinen Liebling zu retten. Herzliche innige Grüße von Ihrem treu Ergebenen Lüdicke In diesem Augenblick fängt er an zu schwitzen.

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Sr. [Euer] Wohlgeb [Wohlgeboren] Herrn Hofrath Hahnemann Exp. [resz] fco. [franco] Cöthen

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B331231 (2) den 7 Nov. [November] Lüdicke heute nichts, gehts besser übermorgen Bericht! Hochverehrtester Freund! Im Verfolg Ihrer Vorschrift wartete ich die Folgen d †…† [Hepar Sulphuris] ab, und gewahrte dann zu meiner unaussprachlichen Freude, daß die Geschwulst wich, daß das Fieber Nachmittags nicht wieder kam, daß der faule Geruch aus dem Munde (was noch zum gestri,, gen Krankh: [eits] bilde fehlte) einem schleimigen Geruche wich, daß er ruhig mit tiefem Athem schlief aber Schmerzen im Nabel klagte. Ich unterließ daher ihn an ac. phos. [Acidum phosphorus] riechen zu lassen. Heute ¾ 6 Uhr folgendes K. Bild [Krankheitsbild]

10 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Ferdinand), geschrieben am 7.11.1833, von Hahnemann beantwortet am 7.11.1833.

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

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Geschwulst ganz odr [oder] fast ganz weg Gesichtsfarbe, blaß doch freudigen Blick Nase entzündet, bohrt öfters darin mit dem Finger, wodurch sie ganz wund, Lippenränder, braun, gerändert mit zähem Schleim, Zunge weiß und als wenn man sich mit einem Meßer den Schleim abgemacht hätte so aufgekratzt sind die Zungenwärzchen Greift nicht mehr mit Begierde \zittern/ nach der Milch die sein fortwäh,, rend Getränk ausmachte, trinkt aber kräftig und normal. Stuhl, nicht gehabt Urin, normal u [und] hell, hatte gestern Schweiß Jetzt

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Jetzt hat er sich im Bette aufgerichtet, u [und] spielt auf meinem Tische, bekommt etwas Farbe, doch stützt er den Kopf et,, was, (wohl Schwäche) ist noch schwer, wenn er gehoben wird. Appetit fehlt noch ganz, da jedoch Milch sein Trinken aus,, macht, so wird er wohl nicht umkommen Stöhnt noch manchmal Brustschmerz, weg Halsdrüsen sind noch ein wenig da, aber ganz weich, und sind gegen gestern ┌viel┐ \etwas/ gewichen. Geruch aus dem Munde schleimig, fade. Das Schnarchen im Schlafe läßt etwas nach Dies mein lieber und verehrter Freund sind meine kurzen Beobachtungen an meinem Herzenjungen, denn ich kann beim beßten Willen nicht oft hereinkommen, denn meine Syrupskocherei, die beiläufig gesagt ganz votrefflich geht, nimmt meine ganze Zeit in Anspruch, und komme ich mich vor, als wenn ich ein Alchimist wär, nur daß ich doch wenigstens was Süßes statt Gold mache. Ich

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Ich werde mir erlauben, Ihnen ein Pröbchen meines Fleißes zu senden um eines Kenners Ansicht u [und] Urteil zu vernehmen. Herzliche freundliche Empfeh,, lungen Ihnen und den lieben Ihrigen von Ihrem treu ergebenen Freunde Frensdorf 7/12 33. Lüdicke

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Hahnemanns Patientenschaft

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Sr. [Euer] Wohlgeb [Wohlgeboren] Herrn Hofrath Hahnemann E. [xpresz] fc. [franco] Cöthen

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8 Dez [Dezember] Lüdickes Sohn hat er noch nicht [Säure] ph. gerochen, jetzt N. M. [Nachmittag] tox [†…†] 1 Gobuli C 30

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Fernsdorf den 8 Dez. [Dezember] 33. früh 1 Uhr Hochgeehrtester Herr Hofrath! Noch jetzt um 1 Uhr sitze ich bei meinem Eduard; nach,, dem es heute recht gut gegangen, wo er ein Butter,, brodt aß, u. [und] recht wache schien, hat sich heute Abends ein Schleimfieber eingestellt, wie es die Allopathen nennen, und mein armes Kind stellt folgendes elendes Bild dar. Die Augen ganz ganz matt. Seit einer Stunde wieder aufgedunsen, drin sehr trübe \u. [und] roth/ nach einigen Minuten ein ┌…┐\weißer/ fleckiger Niederschlag Lippen sehr stark braun berändert, nicht Schleim sondern die Haut ganz fest. Nase ganz ohne Luft, Ränder \oder Nasenlöcher/ wund u. [und] roth, weit auf. Leib, gespannt ausgedehnt, Schmerzen in u. [und] unter dem Nabel. ganze Körper, sehr heiß ohne Schweiß wirft sich unruhig hin und her, ohne Schlaf, Geruch aus dem Munde, Ekel erregend, schleimig Zunge ganz weiß, Zähne mit Schleim bedeckt sehr viel Durst, trinkt immer Milch, rohe odr [oder] ungekochte indem

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Indem ich den Bericht anfieng, gab ich ihm ein Schluck warm Waßer (mein Mittel gegen Entzündung) und schon jetzt ist er eingeschlafen, ich hoffe das er eine Stunde Ruhe haben wird, sollte es jedoch noch schlimmer werden so benutze ich das ac: phos. x. [Acidum phosphorus C 30] Fortsetzung früh 6 Uhr u. [und] 7 Uhr. Patient hat geschlafen mit vieler Unruhe, u. [und] Durst, jetzt ist er noch matter wie diese Nacht,

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11 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Eduard und seine Tochter Bertha), geschrieben am 8.12.1833, von Hahnemann beantwortet am 8.12.1833.

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Augen ganz leblos ohne Glanz, stöhnt öfters, doch etwas mehr Ruhe, jedoch glaube ich von Schwäche, ist noch so heiß wie diese Nacht Nase verstopft, greift immer nach der Nase, Mund und Augen um die Entzündungsfolgen Schleim u. [und] Augenbutter abzumachen. Bei tiefem Athem, Schütteln u. [und] Schnarchen, doch nicht immer Leib gespannt, ausgedehnt u. [und] hart. Urin roth u. [und] trüb \wie gestern/ Stuhl wie gestern \früh/ normal sehr ärgerlich u. [und] bestimmt in Äußerung seines Willens Ich bemerke eben, daß in meinem Tintenfaße Kampfer sein muß, denn es riecht so, sollte dies die Wirkung der HS. aufgehoben haben? Ich werde es so,,

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gleich vernichten u. [und] durch ein anderes ersetzen. Bertha \5Jahre alt/ hatte gestern zu viel Wurst (die sie gestohlen) gegeßen u. [und] übergab sich, ich ließ sie an Nux vom [Nux vomica] riechen, es repetirte †…† einige mal u. [und] jetzt ist sie wieder wohler. Dies mein verehrter Freund, sind meine Klagen Bitte um Ihre rasche Hülfe und zeichne ganz er,, gebenst Ihr Verehrer Lüdicke

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10 Dez [Dezember] Lüdickes Eduard den 8ten Mittag Tox gerochen

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Eduard den 10 Xber [December] noch immer in vor. [vorherigen] Zustande Mund braun berändet, Nase verstopft doch fließend, kann aber vor Schmerz nicht schnauben, wund u. [und] Geschwürche darin. nicht tox [†…†] die ersten 3,4 †…† Augen matt und sucht er den ganzen Tag die Feuchtigkeit die sich bildet mit der Hand abzumachen Leib, aufgetrieben, hoch u. [und] gespannt Schmerz klagend über dem Nabel innerlich. hat sich heute übergeben, wie Käse, heftig ärgerlich

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12 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Eduard und seine Tochter Agnes), geschrieben am 10.12.1833, von Hahnemann beantwortet am 10.12.1833.

Hahnemanns Patientenschaft

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Geruch aus dem Munde, sauer Zunge weiß verschleimt das Schleimige im Mund wieder Trinkt viel Milch überhaupt zu warm innerer, besonders Leib Abends wird die Hitze und der Durst ärger gar kein Schweiß 13 gegen Abend tritt das Fieber immer ein, 13* Vorgestern derb. gestern weich wie heute 14 Stuhl, heute, sehr viel, wie es nach dem Genuß von 15 Milch sein kann. 16 Urin, sehr roth, Satz röthlich, nicht so viel \Satz/ wie 16* hat sogleich Augen heute weniger matt. heute weniger Satz 17 gestern u. vorgestern 17* Schläft weit mehr als er wacht. langer tiefer Athem 18 Agnes. in 5 Wochen 1 Jahr alt. hat Krämpfe wegen den Ein. 19 tritt der Zähne. 20 Oskar. n B33131113

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Sr. [Euer] Wohlgeb [Wohlgeboren] Herrn Hofrath Hahnemann Exp. [resz] fc. [franco] Cöthen14

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12 Dez Lüdicke’s Eduard soll morgen früh Byon Riechen

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Fernsdorf 12 Dez. [Dezember] 33. Hochverehrter Herr Hofrath! Die gestrige Nacht war mein Eduard, durch einen Traum, wo er einen Hund sah, welcher ihn peißen wollte, ganz erschöpft. Gestern Nachmittag gegen 5 Uhr trat, ich nenne es das Fieber ein, was sich durch erhöhete Wärme auszeichned, und wo er dann natürlich viel trinkt. Diese Nacht hat er gut geschlafen, keine ängstl. [ängstlichen] Träume gehabt, wenig getrunken, selten uriniret, nur jetzt um 5 Uhr einmal. Jetzt ist sein Zustand ruhiger,

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13 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seinen Sohn Eduard), geschrieben am 12.12.1833, von Hahnemann beantwortet am 12.12.1833. 14 Neben der Adresse befinden sich Schreibübungen nebst einzelnen zusammenhanglosen Wörtern des Briefschreibers.

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er s[t]öhnt weniger oft, wie gestern, doch imer noch Die Lippen sind schmerzhaft braun berändert die Nase oft blutig vom ab knaupeln das braun von Anfangs, was ursprungl: [ursprünglich] k. [kein] Geschwürchen s. Augen matt Augenlieder klebrig. Leib aufgetrieben, beim Fieber jedoch mehr, die Wangen, angelaufen, aufgedunsen Schmerz,, klagend daran, auch vor u. [und] hinter dem Ohre Sch. [Schmerzen] Zwischen dem Nabel u. [und] den kurzen Rippen immer auch Schmerz klagend. Von früh 8 Uhr

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bis Mittag sind seine frohesten Stunden wo er oft spielt, jedoch ißt er immer sehr ärgerlich u. [und] leicht aufgebracht. Trinkt, seit er sich vorgestern die Milch wegbrach Bier, da er jedoch gestern Abend, beim Fieber zu viel trank, bekam er Kopfschmerz u. [und] viel Hitze, er mußte also Zukerwaßer trinken, hiernach hat er so gut geschlafen, u. [und] glaube ich, der Zucker hat wohl etwas zur Milderung des Durstes beigetragen. Ißt immer noch jar nichts. Stuhl, gestern früh wie immer, mittelhart, und wie nach Milchspeisen, gestern Abend, sehr wenig, kleine weiche Pfluckchen, wie Pfeffernüße. Urin, immer noch roth u. [und] trübe, heute früh schäum,, te er sehr u. [und] viel uriniert Körperwärme, jetzt ganz natürlich, und gut, Athem, ganz tief, ohne jagen Schläft immer noch viel.

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Dies mein sehr verehrter Freund, ist der wahre Zustand meines lieben Kindes. Ich sendte Ihnen, den Wagen mit, um wenn Sie es für nöthig halten Herrn Doctor Lehmann zu sendten, sich derselben zu bedienen; ich werde zwar nach Radegast müsen, werde mich jedoch möglichst beeilen um wieder da zu sein. Ich bitte daher, wenn sie Herrn D. Lehmann sendten, zu eilen, damit ich, den Vormittag ihn noch kann, wieder herein schaffen, und diesenfalle noch ein paar Pferdte stehn laße. Genehmigen Sie die Versicherung meiner aus zeichnetesten Hochachtung und Liebe Ihr treuer Verehrer Lüdicke

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Hahnemanns Patientenschaft

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15* Halten Sie es für nöthiger daß H: D. Lehmann beim Fieber sei, so sendten Sie den Wagen zurück u. [und] Nachmittag soll er wieder da sein n B33131415

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Sr. [Euer] Wohlgeb [Wohlgeboren] Herrn Hofrath Hahnemann Exp. [resz] fc. [franco] Cöthen

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B331314 (2) Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb [wohlgeboren] in Cöthen Fernsdorf 15 Dec. [Dezember] 33. den 15 Dez. [Dezember] Eduard und Agnes bekamen zuletzt [Schwefel] 1 Globuli C 30 Verehrtester Herr Hofrath! Gott sei Dank, und Ihrer Kunst, mein Freund beßert sich stündlich; vorgestern kam das Fieber nur noch gleichsam als Echo, und verhallte sehr schnell, der Appetit stellte sich gestern ein, wo er Suppe und Butterbrodt \aß/ und sogar Fettbrodt hatten ihn die Frauens. geben müßen. Gegen Abend, kam statt des Fiebers Appetit, wo er etwas Fettbrodt, Milchsuppe, u. [und] magern Nußkuchen genas. Heute ist er sehr gesprächig, und singt sojar, nießt jedoch seit gestern öfters, und hat entschiedenen Wiederwillen gegen Semmel hat Milch getrunken u. [und] etwas Milchbrod. Der Leib ist wieder gut, zwar könnte er noch et,, was abnehmen nach seiner Magerkeit zu ur,, teilen. Die Hoden \der Beutel vielmehr/ waren gestern sehr lang, u. [und] 21 klagt er Schmerz, wenn sie berührt werden, es schien sich etwas Waßer darin zu befinden

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Heute ist derselbe sehr lang zwar noch aber ohne Waßer, und der Leib nimmt nach und nach die vorige Form wieder an. Die Wangen haben ihre vorige Form wieder

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15 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seine Söhne Eduard und Oscar und seine Tochter Agnes), geschrieben am 15.12.1833, von Hahnemann beantwortet am 15.12.1833.

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

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ganz angenommen. Die Drüsengeschwulst ist vergangen. Die Zunge ganz rein u. [und] gut. Die Lippen sehr in der Beßerung Die Nase in. Abheilen. Sprache noch etwas kauend, doch ist der Gaumen nicht wund. Füße, schwach, kann noch nicht allein gehn, sitzt daher noch immer im Bette und spielt Durst ist normal. Oscar, welcher vor 4 Tagen bei demselben Zustand jedoch gemäßigt Sepia empfieng, ist ganz gesund nur noch fehlt ihn der gewöhnliche Appetit, Herr Doct:[or] Lehmann hat ihn mit untersucht und versprach ihn ferner seinen Zustand gemäß etwas zu geben, wenn ich darüber berichtete. Gebe Gott, daß es ferner so geht, und daß mein näch,, ster Bericht, von jar keinen Beschwerde mehr rede.

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Tausend herzliche Grüße den lieben Ihrigen so wie Herrn Doctor Lehmann Ihr sehr ergebener Freund Lüdicke

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Sr. [Euer] Wohlgeb [Wohlgeboren] Herrn Hofrath Hahnemann Exp. [resz] fc. [franco] Cöthen

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20 Dez [Dezember] Lüdicke’s Eduard /Agnes\ heute Ab [Abend] 1 § S 1 Globuli C 30 Sehr geehrter Herr Hofrath! Die Beßerung schreitet fort, jetzt kann er wieder allein gehen was fleißig in der Stube und Wohnstube, und einen St. [†…†] die nur durchs Ausmachen der Thür etwas erwärmt wird experziert wird, doch wird er noch leicht ermüdet. Sein Appetit ist meist auf Butterbrod

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16 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seine Söhne Eduard und Oscar und seine Tochter Agnes), geschrieben am 20.12.1833, von Hahnemann beantwortet am 20.12.1833.

Hahnemanns Patientenschaft

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beschränkt, selten ½ Taße Milch und ein Glas Bier; Suppe von Hafergrütze isst er nur einige Löffel voll u. [und] Fleischbrühe konnte er schon vor der Krankh. [Krankheit] nicht eßen. Der Leib wird nun fast ganz in den normalen Zustande sein. Die Genitalien ganz wie,, der gut. Zunge heute etwas verschleimt; ist wohl von der Milch? Es hatte sich während der Krh. [Krankheit] in der rechten Wange

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Wange ein verhärtetes bewegliches Knötchen dicht an der Kinnlade gebildet was, man sonst Gichtknötchen nannte, dies ist noch da macht aber keine Schmerzen mehr. Wir wagen uns das Kind außer im Gesicht und Händen nicht zu waschen, dürfen wir es nun? und mit was für Waßer? warm oder kalt? den 18/12Oscar ganz gut, der Appetit bessert sich, und wird bald wieder im alten Gleise sein, vor 3 Tagen hatte er ein Fieber erst kalt dann Hitze u. [und] wollte nicht eßen früh war alles wieder gut u. [und] habe ich bis heute vergeblich auf Wiederholung gewartet. Eduard hatte gestern Leibschmerzen, nach dem Genuße von einem ganz weichen Eye u. [und] Bier nochgetrunken was aber nach dem Abgange von Blähungen u. [und] Stuhl (den er gestern 3 mal hatte) sich gleich gab. Der Stuhl war 2 mal gewöhnlich u. [und] 1 mal zuletzt dünn drin gelb ohne Satz, und diese Nacht beim Aufwachen

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B331324 (4) war er ganz verstört, wußte nicht wo er war, kannte die Großmutter nicht. Sollte dies von gut gehopften Biere entstehen können? Am Füßen ist er sehr empfindlich, und noch immer empfindlich \von Gemüth/, sonst aber fröhlich jedoch sehr matt. Mein kleinste Tochter, Agnes / 16 Jan: [Januar] 34 wird sie ein Jahr hat schon lange eine schlimmen Kopf, sie ist nun schon seit, 8 Wochen gewöhnt, statt sich zu beßern ist es nun schlimmer geworden, besonders seit sie einen Zahn bekommen (vor: Woche) u. [und] das ganze Gesicht ist überzogen, sonst ißt u. [und] trinkt sie gut u. [und] hat vor 8 Tagen etwas von Rh. [Rhus toxicodendron] gegen die Krämpfe beim Zahnen bekommen.

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

Herzliche innige Grüße Ihr treuer Freund u. [und] Verehrer Fernsdorf 19/12 33. Lüdicke

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Ludckens Agnes den 19 Jan [Januar] †…† No 1 Calc [Calcium] 1 Globuli C30 Fernsdorf 19 Jan 34, heute 2 Pulver No 1 HS nach 10 Tagen †…† Globuli C30 Verehrtester Herr Hofrath. Meine kleine Agnes, die den Ausschlag, auf dem Kopfe u. [und] Gesichte hat, hat sich zwar nach dem 2.ten Pulver, (No: das 1ste Sulph: [Schwefel] das 2te glaub‘ ich calc. [Calcium]) welche sie mir vor ca ┌12┐ – 24. Tagen (den 2ten Weihnachtsfeiertag:) gaben et,, was gebessert, doch nicht so wie ich es ge,, wohnt bin. Das Kind wurde sehr welk u. [und] matt danach, jetzt erholt es sich wieder, hat noch keinen Zahn wieder erhalten, und es bil,, den sich immer neue jedoch keine großen Geschwürchen, im Gesicht ist es fast weg. Sonst hat sie wenig Appitit zum Eßen aber milch trinkt sie viel, wodurch sie sich auch wieder erholt hat, ißt sehr heftig, schläft unruhig will immer cratzen. Urin nicht scharf, Stuhl normal. herzlich grüßend Ihr ganz ergebener F [Friedrich] Lüdicke

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30 März Madam Lüdicke (67) in Hettstadt, ihr 14 alt [alternierend] HS bei 1,19 von seiner Mutter mit einem offenen Schaden geboren ud [und] im 40sten Jahren auch ein Schenkelgeschwüre bekom [bekommen] auch an d [dem] anderen U Schenkel [Unterschenkel] Fontanell 3 Jahre 9n März erstes Pulver von Rhost nd [und] †…† gelassen aber Kamillen Wasser drauf dann der ersten schon gelindert in der Mitte des Schienbeins 10 früh Kpf / 11. Augenthrän [Augentränen] besser wenn sie ihn warm halten

17 Krankentagebuch von Friedrich Lüdicke (über seine Tochter Agnes), geschrieben am 19.1.1834, von Hahnemann beantwortet am 19.1.1834. 18 Anamnese von Hahnemann (über den Amtmann Friedrich Lüdicke und dessen Mutter), geschrieben am 30.3.1834.

Hahnemanns Patientenschaft

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N° 2 16 Gährung im Leibe, harter Stuhl viel salziger zäher Speichel 17 Reißen im Schienbein nd[und] Wade, beim Gehen mehr Jucken am ganzen Kr. [Körper]

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Amtman Lüdicke (42) seit 6 Jahren in der Augenendzündung jetzt wenn er recht warmes Wasser drauf bringt, besser ist ┌als┐ wenn er das untere Augenlid nicht zuziehen könnte zieht ers herunter, so flimmert das Auge in der freien Luft anfangs Sch. [Schmerzen] dann länger an der Luft besser im l. [linken] Zeh halb rechts ein altes Stoßen und wenn er ihn anstrengt, so fühlt er bei jedem Tritte einen Drücken. in der Jugend schweißige Füße im 18n Jahre vertrieben in schwitzt bloß Brust Hals nd [und] Kopf, der übrigen Kr [Körper] hat trockenheit in der Jugend Tripper ohne Feigwarzen mit [Quecksilber] behandelt Stuhl wohl in 3, 5 Tagen nicht, dafür viel Aufstoßen\theils/ohne theils mi [mit] Geschmack des Genossenen hat von Grpht †…† geglaubt, daß es ihm helfen kann als Kind arger Kopfgrind Prickeln in der Haut wenn er erhitzt ist d [den]17,18 Jan [Januar] der Frau geholfen, Mangel an \†…† [Schwefel]/ Ausdünstung amm [Ammonium] Kali [Kalium] Lyc [Lycopodium] [Säure] ph Lep [Leptandra] Lx.

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26 Dez [Dezember] v. [vom] 19 dez [Dezember] Lüdike’s Knaben nun wohl / aber Agnes ┌26 dez┐bekam da †…† 1 Globuli c 30 Allein der Kopf ist noch böser, schwitzt viel aus was sehr übel riecht, stärker als vorher (vor S) Auch in den Augenbrauen ist der Schorf nd [und] auf der rechten Backe vor den Ohre Schorf was zusammen ungeheuer jückt daher sie wenig nd [und] unruhig schläft Appetit nd [und] Stuhl gut – heftigen Gemüths Urin scharf, ist wund zwischen den Knien Eduard will nur Fleisch gebraten und Butterbrod und Käse

19 Anamnese von Hahnemann (über die Tochter Agnes und die Knaben von Friedrich Lüdicke), geschrieben am 26.12.1834.

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Melanie Schlott und Thilo Schlott

Kopfgrind ars. [Arsen] bor. [Borax] Calc. [Calcium] Gph. HS. natr. m [Kochsalz] plb. [Plumbum] sil. [Kieselerde] sulph. [Schwefel] Milchschorf ars [Arsen] bell [Tollkirsche] bar [Barium] HS †…† sarsap [Sarsaparilla] [Quecksilber] In den Augenbrauen Ausschlag clem guaj Kali [Kalium] Sil [Kieselerde] Ham thuj Scharfer Urin HS [Quecksilber] Wundheit zwischen den Oberschenkeln ars [Arsen] Const Gph HS. [Hepar Sulphuris] Kali [Kalium] Rhod. [Schwefel] der Agnes heute § Calc [Calcium] 1 Globuli c 30

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 179–205, FRANZ STEINER VERLAG

»Die Allopathen haben mich hingerichtet; die Hydropathen haben gar den Zapfen hinausgestoßen, und die Homöopathie bringt mich nun gar noch um den Verstand.«1 Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen Jürgen Pannek Summary “The allopaths have executed me; the hydropaths left me depleted, and now homeopathy is driving me insane.” Karl May and homeopathy: insights, views and sources This contribution explores what Karl May may have known of homeopathy, where he derived his knowledge and what his own view of homeopathy was. Karl May mentioned homeopathy early on in his career as a writer. He probably acquired his evidently solid knowledge of homeopathy from “Pierer’s Universallexikon” and the writings of W. Schwabe. His interest in homeopathy may have been prompted by his mother (a midwife) or his self-treatment for venereal disease. May’s relationship with homeopathy changed over time. At the beginning of his career he, like many other writers of his time, referred to homeopathy ironically as it was widely known; his irony was aimed at the users rather than the method, however. For a while he did not mention it at all any more. In his late work Karl May deepened and wrote in more detail about his ideas of a holistic medicine, which came very close to the homeopathic view of sickness and health. The fact that he sought homeopathic treatment for himself and his family during that phase corroborates the conclusion that he had a positive relationship with homeopathy.

Einleitung Karl Friedrich May (25. Februar 1842–30. März 1912) ist heute noch einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Seine Gesamtauflage wird auf 200  Millionen Bände geschätzt, davon 100 Millionen in Deutschland.2 Bekanntgeworden ist er vor allem durch seine 33 Reiseromane, die vornehmlich im Orient und im »Wilden Westen« spielen. Die fiktiven Geschichten und die von ihm kreierten Charaktere wurden derart populär, dass sie mehrfach,

1 2

May (1882–1884), S. 2598. Vgl. eine Pressemitteilung des Karl-May-Verlags aus dem Jahr 2012: http://www.karlmay.de/pages/service.php?sub=archiv (letzter Zugriff: 13.10.2017).

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zuletzt 2016, verfilmt wurden3, und sein Apachenhäuptling Winnetou fand sogar Eingang in den Duden4. Karl May war berühmt für seine lebendigen Landschaftsschilderungen, die er verfasste, ohne die entsprechenden Gegenden besucht zu haben. Seine Hauptquellen waren Lexika, Bücher, aber auch Kreativität und Imagination. Dabei war die Schriftstellerei nicht sein primärer Berufswunsch. Er »wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität«.5 Auch wenn sichere Hinweise darauf, dass der Arztberuf sein Wunschtraum war, fehlen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass Karl May sehr gerne Medizin studiert hätte.6 Aus verschiedenen Gründen ist ihm das Medizinstudium jedoch nicht möglich gewesen. Trotzdem oder gerade deswegen hat Karl May in seinen Werken oft medizinische Sachverhalte thematisiert. Der erste von ihm kreierte »Serienheld« in seinen Kolportageromanen hieß Dr. Karl Sternau, ein extrem versierter Arzt, dessen Fachkenntnisse denen anderer Kollegen weit überlegen waren.7 Die konventionelle Medizin in Karl Mays Werken ist bereits mehrfach detailliert analysiert worden.8 Auch der Aspekt, dass er durchaus Komponenten der Naturmedizin, vor allem der Indianer9, sowie lokale alternative Heilmethoden, wie diejenigen der orientalischen Ärzte, berücksichtigte, ist bereits ausführlich beschrieben worden10. Es existieren jedoch nur wenige Analysen von Beschreibungen der Homöopathie in Karl Mays Werken. Diese Publikationen beschäftigten sich hauptsächlich mit der Frage, ob die Schilderungen der homöopathischen Diagnostik und Medikation aus fachlicher Sicht korrekt gewesen sind.11 Im Folgenden soll das Verhältnis von Karl May zur Homöopathie nicht nur aus medizinisch-fachlicher Sicht, sondern auch im sozialen und quellenhistorischen Kontext analysiert werden. Dabei wird gefragt, welche Kenntnisse der Autor über die Homöopathie besaß, aus welchen Quellen diese stammen könnten und welche Einstellung er der Homöopathie gegenüber hatte. Kenntnisse der Homöopathie Die ausführlichste Beschreibung einer homöopathischen Behandlung inklusive Anamnese (Fallaufnahme), klinischer Untersuchung und medikamentöser Therapie findet sich als sogenannte »Senitza«-Episode in der Erzählung 3

»Winnetou«-Trailer von RTL: http://winnetou2016.rtl.de/#!/trailer (letzter Zugriff: 11.10.2017). 4 http://www.duden.de/rechtschreibung/Winnetou (letzter Zugriff: 13.10.2017). 5 May (1910), S. 77. 6 Zeilinger (2000), S. 98–104. 7 May (1882–1884). 8 Asbach (1972); Zeilinger (2000). 9 Asbach (1972). 10 Sauerbeck (2005). 11 Langer (1989); Pannek (2015); Koesters (2006).

Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen

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»Durch Wüste und Harem«12, die 1895 in den heute geläufigen Titel »Durch die Wüste« umbenannt worden ist. Aufgrund der detaillierten Schilderung von Anamnese und Therapie kann diese Stelle als Schlüsseltext für Karl Mays Homöopathiekenntnisse betrachtet werden. Hier wird Kara Ben Nemsi zu der Ehefrau eines reichen Kaufmanns namens Senitza gerufen, die er, soweit der Auftraggeber es zulässt, befragt und klinisch untersucht. Die Beschreibung der hierbei angewendeten Techniken und die korrekte Mittelwahl13 sind deutliche Zeichen dafür, dass Karl May über profunde Grundkenntnisse der Homöopathie verfügte14. Die »Senitza«-Episode ist die ausführlichste, aber nicht die einzige Erwähnung der Homöopathie in Karl Mays Werken. So taucht der Begriff bereits in dem ersten Werk auf, welches von Karl May geschrieben bzw. ediert worden ist, dem »Buch der Liebe«.15 1875 wurde Karl May nach Verbüßung einer Haftstrafe zum Redakteur des H. G. Münchmeyer-Verlags in Dresden ernannt. Als eine der ersten Aufgaben sollte er das Lieferungswerk »Das Buch der Liebe« veröffentlichen. Die Publikation des Werkes erfolgte zwischen September 1875 und Februar 1876. Im Dezember 1876 verließ Karl May den Münchmeyer-Verlag wieder. Ganz offensichtlich basiert das »Buch der Liebe« auf den 1874 im H. G.  Münchmeyer-Verlag erschienenen Werken »Die Geheimnisse der Venustempel aller Zeiten und Völker oder Die Sinnenlust und ihre Priesterinnen« und »Die Geschlechtskrankheiten des Menschen und ihre Heilung«, beides Veröffentlichungen, die bald nach ihrem Erscheinen in Österreich, Sachsen und Bayern verboten wurden.16 Bereits bei dem »Venustempel« und den »Geschlechtskrankheiten« handelte es sich offensichtlich um Plagiate, deren Ursprünge nicht vollständig geklärt sind. Für das dreiteilige »Buch der Liebe« hatte Karl May zwar große Teile neu geschrieben, die Abschnitte der genannten Werke über die medizinische Darstellung der Geschlechtskrankheiten inklusive allopathischer und homöopathischer Therapie sowie über die mitgelieferte homöopathische Hausapotheke wurden jedoch nahezu unverändert übernommen.17 Interessant ist der Untertitel des »Geschlechtskrankheiten«Buchs, welcher lautet: »Mit über 100 allopathischen, sowie homöopathischen Recepten versehen, zur Heilung aller Krankheiten, welche die Geschlechtsorgane betreffen«. Bei der zweiten Abteilung des »Buchs der Liebe« wurde dieser Untertitel modifiziert in »Geschlechts-, Frauen- und Kinderkrankheiten, Wochenbett und Anleitung zur Selbstheilung«. Obwohl der Begriff »homöopathisch« im Untertitel nicht mehr auftaucht, wurde im »Buch der Liebe«, ebenso wie im »Geschlechtskrankheiten«-Buch, das gebündelt mit dem »Venustempel« verkauft wurde, bei der Behandlung 12 13 14 15 16 17

May: Wüste (1892), S. 98–112. Langer (1989); Pannek (2015). Koesters (2006). May (1988). Werder (2015). Sudhoff (2006).

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der Geschlechtskrankheiten die Homöopathie der Allopathie gleichgestellt. Die homöopathische Therapie erfolgt, wie für die Laienhomöopathie typisch, nicht individualisiert, sondern nach allgemeinen Symptomen, z. B. Art des Ausflusses, Zeitpunkt des Ausflusses/der Erkrankung bzw. Befall anderer Organe (Hoden, Augen, Prostata). Die erwähnte beigefügte homöopathische Hausapotheke umfasste 40 Mittel. Im Anhang des »Buchs der Liebe« sind die enthaltenen Mittel und ihre Indikationen aufgelistet. Eine ärztliche Begutachtung der Beschreibung der homöopathischen Mittel kam zu dem Ergebnis, dass alle hierin beschriebenen Indikationen zur homöopathischen Therapie korrekt seien.18 Die ersten Kontakte des Schriftstellers Karl May mit der Homöopathie erfolgten somit in Form von Büchern, die zusammen mit einer homöopathischen Hausapotheke vertrieben wurden.19 Da diese Kombination aus heutiger Sicht ungewöhnlich erscheint, soll zunächst die Situation bezüglich der Verlagspraktiken zur Zeit des Erscheinens dieser Bücher beleuchtet werden. Die homöopathischen Hausapotheken Nachdem Constantin Hering 1837 das erste populäre Werk der homöopathischen Laienliteratur (»Der homöopathische Hausarzt«) mit einer Gesamtauflage von 114.000 Exemplaren (bis 1938) veröffentlicht hatte20, etablierte sich damals die Beigabe einer homöopathischen Taschen-, Reise- oder Hausapotheke zu einer entsprechenden Publikation und wurde in der Folge zunehmend beliebter. So legte z. B. Arthur Lutze den Erstbestellern seiner Medikamente eine Broschüre über die Vorzüge der Homöopathie bei; Friedrich August Günther erwähnte in seinen Werken, dass die zu den Büchern gehörigen homöopathischen Apotheken direkt beim Verlag oder in den Buchhandlungen erhältlich seien.21 Man erhielt die Hausapotheken in verschiedenen Größen, von fünf bis zu 240 Mitteln, sowie in unterschiedlichen Zusammenstellungen, Potenzen und Ausführungen. Auch Hochpotenzen wurden angeboten. In der Folge wurden »Spezial-Apotheken« entwickelt, welche die gängigsten Mittel für bestimmte Erkrankungen enthalten sollten. Allein Willmar Schwabe führte 1880 14 Spezialapotheken gegen Cholera, Bräune (häutige Bräune, Krupp), Zahnschmerzen, Pocken, Keuchhusten, Rheumatismus, Skrofeln, Magenschwäche, Hämorrhoiden und Stuhlverstopfung.22 Auch wenn die gleichzeitige Lieferung einer homöopathischen Apotheke mit einem medizinischen Buch damals nicht ungewöhnlich war, so ist die Zusammenstellung der dem »Buch der Liebe« beigefügten Apotheke außergewöhnlich. Die Hausapotheke war zur Behandlung der im Buch besprochenen venerischen Krankheiten vor18 19 20 21 22

Langer (1989). Baschin (2012), S. 184–209. Willfahrt (1996). Willfahrt (1996). Schwabe (1880).

Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen

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gesehen und umfasste 40 Mittel: Aconitum, Apis, Arnica, Arsenicalis, Aurum, Belladonna, Bryonia, Calcaria carbonica, Camphora, Cannabis, Cantharides, Chamomilla, China, Coffea, Conium, Crocus, Euphrasia, Ferrum, Hepar sulfuris, Hyoscyamus, Ignatia, Jodum, Ipecacuanha, Lachesis, Lycopodium, Mercurius, Nitricum acidum, Nux vomica, Opium, Phosphorus, Pulsatilla, Rhus toxicodendron, Sepia, Silicea, Spigelia, Spongia, Stramonium, Sulphur, Thuja und Veratrum. Der Abgleich der in dieser Apotheke enthaltenen Mittel mit den typischen Inhalten von Hausapotheken um 1880 demonstriert, dass sechs der 40 Mittel (Aurum, Camphora, Cannabis, Crocus, Ferrum, Stramonium) in keiner oder nur in ganz wenigen der bekannten, gängigen Hausapotheken verwendet worden sind.23 Eine weitere Hausapotheke zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten konnte in der Literatur nicht gefunden werden. Die Tatsache, dass besonders Willmar Schwabe viele Spezialapotheken in den Handel gebracht hat24, und der mögliche direkte Kontakt zwischen May und Schwabe legten die Annahme nahe, dass die Apotheke von dem Leipziger Unternehmer geliefert worden ist. Nach den Erkundigungen des homöopathischen Arztes Kurt Langer handelt es sich jedoch bei der Apotheke, die dem »Buch der Liebe« vom Münchmeyer-Verlag beigefügt wurde, nicht um ein von Schwabe hergestelltes Produkt.25 Auch die in »Durch Wüste und Harem« beschriebene Apotheke lässt sich nicht sicher als eine Schwabe-Apotheke identifizieren. Die Annahme, es könne sich um eine solche handeln, geht auf die folgenden Textstellen zurück. In dem Band ist Kara Ben Nemsi »in Kairo eine alte, nur noch halb gefüllte homöopatische [sic!] Apotheke von Willmar Schwabe in die Hand gekommen«.26 Etwas später im Text griff der Ich-Erzähler »nach meinem Kästchen mit Aconit, Sulphur, Pulsatilla und all’ den Mitteln, welche in einer Apotheke von hundert Nummern zu haben sind«.27 Wie von Falk Lucius nachgewiesen, sind die Detailangaben widersprüchlich. Nach seinen Recherchen existierte zwar eine Reiseapotheke von Willmar Schwabe mit 100 Mitteln, aber nicht im Kästchen, sondern in einem Lederetui.28 Die von Karl May beschriebene Apotheke entspricht somit keiner in den Verzeichnissen von Schwabe erwähnten Reiseapotheke. Daher ist nicht abschließend zu klären, woher die beiden Apotheken, welche Karl May in seinen Werken geschildert hat, stammen. Im weiteren Verlauf der Reisen durch den Orient gibt May an, dass er seine Hausapotheke verloren hat: »Das hast du dumm gemacht, Halef. Du weißt ja, daß ich die kleine Apotheke, aus welcher ich am Nil kurierte, gar nicht mehr besitze!«

23 24 25 26 27 28

Baschin (2012), S. 339–341. Baschin (2012), S. 184–209. Langer (1989). May: Wüste (1892), S. 85. May: Wüste (1892), S. 92. Lucius (1999).

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Jürgen Pannek »O, Sihdi, du bist ein großer Gelehrter und kannst einen Kranken auch ohne die Körner gesund machen, die du damals gabst.« »Aber ich bin doch eigentlich kein Arzt!«29

Mögliche Quellen für Karl Mays Homöopathiekenntnisse Zwar gehen alle bisherigen Forscher davon aus, dass Karl May über substantielle Kenntnisse der Homöopathie verfügte.30 Die Quellen für seine Kenntnisse sind jedoch nicht bekannt. In der Literatur werden verschiedene Theorien diskutiert, wie er Einblicke in die Homöopathie erhalten haben könnte. Die Indikationsstellungen und die Beschreibung der homöopathischen Mittel im Anhang des »Buchs der Liebe« sind von Karl May ganz offensichtlich aus den von ihm überarbeiteten Werken übernommen worden. Die Texte zur Homöopathie sind so professionell und detailliert geschrieben, dass man ausschließen kann, dass sie originär von einem interessierten homöopathischen Laien wie z. B. Karl May stammen. Zudem werden wesentliche Aspekte, wie Potenzierung oder Wirkhypothesen, darin nicht diskutiert. Somit ist es extrem unwahrscheinlich, dass seine Kenntnisse über die Homöopathie aus den Recherchen zum »Buch der Liebe« stammen. Aus den Polizeiakten von seiner Verhaftung im Juli 1869 geht hervor, dass Karl May unter den Nachwirkungen einer »Trippererkrankung« gelitten hat. Die Hypothese Sudhoffs, dass May sich zur Therapie einer damaligen Hausapotheke bedient haben könnte und dass möglicherweise darin sein lebenslanges Interesse an der Homöopathie mit begründet liegt, ist gut nachvollziehbar.31 Sie kann zwar nicht die Ursprünge seiner Homöopathiekenntnisse erklären, aber zumindest plausibel machen, warum sich Karl May in seinen Werken mit der Heilweise beschäftigte. Eine gängige Hypothese bezüglich der möglichen Quellen beruht auf der Annahme, dass Karl May eine kurze Zeit bei Willmar Schwabe als Untermieter in Leipzig, am Thomaskirchhof 12, gelebt hat, also in dem Haus, in dem Schwabe seine »Central-Apotheke« besaß.32 Diese Annahme weist jedoch einige Ungereimtheiten auf. So hat sich 1865 die Nummerierung der Häuser am Thomaskirchhof geändert; im Adressbuch aus diesem Jahr wird die Anschrift der »homöopathischen Dispensieranstalt« von Willmar Schwabe mit Thomaskirchhof 6 angegeben.33 In diesem Adressbuch ist Karl May weder unter seinem eigentlichen Namen noch unter seinen damals benutzten Pseudonymen (Hermes oder Hermin) zu finden. Dies wird 29 30 31 32 33

May: Kurdistan (1892), S. 205. Pannek (2015); Koesters (2006); Langer (1989). Sudhoff (2006). Hallmann/Heermann (1992), S. 130–133. Vgl. Leipziger Adreß-Buch. Alphabetisches Verzeichnis der Einwohner mit Angabe ihres Standes und ihrer Wohnungen (1865), Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden: http://digital.slub-dresden.de/id359480586-18650000 (letzter Zugriff: 13.10.2017).

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verständlich, wenn man die Ereignisse in Leipzig in eine zeitliche Abfolge bringt. Danach ist Karl May am 20. März 1865 in eine Wohnung im Thomaskirchhof 12, 3. Etage, eingezogen.34 Noch am gleichen Tag entwendete er einen Biberpelz aus einem Leipziger Pelzgeschäft, versteckte sich, ohne in das Zimmer am Thomaskirchhof zurückzukehren, und wurde bereits am 26. März 1865 verhaftet.35 Es ist extrem unwahrscheinlich, dass der »Untermieter für einen Tag« in das Adressbuch der Stadt aufgenommen worden ist. Auch ein Austausch über die Grundlagen der Homöopathie mit Herrn Schwabe war während dieses sehr kurzen Aufenthalts schlicht nicht möglich. Eine weitere Hypothese ist, dass Karl May seine Kenntnisse über und Einstellungen zur Homöopathie aus der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gartenlaube bezogen hat, da er in diesem Journal Manuskripte veröffentlicht habe. Jedoch hat der Autor nie in dieser Zeitschrift publiziert. Am ehesten ist die Hypothese auf einen Irrtum zurückzuführen. Karl May veröffentlichte 1888 unter dem Titel »Schloss Wildauen. Criminal-Roman« einen Nachdruck der Geschichte »Auf der See gefangen« in der Deutschen Gartenlaube, vormals Berliner Gartenlaube. Diese kleine, von 1884 bis 1896 existierende Zeitschrift wurde wohl mit der ungleich bekannteren Zeitschrift Gartenlaube, die von 1853 bis 1944 erschien, verwechselt. Im Gegensatz zur Gartenlaube, die weitverbreitet war (z. B. Auflage 1864: 180.000 Exemplare) und einen signifikanten Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung hatte, war die Deutsche Gartenlaube unbedeutend. Die Gartenlaube war bis zum Ausscheiden ihres Chefredakteurs Carl Ernst Bock (1809–1874) in dessen Todesjahr eher homöopathiefeindlich eingestellt; unter Bocks Nachfolgern spielte Hahnemanns Heilweise in der Zeitschrift quasi keine Rolle mehr36, so dass ein Einfluss der Gartenlaube auf Karl Mays Einstellung zur Homöopathie sehr unwahrscheinlich ist. Bisher noch nicht diskutiert wurde die Möglichkeit, dass Karl May über seine Mutter, die als Hebamme tätig war37, mit der Homöopathie in Kontakt kam. Die Mutter hatte offenbar daheim über ihren Beruf gesprochen und damit impliziten Einfluss auf Karl Mays Werk, z. B. bei der Wahl der Namen seiner Figuren, genommen.38 Hebammen haben früher wie heute regelmäßig homöopathische Mittel eingesetzt; so wurde 1836 in Bayern (vergeblich) versucht, die Praxis der homöopathischen Medikation durch Hebammen zu legalisieren.39 Allerdings erwähnt May in seiner Autobiographie im Kontext seiner Kindheit die Homöopathie nicht explizit, so dass diese Hypothese weder sicher falsifiziert noch belegt werden kann.40 Selbst wenn Karl May hier bereits erstmals von der Homöopathie gehört hat, so setzt seine später gezeigte Sachkenntnis eine weitere Beschäftigung mit dieser Therapie voraus. 34 35 36 37 38 39 40

Heermann (1990). Hallmann/Heermann (1992), S. 130–133. Mildenberger (2012), S. 39–67. Schweikert (2006), S. 66. Schweikert (2006), S. 62–73. Stolberg (1999), S. 30. May (1910).

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Eine weitere mögliche Alternative ist, dass Karl May in seiner Bibliothek eine schriftliche Quelle zur Homöopathie vorliegen hatte. Weder hat Lucius bei seinen Recherchen solche Literatur finden können41 noch sind derartige Schriften in dem elektronischen Bücherverzeichnis der Bibliothek aufzufinden42. Ein persönlicher Besuch der Bibliothek in der Villa Shatterhand in Radebeul und eine Recherche von Hans Grunert führten zu der mir am plausibelsten klingenden Hypothese. In der Bibliothek findet sich eine Ausgabe von »Pierer’s Universal-Lexikon« (Band 8, Altenburg 1859)43 mit deutlichen Gebrauchsspuren. Zudem ist bekannt, dass Karl May dieses Lexikon häufig für Recherchen verwendet hat.44 Auf den Seiten 513–515 findet sich eine detaillierte Beschreibung der Homöopathie, inklusive einer Schilderung der Grundlagen, der Wirkhypothese und auch der Potenzierung. Im Gegensatz zu den Schriften von Willmar Schwabe über die Homöopathie, der sich zur Potenzierung nicht äußert45, wird hier ausdrücklich die 30. Potenz erwähnt, was die Nennung der 30. Potenz im »Senitza«-Text erklären kann. Das Lexikon ist deutlich vor den ersten Erwähnungen der Homöopathie in Karl Mays Werken erschienen, so dass sowohl zeitlich als auch inhaltlich dieser Text die wahrscheinlichste, zumindest aber die wichtigste Quelle für Karl Mays Homöopathiebeschreibungen sein dürfte. Ein möglicher Hinweis auf weitere Quellen ist das Homöopathiezitat in dem 1897 erschienenen Roman »›Weihnacht!‹«: »[…] Similia similibus curantur, Aehnliches mit Aehnlichem, Gleiches mit Gleichem, Hunger mit Hunger!«46 Auffälligerweise wird dabei das Motto der Homöopathie falsch zitiert, nicht »similia similibus curentur« (soll geheilt werden), sondern »curantur« (wird geheilt). Wie von Lucius beschrieben, lässt sich dieses falsche Zitat auch auf einer Preisliste von Willmar Schwabe finden.47 Der Apotheker Schwabe eröffnete in Leipzig eine »Homöopathische Central-Officin«, in der er homöopathische Mittel herstellte, sowie eine homöopathische Buchhandlung und später eine Buchdruckerei. In der Folge war er als Versandhändler tätig. 1872 publizierte er die »Pharmacopoea Homoeopathica Polyglotta«, die zum weltweiten Standard für die Herstellung homöopathischer Arzneimittel wurde. Wie erwähnt, ist es unwahrscheinlich, dass Karl May seine homöopathischen Kenntnisse durch direkten Kontakt mit Schwabe erhielt, aber die räumliche Nähe und der hohe Verbreitungsgrad von Schwabes Publikationen legen nahe, dass May diese Schriften nicht unbekannt waren. In seinem »Vademecum« beschreibt Schwabe zunächst die Grundlagen der Homöopathie und 41 Lucius (1999). 42 Das Bücherverzeichnis wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Hans Grunert, ehemaliger Kustos des Karl-May-Museums Radebeul. 43 Pierer (1859), S. 513–515. 44 Schweikert (2006), S. 62–73. 45 Schwabe (1875). 46 May (1897), S. 93. 47 Lucius (1999).

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setzt sich mit den Anfeindungen durch die Allopathie auseinander. Bemerkenswerterweise wird unter den Fallbeispielen eine erfolgreiche Therapie der Sensibilitätsparese einer 52-jährigen Frau mit Ignatia beschrieben, die einige Parallelen zu dem »Senitza«-Fall aufweist; nach Verlust ihres Sohnes (Schock) litt sie unter starkem Herzklopfen, Angst, Schlaflosigkeit, Gedankenverwirrung, Neigung zum Weinen und Unempfindlichkeit gegen äußere Eindrücke. Unter Ignatia verschwanden Angst und Herzklopfen.48 Die Übernahme der fehlerhaften Schreibweise und die Parallelen zum Fallbericht von Schwabe weisen darauf hin, dass May vielleicht neben dem Pierer-Lexikon auch die Broschüre von Schwabe kannte; der Inhalt dieser Broschüre allein ist jedoch nicht ausreichend, um die Kenntnisse Mays zu erklären. So hat Kara Ben Nemsi z. B. »fünf Körnchen von der dreißigsten Potenz«49 versucht. In den Schriften von Willmar Schwabe, die er den Apotheken beilegte, waren jedoch keine Potenzierungen angegeben. Einschränkend muss erwähnt werden, dass Karl May seine Bibliothek erst nach dem kommerziellen Erfolg seiner Literatur einrichten konnte. Da ein Teil seiner Texte zur Homöopathie bereits deutlich früher entstanden ist, hat er nicht den ganzen Bestand zur Verfügung gehabt, sondern öffentliche und Leihbibliotheken nutzen müssen. »Pierer’s Universal-Lexikon« ist jedoch auch in derartigen Bibliotheken geführt worden und diente nachweislich als Quelle für andere May-Texte. Karl Mays Einstellung zur Homöopathie Die Beschäftigung Karl Mays mit der Homöopathie lässt sich in drei Phasen unterteilen: die Periode seiner frühen Reiseromane und der sogenannten Kolportageromane, die Periode der klassischen Reiseromane sowie die Periode der späten Reiseromane und des Alterswerks. Die Periode der frühen Reiseromane (1870–1890) Wenn man davon ausgeht, dass der homöopathisch-medizinische Teil im »Buch der Liebe« eine Kopie der präexistenten Fremdwerke und keine eigene Leistung war, finden sich in »Durch Wüste und Harem«, »Waldröschen« und im »Verlorenen Sohn« die ersten von Karl May eigenständig verfassten Homöopathiezitate. Von diesen Texten gehört »Durch Wüste und Harem« zu den Reiseromanen, die anderen Publikationen zu den Fortsetzungs- bzw. Kolportageromanen.50

48 Schwabe (1875), S. 103 f. 49 May: Wüste (1892), S. 85. 50 Vgl. Online-Textarchiv der Karl-May-Gesellschaft: http://www.karl-may-gesellschaft.de/ kmg/primlit/indexw.php (letzter Zugriff: 13.10.2017).

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Im »Waldröschen« wird die Homöopathie im folgenden Kontext erwähnt: Auf dem alten Polsterstuhle seines Arbeitszimmers saß der alte Hauptmann von Rodenstein und starrte verdrießlich vor sich nieder. Seine Beine steckten bis zu den Knieen herauf in dicken, unförmlichen Filzstiefeln, über welche noch eine wollene Pferdedecke doppelt gebreitet war. Vor ihm stand sein treuer Ludewig, ebenso finster und rathlos auf den Boden niederblickend. »Ja,« sagte dieser Letztere, »ich weiß auch kein Mittel, Herr Hauptmann.« »Da bist Du grad ebenso gescheidt wie die Aerzte, oder ebenso dumm. Die Allopathen haben mich hingerichtet; die Hydropathen haben gar den Zapfen hinausgestoßen, und die Homöopathie bringt mich nun gar noch um den Verstand. Da soll ich gegen den acuten Rheumatismus nehmen Aconit, Arnica, Belladonna, Loryonia, Chinin, Chamomilla, Mercur, Nux Vomica, Pulsatilla, gegen den chronischen Arsenic, Sulphur, Rhododendron, Phytolaca und Stillingia, gegen den herumziehenden Arnica, Pulsatilla, Belladonna, Moschus, Sabina, Sulphur, Kalmia und Kapsica. Nun sage mir ein Mensch, was für ein Kräuter-, Pulver-, und Pillensack aus mir würde, wenn ich das Zeug alles verschlingen soll. Hol’s der Teufel. Wenn nur wieder einmal eine so famos gute Nachricht käme wie damals von unserem Sternau. Ich bin vor Freude aufgesprungen und war plötzlich so gesund wie ein Fisch im Wasser. Aber jetzt, da – – ah, hatte es nicht geklopft, Ludewig?«51

In diesem Text beklagt der Hauptmann zunächst generell die medizinische Versorgung seiner Beschwerden. Die massiv überzeichnende negative Beurteilung der konventionellen Therapie (»die Allopathen haben mich hingerichtet«) und das Wortspiel bei der Erwähnung der Hydropathie (Therapie durch Anwendung von Wasser, z. B. als Bad, Waschung, Guss oder durch Dämpfe; diese Behandlungsmethode war zu Mays Zeiten ungleich populärer als heute52) deuten auf den ironisierenden Charakter dieser Szene hin. Auch die Homöopathie wird hier sehr übertrieben dargestellt; kein ausgebildeter Homöopath würde derart viele Mittel verschreiben, gleich ob miteinander oder nacheinander. Die Auflistung der Mittel ist willkürlich, und einige Medikamente existieren gar nicht (Loryonia und Stillingia sind Phantasienamen). Im Kontext mit der allgemeinen Kritik an den Gesundheitsversorgern ist die Schilderung der Homöopathie eher ein Seitenhieb auf schlecht ausgebildete Therapeuten als eine Kritik an der Methode an sich. Jedoch wird betont, dass sich die Homöopathie nicht nach Diagnosen, sondern nach Zuständen (akut, chronisch, »herumziehend«) richtet sowie auch die psychische Ebene bei der Symptomaufnahme mit berücksichtigt und auf diese einwirken will (»bringt mich […] noch um den Verstand«), was für ein prinzipielles Verständnis der Homöopathie spricht. Auch im »Verlorenen Sohn« wird das Konzept der Homöopathie ironisierend zitiert: »›[…] Ja, Du gehst ganz nach der Lehre von Samuel Hahnemann: die Füsse warm und den Kopf kalt, da wird man wie Methusalem so alt!‹«53 Dabei wird diese Äußerung von der Tochter eines Obersts in einem familiären Gespräch gemacht und hat einen leicht spöttischen Charakter gegen51 May (1882–1884), S. 2598. 52 Jütte (1996), S. 115 ff. 53 May (1884–1886), S. 2186.

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über dem Vater, nicht gegenüber der Homöopathie; keinesfalls kann sie im Kontext als Kritik an Hahnemanns Lehre gewertet werden. Eher reflektiert sie den Kenntnisstand »höherer Töchter« über die Homöopathie. Verbreitung der Homöopathie in Deutschland Exakte Zahlen zur Verbreitung und Akzeptanz der Homöopathie in der deutschen Bevölkerung zum Ende des 19. Jahrhunderts existieren nicht. Die steigende Mitgliederzahl der homöopathischen Laienvereine kann aber einen Hinweis auf die Popularität der Methode geben.54 So wurden bei der (missglückten) Organisation eines »Verbands süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde« 45.000 in dieser Region in verschiedenen Vereinen organisierte Anhänger der Homöopathie erfasst.55 Die Zusammensetzung der homöopathischen Patientenklientel in Deutschland um 1880 ist bisher nicht systematisch evaluiert worden. Josef M. Schmidt schätzt den Anteil von vermögenden, gebildeten Angehörigen der städtischen Mittel- und Oberschicht zu dieser Zeit als hoch ein.56 Michael Stolberg verweist jedoch in seiner Analyse der Situation in Bayern um 1850 auf ein mögliches Bias bezüglich einer Überschätzung des Oberschichtanteils, das die Auswertung der zur Verfügung stehenden Quellen, z. B. Unterschriftenlisten zur Aufhebung des Homöopathieverbotes, mit sich bringt. Er kommt zu dem Schluss, dass »schon die sozioökonomischen Rahmenbedingungen [nahelegen], daß Kranke aus den unteren Mittelschichten und aus den Unterschichten selbst in den Praxen ärztlicher Homöopathen in vielen Fällen zahlenmäßig überwogen haben müssen«.57 Die Analyse der Herkunft von Patienten Friedrich Paul von Bönninghausens, der von 1864 bis 1910 als Homöopath in Münster/Westfalen praktizierte, ergab, dass die Anzahl der Unterschichtpatienten über die Jahre rückläufig war. In dem Zeitraum von 1879 bis 1882, der am ehesten der Zeit entspricht, in der Karl May die obengenannten Werke verfasste, gehörten 23,6  Prozent der Oberschicht, 43,8  Prozent der Mittelund 32,6 Prozent der Unterschicht an. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass lediglich für 15 Prozent der Patienten Angaben zur Schichtzugehörigkeit existieren.58 Zudem ist die Sozialstruktur der damaligen Provinzialhauptstadt Münster nur eingeschränkt auf Gesamt-Deutschland übertragbar. Gleichwohl zeigt die Analyse, dass Bönninghausen, der mangels systematischer Analysen als pars pro toto für die Homöopathen seiner Zeit angeführt wird, von Betroffenen aller Gesellschaftsschichten konsultiert wurde. Im Gegensatz zu seinem Vater, der um 1864 einen großen Anteil von Patienten aus Landwirtschaft und Industrie behandelte, war er eher ein Ansprechpartner für Angehörige der 54 55 56 57 58

Walther (2017), S. 79 ff. Baschin (2012), S. 211–224. Josef M. Schmidt (2007). Stolberg (1999), S. 84. Baschin (2014), S. 129–136.

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Mittel- und Oberschicht.59 Zusammenfassend scheint zur Zeit Karl Mays die Mittel- und Oberschicht einen signifikanten Anteil der Klientel von Homöopathen ausgemacht zu haben, aber auch die Unterschicht hatte Kontakt mit und somit Kenntnisse von der Homöopathie. Dies ist für May von Bedeutung, da die meisten Leser der Kolportageromane überwiegend frisch alphabetisierte Angehörige der Unterschicht, z. B. Fabrikarbeiter und Dienstboten, waren.60 Ein weiterer indirekter Parameter für das Angebot von homöopathischer Therapie und somit für die Nachfrage bzw. den Bekanntheitsgrad dieser Methode ist die Anzahl der homöopathischen Therapeuten.61 Die genaue Anzahl der Homöopathen im 19. Jahrhundert ist jedoch nicht verlässlich zu ermitteln. Beschränkt man sich auf die im Zentralverein homöopathischer Ärzte registrierten Therapeuten, gab es 1860 264 Mitglieder; Angaben für den Zeitraum, zu dem Karl May literarisch tätig war (1875–1910), liegen nicht vor. Eine Analyse zur Entwicklung der Zahl homöopathischer Ärzte von 1830 bis heute kam zu dem Schluss, dass der Prozentanteil der Homöopathen an der gesamten Ärzteschaft stabil bei ca. einem Prozent liegt. Allerdings fand eine Untersuchung der lokalen Verhältnisse in Bayern heraus, dass im genannten Zeitfenster die Zahl der praktizierenden Homöopathen, die als Parameter für das Angebot gemäß dieser Behandlungsform gesehen werden kann, zurückging. So betrug z. B. 1875 in Bayern die Zahl der nicht approbierten Homöopathen 106 von insgesamt 1156 »Kurpfuschern«, also nicht konventionell medizinisch arbeitenden Ärzten; die Zahl der homöopathischen Ärzte sank im Zeitraum von 1854 bis 1875 von 50 auf 36.62 Inwieweit diese Ergebnisse repräsentativ für Gesamt-Deutschland sind, lässt sich anhand der vorliegenden Quellen nicht eruieren. Somit ist der Begriff »Homöopathie« zur Zeit Karl Mays offensichtlich verbreitet gewesen, die Methode wurde jedoch eher von einer Minderheit der Bevölkerung in Anspruch genommen. Homöopathie in der Belletristik des ausgehenden 19. Jahrhunderts In der »Senitza«-Episode in »Durch Wüste und Harem« wird die Homöopathie fachlich korrekt angewendet, und die Darstellung der Untersuchung und Behandlung nimmt einen großen Raum ein. Im gleichen Text beschreibt May, wie schon erwähnt, dass ihm »unglücklicherweise« eine halb gefüllte homöopathische Apotheke in die Hände geraten sei; er hatte hier und da bei einem Fremden oder Bekannten fünf Körnchen von der dreißigsten Potenz versucht, dann während der Nilfahrt meinen Schiffern gegen alle möglichen eingebildeten Leiden eine Messerspitze Milchzucker gegeben und war mit ungeheurer

59 60 61 62

Baschin (2014), S. 129–136. Graf (1999). Schlich/Schüppel (1996). Stolberg (1999), S. 59, 67.

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Schnelligkeit in den Ruf eines Arztes gekommen, der mit dem Scheidan im Bunde stehe, weil er mit drei Körnchen Durrhahirse Tote lebendig machen könne.63

Wenn man das »unglücklicherweise« am Anfang ggf. auch noch auf den Zustand der nur halben Füllung beziehen kann, so ist der zweite Teil doch eindeutig ironisch gemeint. Curt Koesters sprach von einem Bruch im Verhältnis zur Homöopathie im Text64; man kann diese Anmerkungen jedoch auch als Ausdruck einer Ambivalenz im Umgang mit Hahnemanns Heilweise sehen, die auch für die heutige Öffentlichkeit noch typisch ist. Einerseits wird die Wirksamkeit und Verträglichkeit dieser Methode anerkannt, andererseits wird eine allgemeinverständliche schlüssige Erklärung des Wirkmechanismus vermisst. So demonstrierte eine in Deutschland durchgeführte Forsa-Umfrage des Bundesverbands Pharmazeutische Industrie (BPI) vom Mai 2017, dass mehr als 70 Prozent der Befragten die Homöopathie als wirksam und sicher ansahen65, andererseits formieren sich vermehrt homöopathiekritische Organisationen (z. B. »Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e. V.«, »Informationsnetzwerk Homöopathie«), die in den Medien zunehmende Beachtung finden. Die Erwähnung der Homöopathie in der Literatur ist zur Zeit Karl Mays keine Besonderheit und findet sich u. a. bei Freytag, Fontane und Tschechow. Robert Jütte beschreibt, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Homöopathie in der Belletristik häufig karikierend dargestellt wird.66 Oft wird dabei der Begriff »Homöopathie« ironisierend, aber nicht immer korrekt verwendet. So schreibt Heine in seinen Memoiren (1854/55 verfasst, 1884 aus dem Nachlass publiziert): »Das Prinzip der Homöopathie, wo das Weib uns heilet von dem Weibe, ist vielleicht das probateste.«67 Solche Zitate sind ein indirekter Hinweis auf den Bekanntheitsgrad dieser Methode in der Öffentlichkeit; sie zeigen auch, dass zwar der Begriff bekannt, das Verständnis der Homöopathie jedoch häufig rudimentär war. Sie wurde als Teil des täglichen Lebens betrachtet.68 Auch Theodor Fontane hat in seinen Werken »Unwiederbringlich« (1892) und »Der Stechlin« (1899), die somit ungefähr zur selben Zeit wie diejenigen Karl Mays entstanden sind, die Homöopathie thematisiert. Eine detaillierte Analyse der Homöopathiebezüge in den Texten Fontanes erfolgte durch Sauerbeck.69 Er demonstrierte, dass sie ein weiterer Beleg dafür sind, dass im 19. Jahrhundert die Homöopathie populär, aber umstritten gewesen ist. Somit galt die Homöopathie in der Dichtung offensichtlich als Teil des praktischen Lebens. Sie wurde ganz überwiegend nicht theoretisch diskutiert, sondern es wurde von ihrer Anwendung berichtet. Wie bei Karl May in den 63 May: Wüste (1892), S. 85. 64 Koesters (2006), S. 6–11. 65 Vgl. Deutsches Ärzteblatt online, News, 9. Juni 2017, Deutsche vertrauen der Homöopathie: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76260/Deutsche-vertrauen-der-Homoeo pathie (letzter Zugriff: 13.10.2017). 66 Jütte (2005). 67 Heine (2011), S. 59. 68 Sauerbeck (1989). 69 Sauerbeck (2004).

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Kolportage- und frühen Reiseromanen wurde die Homöopathie überwiegend in scherzhaften Zusammenhängen zitiert; dies könnte darin begründet sein, dass die Theorie dieser Therapie mit rational-naturwissenschaftlichen Methoden nicht vollständig erklärbar ist. Aus diesem Grund wurde sie mit einem gewissen Misstrauen betrachtet.70 Wie Karl May haben Tschechow oder Fontane jedoch zwischen Verfahren und Anwendern differenziert.71 Karl Mays Schilderung der Homöopathie unterscheidet sich von den anderen Literaturstellen durch die zugrundeliegende Sachkenntnis, die sowohl beim »Waldröschen« als auch beim »Senitza«-Text deutlich zutage tritt. Die Periode der klassischen Reiseromane (1890–1898) »Durch Wüste und Harem« ist initial schon vor der Periode der Reiseromane erschienen, wird jedoch 1891 erstmalig in Buchfassung als Reiseroman publiziert und hat den bereits oben beschriebenen Bezug zur Homöopathie. In den anderen bis 1898 erschienenen Werken ließ sich bei einer Volltextsuche (»Homöopathie« und »Hahnemann«) in der digitalen Bibliothek der KarlMay-Gesellschaft kein weiterer Hinweis auf die Homöopathie finden. Konsequenterweise erwähnt Karl May explizit, dass er die homöopathische Reiseapotheke nicht mehr besitzt.72 Der Begriff »Homöopathie« wird zwar noch einmal in »Winnetou III« (1893) angeführt, jedoch eindeutig in einem nicht medizinischen, sondern allgemein-sprachlichen Kontext. Sie saß auf einem Sofa, sich mit der Hand auf eine Landkarte stützend, welche über die Seitenlehne herunter hing; auf ihrem Schoße lag eine Guitarre, neben ihr eine angefangene Stickerei, und vor ihr stand eine Staffelei, nota bene zwischen ihr und dem Fenster, so daß von Licht keine Rede war, und auf dem aufgeklebten weißen Bogen bemerkte ich zwei angefangene Skizzen; die eine sollte, wenn ich nicht irre, den Kopf eines Katers oder einer alten Frau vorstellen, der die Morgenhaube noch fehlte; und die andere war jedenfalls eine zoologische, nur konnte ich den Gegenstand nicht so recht klassifizieren. Entweder sollte diese Zeichnung einen Pottwal in homöopathischer Verdünnung oder einen Bandwurm in hydrooxygengasmikroskopischer Verdickung darstellen.73

Offensichtlich hat Karl May in dieser Periode das Interesse an der Homöopathie verloren; seine weiterhin regelmäßigen Episoden als Behandler sind nun ausschließlich konventionell-medizinischer Natur. Der explizit erwähnte Verlust der Reiseapotheke steht sinnbildlich für diese Zeit.

70 71 72 73

Sauerbeck (2004). Sauerbeck (2004); Sauerbeck (2010). May: Kurdistan (1892), S. 205. May (1893), S. 292.

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Die Periode der späten Reiseromane und des Alterswerks (1898–1912) In der Karl-May-Forschung werden die klassischen von den späten Reiseerzählungen (ab ca. 1898) unterschieden.74 Zu Letzteren gehören »Old Surehand III«, »Im Reiche des silbernen Löwen I/II« und »›Weihnacht!‹«. »›Weihnacht!‹« wird als beste Erzählung innerhalb von Karl Mays Reiseromanen angesehen. Das Werk kann als wesentlicher Schritt beim Übergang zu den symbolischen Romanen betrachtet werden. Bezüglich der Form gilt dieser Band als »Gipfel« der Mayschen »Erzählkunst in der Reihe seiner speziellen Abenteuerbücher«.75 Der Roman, dessen Inhalt weniger eine Abenteuererzählung als vielmehr eine stringent konzipierte Erlösungsgeschichte ist, stellt eine Zäsur im Werk Karl Mays dar.76 Daher ist es kaum ein Zufall, dass in diesem Band erstmals wieder von der Homöopathie die Rede ist, wenn auch in ironisierender Form. Der Freund des Erzählers, Carpio, hat sich am Vorabend mit einem dem Wirt gestohlenen Kuchen überessen und deshalb am nächsten Tag keinen Hunger mehr. Um nicht vor dem Wirt zugeben zu müssen, dass er den Kuchen gestohlen hat, gibt er vor, den Hunger durch Hungern wiederherstellen zu müssen: »Er erklärte, seinen Heißhunger nur durch die allerstrengste Diät wieder herstellen zu können: Similia similibus curantur, Aehnliches mit Aehnlichem, Gleiches mit Gleichem, Hunger mit Hunger!«77 Erstens handelt es sich hierbei um keine Therapie, sondern um eine Banalität: Man isst nicht, wenn man keinen Hunger hat; und zweitens wäre eine derartige Behandlung bestenfalls Isopathie, keine Homöopathie. Möglicherweise ist das Motto der Homöopathie in diesem Zusammenhang absichtlich falsch zitiert worden (siehe die obigen Ausführungen), da es sich nicht um ein homöopathisches Konzept handelte. In diesem Fall hätte Karl May allerdings sehr genaue Vorstellungen von der Homöopathie besessen und einen sehr subtilen Humor an den Tag gelegt. In »›Weihnacht!‹« und dem zweiten Teil der Tetralogie »Im Reiche des silbernen Löwen« (Bände III und IV) entwarf Karl May ein individualisierendes Verständnis von Medizin und Heilkunde, das dem homöopathischen Grundgedanken, aber auch dem aktuellen Bedürfnis nach ganzheitlicher, individueller medizinischer Versorgung sehr nahekommt. Besonders in Band III von »Im Reiche des silbernen Löwen« spielt die Medizin eine wesentliche Rolle. Hier finden sich einige zentrale Kernsätze für Mays damaliges Medizinverständnis, das sich deutlich von der Omnipotenz des Arztes Kara Ben Nemsi bzw. Old Shatterhand in früheren Werken unterscheidet. So schildert ein orientalischer Stammesführer dem als westlicher Arzt geltenden Kara Ben Nemsi seine Vorstellungen von Medizin und Heilung. Im Laufe der Geschichte werden durch dieses Konzept sowohl Kara Ben Nemsi 74 75 76 77

Roxin (1974). Stolte (1986), S. 9. Wohlgschaft (1994), S. 295–305. May (1897), S. 93.

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als auch sein Freund und Begleiter Hadschi Halef Omar geheilt, was für die Wertschätzung dieses Therapieansatzes spricht: »Du bist der Hekim (Arzt); ich aber bin der Laie. Wie könnte es mir beikommen, über dich zu lächeln!« »Und doch! Denn was ich dir sage, wird nicht die Ansicht allein des Hekim sein. Ich habe es mit einem schwerkranken Menschen zu thun. Wer und was ist das Wesen dieses Menschen? In welcher Beziehung stehen seine Teile zu einander? Das muß ich wissen, wenn ich ihn richtig behandeln soll. […]« […] »[…] Bin ich ein guter Hekim, so habe ich mein Augenmerk nicht allein auf den Körper, sondern auch auf die Seele zu richten. Ich muß aus allen Kräften und mit allen Mitteln dahin wirken, daß sie sich nicht gänzlich vom Körper loslöse. […]« […] »[…] Aber die Seele des Leidenden darf nicht bloß können, sondern sie muß auch wollen. Es war ein wunderbar glücklicher Gedanke von dir, zu den Haddedihn zu schicken, daß Kara Ben Halef kommen solle. Und die vortreffliche Wirkung wird dadurch verstärkt, daß er seine Mutter mitgebracht hat. Der Anblick dieser beiden Lieben hat die Seele gezwungen, mit dem Körper verbunden bleiben zu wollen. Denn glaube mir, der Leib hat keine Macht, die Seele zu halten, wenn sie sich nicht halten lassen will oder halten lassen darf! Gelingt es dem Arzte, dieses seelische Wollen zur Energie zu steigern, so kann er doppelt frohe Hoffnung hegen. […]«78

An anderer Stelle im selben Werk: Mit diesen Worten hatte er das Kennzeichen des Petechialtyphus angegeben. Daß gewisse Beobachtungen, welche ich seit gestern an ihm gemacht hatte, nicht genau mit den Symptomen dieser Krankheit übereinstimmten, konnte mich nicht beirren. Jedes Leiden pflegt nebenbei seine individuellen Erscheinungen zu haben.79

Im selben Band wird Harfenspiel zur Unterstützung der Gesundung eingesetzt. Kara Ben Nemsi fragt sich: »Hätte wohl ein europäischer Arzt erlaubt, in der Nähe so schwerkranker Personen Musik zu machen? Wahrscheinlich nicht!« Bezüglich des Effekts der Musik urteilt er: »Daher kam es, daß diese Klänge die Seele unmittelbar berührten; sie schienen zur Atmosphäre dieses Hauses zu gehören und einen die Lebenskräfte hebenden, wohlthuenden Einfluß auszuüben.«80 Neben der Erwähnung der therapeutischen Wirkung von Musik fällt auch die Verwendung des Begriffs »Lebenskraft« auf, der für die Homöopathie eine zentrale Bedeutung hat. So schreibt Samuel Hahnemann in den Paragraphen 9–11 des »Organon«, seines Haupt- und Grundlagenwerks der Homöopathie: Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autokratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, 78 May (1902), S. 320, 326. 79 May (1902), S. 153 f. 80 May (1902), S. 268.

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so daß unser inwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unsers Daseyns bedienen kann. […] Der materielle Organism, ohne Lebenskraft gedacht, ist keiner Empfindung, keiner Thätigkeit, keiner Selbsterhaltung fähig; [Anmerkung: Er ist todt und, nun bloß der Macht der physischen Außenwelt unterworfen, fault er und wird wieder in seine chemischen Bestandtheile aufgelöst.] nur das immaterielle, den materiellen Organism im gesunden und kranken Zustande belebende Wesen (das Lebensprincip, die Lebenskraft) verleiht ihm alle Empfindung und bewirkt seine Lebensverrichtungen. […] Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluß eines krankmachenden Agens verstimmt […].81

Bereits Hufeland definierte ein »Lebenskraft«-Konzept für Gesundheit und Krankheit82; der Begriff war somit, wenn auch nicht exakt im Sinne Hahnemanns, im Sprachgebrauch durchaus etabliert. Die Annahme besonderer Lebenskräfte war seit Mitte des 18.  Jahrhunderts weitverbreitet.83 Daher muss die Verwendung des Begriffs nicht zwingend auf das »Organon« hinweisen. Erstaunlicherweise greift Karl May jedoch auch auf das Bild der Fäulnis und Verwesung des Organismus durch Krankheit zurück: »Diese Krankheit löst gewisse feine Körperteilchen auf, ohne sie aber ausscheiden zu können. Der Verwesungsprozeß beginnt bei lebendem Leibe.«84 Ob es lediglich Zufall ist, dass Karl May Hahnemanns Vorstellung aufgegriffen hat, oder ob er das »Organon« derart gut kannte, ist retrospektiv nicht zu entscheiden. Karl May und Friedrich Eduard Bilz Ein möglicher Grund für die beschriebene Veränderung in Karl Mays medizinischem Weltbild in seinem Spätwerk ist die Bekanntschaft mit Friedrich Eduard Bilz (1842–1922). Bilz war gelernter Weber. Aufgrund seiner eigenen gesundheitlichen Probleme beschäftigte er sich intensiv mit der Naturheilkunde, führte Studien und Selbstversuche durch. Seine Lehre beruhte auf einer Art Reiztherapie, basierend auf Wasseranwendungen, Diät, Luft, Licht, Massage, Heilgymnastik, Atemgymnastik, Elektrizität sowie der Vermeidung von Medikamenten.85 Dabei forderte er auch soziale Veränderungen, z. B. einen Arbeitsplatz mit ausreichender Licht- und Luftzufuhr, da der »Mensch das Produkt seiner Verhältnisse« sei86, und gab dezidierte Anweisungen zur Gesundheitsförderung und Prävention. Sein Buch »Das neue Naturheilverfahren« wurde ein führendes Werk zu diesem Thema.87 Hierin bezeichnet Bilz 81 82 83 84 85 86 87

Hahnemann (1992), S. 69–71. Hervorhebung im Original. Eckart (2011), S. 25; Rothschuh (1978), S. 330–336. Wischner (2000), S. 60. May (1902), S. 325. Bilz (1902), S. 1070. Bilz (1902), S. 1072. Bilz (1902), S. 1072.

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seine »natürliche, arzneilose Heilweise« als die »allein vernünftige, naturgemäße Heilweise«.88 Die ganzheitliche Behandlung ist ein wesentlicher Aspekt seiner Naturheilkunde: Gleichwie der Gärtner den Baum oder Blumenstrauch, in welchem er welke Blätter, kranke (dürrwerdende) Zweige wahrnimmt, nicht diese einzelnen Blätter oder Zweige, sondern den ganzen Strauch in Behandlung nimmt, ihm besseres Land, mehr oder weniger Feuchtigkeit, Wärme, Luft, Sonnenlicht u. s. w. giebt, gleichdem muss auch der kranke Mensch behandelt werden und darf man bei ihm nicht immer nur an dem einzelnen kranken Gliede oder Organe herumflicken wollen.89

Auch die Individualisierung und die »Lebenskraft«, Kernaspekte der Homöopathie, werden angesprochen, wobei, wie oben erwähnt, der letztere Terminus im ausgehenden 19. Jahrhundert gängig war, aber mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wurde90: »[…] deshalb ist es bei einem Naturarzt nötig, dass er gut zu individualisieren versteht, d. h. abwägen, wie stark der Krankheitsgrad, wie stark die organische Kraft und wie der Krankheitsverlauf u. s. w. ist, überhaupt wie und welcher Art die Krankheit und die Lebenskraft des Patienten ist.«91 Krankheiten heilt »nicht der Arzt, nicht der Sympathie-Verordner, auch nicht der Naturarzt […], sondern die Heilung besorgt lediglich und allein die dir innewohnende Lebenskraft, also deine Natur«.92 Die Homöopathie habe besonders bei Darmfunktionsstörungen oder Vergiftungen ihre Berechtigung, da sie »unter Umständen dem Körper nicht so viel Schaden als Nutzen bringen könne«.93 Zudem sieht Bilz Parallelen zwischen Hahnemann und der Naturmedizin, besonders auf dem Gebiet der Diät, Bewegung, Luft- und Wasseranwendung, die auch von Hahnemann empfohlen worden seien.94 Er hält die Homöopathie für weniger schädlich als die Allopathie und würde »eher zu einem homöopathischen als zu einem allopathischen Arzt raten, falls kein Naturarzt in nächster Nähe ist«.95 Die konventionelle Medizin lehnt Bilz ab. Die Mediziner nutzten »das Gift mit seinem zerstörenden Charakter«.96 1895 eröffnete Bilz in Radebeul eine Naturheilanstalt, die sehr erfolgreich war und später zum Bilz-Sanatorium ausgebaut worden ist.97 Man nimmt an, dass sich die Familien Bilz und May ca. 1897 kennengelernt haben und miteinander befreundet gewesen waren; so nahmen die Mays auch an der

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Bilz (1902), S. 1047. Bilz (1902), S. 1050. Rothschuh (1978), S. 330–336. Bilz (1902), S. 1049. Bilz (1902), S. 1087. Bilz (1902), S. 546. Bilz (1902), S. 547. Bilz (1902), S. 547. Bilz (1902), S. 1048. Dölle (2005).

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Hochzeitsfeier einer Bilz-Tochter teil.98 Es liegt nahe, dass sich May und Bilz, die gleichaltrig waren und sich mit ähnlichen Themen beschäftigten, »als Nachbarn«99 ausgetauscht und gegenseitig beeinflusst haben100. Viele Autoren sehen in Bilz das Vorbild für die literarische Figur des Hermann Rost aus »›Weihnacht!‹«. Dieser wird als ein idealistischer Mann gezeichnet, der die gängige europäische Medizin ablehnt und sich von einem Aufenthalt bei den Indianern neue Erkenntnisse bezüglich einer medizinischen Behandlung ohne fremde Stoffe als Arzneien erhofft. Als Old Shatterhand ihn trifft, ist er als Kellner tätig. »Gestatten Sie, Mylord, daß ich Sie über meine Person genügend unterrichte. Ich heiße Hermann Rost, bin ein Deutscher und meines Zeichens eigentlich ein Barbier. Mein Ideal war, Medizin zu studieren, aber meine Eltern waren zu arm dazu; darum wählte ich den erwähnten Beruf, den man doch vielleicht eine Vorstufe zu dem Ziele, nach welchem ich strebe, nennen kann. Ich habe dieses Ziel während meiner Lehrlings- und Gehilfenzeit stets vor Augen gehabt und stets fleißig gearbeitet. Zwei Gymnasiasten, welche bei meinem Prinzipal logierten, interessierten sich für mich und unterstützten mich im Latein, welches ich jetzt wenigstens soweit kenne, wie ein Arzt es beherrschen muß. Ich verwendete alle meine geringen Ersparnisse dazu, mir die einschlägigen Werke zu kaufen, und habe alle meine freie Zeit darauf verwendet, mir ihren Inhalt zu eigen zu machen. An den Besuch einer Universität konnte ich natürlich nicht denken; dazu fehlten mir die geistigen und auch die andern Mittel. Wenn ich überhaupt an eine Hochschule denken durfte, so konnte das nur eine amerikanische sein. Ich ging also nach Hamburg und nahm, um nicht zahlen zu brauchen, Arbeit auf einem nach New York bestimmten Segelschiffe. Dort angekommen, wurde ich wieder Barbier, doch mit dem Unterschiede, daß es mir gelang, nebenbei das Columbia-Colleg zu besuchen. Ich will Sie, Mylord, nicht mit einer langen Erzählung belästigen; es genügt, zu sagen, daß ich vor einem halben Jahre die St. Louis-Universität mit guten Zeugnissen verlassen habe.« Als er jetzt eine Pause machte, reichte ich ihm die Hand und sagte: »Das ist aller Ehren wert, Herr Doktor. Ich gestehe Ihnen, daß ich Ihnen meine Achtung zolle. Aber wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, hier Kellner zu werden?« »Sie finden das sonderbar, aber für Amerika ist das gar nichts Außergewöhnliches. Ich bin Mediziner, mag aber von Medizin, wie sie von unsern Ärzten verordnet und gegeben wird, nichts wissen. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der kranke Körper, wenn er überhaupt noch Lebensfähigkeit besitzt, keine fremden, wohl gar giftigen Stoffe in sich aufzunehmen braucht, um wieder gesund zu werden. Die durch die Krankheiten verursachten Störungen im menschlichen Körper müssen durch die Natur selbst wieder ausgeglichen werden, wobei ich aber keineswegs behaupte, daß diese Ansicht auf alle Krankheiten und auf alle Arzneimittel anzuwenden sei. Ich habe mir vorgenommen, auf diesem Wege weiterzugehen, und bin der Meinung, daß die sogenannten wilden Völker, weil auf die Natur angewiesen, Anhänger meiner Überzeugung sind. Darum entstand in mir der Gedanke, nach dem Westen zu gehen, um bei irgend einem Indianerstamme meine Studien zu machen. […]«101

98 99 100 101

Steinmetz (1991). Heermann (1990). Heermann (1990). May (1897), S. 135–137.

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Am Ende des Romans bekam Rost »sehr gern die Erlaubnis, so lange bei den Schoschonen zu bleiben, wie er es für seine Zwecke angemessen halte. Er ist jetzt einer der angesehensten Naturärzte des Ostens und – – ein Leser meiner Reiseerzählungen.«102 Die Parallelen zwischen Rost und Bilz (kurzer Name, Autodidakt, Ablehnung der konventionellen medikamentösen Therapie, erfolgreicher Praktiker) sind offensichtlich. Somit lässt sich über die Perioden seiner Werke hinweg eine klare Entwicklung in Karl Mays Verhältnis zur Homöopathie nachvollziehen. In seinem Frühwerk beschrieb er ähnlich wie andere zeitgenössische Autoren die Homöopathie durchaus auch ironisch, demonstrierte jedoch im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen profunde Kenntnisse der Heilweise. Für die mittlere Periode seines Schaffens lässt sich keine Beschäftigung mit der Homöopathie nachweisen. Erst in seinem symbolisch-allegorischen Alterswerk, in dem sich Karl May mit der »Menschheitsfrage« beschäftigte103 und welches von dem Schriftsteller Arno Schmidt zur deutschen Hochliteratur gezählt wird104, zeigt sich die Entwicklung von einem Reiseromanschriftsteller zu einem humanistisch geprägten Autor auch in seinem Verständnis von Medizin, das deutliche Gemeinsamkeiten mit den Grundsätzen der Homöopathie aufweist. Ein weiterer Ausdruck dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass sich Karl May in der letzten Phase seines Schaffens selber homöopathisch behandeln ließ und eine homöopathische Hausapotheke für seine Familie bestellte. Spätestens für das Jahr 1906 ist eine homöopathische Therapie der Familie May belegt. Ferdinand Hannes (12. Februar 1879-6. September 1950) war praktischer und homöopathischer Arzt. Karl May lernte Familie Hannes bereits 1893 über Ferdinands Schwester Marie kennen, die eine glühende Verehrerin des Schriftstellers war.105 In einem Brief vom 20. Dezember 1906 empfahl Ferdinand Hannes Klara May, sich gegen ihr Rheuma »Bryonia D3, 4× tgl. 5 Tropfen«106 in einer homöopathischen Apotheke zu besorgen. In einem Brief an Karl und Klara May vom 18. Februar 1908 berichtete er, dass er Flaschen für die Hausapotheke bestellt habe, die der Familie May in den nächsten Tagen zugehen sollten. Für die aktuell grassierende Influenza empfahl er »Aconit D2 oder D3, Bryonia D2, Rhus D2 oder D3, Gelsemium sempervirens D1 oder D2« und beschrieb detailliert die Differentialindikationen der verschiedenen Medikamente. Im Folgenden nannte Hannes weitere homöopathische Mittel und endete: »Hoffentlich kommen die Flaschen bald, damit Ihr nun endlich Eure Apotheke bekommt! Vielleicht kommt sie gerade zu Onkels [Karl Mays] Geburtstag an! Hoffentlich habt Ihr die Apotheke für Euch selber so bald nicht nötig.«107 Hieraus kann gefolgert werden, dass auch 102 103 104 105 106 107

May (1897), S. 619. Grumbach (1981), S. 42 f. Arno Schmidt (1990), S. 233. Steinmetz/Sudhoff (1997), S. 9–20. Steinmetz/Sudhoff (1997), S. 285. Steinmetz/Sudhoff (1997), S. 301 f.

Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen

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Karl May homöopathisch behandelt worden ist. Mit Schreiben vom 16. Juni 1908 instruierte Ferdinand Hannes die Familie May detailliert über die verschiedenen Mittel der (nun offensichtlich eingetroffenen) homöopathischen Hausapotheke. Er empfahl Klara May, sich homöopathische Ratgeber108 zu besorgen, wenn sie die zugesandten Medikamente nachschlagen wolle109. Aus einer Korrespondenz vom 17. Juni 1910 geht zweifelsfrei hervor, dass Hannes auch Karl May selbst homöopathisch behandelt hat. Ferdinands Frau Clara schrieb für ihren erkrankten Mann an Karl May: »Wir hoffen auch, dass Ferdinands Arzneien gut angeschlagen haben und es Ihnen etwas besser geht.«110 Obwohl eine retrospektive Diagnosestellung bei Karl May mit vielen Unklarheiten behaftet und somit wissenschaftlich problematisch ist, konstatierte William E. Thomas anhand der vorhandenen Quellen, dass der Schriftsteller zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich an einem Bronchialkarzinom gelitten hat, für das in der konventionellen Medizin zur damaligen Zeit außer einer Palliation mit Morphium oder Heroin keine Therapieoptionen bestanden.111 Andere Autoren folgten seiner diagnostischen Beurteilung.112 Der Einsatz der Homöopathie war daher schon aufgrund der fehlenden Alternativen plausibel. Sowohl die homöopathische Behandlung der eigenen gesundheitlichen Probleme als auch die Einrichtung einer homöopathischen Hausapotheke unterstreichen die positive Haltung von Karl May gegenüber dieser Methode. Es existieren allerdings zwei Textfragmente, die aus Karl Mays Alterswerk stammen und eine deutlich negativere Sicht auf die Homöopathie zu enthalten scheinen: Er hieß Pollmer. Er bekam die Mittel, sich als Barbier zu etabliren, das heißt, Jedermann nach damaligem Preis für drei Pfennige, im Abonnement aber für zwei Pfennige zu rasiren. Da aber die Verschwägerung mit einem wirklichen Doctor der Medizin und die alten, ackerbürgerlichen, heiligen Traditionen mehr verlangten, so machte man den Versuch, den Barbier in etwas Besseres und Höheres zu verwandeln. Er bekam die Stegerschen Bücher alle zu lesen, sogar die lateinischen. Besonders die letzteren wirkten augenblicklich standeserhebend. Der Schwager Doctor trug durch Umgang und Unterweisung das Seinige dazu bei, den sozialen Werth dieses nicht ganz zulänglichen Verwandten zu verdoppeln. Später wurde eine homöopathische Apotheke nebst den hierzu gehörigen Gebrauchsanweisungen angeschafft; der Barbier begann, zu kurieren, und weil der höchste Preis seiner Arzeneien 15–20 Pfennige betrug, so gelang es ihm sehr bald, in Kundschaft zu kommen. An seinen Körnchen und Tröpfchen ist kein einziger Mensch gestorben, und da er sich hütete, wirkliche oder gar bedenkliche Krankheiten zu behandeln, hat er nur Ruhm und Ehre geerntet und am Ende seiner langen, segensreichen Thätigkeit ein Vermögen von 230 Mark hinterlassen, welches meiner ersten Frau als sei-

108 Im Brief werden erwähnt: »Motz, ›Compendium der Homöopathischen Therapie‹, Hirschels oder Vogels homöopathischer Hausarzt«. Gemeint sind damit: Motz, H.: Compendium der Homöopathischen Therapie. Bonn 1886; Vogel, Carl Gustav: Dr. Vogel’s homöopathischer Hausarzt. Leipzig 1900; Hirschel, Bernhard: Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbett. Leipzig 1901. 109 Steinmetz/Sudhoff (1997), S. 304–306. 110 Steinmetz/Sudhoff (1997), S. 319. 111 Thomas (2005), S. 85–95. 112 Palm (2007).

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Jürgen Pannek ner einzigen Erbin mit meiner ehemännlichen Genehmigung gegen besondere Quittung voll und ganz ausgezahlt worden ist. […] Die gloriose Kunst, Zahnschmerz mit nux vomica und Mitesser mit digitalis heilen zu können, bewirkte bei Herrn Christian Gotthilf Pollmer die Ueberzeugung, daß er bisher nur ein schöner Mann gewesen, nun aber auch ein bedeutender Mann geworden sei. Er barbierte zwar weiter, ließ sich aber »Zahnarzt«, »Homöopath« oder auch »Chirurgus« nennen und spuckte im Uebrigen den Leuten auf die Köpfe. Dies ging, so lange es nur einen einzigen Arzt und einen einzigen Barbier im Orte gab; aber es kam nach und nach die Zeit, in welcher drei Aerzte und drei Barbiere nach Kundschaft jagten; da wurden die homöopathischen Einnahmen immer homöopathischer, und man mußte sich heimlich auf das Äußerste einschränken, um nicht auf den äußeren Stolz verzichten zu müssen.113

Diese Studie ist nicht zu Lebzeiten Karl Mays, sondern erst aus seinem Nachlass publiziert worden. Die Gründe, die er für deren Abfassung hatte, sind nicht vollständig klar. Die Hypothese, er habe sie für den Prozess, der zur Scheidung von seiner ersten Frau Emma Pollmer führte, verfasst, ist von Hans Wollschläger widerlegt worden. Der Literaturkritiker führt an, dass die Schrift im Rahmen der Bekanntschaft mit dem Psychoanalytiker Friedrich Salomon Krauss entstanden sein könnte.114 Andere sehen in der Studie einen »Selbsterfahrungstext mit therapeutischer Zielsetzung«.115 In ihr beschreibt Karl May, wie seine Frau durch ihre Familie und ihr Umfeld bereits früh negativ beeinflusst worden ist. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass May alle Mitglieder der Familie Pollmer negativ schildert; so auch Emma Pollmers Vater im oben zitierten Text. Auch wenn einige Wortspiele (»da wurden die homöopathischen Einnahmen immer homöopathischer«) typisch für den initial ironischen Charakter der Studie sind, so scheint der Inhalt primär homöopathiekritisch zu sein. Eine genaue Analyse zeigt jedoch, dass sich die Kritik nicht zuvörderst gegen die Homöopathie, sondern gegen deren Anwender richtet. In der Studie beschränkt sich der Anwender darauf, Bagatellbeschwerden bzw. ungefährliche Leiden homöopathisch zu therapieren. Die Schilderung einer solchen, den Patienten täuschenden »Quacksalberei« nutzte Karl May auch in seinen Reiseerzählungen, um den negativen Charakter der Akteure zu unterstreichen. So sagt Hartley, eine zwielichtige Gestalt aus der Erzählung »Der Schatz im Silbersee«: »[…] Ich habe das Leben und die Menschen kennen gelernt, und diese Kenntnis gipfelt in der Erfahrung, daß ein gescheiter Kerl kein Dummkopf sein darf. Diese Menschen wollen betrogen sein; ja, man thut ihnen den größten Gefallen, und sie sind außerordentlich erkenntlich dafür, wenn man ihnen ein X für ein U vormacht. Besonders muß man ihren Fehlern schmeicheln, ihren geistigen und leiblichen Fehlern und Gebrechen, und darum habe ich mich auf diese letzteren gelegt und bin Arzt geworden. Hier seht Euch einmal meine Apotheke an!« Er schloß den Kasten auf und schlug den Deckel desselben zurück. Das Innere hatte ein höchst elegantes Aussehen; es bestand aus fünfzig Fächern, welche mit Sammet aus113 May (1907), S. 802 f. 114 Wollschläger (2001). 115 Wolff (2001), S. 298.

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geschlagen und mit goldenen Linien und Arabesken verziert waren. Jedes Fach enthielt eine Phiole mit einer schön gefärbten Flüssigkeit. Es gab da Farben in allen möglichen Schattierungen und Abstufungen. »Das also ist Eure Apotheke!« meinte Haller. »Woher bezieht Ihr die Medikamente?« »Die mache ich mir selbst.« »Ich denke, Ihr versteht nichts davon!« »O, das verstehe ich schon! Es ist ja kinderleicht. Was Ihr da seht, ist alles weiter nichts als ein klein wenig Farbe und ein bißchen viel Wasser, Aqua genannt. In diesem Worte besteht mein ganzes Latein. Dazu habe ich mir die übrigen Ausdrücke selbst fabriziert; sie müssen möglichst schön klingen. und so seht Ihr hier Aufschriften wie: Aqua salamandra, Aqua peloponnesia, Aqua chimborassolaria, Aqua invocabulataria und andre. Ihr glaubt gar nicht, welche Kuren ich mit diesen Wassern schon gemacht habe, und ich nehme Euch das gar nicht übel, denn ich glaube es selbst auch nicht. Die Hauptsache ist, daß man die Wirkung nicht abwartet, sondern das Honorar einzieht und sich aus dem Staube macht. Die Vereinigten Staaten sind groß, und ehe ich da herumkomme, können viele, viele Jahre vergehen, und ich bin inzwischen ein reicher Mann geworden. Das Leben kostet nichts, denn überall, wohin ich komme, setzt man mir mehr vor, als ich essen kann, und steckt mir, wenn ich gehe, auch noch die Taschen voll. Vor den Indianern brauche ich mich nicht zu fürchten, weil ich als Medizinmann bei ihnen für heilig und unantastbar gelte. Schlagt ein! Wollt Ihr mein Famulus sein?«116

Eine derartige sarkastisch wirkende Darstellung kann auch in der PollmerStudie Karl Mays Absicht gewesen sein; die Homöopathie als Heilkunde wird von ihm dabei nicht direkt kritisiert. Das zweite in diesem Zusammenhang zu nennende Dokument ist das ebenfalls zu Karl Mays Lebzeiten nicht veröffentlichte Fragment »Ein Schundverlag«, welches 1905 geschrieben wurde. Auf den ersten Blick scheint es ebenfalls gegen eine positive Einstellung Mays zur Homöopathie zu sprechen.117 Der »Venustempel«, später auch noch »Buch der Liebe« genannt, war ein Buch, welches auf die allergemeinste Sinnenlust spekulierte. Die jedem Hefte beigegebenen phrynischen Buntdruckbilder waren nackt und frech im höchsten Grade. Hunderte von Textzeichnungen illustrierten die Begattung und ihren Verlauf in jeder, sogar der unnatürlichsten Weise. Und damit für den »Heinrich« und die »Pauline« sogar noch aus den allerschlimmsten Folgen dieser Verführung zur Unzucht Nutzen springe, war dem »Venustempel« eine Hausapotheke mit denjenigen Antisyphilitica beigegeben, die niemals heilen, sondern nur vorbeugen und darum hundertfach gefährlich sind, weil sie dem Betrogenen vortäuschen, dass er ohne Schaden weiter sündigen könne.118

Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass dieser Text von Karl May nie veröffentlicht worden ist. Wahrscheinlich sollte er als Teil seiner Autobiographie »Mein Leben und Streben« verwendet werden. Die Tatsache, dass er darin keine Verwendung fand, legt nahe, dass der Autor selber sich nicht mehr mit seinem Text identifizierte. Dies ist umso wahrscheinlicher, wenn man berücksichtigt, dass er hier sein eigenes Werk, das »Buch der Liebe«, massiv 116 May (1894), S. 198. 117 May (1905). 118 May (1905), S. 295.

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kritisiert. Die geäußerten Fakten widersprechen zudem dem heutigen Kenntnisstand; Buntdruckbilder in der genannten Form sind als Beigabe zum »Buch der Liebe« bis heute nicht bekannt, und die Bilder, die dem »Venustempel« beigefügt waren, sind wesentlich weniger explizit, als der Text es vermuten lässt.119 Aufgrund dieser Ungereimtheiten wurde die Wertigkeit des Texts bei der Interpretation von Karl Mays Stellung zur Homöopathie als sehr gering bzw. als vernachlässigenswert eingestuft. Resümee Karl May hatte nachweislich fundierte Homöopathiekenntnisse. Diese hat er sich wahrscheinlich mit Hilfe von »Pierer’s Universal-Lexikon« und durch Willmar Schwabes Schriften erworben. Mögliche Gründe für Mays Interesse an der Homöopathie könnten der Kontakt über die Mutter (Hebamme) oder eine Selbstbehandlung bei venerischer Erkrankung gewesen sein; beides lässt sich jedoch nicht sicher nachweisen. Das Verhältnis zur Homöopathie veränderte sich mit der Zeit. Am Anfang seiner Laufbahn verwendete er Hahnemanns Heilweise aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades überwiegend für ironische Passagen; seine Ironie bezog sich dabei jedoch mehr auf die Anwender als auf die Methode. Für einige Jahre wurde die Homöopathie von May nicht mehr thematisiert; erst in seinem Alterswerk vertiefte und präzisierte er seine Vorstellungen von einer ganzheitlichen Medizin, welche der homöopathischen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit sehr nahekam. Auch die Tatsache, dass er in dieser Phase seine Familie und sich selber homöopathisch behandeln ließ, spricht für ein positives Verhältnis von Karl May zur Homöopathie. Bibliographie Literatur Asbach, Gert: Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden. Diss. med. dent. Düsseldorf 1972. Baschin, Marion: Die Geschichte der Selbstmedikation in der Homöopathie. (=Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte 17) Essen 2012. Baschin, Marion: Ärztliche Praxis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Homöopath Dr. Friedrich Paul von Bönninghausen (1828–1910). (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 52) Stuttgart 2014. Bilz, Friedrich Eduard: Das neue Naturheilverfahren. Lehr- und Nachschlagebuch der naturgemäßen Heilweise und Gesundheitspflege. Million-Jubiläums-Ausgabe. Leipzig 1902. Dölle, Walter: Karl May und Friedrich Eduard Bilz. In: KMG-Nachrichten 146 (2005), S. 35 f. Eckart, Wolfgang U.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Berlin; Heidelberg 2011.

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Karl May und die Homöopathie: Kenntnisse, Einstellungen und Quellen

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Internet http://digital.slub-dresden.de/id359480586-18650000 (letzter Zugriff: 13.10.2017) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76260/Deutsche-vertrauen-der-Homoeopathie (letzter Zugriff: 13.10.2017) http://www.duden.de/rechtschreibung/Winnetou (letzter Zugriff: 13.10.2017) http://www.karl-may.de/pages/service.php?sub=archiv (letzter Zugriff: 13.10.2017) http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/indexw.php (letzter Zugriff: 13.10.2017) http://www.karl-may-stiftung.de/analyse/venustempel.htm (letzter Zugriff: 31.1.2018) http://winnetou2016.rtl.de/#!/trailer (letzter Zugriff: 11.10.2017)

Danksagung Mein Dank gilt: Herrn Prof. Dr. Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart (IGM), für die Möglichkeit, das Archiv und die Ressourcen des Instituts zu nutzen; Herrn Prof. Dr. Martin Dinges, stellvertretender Leiter des IGM, für die kritische Durchsicht und konstruktive Anregungen zum Manuskript; Herrn Hans Grunert, Kustos in Rente des Karl-May-Museums Radebeul, für die Unterstützung bei der Recherche im Museum; Frau Susanne Pannek-Rademacher, Homöopathin in Basel, für konstruktive Anmerkungen zum Manuskript; Frau Sabrina Bucher für das Lektorat und die orthographische Korrektur des Textes.

MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 207–255, FRANZ STEINER VERLAG

Die Suche nach der richtigen Medizin – Warum wenden sich Ärzte und Heilpraktiker der Homöopathie zu?1 Daniel Walther Summary Finding the right medicine – Why are physicians and alternative practitioners turning to homeopathy? This contribution starts by outlining the reasons and personal motives physicians and alternative practitioners have for choosing homeopathy. The study is based on 26 German and 15 British short biographical reports. After setting out the social structure, four categories are defined to which the motives described in the reports are allocated. The most frequent reason why both German and British authors turn to homeopathy is their dissatisfaction with mainstream medicine. In addition to the limited range of therapies they criticize the lack of time available to them within the conventional setting. The second most frequent reason mentioned is the successful treatment of their and their children’s illnesses with homeopathic medicines. Seeing chronic complaints alleviated comes as a revelation, inducing physicians as well as lay-healers to reconsider and become seriously interested in homeopathy. The authors were, moreover, attracted by the successful homeopathic treatments they witnessed. And lastly, some homeopaths gave their self-image as holistically thinking and practising physicians as the main reason for deciding in favour of homeopathy. The second part of this contribution provides a historical comparison. For this, the obituaries of 224 homeopaths were screened for individual motives and then categorized. It turns out that most of these homeopaths came across homeopathy through a third party (close relatives, colleagues, friends etc.). Again, having witnessed cures was the second most common reason why they reconsidered and decided to train in and practise homeopathy. Dissatisfaction with conventional medicine was less important, but the reason for this could be that many physicians were born before its professionalization.

Einführung »Hier bin ich in der Suche nach ›meiner‹ Medizin angekommen.« Diese Aussage hört man so oder ähnlich in Gesprächen über zermürbende und frustrierende, letztlich aber doch erfolgreich überstandene Krankheitsverläufe. Den Erzählungen geht meistens eine ausführliche Chronologie der Patientenge1

Da sich eine gendergerechte Schreibweise nicht immer einhalten lässt, werde ich im Folgenden die maskuline Form der Berufs- und Statusbezeichnungen verwenden. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass damit sowohl Ärztinnen und Heilpraktikerinnen als auch weibliche Kranke, Patientinnen und Nutzerinnen alternativmedizinischer Methoden gemeint und eingeschlossen sind.

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schichte voraus, die von Tiefpunkten, Rückschlägen, enttäuschten Erwartungen und vergeblichen Hoffnungen geprägt ist. Auslöser dieser Enttäuschungen ist in vielen Fällen die Unzufriedenheit mit der konventionellen Medizin. Kritisiert wird die knappe Zeit, die der Arzt dem verzweifelten Patienten widme, fehlende Empathie seitens des Fach- und Pflegepersonals sowie die Reduktion psychophysischen Leidens auf eine vermeintlich harmlose Stressreaktion  – eine Diagnose, die oft mehr schadet als nützt, schließlich hat sich der Kranke zusätzlich zu seinen Beschwerden mit dem indirekten Vorwurf der geringen Belastbarkeit auseinanderzusetzen. Weiterhin verordnet der autoritär auftretende Arzt leichtfertig Therapien, die nicht anschlagen, eigene Erklärungsversuche wertet er hingegen pikiert als Zweifel an seinem Expertenwissen ab, auf Einwände reagiert er unwirsch. Eine Studie über die Wahrnehmung von Ärzten durch Patienten zeigt, dass gerade dieses Verhalten auf Kritik stößt und in ihren Augen einen schlechten Arzt kennzeichnet.2 Die Konsequenz aus Frustrationen, mangelndem Vertrauen und ausbleibenden Heilerfolgen ist dann eben jene Suche nach der eigenen Medizin, also die Selbsthilfe und/oder Abwanderung des betreffenden Patienten zu ärztlichen oder nichtärztlichen Praktikern der Komplementär- oder Alternativmedizin.3 Die Homöopathie, um die es in diesem Beitrag gehen soll, ist dabei nur eine von vielen Möglichkeiten, sich Erkrankungen aus einer anderen, ganzheitlich(er)en Richtung zu nähern.4 Umfragen zur Gesundheitsorientierung vermitteln einen Eindruck von der Verbreitung unkonventioneller Heilverfahren in Deutschland.5 Die eingangs zitierte Aussage »Hier bin ich in der Suche nach ›meiner‹ Medizin angekommen« stammt allerdings nicht von einem Patienten, sondern von einer homöopathischen Ärztin. Ihre Schilderungen sind Teil eines Samples von 26 autobiographischen Texten, in denen nicht Patienten, sondern Ärzte und Heilpraktiker über die näheren Umstände der Hinwendung zur Homöopathie berichten. Besonders aussagekräftige Passagen dieser Kurzberichte werden aus Datenschutzgründen anonymisiert wiedergegeben. Um sie dennoch zuordnen zu können, werden sie mit dem Kürzel »SHD« (Sample Homöopathen Deutschland) und der entsprechenden Bearbeitungsnummer versehen.6 Die Texte sind im Zeitraum zwischen 2010 und 2013 entstanden, nachdem das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) einen entsprechenden Aufruf in den Homöopathischen Nachrichten veröffentlicht

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Vgl. hierzu Berger (2010). Vgl. Jütte (2010); Wolff (2008); Wolff (2010). Vgl. Sombre (2009) und Sombre (2014); Jeserich (2010). Blessing (2010), S.  57–102, schreibt ausführlich über die »Homöopathie als Teil der ›Ganzheitsmedizin‹«. Vgl. Identity Foundation (2000); Hoefert (2011); Linde u. a. (2012); Robert Koch-Institut (2014). Die Liste ist im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, hinterlegt und kann nach Ablauf einer Sperrfrist dort eingesehen werden.

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hatte.7 Ziel des Aufrufs sollte einerseits – analog zu patientensoziologischen Fragestellungen8  – die Erforschung der Motive sein, die das medizinische Fachpersonal bewogen haben, die im Medizinstudium angeeigneten herrschenden naturwissenschaftlichen Denkmodelle in Frage zu stellen und nach Alternativen zu suchen. Dieses Vorhaben ist umso bedeutender, als die Anzahl empirischer Studien zu diesem Thema noch immer überschaubar ist. Seit den 2000er Jahren haben lediglich die beiden Medizinsoziologen Robert Frank und Gunnar Stollberg9 die Motivationen von Ärzten analysiert, die alternative bzw. komplementäre Medizinformen ausüben. Die beiden deutschen Forscher bestätigen im Wesentlichen die Ergebnisse der älteren Studien von Michael Goldstein sowie Niels Lynöe und Tomas Svensson.10 Darüber hinaus spürt die vorliegende Studie den Beweggründen von medizinischen Laien nach, die beruflich zunächst einen völlig anderen Weg eingeschlagen, sich trotz potentieller Existenzrisiken dann aber doch für die Ausbildung zum homöopathisch orientierten Heilpraktiker entschieden haben. Ähnliches, wenngleich mehr zu Werbezwecken gedacht, beabsichtigen die Redakteure der britischen Zeitschrift Homeopathy & Health. Unter der Rubrik »Why I became a Homeopath« schildern seit etlichen Jahren vorwiegend Allgemeinmediziner ihren Weg zur Homöopathie. Dieses zweite, aus 15 Kurzberichten bestehende Sample ermöglicht einen vergleichenden Blick auf die individuellen Motive von Ärzten und Heilpraktikern, die Homöopathie in ihrer Praxis anzuwenden. Aufschlussreiche Aussagen werden mit dem Kürzel »SHE« (Sample Homöopathen England) wiedergegeben. Der Ländervergleich lässt Rückschlüsse zu, ob die Hinwendung zur Alternativ- und Komplementärmedizin auch als aktive Kritik am ökonomisierten Gesundheitswesen zu verstehen und damit eine Antwort auf dessen Missstände oder primär persönlichen bzw. berufsethischen Motiven geschuldet ist. 7

Der Aufruf lautete wie folgt: »Forschung: Wie wurde ich Homöopath? Das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart bittet um Unterstützung bei einem Forschungsprojekt zur Zeitgeschichte der Homöopathie. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum sich Ärzte der Homöopathie zuwenden. Das Institut für Geschichte der Medizin will genauer erforschen, warum ein Arzt oder eine Ärztin Homöopath wird und welche Hoffnungen und Erwartungen er oder sie in dieses Therapieverfahren setzt. Welche Schlüsselereignisse, welche Erfolge haben ihn bzw. sie von dieser Methode überzeugt? Gab es einen konkreten Anlass? Das Institut verwahrt schon jetzt die Nachlässe von zahlreichen Homöopathen. Es beabsichtigt mit dem geplanten Projekt zunächst die Überlieferung zu sichern. Dazu werden verschriftlichte Lebensgeschichten von homöopathischen Ärzten und Heilpraktikern und deren Motivation gesucht. Die Homöopathen könnten über die Gründe für die Umorientierung, über die Eindrücke bei Kursen und Weiterbildungsangeboten sowie über die Erfahrungen bei der Behandlung von Patienten berichten. In einem zweiten Schritt sind Interviews geplant, die die schriftliche Überlieferung ergänzen sollen. Wir bitten Sie deshalb, das Institut zu kontaktieren, wenn Sie einen Bericht zur Verfügung stellen wollen.« Homöopathische Nachrichten 175 (2010), S. 6. Maßgeblich beteiligt an besagtem Aufruf sowie der Korrespondenz mit den bereitwilligen Ärzten und Heilpraktikern war Sandra Dölker, Archivarin am IGM. 8 Vgl. Wippermann/Möller-Slawinski (2011); Eisele (2015); Eisele (2016). 9 Frank (2002); Frank/Stollberg (2006); Stollberg (2010). 10 Goldstein (1985); Lynöe/Svensson (1992).

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Nachdem die Analyse der deutsch- und englischsprachigen Ärztebiographien die individuellen Motive und deren Rückkopplung an gegenwärtige, übergeordnete soziokulturelle und politökonomische Prozesse offengelegt hat, können die Ergebnisse auf diachroner Ebene verglichen und historiographisch eingeordnet werden. Als Quelle bietet sich Fritz Schroers’ »Lexikon deutschsprachiger Homöopathen« an. Auf der Grundlage von Nachrufen in Fachzeitschriften rekonstruierte Schroers die Vita und das Oeuvre von insgesamt 636 verstorbenen Homöopathen. Dieses Quellenkorpus wurde nun erneut ausgewertet. Darüber hinaus wurden einzelne Autobiographien namhafter Homöopathen hinzugezogen, um Näheres über die spezifische Motivik in Erfahrung zu bringen, die Ärzte im 19. und 20. Jahrhundert veranlasst hat, trotz aller Widerstände der akademischen und später der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin den Rücken zu kehren. Kategorisierung der individuellen Beweggründe zur Entscheidung für die homöopathische Praxis Sehen wir uns nun die Motive des Heilpersonals für seine Entscheidung zugunsten der homöopathischen Praxis an. Zentraler Bestandteil unserer Erhebung ist neben den eigentlichen, unveröffentlichten Kurzberichten ein standardisierter Fragebogen, der die wesentlichen biographischen Eckdaten (Geschlecht, Alter) der Autoren erfasst. Von einigem Interesse sind zusätzlich zur Angabe des Studienfachs und -abschlusses der genaue Zeitpunkt der Hinwendung zur Homöopathie sowie die einzelnen Stationen und Qualifikationen der anschließenden Ausbildung. Die Ergebnisse der Auswertung dieses Fragebogens sollen den spezifischen Beweggründen vorangestellt werden, sind sie doch für sich genommen bereits aufschlussreich in Bezug auf die Geschlechterverteilung innerhalb der Homöopathie und den Abstand, der zwischen Medizinstudium und Abwendung von der konventionellen Medizin liegt. Von den 26 Ärzten und Heilpraktikern, die dem Aufruf des IGM nachgekommen sind und ihren persönlichen Weg zur Homöopathie mehr oder weniger ausführlich darstellten, sind zwölf männlich (46 Prozent) und 14 weiblich (54 Prozent). 17, also mehr als die Hälfte (65 Prozent), haben Humanmedizin studiert, drei weibliche und vier männliche Autoren (27 Prozent) praktizieren als niedergelassene Heilpraktiker die Homöopathie ohne humanmedizinische Vorbildung, und zwei Homöopathen (acht Prozent), eine Frau und ein Mann, arbeiten hauptberuflich als Zahnmediziner. Betrachtet man das Geschlechterverhältnis nur unter den Medizinern, so fällt der Gender Gap deutlicher aus. Unter den 19 teilnehmenden Humanund Zahnmedizinern befinden sich elf Frauen (58 Prozent) und acht Männer (42  Prozent). Die Aufteilung der Geschlechter kommt damit den aktuellen absoluten Zahlen innerhalb der homöopathischen Ärzteschaft nahe. Eine Nachfrage beim Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) ergab, dass – nach Datenbestand des DZVhÄ vom Januar 2017 – 63 Prozent

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der Ärzte mit Zusatzbezeichnung Homöopathie und/oder dem HomöopathieDiplom des DZVhÄ weiblich sind. Nur etwas mehr als ein Drittel (37 Prozent) der anerkannten ärztlichen Homöopathen in Deutschland ist männlich. Sowohl die Umfragen über die Inanspruchnahme homöopathischer Arzneimittel als auch die Mitgliederstatistik des Deutschen Verbands für Homöopathie und Lebenspflege »Hahnemannia« zeigen außerdem, dass auch mehr Frauen als Männer an Homöopathie interessiert sind.11 Diese Geschlechterverteilung trifft also auch auf die Mehrheit der professionellen Homöopathen zu. Vergleicht man die Zahlen mit der offiziellen Statistik der Bundesärztekammer, so verkehrt sich das Geschlechterverhältnis allerdings ins Gegenteil: Ende 2016 waren in Deutschland 175.901 Ärztinnen und 202.706 Ärzte berufstätig. Der Männeranteil überwiegt demnach leicht mit 54  Prozent.12 In Fachgebieten wie der Inneren Medizin und Allgemeinmedizin, die Homöopathen bevorzugt ausüben, dominieren ebenfalls Männer. Besonders groß ist der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Internisten. Von den insgesamt 52.158 Ärzten für Innere Medizin ist weit mehr als die Hälfte männlich (♂: 33.121/64  Prozent; ♀: 19.037/36  Prozent). Als Allgemeinmediziner praktizieren insgesamt 43.618 Ärzte, 20.485 Frauen (47 Prozent) und 23.133 Männer (53 Prozent). Lediglich in der Pädiatrie waren laut Bundesärztestatistik Ende 2016 mehr Ärztinnen tätig, nämlich 8.412 (58 Prozent) gegenüber 6.054 Kinderärzten (42 Prozent). Angaben zu ihrem Geburtsjahr machten in der Umfrage des IGM insgesamt 23 deutsche homöopathische Ärzte und Heilpraktiker. 21 von ihnen sind nach 1940 geboren worden, die meisten (acht; 38 Prozent) in den 1950er Jahren. Sieben (33 Prozent) kamen im Jahrzehnt davor zur Welt, sechs (29 Prozent) während der 1960er Jahre. Der jüngste Homöopath des Samples gehört dem Jahrgang 1967 an und ist damit zum Zeitpunkt der vorliegenden Auswertung 50 Jahre alt. Der dadurch entstehende Eindruck, dass die Homöopathie eher die Älteren und Erfahrenen anspricht, findet Bestätigung in der langen Zeitspanne, die zwischen Studienabschluss und definitiver Entscheidung zugunsten dieser Heilmethode liegt. Im Schnitt vergehen sieben bis acht Jahre, ehe sich Ärzte wie Nichtärzte ihrer Affinität gegenüber der Homöopathie bewusst werden und Schritte ergreifen, diese Methode zu erlernen. Ein ähnliches Bild vermittelt die Umfrage unter englischen, schottischen und irischen Homöopathen in der Zeitschrift Homeopathy & Health. Obwohl hier keine konkreten Angaben vorliegen, geht aus den einzelnen Berichten hervor, dass die Mehrheit der Befragten nach dem Studienabschluss zunächst einige Jahre konventionell behandelte bzw. ihrem erlernten medizinischen Beruf (Krankenschwester, Podologin) nachging, bevor sie sich für die Homöopathie zu interessieren begann. Schaut man sich die Spezialisierung der deutschen wie britischen Ärzte näher an, so fällt auf, dass mit Ausnahme der Zahn- und Tierärzte die Mehrzahl 11 Vgl. hierzu Sombre (2009); Sombre (2014); Walther (2017), S. 311 ff. 12 Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/ Statistik2016/Stat16AbbTab.pdf (letzter Zugriff: 7.2.2018).

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der Homöopathen niedergelassene Haus- und Kinderärzte sind. Das dürfte zum einen mit dem breiten Krankheitspanorama zusammenhängen, mit dem diese Ärzte in ihrer Praxis tagtäglich konfrontiert werden. Die Homöopathie stellt hier eine Alternative oder Ergänzung dar, vor allem in leichteren Fällen oder bei chronischen bzw. rezidiven Erkrankungen. Lynöe/Svensson kommen in ihrer Studie zum selben Schluss: It is general practitioners who are most likely to be confronted with patients presenting symptoms which cannot be classified according to current medical criteria. A feeling of clinical powerlessness is often expressed within this speciality, leading some to take an interest in problem-solving strategies found outside the domain of the clinical and scientific paradigm.13

Ein weiterer, wesentlicher Grund, warum die Homöopathie gerade unter Allgemeinmedizinern und Pädiatern populär und entsprechend verbreitet ist, mag ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit sein.14 Ohne der eigentlichen Auswertung vorgreifen zu wollen, kann an dieser Stelle auf das Selbstbild vieler Ärzte hingewiesen werden. Mehrere Homöopathen schreiben zu Beginn ihres Berichts, dass sie das Medizinstudium mit hohen Erwartungen und moralischen Ansprüchen sowie konkreten Vorstellungen bezüglich der Arzt-Patient-Beziehung aufnahmen. Doch recht bald löste Ernüchterung die anfängliche Begeisterung ab. In der klinischen Ausbildung ging es wider Erwarten nicht um ein gutes, persönliches Verhältnis zu den Patienten, schon gar nicht um ganzheitliche Therapieansätze bzw. um die Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände. Statt einer systemischen, erfahrungsgelenkten Herangehensweise stand kausalanalytisches und naturwissenschaftliches Denken und Behandeln mit chemisch-synthetischen Medikamenten auf dem Lehrplan. Diese Ernüchterung schlug nicht selten in herbe Enttäuschung und Orientierungslosigkeit um. Die meisten, überwiegend britischen, Autoren wandten sich deshalb der Allgemeinmedizin zu. Ihr Selbstverständnis als Arzt konnte leicht mit dem ganzheitlichen Ansatz und dem Krankheitsverständnis der Homöopathie vereinbart werden, was den Betreffenden die Freude an ihrem Beruf zurückbrachte. Ein Arzt behauptete sogar, die persönlich bereichernde Auseinandersetzung mit der Homöopathie und die stetige Suche nach dem passenden Arzneimittel würden die Belastungen des Arztalltags kompensieren und hätten ihn vor einem sicheren Burn-out bewahrt: »The learning involved has been very stimulating and has been the perfect ›anti-burnout‹ strategy.« (SHE 2) Wie die ärztlichen Homöopathen haben auch sechs der sieben Heilpraktiker des deutschen Samples einen akademischen Hintergrund. Zwei von ihnen studierten Theologie bzw. Religionspädagogik, zwei weitere Biologie oder Physik, eine Heilpraktikerin ist examinierte Erziehungswissenschaftlerin. Ein Heilpraktiker behandelte als promovierter Veterinärmediziner lange Jahre Tiere mit homöopathischen Mitteln. Nachdem ihn immer häufiger deren Besitzer nach Ratschlägen bezüglich einer homöopathischen Behandlung ihrer 13 Lynöe/Svensson (1992), S. 59. 14 Vgl. Stange/Amhof/Moebus (2006), S. 218 f.

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kein humanmed. Stud St ium 27 %

Zahnmed. 8%

Humanmed. 65 %

Abb. 1: Medizinische Vorbildung der Homöopathen (n=26)

eigenen Beschwerden befragt hatten, entschied er sich für eine Homöopathieund Heilpraktiker-Ausbildung. Auffallend ist, dass sich unter den Nichtärzten keine Vertreter des medizinischen Fachpersonals befinden. Das kann einerseits ein Bias der Umfrage sein, von der sich nur behandelnde Homöopathen, also Ärzte und Heilpraktiker angesprochen fühlten. Andererseits ist es dem ambulanten wie stationären Pflegepersonal in Deutschland rechtlich nicht gestattet, eigenständig Medikamente zu verordnen, weswegen die Anwendung der Homöopathie in diesen Berufen (offiziell) keine Rolle spielt. In Großbritannien haben alle Teilnehmer der Umfrage einen humanoder veterinärmedizinischen Hintergrund als Krankenschwester, Apotheker, Physiotherapeutin, Veterinärmediziner oder Podologin. Eine befriedigende Erklärung hierfür kann nicht gegeben werden, fehlen doch Kenntnisse über die Auswahlkriterien und Zielsetzungen der Umfrage. Es könnte demnach purer Zufall sein, dass nur Ärzte und medizinisches Fachpersonal Berichte über den beruflichen Werdegang an Homeopathy & Health geschickt haben. Schilderungen von homöopathieaffinen Laien könnten aber auch bewusst aussortiert worden sein, da sie weniger prestigeträchtig und werbewirksam sind. Dafür spricht die Tatsache, dass die veröffentlichten autobiographischen Kurzberichte ohne Ausnahme besonders eindrückliche Heilerfolge bzw. Fallbeispiele schildern. Offenbar versucht die Zeitschriftenredaktion mit dieser Rubrik zu unterstreichen, dass die Homöopathie dem Gesundheitssystem und den Patienten mehr zu bieten hat als bloße Kostenersparnis.15 Vor dem Hintergrund 15 Vgl. Smallwood (2005), besonders S. 11 und S. 144.

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der sinkenden Bedeutung der Homöopathie im britischen Gesundheitssystem und von Forderungen der British Medical Association (BMA), homöopathische Medikamente aus Apotheken zu verbannen, erhält diese Annahme Gewicht.16 Heilpraktiker tauchen im britischen Sample dagegen nicht auf, da es diese Berufsgruppe nur in Deutschland gibt. Die Auswertung der autobiographischen Kurzberichte deutsch- und englischsprachiger Homöopathen erfolgte zunächst unstrukturiert und beschränkte sich auf die Feststellung der jeweils ausschlaggebenden Motive, die zur professionellen Ausübung der Homöopathie geführt haben. Recht bald zeichneten sich in beiden Samples Wiederholungen bestimmter Beweggründe ab. Sie können in insgesamt vier Kategorien zusammengefasst werden. Dabei sind die Grenzen fließend und die jeweiligen Motive nicht immer trennscharf zu unterscheiden. In die Kategorie »Unzufriedenheit mit der konventionellen Medizin« (Kategorie I) gehören beispielsweise das Angewiesensein auf stark wirkende Synthetika oder die Objektivierung des Patienten und seiner Leiden. Konnte sich ein Homöopath von der Heilkraft der Homöopathie am eigenen Leib oder an seinen Kindern überzeugen, so fallen die Gründe der Konversion in die Kategorie »Unmittelbare Krankheitserfahrung« (Kategorie  II). Die beiden anderen Kategorien lauten »Schlüsselerlebnis, Initialmoment« (Kategorie III) sowie »Selbstverständnis als Arzt und Heilpraktiker« (Kategorie IV). Letzterer ist das eingangs zitierte Beispiel jener ärztlichen Homöopathin zuzuteilen, die das Ende der Suche nach der, ihrer Meinung nach, richtigen Heilmethode mit den Worten »So möchte ich Arzt sein, so möchte ich Patienten begegnen, mit ihnen arbeiten und ihnen helfen« (SHD 13) untermauert. Betont werden soll an dieser Stelle, dass ungeachtet der Gründe die Hinwendung zur Homöopathie und die damit in vielen Fällen einhergehende Umwandlung der Kassen- in eine Privatpraxis bzw. Aufgabe des erlernten Berufs bei Heilpraktikern mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden sind. Die Ausbildung ist langwierig und kostenintensiv, ohne garantieren zu können, dass sich der Aufwand lohnt. Allen Homöopathen ist also ein hoher Idealismus gemein. Dazu passt auch, dass keiner der Autoren, zumindest in der Öffentlichkeit, ökonomische Motive angibt.17 Unzufriedenheit mit der konventionellen Medizin (Kategorie I) Diejenigen Homöopathen, die sich aus Unzufriedenheit mit der konventionellen Medizin und/oder Kritik an deren symptomzentrierten Therapiekonzepten für die Homöopathie entschieden haben, bilden in beiden Samples die größte Gruppe. Von den deutschen Autoren geben elf (42 Prozent) entsprechende Gründe an. Von den Umfrageteilnehmern der britischen Zeitschrift Homeopathy & Health sind es immerhin fünf (33  Prozent), die sich mit ihrer Rolle als (ausschließlich) schulmedizinisch praktizierender Arzt nicht länger 16 Vgl. Boseley (2010). 17 Stollberg (2010), S. 241 f., kommt in seiner Studie zum gleichen Ergebnis.

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identifizieren konnten oder wollten. Dass es sich dabei fast ausschließlich um Ärzte handelt, dürfte wohl damit zusammenhängen, dass sie die Missstände des Gesundheitswesens am unmittelbarsten wahrnehmen; nicht selten sind sie sogar gleichzeitig behandelnde Ärzte und hilfesuchende Patienten bzw. Eltern. Entsprechende Gründe werden allerdings auch von Heilpraktikern vorgebracht. Die durchschnittlich acht bzw. bei Ärzten sieben Jahre dauernde Zeitspanne zwischen Studienabschluss und dem Zeitpunkt der definitiven Hinwendung zur Homöopathie ist ein Indiz für das wachsende Unbehagen, das vielleicht schon während des Medizinstudiums oder unmittelbar nach Beginn der Tätigkeit als approbierter Arzt empfunden wird. So fing beispielsweise eine niedergelassene Kinderärztin nach 15 Jahren Praxistätigkeit an, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen, da sie wegen der ständig sich wiederholenden Krankheiten bei Kindern sehr frustriert gewesen sei (SHD 22). Die Homöopathie mit ihrem ganzheitlichen psychophysischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit war für sie die Lösung dieses inneren Konflikts und eine praktikable Alternative zum in sich geschlossenen naturwissenschaftlichen und ökonomisierten Medizinsystem. Besonders aufschlussreich und exemplarisch ist zudem die Biographie einer 1950 geborenen österreichischen Ärztin. Mit 18 Jahren nahm sie das Medizinstudium in Wien auf, nachdem sie schon seit früher Kindheit den innigen Wunsch gehegt hatte, in Not geratenen Menschen zu helfen. Das Studium an sich sei ihr leichtgefallen, mit der Medizin im eigentlichen Sinne habe sie aufgrund der mangelnden Berücksichtigung der individuellen Beschwerden des Kranken hingegen nichts anfangen können. Das Schlüsselerlebnis, das sie endgültig mit der Schulmedizin brechen ließ, war die im Rahmen einer Vorlesung von einem Internisten vorgetragene Fallgeschichte (SHD 13): Er berichtete ausführlich über eine Patientin, die gerade auf seiner Klinik mit der Diagnose Hyperthyreose mit den gefährlichen Thyreostatica behandelt wurde […] – erfolgreich seinen Schilderungen gemäß. Er führte akribisch aus, wie diese Patientin wegen ihrer Nervosität und der Schlafstörungen seit 20 Jahren viele Ärzte aufgesucht hatte: Immer bekam sie Tranquilizer. Sie schlitterte immer weiter in ihre Krankheit hinein. Und jetzt wurde die klinische Diagnose gefunden: Hyperthyreose. Prof. D. feierte an dieser Geschichte den Erfolg der modernen Medizin. Für mich war es ein Armutszeugnis: Die Patientin hatte ihre Ärzte jahrzehntelang um Hilfe gebeten und ihnen die Chance gegeben, ihr zunehmendes Leiden zum Guten zu wenden. Niemand hatte ihr ernsthaft helfen können, bis sie sich nun mit einer »echten« Krankheit und Diagnose und schlussendlich einer aggressiven Therapie mit voraussichtlicher Defektheilung oder Dauermedikation abfinden muss. Was ist das für eine Logik? Was ist das für ein Erfolg? Nein, eine solche Medizin will ich nicht.

Diese Erkenntnis markierte folgerichtig den »Nullpunkt« ihrer Studentenkarriere. Anfangs dachte sie an einen Abbruch des Studiums, fand dann im Klima der 68er-Bewegung aber Anschluss an Kommilitonen, die ihre Medizinkritik teilten. Bei einer Studenteninitiative kam sie erstmals in Berührung mit der Homöopathie. Was sie darüber hörte, »klang gescheit und gut« (SHD 13) und

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bewog sie, im Krankenhaus für Naturheilweisen in München zu famulieren. Dort habe sie erste Eindrücke »einer anderen, sorgfältigen patientenbezogenen Medizin mit dem reichen Schatz an phytotherapeutischen, diätetischen und physikalischen Maßnahmen« (SHD 13) sammeln können. In Wien überzeugte sie dann ein erfahrener und namhafter homöopathischer Arzt vollends von der homöopathischen Heilmethode, indem er die Bedeutung einer präund nonverbalen Ausdrucksweise der Menschen betonte und die Aufmerksamkeit auf ihre Gestik, ihr Benehmen und Verhalten lenkte. Das habe ihren Angaben zufolge wesentlich dazu beigetragen, ihren »einseitig geschulten Verstand wieder den Lebensphänomenen und dem realen Sein der Patienten gegenüber zu öffnen« (SHD 13). Die Homöopathie entspreche mit dieser Akzentuierung am ehesten ihrer Vision einer patientennahen und biographisch orientierten Medizin. Nicht aus »ideologischen Gründen«, sondern »aus purer Verzweiflung über die limitierten Heilungsmöglichkeiten der Schulmedizin« (SHD 26) hat sich dagegen ein in einer ländlichen Region praktizierender Hausarzt für die Homöopathie entschieden. Er gibt in seiner Zuschrift an, alle Patienten habe er, wie auf der Universität und in der Klinik gelernt, zunächst schulmedizinisch therapiert. Nach sechsjähriger Praxistätigkeit sei er jedoch an den kleinen Kindern verzweifelt, die an rezidiven Mandel- und Ohrentzündungen litten und von ihm mit Antibiotika behandelt wurden. Das brachte langfristig keine Heilung. Die jungen Patienten seien stattdessen immer »hinfälliger« (SHD 26) geworden. Bei Neurodermitis verordnete er ausschließlich cortisonhaltige Salben, womit er ebenfalls nicht zufrieden gewesen sei, da das Hormon die Symptome nur verschlimmerte. Schließlich erinnerte er sich an seine Mutter, die ihm im Kindesalter oft Schüssler-Salze gegeben hatte, wenn er krank gewesen war. Nach ersten Versuchen bei grippalen Infekten schöpfte er so viel Vertrauen, dass er einen Homöopathie-Kurs absolvierte. Dieser Kurs sei für ihn aber äußerst verwirrend gewesen, da er »diese komische Sprache der Homöopathen nicht« (SHD 26) verstand und sie sogar Befremden hervorrief. Die abendlichen Gespräche mit anderen Kursteilnehmern hätten allerdings ein schwaches Licht ins homöopathische Dunkel gebracht. Im Gegensatz zu den Heilerfolgen, die er in seiner Praxis allmählich verzeichnen konnte, überzeugte ihn der Kurs nicht. Von der begrenzten Leistungsfähigkeit der Schulmedizin überzeugt war ein anderer Allgemeinmediziner schon zu Beginn seiner Berufslaufbahn. In seinen Aufzeichnungen schreibt er (SHD 21): Schon als Assistenzarzt auf dem Weg meiner Ausbildung durch die Kliniken wurde mir bewusst, dass die Schulmedizin wohl hochwirksame Leistungen entwickelt hat, dass sie sich vornehmlich zu akuter Krisenintervention eignet, dass sie uns aber oft im Stich lässt in der Behandlung chronischer Leiden, zu deren wirklicher Heilung sie nicht fähig ist, sondern deren Linderung sie vielmehr erkauft um den Preis der Schwächung von Lebenskraft und Vitalität. Die vielen Antibiotikas [sic!], das Cortison, die Analgetika und Immunsuppressiva, welche die gegenwärtige Medizin beherrschen – gewiss nicht selten wirklich lebensrettend –, wirken nicht zuletzt dadurch, so meine zeitige Erkenntnis, dass

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sie eine überschießende Reaktion des Organismus ausbremsen, ihn also gewissermaßen entwaffnen.

Zur Homöopathie fand er aber über Umwege. Als primär naturwissenschaftlich ausgerichteter Schulmediziner weckte diese Heilmethode zwar seine Neugierde, er bildete sich aber zunächst in Phytotherapie, Akupunktur und Symbioselenkung weiter. Diese Verfahren schienen ihm handfester und beim »allgegenwärtigen Kampf gegen irgendwelche Krankheitserreger als Quelle jeglichen Krankseins« (SHD 21) tauglich zu sein. In kritischen Situationen seien sie aber nicht potent genug gewesen, weswegen er sich bald nach weiteren Alternativen umschaute. Seine Arzthelferin, eine ausgebildete Heilpraktikerin, riet ihm daraufhin zur Beschäftigung mit der Homöopathie. »Ein gutes Anfängerglück und die Erfahrung der Nachhaltigkeit« (SHD 21) hätten ihn schließlich bewogen, sein homöopathisches Wissen erst einmal autodidaktisch mit Hilfe von Büchern, später dann über Aus- und Fortbildungen zu vertiefen. Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen, denn so oder so ähnlich begründeten mehrere deutsche Ärzte ihren Wechsel von der Schulmedizin zur reinen oder komplementärmedizinischen Anwendung der Homöopathie. Die autobiographische Schilderung einer Londoner Ärztin soll exemplarisch die spezifischen Motive englischer Homöopathen in Bezug auf Missstände im Gesundheitssystem beleuchten. Kurz nach ihrem Studienabschluss sei die betreffende Homöopathin unsicher gewesen, welche Fachrichtung sie nun einschlagen solle. Sie entschied sich schließlich für die Allgemeinmedizin, bemerkte aber bald, dass nur die wenigsten konventionellen Therapien wirklich heilten. In der Mehrzahl der Fälle unterdrückten die Medikamente lediglich die Symptome, wirkten also suppressiv statt kurativ. Weit schlimmer sei für sie jedoch gewesen, dass viele gebräuchliche Mittel zahlreiche, mitunter heftige Nebenwirkungen hatten. Sie suchte deshalb nach einer Form der Medizin, die sanft, zugleich aber effektiv und geeignet ist, mit dem breiten Spektrum an Krankheiten fertig zu werden, das ihr tagtäglich in ihrer Praxis begegne. Ohne jemals zuvor ein Buch über Homöopathie gelesen zu haben, schrieb sie sich in einen Kurs am Royal London Homeopathic Hospital (heute: Royal London Hospital for Integrated Medicine) ein. Das dort Gehörte überzeugte und faszinierte sie derart, dass sie die Homöopathie in ihre Praxis als Allgemeinmedizinerin integrierte – mit anhaltender Begeisterung, wie sie gegen Ende ihres Berichts schreibt: »What makes practising homeopathy so satisfying is that it gives me the freedom to engage with patients at every level; to tune into what really matters to them and then to match that to the most suitable medicine which can relieve their suffering, whether physical, emotional or both.« (SHE 11) Obwohl das Resümee bei nahezu allen Teilnehmern beider Samples ähnlich positiv ausfällt, ist die Kritik an der Schulmedizin unter den britischen ärztlichen und nichtärztlichen Homöopathen doch reflektierter. Die zitierte Ärztin ist die Einzige, die die Nachteile einer konventionellen Therapie auf den Punkt bringt. Die anderen beklagen hingegen überwiegend, jedenfalls

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häufiger als ihre deutschen Kollegen, die einseitig-direktive Arzt-Patient-Beziehung und den symptomzentrierten Therapieansatz. Unmittelbare Krankheitserfahrung (Kategorie II) Die zweitgrößte Gruppe des Samples stellen diejenigen Homöopathen dar, die die positiven Auswirkungen der Homöopathie nicht nur von außen beobachteten, sondern am eigenen Körper erfahren haben. Entsprechende Angaben machten zehn deutsche (38 Prozent) und drei englische (20 Prozent) Autoren. Zu dieser Gruppe zählen auch solche, deren Kinder ernsthaft erkrankt waren und denen nur homöopathische Arzneimittel halfen. Tritt nach einem langen, zermürbenden oder auch kurzen, aber heftigen Krankheitsverlauf eine Linderung der Beschwerden ein, wirkt diese Erfahrung aufgrund der persönlichen Betroffenheit umso beeindruckender. »Durch erlebte Gesundung – sanft und nachhaltig, ergo aus Überzeugung« (SHD 14), lautet beispielsweise der Grund, warum sich eine an einem Magen-Darm-Infekt erkrankte Ärztin für die Homöopathie entschieden hatte. Den Ratschlag, homöopathische Mittel auszuprobieren, erhielt sie von einer Verwandten. Ein anderer Homöopath erkrankte 1932 als Kind an einer Pneumonie, an der er laut Urteil des Hausarztes hätte sterben müssen. Die verzweifelte Mutter wandte sich an einen Heilpraktiker, der ihm mit Erfolg ein homöopathisches Mittel verabreichte. In der Familie wurde diese Anekdote immer wieder erzählt, weswegen er schon früh den Entschluss fasste, sich mit Medizin im Allgemeinen und Homöopathie im Besonderen zu beschäftigen (SHD 11). Eine Gynäkologin gibt an, nach der Geburt ihrer ersten Tochter schwer erkrankt zu sein, »ohne richtig Hilfe von der Schulmedizin erhalten zu haben« (SHD 1). Dieses einschneidende Erlebnis führte dazu, dass sie sich für Naturheilverfahren zu interessieren begann und den Entschluss fasste, sich mit einer eigenen Praxis niederzulassen (SHD 1): Langfristig wollte ich eine Praxis für Naturheilpraxis [sic!] aufmachen und konnte mir vorstellen, dass Patienten auch nach homöopathischen Therapien fragen würden. Da dies ja alles Quatsch sei, entschied ich mich, einen Kurs für Homöopathie zu machen, um den Patienten Argumente zu geben, warum ich diese Therapie nicht mache. Ich suchte mir einen passenden Kurs […]. Ich nahm an diesem Kurs teil mit der Zielsetzung, Argumente gegen die Homöopathie zu finden, und war sehr erstaunt, dass es eine Medizin geben soll, die das Thema »Ähnliches mit Ähnlichem« hatte.

Die Aussage ist deshalb interessant, weil die Ärztin trotz ihrer Affinität für alternative Heilverfahren der Homöopathie gegenüber zunächst skeptisch bis ablehnend eingestellt war. Sie belegte den Kurs nicht in der Absicht, das dort erlernte Wissen zugunsten ihrer Patienten anzuwenden, sondern mit der Intention, deren Wünsche und Bedürfnisse als ungerechtfertigt zu widerlegen. Wider Erwarten brachte das Gehörte ihre Meinung aber ins Wanken. Statt ihre Vorannahmen zu bestätigen, wurden sie und andere Kursteilnehmer

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zum Nachdenken angeregt: »Entweder ist das alles, was da vorgetragen wird, Quatsch und guruhaft, oder kann es sein, dass es da eine wirksame Therapie gibt, über die an der Uni geschwiegen wird?« (SHD 1) Um eine Antwort zu finden und da sich ihr gesundheitlicher Zustand zur selben Zeit erneut verschlechterte, begab sie sich in homöopathische Behandlung. Die Therapie schlug an, auch bei ihrem Mann und ihren Kindern, die der Homöopath ebenfalls erfolgreich behandelte. Daraufhin habe sie eine Ausbildung zur Homöopathin begonnen, da sie von der Homöopathie »einfach nur begeistert« (SHD 1) gewesen sei. Argumente gegen diese Heilmethode habe sie bis heute keine gefunden. Dass einige Autoren anfangs skeptisch waren, ob die Homöopathie tatsächlich helfen kann, geht auch aus anderen Berichten hervor. Ein Kinderarzt hatte Schwierigkeiten, die rezidiven fieberhaften Erkrankungen (Angina und Mittelohrentzündung) seines Sohns in den Griff zu bekommen. Seine Frau habe ihn dann gedrängt, sich nach medizinischen Alternativen umzuschauen, woraufhin er beim Zentralverein der Ärzte für Naturheilverfahren einen Homöopathie-Kurs besuchte. Obwohl ihm diese Lehre aufgrund seiner »schulmedizinischen Ausbildung und dem damit verbundenen linearen naturwissenschaftlichen Denken eher suspekt« (SHD 4) vorkam, entdeckte er viele Gemeinsamkeiten zwischen einem Arzneimittelbild (Pulsatilla) und den Krankheitssymptomen seines Sohns. Kurze Zeit später bot ihm ein Rückfall Gelegenheit, dieses Mittel auszuprobieren. Er habe geschwankt, sich dann aber doch zur einmaligen Gabe von Pulsatilla D 12 entschlossen. Tatsächlich verschwand daraufhin das Fieber, einen Tag später sogar die eitrige Absonderung. Über diesen Heilerfolg schreibt der Arzt rückblickend (SHD 4): Das war zwar (für mich als »Naturwissenschaftler«) ein Einzelfall, insgesamt aber doch sehr beeindruckend, so etwas wie ein Schlüsselerlebnis, so dass ich meine Ausbildung […] fortsetzte. Von dieser Behandlung an gab es bei meinem Sohn keine einzige Otitis oder Angina mehr – das überzeugte noch mehr!

Die Erkrankung des Sohnes machte die verzweifelten Eltern »offen für Neues« (SHD 25) – wie eine andere Ärztin ihre Reaktion auf die erfolglose konventionelle Behandlung ihres Kindes beschreibt – und brachte sie indirekt mit der Homöopathie in Kontakt. Der Heilerfolg räumte nicht nur die anfänglichen Widerstände und Vorurteile aus dem Weg, sondern führte auch dazu, dass der betreffende Kinderarzt die Homöopathie-Ausbildung fortsetzte und rund zehn Jahre später eine eigene Praxis für Homöopathie eröffnete. Solche und ähnliche Fallbeispiele, die nach einem immer gleichen Muster ablaufen, lassen sich auf deutscher wie englischer Seite fortführen. Unterschiede sind, zumindest in Bezug auf die ärztlichen Homöopathen, nicht auszumachen; entweder verbinden sie schon seit ihrer Kindheit positive Erfahrungen mit der Homöopathie (Halsentzündung, Neurodermitis), lernten sie im Erwachsenenalter aufgrund einer chronischen Erkrankung (Asthma, Neurodermitis, Ekzeme) kennen oder behandelten ihre Kinder (Fieber) erfolgreich homöopathisch. Alle diese Erfolgserlebnisse markieren den individuellen »Eureka!«-Moment (SHE 15), der im Gedächtnis bleibt. Abschließend

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soll allerdings noch einmal näher auf die persönliche Geschichte einer Pastorin und Heilpraktikerin eingegangen werden, die sich zwar nicht sonderlich von derjenigen der Ärzte abhebt, recht eindrucksvoll aber die entsprechenden Motive von Laien beleuchtet. Als eigentlichen Impuls für die Hinwendung zur Homöopathie nennt die Frau die »eigene Betroffenheit« (SHD 16). Die Schwangerschaft hätte sie veranlasst, sich stärker mit der Medizin auseinanderzusetzen, da sie »nicht einfach nur die Patientin sein [wollte], die sich in die Hände von Spezialisten begibt« (SHD 16). Um sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien, las sie populärwissenschaftliche Bücher zu medizinischen Fragen, ließ ihre Kinder zunächst aber weiter schulmedizinisch behandeln. Beim ältesten Sohn, der in den ersten beiden Lebensjahren immer wieder an Bronchitis, Mittelohrentzündungen und Ekzemen erkrankte, halfen langfristig allerdings weder Antibiotika noch Cortison. Ein lebensgefährlicher Fieberkrampf habe sie schließlich zum Umdenken und zur Alternativmedizin bzw. Homöopathie gebracht. Diese Erfahrung teile sie mit vielen anderen Menschen, die sie später bei Fortbildungen kennengelernt hatte: »Sie oder ein Familienangehöriger waren ernstlich erkrankt gewesen, hatten alle schulmedizinische Therapien hinter sich und fanden schließlich Heilung oder Besserung im alternativmedizinischen Bereich.« (SHD 16) Ihr Entschluss zur Ausbildung als homöopathisch ausgerichtete Heilpraktikerin lässt sich daraus aber noch nicht befriedigend erklären. Den Drang, Menschen helfen und in schwierigen Lebensphasen beistehen zu wollen, verspürte sie schon während ihres Theologiestudiums und auch später, als sie bereits als Pastorin arbeitete. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört(e) die seelsorgerische Betreuung von Menschen jeglichen Alters, wodurch sie mit deren körperlichen Beschwerden und Leidensgeschichten in Berührung kam. Außer zu beten habe sie für diese Menschen aber nichts tun können. Umso anziehender wirkte deshalb eine Annonce für die Ausbildung in Klassischer Homöopathie (SHD 16): Da traf es mich, so würde es wahrscheinlich die Apostelgeschichte formulieren, »mitten ins Herz«: Das ist es! Ich war wie elektrisiert, eine unglaubliche Aufregung. Nun bin ich auch ein ziemlicher rationaler Mensch. Ich war zuerst skeptisch: »Schlaf erst einmal eine Nacht drüber.« Am nächsten Morgen war die Aufregung unverändert. Dieser Zustand zog sich über mehrere Wochen hin.

Die Skepsis rührte von der Frage her, ob sie als Christin diese Therapieform verantworten könne. Obwohl sie nicht näher auf ihre Zweifel eingeht, lässt sich zwischen den Zeilen herauslesen, dass sie offenbar Schwierigkeiten hatte, die Behandlung des Körpers mit Arzneimitteln zu rechtfertigen. Lösen konnte sie den inneren Konflikt, indem sie sich vergegenwärtigte, dass Glaube und Seele der Menschen zwar in der Nachfolge Jesu gesunden würden, sie aber dennoch von Krankheiten geplagt seien. Der Hilferuf der Kranken ginge an Gott und ihre Mitmenschen, Beistand und Heilung zu gewähren, sei deshalb

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gottgefällig und Christenpflicht.18 Zuspruch habe sie zudem von Angehörigen und Freunden erfahren, die sich eine solche Tätigkeit aufgrund ihrer ausgeprägten Empathie und Hilfsbereitschaft vorstellen konnten. Nach einer monatelangen Bedenkzeit nahm sie schließlich ein Fernstudium auf, absolvierte die Heilpraktikerprüfung. Heute arbeitet sie nebenberuflich als Homöopathin in einer Gemeinschaftspraxis für Osteopathie. Schlüsselerlebnis, Initialmoment (Kategorie III) Einige Homöopathen gaben in ihren Berichten ein »AHA-Erlebnis« (SHD 6) an, das sie von der Wirksamkeit der Homöopathie überzeugte und den Ausschlag gab, sich fortan näher mit dieser Heilmethode zu beschäftigen. Im deutschen Sample sind dieser Kategorie drei (zwölf Prozent) Homöopathen zuzurechnen, in der britischen Vergleichsgruppe sind es ebenfalls drei (20 Prozent). Ein solches Erlebnis war meistens eine positiv verlaufene Fallgeschichte. Sie wirkte auf die Autoren umso beeindruckender, als alle konventionellen Therapien bereits ausgeschöpft waren und eine Heilung deshalb hoffnungslos schien. Der Versuch, die Erkrankung homöopathisch zu behandeln, war der sprichwörtlich letzte Strohhalm, um den Kranken zu helfen. So berichtet der ehemalige Tierarzt, dass er Anfang der 1990er Jahre während seiner Zeit als Assistent im Veterinäranatomischen Institut der Universität Leipzig mit der Behandlung eines Neufundländers betraut war, der an einer bakteriellen Entzündung beider Ohren litt. Bislang halfen Antibiotika nicht, ebenso blieb eine operative Erweiterung beider Gehörgänge wirkungslos. Da der Hund starke Schmerzen hatte, wurde darüber nachgedacht, ihn einzuschläfern. Der Tierarzt erinnerte sich an einen Kollegen, der in der Vergangenheit Erfolge mit homöopathischen Behandlungen hatte. Trotz Bedenken schilderte er ihm die Symptome der Entzündung, woraufhin der Kollege zum täglichen Verabreichen einiger Tropfen Hepar sulfuris C 30 riet. Das Befinden des Hundes besserte sich danach zusehends, bereits nach zwei Wochen war er »völlig wiederhergestellt« (SHD 27). Die Genesung, die in den Augen der Besitzerin an ein Wunder grenzte und noch dazu mit nur 7,50  DM Behandlungskosten zu Buche schlug, machte so großen Eindruck auf den Tierarzt, dass er alle seine verbliebenen Tiermedizin-Lehrbücher in ein Antiquariat trug, sich vom Erlös ein Künzli-Repertorium sowie eine homöopathische Arzneimittellehre besorgte und »beschloß, von nun an die richtige Medizin zu studieren« (SHD 27).

18 Ganz ähnlich argumentiert auch ein strenggläubiger Religionspädagoge: »Man müsste an Gott verzweifeln, mit welchen Leiden er die Menschen schlägt, wenn er ihnen nicht die göttliche Homöopathie gegeben hätte.« Der Homöopathie kommt dieser Auslegung zufolge dezidiert heilsgeschichtliche Bedeutung zu, weshalb ihre Anwendung prinzipiell mit dem christlichen Glauben vereinbar ist (SHD 7).

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Selbstve lbst rständnis lbstve als Arzt 8%

Unzufriedenheit it mit konventioneller Medizin 42 %

Schlüsselerlebnis 12 %

Unmittelbare Krankheitserfahrung 38 %

Abb. 2: Kategorisierung der Beweggründe (deutsches Sample, n=26)

Selbstve lbst rständnis lbstve als Arzt 27 %

Schlüsselerlebnis 20 %

Unmittelbare Krankheitserfahrung Unzufriedenheit it mit konventioneller Medizin 33 %

Abb. 3: Kategorisierung der Beweggründe (englisches Sample, n=15)

20 %

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Das tat er im Rahmen einer Homöopathie-Grundausbildung, der regelmäßige Fortbildungen folgten. Als ihn immer mehr Menschen baten, er möge doch sie selbst statt nur ihre Tiere homöopathisch behandeln, ließ er sich schließlich als Heilpraktiker in eigener Praxis nieder. Ein ähnliches Erlebnis schildert eine englische Tierärztin. Bis der Familienhund unheilbar an einem Geschwür erkrankte, verstand sie sich selbst als durch und durch skeptische Wissenschaftlerin, der die Homöopathie als wunderliches Zeug (»whimsical mumbo-jumbo«, SHE 3) galt. Entsprechend verständnislos reagierte sie auf den Entschluss ihrer Eltern, den Hund zu einem Homöopathen zu bringen, statt ihn operieren zu lassen. Nachdem aber das Geschwür infolge der homöopathischen Behandlung verschwand, nahm sie sich vor, mehr über diese sanfte und effektive Form der Medizin zu lernen. Sie gibt an, dass sie sofort fasziniert war von den zahlreichen Krankheiten und Verhaltensstörungen, die homöopathisch behandelt werden können. Angesprochen fühle sie sich vor allem vom Fokus auf die individuelle Natur des Patienten. Ein Allgemeinmediziner aus Wales berichtet, er habe bei seinen Behandlungen recht bald die Grenzen der konventionellen Medizin kennengelernt, Homöopathen zunächst aber für verrückt gehalten. Dennoch verschrieb er Patientinnen, die am Prämenstruellen Syndrom (PMT) litten, neben pflanzlichen auch homöopathische Arzneimittel. Die Erfolge, die er damit erzielen konnte, bewogen ihn, sich stärker mit der Homöopathie auseinanderzusetzen. Seither wendet er sie als willkommene Erweiterung seiner therapeutischen »toolbox« (SHE 9) an, zum eigenen Vergnügen und zur Zufriedenheit seiner Patienten. In die gleiche Richtung geht das Schlüsselerlebnis, das eine andere englische Allgemeinmedizinerin mit der Homöopathie verbindet. Sie war lange Zeit der Meinung, diese Heilmethode behandle nur die Symptome, nicht aber die eigentliche Krankheitsursache. Ihr Onkel, der als Tierarzt komplementärmedizinisch therapierte, klärte sie darüber auf, dass ihre Annahme falsch sei, die homöopathischen Mittel stattdessen die vorliegende pathologische Störung korrigierten. Das sei eine Offenbarung für sie gewesen, die sie zu einem Paradigmenwechsel und zur intensiven Beschäftigung mit der Homöopathie veranlasst habe. Unmittelbar danach schrieb sie sich am Royal London Homeopathic Hospital (heute: Royal London Hospital for Integrated Medicine) in Homöopathie-Kurse ein. Der Wissenszuwachs, den sie dort und anderswo erfuhr, war das eigentliche Schlüsselerlebnis (SHE 10): Since then, although I have continued to enjoy my conventional medicine, I have found that the world of homeopathy is far more fascinating. Learning the techniques of case taking has led me to far more effective consulting in general practice. Homeopathy encourages you to get right to the heart of the patient’s problem. The diagnosis is subsidiary. The patient experience is the key.

Homöopathie habe, so fährt sie in ihrem Kurzbericht fort, tiefgreifende Auswirkungen auf sie gehabt. Sie nehme Erkrankungen mittlerweile als Problem wahr, dem der Patient im Arztgespräch Ausdruck verleiht, nicht als bloße Diagnose in einem Lehrbuch.

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Selbstverständnis als Arzt und Heilpraktiker (Kategorie IV) Die drei vorgestellten Kategorien dienen der besseren Einordnung der verschiedenen Beweggründe. Sie lassen bestimmte Dispositionen erkennen, denen die Hinwendung zur Homöopathie vorausgeht. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die einzelnen Biographien teleologisch verlaufen: Das Bekenntnis zur Homöopathie stand nicht von Anfang an fest – auch wenn einige Umfrageteilnehmer das rückblickend gerne so stilisieren.19 Angeklungen ist bereits, dass manche Ärzte diesem Heilverfahren stattdessen mit ausgesprochener Skepsis und Ablehnung begegneten. Das mag daran liegen, dass ihnen während des Human-, Veterinär- oder Zahnmedizinstudiums von ihren Dozenten sprichwörtlich eingeimpft worden ist, bei der Homöopathie handle es sich um Scharlatanerie und dass Hochpotenzen aus pharmakologischer Sicht unwirksam seien. Entsprechende Angaben finden sich in mehreren Berichten beider Samples. Es sind dann persönliche Krisenerfahrungen, selbst durchgelittene und in der Familie durchgestandene Krankengeschichten, die Vorurteile zu überwinden helfen und offen für Neues machen. Umgekehrt kann auch die Unzufriedenheit mit konventionellen Behandlungsmethoden zur Suche nach Alternativen führen. Heilerfolge durch homöopathische Arzneimittel wirken in solchen Fällen umso beeindruckender und nachhaltiger. Einigen Berichten – zwei (acht Prozent) auf deutscher, vier (27 Prozent) auf englischer Seite – kann entnommen werden, dass nicht nur Unzufriedenheit und Heilerfolge für die Hinwendung zur Homöopathie verantwortlich sind. Ein weiteres Motiv, das eng verknüpft ist mit der Kritik am ökonomisierten, rationalisierten und technisierten Gesundheitssystem, ist diesen Angaben zufolge das Selbstverständnis als Arzt. Ärzten, denen ein ausführliches Gespräch mit ihren Patienten wichtig ist, die nicht an Karriere und einem hohen Einkommen interessiert oder mit dem kausalanalytischen Denkmodell der naturwissenschaftlichen Medizin nicht einverstanden sind, bieten sich abseits der Allgemeinmedizin wenig Freiheiten, diesem Wunsch nachzukommen. Selbst die Tätigkeit als niedergelassener Hausarzt garantiert nicht, Patienten nicht zügig abfertigen und mit problematischen synthetisch-chemischen Arzneimitteln behandeln zu müssen. Die Homöopathie ist deshalb ein Ausweg: Die Suche nach dem passenden Mittel erfordert einerseits eine zeitaufwendige Anamnese, bei der die besonderen Lebensumstände und die Konstitution des Patienten von großer Bedeutung sind. Die Arzneimittel an sich sind aufgrund ihrer hohen Verdünnung, abgesehen von der sogenannten Erstverschlimmerung, nebenwirkungslos und daher gerade für Kinder gut geeignet. Nicht unwichtig ist die Vorstellung, dass die Aufmerksamkeit des Arztes oder Heilpraktikers auf den ganzen Menschen und nicht auf einzelne Organe/Körperteile gerichtet ist. Andererseits handelt es sich bei der Homöopathie, wie bei der Schulmedizin, in erster Linie um eine Pharmakotherapie. Diese Eigenschaft 19 Eine Teilnehmerin beschreibt ihren Weg zur Homöopathie als »eine stetige Suchbewegung in meinem Leben, die rückblickend stimmig in die Tätigkeit einer niedergelassenen Hausärztin mit Schwerpunkt klassische Homöopathie mündete« (SHD 2).

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der Heilmethode zu betonen, ist wichtig, da sie Ärzten trotz Wechsel des Medizinsystems eine gewisse Kontinuität der Methoden erlaubt. Der Homöopathie liegt zwar ein komplett anderes Theoriekonzept zugrunde, die medikamentöse Behandlung der jeweiligen Erkrankungen bleibt aber bestehen (abgesehen von der stärkeren Betonung diätetischer Maßnahmen zur Gesundheitsförderung). Das hat den Vorteil, dass mit den Inhalten der Arztausbildung nicht gänzlich gebrochen werden muss – schon gar nicht, wenn Schulmedizin und Homöopathie im Praxisalltag kombiniert werden. Auch für den Patienten ist dieser Vorzug bzw. die materielle Komponente der Homöopathie nicht unbedeutend. Trotz aller Vorbehalte, die er gegenüber der Schulmedizin hegen mag, ist er mehrheitlich doch an die medizinische Praktik der Medikamenteneinnahme gewöhnt.20 Am deutlichsten zum Ausdruck kommt das im Bericht einer ärztlichen Homöopathin. Den eigentlichen Impuls, sich von der Schulmedizin abzuwenden, gab die erfolglose Cortison-Behandlung ihres erkrankten Sohns. Statt ihm zu helfen, schwächte das Cortison zusehends sein Immunsystem. Eine Freundin riet ihr zur Homöopathie – der weitere Verlauf folgt dem in Kategorie II thematisierten Muster. Die Ärztin beschreibt ihre Haltung gegenüber der Homöopathie nun folgendermaßen (SHD 25): Das war es, was ich schon immer gesucht hatte! Eine ganzheitliche Methode, die mir Mittel in und an die Hand gab, um ohne Nebenwirkungen zu therapieren! Trotz der anfänglichen Irritation durch das völlig andere Denkmodell der Homöopathie reizte mich vor allem die Herausforderung, das passende Mittel immer wieder neu zu finden, was sich von den starren Behandlungsschemata der Schulmedizin erfreulich abhob.

Die Homöopathie kommt also ihrem Wunsch entgegen, sich tiefergehend mit den Beschwerden der Patienten auseinanderzusetzen und individuell passende Arzneimittel zu finden. Bislang war ihr das nicht möglich, die konventionellen Therapiemöglichkeiten beschränkten sich auf die pauschale Verordnung von Antibiotika oder Virostatika bei Infektionskrankheiten und anderen synthetischen oder pflanzlichen Mitteln bei leichteren Erkrankungen. Zusätzlich aufschlussreich für die mehrdimensionale Arzt-Patient-Beziehung sind ihre Ausführungen zur Doppelfunktion homöopathischer Medikamente (SHD 25): Für mich als Ärztin und Psychotherapeutin hat die Homöopathie noch einen besonderen Stellenwert. Das energetische Prinzip der Homöopathie, komprimiert in Form der Globuli, ist für mich Bindeglied zwischen der rein materiellen Sicht- und Behandlungsweise der »Schulmedizin« und der Beschäftigung ausschließlich mit der seelisch-geistigen Dimension in der Psychotherapie. […] Homöopathische Mittel, die ich verabreiche, sehe ich u. a. als wichtige Übergangsobjekte, die greifbar, fassbar sind, um dem Patienten zu vermitteln, dass er in seiner individuellen Lebenssituation und Erkrankung verstanden wird.

Dieser Vorstellung zufolge materialisieren die Globuli die Aufmerksamkeit und Zuwendung des Arztes, die zuvor schon in ausführlichen Gesprächen ver20 Zur Meta-Bedeutung der Medikamentengabe und -einnahme siehe Bourdelais/Faure (2005), insbesondere S. 11–24.

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bal vermittelt worden sind. Man könnte dagegenhalten, dass das ja auch bei der Schulmedizin der Fall ist. Allerdings fehlen hier die zeitintensive Anamnese und das dadurch mögliche Vordringen zur eigentlichen Krankheitsursache als Vorbedingung der medikamentösen Behandlung. Der wirksamste Teil der homöopathischen Therapie ist demnach das ausführliche Gespräch zwischen Arzt und Patient. Auch wenn die anderen Umfrageteilnehmer nicht so weit gehen, stimmen sie dieser Auslegung doch insoweit zu, als sie die Bedeutung der homöopathischen Anamnese bzw. des »case-taking« für den Heilprozess betonen. Eine Kinderärztin schreibt beispielsweise, bereits das erste Gespräch hätte eine Vertrauensbasis zwischen ihr und der Mutter bzw. dem Kind geschaffen, wie sie früher erst nach längerer Zeit möglich gewesen sei. Die Kombination von Schulmedizin und Homöopathie hätte sie deshalb als »enorme Bereicherung und ein Geschenk« empfunden (SHD 22). Eine Zahnärztin bekundet in ihrer Zuschrift, dass sie über die Homöopathie gelernt habe, »Menschen und besonders Kinder schneller und verständnisvoller zu erfassen« (SHD 23). Ganz ähnlich äußert sich auch ein deutscher Hausarzt (SHD 26): Mittlerweile bin ich 61 Jahre alt und habe tiefe Einblicke in das Seelenleben meiner Patienten und in deren soziales Umfeld gewonnen. Diese Kenntnisse erlauben es mir, viele psychosomatische Krankheitsbilder erfolgreich homöopathisch zu therapieren, ohne dabei lediglich auf die verbalen Äußerungen meiner Patienten angewiesen zu sein.

Diese Fähigkeit ist seiner Meinung nach deshalb von einiger Bedeutung, da exakte sprachliche Ausdrucksformen nicht gerade die Stärke der hiesigen Landbevölkerung seien. Auch auf Seiten der britischen Homöopathen finden sich gleichlautende Angaben. Mehrere Ärzte weisen in ihren Berichten neben anderen, primär therapeutischen, Vorzügen auf das detaillierte und persönlich bereichernde Arzt-Patient-Gespräch hin. Besonders hervorgehoben wird in diesem Kontext, dass die homöopathische Anamnese geholfen hätte, die Untersuchung zu verbessern und direkt zum eigentlichen Problem der Patienten vorzudringen. Die Anamnese sei deshalb für sich genommen schon therapeutisch wertvoll (SHE 10). Die Übereinstimmung zwischen ärztlichem Selbstbild und dem Behandeln nach homöopathischen Grundsätzen bringt ein Allgemeinmediziner zum Ausdruck, als er zu Beginn des Berichts seine Berufswahl begründet. Zur Medizin gebracht und nachhaltig geprägt habe ihn ein Allgemeinmediziner, bei dem die Familie über Jahre hinweg in Behandlung war. Die positiven Erlebnisse, die er mit diesem Arzt verbinde, hätten ihn bewogen, Menschen helfen und selbst Arzt werden zu wollen. Umso härter traf ihn dann die Enttäuschung, nachdem er sein Medizinstudium begonnen hatte: »How naive can one be? No wonder medical school hit me like an unexpected hurricane. I found myself in the corridors of pure science with never more than a lip service paid to what I childishly had thought medicine was all about – interacting in a useful and friendly way with other people.« (SHE 8)

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Erst das Praktische Jahr brachte eine Verbesserung, da er wenigstens mit Patienten in Kontakt kam. Auch hatte er gelegentlich das Gefühl, seine Arbeit richtig gemacht zu haben, was ihm Freude bereitete und ihn für kurze Zeit mit der erlernten Form der Medizin versöhnte. Langfristig brachten ihm aber auch die beiden klinischen Semester keine wirkliche Befriedigung, denn die meiste Zeit wertete er Laborbefunde aus und verordnete chemische Medikamente. Durch Zufall entdeckte er in einem Buchladen eine Einführung in die Homöopathie. Da er mit dieser Heilmethode bis dahin unwissenschaftliche Quacksalberei assoziierte, interessierte ihn an diesem Buch vor allem das Akronym MBBS (Bachelor of Medicine, Bachelor of Surgery), das hinter dem Verfassernamen stand. Es verriet, dass der Autor ebenfalls Arzt sein musste. Nur deshalb hätte er die Einführung in die Hand genommen, in der ein Allgemeinmediziner seine Sicht auf die Homöopathie schilderte. Im Bericht schreibt unser Arzt über seine unmittelbare Reaktion auf das Geschriebene Folgendes (SHE 8): The description of the medicines sounded interesting because they seemed to be people orientated as well as aimed at particular symptoms and diseases. However it was the description of the homeopathic consultations with his patients that really turned me on to homeopathy. Empathically and congruently relating to patients in this way is why I chose to become a doctor in the first place. I had no idea if homeopathy worked at all. But the stories in the book felt very authentic and there was no way I was going to walk away from that.

Demnach hat sich dieser Arzt nicht primär wegen der Kritik an der Schulmedizin oder erfahrener/miterlebter Heilerfolge für die Homöopathie entschieden, sondern allein auf Grundlage der Empfehlung aus der Einführungspublikation, wie mit Patienten und ihren Beschwerden umgegangen werden soll. Mit einer solchen Heilmethode konnte er sich aufgrund der hohen moralischen und ideellen Werte weit eher identifizieren als mit dem naturwissenschaftlichen Paradigma der Schulmedizin. Die Homöopathie bietet also auch in Bezug auf Patientenkommunikation und empathische Gesprächsführung Lösungen an, die von der Schulmedizin lange Zeit als zweitrangig vernachlässigt worden sind. Je nach persönlicher Gewichtung können sie ebenfalls ausschlaggebend dafür sein, dass sich ein Arzt von der Schulmedizin ab- und der Homöopathie zuwendet. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an die in Kategorie I zitierte österreichische Ärztin. An der Homöopathie schätzt sie besonders die Bedeutung des biographisch orientierten Arztgesprächs, das einem helfe, sich den Lebensphänomenen und dem realen Sein der Patienten zu öffnen (SHD 13). Einige Umfrageteilnehmer betonen letztlich, dass sie sich der Homöopathie gerade wegen des zugrundeliegenden Verständnisses von Gesundheit und Krankheit verbunden fühlen. Einem Kinderarzt gefällt beispielsweise, dass dem Organismus – eine rechtzeitige homöopathische Behandlung vorausgesetzt – durch die Vermeidung von konventionellen Medikamenten die Möglichkeit gegeben wird, »sich aus sich heraus zu stabilisieren« (SHD 4). Ihm stimmt implizit eine andere Ärztin zu. Sie schreibt in ihrem Bericht, dass es sie reizen würde, den Impuls zu finden, »der mit der Lebenskraft des Patienten

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in Resonanz tritt und damit die Selbstheilungskräfte des Organismus in Gang setzt« (SHD 25). Eine dritte Ärztin kritisiert ebenfalls die Schwächung von Lebenskraft und Vitalität durch die Einnahme von Antibiotika und anderen stark wirkenden Arzneimitteln (SHD 21). Krankheiten entstünden, wenn die individuelle Lebenskraft aus dem Gleichgewicht geraten sei. Sie zu korrigieren, sei Aufgabe der Homöopathika. Obwohl nur die letztgenannten beiden Ärztinnen die für die Gesundheit eines Menschen so wichtige Lebenskraft explizit erwähnen, dürfte davon auszugehen sein, dass ihre Sichtweise von den übrigen Homöopathen oft geteilt wird. Kritik an der Homöopathie und ihre Stellung im Gesundheitsbereich Bei aller Begeisterung, die in den Berichten zum Ausdruck kommt, äußern doch einige Umfrageteilnehmer auch inhaltliche oder methodische Kritik an der Homöopathie. Trotz zahlreicher Erfolge bei Akuterkrankungen beklagt eine deutsche Ärztin in ihrem Kurzbericht beispielsweise die Ernüchterung bei der homöopathischen Behandlung von chronischen Erkrankungen. Deutlich hätte sie wahrgenommen, dass Globuli alleine bei komplexen Gesundheitsstörungen nicht ausreichen. Auch die von ihr besuchten Fortbildungen und Supervisionen konnten ihr die Zweifel nicht nehmen; die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel sei stattdessen nur größer geworden: »Wurde nicht auch hier – ebenso wie in der Schulmedizin – die Hoffnung vermittelt, Heilung könne von außen, hier durch Globuli, kommen?« (SHD 25) Dieselbe Enttäuschung, die sie Jahre zuvor bei der erfolglosen schulmedizinischen Behandlung ihres kranken Sohns erlebt hatte, stellte sich nun erneut ein. Den Grund dafür sieht sie im dogmatischen Festhalten an den Glaubenssätzen der Homöopathie. Sich eingestehen zu müssen, gescheitert zu sein, musste auf sie ähnlich desillusionierend wirken wie die Erkenntnis, dass man auch nach einer intensiven naturwissenschaftlichen Ausbildung nicht alle Krankheiten heilen kann. Mit der Homöopathie hat sie allerdings nicht gebrochen. Stattdessen absolvierte sie eine psychotherapeutische Weiterbildung, wodurch sich der Schwerpunkt der ärztlichen Tätigkeit sukzessive hin zu mehr psychosomatischer und psychotherapeutischer Behandlung verschoben habe. Homöopathische Arzneimittel setzt sie nach wie vor ein, als »Übergangsobjekte, die greifbar, fassbar sind, um dem Patienten zu vermitteln, dass er in seiner individuellen Lebenssituation und Erkrankung verstanden wird« (SHD 25). Dass der Wirkungsmechanismus der Homöopathie von der Forschung bis heute nicht zweifelsfrei erklärt werden konnte, stellt dagegen für eine englische Podologin ein Problem dar. Entsprechend wandelte sie (in Absprache mit der Schriftleitung) den Titel der Rubrik in der Zeitschrift Homeopathy & Health in »Why I will never become a Homeopath« und damit ins Gegenteil um. Das ist einigermaßen widersprüchlich, denn zunächst erklärt sie ausführlich, warum sie als Fußpflegerin homöopathische Arzneimittel schätzt und sie mit durchaus positivem Feedback ihren Patienten empfiehlt. 2011 sei sie

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allerdings erstmals auf die Kontroverse um die Wirksamkeit der Homöopathie aufmerksam geworden. Die selbsternannten »Skeptiker« argumentieren, die Homöopathie sei unwissenschaftlich und gefährlich. Sie beschloss daraufhin, durch ein Masterstudium ihr Wissen zu vertiefen und selbst Forschungen anzustellen, um herauszufinden, ob und warum Homöopathie wirkt. Damit geht sie weiter als diejenigen Homöopathen des britischen Samples, die sich zwar nicht im Klaren über den Wirkungsmechanismus der Homöopathie, aber dennoch von ihrer Heilkraft überzeugt sind – vorausgesetzt, es werden die richtigen Mittel angewendet (SHE 7, 15). Die Kritik an der Homöopathie beschränkt sich aber nicht nur auf Ungereimtheiten bezüglich ihrer Heilkraft. Ein approbierter Homöopath beklagt die »Auswahl unter Hunderten gängiger homöopathischer Arzneien« und die daraus resultierende »Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen« (SHD 21). Zwar konnte er Behandlungserfolge verzeichnen, allerdings nicht in allen Fällen. Das Gefühl, das ihm zur Verfügung stehende therapeutische Instrumentarium sei zu unpräzise, bewog ihn zur theoretischen Weiterentwicklung der Homöopathie. Seither verwendet er vorwiegend Arzneien mineralischer Herkunft und stützt sich auf »miasmatische Überlegungen, also auf die Würdigung der Langzeitbiografie und der genetischen Vorbelastung, ebenso wie auf Details des körperlichen Untersuchungsbefundes und […] auf die Persönlichkeitsmerkmale« (SHD 21). Diese Arbeitsweise über Jahre hinweg verfeinerter Homöopathierichtungen mache es möglich, »fundamentale Heilungen auch tiefer Pathologien zu vollbringen« (SHD 21). Einen Vorteil sieht er darin nicht nur für die einzelnen Patienten im Besonderen, sondern auch für die Homöopathie im Allgemeinen. Schließlich steckt sie seiner Meinung nach in einer Krise, da sie nicht den nötigen statistischen Beweis ihrer Heilungserfolge erbringen kann. Die Folge sei, dass ihr die Anerkennung von Seiten der Wissenschaft und damit auch die der Kostenträger verwehrt bleibe. Die Weiterentwicklung der Erkenntnisse Hahnemanns und seiner Mitstreiter sei aber wichtig, da nur dadurch das volle Potential der Homöopathie entfaltet und Krankheiten wie Multiple Sklerose, Psychosen oder Rheuma geheilt werden könnten. In beiden Stichproben überwiegt jedoch die Zahl derer, die nahezu ausschließlich klassisch homöopathisch oder komplementärmedizinisch behandeln – sofern es sich um Ärzte handelt, die zwischen einer alternativ- und/ oder schulmedizinischen Therapie wählen können. Sie versuchen gezielt, den Einsatz synthetisch-chemischer Arzneimittel zu vermeiden, lehnen konventionelle Therapieformen aber nicht generell ab. Die Homöopathie ist in ihren Augen eine willkommene therapeutische Bereicherung, nicht nur bei der Arzneimittelwahl, sondern auch in Bezug auf die Patientenkommunikation. Die Schulmedizin komplett zu ersetzen, kann sich deshalb kein Homöopath des Samples vorstellen. Eine englische Ärztin äußert sogar, dass sie nicht daran glaube, dass die Homöopathie als eigenständige Therapieform bestehen kann; die Schulmedizin hätte einfach zu viel zu bieten. »But used as a complementary treatment homeopathy has an important role to play in modern healtcare provision.« (SHE 5)

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Wie wird man Homöopath oder Heilpraktiker? In der vorliegenden Studie ist ausführlich auf die Frage eingegangen worden, warum sich Ärzte und Heilpraktiker gegenwärtig und in jüngerer Vergangenheit für die Anwendung der Homöopathie in ihrer Praxis entschieden haben. Die Beweggründe spiegeln die persönliche Motivation der Betreffenden wider, sagen jedoch wenig bis gar nichts über die langwierige und kostspielige Ausund Weiterbildung aus  – sie wird stattdessen stillschweigend vorausgesetzt. Offen ist bislang geblieben, wie die Wissensvermittlung im Einzelnen abläuft, welche Inhalte sie umfasst und wie sie strukturiert ist. Im Folgenden soll es deshalb darum gehen, was Homöopathen aus beiden Ländern vorweisen müssen, um auf dem Praxisschild die Zusatzbezeichnung Homöopathie anbringen zu dürfen. In Deutschland obliegt die Zulassung eines homöopathischen Arztes den Landesärztekammern. Sie sind für alle Angelegenheiten der ärztlichen Weiterbildung zuständig. Die Landesärztekammern orientieren sich dabei an der 2003 vom Deutschen Ärztetag beschlossenen (Muster-)Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (MWBO; Fassung vom 23.10.2015).21 Neben den Regularien anderer Fachrichtungen sind darin auch die Weiterbildungsziele und -inhalte in Homöopathie festgeschrieben. In der Aus- bzw. Weiterbildung geht es demnach im Wesentlichen um den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten in der homöopathischen Krankheits- und Behandlungslehre und in der individuellen, richtig dosierten Arzneimittelwahl nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Darüber hinaus muss der Auszubildende befähigt werden, Fallanalysen akuter und chronischer Krankheiten durchführen, Differentialdiagnosen stellen und auch die Grenzen der homöopathischen Behandlung erkennen zu können. Dazu bieten sich ihm zwei Möglichkeiten: Entweder famuliert er sechs Monate lang bei einem anerkannten Weiterbildungsbeauftragten oder er absolviert 100 Stunden Fallseminare einschließlich Supervision. Zusätzlich fällt der Besuch von insgesamt 160 Stunden Weiterbildungskursen an. Die MWBO ist, wie der Name bereits erkennen lässt, sehr allgemein gehalten und dient den Landesärztekammern lediglich als Orientierungshilfe. Sie modifizieren die Lernziele eigenständig und lizenzieren die Weiterbildungsbeauftragten bzw. Anbieter von entsprechenden Kursen. In jedem Fall verlangen die Kammern von einem Arzt, der sich in Homöopathie weiterbilden möchte, die Approbation und damit ein abgeschlossenes Medizinstudium. In Bayern und Berlin fordern die Landesärztekammern für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Homöopathie wie in den übrigen Bundesländern zusätzlich die Facharztanerkennung. Alternativ genügt dort aber schon der Nachweis einer zweijährigen Weiterbildung in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung. Die 160 Stunden Weiterbildungskurse setzen sich

21 Die MWBO ist online verfügbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/pdf-Ordner/Weiterbildung/MWBO.pdf (letzter Zugriff: 7.2.2018).

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zusammen aus vier Kursen, die sogenannten A- bis D-Kurse22 mit je 40 Unterrichtsstunden. In diesen Kursen bekommen die Auszubildenden, gemäß der MWBO, die wesentlichen theoretischen Grundlagen vermittelt. Im Anschluss an die Kurse schreiben die Landesärztekammern die 100 Unterrichtsstunden dauernden Fallseminare vor. Darunter ist die Weiterbildung in Arbeitsgruppen unter der Leitung eines von der zuständigen Landesärztekammer befugten Arztes gemeint. Wer die 100 Stunden lieber am Stück ableisten möchte, der kann alternativ sechs Monate lang in einer Praxis oder Klinik ebenfalls unter der Leitung eines befugten Arztes arbeiten. Hier weichen die Ärztekammern der Länder nicht von den Regularien der MWBO ab. Lediglich im Bundesland Berlin verlangt die Ärztekammer von den angehenden approbierten Homöopathen die dreifache Menge: Um die Zusatzbezeichnung Homöopathie zu erhalten, muss der Betreffende 300 Stunden Fallseminare besuchen oder 18 Monate lang in Praxen bzw. Kliniken hospitieren. In diesen beiden Punkten stimmen die Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern mit der MWBO, zumindest inhaltlich, überein. Der größte Unterschied ist, dass die Landesärztekammern noch die Bearbeitung von 50 Krankheitsfällen im Fallseminar oder während der Praxisassistenz vorschreiben. Zehn dieser Fälle müssen dabei ausführlich und vom Teilnehmer selbständig ausgearbeitet werden. Zu diesen 50 kommen weitere zehn Fälle aus seiner eigenen praktischen Tätigkeit, die es zu präsentieren und schriftlich zu dokumentieren gilt. Wiederum fünf von diesen eigenen Fällen sollen chronische mit mindestens einjähriger Beobachtung nach der ersten Mittelgabe sein. Hat der auszubildende Arzt schließlich alle Nachweise erbracht und die kammerinterne Prüfung bestanden, darf er die Zusatzbezeichnung Homöopathie führen. Er besitzt damit automatisch die nötige Qualifikation, um seine Leistungen den gesetzlichen Krankenkassen in Rechnung stellen zu können  – vorausgesetzt, sie haben mit den Kassenärztlichen Vereinigungen Homöopathie-Verträge geschlossen. Unabhängig von den Landesärztekammern bietet der DZVhÄ den Erwerb eines Homöopathie-Diploms an. Der umfangreiche Diplom-Lehrgang baut auf den Weiterbildungsinhalten zur Zusatzbezeichnung auf und erweitert diese um die »Diplomkurse« E und F. Diese beiden Kurse sind praxisorientierter als die vorangehenden und sollen zur Bewältigung komplexer homöotherapeutischer Herausforderungen anleiten. In Kurs E eröffnen sich dem Auszubildenden Wahlmöglichkeiten zwischen der Langzeitbegleitung von chronisch kranken Patienten in ambulanten Bereichen, dem Entwerfen von Therapiekonzepten für Patienten mit stationärem Behandlungsbedarf sowie dem Erwerb von tieferen Kenntnissen aus verschiedenen Fachbereichen und Lebensabschnitten (beispielsweise Innere Medizin und Geriatrie). Im F-Kurs liegt der Schwerpunkt dann bei der homöopathischen Behandlung von mehrdimensionalen und komplizierten chronischen Krankheiten. Auch 22 Die Inhalte der einzelnen Kurse sind einsehbar unter https://www.weiterbildung-homoeo pathie.de/wordpress/wp-content/uploads/2016/12/2016-11-03-Curriculum.pdf (letzter Zugriff: 24.1.2018).

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hier können Therapiekonzepte aus vier der insgesamt sechs Themenblöcke (Notfallmedizin, Intensivmedizin, Onkologie, Geistes-/Gemütskrankheiten, Palliativmedizin, Rehabilitationsmedizin) gewählt werden. Zusätzlich stehen die Homöopathiegeschichte sowie wichtige gegenwärtige Strömungen in der Homöopathie auf dem Lehrplan des F-Kurses. Sind auch diese Kurse absolviert, müssen die Diplomanden erneut 300 Unterrichtsstunden in Fallseminaren einschließlich Supervision sammeln oder alternativ 18 Monate lang in einer Praxis oder Klinik arbeiten. Hinzu kommt wiederum die Ausarbeitung von 50 sowie die Präsentation und Dokumentation von zehn eigenen Krankheitsfällen, wodurch die Homöopathie-Weiterbildung der Ärztekammer Berlin den Anforderungen des HomöopathieDiploms entspricht. Der DZVhÄ begründet die Notwendigkeit des 2004 eingeführten Homöopathie-Diploms mit der 2003 erfolgten Verkürzung der Weiterbildungsdauer und damit auch -inhalte. Die Vertiefung der Kenntnisse im Rahmen des Diplom-Lehrgangs diene sowohl der Qualitätssicherung als auch dem persönlichen therapeutischen Erfolg. Darüber hinaus stellt der DZVhÄ den Absolventen eine bessere Außenwerbung sowie Vorteile in der Honorierung der homöopathischen Leistungen durch Selektivverträge in Aussicht. Anfang 2017 verfügten rund 7.000 Ärzte über die Zusatzbezeichnung Homöopathie; 2.300 besaßen das Homöopathie-Diplom. Nichtmedizinischen Laien, die – aus den unterschiedlichsten Gründen – die Homöopathie professionell ausüben wollen, steht der Beruf des Heilpraktikers mit Schwerpunkt (Klassische) Homöopathie offen. Der oder die Betreffende muss dazu mindestens 25 Jahre alt sein, einen Hauptschulabschluss sowie die gesundheitliche, sittliche und geistige Eignung mittels eines ärztlichen Attests und polizeilichen Führungszeugnisses nachweisen können. Es dürfen keine berufsbehindernden Krankheiten (Infektionskrankheiten, Psychosen etc.) und auch keine Vorstrafen vorliegen. Sind diese formalen Voraussetzungen gegeben, muss bei den zuständigen Gesundheitsämtern erfolgreich eine schriftliche und mündliche Überprüfung der medizinisch-anatomischen Kenntnisse abgelegt werden, um die staatliche Erlaubnis zur Berufsausübung zu erhalten. Das hierfür nötige umfangreiche Wissen, das die allgemeine Krankheitslehre ebenso umfasst wie die Deutung von Laborwerten, Berufsund Gesetzeskunde und klinische Befunderhebung, kann sich der Laie autodidaktisch aneignen. Sinnvoller und allgemein üblich ist jedoch der Besuch einer der zahlreichen Heilpraktikerschulen bzw. die Teilnahme an einem von diesen Schulen angebotenen Ausbildungsprogramm. Die Inhalte sind an die Kriterien der Amtsarztprüfung und den späteren Praxisalltag angepasst, wodurch eine optimale Vorbereitung auf die spätere Berufsausübung garantiert werden soll. Es steht den Auszubildenden dabei frei, ob sie die entsprechenden Kurse berufsbegleitend an Abenden oder Wochenenden, via Fernstudium oder im Präsenzunterricht absolvieren wollen. Die Ausbildungsdauer wird mit 18 bis 24 Monaten veranschlagt, kann sich je nach Unterrichtsmodell jedoch weitaus länger hinziehen.

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Die Überprüfung durch die Gesundheitsämter gewährleistet, dass nur Personen als Heilpraktiker arbeiten und Kranke behandeln dürfen, die zuverlässig sind und über ein hohes Maß an medizinischer Bildung verfügen. Dementsprechend fragen die Behörden nur schulmedizinisches Wissen ab; alternative Therapien sind nicht prüfungsrelevant. Da Heilpraktiker aber nicht wie approbierte Ärzte und Psychotherapeuten verschreibungspflichtige Medikamente verordnen dürfen, müssen sie sich auf eine oder mehrere Methoden spezialisieren. In unserem Fall ist das die (Klassische) Homöopathie. Da die Inhalte und Schwerpunkte von Schule zu Schule variieren, soll hier der Lehrplan dieser Zusatzausbildung kurz am Beispiel der Clemens von Bönninghausen-Akademie für Homöopathik skizziert werden. Die Akademie bietet seit 1990 eine qualifizierte homöopathische Ausbildung an, ist vom Bund Klassischer Homöopathen Deutschlands (BKHD) zertifiziert worden und damit repräsentativ für seriöse homöopathische Institute. Die Homöopathie-Ausbildung dauert drei Jahre und ist in drei Module aufgeteilt. Sie entspricht dem Standard der Qualitätskonferenz des BKHD und umfasst insgesamt 552 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten, 1.250 Stunden angeleitetes Heimstudium und eine Abschlussprüfung. Das erste Modul betrifft die Arzneimittellehre als wesentliche Grundlage einer homöopathischen Behandlung. Modul zwei behandelt die homöopathische Arzneimittelprüfung und Mittelfindung, Regeln zur Behandlung akuter Krankheiten, die Darstellung wichtiger Symptomreihen sowie die Erstellung einer eigenen Arzneimittellehre. Das dritte Modul dient dem Erwerb praktischer Fähigkeiten, vor allem bei der Behandlung von chronischen und destruktiven Krankheiten. Die Kosten belaufen sich auf 6.870 Euro. Heilpraktikerschülern steht eine Ermäßigung in Höhe von 633 Euro zu. Zusätzlich wird ab Modul zwei eine Einschreibgebühr von 120 Euro erhoben. Die qualitativ anspruchsvolle und umfangreiche Ausbildung in Homöopathik ist damit vergleichsweise teuer. Schließlich kommt zu diesen Kosten noch das Entgelt der Heilpraktikerausbildung hinzu, das mit durchschnittlich rund 6.000 Euro ebenfalls nicht gering ist. Wer den Beruf eines Heilpraktikers erlernen und seine Patienten anschließend homöopathisch behandeln will, braucht also weit mehr als altruistische Motive und Ideale. Nützliche Eigenschaften sind Durchhaltevermögen und angesichts der Kosten eine hohe Risikobereitschaft. In Großbritannien dürfen homöopathische Arzneimittel nicht nur von Human- und Zahnmedizinern verschrieben und angewendet werden. Im Grunde kann sich dort jeder Bürger als Homöopath bezeichnen und als solcher kranke Menschen behandeln, auch ohne entsprechende Qualifikationen oder Erfahrungen. Da das Selbststudium einer derart komplexen Heilmethode wie der Homöopathie nur bis zu einem gewissen Grad erfolgreich sein kann und der Autodidakt schnell an seine Grenzen kommt, bieten verschiedene Institutionen, ähnlich der Situation in Deutschland, entsprechende Ausbildungskurse an. Angehörige des medizinischen Personals (Krankenschwestern und -pfleger, Physiotherapeuten, Podiater, Apotheker, aber auch Tierärzte), die bei ihrem Berufsverband registriert sind, können die offiziellen Kurse der 1844 gegründeten Faculty of Homeopathy in Bristol, Glasgow, London, Nord-

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irland und Yorkshire besuchen.23 Das Ausbildungssystem ist mehrstufig angelegt und startet mit dem Abschluss eines Licenced Associate member of the Faculty of Homeopathy (LFHom). Danach steht den angehenden Homöopathen der »membership course« (MFHom) offen, in dem die Kenntnisse vertieft werden und der mit einer klinischen Prüfung abgeschlossen wird. Ärzte, die diesen Kurs absolviert haben, dürfen die Homöopathie innerhalb des NHS praktizieren und abrechnen.24 Laien bieten sich ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten, sich umfassend in Homöopathie aus- oder weiterzubilden. Neben kleineren und lokalen Institutionen wie dem British Institute of Homeopathy oder dem College of Naturopathic Medicine positioniert sich die Society of Homeopaths als Vertreterin professioneller Homöopathen in Europa. Sie ist ähnlich strukturiert und anspruchsvoll wie die Faculty of Homeopathy, steht gemäß ihrem Grundsatz »homeopathy for all« aber nicht nur dem medizinischen Personal offen.25 Sie wirbt mit dem wissenschaftlichen Niveau ihrer Ausbildung und bietet Mitgliedern darüber hinaus weitere Vorzüge, etwa eine Versicherung gegen Schadensersatzansprüche. Besuchen können die Auszubildenden die von der Society akkreditierten Teilzeit- bzw. Wochenendkurse in Bristol, Essex, Gloucestershire, Manchester, London, Norwich (Norfolk), Chichester (West Sussex), Salisbury und Carmarthen (Wales).26 Um eine Vorstellung von den Kosten zu bekommen, die für eine mehrjährige Ausbildung anfallen, sollen die Kursgebühren des Centre for Homeopathic Education (CHE) in London als Orientierung dienen. Für ein BachelorStudium der Homöopathie muss der Auszubildende 4.200 Britische Pfund bezahlen, für ein Vollzeit-Studium des anspruchsvolleren »Practitioner Licentiate course« sogar 6.700 Britische Pfund. Die Gebühren sind also etwas höher als in Deutschland, allerdings entfällt in Großbritannien die ebenfalls kostenintensive Ausbildung zum Heilpraktiker. Beide Institutionen, Faculty und Society, rechtfertigen die Ausbildungskosten mit der dadurch erworbenen Qualifikation und der Möglichkeit, sich als professioneller Homöopath bei der Professional Standards Authority for Health and Social Care (PSA) registrieren bzw. akkreditieren zu lassen. 23 Bristol: Portland Centre for Integrative Medicine; Glasgow: NHS Centre for Integrative Care; London: Royal London Hospital for Integrated Medicine (vormals Royal London Homeopathic Hospital); Nordirland: The Dunsilly Hotel (die Räume des Hotels werden für die Kurse angemietet); Yorkshire: British Academy of Veterinary Homeopathy. 24 Detaillierte Informationen bezüglich der einzelnen Kurse sind der Homepage der Faculty of Homeopathy zu entnehmen: https://facultyofhomeopathy.org/training-in-homeopathy/ qualifications/ (letzter Zugriff: 24.1.2018). 25 Mehr Informationen über die Society of Homeopaths sind online verfügbar unter https://facultyofhomeopathy.org/training-in-homeopathy/qualifications/ (letzter Zugriff: 24.1.2018). 26 Bristol: The Contemporary College of Homeopathy; Essex: Allen College of Homoeopathy; Gloucestershire: The School of Homeopathy; Manchester: North West College of Homoeopathy; London: Centre for Homeopathic Education; Norwich: Homeopathic College of East Anglia; Chichester: South Downs School of Homeopathy; Salisbury: Salisbury Homeopathy College; Carmarthen: Welsh School of Homoeopathy.

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Homöopathie an einer Universität zu studieren, ist in beiden Ländern eingeschränkt möglich. In Deutschland bieten immer mehr medizinische Fakultäten die Homöopathie als Wahlpflichtfach an, wodurch sich Interessierte schon während des Studiums Kenntnisse aneignen können. Der Besuch entsprechender Vorlesungen und Kurse ersetzt allerdings nicht eine langjährige Ausbildung, wie sie im Rahmen des Homöopathie-Diploms vorgesehen ist. In Großbritannien dagegen ist es an einigen Universitäten möglich, Homöopathie als Bachelor-Studiengang zu studieren. Diachroner Vergleich Die Auswertung beider Samples ergab, dass sich gegenwärtig die meisten Ärzte aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Schulmedizin und/oder dem offiziellen Gesundheitssystem auf die Suche nach Alternativen machen. Der Homöopathie geben sie den Vorzug wegen des ganzheitlichen Therapieansatzes und der vertrauten Methodik – man denke nur an die Verordnung von Arzneimitteln als bevorzugte Behandlungsform. Viele Homöopathen geben zudem an, dass sie ein Schlüsselerlebnis mit dieser Heilmethode in Berührung gebracht hat. Ein solches Erlebnis konnte etwa das Mitverfolgen eines Heilungsprozesses sein, den erst homöopathische Arzneimittel eingeleitet haben, während konventionelle Therapieansätze bis dahin fehlschlugen oder nur wenig Wirkung zeigten. Auch die Lektüre von einschlägigen Büchern oder das Besuchen eines Vortrags bewirkte in manchen Fällen ein Umdenken bzw. eine Hinwendung zur Homöopathie. Nicht zuletzt waren es Krankheiten und Leiden, die die Autoren der Berichte am eigenen Leib oder dem ihrer Kinder erfahren mussten und die mit Hilfe von Homöopathika geheilt werden konnten. Die akribisch recherchierten und durch die systematische Auswertung mehrerer homöopathischer Zeitschriften27 zusammengestellten Einträge in Fritz Schroers’ »Lexikon deutschsprachiger Homöopathen« bieten Gelegenheit, um die unterschiedlichen Motive auch auf diachroner Ebene analysieren und einordnen zu können. Dieses Unterfangen ist in der medizinhistorischen Forschung einzigartig, denn bislang existieren keine Studien über die persönlichen Beweggründe bereits verstorbener Alternativ- und Komplementärmediziner des 19. und 20. Jahrhunderts. Schroers’ umfangreiche und aus Hunderten Nekrologen bestehende Materialsammlung bietet Gelegenheit, diese Forschungslücke wenigstens in Bezug auf die approbierten Homöopathen zu füllen. Quellenkritisch anzumerken ist dabei allerdings, dass Zufälle der Überlieferung in die Stichprobenzusammensetzung eingegangen sind. Die Ehre 27 Das Quellenkorpus umfasst laut Schroers Dutzende Zeitschriften. Für diese Studie sind Nekrologe aus den folgenden Periodika ausgewertet worden: Allgemeine Homöopathische Zeitung, Archiv für die Homöopathische Heilkunst, Homöopathische Monatsblätter, Homöopathische Vierteljahresschrift, Internationale Homöopathische Presse, Neues Archiv für die Homöopathische Heilkunst, tierhomöopathie, Zeitschrift des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte, Zeitschrift für Klassische Homöopathie.

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eines Nachrufs wurde längst nicht jedem verstorbenen homöopathischen Arzt zuteil. Neben der bloßen ärztlichen Leistung, der Persönlichkeit und dem Bekanntheitsgrad war beispielsweise die Zugehörigkeit zu homöopathischen Ärztevereinen ausschlaggebend dafür, dass der Homöopathen posthum in einer Fachzeitschrift gedacht wurde. Nicht organisierte homöopathische Hausärzte fanden je nach Ansehen und Popularität nach dem Ableben eventuell Erwähnung in den Lokalblättern, nicht aber in den von Schroers untersuchten Periodika. In Anbetracht der Inhomogenität der Homöopathen als sozialer Gruppe dürfte darüber hinaus die jeweilige methodisch-theoretische Richtung eine entscheidende Rolle bei der Frage gespielt haben, ob für den verblichenen Kollegen ein Nekrolog geschrieben werden sollte. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Verdienste eines Arztes, der in seiner Praxis Komplexmittel oder Niedrigpotenzen verordnete, in Zeitschriften mit einem Schwerpunkt auf Klassischer Homöopathie Erwähnung fanden. Berühmt gewordene Homöopathen wie Ludwig Griesselich (1804–1848), Wortführer des naturwissenschaftlichkritischen Lagers, sind eine seltene Ausnahme.28 Von den insgesamt 636 biographischen Lexikoneinträgen konnten 224 (35 Prozent) im Sinne dieses Beitrags ausgewertet werden, da die restlichen Einträge entweder keine relevanten Informationen oder lediglich die Lebensdaten bieten. Problematisch war anfangs auch, dass die Motive oftmals nicht eindeutig identifizierbar waren. Schroers schreibt oft, dass ein Arzt durch eine bestimmte Person mit der Homöopathie vertraut gemacht worden sei. Ob der betreffende Arzt zuvor schon unzufrieden mit dem Therapiespektrum der konventionellen Medizin oder ob er selbst krank war, bleibt unbekannt – obgleich derartige Erfahrungen durchaus vorkamen.29 Die bloße Durchsicht des Lexikons ergab deshalb zunächst nur 101 Treffer. Da das IGM im Besitz der von Schroers angelegten Materialsammlung ist, wurde eine erneute Überprüfung des Quellenkorpus durchgeführt. Die Zahl relevanter Einträge konnte somit mehr als verdoppelt und die Motivationen viel differenzierter analysiert werden. Es zeigte sich dabei recht schnell, dass diese Fragestellung von Schroers in vielen Fällen entweder gar nicht oder nur sehr fragmentarisch beachtet wurde, da ihm individuelle Beweggründe für das Lexikon nicht wichtig waren. Sein Fokus lag eher auf der Recherche des Werdegangs und der Forschungsarbeiten deutschsprachiger Homöopathen. Wie bei der Auswertung der biographischen Kurzberichte im ersten Teil dieser Studie sollen auch den folgenden Ausführungen grundlegende Informationen zu den ausgewählten Personen vorangestellt werden. Diese Hintergrundinformationen fallen allerdings ungleich spärlicher aus, da Aussagen über das soziale Milieu zwischen den Zeilen herausgelesen werden müssen. Sicher ist, dass nahezu alle Homöopathen studierte und approbierte Ärzte und demnach Angehörige der bildungsbürgerlichen Mittel- und Oberschicht waren. Noch dazu waren sie alle männlich bis auf zwei nach 1900 geborene

28 Zur Biographie Griesselichs siehe Faber (1993). 29 Zur Konversion zur Homöopathie siehe Gijswijt-Hofstra (1998); Faure (2012).

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Frauen.30 Viele von ihnen kamen aus gutsituierten, bürgerlichen Familien, die ihren Sprösslingen ein Medizinstudium ermöglichen konnten. Nur selten ist zu lesen, dass es einem Candidatus der Medizin aus finanziellen Gründen nicht möglich war, ohne Unterbrechung das Studium erfolgreich zu beenden. Ein Adelsprädikat im Namen tragen immerhin 14 (sechs Prozent) Homöopathen; der bekannteste unter ihnen ist der Freiherr und Hahnemannschüler Clemens Maria Franz von Bönninghausen31 (1785–1864).

6.) 1905-1934 5%

1.) 1755-1784 5%

5.) 1875-1904 15 %

4.) 1845-1874 14 %

2.) 1785-1814 38 %

3.) 1815-1844 23 %

Abb. 4: Verteilung der Geburtenkohorten (n=224)

Aufschlussreicher als die relativ homogene Sozialstruktur der aufgelisteten Homöopathen sind die Geburtskohorten. Der Generationenabstand wird, ungeachtet von Karl Mannheims »Problem der Generationen«32, mit 30 Jahren beziffert. Der Zeitraum zwischen Hahnemanns Geburt (1755) und dem Ende der letzten Generation (1934), in der die hier analysierte Gruppe von 30 Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Frauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der uneingeschränkte Zugang zu universitärer Bildung verwehrt wurde. Das Großherzogtum Baden war das erste Land im Deutschen Reich, das Frauen die Immatrikulation ermöglichte. Ab dem Sommersemester 1900 waren Frauen an den Landesuniversitäten Freiburg und Heidelberg als ordentliche Studierende zugelassen. Bis 1909 zogen alle übrigen Länder nach. Vgl. hierzu ausführlich Birn (2015). 31 Clemens von Bönninghausen war kein Arzt, fand als bedeutender Homöopath aber dennoch Eingang in Schroers’ Lexikon. Zur Biographie Bönninghausens siehe Kottwitz (1983); Baschin (2010); Baschin (2014). 32 Vgl. Mannheim (1970), S. 509–565.

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Ärzten geboren wurde, zerfällt somit in insgesamt sechs Generationen (vgl. Abb. 4). Zur ersten Generation gehören jene zehn (fünf Prozent) Homöopathen, die zwischen 1755 und 1784 – präziser: zwischen 1764 und 1779 – zur Welt kamen und demnach mindestens neun Jahre jünger waren als Hahnemann selbst. Unter ihnen befinden sich spätere Schüler von Hahnemann, wie Christoph Hartung33 (1779–1853), aber auch solche, die durch Kollegen, Heilerfolge oder Frustration über das Therapiespektrum der akademischen Medizin zur Homöopathie gelangten. Dass ihre Anzahl sehr gering ist, überrascht nicht sonderlich, denn die Kunde über diese damals im Wortsinne alternative Medizinform verbreitete sich überregional erst nach 1807. Hahnemann veröffentlichte in diesem Jahr in Christoph Wilhelm Hufelands (1762–1836) Journal der practischen Heilkunde den Aufsatz »Fingerzeige auf den homöopathischen Gebrauch der Arzneien in der bisherigen Praxis«. Darin legte er erstmals öffentlich sein Medizinsystem dar und schilderte, wie der Titel verspricht, die positiven Ergebnisse homöopathischer Behandlungsverläufe. Notiz genommen haben davon allerdings nur wenige Kollegen Hahnemanns; weiten Teilen der Ärzteschaft und auch Bevölkerung blieb die Heilung von Krankheiten nach homöopathischen Grundsätzen unbekannt. Hinzu kommt, dass die gleichaltrigen oder etwas jüngeren Ärzte eine akademisch-orthodoxe medizinische Ausbildung zu diesem Zeitpunkt längst absolviert hatten. Ihr Interesse an Reformen und neuen Moden wird sich deshalb in Grenzen gehalten haben. Ganz anders sieht es bei den Homöopathen der nachfolgenden Generation aus. Zwischen 1785 und 1814 kamen 86 (38 Prozent) der 224 untersuchten homöopathischen Ärzte zur Welt. Innerhalb der Auswertung ist das die größte Gruppe. Dieser sprunghafte Anstieg ist wohl im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückzuführen: Zum einen hatte es die homöopathische Medizin bereits zu einiger Popularität gebracht, als diese Ärztegeneration mit dem Studium oder der Praxis begann. Nur drei Jahre nach dem programmatischen Aufsatz erschien Hahnemanns »Organon der rationellen Heilkunde«, das Grundlagenwerk zur Homöopathie34, das die öffentliche Debatte polarisierte. Inzwischen dürften sich auch Vorzüge gegenüber der konventionellen Medizin, die Patienten eher traktierte denn heilte, ansatzweise herumgesprochen haben. Zum anderen waren die Ärzte der zweiten Generation im Jahre 1810, dem Erscheinungsjahr des »Organon«, gerade erst 25 Jahre alt oder jünger. Das Reformatorische, das von dieser neuartigen Therapieform ausging, fiel also auf fruchtbaren Boden. Wer unzufrieden war mit Aderlässen und anderen ausleitenden Verfahren, stark wirkenden bzw. »heroischen« Mitteln, der fand eine geistige und methodische Heimat in der Homöopathie. Verstärkt wurde dieser Effekt noch von den Cholera- und Typhus-Pandemien, die im ersten Drittel des 19.  Jahrhunderts in Europa grassierten und zahlreiche Todesop33 Hartung (1998). 34 Als maßgebliches Grundlagenwerk der Homöopathie gilt heute die sechste Auflage des »Organon«, die 1921 von Richard Haehl (1873–1932) veröffentlicht und von Josef Schmidt neu ediert worden ist. Vgl. Hahnemann (2003).

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fer forderten.35 Im Vergleich zur allopathischen Behandlungsweise hatten die Homöopathen eine geringere Mortalitätsrate zu verzeichnen, was ihnen Ansehen in weiten Bevölkerungskreisen einbrachte und die Verbreitung der neuen Heilweise förderte. Auf die nachfolgende, dritte Generation von Ärzten wirkte die Homöopathie noch immer attraktiv, wenngleich diese Geburtenkohorte zahlenmäßig kleiner ist. Zwischen 1815 und 1844 wurden 51 (23 Prozent) Homöopathen geboren. In den Generationen danach gehen die Zahlen dann immer weiter zurück: Der vierten (1845–1874) und fünften (1875–1904) Generation gehörten nur noch jeweils 32 und 33 approbierte Homöopathen an. Die Gründe dürften in der sukzessiven Dominanz der akademisch-naturwissenschaftlichen Medizin liegen. Stellte die Homöopathie bis dahin eine ernstzunehmende medizinische Alternative dar, konnte sie im Verhältnis zu den Erfolgen der als »Schulmedizin« verschmähten naturwissenschaftlich-akademischen Heilkunde  – vor allem bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten  – nach Entdeckung der Bakterien nur wenig ausrichten. Interessant ist allerdings, dass die »Krise der Medizin« nach dem Ersten Weltkrieg und die anfängliche Aufgeschlossenheit der Nationalsozialisten gegenüber alternativmedizinischen Methoden nicht dazu führten, dass die Zahl der Homöopathen in der sechsten Generation wieder anstieg. Stattdessen ist das Gegenteil der Fall: Von den 224 Homöopathen wurden gerade einmal zwölf (fünf Prozent) zwischen 1905 und 1934 geboren, die Jüngste 1925. Überzeugung durch Dritte (Kategorie I) Doch zurück zur Frage, warum sich Ärzte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Homöopathie entschieden haben. Die 224 aussagekräftigen Einträge machen deutlich, dass beinahe die Hälfte der Homöopathen (108, 48 Prozent) über Dritte mit dieser Heilmethode in Berührung kam. Mit »Dritte« können ganz unterschiedliche Personen gemeint sein, etwa der Bruder des Betreffenden, namhafte und angesehene Homöopathen, Hofräte, nicht näher bezeichnete Laien, Spitalschwestern, Gemeindebrüder oder im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch Hahnemann persönlich. Den Anstoß gab Samuel Hahnemann selbst, dem es mit seiner innovativen und reformorientierten Medizintheorie gelang, aufgeschlossene Schüler um sich und in seinen Arzneimittelprüfungskommissionen zu versammeln. Aus diesem Schülerkreis rekrutierten sich wiederum fähige und namhafte Homöopathen, allen voran Clemens Maria Franz von Bönninghausen, Christoph Hartung und Georg Heinrich Gottlieb Jahr (1800–1875). Sie wirkten ihrerseits als Multiplikatoren und bauten das Netzwerk selbständig weiter aus. Der Nekrolog für Franz Hartmann (1796–1853) liefert ein eindrückliches Beispiel, welche Wirkung Hahnemann auf junge Medizinstudenten hatte: 35 Scheible (1996); Baschin (2012), S. 77–93; Schreiber (2002), S. 61–64. Zur sozialen Ungleichheit von Krankheit siehe auch Spree (1981), S. 37, 134, 152 ff.

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Daniel Walther Dieser Feuergeist, der Gründer der Homöopathie, übte bald seine volle Anziehungskraft auf Hartmann aus, der in die von ihm gestiftete Arzneiprüfergesellschaft trat und auch dessen Familienkreis öfter besuchte. Hier wehte der volle Duft der Begeisterung für die neue Lehre und stärkte die Jünger zu Arbeiten und zur Ertragung des Spottes und Hohnes, mit dem sie die anderen Studenten nicht kärglich bedachten.36

Ähnliches berichtet der Autor des Nachrufs auf Christian Gottlob Karl Hornburg (1793–1834). Er weiß über den Verstorbenen zu berichten, dass er in Leipzig mit Vorliebe Hahnemanns Vorlesungen besuchte. Für Hornburg hätte dadurch ein neues Leben begonnen, da er so zur »richtigen Ansicht von dem Wesen und Werth der bisherigen Medizin« gelangt sei und »Bekanntschaft mit der neuen, reformirten, homöopathischen Heilkunst« geschlossen habe.37 Jakob Landesmann war als Militärarzt in einer ungarischen Garnison stationiert, wo er einen homöopathischen Arzt kennenlernte. Dieser Homöopath habe dem Nachruf zufolge umgehend versucht, Landesmann für seine Ansichten zu gewinnen, allerdings ohne Erfolg. Landesmann, so der Verfasser des Nachrufs, verlachte ihn und die Homöopathie und wollte vom missionarischen Eifer seines Kollegen nichts wissen. Offenbar beschäftigten ihn die Argumente des Homöopathen aber doch, denn er beschloss, ihn bei seinen Krankenbesuchen zu begleiten, »um selbst über den Erfolg der angewendeten Mittel urtheilen zu können«.38 Die Fortschritte und Erfolge, die der Homöopath dabei erzielte, erstaunten Landesmann derart, dass er sich in die Hahnemannsche Methode einzulesen begann. Fortan behandelte er seine Kranken selbst homöopathisch »und hatte glänzende Resultate«.39 Doch nicht nur Hahnemann, Kollegen oder »Dritte« im Allgemeinen wirkten als Multiplikatoren; auffallend ist, dass verhältnismäßig viele der untersuchten Ärzte durch verwandtschaftliche Beziehungen zur Homöopathie gelangten. 44 (20  Prozent) der 224 Homöopathen hatten einen Vater, Bruder oder Schwager, der als Arzt seine Patienten homöopathisch behandelte. Die meisten Verwandtschaftsbeziehungen sind in der dritten HomöopathenGeneration zu konstatieren. Zwischen 1815 und 1844 wurden 15 (29 Prozent) Söhne oder nähere Angehörige von homöopathischen Ärzten geboren. Bekannt geworden sind vor allem die Söhne von Clemens von Bönninghausen und Christoph Hartung, die aufgrund der erfolgreichen homöopathischen Praxis ihrer Väter zunächst Medizin studierten und danach selbst Homöopathen wurden. Franz Hübotter (1881–1967) war ebenfalls »durch die Familie erblich vorbelastet«40, denn zwei seiner Brüder praktizierten als homöopathische Ärzte. Die Neigung zur Homöopathie hatten die drei Brüder offenbar von ihrer Mutter übernommen, die sich und ihre Kinder zeitlebens erfolgreich homöopathisch behandeln ließ.

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Allgemeine Homöopathische Zeitung 47 (1854), S. 41 f. Archiv für die Homöopathische Heilkunst 14 (1834), S. 121. Allgemeine Homöopathische Zeitung 86 (1873), S. 159. Allgemeine Homöopathische Zeitung 86 (1873), S. 159. Allgemeine Homöopathische Zeitung 211 (1966), S. 549.

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Fritz Donner (1896–1979), Sohn des Stuttgarter homöopathischen Arztes Hans Donner (1861–1906), berichtete 1974 über den Einfluss von »homöopathischen Familien« auf seine spätere medizinische Ausrichtung und die seiner Schulkameraden: Mein drittes Schuljahr begann ich 1904 am Stuttgarter Eberhard Ludwigs Gymnasium. Von den damaligen Mitschülern sind später sechs Ärzte geworden und zwar zwei Allopathen und vier Homöopathen. Dass dies so kam war als Selbstverständlichkeit zu erwarten, denn Drei von den Vieren stammten aus »homöopathischen Familien«, so der 1929 in Pforzheim als homöopathischer Arzt verstorbene Eckert, bei dessen Eltern mein Vater Hausarzt war, dann Freihofer, dessen Elternhaus A. Stiegele betreute, weiterhin ich selbst als Sohn eines homöopathischen Arztes und dann noch der Vierte, Sohn eines allopathischen Arztes, dem die Liebe zur Homöopathie von seinem Abituriententanzschwarm, der Tochter des Kollegen A. Lorenz, eingeimpft worden war. Demnach konnte es in jenen Zeiten doch gar nicht anders sein, als dass später bereits bei Beginn ihres Medizinstudiums sich alle Vier darüber vollkommen im Klaren waren, dass ihr Berufsweg geradeaus auf die Homöopathie zu verlaufen wird.41

Im aktuellen deutschen wie britischen Sample spielen verwandtschaftliche Beziehungen zu homöopathischen Ärzten keine Rolle. Von regelrechten Ärztedynastien wie im Falle von Bönninghausens oder Hartungs kann heutzutage deshalb nicht mehr gesprochen werden – jedenfalls lassen das die Aussagen der Teilnehmenden vermuten. Einige Befragte geben in ihrem Bericht allerdings an, dass sie als Kind auf Veranlassung der Mutter homöopathisch behandelt worden und darüber zur Homöopathie gekommen seien. Die aufgezählten Beispiele zeigen, dass der Übergang von »Überzeugung durch Dritte« zu »beobachteten Heilerfolgen« fließend ist und beide Motive oftmals ineinander verschränkt sind. Sie dennoch voneinander zu unterscheiden, ist meiner Meinung nach analytisch wichtig, um die besondere Bedeutung charismatischer Lehrer für die Verbreitung und Beständigkeit der Homöopathie zu betonen. Die Lehrer werden auch heute noch als ausschlaggebender Grund genannt, weswegen Ärzte mit der homöopathischen Heilmethode in Berührung gekommen und ihr verbunden geblieben sind.42

41 IGM, Sonderdrucksammlung zur Homöopathie (o. J.): Donner, Fritz: Zur Situation um den jungen homöopathischen Nachwuchs. 42 Obwohl die hier aufgeführten Anekdoten allesamt positiver Natur sind, ist es kein Selbstläufer, der Homöopathie bislang Fernstehende zu überzeugen. Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf den englischen Arzt James Compton Burnett (1840–1901), der mit 50 Argumenten versuchte, einen jungen Arzt für die Homöopathie zu gewinnen: »Anfänglich scheint er noch die Hoffnung gehabt zu haben, mit dem jungen Mann in ein fruchtbares briefliches Gespräch treten zu können, doch im Laufe der Korrespondenz mußte er einsehen, daß er sich da gründlich getäuscht hatte. Der junge Mann dachte im Traum nicht daran, irgendetwas dafür zu tun, die Homöopathie zu verstehen. Er war nicht einmal dazu zu bringen, wenigstens ein Arzneimittelbild zu lesen. Außer Voreingenommenheit war von ihm nichts zu erwarten – ein nach 100 Jahren noch genau so bekanntes Phänomen.« Zit. n. Burnett (1997), Geleitwort, S. 7 f.

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Beobachtete Heilerfolge (Kategorie II) Als weiteres Motiv für die Hinwendung zur Homöopathie werden in den Nekrologen von außen herangetragene oder selbst beobachtete Heilerfolge genannt. Noch zu Lebzeiten Hahnemanns hatten sich die Erfolge der Homöopathie so weit herumgesprochen, gefördert maßgeblich durch das Versagen der akademischen Medizin während der Cholera-Epidemien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts43, dass Ärzte auch ohne persönliche Bekanntschaft mit Hahnemann auf die Heilmethode aufmerksam und »durch einige eclatante Fälle überzeugt«44 wurden. Im Nachruf auf Wilhelm Huber (1806–1859) ist über einen solchen eklatanten Fall und seine Wirkung auf den Verstorbenen das Folgende zu lesen: Stets der allopathischen Heilmethode ergeben, belächelte er die Homöopathie und deren Anhänger, – bis er eine mit homöopathischen Arzneimitteln schnell geheilte Lungenentzündung, welche er bei seinem […] Bruder, Wenzel Huber, Wundarzt zu Kleinzell, der zu jener Zeit schon lange als ein bewährter homöopathischer Arzt bekannt war, selbst zu beobachten Gelegenheit hatte. Von diesem Augenblicke an änderte sich seine Ansicht über Homöopathie so sehr, dass er sich mit einem eisernen Fleisse unter Anleitung seines Bruders dem Studium derselben ergab.45

Aus dem Nekrolog geht hervor, dass Wilhelm Huber ein überzeugter Verfechter der orthodoxen oder allopathischen Medizin war. Erst als sein Bruder sich selbst von einer lebensbedrohlichen Erkrankung heilen konnte, begann er sein medizinisches Methoden- und Therapiesystem zu überdenken. Die eigenen Nachforschungen schienen seine Begeisterung weiter anzufachen, schließlich habe er es bald danach zu einem der »fleissigsten und exactesten Arzneimittelprüfer«46 gebracht. Ähnlich gelagert sind die Umstände, die den Wiener Arzt Thomas Lederer (1791–1874) mit der Homöopathie in Berührung brachten. Er war mit einem homöopathischen Arzt namens Veith47 befreundet, der Vater und Schwester Lederers behandelte. Lederer bedachte ihn aber häufig mit Sarkasmus ob der aus seiner Sicht zweifelhaften Behandlungen. Als in Wien dann aber eine Kindbettfieber-Epidemie ausbrach, verlor der Spötter trotz seiner (allopathischen) Bemühungen rund 98  Prozent der Patientinnen. Er war darüber so verzweifelt, dass er, ermutigt von Veith, selbst homöopathische Arzneimittel ausprobierte: Ich sah bald ein, dass schon nach den ersten Gaben der homöopathischen Mittel eine Veränderung in den Krankheitssymptomen eintrat, und dass dieser Veränderung der Symptome ein anderer Gang der Krankheit nachfolgte; ich rettete damals mit der Ho-

43 44 45 46 47

Regin (1996), S. 41; Jütte (1996), S. 21; Jütte (2011), S. 52; Baschin (2012), S. 43, 77 ff. Homöopathische Monatsblätter 9 (1884), S. 78. Allgemeine Homöopathische Zeitung 60 (1860), S. 24. Allgemeine Homöopathische Zeitung 60 (1860), S. 24. Gemeint ist der Wiener Domprediger und Arzt Johann Emanuel Veith (1787–1876). Vgl. Horn (2003), S. 80 f.

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möopathie viele Patientinnen, und diese Erfolge in einer bis dorthin als absolut tödtlich erkannten Krankheit bekehrten mich zum Homöopathen.48

Ebenso erging es Martin Mattes (1854–1909), der sich 1881/82 in Horb am Neckar mit einer Diphtherie-Epidemie und wegen der Wirkungslosigkeit schulmedizinischer Arzneimittel mit seiner eigenen Hilflosigkeit konfrontiert sah. Er begab sich deshalb auf die Suche nach Alternativen und gelangte schließlich zur Homöopathie, die er fortan erfolgreich anwandte. Karl Stiegele (1850–1937) übernahm nach dem Tod seines Vaters dessen schulmedizinisch ausgerichtete Praxis, musste sich aber während einer Scharlach-Epidemie sein therapeutisches Unvermögen eingestehen.49 Mehr Glück hatte hingegen ein im Ort niedergelassener Homöopath. Dessen Erfolge veranlassten Stiegele schließlich, sich fortan eingehender mit der Homöopathie zu beschäftigen. Von »auffallende[n] Heilungen« aufmerksam gemacht wurde auch Carl Friedrich Wilhelm Kratzenstein (1793–1846), das letzte Beispiel zu dieser Motivgruppe. Er hegte anfangs ebenfalls Vorurteile gegen das neue System, prüfte die »homöopathische Heilkunst« aber dennoch eigenhändig am Krankenbett. Da die Resultate zu seiner Überraschung günstig waren, nutzte er die Rekonvaleszenz von einem Beinbruch zum »eifrigen und sorgfältigen Studium der Hahnemannschen Werke«.50 Die Zahl derer, die durch solche Schlüsselerlebnisse zur Homöopathie gelangten, ist mit 38 (17 Prozent) im direkten Vergleich mit dem Motiv »Überzeugung durch Dritte« (110) zwar relativ klein, rangiert aber innerhalb der historisch belegbaren Motivationen auf dem zweiten Platz. Hieran hat sich also bis heute nichts geändert, miterlebte Heilerfolge sind – wie die Auswertung der zeitgenössischen Kurzberichte ergab – noch immer ein wesentlicher Grund für Ärzte, sich der Homöopathie zu öffnen.51 Eigene Krankheitserfahrung (Kategorie III) Ein damals wie heute schlagkräftiges Argument für die Homöopathie ist die am eigenen Leib erfahrene Linderung von kräftezehrenden und belastenden Beschwerden. 32 (14 Prozent) Ärzte der Auswahlgruppe konnten mit homöopathischen Arzneimitteln geheilt werden, was sie zur tieferen Auseinandersetzung mit dieser Methode bewog. Die frühesten Beispiele stammen aus der Zeit Hahnemanns, als dieser weithin als erfolgreicher Arzt, gerade in vermeintlich hoffnungslosen Fällen, bekannt war. Zu seinen Patienten gehörte zum Beispiel der Arzt Karl Julius Aegidi52 (1794–1874), der mehrere Jahre lang an Schulterbeschwerden litt. Hahnemann verordnete ihm brieflich den Gebrauch von insgesamt neun Pulvern innerhalb von 50 Tagen. Nach einer Erstverschlimme48 49 50 51 52

Internationale Homöopathische Presse 4 (1874), S. 240. Zu den Leistungen von Karl Stiegele siehe Faltin (2002), S. 25–28, 391 f. Allgemeine Homöopathische Zeitung 30 (1846), S. 303 f. Vgl. Lynöe/Svensson (1992), S. 58. Vigoureux (2001).

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rung in den ersten Wochen trat der Erfolg gegen Ende der fünften ein. Aegidi schreibt über dieses Schlüsselerlebnis: Ich wollte meinem Bewußtsein nicht und meinen Augen nicht trauen, als ich nach einer sanft verschlafenen Nacht mit dem Gefühl bisher nie empfundenen Wohlseins erwache, meinen kranken Arm mit ziemlicher Leichtigkeit heben und, o Wunder! ihn im seither steifen Ellenbogengelenk zu beugen und zu strecken vermag. […] Nun verging aber auch kein Tag, an welchem die Besserung nicht auffallende Fortschritte machte und nach Verbrauch der Arznei war ich vollständig hergestellt […].53

Wenig später im selben Jahr plagten ihn heftige Kniebeschwerden, wegen derer er sich wiederholt in Hahnemanns Behandlung begab, dieses Mal persönlich. Wieder konnte dieser ihm helfen. Auf Aegidi machte die abermals positive Erfahrung mit der Homöopathie so großen Eindruck, dass er sie fortan selbst praktizierte: Nach so glänzenden, an mir selbst bestätigten Resultaten von dem Werthe der Homöopathie, mußte meine Vorliebe für dieselbe wohl aufs stärkste befestigt werden und der Eifer, mit dem ich mich hierauf dem Studio der Heillehre widmete, wurde bis jetzt durch den oft überraschenden Erfolg mancher Heilungen der schwierigsten Krankheiten herrlich belohnt.54

Carl Gottlob Franz (1795–1835), in jungen Jahren von einem Hautausschlag geplagt, wurde ebenfalls von Hahnemann geheilt. Die erfolgreiche homöopathische Behandlung überzeugte ihn derart, dass er während oder nach seinem Medizinstudium einige Zeitlang als Gehilfe für Hahnemann arbeitete. Doch nicht nur Hahnemann konnte mit seinen Kuren (künftige) Ärzte für die Homöopathie begeistern: Stephan Horner (1808–1891) erkrankte als Kind an Skrofulose. Ein daraufhin konsultierter Homöopath leistete Hilfe, woran sich Horner später erinnerte und sich selbst der Homöopathie zuwandte. Der bekannte homöopathische Arzt Constantin Hering (1800–1890) lehnte die neuartige Heilmethode zu Beginn seines Leipziger Medizinstudiums ab. Bei einer Sektion infizierte er sich jedoch am Finger und musste eine Amputation desselben befürchten. Ein Freund, der bei Hahnemann studierte, verabreichte ihm aus diesem Grund Arsenicum album, woraufhin die Infektion schon nach einigen Tagen abheilte. »Ab da wurde Hering zum begeisterten oder wie er selbst sagte, schon fanatischen Verfechter der Homöopathie. Er hielt in Wirtshäusern flammende Reden, um die Menschen von dieser Heilkunst zu überzeugen. Und er begann bereits während seines Studiums, Patienten homöopathisch zu behandeln.«55 Ähnlich erging es auch Carl Heinrich Joseph Anton Larisch (1816–1899). Er ließ sich nach dem Studium in Breslau als Allopath nieder, erkrankte dann jedoch an Typhus. Ein homöopathischer Arzt verhalf ihm zur Genesung, woraufhin sich Larisch intensiv mit der Homöopathie auseinandersetzte, sie in seine Praxis integrierte und bei der Cholera-Epidemie von 1873 schließlich selbst große Erfolge erzielte. 53 Zit. n. Vigoureux (2001), S. 16 f. 54 Zit. n. Vigoureux (2001), S. 17. 55 tierhomöopathie 7 (2014), S. 6.

Die Suche nach der richtigen Medizin

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Der Breslauer Arzt wird für seinen Helfer in der Not vermutlich das Gleiche empfunden haben wie Georg Heinrich Gottlieb Jahr für seinen Freund Heinrich August Freiherr von Gersdorff (1793–1870). Jahr widmet ihm in seinen »Klinischen Anweisungen« folgende Worte: Theuerster Freund! Nur schwach ist das Zeichen, das ich Ihnen von der Erkenntlichkeit geben kann, die fort während in meinem Herzen für Sie lebt; […] Ihnen danke ich, nächst Gott, nicht nur meine Bekanntschaft mit der Homöopathie, sondern auch die wiederhergestellte Gesundheit, deren ich mich in Folge Ihrer Behandlung vor zwanzig Jahren seitdem unausgesetzt erfreut; ja auch daran, dass ich mich selbst späterhin zur ganzen Hingabe für unsere schöne Kunst befähigen konnte, haben Sie einen wesentlichen Anteil.56

Die Aufzählung ließe sich nun um einige weitere Beispiele fortführen, sie folgen aber alle demselben Muster: Allopath erkrankt selbst, Homöopath kann helfen, Genesung bewirkt Umdenken. Die genannten Beweggründe gleichen sich deshalb weitgehend, verdeutlichen aber, dass sowohl die subjektiv empfundenen Heilerfolge als auch die Erzählungen darüber der Verbreitung der Homöopathie Vorschub leisteten und  – vergegenwärtigt man sich die Beispiele des zeitgenössischen deutschen und britischen Samples – noch immer leisten. Es dürfte angesichts der Beständigkeit dieser beiden Motive durchaus fraglich sein, ob die von den Gegnern der Homöopathie immer wieder vorgebrachten Argumente der Unwissenschaftlichkeit und Unwirksamkeit die Popularität dieser Heilmethode in absehbarer Zeit schmälern können. Unzufriedenheit mit akademischer Medizin (Kategorie IV) Bei der Motivlage der letztgenannten Homöopathen Hering, Larisch und Jahr ist die Grenze zur »Unzufriedenheit mit der Schulmedizin« fließend. 33 (15 Prozent) Homöopathen wandten sich laut Schroers’ Recherchen und meinen Sekundärüberprüfungen primär aus Frustration über wirkungslose Behandlungen von den »allopathischen Vielgemische[n]«57 ab. Bei manchen entwickelte sich sogar ein »ungemeiner Ekel vor der Medizin«.58 Einer von ihnen ist Johannes Ernst Stapf (1788–1860), der erst als Allopath praktizierte, mit der Leistung der konventionellen Medizin jedoch nach einiger Zeit unzufrieden war. Er las sich deshalb in Hahnemanns »Organon« ein. Die Lektüre überzeugte ihn, denn er wandte sich umgehend brieflich an den Autor und wurde von demselben als einer seiner ersten Schüler angenommen. Zeitlebens unterhielt er eine enge Freundschaft mit Hahnemann und verteidigte dessen »reine« Lehre. Unzufrieden mit der akademischen Medizin war auch Wilhelm Ameke (1847–1886). Ameke übernahm die väterliche Praxis und behandelte seine 56 Zit. n. Neues Archiv für die Homöopathische Heilkunst 2 (2007), S. 167. 57 Nachruf auf Ludwig Mertens (1812–1894): Allgemeine Homöopathische Zeitung 128 (1894), S. 125. 58 Homöopathische Vierteljahresschrift 1 (1850), S. 132.

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Patienten, wie im Medizinstudium erlernt, zunächst konventionell. In einem Brief an einen Freund bekundete er jedoch sein Unbehagen angesichts der oftmals erfolglosen Therapieverläufe: »Ich habe bereits eine ausgedehnte Praxis, aber diese Art, Arzt zu sein, gefällt mir nicht. Oft schäme ich mich, ein Rezept zu schreiben, von dem ich von vorn herein weiss, dass es für den Verlauf der Krankheit ganz unnütz ist.« Den Freund, dessen Vater Homöopath war, bittet er diesbezüglich um seine Meinung und seinen Rat, was zu tun sei. Der Brief endet schließlich mit dem Vorhaben, er wolle sich »die Sache doch wohl mal ansehen«.59 Die ernsten Konsequenzen vermeintlich oder tatsächlich unnützer Behandlungen musste der Homöopath Emil Ilgen (1816–1863) miterleben. Seine Tochter erkrankte an Diphtherie und wurde von allopathischen Ärzten ohne Erfolg therapiert. Als der Vater das Kind zu einem homöopathischen Arzt in Behandlung gab, konnte dieser zwar eine Verbesserung erzielen, allerdings nicht den baldigen Tod abwenden. Ilgen fasste daraufhin folgenden Entschluss: »In stiller Christnacht gelobte er sich an der Leiche seines geliebten Töchterchens, mit der Allopathie zu brechen, deren Unzulänglichkeit sowie Schädlichkeit er mitunter oft genug längst erkannt hatte; er gelobte, sich mit allem Fleisse der Homöopathie zu widmen.«60 Die Zeitangabe der Christnacht mag eine stilistische Ausschmückung sein, die vom Autor eingefügt wurde, um die Dramatik des Erlebten zu unterstreichen. Während die christliche Gemeinschaft in friedvoller Umgebung die Geburt ihres Herrn feiert, betrauert der Vater den Tod seiner Tochter, die die Allopathie auf dem Gewissen hat. Trotzdem spiegelt die Passage in drastischer Weise wider, was viele Ärzte damals – und in abgeschwächter Form auch heute noch – an der akademischen Medizin kritisier(t)en, nämlich die Begrenztheit ihrer therapeutischen Wirksamkeit und dass sie Patienten sich selbst überlässt, wenn sie sprichwörtlich mit ihrem Latein am Ende ist. Auf den Punkt bringt das der Nekrolog von J. A. Neuschäfer (1815–1901), dem der Verfasser angesichts einer grassierenden »Croupepidemie« posthum folgende Aussage in den Mund legt: »Selten kam ein Kind durch, da der Heilapparat ein sehr dürftiger war: Brechmittel und eine gehörige Portion Blutegel, und wenn diese nicht bald halfen, was im Ganzen leider selten geschah, dann erfolgte die schreckliche Katastrophe: Ersticken.«61 Selbstverständnis als Arzt (Kategorie V) Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass die Mehrzahl der Ärzte einige Jahre entweder als Stadtphysikus, Haus- oder Militärarzt praktizierte und dann, aus welchen Gründen auch immer, mit Menschen zusammentraf, die an die Wirksamkeit der Homöopathie glaubten. Ihre bloße Überzeugungskraft reichte in 59 Zeitschrift des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte 5 (1886), S. 409 f. 60 Allgemeine Homöopathische Zeitung 67 (1863), S. 136. 61 Allgemeine Homöopathische Zeitung 142 (1901), S. 139.

Die Suche nach der richtigen Medizin

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manchen Fällen sogar, etwa bei Eduard von Grauvogl (1811–1877), aus, um bis dato treue Anhänger der akademisch-konventionellen Medizin zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Damit ein derart radikaler Sinneswandel möglich wurde, musste der betreffende Arzt aber auch zu einem gewissen Maß empfänglich für Neues und gegenüber abweichenden Therapiekonzepten aufgeschlossen sein. Hier spielt das jeweilige ärztliche Selbstverständnis eine Rolle, das aus den Nachrufen von immerhin 13 (sechs  Prozent) approbierten Homöopathen direkt oder zwischen den Zeilen herauszulesen ist. Auffallend ist, dass diese Ärzte überwiegend im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert praktizierten, also vom sich verschärfenden Konflikt zwischen ganzheitlicher Heilkunde und symptom- bzw. krankheitsfixierter Wissenschaftsmedizin betroffen waren und das Bedürfnis hatten, sich entsprechend zu positionieren. Das jedenfalls lassen die autobiographischen »Notizen« Julius Mezgers (1891–1976) vermuten. Während des Ersten Weltkriegs und auch noch danach arbeitete er zunächst als Chirurg. »Diese Tätigkeit konnte mich auf die Dauer nicht befriedigen, da in mir das Vertrauen in die Heilkräfte des Organismus, das im Volke sehr lebendig ist, nach einem Weg suchte, diese Kräfte zu finden und nutzbar zu machen.«62 Die Suche führte ihn nach kurzer Zeit zur Homöopathie, »die ja gerade systematisch die in der Natur angelegten Kräfte sowohl im Kranken wie in den Arzneimitteln aufdeckt«.63 Direkt vom zeitgenössischen Diskurs über krisenhafte Zustände innerhalb des Medizin- und Gesundheitssystems beeinflusst worden ist auch der Homöopath Walter Hess (1913–2002). Hess studierte die Arbeiten August Biers64, der sich um eine Verständigung beider Medizinsysteme bemühte. Dadurch gelangte er zur Homöopathie. Zu nennen ist zudem der bereits erwähnte Stuttgarter Arzt Hans Donner, der sich selbst als Eklektiker verstand und sich verschiedener Verfahren bediente, wenn er glaubte, er könne dadurch dem/der Kranken helfen. Dieser war also kein dogmatischer Anhänger der Homöopathie, sondern in erster Linie ganzheitlich behandelnder Arzt. Die Homöopathie machte dabei nicht den zentralen Bestandteil seiner Therapien aus, diente mit ihrer holistischen Ausrichtung aber der Selbstidentifikation Donners. »Aufgrund seiner charakterlichen und ärztlichen Einstellung« fand auch Gerard Willem Bakker (1889–1972) »sehr früh den Weg zur Homöopathie, für die er sich voll und ganz einsetzte«.65 Erwähnt werden muss im Zusammenhang mit dem spezifischen ärztlichen Selbstverständnis noch Hugo Ohntrup (1914–1996). Ihn berührten die Schicksale seiner krebskranken Patienten, weshalb er nach einer Möglichkeit suchte, ihnen besser und schonender zu helfen. Die Wahl fiel aus naheliegenden Gründen auf die Homöopathie. 62 IGM, Sonderdrucksammlung zur Homöopathie (1971): Mezger, Julius: Einige Notizen über meinen Lebenslauf. 63 IGM, Sonderdrucksammlung zur Homöopathie (1971): Mezger, Julius: Einige Notizen über meinen Lebenslauf. 64 Zu Leben und Werk von August Bier siehe Doms (2005); Stürzbecher (2005). 65 Zeitschrift für Klassische Homöopathie 16 (1972), S. 141.

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Johann Traugott Kirsten (1806–1891) sah, glaubt man dem Nachruf, seinen Beruf ebenso »nicht als blosse Erwerbsquelle«. Stattdessen sei er »von echter Humanität durchdrungen« gewesen, »war er seinen Clienten nicht nur Arzt, sondern auch sonstiger Berather«.66 Korrelation zwischen bestimmten Motiven und Geburtenkohorten Um die Lexikoneinträge und zugehörigen Nekrologe möglichst umfassend auszuwerten, soll nun die Verbindung zwischen den insgesamt fünf Motiven (Überzeugung, Heilerfolge, Krankheitserfahrung, Unzufriedenheit, Selbstverständnis) und den sechs Geburtenkohorten hergestellt werden. Dabei zeigt sich, dass mit Ausnahme der ersten Generation die »Überzeugung durch Dritte« in jeder Generation der am häufigsten genannte Beweggrund ist. Am höchsten ist der prozentuale Anteil in der vierten Generation; zwischen 1845 und 1874 ließen sich 56 Prozent der in diesem Zeitraum geborenen homöopathischen Ärzte von einem Kollegen, Bekannten oder Verwandten nachhaltig mit der Homöopathie in Berührung bringen. Das zweithäufigste Motiv für die Abkehr von der konventionellen Medizin sind die mit eigenen Augen beobachteten Heilerfolge – entweder beim Patienten oder an sich selbst. Durchschnittlich rund ein Drittel (vgl. Tab. 1) der 224 untersuchten Homöopathen wurde Zeuge der Wirksamkeit dieser Heilmethode und geriet darüber ins Zweifeln, ob die Homöopathie nicht doch als Alternative zur Allopathie angewendet werden könne. Ein Selbststudium und eigene Versuche waren meist die Folge, deren Konsequenz der Bruch mit dem überkommenen Medizinsystem war. Darüber hinaus liefert die relationale Auswertung der Geburtsjahrgänge und der einzelnen Motive keine neuen Erkenntnisse; die bisherigen Ergebnisse finden lediglich Bestätigung. Tab. 1: Häufigkeit der einzelnen Motive in den Geburtskohorten (n=224) 1755– 1784

1785– 1814

1815– 1844

1845– 1874

1875– 1904

1905– 1934

Überzeugung

2

38

27

18

17

6

Heilerfolge

2

19

9

4

4

0

Korrelation mit Motiven

Krankheitserfahrung

1

13

7

6

4

1

Unzufriedenheit

5

11

7

4

5

1

Selbstverständnis

0

5

1

0

3

4

Summe

10

86

51

32

33

12

66 Allgemeine Homöopathische Zeitung 122 (1891), S. 78.

Die Suche nach der richtigen Medizin

249

Zusammenfassung Die Suche nach der richtigen Medizin kann, wie die vorliegende Studie zeigt, ganz unterschiedliche und sehr persönliche Gründe haben. Gefragt nach den individuellen Beweggründen, geben etliche der insgesamt 41 deutschen und britischen Homöopathen an, sie seien ganz pragmatisch durch selbst oder miterlebte Heilerfolge auf dieses alternativmedizinische Verfahren aufmerksam geworden. Die Linderung von anhaltenden und deshalb auch psychisch belastenden Beschwerden kommt einer Offenbarung gleich, die Ärzte wie Laien zum Nachdenken und schließlich zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der Homöopathie veranlasst(e). Auffallend ist, dass sich unter jenen »Konvertiten« auch solche befinden, die diesem Heilverfahren anfangs skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, sich von den Vorzügen aber überzeugen ließen. Die meisten Homöopathen (Ärzte wie Heilpraktiker) finden jedoch – so das zentrale Ergebnis der Untersuchung  – gegenwärtig durch die Unzufriedenheit mit der konventionellen Medizin bzw. dem offiziellen Gesundheitssystem zur Homöopathie. Der Aphorismus, der 1962 den Nachruf auf Georg Hermann Robert Kerl (1887–1961) schmückte, behält also noch immer Gültigkeit: »der echte homöopathische Arzt [gerät] aus den Widersprüchen der klinischen Theorie und ärztlichen Praxis in die Homöopathie und [gewinnt] hier festen therapeutischen Boden.«67 Im Schnitt vergehen sieben bis acht Jahre, bis sich ein Arzt oder Laie nach seinem Studienabschluss dazu entscheidet, das nötige zusätzliche therapeutische Wissen zu erlernen. In diese Jahre fallen die negativen Erfahrungen mit dem begrenzten Methodenspektrum der Schulmedizin, die sich gerade bei chronischen Erkrankungen auf das Verordnen von symptomlindernden Medikamenten beschränkt. Auch in akuten Fällen bleibt Ärzten oft nichts anderes übrig, als Antibiotika zu verschreiben. Bemängelt wird von vielen Ärzten zudem die ökonomischen Sachzwängen folgende »5-Minuten-Medizin«, mit der umgangssprachlich die oftmals knappe Behandlungszeit in Praxen und Krankenhäusern gemeint ist. Umso anziehender wirkt auf jene Ärzte deshalb das Versprechen der Homöopathie, in leichteren und chronischen Krankheitsfällen eine echte und noch dazu sanfte therapeutische Alternative zu bieten. Hinzu kommen die Vorzüge dieser Heilmethode, die nicht primär auf die Wiederherstellung der Gesundheit gerichtet sind. Vor allem Kinder- und Hausärzte schätzen den ganzheitlichen und kommunikativen Ansatz der Homöopathie, der es ihnen ermöglicht, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen und empathisch-fürsorglich auf den Patienten und seine Beschwerden einzugehen.68 Einer Umfrage unter den Versicherten der Barmer GEK von 2014 zufolge ist diese besondere Art der Zuwendung genau das, was Patienten

67 Allgemeine Homöopathische Zeitung 207 (1962), S. 188. 68 Robert Frank untersuchte in einer Studie, ob und inwieweit ärztliche Homöopathen auf das Diagnostik- und Therapiespektrum der konventionellen Medizin zurückgreifen. Vgl. Frank (2002).

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an der Homöopathie schätzen.69 In gewisser Weise verweigern sich die ärztlichen Homöopathen dadurch der Ausdifferenzierung der Medizin in Dutzende Disziplinen und dem daraus resultierenden »ärztlichen Blick« (Foucault) auf einzelne Krankheiten bzw. erkrankte Organe. Es verwundert deshalb nicht, dass die approbierten Homöopathen beider Samples Haus- oder Kinderärzte sind, die sich mit einem breiten Krankheitsspektrum statt lokalen Dysfunktionen konfrontiert sehen. Einige Homöopathen betonen heute zudem den Wert einer ausführlichen Anamnese für den Behandlungsverlauf. Um dem individuellen Leiden der Patienten auf die Spur zu kommen und das richtige Arzneimittel zu finden, ist ein längeres Gespräch zwischen zuhörendem Arzt und dem erzählend-aktiven Patienten nötig. Einige der befragten Ärzte geben an, dass sie dadurch schnell eine vertrauensvolle, intime Nähe zu ihrem Gegenüber aufbauen können, was wiederum ihrem Selbstverständnis als Mediziner besonders entspricht. Ökonomische Gründe bzw. finanzielle Anreize für die Hinwendung zur Homöopathie fehlen in beiden Samples dagegen völlig. Kein Homöopath deutet in seinem autobiographischen Kurzbericht an, er habe die Homöopathie aufgrund der Aussicht auf lukrative Privatbehandlungen erlernt. Angesichts der hohen Kosten und der langen Ausbildungszeit verwundert dieser Befund wenig. Einige deutsche Homöopathen ließen lediglich durchblicken, dass sie ihre Kassenpraxis nach einigen Jahren deshalb in eine Privatpraxis umgewandelt hätten, um ihre Patienten in vollem Umfang homöopathisch behandeln zu können. Fritz Schroers’ verdienstvolles »Lexikon deutschsprachiger Homöopathen«, vor allem aber das für das Lexikon zusammengetragene Quellenkorpus, bot die Gelegenheit, auch die Motive früherer Homöopathen zu untersuchen. Die Auswertung der Nekrologe von insgesamt 224 Homöopathen ergab, dass die meisten von ihnen (108; 48 Prozent) durch Dritte zur Homöopathie gekommen sind. Oft waren es (befreundete) Arztkollegen, die den Betreffenden trotz anfänglicher Skepsis mit Worten oder Taten davon überzeugen konnten, dass diese alternative Heilmethode durchaus ihre Vorzüge hat. Der Neugier folgten dann eigene Versuche, die das Gehörte oder Gesehene bestätigten und den Arzt veranlassten, die Homöopathie dauerhaft in die eigene Praxis zu integrieren. Auffällig ist, dass sich unter jenen Dritten nicht selten nähere Angehörige befanden. War der Vater schon approbierter Homöopath, so folgten die Söhne meist seinem Beispiel und behandelten ihre Patienten ebenfalls homöopathisch. Gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es regelrechte homöopathische Ärzte-Dynastien. 69 Im Wortlaut heißt es in der Studie über diesen Aspekt der Homöopathie: »Insgesamt werden alle Ärzte gut bewertet, doch in jedem der abgefragten Punkte zum Arzt-Patienten-Kontakt erhalten homöopathische Ärzte signifikant bessere Bewertungen als nicht homöopathisch behandelnde Ärzte. Besonders deutlich zeigt sich ein Unterschied, wenn Patienten danach gefragt wurden, ob der Arzt auf die Ängste und Sorgen des Patienten eingegangen ist. Auch wenn es darum geht, ob der Arzt auf Fragen des Patienten eingegangen ist beziehungsweise ob er zugehört hat, egal wie beschäftigt er war, erhalten homöopathische Ärzte bessere Noten als nicht homöopathische Ärzte.« Vgl. Sartori u. a. (2014), S. 6; zur Vorbildfunktion der Homöopathie siehe auch Schweitzer (2010).

Die Suche nach der richtigen Medizin

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Das zweithäufigste Motiv, das Ärzte mit der Homöopathie in Kontakt brachte, waren beobachtete Heilerfolge. Schon damals war das Miterleben von erfolgreich verlaufenen Behandlungen in aussichtslosen Fällen besonders eindrücklich. In diesen Fällen bestand zuvor allerdings keine persönliche Bekanntschaft mit dem Homöopathen; seine Erfolge sind dem Betreffenden zugetragen worden. Die Wirkung war jedoch dieselbe: Die Tatsache, dass ein Homöopath mehr Glück hatte bei der Behandlung von Infektionskrankheiten wie Diphtherie, bewirkte bei Ärzten ein Umdenken und regte bestenfalls zum Selbststudium an. Aus 33 Nachrufen geht zudem hervor, dass die verstorbenen Ärzte an einer Erkrankung litten, von der sie die Homöopathie befreien konnte. Diese Erfahrung war derart prägend, dass sie beschlossen, sich eingehender mit dieser Methode zu beschäftigen und sie fortan sogar bei ihren eigenen Patienten anzuwenden. Überraschend ist dagegen, dass die Unzufriedenheit mit der akademischkonventionellen Medizin ebenfalls nur in 33 Nekrologen als Motiv für die Hinwendung zur Homöopathie genannt wird. Schließlich ist die Klage über die technisierte, unpersönliche und nicht selten erfolglose Schulmedizin (damals wie heute) der Hauptgrund, warum sich Ärzte auf die Suche nach Alternativen begeben. Dass der prozentuale Anteil dieser Kategorie in der historischen Vergleichsgruppe so niedrig ist, hängt allerdings damit zusammen, dass eine latente Unzufriedenheit mit der orthodoxen Medizin immer mitschwingt, in der Retrospektive aber von den anderen Motiven überschattet wird. Sie bedarf deshalb nur selten der expliziten Erwähnung. Denkbar ist, dass nach der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung 1883 und damit einhergehend dem Aufkommen einer professionalisierten Medizin die Zahl der Unzufriedenen anstieg. Ähnlich wie heute entschieden sich manche Ärzte auch wegen ihres beruflichen und persönlichen Selbstverständnisses für die Homöopathie. Sie ergriffen den Arztberuf, um kranken Menschen zu helfen, und näherten sich ihren Beschwerden vorzugsweise aus ganzheitlicher Richtung. Die Homöopathie bot dazu ausreichend Gelegenheit, schon wegen der ausführlichen Anamnesepraxis. Es fällt dabei auf, dass dieses Motiv gehäuft nur in der zweiten und dann wieder in den letzten beiden Homöopathen-Generationen genannt wird. Zu diesen Zeiten – Anfang des 19. und des 20. Jahrhunderts – stand die akademische Medizin in besonderem Maße in der Kritik. Die Homöopathie diente also nicht nur der Verbesserung der bloßen Therapie, sondern darüber hinaus auch dem Selbstverständnis und der Positionierung der Ärzte im Konflikt zwischen ganzheitlicher Heilkunde und symptom- bzw. krankheitsfixierter Wissenschaftsmedizin. In Anbetracht der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Situation ist das auch heute noch so.

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Bibliographie Archivalien Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM) – Sonderdrucksammlung zur Homöopathie (o. J.): Donner, Fritz: Zur Situation um den jungen homöopathischen Nachwuchs – Sonderdrucksammlung zur Homöopathie (1971): Mezger, Julius: Einige Notizen über meinen Lebenslauf

Periodika Allgemeine Homöopathische Zeitung 30 (1846), 47 (1854), 60 (1860), 67 (1863), 86 (1873), 122 (1891), 128 (1894), 142 (1901), 207 (1962), 211 (1966) Archiv für die Homöopathische Heilkunst 14 (1834) Homöopathische Monatsblätter 9 (1884) Homöopathische Nachrichten 175 (2010) Homöopathische Vierteljahresschrift 1 (1850) Internationale Homöopathische Presse 4 (1874) Neues Archiv für die Homöopathische Heilkunst 2 (2007) tierhomöopathie 7 (2014) Zeitschrift des Berliner Vereins homöopathischer Ärzte 5 (1886) Zeitschrift für Klassische Homöopathie 16 (1972)

Literatur Baschin, Marion: Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864). Diss. phil. Univ. Stuttgart 2010. Baschin, Marion: Die Geschichte der Selbstmedikation in der Homöopathie. Essen 2012. Baschin, Marion: Die Resonanz auf die Homöopathie im 19. Jahrhundert: Patientinnen und Patienten von Clemens und Friedrich von Bönninghausen. In: Westfälische Forschungen 64 (2014), S. 43–65. Berger, Bettina: Der gute Arzt aus Patientensicht. In: Witt, Claudia (Hg.): Der gute Arzt aus interdisziplinärer Sicht. Ergebnisse eines Expertentreffens. Essen 2010, S. 75–92. Birn, Marco: Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869–1918, dargestellt anhand politischer, statistischer und biographischer Zeugnisse. Diss. phil. Univ. Heidelberg 2015. Blessing, Bettina: Wege der homöopathischen Arzneimitteltherapie. Berlin; Heidelberg 2010. Boseley, Sarah: Ban homeopathy from NHS, say doctors. In: The Guardian Online vom 29. Juni 2010, URL: https://www.theguardian.com/society/2010/jun/29/ban-homeopathyfrom-nhs-doctors (letzter Zugriff: 24.1.2018). Bourdelais, Patrice; Faure, Olivier: Les nouvelles pratiques de santé. Acteurs, objets, logiques sociales (XVIIIe-XXe siècles). Paris 2005. Burnett, James Compton: Die homöopathische Behandlung oder fünfzig Gründe, warum ich ein Homöopath bin. Übers. von Gerhard Risch. München 1997. Doms, Misia Sophia: August Biers Aufsatz »Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen?« und die nachfolgende Diskussion um die Homöopathie in der deutschen Ärzteschaft. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 23 (2004), S. 243–282.

Die Suche nach der richtigen Medizin

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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 36, 2018, 257–284, FRANZ STEINER VERLAG

‘Heretic’ doctors: synthesis as cornerstone of French holistic medicine in the first half of the 20th century Luciana Costa Lima Thomaz and Silvia Waisse Zusammenfassung ›Ketzerische‹ Ärzte: Synthese als Grundstein ganzheitlicher Medizin in Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts In den 1920er Jahren begann eine Gruppe von Ärzten in Europa und den USA, sich von der zeitgenössischen Schulmedizin abzuwenden. Wegen ihrer Überzeugung, dass eine wahre Menschenkunde die integrative Berücksichtigung aller Lebensumstände voraussetzt, wurden sie als Holistiker bezeichnet. Das Erscheinen und die weitere Entfaltung des Holismus in Frankreich sind bis jetzt kaum erforscht worden. Im vorliegenden Artikel wird der Versuch unternommen, den medizinischen Holismus in Frankreich auf Grundlage des 1945 erschienenen Buches »Médecine officielle et médecines hérétiques« genauer zu untersuchen. Dabei werden sowohl der intellektuelle Hintergrund des französischen Ärztemilieus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts charakterisiert als auch die Heterogenität des holistischen Denkens in Frankreich, das wir in Anlehnung an »Hérétiques« als ›ketzerische Synthese‹ bezeichnet haben.

Introduction Starting in the 1920s, groups of doctors in Europe and the United States sought to detach themselves from the contemporary mainstream medicine. The latter attributed the priority to physiological, biochemical and infectious factors in the explanation of disease. Within such framework, accurate understanding of the pathophysiological mechanisms of disease demanded thorough analysis of the components of the human frame, which were to be approached separately. This trend came to be known as ‘reductionism’, having its roots been soundly established along the 1800s.1 By opposition to such reduction, the aforementioned doctors believed that true knowledge of human beings involved a consideration of the full set of life circumstances in an integrated manner. For this reason, they came to be known as ‘holists’, from the Greek term ὅλος, ‘whole’.2 Holos thus comprised the external environment  – habitat, family and social relationships – as well as the internal environment, in which mind played the 1 2

Lawrence/Weisz (1998), p. 2; see also Waisse (2010). The term ‘holism’ was minted by Jan C. Smuts (1897–1950) in his book “Holism and Evolution”, in which he advocated the epistemological merging of the elements he considered to be the components of human beings, to wit, matter, life and mind.

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major role, above and beyond the workings of the body organs and systems. The impact of psychological trauma, categorised as noxae, was to be raised to the level of primary site of observation, even in the cases in which the pathological manifestations were predominantly ‘physical’ or ‘somatic’.3 It is thus not by chance that standard scholarship understood the emergence of psychosomatic medicine to be an offshoot of early 20th century holism.4 This ethos is particularly exemplified by the work of the Lyon doctor Pierre Delore (1896–1960), one of the authors most frequently quoted by the holistic doctors for his conception of good medical practice. Indeed, Delore called for a broader understanding of “human science”5, including factors such as the relationship of human beings with their cosmic environment, the body and spirit unity and human needs6. The just mentioned aspects, i. e., relevance of the external and internal environment of patients and raising mind to the primary place, might be seen as the point of intersection of various currents of holistic doctors in Europe and the United States. Nevertheless, medical holism developed distinct characteristics in each country.7 The emergence and development of holism in France was scarcely approached up to the present time.8 In the present article we attempted a closer look into French medical holism, for which purpose our point of departure was the book entitled “Médecine officielle et médecines hérétiques” (1945). We first discuss the intellectual context that characterised the French medical setting in the early decades of the 20th century. This analysis led us to a contemporary revival of Hippocratism, however, through highly tinted glasses, as well as to the development of notion of terrain. The final section approaches the heterogeneous scope of French holistic thought in a comprehensive manner, which, taking the cue from “Hérétiques”, we characterised as ‘heretic synthesis’. 3

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In the United States, during the first half of the 20th century, Adolf Meyer (1866–1950), a psychiatrist at Johns Hopkins Hospital, introduced the term ‘psychobiology’ to name a discipline that combined neurophysiology and psychiatry. Meyer associated the events in the patients’ lives to the appearance of emotional complaints in so-called ‘life-charts’, namely, graphs intended to demonstrate the effects and causal relationship of the relational life of patients to their mental health. On this, see Lamb (2014), p. 3. Lipowski (1985), p. 105; Ackerman/Dimartini (2015), p. 5. However, the term ‘psychosomatics’ is much older, having seemingly been first used by Johann C. A. Heinroth (1773–1843) in 1818; see Heinroth (1818). Heinroth is better known as the author of “Anti-Organon” (1825), a work devoted to the criticism of homeopathy. The formal expression ‘psychosomatic medicine’ was introduced in 1922 by the Austrian psychiatrist Felix Deutsch (1884–1964), whose studies with Sigmund Freud (1856–1939) led him to infer the role played by unconscious mind in physical (somatic) disorders; see Furst (2003), p. 32. This term was previously used by Alexis Carrel in “L’homme cet unconnu” to designate the synthetic idea of a complete understanding of human beings. See Carrel (1936), pp. 33–65. Delore (1940), p. 43. Lawrence/Weisz (1998), pp. 8–16. Weisz (1998).

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Idiosyncrasies of medical holism in France: hygiene, eugenics and criticism of analysis A peculiar discomfort with the contemporary state of civilisation developed in France at the turn of the 19th century, which eventually came to be symbolised by the term fin-de-siècle, which thus means much more than its literal meaning, ‘turn of century’.9 One important reason was a perceived ‘degeneration’ of the population in several respects, but foremost related to the high prevalence of some diseases that pointed to the moral decline of civilisation, i. e., the socalled ‘social plagues’, including alcoholism, tuberculosis and syphilis.10 At that time, hygienist medicine was strongly tied to the recent developments in microbiology, and consequently prevention was considered a high priority in the attempts to reduce the incidence and prevalence of illness.11 Such proposals fell within what is known as ‘positive eugenics’12, as illustrated by puériculture, literally ‘cultivation of children’, formulated by the gynaecologist and obstetrician Adolphe Pinard (1844–1934) aiming at increasing the birth rate and the health of newborn infants13. Anne Carol observes that, within such eugenic view, the typical French approach to the care of the new generation also included consideration of the environment in which infants were conceived and developed during pregnancy, which required strong medical supervision.14 Indeed, starting in the late 1800s, eugenics was increasingly seen as an efficient approach to improve the health of the future generations.15 Within the French context, eugenics seemed to serve perfectly well the goal of preserving the global health of the population and thus counteract the alleged decline of civilisation.16 Thus the French brand of eugenics came to be qualified as ‘positive’, in opposition to the variety that took roots mainly in the United States and Germany, which focused on the artificial selection of human beings through measures like sterilisation.17 Strongly grounded on the Neo-Lamarck9 Eugen Weber (1986), p. 2. 10 As an example, in 1903 the physician Alfred Fourier (1832–1914), who described its congenital form, qualified syphilis as a “real social danger” acting at four levels, to wit, “individual”, “collective”, “hereditary” and “degeneration of the species”; Fourier (1903), pp. 366–373. 11 For the beginning of this hygienic culture and the rise of medicalisation in France, see Faure (1993). 12 See below. 13 Pinard (1899), p. 141. 14 Carol (1990), p. 87. In another study, Carol (1996), p. 623, Carol cites the example of the psychiatrist Bénédict A. Morel (1809–1873) who described the inheritance of mental disease as ‘degeneration’, leading to idiotism and sterility and loading society with stigmas. Being incurable, individuals with signs of degeneration ought to be excluded from society. See Morel (1857), p. 692. 15 Eugenics was originally formulated by Francis Galton (1822–1911), who defined it as the science that deals with all influences able to improve the innate characteristics of any race to develop it to its maximum; see Galton (1909). 16 For a history of French eugenics, see, e. g., Carol (1995). 17 Fogarty/Osborne (2010), p. 334; Cruz (2013).

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ism emerging at the end of the 19th century, the French eugenists advocated that the best way to improve the future generations was through changes in the environment, testing of couples before marriage, actions against the use of alcohol, and adequate perinatal care.18 Within the context of prevention of diseases likely to affect a large number of individuals, much attention was paid to the identification of infectious agents and to vaccination as a means to control their spread. However, there was a gap between the medical knowledge on infectious diseases and their treatment, as no effective agent was yet available. As a result, reductionist medicine also contributed to the feeling of disappointment with modern civilisation.19 These are, shortly, some of the main aspects of the context within which holistic medicine emerged. The ideal of a more ‘humane’, ‘natural’ form of medicine, able to rescue human beings from the civilisation they themselves had created, seemed congruent with the overall ethos, social restlessness and concerns only growing from the fin-de-siècle onwards.20 One relevant example of this zeitgeist is a book published in 1935 by the vascular surgeon Alexis Carrel (1873–1944), in which he elaborated on his unease with the contemporary state of humankind. This book, a true bestseller, brought Carrel much more fame than his medical achievements – development of the arterial bypass technique, which afforded him a Nobel Prize in 1912. We allude here to the celebrated “L’homme cet inconnu”, in which Carrel’s reflections on the future of humankind are strongly grounded on eugenics as the best solution for the evils befalling modern man.21 Thus the stage was set for a new view on medicine based on a different approach to patients, and at the same time concerned with the future of humankind, or at least, the future of the French population. Such ambitious project came to be known as ‘holistic’. Yet, as was mentioned above, different from the case of Germany22, the French holistic movement was scarcely approached by scholars. One remarkable exception is George Weisz, who through a careful survey of the holistic medical movements in the early 20th century, was able to detect the strong desire for change of the holistic doctors.23 According to this scholar, the term synthèse best characterises their claims for a new and 18 See Wallich (1906); Schneider (2002), p.  83; Lima Thomaz (2014); Fogarty/Osborne (2010), p. 335. 19 Wide use of antibiotics, beginning by sulphonamides, started only after World War II; see Lesch (2006), p. 5. 20 Several doctors expressed their concern with and also formulated theories about the decline of modern civilisation. Some examples are Léon Binet (1891–1971), dean of the school of medicine of Paris; Georges Clemenceau (1841–1929), who is better known for his political activities; and Charles Nicolle (1866–1936), 1928 Nobel Prize of Physiology and Medicine. See Reggiani (2007), p. 60. 21 Carrel (1936). The book had at least ten editions in France, according to data available at the Bibliothèque National de France (http://data.bnf.fr, last accessed: 2017/11/08). 22 See e. g. Harrington (1996); Harrington (1998), p. 25; Timmermann (2002); Jütte (2009); Jütte (2008); Fortes (2010). 23 Weisz (1998).

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differentiated medical practice; at such particular crossroads, synthèse was very close to holos. The term synthèse played a double role within that context. First, it demarcated a definite approach to medicine diametrically opposed to the mainstream, understood as analytical, based on the fragmentation of the components of the human frame, i. e., on analysis, and resulting in abstractions as concerned the clinical state of patients.24 We should observe that then, as also now, such analytical approach to medicine was understood as the ‘genuine’ scientific medicine.25 Yet, the medical holistic movement in France was not restricted to a shift in the object of clinical knowledge, i. e., the human frame as a whole. It also posited a new understanding of the nature of such knowledge, as the analytical one was considered to be inadequate to grasp true indivisible wholes. From this differentiated understanding of the health-disease process, we might infer a second meaning for the term synthèse, to wit, the resource to a combination of many different sources of knowledge on patients, many of them apparently alien to standard clinical practice. Therefore, many holistic doctors engaged in multi- and interdisciplinary dialogue with other fields of knowledge, such as philosophy, theology and physics and attempted to conjugate all of them into a single clinical framework. To synthesise, therefore, represented an attempt at reuniting many different types of information for the sake of an overtly anti-analytical medicine. René Allendy (1889–1942), one of the most zealous advocates of synthetic medicine, even came to suggest, in his widely read “Orientations des idées médicales” (1929), that medicine ought not to be approached as a science, but as an art performed according to each doctor’s individual perception. To substantiate his argument, Allendy mentions the many different measures adopted for one and the same disease, for instance, tuberculosis, which then lacked effective pharmacological treatment even among the most prestigious contemporary doctors.26 Some of the French holistic doctors advocated a merging of holistic and mainstream medicine. Their idea, briefly, was to use the information resulting from standard scientific research to ground the synthetic principles.27 Thus, for instance, Marcel Martiny (1897–1982), a homeopath, acupuncturist and one of the representatives of the French Neo-Hippocratic movement, asserted that “the goal […] of this approach [is to] look for the subtle weld between traditional clinical medicine and the modern, i. e., biological, technical and social medicine”.28 The expression ‘traditional clinical medicine’ points to an 24 Lawrence/Weisz (1998), p. 3. 25 The work of Claude Bernard was crucial in this regard. In “Introduction à l’étude de la médecine expérimentale”, he stressed the relevance of gradual introduction of the analytical approach in medicine “to determine” the conditions of phenomena; see Bernard (1865), pp. 6, 113. 26 Allendy (1929), p. 12. 27 Weisz described this group as ‘pragmatic’ holists; see Weisz (1998), p. 68. 28 Martiny (1945), p. 145.

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element given paramount importance by the French holistic doctors: a return to the Hippocratic principles, as we discuss in the next section.29 A synthetic Hippocrates The Hippocratic corpus had seminal relevance for most synthetic doctors. Books like “On Airs, Waters and Places” provided the basis for new ideas on hygiene and on the significance of the human relational life.30 The Greek physis was transposed to the contemporary context, whence the holistic doctors came to affirm that absolutely everything could be associated with health and disease. Naturally, according to Neo-Hippocratic synthetic thinking, the mechanisms for transmission of infectious diseases were just one of the many factors that contributed to cause disease.31 Neo-Hippocratism might be seen as an independent current within the overall French synthetic movement. In 1937, the First Congress of Neo-Hippocratic Medicine was held at the School of Medicine of Paris, including the participation of French lecturers, as well as from many other European countries, including Austria, Britain, Germany, Italy and Spain.32 The main goal of the meeting was to discuss medicine as a practice wholly under the rule of the Greek physis, i. e., with focus on the relationship between human beings and their environment.33 Also the physical and mental constitution of human beings – a concept closely related to that which in Antiquity was known as temperament and complexion  – was given much attention at the congress, particularly in its relationship to the notion of terrain, which we discuss in the next section. Not less interesting is the participation of historians of medicine, including Maxime Laignel-Lavastine (1875–1953) and Arturo Castiglioni (1874–1953), as spokesmen for the movement.34

29 As is known, there were several calls to ‘return to Hippocrates’ over time, although strongly influenced by the specific historical context. In the early 20th century, such claim was not restricted to France, but it was also strong in Britain. In the latter, the main advocate – and recognised by the holistic doctors as a major influence – was the Greek physician Alexandre Cawadias (1884–1971). Originally trained in France, when the Greek royal family fled to Britain he also moved to this country, where he established a homeopathic practice. See Franklin (1971). 30 Cantor (2002), p. 280. 31 Héricourt (1927), p. 17. 32 Prémier congrès international de médecine néo-hippocratique. In: Presse médicale 68 (1937), p. 1223. 33 Prémier congrès international de médecine néo-hippocratique. In: Presse médicale 68 (1937), p. 1223. 34 Presse médicale 68 (1937), p. 1223. It is worth to observe here that this active defence of Hippocratism by historians of medicine would not die with Laignel-Lavastine and Castiglioni, but was carried into the next generation of scholars by Pedro Laín Entralgo, now rechristened as ‘trans-Hippocratism’; see Laín Entralgo (1982), p. 547.

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While he did not participate in this meeting, Léon Vannier (1880–1963), a reputed contemporary homeopath, published in 1938 a book entitled “Néo-hippocratisme et homéopathie”, in which he discussed the relationship between homeopathic and Hippocratic medicine.35 Vannier’s views clearly differed from the ones of Martiny, also a celebrated contemporary homeopath, who had active participation in the Neo-Hippocratic movement and was one of the congress organisers, in addition to publishing a work on the subject at a later time.36 Yet, the agenda of medical holism included many different topics, and some of its chief representatives, such as Carrel, Auguste Lumière (1862– 1954) and René Biot (1889–1966)37, made a point of not involving themselves with Neo-Hippocratism. Terrain and biotypes for the sake of synthesis As was mentioned above, also the holistic doctors followed closely the new developments in microbiology. However, most of them believed that the physical and mental constitution of patients was the primary factor in the process of disease. Such physiological constitutional complex was designated as terrain. Consequently, the impact of the settlement of any infectious agent in a human body was to be measured as the permeability of the terrain to such agents.38 Alexandre Besredka (1870–1940), specialist in immunology at Institut Pasteur, Paris, encouraged by the studies of Ilya Metchnikoff (1845–1916) on cell-mediated immunity, emphasised the relationship between the presence of microorganisms and the individual response of patients in a lecture delivered in 1934: The lapidary sentence ‘The microbe is nothing, the terrain [is] everything’ is attributed to Claude Bernard. Is this saying authentic? We cannot say. Did this physiologist put forward this idea to react against the passion of his contemporaries for microbes? Is it a denial of paternity, showing that some took this sentence to heart, when it is nothing but a pun? Whatever it might mean, it is interesting to revise the issue of the terrain and the microbes in the light of the facts we have learnt in recent years.39

The terrain – a true hallmark of French holism40 – was widely discussed as factor in the pathogenesis of infectious diseases in the French conventional academic setting, being attributed by some a much more relevant role than 35 Vannier (1938). 36 Martiny (1964). 37 Biot was the organiser of “Hérétiques”, as we discuss below, although the authors credited for the organisation of the work are Alexis Carrel and Auguste Lumière, probably as a function of their reputation in the French scientific and cultural environment. 38 On the concept of terrain in French medicine during the 19th and 20th century, see Gaudillière/Löwy (2001), p. 8. 39 Excerpt from Besredka’s lecture at Institut Pasteur entitled “Le rôle du terrain dans les maladies infectieuses”; the manuscript is available at Centre de Resources en Information Scientifique (CeRIS), Institut Pasteur. 40 Weisz (1998), p. 76.

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the one of microbes. Tuberculosis represented the classic locus for discussions on the role of the terrain in contagious diseases.41 Consistently, the advocates of the terrain opposed one of the staples of hygienist medicine, namely, vaccination, on the grounds that it affected the normal constitution of individuals and reduced their natural power of healing.42 Thus, for instance, one synthetic doctor asserted that vaccination against smallpox was utterly wrong, because it did not change the hygienic conditions of individuals for the control of infection; contrariwise, it induced changes in the microbes that made them stronger.43 In the best of cases, vaccination only induced transient immunisation.44 The notion of terrain, as constructed in France, was closely related to the concept of constitutional physical types, the so-called biotypes, which consequently might be considered as one further characteristic of French holism. The classification and stratification of biotypes were believed to be useful to identify the terrains more prone to the development of definite diseases. Consequently, several doctors elaborated various categorisations of the human types based on variable criteria, some of which we discuss below. Not surprisingly, for several authors biotypes represented a revival of the traditional Hippocratic-Galenic notion of temperament, long forsaken in medicine. The French biotypologists were under the direct influence of the Italian constitutional school, of which Nicola Pende (1880–1970) was the main representative at that time. In his book, “Trattato di biotipologia umana”, from 1939, Pende explains he had coined the term ‘biotypology’ in the previous decade to designate the science charged of the study of the “anatomical, humoral, functional, psychological orders […] the dynamic structure of each individual” in an all-encompassing manner, thus different from the approach of anatomists, physiologists and statisticians.45 In his view, biotypology was the study of the architecture and engineering of the individual human body, which differed from early constitutional views by its holistic overtone. Indeed, Pende expected biotypology to transcend the mere description of the physical types of the external “individual morphology”, as his predecessors, Achille di Giovanni (1836–1916) and Giacinto Viola (1870–1943), had done.46 He represented his ideas as a quadrilateral pyramid, with inheritance as its base, on 41 In 1923, Albert Calmette (1863–1933) presented an experimental essay to the ‘Académie des Sciences’, in which he sought to demonstrate that “facteur terrain does not interfere at all with the progression of tuberculosis”: Calmette/Boquet/Nègre (1923), p. 1198. Nevertheless, Fernand Bezançon (1868–1948), chair of bacteriology at the School of Medicine, Paris, and a former disciple of Fernand Widal (1862–1929), emphasised the role of the individual terrain vis-à-vis the virulence of microbes through a concept he denominated ‘specific reactive modalities’, which he introduced at the French Medical Congress of 1932; see Bezançon (1932). The notion of ‘specific reactive modalities’ is still used by present-day French homeopaths to allude to Samuel Hahnemann’s ‘miasmas’; see below and Haffen (2005), p. 237. 42 Héricourt (1927), p. 35. 43 Héricourt (1927), p. 40. 44 Héricourt (1927), p. 40. 45 Pende (1939), p. 2. 46 Pende (1939), p. 1.

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which developed all the other aspects, i. e., the pyramid faces, two corresponding to somatic factors and two to psychological factors, as follows: morphology, namely, the external characteristics of the body, assessed based on biometric traits; the dynamic humoral factor, corresponding to the hormonal constitution and nutritional aspects (vitamins and salts); intellect, i. e., cognition; and the characterological-moral factor, corresponding to the individual personality.47 Such holistic discourse, presented as a science, could not but be attractive to the French synthetic doctors, the racialist aspects inherent to this doctrine notwithstanding.48 More in particular, Pende had direct influence on the homeopath Martiny, who eventually developed a biotypological classification of his own, taught to this day in training courses on homeopathy.49 An ideal therapeutics for the holos Some therapeutic approaches found fertile ground within the medical holistic framework. Homeopathy, for instance, entered a new and strong phase of development, for being seen as a softer therapy potentially more efficacious than conventional medical treatments. More relevantly, to the adepts of synthèse the homeopathic medicines were particularly interesting, because they did not cause radical changes in the patients’ terrain, resulting in secondary disease, but on the opposite, led it to its ideal physiological condition. So, for instance, Léon Vannier asserted that homeopathic medicines were able to “truly restore the patient, bringing him back to his authentic plan, similar to the one he had at birth”.50 Consistently, not only the number of homeopathic practitioners exhibited dramatic increase, but also the one of care and teaching institutions inspired by Samuel Hahnemann’s approach.51 After the end of World War I, the first laboratories for mass-scale production of homeopathic medicines developed to serve the demands of a continuously increasing public.52 Discussing the homeopathic nébuleuse in France in the 1930s, points out that the homeopaths spread the utilisation of this therapeutic through increase of the pharmaceutical industry and advertising.53 In addition, the homeopaths also paid attention to education and research in homeopathy in attempt to integrate it into tradi47 Pende (1939), pp. 1–3. 48 Pende made an active contribution to the Italian Fascism through the movimento della razza, devoted to the eugenic improvement of the ‘Italian race’; see Cassata (2011), p. 225, and Lima Thomaz (2011), p. 25. 49 Franco (2004), p. 31. 50 Vannier (1945), p. 115. 51 See Fortier-Bernoville (1936) where he provides a quantitative analysis of homeopathy in France in the 1930s. 52 On the development of homeopathy in the interwar period, see Faure: L’homéopathie (2002), pp. 92. For a thorough account of how homeopathy became a social and cultural movement, see Faure (2011). 53 Faure: L’homéopathie (2002), p. 96.

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tional medicine.54 Furthermore, many synthetic doctors who used other therapeutic methods, such as acupuncture and psychoanalysis, combined them with homeopathic prescriptions.55 Among the French homeopaths of the first half of the 20th century Léon Vannier stands out. Not only did he have a very busy practice, including countless patients from the higher classes, but he also played an active role in the divulgation of homeopathy through the journal L’Homéopathie française, whose editor he was, public lectures and engagement in the development of homeopathic pharmaceuticals through ‘Laboratoires Homéopathiques de France’, which at a later time merged with the Lyon-based Boiron laboratory.56 Also non-pharmacological resources were a part of the first-line arsenal of French holistic therapeutics. The underlying idea was that such treatments spared patients from undesirable side effects, at the same time that they enhanced their natural power of healing, namely, the traditional vis medicatrix naturae.57 This latter aspect was reiterated as the ultimate goal of medicine, independently from the means chosen for actual treatment. According to René Allendy, the task of doctors was not restricted to the combat of pathogens, but to assist the ill body in its efforts to heal itself.58 Within the context of non-pharmacological treatments, the one suggested by René Leriche (1879–1955) stands out. A reputed surgeon at ‘Collège de France’, Leriche represents one of the most noteworthy examples of the attempts at humanising medicine within the French medical holistic setting. In addition to his work on vascular surgery, Leriche also became famous for his “Chirurgie de la douleur”59, a set of surgical procedures targeting pain, especially the types more difficult to control in everyday clinical practice60. Against the controversy triggered by these techniques and his colleagues’ mistrust, Leriche criticised the doctors that attributed secondary relevance to pain, for believing that “the patient lives with it [pain] and seems to adjust to it”.61 Such neglect of human suffering was a cause of profound unease for Leriche: “My 54 Faure: L’homéopathie (2002), p. 96. 55 As examples, homeopaths Marcel Martiny and René Allendy practiced acupuncture and psychoanalysis, respectively. On the connexions between homeopaths and the spread of acupuncture and Chinese medicine in France, see Candelise (2008). Faure also observes that Léon Vannier and René Allendy used heterodox diagnostic therapeutics such as iridology, chiroscopy, morphology and even astrology. Faure: L’homéopathie (2002), p. 96. 56 Faure (1992), p. 181. 57 Vis medicatrix naturae was the traditional term for the natural power of healing of the body, i. e., not requiring any therapeutic intervention to achieve the full cure of diseases; see Laín Entralgo (1982), p. 108. 58 Allendy (1929), p. 19. 59 The main procedures used by Leriche included: periarterial sympathectomy, arterectomy, ramisection, ganglion ablation, parathyroidectomy and adrenalectomy, see Leriche (1940), pp. 19–20. 60 Leriche’s interest in this subject arose from his experience as a military doctor during World War I, when he had occasion to treat patients with causalgia following gunshot wounds; Leriche (1940), p. 10. 61 Leriche (1940), p. 20.

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desire to understand [medicine] never made me lose the human [element] from sight.”62 Contrariwise, in his view the task of doctors was to apply their knowledge to afford relief to the suffering of patients, because “the ones who suffer, do suffer exactly as they say”.63 Pain-as-disease, douleur-maladie, was the focus of Leriche’s attention. According to him, this condition was different from the pain experimentally induced in the laboratory, the purpose of which was only to test the sensory thresholds for pain among Guinea pigs. Facing actual human pain, the attitude of the doctor ought to be different from the one of the laboratory investigator. Clinical practitioners, or surgeons, in his case, ought to be stubborn in their effort to distinguish the actual causes of the patients’ pain, taking their subjective description into consideration: burning pain, tearing pain, cramping pain, and so forth.64 Thus, the singular individual and his/her particular manner of expressing his/her symptoms were raised to the primary locus of interest, i. e., exactly what the contemporary synthetic doctors did, and for which reason did not spare praises to Leriche’s altruism. ‘Heretic’ synthesis The book “Hérétiques” was released in 1945 by the Paris publishing house Plon, as a part of a collection entitled “Présences”.65 The editor of this collection was Daniel-Rops (1901–1965), known in Catholic circles for his work on the history of Christianity.66 The extant data allow inferring that he was friends with the Lyon doctor René Biot, and together planned a book congregating scholars wanting to discuss alternative paths for medicine. Both Biot and Daniel-Rops believed that the Catholic faith could represent a plausible solution to the evils of the modern world.67 Together with Marius Gonin (1873– 1937), a journalist belonging to the social Catholic movement, and Joseph Vialatoux (1880–1970), a professor of philosophy at ‘Université Catholique de Lyon’, Biot created the ‘Groupe Lyonnais d’études médicales, philosophiques 62 63 64 65

Leriche (1940), p. 15. Leriche (1940), p. 28. Leriche (1940), p. 30. Other titles included in the collection “Présences” were, for instance, “Difficultés de croire”, “Qu’attendez-vous du prêtre?” and “Le mal est parmi nous”, which illustrate its focus on Catholic subjects. Daniel-Rops, whose actual name was Henri J. C. Petiot, was also the editor of “The Twentieth Century Encyclopaedia of Catholicism”, published in the United States in the 1950s and 1960s. See Flower (2013), p. 159. 66 From the political point of view, Daniel-Rops was a founding member of ‘Ordre nouveau’. Created in the 1930s and organised by Alexandre Marc (1904–2000), this movement proposed political and intellectual changes to promote rightist views in the face of the expansion of Socialism. ‘Ordre nouveau’ congregated individuals who sympathised with Adolf Hitler’s (1889–1945) National Socialism, then rising in Germany and Austria. On Daniel-Rops and ‘Ordre nouveau’ in the 1930s, see Hellman (2000), p. 30. 67 Poulat (1992), pp. 12–13.

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et biologiques’, which met at the office of ‘Chronique Sociale’68, the vehicle of expression of the social Catholic movement69. As many contemporaries, also Biot’s expectations were to develop a more humane brand of medicine.70 However, the medical approaches of the adepts of synthèse were too heterodox for both the medical and the Catholic milieus; the latter in particular had absolutely no enthusiasm to participate in discussions of such medical views.71 Thus being, the attribution of the qualification ‘heresy’ to synthetic medicine seemed appropriate. Indeed, the synthetic views on clinical practice, including treatments different from the conventional ones, and the hopes to renew the patient-doctor relationship sounded like heresy to orthodox ears in both circles in which Biot engaged, i. e., the medical and the Catholic. His background notwithstanding and motivated by his inconformity with the current state of medicine, Biot asked colleagues in Lyon to name potential authors also sharing in such discomfort.72 Thus he came to establish contact with two stars of the scientific heaven, Alexis Carrel and Auguste Lumière. In time73, Biot, Carrel and Lumière succeeded in recruiting fourteen authors (Table 1), mostly doctors, to expound on their conceptions of an ideal medical practice. The group represented a broad range of views on therapeutics, including naturopathy, acupuncture, psychotherapy and homeopathy. 68 Poulat (1992), p. 22. 69 There are several studies on social Catholicism in France, among which we might cite as examples: Imbert (2017); Dumons (2013); Pelletier (2004); Boissonnat/Grannec (1999); Durand (1992); Ponson (1992); Mayeur (1986); Murat (1980); Mayeur (1972). According to Ponson, Social Catholics took the Church doctrine as a fundamental structure for the society and also as an important adjuvant to morality. ‘Chronique Sociale’, a vehicle for these ideas, rejected Marxism, but proposed a reconciliation between the social classes. See Ponson: La chronique social (1992), pp.  79–94. René Biot, together with Fabien Arcelin (1876–1942) and the homeopath Pierre D’Espiney (1869–1959), among others, founded in 1924 the ‘Groupe Lyonnais d’études médicales, philosophiques et biologiques’, devoted to discussions seeking a very ‘synthetic’ goal: to integrate moral, psychology and social environment aspects into medicine practice. See Joseph Biot (1992), pp. 114–115. 70 Poulat (1992), p. 22. 71 Poulat (1992), p. 14. 72 According to Régis Ladous, Biot had a particular way of conceiving and practising medicine which allows placing him within the category of ‘heretic’, although from the religious point of view he was an obedient and orthodox child of the Catholic Church. See Ladous (1992), p. 12. Particularly among the self-denominated Christian humanists, essentially based in Lyon, moral and religious zeal impregnated the works and studies of these doctors, most of whom were Catholic. As a whole, they opposed Neo-Hippocratism; Weisz (1998), p. 84. 73 There is not much information about the period of recruitment of these authors. About Allendy’s contribution in this work, we have, in the “Avant-propos” (p. II) of “Hérétiques”, the following mention: “Agira-t-il par ces radiations don’t le Docteur Allendy (bien peu de temps avant que la mort interrompît sa probe carrière), avait exposé l’emploi, encore si peu connu?” This way, we can infer that Allendy’s chapter was written shortly before his death in 1942.

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Table 1: Chapters of “Hérétiques” and corresponding authors 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Le rôle futur de la médecine – Alexis Carrel74 Existe-t-il une doctrine officielle? – Rémy Collin75 Analyse scientifique et médecine humaine – Paul Jottras76 La médecine humorale et ses résultats – Auguste Lumière77 La tradition scientifique de l’homéopathie – Léon Vannier78 La tradition hippocratique et la médecine des correspondances – Pierre Galimard79

74 Alexis-Marie-Joseph-Auguste Carrel was born in Lyon, having completed his medical studies at ‘Université de Lyon’. Although Carrel had studied throughout childhood and youth at a Catholic institution, he was not a religious practitioner in early adulthood. In time, he became interested in the miracle cures reported at the Shrine of Lourdes. As a result, he was forced to leave France to pursue his surgical career abroad. After staying in Montréal for about one year, where he developed his celebrated vascular technique, he was invited to the United States, where he taught for a short period at University of Illinois and the Johns Hopkins Hospital. In 1906, upon invitation by Simon Flexner (1863–1946), he was hired by the Rockefeller Institute for Medical Research in New York to complete his research in vascular surgery. There, he developed his technique of ‘triangulation’ or vascular anastomosis, which awarded him the Nobel Prize in Medicine and Physiology in 1912. See Reggiani (2007). 75 Rémy Collin (1880–1957) began his academic career in Nancy as professor of histology at the local School of Medicine. He remained in this institution for approximately 50 years, where he conducted studies on neuroendocrine regulation. See Catalogue général – Bibliothèque National de France: “Notice de personne: Collin, Rémy (1880–1957) ”: http:// catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb12573995 g (last accessed: 2018/02/14). 76 Biographical information about Jottras could not be found; it is only known that he was a physician at Elbeuf in Normandie, as indicated in his chapter in “Hérétiques”. 77 Auguste Lumière, an illustrious figure of the French cultural history, together with his brother Louis (1864–1948), is famous for the invention of cinematography. Coming from a family of industrialists, his father Antoine (1840–1911) ran a company specialised in photography. However, Auguste exhibited greater interest in chemistry and medicine. See Hannavy (2007), p. 875. 78 Vannier was one of the great French homeopaths, having made remarkable contributions to both theory and practice, as well as to the institutionalisation of this medical approach. For example, he was the founder of the journal L’Homéopathie française in 1912, and in 1926 he established the first large-scale laboratory for preparation of homeopathic medicines, ‘Laboratoires Homéopathiques de France’. Vannier also participated as founding member, in 1931, of ‘Centre Homéopathique de France’, the main institution for divulgation and teaching of homeopathy in the interwar period in France. See Coulamy/ Sarembaud (2005); Faure (1992); Faure: Léon Vannier’s Patients (2002). 79 Pierre Galimard (1912–2008), a homeopathic paediatrician in Lyon, published a book entitled “Hippocrate et la tradition pythagoricienne”, based on his homonymous doctoral dissertation defended at the University of Paris in 1939. After the publication of “Hérétiques”, together with René Biot, he wrote a medical manual for the use of future priests, to wit, “Guide médical des vocations sacerdotales et religieuses”, published in 1952. He also published two books in a paediatric collection. The few biographical data on Pierre Galimard were obtained through Bibliothèque Municipale de Lyon: http://www.guichetdusavoir.org/viewtopic.php?f=2&t=64553 (last accessed: 2018/02/14).

270 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Luciana Costa Lima Thomaz and Silvia Waisse Nouvel hippocratisme – Marcel Martiny80 La médecine naturiste – Joseph Poucel81 Acuponcture, énergie vitale et électricité cosmique – George Soulié de Morant82 La médecine et les agentes impondérables – René Allendy83 Médecine psychologique – Marc Guillerey84 Guérisons rationnellement inexplicables – Pierre Merle85 Que devrait être une médecine traditionnelle? – Pierre Winter86 Vers l’unité de la médecine – René Biot87

80 Marcel Martiny was a homeopathic physician and one of the best-known names in the French neo-Hippocratic scenario of the 20th century. Together with Soulié de Morant, Paul Ferreyrolles (1880–1955) and his wife, Thérèse Martiny, he actively participated in the introduction of acupuncture and Traditional Chinese Medicine in France. In addition to his medical practice, he was also a member of the Society of Anthropology of Paris, professor at the ‘École d’Anthropologie’, where he taught until his death, and vice-president of the ‘Société d’Anthropologie de Paris’ during the 1960s. Martiny created his own system of classification of biotypes, established mainly through his close relationship with Pende. See Ferembach (1983), p. 10. 81 Joseph Poucel (1878–1971), a surgeon in Marseille, advocated a medicine less dependent on the use of medicines as therapeutic tool, which he called ‘naturist medicine’, presented in works such as “Naturisme ou la santé sans drogues” (1952) and “Méthodes naturelles et la santé” (1966). See https://www.idref.fr/056970242 (last accessed: 2017/11/08). 82 While not medically qualified, George Soulié de Morant (1878–1955) introduced acupuncture to Western physicians. His contact with Traditional Chinese Medicine began during his work as translator of classical works on the subject, and continued through the practice of acupuncture, authorised by Chinese doctors during a cholera outbreak in 1902. His career in France was encouraged by Ferreyrolles, who invited him to teach acupuncture at an outpatient clinic at ‘Hôpital Bichat’ in Paris. Later, at ‘Hôpital Léopold-Bellan’, together with Marcel and Thérèse Martiny, he established an acupuncture clinic, which was a reference in the French capital. In 1950, Soulié de Morant was sued by the National Union of Medical Acupuncturists of France for illegal practice of medicine. See Candelise (2008), pp. 17–41. 83 Allendy was a homeopathic doctor and psychoanalyst, founding member of the ‘Société Française de Psychanalise’ in 1926, along with a group of young French psychoanalysts that included Marie Bonaparte (1882–1962) and René Laforgue (1894–1962). More detail on his biography is given in the main text, below, and in Roudinesco/Plon (1998). 84 Marc Guillerey (1895–1954), a psychiatrist in Lausanne, was a student of Robert Desoille (1890–1966), with whom he developed the psychotherapeutic method known as ‘directed dreams’, a technique of free association based on images suggested by the psychoanalyst. He was head of ‘La Métairie’ psychiatric clinic in Nyon (Switzerland) until his death. See Charbonnier (1970), p. 25. 85 The literature reports no biographical data about this Montpellier doctor. 86 In addition to being a public health and homeopathic doctor, Winter (1891–1952) had a degree in biology. He developed interest in esotericism, awakened by his association with René Guénon (1886–1951), author of books on metaphysics and Eastern esoteric traditions, resulting in the founding of the ‘Groupe d’études des techniques mystiques et du yoga’ and ‘Groupe d’Études métaphysiques’ in the 1940s. He was founder of the ‘Parti fasciste révolutionnaire de France’. See http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb106794060 (last accessed: 2017/11/08); Nguyen (2012), p. 100. 87 René Biot was an endocrinologist in Lyon, where he completed his medical studies. After spending some time at his father’s laboratory of clinical analysis, he worked at the

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The book begins by a preface impersonally signed as “Présences”, i. e., the collection’s name.88 The preface mentions previous works by Biot, particularly “Le corps et l’âme” and “Santé humaine” for providing the parameters to establish the concepts of holistic doctrine, which in last instance could be summarised in the aphorism “Mens sana in corpore sano”.89 According to the book preface, the ultimate goal of holistic doctrine was to “produce true Humanists who understand the [relevance of the] connection between flesh and soul for the formation of being”.90 The text finishes by concluding that it is not possible to learn anything about human beings if we ignore “our brother the body”, directly quoting St. Francis of Assisi.91 Indeed, the preface to “Hérétiques” strongly emphasises the role of the relation between body and spirit in the process of healing and conversely, of spiritual maladjustment in the genesis of disease. One of the authors, Paul Jottras, is mentioned for his ability to “demonstrate the close relationship between the spiritual and the carnal”. Marc Guillerey, in turn, had the merit to understand that “the nature of disease should be looked for in the spirit”. Alexis Carrel is reminded for his discussion of the ‘catastrophic’ effects of separating these two elements, while the right path to cure, or to bring patients to a balanced life, was to “seize man in his entirety”. In turn the chapter of Pierre Merle on miraculous cures is cited as an example of medical interventions on the “spiritual power”.92 All in all the fourteen chapters represent multifaceted views on synthetic medicine. Since the topics are widely eclectic, we clustered them under three main headings corresponding to the contemporary holistic beliefs, to wit: criticism to contemporary medicine, Neo-Hippocratism, and heterodox therapeutic approaches. A thorough discussion of each chapter would demand much space, therefore, for the present paper we selected the main representatives of each group as a function of their relevance for the synthetic holistic movement.93 The authors corresponding to the first group mainly criticised the contemporary mainstream, i. e., analytical, medicine, however, without expressing crude opposition to it. Rather they sought to achieve an epistemological merging of both analytical and synthetic medicine. Their basic proposal was

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Lyon ‘Hôpital-Dieu’. In 1924, he founded the aforementioned ‘Groupe Lyonnais d’études médicales, philosophiques et biologiques’, devoted to reflection on the role of medicine from a Christian perspective. The biographical data on René Biot were extracted from Ladous (1992). Poulat (1992), p. 12, suggests that the preface was written by Daniel-Rops, as editor of the collection. Carrel/Lumière (1945), “Avant-propos”, p. i. Carrel/Lumière (1945), “Avant-propos”, p. i. Carrel/Lumière (1945), “Avant-propos”, p. i. Carrel/Lumière (1945), “Avant-propos”, p. i. For an analysis of each chapter of “Hérétiques” with focus on holistic synthetic medicine, see Lima Thomaz (2016). The book “Hérétiques” was also analysed from the perspective of the historical attempts at promoting longevity, see Stambler (2014).

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a thorough reform of medicine conjugating the knowledge acquired in the previous century to a more humane clinical practice. Alexis Carrel stands out among this group of authors, with a chapter bearing the ambitious title “The future role of medicine”. Carrel reminds the reader that at that time medicine had already acquired knowledge allowing for the cure of infectious diseases, as well as for the development of more advanced surgical techniques. As a result, it was in condition to increase the life expectancy of people. However, rather than seeing progress here, Carrel asserts that as a consequence of such developments, instead of dying quickly by infectious diseases, people died more slowly and painfully under the influence of degenerative diseases.94 In addition, humankind was exposed to “agents even more subtle” than viruses and bacteria and which caused serious disorders, such as “madness, nervous frailty and moral corruption”, which posed a greater danger to civilisation by comparison to “yellow fever, cancer and typhus”. According to Carrel, such situation was a cause of urgent concern, as the number of insane people was already “much more higher than the one of patients in all other categories together”.95 The solution for such predicament, or better, “for the largest problems of civilisation”, depended on “the knowledge not only of man’s aspects but of man as a whole; as an individual in a group, a nation and a race”.96 These elements could be incorporated into medical practice through sciences such as biotypology, since by encompassing all the knowledge about man, it had a high predictive value relative to possible diseases, and at the same time served the noble goal of improving the hereditary stock via marriage between members of the “best caste” of human beings. Naturally, to Carrel’s eugenic eyes, the reproduction of the individuals of the ‘lower castes’ ought not to be promoted.97 Biotypology, a science developed for the sake of eugenics, was understood by Carrel as one of the paths for modern preventive medicine. Programmed reproduction of the individuals with the best stocks was as important as the prevention of diseases through hygiene to promote healthier future generations: “It is necessary to give more importance to human typology, as Nicola Pende, in Italy, has already done. And to eugenics and to the shaping of man according to his physical, moral, intellectual, aesthetical and religious factors.”98 Therefore, “in the present time, thanks to eugenics and a wise use of the physical, chemical, physiological and mental factors that act on the formation of individuals, that dream became feasible. Medicine might contribute to the blossoming of the hereditary trends of any individual.”99

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Carrel (1945), p. 2. Carrel (1945), p. 2. Carrel (1945), p. 5. Carrel (1936), p. 366. Carrel (1945), p. 6. Carrel (1945), p. 9.

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Carrel ends his chapter with an injunction that reaffirms his eugenic interests: “Achieving health does not suffice. The progress of human beings is [rather] the goal to pursue. Because the quality of life is more important than life itself.”100 As we might infer, Carrel’s synthetic holism heavily tended to negative eugenics. His call for a ‘reform of humankind’ was praised by other authors in “Hérétiques”, René Biot, Paul Jottras, Joseph Poucel, Marc Guillerey and Pierre Winter, who literally quoted or paraphrased Carrel’s views.101 These manifestations are an expression of the epistemological proximity between medical synthesis and eugenic thought as paths for the reform of medicine. Another author from the group characterised by inconformity with the contemporary medicine is Biot, the intellectual mentor of “Hérétiques”. Biot represents the doctors who believed that the many various approaches to medical practice could be synthesised, and that mainstream medicine could be converted to the synthetic philosophy.102 Such merge, according to Biot, would enable the diagnosis and treatment of many diseases considered to be a mystery until then.103 The overall tone of Biot’s chapter is much different from the one of Carrel. Biot sought to stress the relevance of religion and spirituality in the practice of medicine and in science in general, within which context he explicitly describes the Christian notion of charity as a path for medical practice: Far from dismissing the physician’s efforts, belief in the Providence encourages scientific research. Because the Christian knows that God is the master of everything, of life and healing, he also knows that God’s will, to be accomplished both in earth and heaven, uses our work and our charity [as means].104

In the other end of the spectrum compared to Carrel, Biot concludes his chapter reinforcing the Christian humanitarian ideal, which seemed for him to be the primary factor in synthetic medical practice. Interestingly, Carrel’s is the first chapter of the book, while Biot’s is the last. Biot puts the possibility of homogeneous treatments under a wide variety of environmental circumstances into question. So, for instance, he illustrates that for one patient in a hospital ward the environmental light and silence are relaxing, while his neighbour might feel guilty for having had to leave his home. Biot openly asks whether both patients might be approached and understood from one and the same perspective and given a same treatment exclusively based on the disease they exhibit.105 As mentioned above, Neo-Hippocratism was one of the main components of the synthetic movement, and thus the fact that it was widely represented in 100 Carrel (1945), p. 9. 101 Jottras (1945), p.  31; Guillerey (1945), p.  248; Poucel (1945), p.  161; Carrel/Lumière (1945), “Avant-propos”, p. II. 102 Biot’s chapter is entitled “Towards the unity of medicine”. 103 René Biot (1945), p. 334. 104 René Biot (1945), p. 342. 105 René Biot (1945), p. 337.

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“Hérétiques” is no reason for surprise. We selected two authors who served as spokesmen for the new interest in reviving classical Hippocratic principles, although one of them did not do so intentionally nor did he define himself as a Neo-Hippocratic. Nevertheless, he devoted his chapter in “Hérétiques” to comparisons to humoral medicine as parameter for his own scientific investigations in the attempt to synthesise the older and the modern medicine. We allude to Auguste Lumière, one of the famous Lumière brothers who invented the cinematograph. Lumière’s chapter is entitled “Humoral medicine and its results”. According to him, the main reactions in the human body, were they physiological or pathological, occurred at the level of the humours, a Hippocratic concept that he redefined according to modern notions. Diseases, says he, were no longer to be understood as caused by disorders in the ‘mix’ or degree of ‘coction’ of the humours, as in classic antiquity, but as ‘colloidal perturbations’ of the body fluids. Such perturbations were biochemical reactions that led to ‘humour flocculation’, a chemical reaction that was the focus of Lumière’s studies along his last thirty years of life.106 According to him, ‘solid flocculates’ were the “primum movens” of the functional maladjustment of the body and the ultimate explanation for the pathological underpinnings of disease.107 Consequently, the treatment he suggested was based on the use of substances able to cause the “dissolution of the protein floccules, modifying their precipitation and anaesthetising the endovascular nerve endings”.108 To confirm his humour-targeting therapeutics, Lumière described in “Hérétiques” the results of the tests he had conducted at his practice in Lyon.109 Subcutaneous or intravenous inoculation of magnesium hyposulphite had resulted in full healing of 65 % of his patients and perceptible improvement of further 30 %.110 Lumière concludes his chapter with an appeal to doctors to employ his treatment, as the reported outcomes represented a demonstration of the modern application of humoralism. In turn, classical humour theory was used by the homeopath Marcel Martiny to ground his own brand of synthetic discourse. In his chapter in “Hérétiques”, he cites the four traditional temperaments as argument for the relevance of biotypes in medical practice. Indeed, Martiny had developed a biotypological classification of his own, drawing heavily from Pende’s work.111 106 Some among Auguste Lumière’s scientific publications were Lumière (1924), Lumière (1933) and Lumière (1940). 107 Lumière (1945), p. 55. 108 Lumière (1945), p. 55. 109 In 1910 Lumière opened a polyclinic in Lyon, where he studied the flocculation precipitates and tested their therapeutic application. The facilities were also used for the care of mutilated soldiers in World War I; see Hannavy (2007), p. 875. 110 However, in his chapter in “Hérétiques” Lumière does not mention the diseases he treated; he merely states that the subjects were patients who “after one year of disease, had been unsuccessfully subjected to classical therapies”. Lumière (1945), p. 59. 111 On the relationship between Martiny’s biotypology and eugenics, see Lima Thomaz (2011).

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According to Martiny, the physical characteristics of the human races112, which were determined by the primary germ layers, were direct evidence of the gradual evolution from the primitive Anthropoid and Negroid races to the more socially developed and intellectualised ones113. Such hierarchical biotypological thought was flanked by Martiny’s advocacy of a more humane medicine based on a global and individualised approach to patients. Biotypology served that goal because it was a science that attributed particular value to the ‘biological specificities’ of each human type, and consequently helped direct the observation of human beings in their physiological state. Moreover, the classification of humans in physical and psychological types contributed to individualise therapy, rather than determining treatments as exclusive function of the existing disease.114 To Martiny and other holistic doctors who shared in his interest, biotypes were the expression of such individual specificity. Martiny’s biotypology was grounded on the notion of racial hierarchy precisely at a time when eugenics served the very same purpose. In his chapter in “Hérétiques” he carefully elaborated on his own views on human types imbricated with Hippocratic principles, which he updated according to approaches typical of the contemporary eugenicists.115 The wide homeopathic experience of Martiny notwithstanding, the author selected to discuss homeopathy in “Hérétiques” was Léon Vannier, as mentioned above, one of the main divulgators of homeopathy in the first half of the 20th century in France. While the chapter corresponds to the third group we established, i. e., the one dealing with heterodox therapies, his main aim is somehow Neo-Hippocratic, as he attempted to draw a line linking Hippocratic medicine to Samuel Hahnemann (1755–1843), with intermediate steps represented by the work of Paracelsus (1493–1541), Oswald Croll (1563–1609) and Athanasius Kircher (1602–1680).116 Vannier explains that the reason for such approach was based on the idea that [t]o understand Homeopathy, it is necessary to know its history. To describe its origins and its development is, in truth, to take up the whole history of medicine, with its great

112 Martiny was a member of the ‘Société d’Anthropologie’ in Paris, as well as professor at ‘École d’Anthropologie’, where he stayed as an important member until his death in 1982. Ferembach (1983), p. 10. 113 Martiny admitted the possibility of an ‘endodermal’ individual, i. e., the most primitive type, to come to be a “man of high value, a true super-man, as it seems to be the case of Thomas Aquinas”, while the ‘ectodermal’ individual could be “intellectually obtuse”. Martiny (1945), p. 149. 114 Martiny (1945), p. 149. 115 For the development of the notion and classification of races starting at the turn of the 18th century, and thus in a context other than the one of eugenics, see Meijer (2014); Uchôa/Waisse (2015). 116 Oswald Croll was a German doctor and alchemist, author of “Basilica Chimica” (1609), an influential book for 17th century iatrochemistry; see Debus (1977), pp.  117–123. Athanasius Kircher was a mathematician, alchemist and Jesuit priest; see Merrill (2003), pp. 1–3.

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Luciana Costa Lima Thomaz and Silvia Waisse philosophical undulations, its stages of progress and disappointments, its brilliant and confused evolution, its happy results and its failures.117

However, one might infer that through the mentions to the older doctors Vannier meant to reinforce historical and authority-based arguments for an alleged direct relationship between the synthetic approach and the mainstream, so-called ‘scientific’ medicine, since he says: “The future of homeopathy is reaffirmed in the light of the most recent scientific discoveries, which allow for better knowledge of the action of infinitesimal doses and define such action precisely.”118 Hahnemann, one of the historical authorities, had synthesised, according to Vannier, the ideal curative expectations of homeopathy. The law of similars, infinitesimal doses and use of substances from the three kingdoms of nature to prepare medicines composed that which Vannier considered to be the “means for true cures”.119 Vannier also reproduced some other themes dear to synthetic-holistic medicine, such as the relevance of biotypology and the value of Hippocratic medicine, because it “did not discriminate syndromes” nor did it “put labels on diseases”. In turn, patients ought to be classified in types to have a more precise understanding of their “individual reactions”.120 Within the particular context of homeopathy, accurate knowledge of characteristics and physical types corresponding to the so-called ‘miasmas’121 afforded the practitioner the power “to re-establish the natural order of the patient”: “The doctor might truly re-establish his patient, bringing him back to his [natural] plan, the one he exhibited at birth, the one [he] must accomplish in the course of his life.”122 Such noble mission entrusted to homeopathic doctors was clearly integrated with the contemporary holistic ideas. One further homeopathic doctor contributed with a chapter to “Hérétiques”, but as in the case of Martiny, his topic was another one. Better known as a psychoanalyst, René Allendy developed a broad range of interests, including also astrology, and wrote his own book on human temperaments.123 As a function of his multiple interests, he gathered reputed artists and scientists in a discussion group named ‘Groupe d’études philosophiques et scientifiques 117 118 119 120 121

Vannier (1945), p. 64. Vannier (1945), p. 115. Vannier (1945), p. 85. Vannier (1945), p. 65. In their classical meaning dating from antiquity, ‘miasmas’ were morbid effluvia that caused diseases; Laín Entralgo (1982), p. 190. To Hahnemann, ‘miasmas’ had ‘immaterial’ nature and were able to influence the ‘vital force’, causing what today we know as contagious diseases, both acute (scarlet fever, measles, etc.) and chronic; the latter were restricted by Hahnemann to three conditions: psora (scabies), syphilis and sycosis (gonorrhoea); Hahnemann (1896), p. 38. 122 Vannier (1945), p.  115. It should be noticed that Vannier’s views, here summarily described, provided the grounds for a homeopathic line of thought that remains to this day, known as ‘French homeopathy’, to wit, based on biotypes and ‘chronic reaction modes’; see, e. g., Haffen (2005). 123 Allendy (1922).

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pour l’examen des idées nouvelles’, which periodically met at Sorbonne amphitheatre Michelet. Along the 1920s and early 1930s, the group included members such as the physicist Paul Langevin (1872–1946)124, the architect Le Corbusier (1887–1965)125, the filmmaker Sergei M. Eisenstein (1898–1948)126, the philologist Karl Reinhardt (1886–1958)127, the poet Antonin Artaud (1896–1948)128, and the art professor at the University of Vienna Max Eisler (1881–1937)129, in addition to psychiatrists such as René Laforgue130 and Adrien Borel (1886–1966)131 and the Austrian psychoanalyst Alfred Adler (1870–1937)132. The discussions were divulgated in a journal, the Bulletin du groupe d’études philosophiques; its first issue states that the group’s aims were “to report on the desire to find out what the new ideas, especially in the philosophical, scientific and artistic fields, have in common to define the orientation of contemporary thought and evidence its new impulse for the creation and continuous organisation of the most significant traditions of the past”.133 Allendy might be considered an exemplary case of the attempts to gather different types of knowledge under the sign of synthesis, having gone much beyond his peers in this regard. His participation in “Hérétiques” might be accounted for by his interest in such a broad range of disparate subjects and unconditional advocacy of synthesis, even when the topics addressed were too controversial, even for the holistic doctors themselves. Indeed, his chapter in “Hérétiques”, entitled “Medicine and imponderable agents”, is one further sample of his multiple interests. In Allendy’s version, the imponderable agents included ultraviolet and infrared radiation, the magnetic fields, x-rays, cosmic electricity, the highly diluted homeopathic medicines, and telepathy phenomena, among others, all of which were likely to cause “singularly striking effects on the body”.134 Allendy depicted body and mind as “forms of energy” with different representations. The body emitted a magnetic field of its own, a phenomenon widely known from the ancient Egyptians to the contemporary spiritualists.135 Mind, in turn, was composed of “highly subtle waves” able to cause pathological states such as “congestion, bleeding and skin eruptions”, while at the same time it was also able to cure disease.136

124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136

Bulletin du groupe d’études philosophiques 1 (1923), p. 2. Bulletin du groupe d’études philosophiques 2 (1924). Bulletin du groupe d’études philosophiques 8 (1930). Bulletin du groupe d’études philosophiques 6 (1928). Bulletin du groupe d’études philosophiques 6 (1928). Bulletin du groupe d’études philosophiques 5 (1927). Bulletin du groupe d’études philosophiques 1 (1923). Bulletin du groupe d’études philosophiques 5 (1927). Bulletin du groupe d’études philosophiques 2 (1924). Allendy (1923), p. 1. Allendy (1945), p. 209. Allendy (1945), p. 221. Allendy (1945), p. 226.

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Final considerations As we discussed in the present paper, in addition to bringing to light to a series of therapeutic approaches different from the ones of mainstream medicine, the French medical synthetic movement represented a locus for thorough discussions on the role of doctors in the humanisation of medicine. Through holistic-synthetic lenses, these doctors set themselves to approach medicine from a different perspective, at times coming back to ancient principles, at times detaching themselves from them, but never losing the goal of reforming the conventional, analytical medicine, from sight. In the book that served as our point of departure, “Hérétiques”, Hippocrates is evoked once and again as authority, even when the subject of a chapter is a fully different one. In addition, our study evidences the repercussions of the holistic ideas in space and time. In space, because the movement was not restricted to exclusively ‘holistic’ institutions, but penetrated deeply into mainstream medical and academic circles. In time, because the Neo-Hippocratic ideals were carried well into the second half of the 20th century, for instance, by historians of medicine, as is the case of Laín Entralgo’s ‘trans-Hippocratism’, summarised in his dictum “Etiam apud nos fulget Hippocrates, sed Hippocrates noster” – “Hippocrates still shines among us, but it is our Hippocrates.”137 As concerns this particular revival of Hippocratism, “Hérétiques”, which might be considered as the swan song of the synthetic movement, appears as the point of inflection for the reconsideration of other issues that, starting at the end of the 1940s, came to play a major role in the medical agenda, such as the institution of specific ethics for research and practice starting with the Nuremberg Code. Humaneness – and Humanism – came, indeed, to impregnate all discussions of any medical procedure, unfortunately not through a broader awareness of the nature of medical care among doctors, but as a result of one of the most dramatic tragedies that befell humankind.138 In the second half of the 20th century, heterodox therapeutic practices were reconfigured as an alternative approach to patients and rechristened as ‘complementary and alternative medicine’. This development took place within a different context, the one of counterculture, in which the weight of ‘heresy’ seemed to be somehow lighter.139 The understanding of human beings as comprising several aspects, all of them to be taken into account in medical care was not restricted to France and does not exhaust itself in the French holistic currents. Yet ‘analysis’, i. e., the opposite of ‘synthesis’, was configured as the specific target of the French holistic movement facing a medicine that was becoming fragmented in ever-increasing specialties, thus blurring the view of the holos. In Germany, for instance, the privileged metaphor was the ‘machine’, as opposed to the notion of ‘organism’.140 137 138 139 140

Laín Entralgo (1982), p. 547. Grodin (1994). See Dinges: Einleitung (1996); Dinges: Geschichte (1996). Harrington (1996), p. xvi.

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Permeating the efforts of the French synthetic doctors, the references to eugenics, as a scientific resource to ‘improve’ the human species, appeared once and again in our research, yet one should not consider it a typical trait of the French medical holism. Pretty much the opposite, the views of Alexis Carrel and Marcel Martiny in this regard seem to represent lines of fracture within the French holistic scenario. Differently, Carrel’s unease with the contemporary state of civilisation was a leitmotiv for the ‘heretic’ authors. Without pretending to make unduly generalisations, in our study we sought to trace back the relationship of the holistic-synthetic ideas to the corresponding zeitgeist, which might be at least partially characterised by a state of bewilderment in the face of an environment predisposed to fragmentation and belligerence, in which the human condition as such was discussed from multiple perspectives.141 The ‘new medicine’ dreamt by the French holistic doctors did not consolidate as they expected. Rather, mainstream medicine moved well beyond analysis to come to be thoroughly grounded on statistical notions and methods.142 Curiously enough, this action gave rise to a reaction, one fruit of which is the recent development of the so-called ‘person-centred medicine’.143 In any case, one might conclude that the lessons taught by the holistic medicine of the first half of the 20th century cannot be passed over: medicine is a human activity and should be practiced for the sake of human beings taken as wholes. Bibliography Archives Centre de Resources en Information Scientifique (CeRIS), Institut Pasteur, Paris – Alexandre Besredka: Manuscript “Le rôle du terrain dans les maladies infectieuses”

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Luciana Costa Lima Thomaz and Silvia Waisse

Acknowledgments The present article derives from L. C. Lima Thomaz’s doctoral dissertation, funded by the Brazilian Federal Agency for Support and Evaluation of Graduate Education (CAPES), to which the authors are grateful. The authors also thank Prof Dr Ana M. Alfonso-Goldfarb, Vera C. Machline, Lucy Banks and José R. de C. M. Ayres for their valuable comments.

ISSN 0939-351X