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German Pages 240 [242] Year 2016
Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 34
Franz Steiner Verlag Stuttgart
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte Band 34
Medizin, Gesellschaft und Geschichte
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 34 (2016) herausgegeben von Robert Jütte
Franz Steiner Verlag
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart www.steiner-verlag.de/medgg Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-und-geschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Laupp & Göbel, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-11357-1 (Print) ISBN 978-3-515-11359-5 (E-Book)
Inhalt
Anschriften der Verfasser Editorial I.
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Zur Sozialgeschichte der Medizin Stephanie Neuner Armut und Krankheit. Das prekäre Leben von Unterschichtenfamilien in Würzburg und Göttingen, 1800–1850
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Florian G. Mildenberger Der Hygieniker Dr. med. Karl Roelcke (1907–1982). Familienbiographische Ergänzungen
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Jenny Linek und Pierre Pfütsch Geschlechterbilder in der Gesundheitsaufklärung im deutsch-deutschen Vergleich (1949–1990)
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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft. Krankengeschichten in Briefen [Edition]
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Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
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Anschriften der Verfasser
Christoph Friedrich, Prof. Dr. Philipps-Universität Marburg Institut für Geschichte der Pharmazie Roter Graben 10 35032 Marburg [email protected] Simone Kreher, Prof. Dr. Hochschule Fulda Fachbereich Pflege & Gesundheit Leipziger Str. 123 36037 Fulda [email protected] Jenny Linek, Dr. Hugo-Helfritz-Str. 19 17489 Greifswald [email protected] Ulrich Meyer, Prof. Dr. Ackerstr. 13 10115 Berlin [email protected] Florian Mildenberger, Prof. Dr. Liverpooler Str. 12 13349 Berlin [email protected] Stephanie Neuner, Dr. Yorckstr. 44 10965 Berlin [email protected]
Pierre Pfütsch Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Melanie Schlott Hochschule Fulda Fachbereich Pflege & Gesundheit Leipziger Str. 123 36037 Fulda Thilo Schlott, Prof. Dr. Hochschule Fulda Fachbereich Pflege & Gesundheit Leipziger Str. 123 36037 Fulda [email protected] Caroline Seyfang, Dr. CS pharmahis Silberweg 7 61350 Bad Homburg [email protected]
Editorial
Medizingeschichte kann nicht nur zur Erklärung von Gegenwartsphänomenen beitragen, sondern auch Einsichten in dauerhafte Strukturen vermitteln, die unser Gesundheitswesen bis heute kennzeichnen. So ist der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit, an dem aktuelle Studien keinen Zweifel aufkommen lassen, bereits in früheren Epochen evident gewesen, wie Stephanie Neuner in ihrer Untersuchung zur Armenkrankenversorgung von Unterschichtenfamilien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll belegt. Ob die Lage auf dem Lande noch prekärer war, dazu fehlt es leider noch an Forschung. Die Ärzteschaft hat nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit an dem Glauben festgehalten, dass nur ein paar Hundert Ärzte in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Nürnberger Ärzteprozess ans Tageslicht kamen, verwickelt waren. Doch die Medizingeschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass sehr viel mehr Ärzte Handlanger des nationalsozialistischen Regimes waren und nicht nur Mitläufer, wie es oft in den Spruchkammerverfahren unmittelbar nach Kriegsende festgestellt wurde. Florian Mildenberger rekonstruiert die Biographie eines weniger bekannten Heidelberger Mediziners, dessen Karriere im Dritten Reich bislang nur ansatzweise erforscht wurde, wobei familiäre Rücksichtnahme eine Rolle spielte. Ratschläge für ein gesünderes Leben richteten sich lange Zeit an Frauen und nicht so sehr an Männer. In einem Systemvergleich zeigen Jenny Linek und Pierre Pfütsch auf, wie sich das Geschlechterbild in der Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen Staaten bis 1990 entwickelt hat. Die zweite Sektion dieser Zeitschrift, die traditionsgemäß Aufsätzen zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen vorbehalten ist, enthält diesmal erfreulicherweise wieder eine Quellenedition. Einem Forscherteam um Thilo Schlott ist es zu verdanken, dass Briefe von evangelischen Geistlichen an Hahnemann mustergültig editiert und auch kommentiert wurden. Den Abschluss bildet eine Studie von Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang, welche einen früheren Aufsatz in dieser Zeitschrift, der sich ebenfalls mit der Geschichte des homöopathischen Arzneimittelherstellers Willmar Schwabe befasste, ergänzt und den zeitlichen Schwerpunkt auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 legt. Stuttgart, im März 2016
Robert Jütte
I.
Zur Sozialgeschichte der Medizin
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 34, 2016, 11–50, FRANZ STEINER VERLAG
Armut und Krankheit. Das prekäre Leben von Unterschichtenfamilien in Würzburg und Göttingen, 1800–1850 Stephanie Neuner Summary Poverty and Sickness. The precarious lives of lower-class families in Würzburg and Göttingen, 1800–1850 This contribution focuses on the medical practice of the policlinics in Würzburg and Göttingen in the first half of the nineteenth century. In these institutions patients were treated free of charge by medical students and assistant physicians who, in turn, were able to gain further experience and develop their skills. The policlinics were therefore an important part of poor-healthcare in both these cities. The essay tries in particular to illustrate healthcare for poor patients against the background of their everyday lives and working environment. Based on the situation of individual poor patients, the concepts of ‘sickness’ and ‘poverty’ are discussed as mutually dependent determinants of the ‘reality of life’ among the urban lower classes. This contribution combines the evaluation of medical practice journals and patient histories with the analysis of source materials on urban poor relief and healthcare. It looks particularly at the children and elderly people who attended the policlinics. The encounters between physicians and poor patients documented in the sources not only provide valuable insights into historical patient behaviours, they also open up new perspectives of the physician-patient relationship during the nineteenth century transition from the ‘sickbed-society’ to hospital medicine.
Einleitung Der Blick auf die »Lebenswirklichkeiten«1 städtischer Unterschichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdeutlicht, wie drastisch sich durch Krankheit und Gebrechlichkeit die ohnehin prekäre Lebenslage armer Familien verschärfte und zu existentiellen Krisen verdichtete2. Vor allem für Menschen ohne Familienverband, alleinstehende Frauen mit Kindern und alte Menschen 1 2
Wolff (1998), S. 324 f. Zum historischen Armutsbegriff s. Krieger (2007), S. 18–20; Kühberger/Sedmak (2005); Kocka (1990). Zur Geschichte der armenärztlichen Praxis vgl. Göckenjan (1985), S. 286– 304.
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mündete Krankheit in Verbindung mit dem daraus resultierenden Lohnausfall in einen kaum zu durchbrechenden Kreislauf der Not. Dieses wechselseitige Verhältnis von Armut, Arbeitsunfähigkeit und fehlender sozialer Absicherung prägte auch die Lebensläufe jener armen Patientinnen und Patienten3, die Ärzte und Medizinstudenten sogenannter Polikliniken in Göttingen und Würzburg zwischen 1800 und 1850 behandelten4. Die in der medizin- und sozialgeschichtlichen Forschung bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen, auch »Krankenbesuchs-Anstalten« genannten Einrichtungen wurden im deutschsprachigen Raum vielfach um 1800 gegründet, dienten zwar in erster Linie der praktischen Ausbildung von Medizinstudenten und Assistenzärzten im Rahmen ihres Studiums, trugen darüber hinaus jedoch maßgeblich zur medizinischen Versorgung der armen Bevölkerung bei.5 Für die Darstellung der poliklinischen Praxis in Würzburg und Göttingen der 1830er und 1840er Jahre stützt sich der vorliegende Beitrag primär auf das reichhaltige Quellenmaterial zu den Polikliniken des Medizinprofessors Conrad Heinrich Fuchs (1803–1855). Als zentraler Quellenkorpus steht hier die Sammlung von insgesamt 732 Krankengeschichten zur Verfügung, die Fuchs zu Lehr- und Forschungszwecken anlegte.6 Da dieses von C. H. Fuchs zusammengestellte Kompendium an »Krankheitsgeschichten« eine im Nachhinein bearbeitete Edition darstellt und damit nicht eins zu eins den Alltag der poliklinischen Praxis widerzuspiegeln vermag, wurden als Vergleichsquelle die um etwa 35 bis 40 Jahre älteren Praxistagebücher der Poliklinik des Göttinger Medizinprofessors Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822) herangezogen.7 Mittels der quantitativen und qualitativen Auswertung der Krankengeschichten und Praxistagebücher lässt sich das ärztliche Denken und Handeln der Zeit in seiner Vielschichtigkeit darstellen. Die Analyse liefert zudem Informationen zur Struktur der Patientenschaft hinsichtlich Alter und Geschlecht 3 4
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Im Folgenden wird der besseren Lesbarkeit halber die männliche Form gewählt; grundsätzlich sind in allen analogen Fällen beide Geschlechter gemeint. Die in diesem Aufsatz vorgestellten Ergebnisse entstammen der Forschungstätigkeit im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes »Ambulante ärztliche Krankenversorgung um 1800 – ›Krankenbesuchs-Anstalten‹ der Universitäten Würzburg und Göttingen« (Projektleitung: PD Dr. Karen Nolte) als Teil des DFG-Verbundprojektes »Ärztliche Praxis, 17.–19. Jahrhundert«. Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen der anderen Teilprojekte für den anregenden fachlichen Austausch, der es ermöglichte, die Geschichte der Polikliniken in Würzburg und Göttingen anhand aktueller Forschungsfragen und -ergebnisse zu diskutieren. Neuner/Nolte (2015), S. 208. SUB Göttingen, Conrad Heinrich Fuchs, »Krankheitsgeschichten«, Sign.: HSD 8 COD MS H NAT 61:I–VIII, X–XII; »Leichenöffnungen«, Sign.: HSD 8 COD MS H NAT 60:I–V. Sämtliche 732 Krankengeschichten wurden nach Grundkriterien wie etwa Name, Alter, Beruf, Krankheitsbezeichnung und Dauer der Behandlung aufgenommen und quantitativ ausgewertet. Sie wurden zu rund 20 Prozent transkribiert und konnten damit auch qualitativ analysiert werden. Die Auswahl war repräsentativ hinsichtlich Krankheitsbezeichnung sowie Alter und Geschlecht der Patienten. IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 1: Winterhalbjahr 1792/93; Bd. 2: Juli 1793 – Dezember 1794; Bd. 3: »Im Winterhalbenjahr 1799 – Januar 1802«.
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und erlaubt darüber hinaus wertvolle Rückschlüsse auf das historische Patientenverhalten und Arzt-Patienten-Verhältnis. Obwohl sich die ärztliche Praxis im Rahmen der Polikliniken damit recht umfassend aus den Quellen erschließt, scheint der gerade in sozialgeschichtlicher Hinsicht interessante, sozioökonomische Kontext der Behandlungen bzw. Behandelten nur schwach in dem uns überlieferten Material auf. Praxistagebücher wie die Friedrich Benjamin Osianders oder die Sammlung von »Krankheitsgeschichten« Conrad H. Fuchs’ konzentrieren sich auf Details zu ärztlicher Diagnose und Therapie und bringen meist nur kurze Angaben zur behandelten Person, ihrem Beruf und den Umständen ihrer Erkrankung. Die soziale Wirklichkeit, die Ärzte im Kontext der Behandlungen erlebten, blendeten sie in ihren schriftlichen Aufzeichnungen weitestgehend aus. Diese »Lücken« zu füllen, ist das zentrale Anliegen dieses Beitrags, nämlich sich mittels weiterführender Quellen den »Lebenswirklichkeiten« der Patienten der Polikliniken anzunähern und sie in ihren sozialen Zusammenhängen sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck wurde in die Analyse Quellenmaterial der städtischen Armenkrankenversorgung und Armenfürsorge miteinbezogen, das eine Vielzahl an Ego-Dokumenten8 armer Kranker umfasst9. Dies soll ermöglichen, ein mehrperspektivisches Bild vom Alltag armer Familien zu zeichnen, in dem Krankheit nicht allein das eigene Leben, sondern in sozialer Hinsicht auch die Existenz der Angehörigen bedrohte. Ausgehend von der Frage, welche medizinischen Versorgungsangebote »würdigen« wie »unwürdigen«10 armen Kranken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Würzburg und Göttingen offenstanden, soll zunächst die Relevanz der ambulanten poliklinischen Praxis für die Armenkrankenversorgung herausgearbeitet werden. Im Vergleich der Situation in beiden Städten wird deutlich werden, wie unterschiedlich die medizinische Infrastruktur zu Beginn des 19. Jahrhunderts war, wie profund jedoch die staatlich gelenkte, rasche Akademisierung einer aufstrebenden Universitätsstadt wie Göttingen die medizinischen Versorgungsstrukturen veränderte. Wie gezeigt werden wird, besaß diese Entwicklung auch für die Inanspruchnahme akademischer Ärzte durch arme Kranke nachhaltige Implikationen. Wer waren die armen Patienten, die sich unentgeltlich von den Medizinstudenten und Ärzten der Polikliniken in Göttingen und Würzburg behandeln ließen? Als in besonderem Maße von Armut betroffen und krankheitsgefährdet galten zeitgenössisch Säuglinge und Kinder sowie alte Menschen. Die Behandlung von Kindern und Personen über 60 Jahren bildete desgleichen einen Schwerpunkt der poliklinischen Praxis, die im Folgenden fokussiert wird. Wie die hier untersuchte poliklinische Praxis zeigt, konsultierten – entgegen frühe8 9 10
Zum Begriff des Ego-Dokuments über den autobiographischen Text hinaus s. Schulze (1996). Hierfür konnte die reiche Überlieferung im Stadtarchiv Göttingen herangezogen werden: StAGö, AA 10, 18, 19, 181, 189, 292, 293, 296; AHR IH 9 Nr. 1; Dep. 30; Pol Dir 3. Zur methodischen Herangehensweise vgl. Gründler (2013), S. 20–22. Zum Kriterium der »Würdigkeit« für die Unterstützung Hilfsbedürftiger vgl. Krieger (2007), S. 21; Sachße/Tennstedt (1980), S. 107; Brinkschulte (1996), S. 189; Marx-Jaskulski (2007), S. 23.
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ren Annahmen in der medizinhistorischen Forschung – auch Kinder und Alte der Unterschichten akademische Ärzte, und dies sogar in gleichem Ausmaß wie wohlhabendere Patienten.11 Im Zentrum des Abschnitts über die Behandlung von Kindern und Alten stehen die Begegnungen zwischen Ärzten und Patienten. Ihr Zusammentreffen war wohl selten unvorbelastet und muss vor dem Hintergrund schlechter Erfahrungen sowie stereotyper Wahrnehmungen teils recht vorurteilsbehaftet gewesen sein. Dies suggerieren die ärztliche Literatur der Zeit sowie vielfach überlieferte Klagen.12 Jenseits zeitgenössischer standespolitischer Programmatiken und stereotyper Zuschreibungen soll in diesem Beitrag die Interaktion und Kommunikation zwischen Arzt und Patienten aus der poliklinischen Alltagspraxis heraus charakterisiert werden. Vor dem Hintergrund der geschilderten alltäglichen Arzt-Patienten-Begegnungen wird im letzten Abschnitt dieses Beitrags das historische Patientenverhalten armer Kranker zusammenfassend reflektiert.13 Dies führt letztlich auch zur abschließenden Frage nach der Qualität des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der poliklinischen Praxis. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen armen Patienten und akademischen Ärzten beschreiben? Unterschied es sich etwa in wesentlichen Punkten von dem Umgang zwischen Ärzten und zahlenden Patienten, wie es die ältere medizinhistorische Literatur angibt?14 Waren arme Kranke aufgrund ihres sozialen Status weniger durchsetzungsstark in der Behandlung hinsichtlich ihrer Wünsche und Bedürfnisse als selbstzahlende Kranke? War das Autoritätsgefälle zwischen Arzt und Patienten etwa stärker ausgeprägt, weil Arme auf die kostenlose medizinische Behandlung angewiesen waren? Anhand dieser Leitfragen kann das Arzt-Patienten-Verhältnis im armenärztlichen Kontext hinterfragt und vor dem Hintergrund des Übergangs zwischen ambulanter und stationärer medizinischer Versorgung, nämlich von der »Krankenbettgesellschaft« zur Krankenhausmedizin im 19. Jahrhundert15, auf der Alltagsebene neu charakterisiert werden16.
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Vgl. die zusammenfassenden Forschungsthesen bei Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2015), S. 50–53. Vgl. für die ärztliche Literatur exemplarisch Trautner (1844), S. 6 f., 11; vgl. außerdem Göckenjan (1985), S. 286–304. Vgl. hierzu richtungsweisend Stolberg (1986); Loetz (1998). Vgl. Huerkamp (1985), S. 41; Huerkamp (1995), S. 259; Huerkamp (1989), S. 60 f. Zur Rollenverteilung zwischen Arzt und Patienten im Wandel zwischen »Krankenbettgesellschaft« und Klinik s. Huerkamp (1995), S. 257; Huerkamp (1985), S. 41; Göckenjan (1989), S. 94 f.; Lachmund/Stollberg (1995), S. 123–126; Lachmund (1997), S. 49–51; Hess (2000), S. 43–52, 212 f. Vgl. Dross (2004). Fritz Dross untersucht in seiner Studie den politischen, ärztlichen und öffentlichen Diskurs (»Erfindung des Krankenhauses«) in Bezug auf das 1802 gegründete Düsseldorfer Krankenhaus.
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Das »Gerangel« um die Patienten – medizinische Infrastruktur und Polikliniken Die Polikliniken erweiterten das medizinische Angebot für arme Kranke in Würzburg und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich. Die zeitgenössische Diskussion um den Fortbestand der Polikliniken zeigt allerdings, dass diese ambulante Form der Krankenversorgung als Auslaufmodell betrachtet wurde.17 Kliniken galten als effizienter, vor allem hinsichtlich der Ausbildung der akademischen Ärzteschaft. Je stärker sich dieser Gedanke durchsetzte und institutionell Gestalt annahm, desto marginaler wurde der Status der ambulant operierenden Polikliniken als medizinische Dienstleister und akademische Ausbildungsorte. Diese grundlegende Entwicklung von der ambulanten zur stationären Klinik lässt sich samt ihrer Implikationen für die Armenkrankenversorgung anhand der poliklinischen Praxis in Würzburg und Göttingen vor dem Hintergrund recht unterschiedlicher Rahmenbedingungen herausarbeiten. In Würzburg prägten die etablierten stationären Kliniken sowie Versorgungseinrichtungen für Alte und Invalide die medizinische Infrastruktur. Zu den primären Anlaufpunkten gehörten das Juliusspital sowie das Bürgerspital. Beide Einrichtungen standen für die bürgerliche Stiftungstätigkeit in der wohlhabenden Stadt sowie die katholische Tradition in der Armenfürsorge.18 Die Poliklinik spielte hier eine wesentlich geringere Rolle in der medizinischen Versorgung als in Göttingen. In Würzburg mit seinen 22.080 Einwohnern im Jahr 1838 wurden nur 775 Personen poliklinisch behandelt.19 Im wesentlich kleineren Göttingen mit ca. 9.000 Einwohnern wurden im gleichen Jahr immerhin 2.343 Personen von den Ärzten und Medizinstudenten der Fuchs’schen Poliklinik medizinisch versorgt.20 Der große quantitative Unterschied in der Armenkrankenversorgung durch die Polikliniken in Würzburg und Göttingen ergab sich vornehmlich aus strukturellen Gründen: In Würzburg bezog sich die poliklinische Praxis, die sich hier mit dem stadtärztlichen Dienst verband, allein auf drei innerstädtische Bezirke.21 Dahingegen waren in Göttingen die Ärzte der Polikliniken im gesamten Stadtgebiet unterwegs und betreuten zudem eine hohe Anzahl »Landkranker«, die bis zu mehrere Stunden Fußmarsch entfernt wohnten und deshalb wohl häufig auch zu Pferde besucht wurden. Im Jahr 1840 wurden durch die Poliklinik 1.728 Patienten aus Göttingen und 1.232 »vom Lande« behandelt.22 Zwischen 1843 und 1848 wurden durchschnittlich sogar mehr 17
Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6468, Votum des Medizinalrats Franz Lothar August Sorg über den Fortbestand einer ambulanten Klinik, 19. Mai 1820; Bericht des akademischen Senats der Universität Würzburg, die ambulante Klinik betreffend, 4. April 1820. 18 Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995), S. 24. 19 Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995), S. 15; Rinecker (1848), S. 19. 20 Fuchs: Bericht (1840), S. 3. 21 Franke/Schröder (1957), S. 27. 22 UAG, Kur. 5489, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 5. September 1841. Zum Vergleich wurden in der Göttinger Poliklinik von Friedrich
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Stephanie Neuner
»Land-« als »Stadtkranke« versorgt, nämlich 1.686 »Stadt-« und 1.965 »Landkranke«.23 Die hohe Zahl an armen »Landkranken« legt den Schluss nahe, dass diese, ebenso wie die städtischen Armen, einen akademischen Arzt konsultierten und keineswegs ausschließlich die Hilfe traditioneller Heiler in nächster Nähe in Anspruch nahmen.24 Außerdem lässt sich daraus schlussfolgern, dass sich eine »Medikalisierung« – versteht man diese als professionelle Vertrauensarbeit der akademischen Ärzteschaft – nicht nur auf die Städte, sondern sehr wohl auch auf das Land bezog. Wie die in Relation zu Würzburg recht hohen Behandlungszahlen in Göttingen anzeigen, schloss hier die Poliklinik eine deutliche medizinische Versorgungslücke. Die Relevanz der poliklinischen Arbeit für die Armenkrankenversorgung einerseits und für die ärztliche Ausbildung andererseits ergab sich aber auch daraus, dass Göttingen – gemessen an zeitgenössischen Verhältnissen und trotz einzelner innovativer Gründungen wie etwa der des Accouchierhauses25 – über wesentlich eingeschränktere stationäre Versorgungsmöglichkeiten verfügte als Würzburg. Während allein im Würzburger Juliusspital 300 Kranke versorgt werden konnten und dort entsprechend die Möglichkeit zum klinischen Unterricht bestand26, bot das städtische Krankenhaus in Göttingen mit seinen »kärgliche[n] Zustände[n]«27 nur 46 Personen Platz28. Das kleine akademische Hospital konnte lediglich 36 Kranke aufnehmen29, die Krankenstation der Poliklinik verfügte Anfang der 1840er Jahre zusätzlich über 53 Betten30. Unheilbare, alte, arme und unversorgte Kranke konnten in Göttingen nur Zuflucht im Krankenhaus am Albanitor bzw. im Siechhaus finden31 – traditionsreiche Stiftungen wie das Bürgerspital in Würzburg existierten nicht. Auch vormoderne Krankenversicherungssysteme wie die Dienstboten- und
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Benjamin Osiander im Jahr 1800 rund 43 Prozent aus Göttingen, rund 30 Prozent aus dem Umland behandelt, in rund 26 Prozent der Fälle fehlte die Wohnortangabe der Patienten. IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 3: »Im Winterhalbenjahr 1799 – Januar 1802«. Datensatz Praxistagebuch (PT) Osiander 1800/01, N=312, Wohnort Göttingen=135, Wohnort Umland=95, k. A.=82. StAGö, AHR IH 9 Nr. 1, Auflistung der durch die Poliklinik von C. H. Fuchs behandelten Stadt- und Landkranken, 19. Februar 1851, fol. 94. Vgl. hierzu Wolff (1998), S. 325. Vgl. Schlumbohm (2012). UAG, Kur. 4978, Schreiben von Conrad H. Fuchs an den Minister für geistliche und Unterrichts-Angelegenheiten Hannover, 9. Januar 1850, fol. 236 f.; Karenberg (1997), S. 75–78. StAGö, AA 19, Beschwerde des Stadtphysikus Ruhstrat an das Präsidium der Volksversammlung Göttingen, 25. April 1848. StAGö, AA 293, Verzeichnisse der im Hospital am Albanitor befindlichen Kranken, Jahr 1838. Vgl. UAG, Kur. 5490, Gutachten von Conrad H. Fuchs zur Einrichtung eines städtischen Hospitales, 25. Dezember 1838; Schreiben von Conrad H. Fuchs an den Minister für geistliche und Unterrichts-Angelegenheiten Hannover, 4. Januar 1840. Karenberg (1997), S. 102. UAG, Kur. 5489, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 24. August 1842, fol. 50. StAGö, AA 18, Denkschrift über die Armendeputation [Entwurf], 1839, S. 6.
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Gesellenkassen, die Krankheit und Arbeitsunfähigkeit versicherten und Krankenhauskosten übernahmen, fehlten in Göttingen.32 Statt eines etablierten stationären Versorgungsangebots wie in Würzburg boten in Göttingen neben der armenärztlichen Versorgung durch den Stadtarzt33 viele kleine mehr oder minder private Collegia oder »Kliniken« von Medizinprofessoren den armen Kranken eine kostenlose medizinische Versorgung34. Entscheidend war für die medizinische Fakultät der Universität Göttingen und ihre Professoren der wissenschaftliche Nutzen der Kranken für den praktischen Unterricht der Medizinstudenten, deren Zahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts rasch zunahm.35 Da dementsprechend ein starkes universitäres Interesse an interessantem »Krankenmaterial« bestand, trugen die Universitäten mehrheitlich auch die Kosten der Polikliniken in Würzburg wie in Göttingen und glichen deren stetig überzogenen Etat aus.36 Wie Conrad H. Fuchs wiederholt deutlich machte, verband sich mit dem universitären Engagement in der Armenkrankenversorgung kein fürsorgerischer Impetus, sondern sie erfolgte unter wissenschaftlichen, utilitaristischen Aspekten.37 Die Armenkassen trugen nur einen geringen Teil der Kosten und befanden sich über diesen Anteil dennoch in stetigem Streit mit den Universitäten.38 Generell machte die städtische Armenkrankenversorgung einen wesentlichen Teil der Ausgaben der Armenkasse aus39, weswegen die städtischen Behörden unentwegt damit beschäftigt waren, Dritte, etwa Verwandte oder die Heimatgemeinden armer auswärtiger Kranker, finanziell zur Rechenschaft zu ziehen40. Die Armendeputation ließ zur Kompensation der Behandlungs- und Pflegekosten notfalls 32 In Würzburg waren bereits 1786 das »Kranke-Gesellen-Institut« und 1801 das »KrankeDienstboten-Institut« eingerichtet worden. Zu Gesellenkassen im 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Frevert (1984), S. 245–254; Spree (1995); Brinkschulte (1998), S. 166. Im Jahr 1827/28 setzten sich die Kostenträger der Patienten im Juliusspital Würzburg beispielsweise wie folgt zusammen: 36,5 Prozent Armen-Institut und Stiftung des Juliusspitals, 27,4 Prozent Gesellen-Institut, 36 Prozent Dienstboten-Institut. 33 Vgl. hierzu den im Stadtarchiv Göttingen erhaltenen Bestand zu Adolph Ruhstrat (1801– 1874): StAGö, AA 1902, bzw. die im Universitätsarchiv Göttingen erhaltene Akte UAG, Kur. 5252. Der Stadtarzt Ruhstrat hielt »Repetitoria« und »Examinatoria« für Studenten ab. Er bat die Universität (wohl vergeblich), als Dozent zugelassen zu werden. 34 Karenberg (1997), S. 102; vgl. hierzu auch UAG, Kur. 4978, Schreiben des Konrad J. N. Langenbeck an den Geh. Kabinettsrat [Hoppenstedt], 28. April 1837, fol. 29–32. 35 Um 1820 gehörte die Göttinger medizinische Fakultät zu den größten Deutschlands. Schlumbohm (2012), S. 160 f.; Bueltzingsloewen (2004). 36 Vgl. exemplarisch UAG, Kur. 5489, Schreiben von Conrad H. Fuchs an Kabinettsrat [Hoppenstedt], 2. August 1842, fol. 50; Schreiben des Ministeriums für geistliche und Unterrichts-Angelegenheiten Hannover an Conrad H. Fuchs, 19. September 1842, fol. 65. 37 In diesem Sinne vgl. exemplarisch UAG, Kur. 5492, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 21. September 1853. 38 UAG, Kur. 5488, Schreiben der Armendeputation Göttingen an das Ministerium für geistliche und Unterrichts-Angelegenheiten Hannover, 24. Mai 1824. 39 Vgl. Brinkschulte (1996), S. 191. 40 StAGö, AA 181, Schreiben des Magistrats Göttingen an die Preußische Landvogtei Hildesheim betreffs Unterstützung der Louise Breithaut in Göttingen, 20. Juni 1863.
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auch das spärliche Hab und Gut Verstorbener einziehen41 oder auswärtige Kranke aus der Stadt transportieren, um unwägbare Behandlungskosten zu vermeiden42. Die Universität Göttingen investierte viel in die poliklinische ambulante Arbeit, um ihre Medizinstudenten den zeitgenössischen Standards entsprechend ausbilden zu können. Zeitgleich arbeiteten Medizinprofessoren wie Conrad H. Fuchs jahrelang hartnäckig darauf hin, eine große Universitätsklinik zu gründen43, welche »die verschiedenen, miserablen und unwürdigen Anstalten unter ein Dach […] bringen«44 sollte. Das Ernst-August-Hospital wurde schließlich 1851 offiziell eröffnet.45 Der Bau des akademischen Krankenhauses wirkte sich in mehrfacher Hinsicht auf die ambulante Armenkrankenversorgung aus. Bis dato hatte zeitgenössischen Berichten zufolge ein regelrechtes »Gerangel«46 um die Patienten geherrscht. Nach Eröffnung der Klinik ließ das Interesse an den ambulant behandelten armen Kranken deutlich nach. »Instruktive Fälle« sollten nun ins Krankenhaus gebracht werden, wo fortan der klinische Unterricht abgehalten wurde. Zurück blieben die »uninteressanten« Fälle, für die es sich nach Auffassung Conrad H. Fuchs’ nicht lohnte, weite Wege zu gehen und hohen personellen oder finanziellen Aufwand zu treiben.47 Besonders nachteilig wirkte sich der Bau der Klinik auf die von der Poliklinik in Göttingen zuvor mitversorgten »Landkranken« aus: Sie wurden aus der poliklinischen ambulanten Krankenversorgung weitgehend ausgeschlossen, sollten nur noch in Ausnahmefällen zu Hause besucht werden und mussten ihre Arzneimittel fortan selbst bezahlen.48 Sofern die Programmatik Fuchs’, nur »instruktive« Kranke ins Hospital aufzunehmen, tatsächlich implementiert wurde, bedeutete die Eröffnung der Universitätsklinik auch, dass vor allem arme Kranke mit Alltagsleiden ein professionelles Behandlungsangebot der 41 42
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StAGö, AA 292, Vermerk zum Fall der »blödsinnigen« im städtischen Hospital verstorbenen Frau Bücking, 9. Mai 1856. StAGö, AA 296, Schreiben der Kgl. Preußischen Polizeidirektion an den Magistrat Göttingen betreffs der Minna Methe, 1. Mai 1867; Vermerk des Magistrats Göttingen zum Fall der Minna Bönhold, 18. März 1867; Pol Dir 3, Auflistung der Eisenbahnfahrgelder für die zwischen 20. Juli und Dezember 1855 fortgeschafften erkrankten, armen Reisenden, o. D., fol. 19. Vgl. UAG, Kur. 5489, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 5. September 1841; Schreiben des Universitätskuratoriums an Conrad H. Fuchs, 26. Oktober 1841. Vgl. zudem Nolte: Versorgung (2010), S. 145 f. UAG, Kur. 5277, Schreiben zur Errichtung eines neuen Hospitals in Göttingen [Verfasser und Adressat unklar], o. D. Vgl. Zimmermann (2009), S. 41–44. Ab April 1852 leitete Fuchs die männliche Abteilung des Ernst-August-Hospitals. StAGö, AHR IH 9 Nr. 1, Nachrichten von der G. A. Universität und der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1851), S. 201. UAG, Kur. 4978, Schreiben des Konrad J. N. Langenbeck an den Geh. Kabinettsrat [Hoppenstedt], 28. April 1837, fol. 29–32. UAG, Kur. 5492, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 21. September 1853. Fuchs (1855), S. 194, 238. Im Jahr 1853/54 wurden 2.207 »Stadtkranke«, aber nurmehr 687 »Landkranke« behandelt.
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akademischen Medizin verloren und dadurch unversorgt bzw. unterversorgt blieben. Die ambulante Krankenversorgung verlor durch die neue Universitätsklinik für die universitäre Ausbildung schlagartig an Relevanz. Damit war auch ihre Finanzierung nicht mehr ausreichend gewährleistet, zudem die neue Klinik die städtischen Zuschüsse absorbierte, welche die Armendeputation zuvor an die Poliklinik gezahlt hatte.49 Arme Kranke hatten bis zur Eröffnung des neuen Universitätshospitals sicherlich von dem »Gerangel« um »Krankenmaterial« profitiert. Das Fehlen einer großen Klinik war für arme Patienten nicht zwingend nachteilig gewesen. Ihnen standen stattdessen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, um von akademischen Ärzten kostenlos behandelt zu werden. Die ambulant operierenden Collegia medica sowie die Polikliniken bereicherten den (akademischen) medizinischen Markt erheblich, vor allem auch deshalb, weil deren Angebote für arme Kranke frei zugänglich waren. Aus den Quellen zur Armenfürsorge sowie zur poliklinischen Praxis wissen wir, dass arme Kranke die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Angeboten der akademischen Ärzteschaft nutzten. Sie erhielten dadurch eine nach damaligen akademischen Standards qualitativ hochwertige medizinische Versorgung – und dies nicht nur bei besonders seltenen Krankheiten, sondern auch bei der Vielzahl »alltägliche[r] Leiden«50 sowie »leichtere[r] nicht scharf diagnosticirte[r] Unpässlichkeiten«51. Zwar entschieden wohl auch in der poliklinischen Praxis Ärzte, wen sie behandeln wollten, doch legen die Quellen den Schluss nahe, dass arme Patienten nicht abgewiesen wurden, weil ihr Leiden etwa nicht »instruktiv« für den Unterricht war. Die Analyse der Behandlungsanlässe in den Polikliniken von C. H. Fuchs und F. B. Osiander zeigt ein buntgemischtes Spektrum mit vielen einmaligen Behandlungskontakten und dokumentiert, dass Patienten vielfach aufgrund alltäglicher und akuter Leiden behandelt wurden.52 In der Diskussion um die Eröffnung des neuen akademischen Hospitals wird das ärztliche Ansinnen deutlich, die Inanspruchnahme der medizinischen Behandlung stärker kontrollieren zu wollen.53 Während der 49 UAG, Kur. 5491, Schreiben des Magistrats Göttingen an das Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten in Hannover, 14. August 1851, fol. 8. 50 UAG, Kur. 5489, Bericht zur Jahresabrechnung 1838/39 von C. H. Fuchs, 7. Juli 1839 (Eröffnung der Poliklinik 22. Oktober 1838). 51 Fuchs (1855), S. 199. 52 Der Vergleich der edierten Sammlung an »Krankheitsgeschichten« von C. H. Fuchs mit dem Praxistagebuch der Poliklinik F. B. Osianders zeigt, dass im Praxistagebuch Osianders wesentlich häufiger Schmutzkrankheiten, Unfälle oder chirurgische Eingriffe – also akute Leiden – aufgelistet sind, die oftmals nur einen Behandlungskontakt nach sich zogen. Für die Edition exemplarischer »Krankheitsgeschichten« waren diese Alltagsleiden Fuchs in wissenschaftlicher Hinsicht vermutlich nicht »wertvoll« genug – sie gehörten jedoch zur poliklinischen Praxis, wie auch die gedruckten Quellen zum Spektrum der in der Poliklinik von C. H. Fuchs (sowie seinem Nachfolger in Würzburg) behandelten Krankheiten belegen. Vgl. Fuchs: Bericht (1840), S. 3–9; Fuchs (1855), S. 195–199; Rinecker (1848), S. 49 f. 53 Vgl. UAG, Kur. 5492, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 21. September 1853.
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Zugang zur poliklinischen Behandlung niedrigschwellig war und Eigeninitiative armer Patienten erlaubte bzw. voraussetzte, sollte der Zugang zur Klinik in wesentlich stärkerem Maße der ärztlichen Entscheidung unterliegen. Bei den ambulant behandelten kranken Armen, die in den Quellen zur poliklinischen Arbeit in Würzburg und Göttingen erfasst werden können, handelte es sich größtenteils um von der Armenkasse unterstützte Arme.54 Allerdings befanden sich unter den Patienten auch viele Personen, die den zeitgenössischen Zuteilungskriterien zufolge nicht als unterstützungswürdig galten, weil sie nach moralischem Dafürhalten nicht unverschuldet in Armut geraten waren.55 Gesellschaftlich Marginalisierte, wie etwa ledige Mütter und ihre Kinder, gehörten trotz moralischer Verurteilung aus ärztlicher Sicht oftmals zum »instruktiven Krankenmaterial« und wurden aus wissenschaftlichem Interesse behandelt.56 Sie profitierten ebenso wie sämtliche arme Kranke von dem beschriebenen »Gerangel« um Patienten. Die Lebens- und Arbeitswelt von Patienten der Unterschichten Wer die Hilfe der Ärzte und Medizinstudenten der Polikliniken in Würzburg und Göttingen in Anspruch nahm, gehörte fast ausnahmslos zur Gruppe der labouring poor, die sich aus den unterständischen und unterbürgerlichen Schichten rekrutierte.57 Die Patienten waren zu zwei Dritteln Handarbeiterinnen und Handarbeiter, typischerweise Frauen, die sich als Näherin oder Wäscherin verdingten bzw. als Dienstmägde beschäftigt waren.58 Etwa ein Drittel der Patienten gehörte dem Handwerk an59, arbeitete etwa als Schneider, Schuster oder Metzger60. Da bis Mitte des 19. Jahrhunderts weder Würzburg noch Göttingen durch die Industrialisierung geprägte Orte waren, bildete Fabrikarbeit
54 Fuchs: Bericht 1834 (1835), S. 327. 55 Im Göttinger Accouchierhaus kamen unter der Leitung Friedrich Benjamin Osianders Frauen unabhängig von ihrem Stand und ihrer Religion unter. Schlumbohm (2004), S. 38 f.; vgl. ferner Marx-Jaskulski (2007), S. 23; Krieger (2007), S. 21; Sachße/Tennstedt (1980), S. 107; Brinkschulte (1996), S. 189. 56 Siehe z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 72, Anna Triebig; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 73, Joseph Glückert; HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 2, Carolin Kuntze. 57 Vgl. Stolberg (1986), S. 50 f. 58 Vgl. Koeppen (1985); Gerhard K. Schäfer (2012). 59 Vgl. Frevert (1984), S. 97. Von den 1796 in Göttingen von der Armenkasse unterstützten Personen waren 29,3 Prozent Handwerksmeister und deren Witwen, 8,1 Prozent entstammten auch höheren Schichten. 60 Aus den Quellenangaben ist nicht immer ersichtlich, ob es sich um eine zünftige Handwerkstätigkeit oder, wie bei Handarbeiterinnen und Handarbeitern sowie Dienstboten, unzünftige Lohnarbeit oder Tagelöhnerdienste handelte; ebenso war eine differenzierende Angabe zur beruflichen Qualifikation (Geselle, Lehrling oder Meister) nicht die Regel.
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noch den Einzelfall.61 Es fehle ein »eigentliches Proletariat«62, so ein zeitgenössischer Physikatsbericht für die Stadt Würzburg, nur in Fabriken in den städtischen Randbezirken fänden sich »Keime eines künftigen Proletariats«63. Auch in Göttingen waren Fabrikanten bis zu Beginn der 1840er Jahre noch ein Arbeitgeber unter vielen. Vorherrschend war dagegen das proto- und hausindustrielle Gewerbe, in welchem viele der labouring poor tätig waren.64 Aufgrund ihrer Arbeit als Tagelöhnerinnen und Tagelöhner waren die Angehörigen der Unterschichten von den saisonal stark unterschiedlichen Verdienstmöglichkeiten abhängig und konnten nicht von einem festen Wochenlohn ausgehen. Die sich vielfach auf die Sommermonate konzentrierende Tagelohnarbeit führte dazu, dass im Winter die Mangelsituation für die Familien besonders drastisch war. Ein Brief an die Armendeputation Göttingen beschreibt exemplarisch ein Grundproblem saisonbedingter Tagelohnarbeit am Schicksal einer alleinstehenden Frau mit vier Kindern: [Mit Taglohn] brachte [sie] den Sommer sich und ihre Kinder wohl noth dürftig durch, aber den Winter gibt es doch oft Wochen wo durch Taglohn nichts zu verdienen ist. […] Deswegen macht sie dann den Winter Schulden, und muß [sich] den ganzen Sommer quälen, diese erst abzuverdienen.65
Charakteristisch für die finanziell prekäre Lebenssituation der besitzlosen Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter war die Tatsache, dass die Erwerbstätigkeit einer oder auch mehrerer Personen oftmals nicht ausreichte, um die materiellen Grundbedürfnisse einer Familie zufriedenstellend abzudecken.66 Die Familien der labouring poor gerieten durch die gesundheitlichen Folgen von Krankheit oder Unfall besonders rasch in existentielle Not, wenn Familienangehörige den Verdienstausfall nicht kompensieren konnten. Zu den gesundheitlichen Risiken zählten auch Schwangerschaft und Geburt, denn meistens wurde das Arbeitsentgelt der Frau dringend benötigt.67 Den Möglichkeiten einer privaten Vorsorge, indem finanzielle Rücklagen gebildet oder Subsistenzwirtschaft betrieben wurde, waren in der Praxis enge Grenzen gesetzt. So konnte beispielsweise Brennmaterial aufgrund des fehlenden finanziellen Spielraums nicht im Sommer erworben und musste stattdes-
61 Vgl. Stolberg (1986), S. 45. 62 Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6475, Medizinische Topographien, XIII (VII): Wohlstand, ca. 1850. 63 Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6475, VIII B: Ethnografie der Physikats-Bezirke von Unterfranken und Aschaffenburg, II. Wohnverhältnisse, Kreishauptstadt Würzburg; XIII – VII: Wohlstand. 64 Vgl. hierzu Schallmann (2014), S. 27. 65 StAGö, AA 189, Bittschreiben der Karoline Krause an die Armendeputation Göttingen, 2. November 1822. 66 StAGö, AA 181, Bittschreiben des August Küwner [?] an die Armen-Deputation, 24. April 1851; Dep. 30 Nr. 37,4, Familie Lohmann, Protokoll der Armenbesuche des Frauenvereins zu Göttingen, 11./20. Februar 1844. 67 Vgl. Pielhoff (1999), S. 281 f.
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sen wesentlich teurer im Winter gekauft werden.68 Um sich selbst mit Nahrungsmitteln zu versorgen, pachteten arme Familien ferner Gartenland, was potentiell zu Schulden führte, wenn die Pachtgebühren infolge von Krankheit und Lohnausfall nicht aufgebracht werden konnten.69 Eine Absicherung für einen Teil der labouring poor boten Dienstboten- und Gesellenkassen, die in Würzburg bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts bestanden, in Göttingen erst 1851 mit der Eröffnung der neuen Klinik eingeführt wurden. Auf diese Weise war im Krankheitsfall zumindest die Bezahlung der Krankenhauskosten gewährleistet. Sowohl Patientenlisten des Juliusspitals in Würzburg als auch die Aufstellungen von Fuchs aus den 1850er Jahren bezeugen den regen und steigenden Anteil an »Contribuenten« in den Krankenhäusern.70 Die Versicherungsart wurde nach ihrer – vergleichsweise späten – Einführung auch in Göttingen so gut angenommen, dass eine weiterführende »Werkstätten-Arbeiter-Krankenversicherung« gefordert wurde.71 Da arme Familien weder über Rücklagen verfügten noch in der Regel über ein solidarisches Sicherungssystem abgesichert waren, gehörten sie zu der immer wieder temporär von der Armenkasse unterstützten Klientel. Ihre Armut spiegelte sich primär in der beengten, ungesunden und ungewissen Wohnsituation sowie in dem oftmals existentiellen Mangel an Nahrung, Bekleidung und Heizmaterial wider.72 Neben Naturaliengaben baten sie vor allem um Geld, um ihre – oftmals überteuerte – Miete bezahlen, verpfändete Möbelstücke auslösen oder Kinder in die Lehre schicken zu können.73 Die prekäre Lebenssituation der städtischen Unterschichten spitzte sich drastisch zu, wenn Frauen alleine für ihre Familie sorgen mussten. Dies war der Fall, wenn der Ehemann starb oder verunfallte, im Gefängnis saß, als Soldat diente, eine neue Familie gründete bzw. bereits verheiratet war.74 Angesichts 68 Götz-Lurati (2006), S. 85; vgl. hierzu auch StAGö, AA 189, Bittschreiben der Helene Carku [?] an die Armenanstalt Göttingen, 14. November 1822. 69 Vgl. StAGö, AA 189, Vermerk [der Armendeputation Göttingen] betreffs der Familie des Bäckers Johann H. Ilsemann [?], o. D.; Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Witwe Jutta Erdmann, 3. Juni 1822. 70 StAGö, AHR IH 9 Nr. 1, Magistrat der Stadt Göttingen, Bekanntmachung die ärztliche Behandlung und Aufnahme hiesiger Kranker Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten in dem neuen akademischen Hospitale betreffend (in Kraft ab 1. Januar 1851), 23. Dezember 1850; Nachrichten von der G. A. Universität und der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1851), S. 201–214, hier S. 208 f.; Schreiben von C. H. Fuchs an den Magistrat Göttingen betreffs in der Poliklinik behandelter Dienstmädchen, 28. Februar 1851. 71 StAGö, AHR IH 9 Nr. 1, Schreiben an den Stadtmagistrat Göttingen [Absender unleserlich], 24. Juni 1855, fol. 222. 72 Vgl. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,2, Familie Karl. 73 Vgl. StAGö, AA 189, Bittschreiben des Armenfreundes G. W. Hennide an die Armendeputation Göttingen, 10. Oktober 1822; Dep. 30 Nr. 37,5, Familie Kraft; vgl. AA 18, Denkschrift über die Armendeputation [Entwurf], 1839. 74 Vgl. z. B. StAGö, AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Familie Meyer, 23. Juli 1822; Schreiben des Dr. V. Berger, Gen. May. Regiments Chef u. Commdr. an die Armendeputation Göttingen betreffend die Versorgung der Familie des verurteilten Andreas F. A. Blumenhagen, 17. April 1840.
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der Tatsache, dass Frauen schlechter bezahlt wurden als Männer75, kämpfte die Frau unter erschwerten Bedingungen um die Existenz ihrer Familie, auch wenn der Verdienst kaum ausreichen konnte, diese weiter zu ernähren76. Dies verdeutlicht beispielhaft das Schicksal der 42-jährigen Witwe Charlotte Lohmann, die am 1. April 1842 zusammen mit ihren drei Kindern in die Armenpflege des Göttinger Frauenvereins77 aufgenommen wurde78. Nach dem Tod ihres Mannes konnte sie sich mit unterschiedlichen Tagelohndiensten und mit der Hilfe einer Nachbarin und Halbschwester sowie dem Zuverdienst ihres 18-jährigen Sohnes Heinrich über Wasser halten. Die Berichte der Armenbesucherinnen, die sie bis März 1844 begleiteten, beleuchten die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Familie, die am Ende ihre Wohnung verlor. Die Mutter hatte zunächst für eine Puppenfabrik gearbeitet und sich zusätzlich als Wäscherin verdingt. Nach einem Eintrag in der Akte des Göttinger Frauenvereins arbeitete sie »mit Freude« täglich von drei Uhr morgens bis ein Uhr nachts.79 Beide Arbeitsmöglichkeiten verlor sie schließlich. Der älteste Sohn Heinrich wurde außerdem krank, sein Verdienst fiel aus und die Mietzahlungen konnten nicht mehr geleistet werden. Die schwierigen Lebensbedingungen verlangten von alleinstehenden Müttern größte Anstrengungen, um ihr Kind oder ihre Kinder zu versorgen, angemessen zu pflegen und zu ernähren. Wie viele Ledige begab sich beispielsweise auch die 31-jährige Wäscherin Doris Oelmann in die Behandlung der Göttinger Poliklinik.80 Sie litt an Durchfall und Fieber und wurde nach etwa sechswöchiger Behandlung am »11. Sept., nachdem ihr eine gesunde Diät und Ruhe dringend empfohlen war, als geheilt aus der Behandlung entlassen«. Zeitgleich erkrankte ihre Tochter Carolin mit heftigen Kopfschmerzen und Fieber. Wie der behandelnde Arzt Dr. Rosen in der Krankengeschichte der Mutter anführte, schonte sich die ledige Mutter nicht und ging umgehend wieder ihrer Erwerbsarbeit nach: »Statt der ihr dringend empfohlenen Ruhe hat sie sich, ihrer Schwäche zum Trotz, oft mit schweren Arbeiten beschäftigt
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Entsprechende Vermerke finden sich in StAGö, AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Familie Thiede, 7. Juni 1822; Dep. 30 Nr. 37,3, Familie Reiß. 76 Vgl. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,3, Familie Reiß. 77 Der Frauenverein zu Göttingen wurde 1840 gegründet und maßgeblich vom protestantisch-liberalen Bürgertum unterstützt. Die Wohltätigkeitsarbeit, die sich als »christliche Liebestätigkeit« verstand, hatte nicht nur die Sorge um materielle Grundbedürfnisse zum Gegenstand, sondern wollte »Hilfe zur Selbsthilfe durch Erziehung« leisten. Vgl. WeberReich (2002), S. 632 f. 78 Vgl. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,4, Familie Lohmann. Vgl. hierzu auch die Fallbeschreibung bei Weber-Reich (2002), S. 621 f. 79 Vgl. hierzu Dross (2005), S. 11 f. 80 Vgl. z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 63, Louischen Heinemann; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 72, Anna Triebig. Auch in der Osianderschen Poliklinik wurden ledige Mütter mit Kind häufig behandelt: IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 1: Winterhalbjahr 1792/93, Nr. 19 und 20; Bd. 2: Juli 1793 – Dezember 1794, Nr. 22.
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(sie ist Wäscherin)[,] hat sich Tag und Nacht der Pflege ihres an Hydrocephalus acutus leidenden Kindes unterzogen.«81 Die Tochter überlebte die ernste Krankheit, die Mutter wurde zehn Tage nach ihrer Entlassung aus der poliklinischen Behandlung erneut krank und starb sieben Tage später. Frauen wie Charlotte Lohmann oder Doris Oelmann, die für sich und ihre Kinder zu sorgen hatten, gerieten oftmals in den Zwiespalt, arbeiten zu gehen, um ihre Familie ernähren zu können, oder zu Hause zu bleiben, um ihre Kinder zu betreuen, gegebenenfalls noch zu stillen, oder weitere Angehörige, insbesondere Alte, zu pflegen.82 Verließen die Mütter das Haus, um zu arbeiten, ging die Kinderbetreuung meist auf ältere Geschwister über, ein Umstand, den Armenbesucherinnen beanstandeten. Dass die bürgerlichen Frauen ihre Wertvorstellungen, insbesondere in Bezug auf das weibliche Rollenverhalten, nicht abschütteln konnten, spricht deutlich aus ihren Bemerkungen zur Arbeitstätigkeit der Frauen, ebenso wie etwa zur »Reinlichkeit« der Wohnung und der Körperpflege der Kinder.83 Ihre Berichte transportieren die Vorstellung, dass mangelnde christliche Erziehung zu Fleiß und Sittlichkeit ein wesentlicher Grund des Verarmens sei.84 Im Gegensatz hierzu dokumentieren die Lebensgeschichten armer Familien, vor allem die alleinerziehender Frauen, oftmals den Abstieg von einer »geordneten« kleinbürgerlichen Existenz in eine, primär durch Krankheit, Unfall oder Tod des Familienvaters, »ungeordnete«, destabilisierte Lebenslage. Wie die sozialhistorische Forschung dargelegt hat, war Armut ein Phänomen, das vor allem Mädchen, junge und alte Frauen betraf.85 Die quantitative und qualitative Analyse der Quellen zur Armenkrankenversorgung in Würzburg und Göttingen bestätigt diese Feststellung. Im Rahmen der Polikliniken in Würzburg und Göttingen wurden weit mehr arme Frauen als arme Männer behandelt. In den Jahren 1834/35 der poliklinischen Arbeit in Würzburg lag der Frauenanteil bei rund 65 Prozent.86 Der hohe Wert sank jedoch kontinuierlich: In den späten 1830er Jahren waren rund 57 Prozent 81 82
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SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 1, Doris Oelmann; HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 2, Carolin Kuntze. Vgl. StAGö, AA 189, Bittschreiben der Christine Noll betreffs Charlotte Bruns, o. D. [vor dem 13. Juni 1823]; Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Familie Mannard, 2. August 1822; Dep. 30 Nr. 37,2, Familie Karl; vgl. hierzu außerdem Münch (1995), S. 152 f. Vgl. z. B. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,4, Familie Lohmann; Dep. 30 Nr. 37,5, Familie Kraft; AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Witwe Jutta Erdmann, 3. Juni 1822; vgl. auch Albrecht (2007), S. 311; Frevert (1985); Nolte (2011). Vgl. StAGö, AA 10, Bericht des Armenfreundes Warnstedt über das Ehepaar Andreas und Kristina Bleßmann, 18. Dezember 1823. Vgl. dazu analoge ärztliche Argumentationsmuster z. B. bei Wagemann (1797), S. 9. Die historische Sozialforschung gibt für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Wert von 75 Prozent weiblicher Unterstützungsempfänger an. Vgl. Gerhard K. Schäfer (2012), S. 269; Koeppen (1985). Fuchs: Bericht 1835 (1835), S. 4. Dies entspricht recht genau dem Geschlechterverhältnis, das sich bei Auswertung der Sammlung edierter Krankengeschichten von C. H. Fuchs er-
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der Patienten weiblich87, im Jahr 1851 nur noch rund 54 Prozent88. Der Leiter der Würzburger ambulanten Poliklinik und Nachfolger von C. H. Fuchs, Franz Rinecker, erklärte die hohe Anzahl von behandelten armen Frauen mit dem entsprechend hohen Prozentsatz an von der Armenverwaltung unterstützten weiblichen Personen. Er führte den hohen Frauenanteil auch auf die Belastungen durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zurück. Allerdings nannte er auch Prostitution und »Ausschweifung« als Gründe eines »frühzeitigen Siechtums«.89 Lässt man die moralischen Urteile außer Betracht, weist Rineckers Aussage auf einen wichtigen Befund hin, den auch die medizingeschichtliche Forschung unterstreicht, um den hohen Frauenanteil in ärztlichen Praxen zu erklären. Demzufolge gingen Frauen häufiger zum Arzt, weil es für sie mehr geschlechtsspezifische Behandlungsanlässe gab.90 Die Behandlung von Kindern und Alten als Schwerpunkte der poliklinischen Praxis Alte über 60 Jahre und Kinder bis 15 Jahre stellten einen beträchtlichen Anteil der behandelten armen Kranken.91 Diese Tatsache steht in Einklang mit aktuellen medizinhistorischen Forschungsergebnissen, welche die Einschätzung widerlegt haben, Säuglinge und Kinder seien in vergangenen Jahrhunderten kaum von akademischen Heilern behandelt worden.92 Der Anteil der Säuglinge und Kinder stieg in der poliklinischen Praxis in Würzburg und Göttingen von Mitte bis Ende der 1830er Jahre um rund 15 Prozent an, nämlich von rund 23 Prozent im Jahr 1835 auf rund 38 Prozent bis 1839.93 Der Blick auf die 1850er Jahre lässt erkennen, dass sich die Zahl der behandelten Kinder – zu-
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gibt. Hier waren rund 64 Prozent der Patienten weiblichen Geschlechts. Datensatz Krankheitsgeschichten (KG) Fuchs, N=732, Geschlecht weiblich=470, k. A.=0. Fuchs: Bericht (1840), S. 3. Fuchs (1851), S. 208. Vgl. hierzu auch die Auswertung des Jahrgangs 1800/01 bei Osiander. Das Geschlechterverhältnis ist relativ ausgewogen: Weibliche Patienten überwogen, sie machten rund 53 Prozent der Fälle aus, männliche rund 43 Prozent. Datensatz PT Osiander 1800/01, N=312, Geschlecht weiblich=164, k. A.=11. Rinecker (1848), S. 6, 20 f. Vgl. hierzu Bleker (1993). Es finden sich auch in der Sammlung von Krankengeschichten bei C. H. Fuchs zahlreiche Diagnosen wie Hysterie, Dysmenorrhoe, Chlorose bei Frauen, die im frühen 19. Jahrhundert als Diagnosen der Oberschicht galten. Vgl. exemplarisch SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 12, Anna Spiegel; HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 72, Witwe Weiss; HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 63, Johanna Sarg. Fuchs: Bericht 1834 (1835), S. 327; Rinecker (1848), S. 6, 20 f. Vgl. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2015), S. 69. Fuchs: Bericht 1835 (1835), S. 4; Fuchs: Bericht (1840), S. 3. Der Anteil der Säuglinge und Kinder in den von C. H. Fuchs edierten Krankengeschichten gibt in etwa den Durchschnitt der in der poliklinischen Praxis zwischen Januar 1832 und Februar 1842 behandelten Kinder (0–15 Jahre) wieder. Im Vergleich zu den publizierten Jahresberichten der Polikliniken in Würzburg und Göttingen ist der Anteil der Kinder mit rund 32 Prozent für die Anfangsjahre überrepräsentiert (um rund neun Prozent), für die späten 1830er Jahre
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mindest in der Stadt – auf diesem Niveau hielt.94 Der Anteil der bis 15-jährigen Patienten der Polikliniken unter der Leitung von C. H. Fuchs liegt zwischen 35 und 40 Prozent und stimmt mit demjenigen in anderen poliklinischen Instituten des deutschsprachigen Raums der 1830er und 1840er Jahre, etwa in Zürich und München, überein.95 Der Vergleich mit nicht armenärztlichen Praxen akademischer Ärzte legt ferner den Schluss nahe, dass arme Eltern ihre kranken Kinder nicht weniger häufig von akademischen Heilern behandeln ließen als wohlhabendere Mütter und Väter, die mit ihrem Nachwuchs auf eigene Kosten einen universitär ausgebildeten Arzt konsultierten. Der Anteil der Säuglinge und Kinder in diesen ärztlichen Praxen machte 20 bis 30 Prozent der behandelten Patienten aus, lag also sogar noch etwas niedriger als in den Polikliniken.96 Alte Menschen über 60 Jahre machten insbesondere in der frühen Phase der Poliklinik in Würzburg unter der Leitung von Fuchs einen wesentlichen Anteil der behandelten Kranken aus und stellten damit einen weiteren Schwerpunkt der poliklinischen Praxis dar. Mitte der 1830er Jahre lag ihr Anteil immerhin zwischen ca. 25 und 31 Prozent.97 1838/39 ging die Behandlungszahl drastisch auf sechs Prozent zurück.98 Erklärt werden kann der starke Verlust an alten Patienten mit dem Wechsel C. H. Fuchs’ nach Göttingen im Herbst 1838. Bis dahin hatten Fuchs sowie die Assistenzärzte und Medizinstudenten der Würzburger Poliklinik die Pfründnerinnen des Bürgerspitals medizinisch betreut.99 In Göttingen pendelte sich der Anteil der über 50-Jährigen100 von ca. 15 Prozent Ende der 1830er Jahre auf rund 13 Prozent Anfang der 1850er Jahre ein und blieb auf diesem Niveau bis Mitte der 1850er Jahre konstant101. Der für die Würzburger und Göttinger Poliklinik ermittelte Anteil an alten Patienten entspricht in etwa dem Prozentsatz in nicht armenärztlichen Praxen. Alte Menschen, die arm waren, verfügten demnach offensichtlich ebenso über medizinische Versorgungsmöglichkeiten durch akademische Ärzte wie finanziell bessergestellte, die das Arzthonorar selbst trugen.102
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liegt er rund sechs Prozent unter der Zahl der tatsächlich behandelten Kinder. Datensatz KG Fuchs, N=732, Alter 0–15 J.=232, k. A.=22. Fuchs (1851), S. 208; Fuchs (1855), S. 194 f. Vgl. Schneeberger (1844), S. 11; Rohr (1983), S. 25. Im Vergleich hierzu lag die Zahl behandelter Säuglinge und Kinder bis 15 Jahre in der Göttinger Poliklinik Benjamin Osianders im Jahr 1800/01 noch höher, nämlich bei rund 44 Prozent. Datensatz PT Osiander 1800/01, N=312, Alter 0–15 J.=138, k. A.=12. Vgl. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2015), S. 50–53. Fuchs: Bericht 1834 (1835), S. 328; Fuchs: Bericht 1835 (1835), S. 4. Vgl. Fuchs: Bericht (1840), S. 3. Ein Prozentsatz von sechs Prozent an alten Patienten über 60 Jahren entspricht auch der Analyse der Altersverteilung in der Osianderschen Poliklinik im Jahr 1800/01. Vgl. hierzu den entsprechenden Wert von 6,41 Prozent Alten (60–100 J.) im Datensatz PT Osiander 1800/01, N=312, Alter 60–100 J.=20. S. hierzu auch Rosenthaler (2000), S. 72. In den späteren Jahresberichten werden Patienten ab 50 Jahren zusammengefasst. Es wird keine differenzierte Aufstellung, etwa der über 60-Jährigen, mehr vorgenommen. Fuchs: Bericht (1840), S. 3; Fuchs (1851), S. 208; Fuchs (1855), S. 238 f. Vgl. Baschin/Dietrich-Daum/Ritzmann (2015), S. 52 f.
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Aufgrund des hohen Anteils von Kindern und Alten unter den Patienten hatten Fuchs und seine Schüler die Möglichkeit, »Kinder- und Greisenkrankheiten« in großer Zahl zu beobachten, die in der stationären Klinik nicht vorkamen, eine Tatsache, die stets bemängelt wurde und als Argument für die Aufrechterhaltung der ambulanten poliklinischen Praxis angeführt wurde.103 Bei der Behandlung von Säuglingen, Kindern und alten Menschen kamen die Studenten und Assistenzärzte der Polikliniken mit den altersspezifischen Eigenheiten ihrer Patienten in Berührung und wurden mit den damit verbundenen speziellen Erfordernissen hinsichtlich Anamnese, Diagnostik und Therapie konfrontiert.104 Aufgrund ihres noch mangelnden Sprachvermögens konnten Kinder wie etwa der zweijährige Ludwig Tillborger nur äußerst eingeschränkt selbst über ihr Befinden informieren. Der ihn behandelnde Arzt konstatierte dementsprechend, dass »aus dem kranken Kinde nicht viel herauszubringen« war.105 Das Arzt-Patienten-Gespräch über die Vorgeschichte der Erkrankung, akute Beschwerden und den Krankheitsverlauf106 fand deswegen zwischen Eltern und Ärzten statt. Zusätzlich lernten Ärzte beispielsweise, von dem vom Normalzustand abweichenden Sozialverhalten des Kindes auf einen Krankheitszustand zu schließen. Vor allem Faktoren wie Appetit, Aktivität (»Munterkeit«)107 und Interesse am Spiel108 wurden in diesem Kontext abgefragt. Medikamentös wurde die Therapie dem vergleichsweise niedrigen Körpergewicht angepasst.109 Statt die Kinder stark zur Ader zu lassen, setzten die Ärzte Blutegel.110 Sie gebrauchten außerdem mildere Abführmittel.111 Medikamente wurden, wie zeitgenössisch üblich, auch den armen Kindern gesüßt verabreicht.112 103 Vgl. Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6468, Bericht des akademischen Senats der Universität Würzburg, die ambulante Klinik betreffend, 4. April 1820. Vgl. Wolf (1832), S. 9. 104 Zu Besonderheiten der Diagnostik und Therapie alter Menschen vgl. die Ausführungen weiter unten. 105 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 24, Ludwig Tillborger. Vgl. hierzu auch Wichmann (1800), S. 23. Das Problem mangelnder Artikulationsfähigkeit betraf auch Schwerkranke bzw. alte Menschen, beispielsweise nach Schlaganfällen und Gehirnblutungen. 106 Hierzu gehörte auch die Frage nach der Qualität des Schlafes und nach Träumen. Die Mutter der einjährigen, an Röteln erkrankten Margarethe Eisenbarth berichtete dem behandelnden Arzt, Dr. Friedrich Rheinisch, ihre Tochter werde »beständig von schreckhaften Träumen gequält, aus denen sie öfters erwachte und ängstlich nach Hilfe rief[e]«. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 15, Margarethe Eisenbarth. 107 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 34, Georg Metz. 108 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 71, Johann Zimmermann; HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 44, Philipp Eisenbarth. 109 Fuchs: Bericht (1840), S. 53; vgl. hierzu Wendt (1826), S. 143 f., 146 ff.; Ritzmann (2008), S. 48–58; Ruisinger (2005), S. 222. 110 Vgl. z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 20, Katharina Kühorn; HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 68, Joseph Mainburger. Bestimmte Methoden wie das Setzen von Fontanellen sollten bei Kindern nicht vorgenommen werden. S. Wendt (1826), S. 236. 111 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 2, Carolin Kuntze. 112 Kinzelbach/Neuner/Nolte (2015), S. 123.
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Ganz offensichtlich entwickelte Fuchs ein besonderes wissenschaftliches Interesse an Kindern unter 15 Jahren und alten Menschen.113 Er engagierte sich persönlich, indem er viele Kinder und Alte selbst behandelte114, einschlägige Vorlesungen abhielt115 und zu Kinder- und Greisenkrankheiten publizierte116. Gerade durch den Vergleich der Krankheiten alter Menschen mit jenen der behandelten Säuglinge und Kinder ging Fuchs bestimmte differentialdiagnostische Probleme an. Entsprechende Publikationen, etwa seine Studie zur Gehirnerweichung, dokumentieren, dass aus der poliklinischen Praxis heraus neue wissenschaftliche Forschungsergebnisse ermittelt wurden. Elterliche Sorge und ärztliche Versorgung Die Familie des Tagelöhners Ludwig Tillborger aus Elliehausen bei Göttingen verlor zwei Kinder innerhalb des Monats Mai 1842.117 Der zweijährige Ludwig und seine Schwester, die vierjährige Charlotte, erkrankten kurz hintereinander. Am 14. Mai starb das Mädchen, das an schweren Diarrhöen und »Lungenschwindsucht« gelitten hatte; am 22. Mai erlag der Junge seiner Krankheit, die der Arzt der Poliklinik als »Hydrocephalus acutus« bezeichnete. Für die Ärzte und Medizinstudenten der Polikliniken gehörte der Tod kleiner Kinder zum Alltag. In der armenärztlichen Praxis begegneten Ärzte wie Wilhelm Daumann, der die Kinder des Tagelöhners Tillborger behandelte, außerdem dem Phänomen, dass der niedrige soziale Status der kleinen Patienten sich negativ auf ihre Überlebenschancen auswirkte.118 Wenn C. H. Fuchs und seine Schüler in den Krankengeschichten kranke Säuglinge als »erbärmliche Wesen«119 beschrieben, die ein »klägliches Leben«120 fristeten, waren sie sich wohl der sozialen Notlage der Eltern bewusst; sie brachten die Erkrankungen der Kinder jedoch in erster Linie mit dem scheinbaren Unvermögen der Eltern in Verbindung, für ihre Kinder angemessen zu sorgen. Die materiell prekären Verhältnisse als ursächliches Moment für den frühen Säuglings- und Kindertod
113 Besonders augenfällig wird das besondere Interesse Fuchs’ an alten Patienten anhand des besonderen Fokus auf die über 70-Jährigen in den edierten Krankengeschichten: Während die Edition zu rund 14 Prozent über 70-Jährige enthält, wurden nach der Statistik des Jahres 1838/39 tatsächlich nur 1,79 Prozent über 70-jährige Patienten behandelt. Vgl. Fuchs: Bericht (1840), S. 3. Datensatz KG Fuchs, N=732, Alter ü. 70=105, k. A.=22. 114 Von den von Conrad H. Fuchs behandelten Kranken war knapp die Hälfte über 60 Jahre alt. Die Sammlung edierter Krankengeschichten umfasst insgesamt 63 von ihm verfasste »Krankheitsgeschichten«. 115 Vgl. UAG, Kur. 4978, Schreiben von Konrad J. N. Langenbeck an den Geh. Kabinettsrat [Hoppenstedt], 9. Juni 1838, fol. 68 f. 116 Vgl. Fuchs (1838), S. 137 f.; Fuchs: Bericht (1840), S. 47 f.; Cohen (1841), S. 12–15. 117 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 23 und 24, Ludwig und Charlotte Tillborger. 118 Vgl. hierzu Schlumbohm (2012), S. 326; Kloke (1997), S. 262. 119 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 25, Louischen Heinemann. 120 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 42, Louis Kraft.
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thematisierten die Krankengeschichten hingegen kaum.121 In der »Krankheitsgeschichte« der sechsmonatigen Louise Heinemann, die an »Paedatrophie«, also an Auszehrung infolge mangelnder Nahrungsaufnahme litt, artikulierte der behandelnde Arzt Johann Kraemer ausnahmsweise beide kausalen Momente: Er stellte fest, dass der Säugling, als »[…] außereheliche Frucht eines Soldaten und eines in den dürftigsten Verhältnissen lebenden Mädchens, […] natürlich unter solchen ungünstigen Umständen, bei der schlechten Pflege die ihr nur zu Theil wurde, nicht gedeihen [konnte]«.122 Die Krankengeschichte der Louise Heinemann ist exemplarisch für eine Vielzahl sterbender Kinder im ersten Lebensjahr. Die durch die Polikliniken in Würzburg und Göttingen versorgten Säuglinge wurden schwerpunktmäßig wegen Krankheiten des Verdauungstraktes behandelt123, die in »Atrophien« bzw. »Paedatrophien« mündeten und im zeitgenössischen Verständnis auch Nerven- und Krampfleiden nach sich zogen124. Vergleichsquellen im deutschsprachigen, aber auch im europäischen Raum zeigen für das 19. Jahrhundert eine fast identische Rangliste hinsichtlich der Todesursachen im Säuglingsalter, auf der Darmerkrankungen wie Diarrhöen an erster Stelle rangieren.125 Die weitverbreiteten und für Säuglinge lebensgefährlichen Darmerkrankungen wurden in erster Linie auf unzureichende und »falsche« Ernährung zurückgeführt.126 Als optimaler Schutz gegen Krankheiten des Verdauungstraktes galt das Stillen der Kinder innerhalb des ersten Lebensjahres.127 Wenn Frauen nicht stillen konnten, sollten sie ihren Kindern Flüssignahrung anbieten, die in »Mischung und Wirkung« der Muttermilch gleichwertig war, so beispielsweise verdünnte Kuhmilch, versetzt mit Fleischbrühe oder Anisaufguss.128 Der 121 Die soziale Bedingtheit der Krankheiten wird nicht explizit herausgestellt, wie etwa in der sozialen Medizin des beginnenden 20. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Grotjahn (1915), S. 460 ff. 122 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 25, Louischen Heinemann. 123 Vgl. Datensatz KG Fuchs, N=732, Alter 0–1 J.=75, k. A.=22. Die Erkrankungen des Verdauungstraktes machten in dieser Altersklasse rund 29 Prozent der Behandlungsanlässe aus, gefolgt von denen der Respirationsorgane mit 24 Prozent. Dem entspricht auch die Aufstellung bei Wunderlich (1850), S. 203. 124 Schönlein (1832), Bd. 2, S. 238; Zechel (1834), S. 55. 125 Vgl. z. B. »Rechenschafts-Bericht der Dr. Reinerschen Kranken-Besuchsanstalt für 1835«, S. 6, abgedruckt in Vollmer (1974), S. 13–22. Vgl. außerdem entsprechende Untersuchungen zu englischen Städten und Bezirken im 19. Jahrhundert bei Galley (2000), S. 87, 92. 126 Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit seit dem späten 19. Jahrhundert wird in der medizinhistorischen und demographischen Forschung primär mit sanitären Reformen und der damit verbundenen Verbesserung der Hygiene in der Säuglingsernährung erklärt. Erst hierdurch konnten Darmerkrankungen effektiv vermieden werden. Vgl. Vögele (2001), S. 130 ff., 320 ff. 127 Vgl. die einschlägigen Forschungen von Seichter (2014); Filder (1986); Reulecke (1978). Vgl. außerdem die zeitgenössischen Hinweise für stillende Mütter von Wunderlich (1850), S. 205, und Zechel (1834), S. 55. Die Mütter sollten auf ihre Ernährung achten und ihre Gemütsbewegungen kontrollieren; sie sollten möglichst keinen Geschlechtsverkehr haben, um die Qualität ihrer Milch nicht zu verschlechtern. 128 Kleinschmidt (1838), S. 16, 21, 23 f. Kleinschmidt unternahm in seiner Dissertation, die er an der medizinischen Fakultät der Universität Würzburg einreichte, auch eine chemische
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Grund für das Nichtstillen armer Kinder lag häufig in der Erwerbsarbeit der Mutter begründet, die nötig war, um die Familie mit zu ernähren. Ammen konnten sich arme Frauen nicht leisten.129 Das frühe Abstillen und die Gabe unverträglicher Ersatzkost resultierten aus medizinischer Perspektive in der großen Zahl schwerer Darmerkrankungen.130 Akademische Ärzte wiesen den Müttern damit mehr oder minder explizit eine Mitverantwortung für die oftmals tödlich endenden Erkrankungen ihrer Kinder zu.131 In der zeitgenössischen medizinischen Literatur lösten Funktionsstörungen des Magen-Darmsystems bei Säuglingen bzw. dadurch bedingte »Atrophien« schwere Krankheitszustände wie etwa »Convulsionen« bzw. »Eklampsie« oder Rachitis aus.132 Die Annahme dieser kausalen Zusammenhänge spiegelt sich auch in den Krankengeschichten von Säuglingen wider, die Ärzte und Medizinstudenten im Kontext der poliklinischen Praxis niederschrieben – so auch in der »Krankheitsgeschichte« Margarethe Hornschilds.133 Das Mädchen kam das erste Mal mit 13 Wochen im Oktober 1835 in die Behandlung der Würzburger Poliklinik.134 Ihre Mutter hatte sie »wegen Mangel[s] an Milch« seit der vierten Lebenswoche mit Brei gefüttert. Das nach der Niederschrift des Arztes unruhige und beständig schreiende Kind litt unter schmerzhaften Durchfällen und zeigte, wie die Mutter angab, heftige Zuckungen, wovon der Arzt auf eine »Eclampsia« schloss. Im darauffolgenden Jahr 1836 wurde sie weitere dreimal von Ärzten der Poliklinik behandelt, zweimal davon wegen »Dysenterie«, »Paedatrophia« und »Gastroataxia«.135 Am 16. November 1836 starb sie schließlich an den Folgen der ständigen Durchfälle und der damit verbundenen »Auszehrung«. Anhand der Fallgeschichte des einjährigen Bernhard Schlin, der im Juni 1835 etwa einen Monat lang behandelt wurde, beschrieb der Würzburger Assistenzarzt Wilhelm Piutti den durch eine schwere Rachitis deformierten Schädel des Kleinkindes. Er schilderte die rachitische Erkran-
Analyse der Milch verschiedener Haustiere. Vgl. Wunderlich (1850), S. 205. 129 In den städtischen Unterschichten wurden Kinder aufgrund der Erwerbstätigkeit in Pflege gegeben und nicht gestillt. Das Geld für das Stillen durch Ammen, wie in der Oberschicht üblich, konnte nicht aufgebracht werden. In den 1780er Jahren wurden in Frankreich beispielsweise Stillstuben eingerichtet und Mütter dafür bezahlt, dass sie ihr Kind selbst stillten. Morel (1989), S. 202. 130 Vgl. Zechel (1834), S. 58 f.; SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 60, Andreas Leimgrub; HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 41, Joseph Schmidt. 131 Vgl. hierzu Schraut (2000), S. 117–119. Dieser Vorwurf traf auch Frauen der Oberschicht, vgl. Kleinschmidt (1838), S. 15. 132 S. Schönlein (1832), Bd. 2, S. 238; Schönlein (1832), Bd. 4, S. 162–164, 167; Zechel (1834), S. 55; Wunderlich (1850), S. 238. 133 Vgl. entsprechende Einzelfälle wie z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 8, Elise Steinert; HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 48, Georg Heilhuber; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 6, Appolonia Hofer. 134 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 27, Margarethe Hornschild. 135 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 51, Margarethe Hornschild; HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 64, Margarethe Hornschild; HSD 8 COD MS H NAT 61:VIII, Nr. 10, Margarethe Hornschild.
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kung im Kontext einer »Atrophie« und »Gastromalacie«, also auch als Folge einer Mangelernährung und dadurch verursachten »Magenerweichung«.136 Der zeitgenössischen medizinischen Lehrbuchliteratur zufolge war das Überleben von Säuglingen im ersten Lebensjahr wesentlich von den Faktoren Nahrung, Hygiene und Pflege abhängig.137 Um Mangelerkrankungen wie Atrophien zu bessern oder die Heilung von Hauterkrankungen zu befördern, erhielten die kleinen Patienten der Polikliniken auch nahrhafte Speisen oder tägliche Bäder verordnet.138 Die Ärzte der Poliklinik agierten in dieser Hinsicht nicht anders als die Armenpflegerinnen und Armenpfleger ihrer Zeit – auch wenn sie die Verbesserung der Diätetik primär als medizinisches und nicht als fürsorgerisches Handeln begriffen.139 Prinzipiell schien auf der Seite der Ärzte ein starkes Unbehagen in Bezug auf die elterliche Fürsorge zu herrschen. Die Kritik bezog sich in besonderem Maße auf die als unzureichend wahrgenommene Kleinkindpflege und richtete sich in erster Linie gegen Mütter und weibliche Verwandte erkrankter Kinder.140 Der Wiener Kinderarzt Löbisch formulierte die drastischen Worte, weibliche Unwissenheit und Sturheit machten sämtliche ärztliche Bemühungen zunichte.141 Diese Warnung an seine Kollegen lässt in jedem Fall auf eine als äußerst stark und einflussreich empfundene Präsenz weiblicher Fürsorgepersonen schließen. Derart scharf formulierte Vorbehalte finden sich in den Krankengeschichten von Conrad H. Fuchs und seinen Schülern nicht, doch spiegelt sich ein dementsprechender Grundtenor in den geschilderten Szenarien am Krankenbett wider – beispielsweise dann, wenn von dem »eigensinnigen« therapeutischen Vorgehen einer Mutter die Rede ist, die ihren Sohn mit Pelzmütze in sein Bettchen packte, obwohl der Arzt geraten hatte, seinen Kopf zu kühlen.142 Der zweijährige Siegmund Kraus starb schließlich. Eine Mitschuld der Mutter an dem Tod ihres Kindes wurde zwar nicht explizit formuliert, durch die Schilderung des Krankheitsverlaufes jedoch in jedem Falle indirekt zugewiesen. Aus Sicht des Leiters der Polikliniken war der Fall des kleinen Siegmund Kraus wohl typisch: Conrad H. Fuchs beklagte wiederholt, dass insbesondere Eltern der Unterschicht ärztliche Therapieanweisungen nicht befolgten.143 Die Ärzte und Medizinstudenten der Polikliniken charakterisierten in ihren »Krankheitsgeschichten« das elterliche Verhalten häufig als nachlässig und fahrlässig144: Mütter und Väter übersähen eindeutige Krank136 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 76, Bernhard Schlin. Die durch die Rachitis deformierte, ungleichmäßige Schädelform beschrieb der Arzt als eckig mit hervortretenden Scheitelknochen und eingedrückter Nase. 137 Vgl. Wunderlich (1850), S. 203 f. 138 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 25, Louischen Heinemann. 139 Vgl. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,4, Familie Lohmann; Dep. 30 Nr. 37,2, Familie Kern. 140 Vgl. in diesem Sinne Ritzmann (2008), S. 75–86, 278. 141 Löbisch (1848), S. 191. 142 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 22, Siegmund Kraus. 143 Fuchs: Bericht (1840), S. 52, 70 f. 144 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 42, Louis Kraft; HSD 8 COD MS H NAT 61:XII, Nr. 23, Charlotte Tillborger; HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr.
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heitszeichen145 oder ließen das kranke Kind »das Bett nicht hüten«, wodurch sie eine lebensbedrohliche Krankheit provozierten146. Mitunter erwarteten die akademischen Ärzte auch, dass Familien ihre sozialen Alltagspraktiken veränderten; so sollten beispielsweise an Ausschlag erkrankte Kinder getrennt von ihren Eltern und Geschwistern schlafen. Sie werteten das Nichtbefolgen als schwere Nachlässigkeit, eventuell nicht in Betracht ziehend, dass einer Unterschichtenfamilie ganz überwiegend nur ein einziges Bett als Schlafstelle zur Verfügung stand.147 Aus ärztlicher Perspektive wurde ihre Hilfe oftmals viel zu spät gerufen, wie etwa im Fall der an »Enterotyphus« erkrankten Familie Rackebrandt. Der Vater hatte erst dann nach einem Arzt der Poliklinik geschickt, als die dreijährige Eliese [sic!] gestorben war und fünf weitere Personen der Familie an »Enterotyphus« erkrankt waren.148 Trotz aller Kritik an der elterlichen Fürsorge gingen Ärzte der Poliklinik nicht so weit, zu unterstellen, Eltern nähmen den Tod von Säuglingen und Kindern billigend in Kauf. Im Fall des siebenmonatigen Andreas Leimgrub, der schwer an »Paedatrophia« und »Diarrhoea« litt, konstatierte ein Assistenzarzt der Würzburger Poliklinik, Mutter und Großmutter kämen sicherlich ihrer »Pflicht« nach, obwohl – wie er zeitgleich kommentierte – dem Kind »auf ganz unzweideutig ausgesprochene Weise das seelige Ende von Mutter und Großmutter gewünscht« wurde. In der von Wilhelm Piutti aufgezeichneten Krankengeschichte spiegelt sich damit keineswegs die Annahme wider, Eltern würden ihre Kinder – etwa aus Gründen fatalistischer Religiosität – »himmeln« lassen.149 Sowohl in den ärztlichen Aufzeichnungen zur poliklinischen Praxis als auch in den Berichten der Armenfürsorge wird dokumentiert, dass auch arme Eltern keinen Aufwand scheuten, die in ihren Augen bestmögliche medizinische Versorgung für ihr krankes Kind zu gewährleisten. In diesem Sinne schilderte der Armenbericht zu der in größter Armut lebenden fünfköpfigen Familie Karl aus Göttingen, dass die Mutter ausdrücklich nach dem Leiter einer privaten Poliklinik, nämlich Medizinprofessor Johann W. H. Conradi (1780–1861), verlangte, als ihr Kind erkrankte. Sie wollte sich nicht mit den Studenten in Ausbildung zufriedengeben, da sie »kein Zutrauen zu den jungen Leuten« habe. Sollte dies nicht möglich sein, wolle sie mit ihrem kranken Kind
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65, Barbara Biegner. Ähnliche Bemerkungen finden sich auch in den Praxistagebüchern des poliklinischen Instituts von Friedrich Benjamin Osiander in Göttingen, z. B. IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 2: Juli 1793 – Dezember 1794, Nr. 12, Sibertin, Fuhrmanns Mädchen. Die Ärzte der Fuchs’schen Poliklinik hoben jedoch auch hervor, wenn die ärztlichen Anweisungen (v. a. hinsichtlich der Diätetik) eingehalten wurden und zur Genesung führten. Vgl. z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 20, Katharina Kühorn. Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 22, Siegmund Kraus. Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 1, Barbara Schaefer. StAGö, Dep. 30 Nr. 37,2, Familie Karl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 45, Familie Rackebrandt. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 69, Andreas Leimgrub. Vgl. hierzu die »system of wastage of human life«-These von Imhof (1981); vgl. hierzu auch Loetz (1993), S. 125.
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eben einen anderen akademischen Arzt aufsuchen.150 Arme Eltern, wie etwa der Würzburger Schuster Schaefer, schickten noch spät am Abend nach Conrad H. Fuchs, bei dem Schaefers siebenjährige Tochter bereits in Behandlung war, weil sich ihre Angina deutlich verschlimmert hatte.151 Wie die hohe Zahl der im Rahmen der Göttinger und Würzburger Poliklinik behandelten Säuglinge und Kinder belegt, fragten mittellose Eltern das kostenlose Angebot medizinischer Versorgung stark nach. Sie taten dies bei akuten Leiden auch zeitnah bzw. unverzüglich, entgegen den Vorwürfen der akademischen Ärzteschaft.152 Mütter und Väter wandten sich in der Sache ihrer kranken Kinder an medizinische Kapazitäten vor Ort oder baten die städtischen Behörden, sich ihrer kranken und behinderten Kinder anzunehmen, wenn sie sich aufgrund von Alter und Krankheit nicht mehr in der Lage dazu sahen, sie angemessen zu versorgen.153 Die Analyse der unterschiedlichen Quellen zur Armenkrankenversorgung stützt die These, dass sich auch arme kranke Kinder trotz der prekären Lebensverhältnisse der elterlichen Sorge sicher sein konnten, auch wenn die Möglichkeiten einer adäquaten Versorgung häufig limitiert waren.154 Krankheit und Schwäche im Alter In der Krankengeschichte der 87-jährigen Therese Engelschall aus Würzburg beschrieb der Assistenzarzt Dr. Friedrich Uibeleisen jenen Moment, in dem seine hochbetagte Patientin einen Schlaganfall erlitt: »Am 19. Juli Mittags sahß die Kranke nach ihrer Gewohnheit am Fenster; da stürzte sie plötzlich vom Stuhle auf den Boden herab; durch das Geräusch veranlaßt, kam ihre Verwandte herbei geeilt, und trug sie mit Hilfe Anderer ins Bett.«155 150 StAGö, Dep. 30 Nr. 37,2, Familie Karl. 151 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 1, Barbara Schaefer; HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 7, Georg Schäfer. 152 Vgl. z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 68, Josepha Braun; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 65, Karl und Johanna Salomon; HSD 8 COD MS H NAT 61:VIII, Nr. 69, Heinrich Kuhn. Tendenziell bestätigt die Analyse des Kompendiums »Krankheitsgeschichten« von C. H. Fuchs, was Francisca Loetz für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe konstatiert hat: Ein Arzt wurde in der Regel nach drei bis sieben Tagen gerufen, vgl. Loetz (1993), S. 125. 153 Vgl. hierzu exemplarisch StAGö, AA 189, Bittschreiben der Ernestine Schmitt an die Armendeputation Göttingen, 3. März 1823; IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 1: Winterhalbjahr 1792/93, Schreiben des M. Winter, Dramfeld an Friedrich Benjamin Osiander, Januar 1798 [Datum des Rezepts, das er mitschickt; in Bd. 1 wohl im Nachhinein lose eingelegt]. 154 Vgl. in diesem Sinne Ritzmann (2008), S. 238, 281, 283. Zur Diskussion um die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe für Kinder im 18. Jahrhundert vgl. außerdem (für die Mittel- und Oberschicht) Ruisinger (2005), S. 218–220, sowie (für die Unterschichten) Ritzmann (2008), S. 2–10. 155 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 72, Therese Engelschall; vgl. hierzu auch Fuchs (1838), S. 65–67.
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Die Passage entwirft ein anschauliches Bild vom Alltagsritual einer alten Frau, die, wie die »Krankheitsgeschichte« an anderer Stelle andeutet, über wenige soziale Kontakte verfügte. Die Fallgeschichte verweist damit auf die häufig desolate Betreuungssituation alter Menschen. Sie beschreibt außerdem ein für die über 60-jährigen Patienten der Polikliniken typisches Krankheitsbild: Viele Alte hatten wie Therese Engelschall mit Lähmungen oder Sprachstörungen infolge eines Schlaganfalls bzw. einer Gehirnblutung zu kämpfen.156 Primär behandelten Fuchs und seine Schüler chronische Leiden und entsprechende »Endzustände«, vor allem Erkrankungen der Atmungsorgane, Hydropsien (Wassersuchten) sowie arthritische und rheumatische Leiden. Häufig kamen außerdem alte Patienten mit Herzleiden, Krebserkrankungen sowie Krankheiten des Urogenitaltraktes in die poliklinische Behandlung.157 In erster Linie war es wohl, wie Lukas Schönlein (1793–1864) konstatierte, die Aufgabe der Ärzte in den Polikliniken, die chronischen Beschwerden ihrer alten Patienten zu lindern und den Tod hinauszuzögern.158 Die Diagnosen, welche die Krankheiten der alten Menschen terminologisch fassten, sind in den von Conrad H. Fuchs edierten Krankengeschichten zumeist differenziert. Die zeitgenössisch noch gebräuchliche, allgemeine Diagnose des »Marasmus senilis« – der »Altersschwäche« – erscheint weniger häufig.159 Die präzise Beobachtung und Beschreibung der »Greisenkrankheiten« entsprach dem naturwissenschaftlichen Ansatz der »Naturhistorischen Schule«, in deren Tradition Conrad H. Fuchs stand.160 Wie zahlreiche Krankengeschichten zeigen, blieb jedoch die Vorstellung der »Altersschwäche« als grundlegende Ursache vieler Krankheiten im Alter erhalten. »Altersschwäche« galt als natürlicher, nicht krankhafter161 Abbauprozess der »Involutionsperiode«162, die ähnlich wie das Kindheitsalter als Phase begriffen wurde, in der die »Lebensenergie« gering war163. Für den Lehrer von C. H. Fuchs, Lukas Schönlein, war der »Marasmus senilis« gleichbedeutend mit der Rückentwicklung eines Organs, infolgedessen der gesamte Organismus absterbe.164 Der Prozess beginne, so Schönlein, im Magen und breite sich dann auf Lunge oder Gehirn aus.165 Diese Vorstellungen werden, etwa anhand der Krankheitsbilder »Asthma senilis« oder »Hydrocephalus senilis«, auch in den Krankenge-
156 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 81, Augustin Hill; vgl. zu diesem Fall außerdem Fuchs (1838), S. 71–77; SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 57, Sebastian Urban. 157 Vgl. Langenmantel (1851), S. 53–56; Canstatt (1839), S. 147–156. 158 Schönlein (1832), Bd. 4, S. 139 f. 159 Vgl. z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 38, Johann Engel. Vgl. außerdem Moses (2005), S. 49 f., sowie exemplarisch Canstatt (1839), S. 170–177. 160 Vgl. Bleker (1981), S. 134 f. 161 Langenmantel (1851), S. 50. 162 Canstatt (1839), S. 226–234. 163 Canstatt (1839), S. 147–156. 164 Schönlein (1832), Bd. 1, S. 150. 165 Schönlein (1832), Bd. 4, S. 140; Schönlein (1832), Bd. 3, S. 239 f.
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schichten und Sektionsprotokollen der Göttinger und Würzburger Poliklinik dokumentiert.166 Wie auch bei der Behandlung von Kindern und Säuglingen wurden die Medizinstudenten und Assistenzärzte der Polikliniken durch ihren Umgang mit den alten Kranken mit den Besonderheiten hinsichtlich Diagnostik und Therapie vertraut: Fingerspitzengefühl war beispielsweise bei der Verwendung diagnostischer Instrumente angebracht, die alte Patienten mitunter vehement ablehnten.167 Bei der Dosierung von Arzneien sollte deren schwächere Wirkung auf den alten Körper Berücksichtigung finden, Aderlässe nur vorsichtig vorgenommen werden.168 Die Ärzte kamen ferner mit der besonderen psychosozialen Situation alter Kranker in Berührung und lernten gegebenenfalls, mit ihr umzugehen. Bemerkungen in den Krankengeschichten sowie den Berichten der ehrenamtlichen Armenpflege lassen darauf schließen, dass Alte, gerade wenn sie gesundheitlich eingeschränkt und wenig mobil waren, Gefahr liefen, sozial isoliert zu leben. Einsamkeit und mangelnde Ansprache charakterisierten wohl den Alltag vieler Alter mit gesundheitlichen Einschränkungen. In diesem Sinne berichtete eine Armenfreundin über die 78-jährige bettlägerige Witwe Brose, die alte Frau freue sich, wenn ihr die Zeit durch »erheiternde Gespräche« verkürzt würde und Besucher sich die »Mitteilungen ihrer Leiden« anhörten.169 Conrad H. Fuchs, der während seiner Würzburger Zeit regelmäßig alte Patienten im Bürgerspital behandelte, betreute zwischen 1833 und 1836 die etwa 70-jährige Witwe Benigna Pfritzschner. Er mag neben Wärterinnen und anderen Pfleglingen wohl eine der wenigen Bezugspersonen der alten Frau gewesen sein, und wenige Wochen, bevor sie starb, erzählte sie ihm von ihrer Furcht vor dem Tod.170 In der Zusammenschau von Armenfürsorgeakten und überlieferten Krankengeschichten aus der poliklinischen Praxis lässt sich in Bezug auf die historische Lebenswirklichkeit bestätigen, was die sozialhistorische Forschung seit längerem unterstreicht: Ein »behütetes und erfülltes Altern in der Familie der Nachkommen« war insbesondere für Angehörige der Unterschichten nicht gesichert.171 Alte Menschen mussten wie alle Familienmitglieder so lange arbeiten wie möglich. Das chronologische Alter spielte für das Ausscheiden aus 166 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 60:I, Nr.7, Amalia Winkler; HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 81, Augustin Hill; HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 4, Philipp Scharbeck. 167 StAWü, Bestand Bürgerspital Abt. II, Nr. 9, Schreiben des Bürgerspitals an den Magistrat Würzburg, 5. September 1839. Der Bestand wurde von Leila Al-Deri bearbeitet und transkribiert. 168 Canstatt (1839), S. 122–146. 169 StAGö, Dep. 30 Nr. 37,13, Witwe Brose. 170 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VIII, Nr. 4, Benigna Pfritzschner. Wie auch andere Krankengeschichten zeigen, war die Begleitung todkranker und sterbender Patienten und ihrer Angehörigen ein wichtiges Tätigkeitsmerkmal der Medizinstudenten und Assistenzärzte in der poliklinischen Praxis. Vgl. Nolte: Praxis (2010). 171 Ehmer (1982), S. 63. Damit wurde gleichsam auch der »Mythos von der vorindustriellen Großfamilie« dekonstruiert. Forschungsüberblicke zur Geschichte des Alterns finden sich bei David Schäfer (2004), S. 21–24, und Moses (2005), S. 20 f.
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dem Erwerbsleben keine Rolle, nur durch Alter und Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit setzte dem Arbeitsleben in städtischen und ländlichen Unterschichten ein Ende.172 Die Armenverwaltungen hielten auch bereits von der Armenkasse unterstützte und gesundheitlich stark eingeschränkte Alte dazu an, zu arbeiten, obwohl dies finanziell kaum ins Gewicht fiel. Anhand der Einzelfälle unterstützter Armer, die in der Überlieferung der Göttinger Armenverwaltung erhalten sind, wird nicht nur deutlich, in welch hohem Maße die Arbeitsbereitschaft bis ins hohe Alter eingefordert wurde, sondern auch wie stark die lebenslange Arbeitsbereitschaft moralisch aufgeladen war.173 Auch die Berichte der Göttinger Armenfreunde spiegeln diese Erwartung wider, zum eigenen Wohle lebenslang tätig zu sein.174 Trotz Altersschwäche, starker Seheinschränkungen, rheumatischer oder arthritischer Beschwerden attestierten Armenbesucherinnen und Armenbesucher alten Menschen, dass sie noch zum Waschen, Stricken und Nähen175 oder »Holzkleinmachen«176 arbeitsfähig seien. Das gesellschaftliche Arbeitsethos prägte die Zuteilungskriterien für Unterstützung mit Geld oder Naturalien und nötigte faktisch alte Menschen, weiterzuarbeiten, auch wenn sie gesundheitlich stark eingeschränkt waren. Darüber hinaus, so scheint es, war der gesellschaftliche Zwang, zu arbeiten, bereits Teil der Mentalität vieler alter Menschen geworden. Arbeitsunfähigkeit musste nachgewiesen und bestenfalls ärztlich attestiert werden, bevor die Armenverwaltung Unterstützungszahlungen bewilligte.177 Wie zeitaufwendig und akribisch die Armendeputation Göttingen Recherchen durchführen ließ, um die Arbeitsfähigkeit ihrer Bittsteller zu prüfen, zeigt die Fallgeschichte des 71-jährigen Johann C. H. Günter. Die Nachforschungen erbrachten folgende Resultate: Der in zweiter Ehe verheiratete Mann hatte elf Jahre als Soldat in Ostindien gedient, wurde jedoch ohne Anspruch auf Pension entlassen.178 Günter arbeitete »als Cammlottmacher in des Herrn Grätzels Fabrik«, doch versicherte der Werkmeister der Textilfabrik, »daß er wegen Schwäche oft zu arbeiten aufhören muß«. Obwohl weitere drei Familienmitglieder erwerbstätig waren, konnten die Mietzahlungen nicht aufgebracht werden; auch fehlten die finanziellen Mittel, um das Lehrgeld für die Schnei172 Dies konnte freilich auch schon weit früher der Fall sein, wenn Krankheit oder Unfall der Erwerbsmöglichkeit ein Ende setzten. Vgl. Göckenjan (1988), S. 80; Loetz (1993), S. 125 f. 173 Vgl. Münch (1995), S. 154. 174 Vgl. Göckenjan (2000), S. 303; Nolte (2014). 175 Vgl. StAGö, AA 189, Bericht über die Witwe Susanne Kranz, 21. Mai 1823; Bericht über Witwe Charlotte Benneckenstein, 25. Mai 1823; AA 10, Bericht der Armenfreundin Ständlin über die Witwe Johanne Bölling, 23. März 1822. 176 StAGö, AA 10, Bericht des Armenfreundes Warnstedt über das Ehepaar Andreas und Kristina Bleßmann, 18. Dezember 1823; Bericht der Armenfreundin Zachariae über Johann H. Lübeck, 3. Januar 1826. 177 Vgl. StAGö, AA 189, Attest des Dr. Georg Breden für Johann Volland in Göttingen, 8. Oktober 1828. 178 StAGö, AA 189, Bittschreiben des Johann C. H. Günter an den Stadtrat Göttingen, 29. August 1822.
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derlehre des Sohnes aufzubringen.179 Die Familie erhielt eine Unterstützung zugesprochen, vor allem um die Ausbildung des Sohnes zu gewährleisten. Hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Vaters sowie der Mutter sollten jedoch zunächst weitere Informationen durch einen Armenpfleger eingeholt werden, bevor endgültig über eine dauerhafte Zuwendung entschieden wurde.180 Es darf im zeitgenössischen Kontext nicht verwundern, wie vehement Arme die Legitimität ihres »würdigen« Anspruches auf Armenfürsorge vertraten und bemüht waren, diesen auch moralisch zu untermauern.181 So konnte es beispielsweise für den Göttinger Bürger Heinrich Pfennigschmidt wohl kaum einen moralisch einwandfreieren Grund geben, arbeitsunfähig zu sein, als sich beim Läuten der Kirchglocke das Bein zertrümmert zu haben.182 Die »Würdigkeit« ihrer Armut war für das Selbstbild und die Außendarstellung vieler Armer zentral, wie wir aus Bittschreiben wissen.183 Es war für sie außerordentlich wichtig, sich als arbeitswillig und unverschuldet in Armut geraten zu präsentieren sowie sich ihrer Armut zu »schämen«, demütig und ehrlich zu erscheinen.184 Wie Fritz Dross herausgearbeitet hat, gab es nur einen legitimen Grund, nicht zu arbeiten oder arbeitsunfähig zu sein, nämlich tatsächlich krank zu sein. Vorgetäuschte Krankheit und Arbeitsunfähigkeit bedeuteten ein moralisch und rechtlich schweres Vergehen.185 Die Einnahmen alter, geschwächter Menschen waren, wie das Beispiel des 71-jährigen Johann C. H. Günter zeigt, oftmals nicht mehr dazu geeignet, die Lebenshaltungskosten einer Familie zu kompensieren.186 Zum anderen konnten Alte, die selbst nicht mehr zu arbeiten vermochten, nicht immer auf die materielle Unterstützung durch Angehörige zählen, entweder weil Anverwandte finanziell nicht dazu in der Lage waren, es explizit ablehnten187 oder keine Familienangehörigen mehr existierten188. Ebenso dringlich wie die Frage 179 StAGö, AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide zur Einkommenssituation der Familie des Johann C. H. Günter, 10. Oktober 1822. 180 StAGö, AA 189, Vermerk des Göttinger Stadtrats in der Sache des Johann C. H. Günter aus Göttingen, 20. Dezember 1822. 181 Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Sokoll (1993). 182 StAGö, AA 189, Bittschreiben des Heinrich Pfennigschmidt an die Armendeputation Göttingen betreffs Erhöhung der wöchentlichen Unterstützung, 5. Dezember 1828. 183 Vgl. Schallmann (2014), S. 64–66. 184 Vgl. exemplarisch StAGö, AA 189, Bittschreiben des ehem. Hufschmieds Johann Volland zu Göttingen an das Kgl. Großbritannische Hannoversche Cabinetsministerium Hannover, 8. Oktober 1828. Zum Konnex Armut-Scham vgl. kultur- und epochenübergreifend die Beiträge in Chase/Bantebya-Kyomuhendo (2015). 185 Vgl. Dross (2005), S. 12. 186 StAGö, AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Familie Thiede, 7. Juni 1822; Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide zur Einkommenssituation der Familie des Johann C. H. Günter, 10. Oktober 1822. 187 Vgl. StAGö, AA 189, Schreiben des Kürschners Neumann an den Rat der Stadt Göttingen betreffs der Schneiderwitwe Brüggemann, 28. Februar 1828; Bittschreiben der Johanne C. Brüggemann an den Göttinger Magistrat, 18. Juli 1829; Schreiben des Armenpflegers Neuß an den Magistrat Göttingen, 31. Juli 1829. 188 Vgl. StAGö, AA 189, Bericht des Armenfreundes G. W. Hennide über die Eheleute Leße, 22. Juni 1822; AA 10, Bericht des Armenfreundes Bremer über das Ehepaar Eleonora
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nach finanzieller Unterstützung stellte sich die nach der Pflege im Alter, etwa dann, wenn alte Menschen mit den Langzeitfolgen ihrer jahrzehntelangen Erwerbsarbeit kämpften. Die zu Beginn des Abschnitts erwähnte Pfründnerin im Würzburger Bürgerspital, Therese Engelschall, litt beispielsweise unter einer linksseitigen Verkrümmung, für die der behandelnde Arzt der Poliklinik das ständige Sitzen als Näherin und Spitzenwäscherin verantwortlich machte.189 Es ist vielfach belegt, dass Familienangehörige oder Nachbarn sich um alte, gebrechliche, auch bettlägerige Menschen kümmerten.190 Auch konnten alte Kranke mit Hilfe einer Krankenwärterin zu Hause gepflegt werden – dies dokumentiert etwa die Biographie der Witwe Prögging, die bei Conrad H. Fuchs in Behandlung war. Im Bericht des sie besuchenden Armenfreundes heißt es, sie benötige eine Krankenwärterin, um die verordneten Umschläge gegen ihre Geschwüre am Körper anwenden zu können.191 War die Pflege zu Hause aus unterschiedlichen Gründen nicht zu bewerkstelligen, etwa weil sämtliche Erwachsenen eines Haushaltes arbeiten mussten oder die Aufwendungen für die Pflege die Familie finanziell zu sehr belasteten192, stellte sich die Frage nach dem Verbleib und der Pflege arbeitsunfähiger alter Menschen. Eine Möglichkeit der Unterbringung außerhalb ihres Zuhauses bestand für Pflegebedürftige in Einrichtungen, in die man sich einkaufen konnte. In Würzburg standen kirchliche bzw. bürgerliche Stiftungen wie das Bürgerspital bzw. Juliusspital oder das sog. Ehehaltenhaus zur Verfügung.193 Alternativ blieb pflegebedürftigen alten Menschen oftmals wohl nur der Rückzug in die städtischen Siech- oder Armenhäuser.194 Zum Patientenverhalten armer Kranker Die Medizinstudenten und Assistenzärzte der Polikliniken schilderten in ihren »Krankheitsgeschichten« detailliert das diagnostische und therapeutische Prozedere sowie den Krankheitsverlauf und versahen sie mit Daten und Uhrzeiten. Ihre Berichte liefern damit wertvolle Eckdaten, die anzeigen, wann, wie häufig und über welchen Zeitraum Arme poliklinisch behandelt wurden. In und Christoph Bruns, o. D. 189 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 72, Therese Engelschall; vgl. außerdem HSD 8 COD MS H NAT 61:V, Nr. 23, Margaretha Kath. 190 Vgl. z. B. StAGö, AA 189, Schreiben der Dorette Koch an Bürgermeister Tuchermann, 12. August 1822; AA 181, Antrag des Handarbeiters Wellhardt auf Erstattung seiner Ausgaben, 10. Oktober 1865 [genehmigt am 3. November 1865]. 191 StAGö, Dep. 30 Nr. 37,10, Witwe Prögging. 192 Vgl. StAGö, AA 189, Vermerk der Armendeputation Göttingen betreffs der Unterstützung der Witwe Merckel, 17. Oktober 1823. 193 So wurde beispielsweise der 62-jährige Gärtner Adam Straub in das Würzburger Ehehaltenhaus gebracht, da er »in seiner Wohnung ohne die nöthige Pflege war«. Fuchs (1838), S 69. Vgl. hierzu auch die entsprechende Krankengeschichte: SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 13, Adam Straub. 194 UAG, Kur. 5490, Gutachten von Conrad H. Fuchs zur Einrichtung eines städtischen Hospitales, 25. Dezember 1838.
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der Zusammenschau mit den Quellen der Armenfürsorge erlauben sie insbesondere auch Rückschlüsse auf Motivation und Modus der Inanspruchnahme poliklinischer Behandlung durch arme Kranke. Wie in diesem Beitrag am Beispiel der Behandlungen von Säuglingen und Kindern bereits gezeigt werden konnte, geben die Krankengeschichten wichtige Hinweise zur Frage, wie Ärzte und Patienten im poliklinischen Alltag miteinander interagierten und kommunizierten.195 Auch enthalten die ärztlichen Aufzeichnungen – meist bruchstückhaft – Gespräche zwischen Arzt und Patient oder Bemerkungen, die sich implizit oder explizit auf das Verhalten des jeweils anderen beziehen. Diese narrative Komponente hilft dabei, sich der individuellen, persönlichen ArztPatienten-Beziehung weiter anzunähern. Im Rahmen der poliklinischen Praxis entwickelten sich zwischen armen Patienten und den sie behandelnden Ärzten Vertrauensverhältnisse – sicherlich von stark divergierender Qualität und Intensität. Arme Familien in Würzburg und Göttingen zählten über Monate, teils Jahre hinweg zum »festen« Patientenstamm der von C. H. Fuchs geleiteten Polikliniken.196 Wie auch bei den Geschwistern Philipp und Margarethe Eisenbarth, die insgesamt sechsmal innerhalb von zweieinhalb Jahren im Rahmen der Polikliniken ärztlich behandelt wurden, betreuten häufig wechselnde Ärzte die Patienten.197 Auch wenn sich deswegen keine persönlichen Vertrauensverhältnisse aufbauen ließen, so wuchs doch mit jeder (erfolgreichen) Behandlung das Vertrauen der Patienten in die Institution der Poliklinik und ihre Ärzte, also in die akademische Ärzteschaft allgemein. Neben diesem »institutionellen Vertrauen« bot die poliklinische Praxis hinreichend Gelegenheit, dass sich außerdem persönliche Vertrauensverhältnisse zwischen Ärzten und Patienten ausbildeten. Ärzte der Polikliniken betreuten Patienten auch intensiv über einen längeren Zeitraum, in einigen Fällen auch bis zu sechs Monate lang.198 Dementsprechend entwirft das Narrativ der Krankengeschichte von Friseurgeselle Georg Grosch das Bild einer vertrauensvollen Interaktion und Kommunikation von Arzt und Patient. Zwischen dem 11. Juli und dem 18. August 1836 behandelte Dr. Ratke, Assistenzarzt an der Poliklinik, den 20-jährigen Mann, der an einer »Lungenschwindsucht« schwer erkrankt war und schließlich starb; in den letzten zwei Wochen vor dessen Tod besuchte Dr. Ratke den Patienten beinahe täglich.199 Das Gespräch mit dem 195 Vgl. hierzu die Beispiele zur Behandlung von Kindern und Säuglingen; s. insbesondere Anm. 151. 196 Die 732 von C. H. Fuchs edierten »Krankheitsgeschichten« beziehen sich nach der Auszählung der Namensregister auf nur 502 Patienten. 197 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 44, Philipp Eisenbarth; HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 82, Philipp Eisenbarth; HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 28, Philipp Eisenbarth; HSD 8 COD MS H NAT 61:II, Nr. 99, Margarethe Eisenbarth; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 15, Margarethe Eisenbarth; HSD 8 COD MS H NAT 61:IV, Nr. 78, Margarethe Eisenbarth. 198 Vgl. exemplarisch z. B. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 68, Joseph Mainburger. 199 SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 61, Georg Grosch.
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Patienten und dessen Ausführungen, die eigene Deutungen seiner Krankheit und Gefühle in Bezug auf sein Kranksein umfassen, stehen hier – neben der akribisch protokollierten ärztlichen Tätigkeit – im Mittelpunkt der Krankengeschichte.200 In diesem Szenario erscheint der Arzt neben seiner Eigenschaft als »objektiver« Experte als einfühlsamer, nahezu familiärer Freund, eben als Arzt im Sinne der bedside medicine. In diesem wie auch in vielen anderen Fällen unterschied sich das Verhältnis zwischen Arzt und armem Patienten wohl kaum von der Beziehung zu einem wohlhabenden Patienten.201 Wie sich anhand der Fuchs’schen Krankengeschichten nachvollziehen lässt, wurden auch in der armenärztlichen Praxis die Wünsche der Patienten aufgegriffen und berücksichtigt.202 Der niedrige soziale Status der labouring poor war kein Grund für die Ärzte der Polikliniken, ausschließlich nach den Armenpharmakopöen zu verordnen und beispielsweise an kostspieligen Süßungsmitteln zu sparen. Vor allem bei der Schmerzmedikation wurde darauf geachtet, dass die Arzneien auch bekömmlich waren und gut schmeckten.203 Eigentherapien wurden zwar gescholten, aber bis zu einem gewissen Grade auch geduldet – sie führten zumindest nicht zu einem Abbruch der Behandlung.204 Arme Patienten gingen recht selbstbewusst auf die akademischen Ärzte der Polikliniken zu und traten ihnen auch »entgegen«.205 Sie beklagten sich vielfach über die Missstände im Alltag der ambulanten Krankenversorgung, etwa weil Medizinstudenten beim Krankenbesuch ihrem Empfinden nach ungeziemend auftraten.206 Sie gingen vor Gericht, wenn der Tod von Angehörigen in ihren Augen aus der Fahrlässigkeit der behandelnden Ärzte und Studenten resultierte.207 Trotz der überlieferten vielfältigen Klagen von Patienten hegten Angehörige der Unterschichten kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber akademischen Ärzten. Der diesbezügliche zeitgenössische Vorwurf universitär ausgebildeter Mediziner, der auch in der medizinhistorischen Forschung anklingt, kann auf der Grundlage der diesem Aufsatz zugrundeliegenden Quellenarbeit 200 Vgl. Nolte (2009), S. 39, 48; Fissell (2002). 201 Vgl. Jewson (1974); Huerkamp (1995); außerdem Stolberg (2003), S. 104; Lachmund/ Stollberg (1995), S. 123–126. 202 Vgl. dagegen Huerkamp (1995), S. 259; Huerkamp (1985), S. 60 f. 203 Nolte: Praxis (2010), S. 52 f. 204 Vgl. auch SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:VII, Nr. 61, Georg Grosch. 205 Vgl. hierzu entsprechend Stolberg (2003), S. 104 f. 206 Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6468, Bericht des akademischen Senats der Universität Würzburg, die ambulante Klinik betreffend, 4. April 1820; Bericht des Stadtmagistrats, die ambulante Klinik betreffend, an die Königliche Regierung des Untermainkreises, Kammer des Innern, 13. April 1820; Aussage des Stadt- und Hofapothekers Jakob Wiskemann, 3. Mai 1820; »Zum Vortrag die Wiedereinführung resp. Fortsetzung der wandelnden Clinik betreffend«, Gestner (Unterzeichnender), 19. August 1820. 207 Bay StA Wü, Reg. Ufr. 6468, Protokoll zur Aussage der Marianna Schenk, 28. April 1820. In den Verwaltungsakten zur Würzburger Poliklinik ist die Klage der Marianna Schenk erhalten geblieben. Sie lastete der Poliklinik und insbesondere dem Stadtarzt Horsch den Tod zweier Kinder an, der durch die fehlerhafte Behandlung eines Studenten und die fehlende Aufsicht Horschs verursacht worden sei.
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nicht bestätigt werden.208 Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass arme Kranke nicht auch andere Anbieter des »medizinischen Marktes«, wie etwa »Laienheiler«, im Krankheitsfall konsultierten bzw. bereits konsultiert hatten, bevor sie sich an die Ärzte der Polikliniken wandten.209 Allerdings bezeugen Fallgeschichten aus der poliklinischen Praxis häufig, dass der akademische Arzt die erste Anlaufstelle im Krankheitsfall darstellte.210 Es kann freilich nicht abschließend beurteilt werden, welches Kriterium letztendlich den Ausschlag gab, sich als armer Patient an die Poliklinik zu wenden, anstelle sich einem anderen Heiler anzuvertrauen. So reisten etwa »Landkranke« nach Angabe von Conrad H. Fuchs aus sechs bis acht Stunden Entfernung in die Stadt, um sich der Poliklinik in Göttingen vorzustellen.211 Hätten sie größeres Vertrauen zu nichtakademischen Heilern vor Ort, so ließe sich vermuten, würden sie die Mühen des Weges nicht auf sich nehmen.212 Andererseits könnten schlicht die kostenfreie Behandlung durch die Polikliniken oder mangelnde Behandlungsmöglichkeiten auf dem Lande die initiale Motivation gewesen sein, solche Entfernungen zu überbrücken.213 Um derartigen Fragen nach der Heilerwahl armer Patienten auf den Grund zu gehen, müssten zunächst weiterführende Daten zur lokalen bzw. regionalen Heilerkonzentration im 19. Jahrhundert erhoben und ausgewertet werden. Insgesamt betrachtet stützt die Analyse der ärztlichen Praxis im Rahmen der poliklinischen Armenkrankenversorgung in Würzburg und Göttingen die Annahme, dass arme Patienten durch die poliklinische Praxis, die sie selbst erlebt hatten oder von Verwandten und Nachbarn empfohlen bekamen214, Vertrauen in die akademische Heilkunst fassten. Dieses Vertrauen war für die Wahl des akademischen Arztes in jedem Fall wesentlich.215 Arme Patienten nahmen ferner die Dienste der akademischen Ärzte »bewusst« in Anspruch und wurden von diesen nicht zur Behandlung »ausgewählt«. Die Informatio208 S. hierzu Wolff (1998), S. 325. 209 Vgl. zur Praxis des Schweizer »Laienheilers« Gottfried Wachter im 19. Jahrhundert Ritzmann/Unterkircher (2015); vgl. außerdem zum »medizinischen Markt« im 18. und 19. Jahrhundert Gafner/Ritzmann/Weikl (2012). 210 Vgl. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:I, Nr. 68, Josepha Braun; HSD 8 COD MS H NAT 61:III, Nr. 65, Karl und Johanna Salomon; HSD 8 COD MS H NAT 61:VIII, Nr. 69, Heinrich Kuhn. 211 UAG, Kur. 5489, Schreiben von Conrad H. Fuchs an das Universitätskuratorium Hannover, 24. August 1842, fol. 50. 212 Vgl. Stolberg (1986), S. 109 f. 213 Vgl. Ott (1840), S. 18 f. Der Arzt Franz A. Ott konstatiert für Bayern, dass v. a. Kindern und alten Menschen auf dem Lande nahezu keine Behandlungsmöglichkeiten offenstünden. 214 Auch Friedrich B. Osiander behandelte in seiner Göttinger Poliklinik um 1800 vielfach mehrere Angehörige einer Familie, vor allem Geschwister und Mütter mit Kindern. Vgl. IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 3: »Im Winterhalbenjahr 1799 – Januar 1802«. Auch finden sich in den Praxistagebüchern aufeinanderfolgende Krankengeschichten von Nachbarn. Vgl. z. B. IGM Göttingen, »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 2: Juli 1793 – Dezember 1794, Nr. 94, »Mertin[in], eine led. Person in Gött. at. 25.« 215 Vgl. Frevert (2013), S. 33; Loetz (1998), S. 40; Wolff (1998), S. 325.
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nen zum Patientenverhalten deuten darauf hin, dass die Ärzte der Polikliniken nicht planvoll als »Medikalisierungsagenten« tätig waren oder sich etwa gezielt über ihre Tätigkeit Zugang zu Armenhaushalten verschafften, um die Lebenswelt der Unterschichten zu »medikalisieren«. Die aufgezeichneten Krankengeschichten und weiteres Quellenmaterial zur poliklinischen Praxis dokumentieren hingegen ein hohes Maß an Anteilnahme, Fürsorge und persönlichem Einsatz der Ärzte und Medizinstudenten der Polikliniken. Angesichts der Rahmenbedingungen der poliklinischen Praxis, die als zeit- und kräfteraubend beschrieben wurden216, mussten sie tatsächlich hochmotiviert sein. Der Arzt Dr. Warnke legte beispielsweise am 30. Dezember 1839 bis zu der an »Enterotyphus« erkrankten Familie in Esebeck ca. neun Kilometer zurück. Dies entspräche einem Fußmarsch von zwei bis drei Stunden, zu Pferd entsprechend weniger – dennoch eine beachtliche Entfernung bei Winterwetter.217 Derartiges ärztliches Engagement blieb, so ist anzunehmen, nicht ohne positive Wirkung auf die armen Patienten, es suggerierte Verlässlichkeit und wirkte vertrauensbildend. In diesem Sinne bedeutete »Medikalisierung« im Kontext der poliklinischen Praxis die Bindung der armen Patienten an die akademische Medizin durch den Aufbau von Vertrauen auf verschiedenen Ebenen.218 Resümee und Ausblick Zentrales Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, sich der »Lebenswirklichkeit« von Patienten der städtischen Unterschichten anzunähern und diese in ihrer Rolle als Akteure im Kontext der Armenkrankenversorgung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darzustellen.219 Die verbindende Analyse von Krankengeschichten und Praxistagebüchern mit Akten der Armenfürsorge hat gezeigt, dass eine solche Annäherung möglich ist. Auf diese Weise konnte die historische Lebens- und Arbeitssituation der Patienten sichtbar gemacht werden, die zwar alltäglicher Bestandteil der poliklinischen Praxis war, jedoch in den ärztlichen Aufzeichnungen der Zeit kaum aufscheint. Die existenzsichernde Erwerbsarbeit bestimmte das Leben der städtischen Unterschichten – von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter. Erst »Krankheit« im 216 217 218 219
Martin (1846), S. 17. SUB Göttingen, HSD 8 COD MS H NAT 61:X, Nr. 45, Familie Rackebrandt. Vgl. Ritzmann (2008), S. 278; Frevert (1984), S. 112. Für zukünftige Forschungen zur armenärztlichen Praxis vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sollten die Orte ambulanter medizinischer Versorgung stärker in den Blick genommen werden. Hierfür ist es notwendig, weiter Quellenbestände zu Polikliniken vor allem in Universitätsarchiven namhaft zu machen und zeitnahe Überlieferungen zur Armenfürsorge und Armenkrankenversorgung v. a. in Stadt- und Kommunalarchiven zu recherchieren. Auch in Großbritannien wurden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sogenannte policlinics bzw. dispensaries gegründet, welche die Doppelfunktion dieser ambulanten Einrichtungen als Orte des praktischen medizinischen Wissenserwerbs einerseits und der armenärztlichen Versorgung andererseits ausfüllten. Diese Institutionen ließen sich ebenfalls vergleichend in künftige Forschungsarbeiten mit einbeziehen. Vgl. auch Tröhler (1989); Lane (2001), S. 89–95; Thomson (1984).
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Sinne von Bettlägerigkeit unterband in der Selbst- und Außenwahrnehmung die Arbeitstätigkeit in legitimer Weise.220 Ohne soziale Sicherungsmechanismen, wie sie später die Allgemeine Krankenversicherung ab 1884 darstellte, bedrohte krankheitsbedingter Lohnausfall häufig die Existenz von Unterschichtenfamilien. Lebten Frauen mit Kindern sowie alte Menschen ohne sie finanziell unterstützende Familienmitglieder, konnte sich ihre prekäre Lebenssituation rasch in eine existentielle Krise verwandeln. Der Ausbildungsauftrag der von den Universitäten getragenen Polikliniken sicherte in Würzburg und Göttingen ein wichtiges medizinisches Versorgungsangebot für die Gruppe der labouring poor. Auch im zeitgenössischen Verständnis »unwürdige« Arme, also gesellschaftlich Marginalisierte und moralisch Verurteilte wie etwa ledige Mütter und ihre Kinder, wurden von den Ärzten und Medizinstudenten behandelt. Sie profitierten ebenso wie sämtliche arme Kranke von dem »Gerangel« um arme Patienten, die als »Krankenmaterial« für die praktische medizinische Ausbildung an Universitäten unerlässlich waren. Gleichermaßen wurde in diesem Beitrag deutlich, dass arme Kranke und ihre Angehörigen die Behandlung durch akademische Ärzte stark nachfragten bzw. diese ausdrücklich verlangten. Sie hatten durch ihre Erfahrungen im Rahmen der Göttinger und Würzburger Polikliniken vielfach »Vertrauen« in universitär ausgebildete Ärzte und ihr Können gefasst. Eine Ferne zur akademischen Medizin kann daher für die Klientel der Polikliniken in Würzburg und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht konstatiert werden.221 Wie das Beispiel Göttingen zeigt, änderte sich das Interesse an armen Kranken in der ambulanten ärztlichen Praxis ab 1851 schlagartig, nachdem ein neues akademisches Hospital errichtet worden war. Der Bau des Ernst-August-Hospitals besaß weitreichende Implikationen für die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen. Die neue Klinik dezimierte das Angebot an kostenlosen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten und verringerte damit zugleich die Möglichkeiten armer Kranker, unter den verschiedenen Angeboten des (akademischen) medizinischen Marktes auswählen zu können. Arme Kranke büßten an Entscheidungsfreiheit auch insofern ein, als sowohl die Entscheidung über den Zugang zur ärztlichen Behandlung als auch die Ausgestaltung derselben in der Klinik in wesentlich höherem Maße der Autorität und Kontrolle der ärztlichen Profession unterstand als in der ambulanten Praxis. Die poliklinische Praxis in Würzburg und Göttingen porträtiert arme Patienten vielfach als selbstbewusste Akteure, die ihre Behandlung durchaus mitbestimmten und ihren Bedürfnissen entsprechend mitgestalteten. Die Art und Weise, wie arme Kranke ihre Patientenrolle ausfüllten, spiegelt häufig das Szenario einer bedside medicine wider. Jedoch konnten sie – etwa im Sinne eines »Patronageverhältnisses« – die Behandlungen kaum dominieren bzw. kon-
220 Vgl. Loetz (1993), S. 125. 221 Vgl. entsprechend Huerkamp (1985), S. 41; zusammenfassend Wolff (1998), S. 325.
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trollieren.222 Aufgrund des strukturellen Machtgefälles zwischen Ärzten und armen Patienten, das maßgeblich durch den sozialen Status bedingt war, blieb der Aushandlungsprozess zwischen ihnen stets asymmetrisch. Arme Kranke waren wohl oftmals auf die kostenlose Behandlungsmöglichkeit angewiesen und zu einem gewissen Grad auch abhängig von dem good will der sie behandelnden Ärzte und Medizinstudenten. Nimmt man außerdem die überlieferten Klagen der Patienten ernst, so mussten sie sich einiges gefallen lassen oder sogar erdulden. Das starke Interesse an armen Kranken sowie die damit verbundenen persönlichen Anstrengungen waren vor dem Hintergrund des Ausbildungsauftrages der Poliklinik wissenschaftlich und zudem professionspolitisch motiviert – was die Bemühungen um das Wohlergehen der armen Patienten sowie die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung keinesfalls relativiert. Die Untersuchung der alltäglichen ärztlichen Praxis im Rahmen der Fuchs’schen Polikliniken in Würzburg und Göttingen zeigt insgesamt Handlungsspielräume für Ärzte, vor allem aber für Patienten auf.223 Sie verdeutlicht, dass sich diese Handlungsspielräume im Zuge des Übergangs von der »Krankenbettgesellschaft« zum klinischen Zeitalter zunehmend verengten, und unterstreicht damit auch, wie nachhaltig sich hierdurch Patientenrollen und Patientenverhalten in der Zukunft veränderten. Bibliographie Archivalien Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen, Abt. Handschriften und Alte Drucke – Conrad Heinrich Fuchs, »Krankheitsgeschichten«, Sign.: HSD 8 COD MS H NAT 61:I– VIII, X–XII – »Leichenöffnungen«, Sign.: HSD 8 COD MS H NAT 60:I–V Universitätsarchiv Göttingen (UAG) – Kur. 4978, 5252, 5277, 5488, 5489, 5490, 5491, 5492 Stadtarchiv Göttingen (StAGö) – AA 10, 18, 19, 181, 189, 292, 293, 296, 1902 – AHR IH 9 Nr. 1 – Dep. 30 – Pol Dir 3 Institut für Geschichte der Medizin (IGM) Göttingen – »Tagbuch des Clinischen Instituts zu Göttingen«, Bd. 1: Winterhalbjahr 1792/93; Bd. 2: Juli 1793 – Dezember 1794; Bd. 3: »Im Winterhalbenjahr 1799 – Januar 1802« Stadtarchiv Würzburg (StAWü) – Bestand Bürgerspital Abt. II, Nr. 9 Bayerisches Staatsarchiv Würzburg (Bay StA Wü) – Reg. Ufr. 6468, 6475
222 Die These vom »patronage system« wurde für die Oberschicht bereits relativiert. Vgl. Stolberg (2003), S. 104. 223 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Positionen bei Loetz (1998) und Frevert (1984).
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Der Hygieniker Dr. med. Karl Roelcke (1907–1982). Familienbiographische Ergänzungen1 Florian G. Mildenberger Summary The Hygienist Karl Roelcke, M. D. (1907–1982). Annotations to the family biography Volker Roelcke, the well-known historian of medicine, wrote a biographical sketch on his father’s role in National Socialism. Karl Roelcke (1907–1982) was an important hygienist at the University of Heidelberg and assistant to Ernst Rodenwaldt (1878–1965). Attempts to discuss the Nazi issue with his father directly ended unsuccessfully in the 1970 s. In his essay of 2014, Volker Roelcke portrayed his father as quite sophisticated, but did not mention all aspects of his work. The present essay therefore offers new insights into the person of Karl Roelcke which are not constrained by family interests.
Einführung Die Auseinandersetzung mit der (eigenen) nationalsozialistischen Vergangenheit erreichte die deutschen Historiker erst zu Beginn der 1980er Jahre.2 Noch etwas länger benötigten die Medizinhistoriker, die sich dann im Laufe der 1990er Jahre der eigenen Geschichte stellten und auch die Rolle der Medizin insgesamt verstärkt kritisch hinterfragten.3 Besonders problematisch und konfliktgeladen wird die Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit dann, wenn die akademischen Lehrer oder gar die eigene Familie Ziel der Forschung sind. Das trifft z. B. innerhalb der westdeutschen Medizinhistoriographie auf die »Diepgen-Schule« zu, die sich als »Familie« begriff und die jüngeren Fachvertreter in ein Loyalitätsverhältnis einband, das jede Kritik zum »Vatermord« hochstilisierte.4 Dadurch wurden Debatten über die Zeit des Nationalsozialismus lange verzögert. Aber auch die direkte Hinterfragung der eigenen (biologischen) Väter und Großväter kann nicht nur zur Zerreißprobe für Familienangehörige5, sondern auch für den davon betroffenen Historiker werden. 1 2 3 4 5
Der Verfasser dankt den drei anonymen Gutachtern im Peer-Review-Verfahren für die kritische Durchsicht und Anregungen. Zusammenfassend bei Schulze/Aly (2000). Bleker/Jachertz (1989); Meinel (1994); Baader (1999); Kümmel (2001); Eckart/Jütte (2007), S. 15. Mildenberger (2014), S. 113. Siehe auch Kümmel (2014), S. 27 ff. Innerhalb der letzten Jahre wurden öffentlichkeitswirksam verschiedene Rollen bei Nachkommen von führenden NS-Größen präsentiert: Auf der Seite der »Aufarbeitungswilli-
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Innerhalb der Medizinhistoriographie unternahm 2014 der Gießener Lehrstuhlinhaber Volker Roelcke (geb. 1958) den Versuch, die nationalsozialistische Periode in der Biographie des eigenen Vaters Karl kritisch einzuordnen.6 Roelcke jr. beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Rolle von Nervenärzten und der Psychiatrie im Nationalsozialismus und stand der 2009 gegründeten »Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde/DGPPN« vor.7 Frühzeitig legte er besonderes Augenmerk auf die Netzwerke der Vernichtung innerhalb der nationalsozialistischen Psychiatrie rund um die Universität Heidelberg.8 Diese Arbeit ist gekennzeichnet durch ein genaues Aktenstudium9, die Herausstellung führender Akteure10 und die Hervorhebung nationalsozialistischer Verbrechen für die spätere Herausbildung ethischer Prinzipien11. In seinem Aufsatz über die Rolle des Vaters schildert Volker Roelcke diesen als warmherzigen Arzt, der als Leiter eines privaten Labors in Heidelberg bakteriologisch arbeitete und durch sein Wirken den Sohn motivierte, ab Herbst 1977 Medizin zu studieren.12 Außerdem habe der Vater arme Patienten mit chronischen Krankheiten nicht einfach nur diagnostisch durch Bestimmung von Laborwerten betreut, sondern sie auch persönlich zu Hause aufgesucht und sich nach ihrem Befinden erkundigt.13 Die vorklinischen Semester erwiesen sich für Roelcke jr. jedoch als desillusionierend hinsichtlich der Realität ärztlicher Arbeit. Schließlich habe er auch die Rolle des Vaters im Nationalsozialismus zu hinterfragen begonnen. Karl Roelcke hatte seinem Sohn stets den Heidelberger Tropenhygieniker Ernst Rodenwaldt (1878–1965) in leuchtenden Farben geschildert, doch Volker Roelcke musste im Laufe der Beschäftigung mit medizinischer Zeitgeschichte feststellen, dass Rodenwaldt tief in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt gewesen war.14 Diese Erkenntnis mündete in eine Reihe von Fragen:
6 7 8 9 10 11 12 13 14
gen« agiert Niklas Frank (geb. 1939), Sohn des vormaligen Generalgouverneurs im besetzten Polen, Hans Frank (1900–1946), während Gudrun Burwitz (geb. 1929 als Gudrun Himmler) die Rolle der revisionistischen Tochter besetzt. Volker Roelcke (2014). Siehe u. a. Volker Roelcke/Schneider (2012). Volker Roelcke (1998); Volker Roelcke (2008); Volker Roelcke/Hohendorf/Rotzoll (1994); Volker Roelcke/Hohendorf/Rotzoll (2000). Volker Roelcke/Hohendorf (1993). Volker Roelcke (2000). Volker Roelcke/Hohendorf/Rotzoll (1997); Volker Roelcke (2004); Volker Roelcke (2010). Volker Roelcke (2014), S. 256. Volker Roelcke (2014), S. 256. Volker Roelcke (2014), S. 258.
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What was my father’s attitude toward the Nazi party and its politics? Had he been involved in the eugenically motivated Nazi »hereditary health policy« that included the identification and sterilization of those supposedly suffering from hereditary disorders? Had he been involved in anti-Semitic activities? What had he known at that time about the Holocaust, and what did he think about it after the war? And why had he been forced to end his promising academic career immediately after the war and begin his private practice?15
Doch der Vater zeigte sich naheliegenderweise an einer Aufarbeitung der eigenen Rolle gänzlich uninteressiert, reagierte aggressiv und erkrankte zur gleichen Zeit an Demenz, wodurch Debatten mit ihm insgesamt unmöglich wurden.16 Nach eigenen Angaben fand Roelcke jr. heraus, dass sein Vater von den US-Truppen als minderbelastet (»involved in a minor degree«) eingestuft worden war, aber dennoch seine Karriere offenbar nicht habe fortsetzen können. Dies führte zu weiteren Irritationen, die sich verstärkten, als sich Roelcke jr. mit dem vollkommenen Schweigen zur Vergangenheit durch weitere Fachvertreter in Heidelberg konfrontiert sah.17 Im Verlauf der eigenen Untersuchungen konnte Volker Roelcke die Eugenik fördernde Netzwerke innerhalb der internationalen psychiatrischen scientific community nachweisen; Heidelberg diente ihm als Brennspiegel für tiefer- und weitergehende Betrachtungen.18 Doch geriet der eigene Vater bis 2014 aus dem Fokus. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Aspekte von Karl Roelckes Leben und Werk von außen zu beleuchten.19 Karl Roelcke als Hygieniker im Dritten Reich Karl Johann Theodor Roelcke wurde am 16. Oktober 1907 in Kiel als eines von sechs Kindern des Stadtsekretärs Gustav Georg Emmanuel Roelcke (1880–1961) und seiner Ehefrau Dorothea Friederike Karoline (geb. Jansen, 1884–1944) geboren.20 Als Kind machte er verschiedene Krankheiten wie Scharlach, Masern und Diphtherie durch. Er besuchte vom sechsten bis achten Lebensjahr die Mittelschule in Kiel-Wellingdorf, überstand die Aufnahmeprüfung des humanistischen Gymnasiums Kiel und machte 1927 sein Abitur. Anschließend studierte er in Kiel Medizin, bestand im Herbst 1929 die ärztliche Vorprüfung mit »sehr gut«, das Staatsexamen 1933 mit »gut«. Nach eigenen Angaben beherrschte der 1,78 m große, blondhaarige und mit blauen Augen 15 16 17 18 19
Volker Roelcke (2014), S. 258. Volker Roelcke (2014), S. 258. Volker Roelcke (2014), S. 259 f. Volker Roelcke (2014), S. 262 f. In einer E-Mail vom 20.8.2015 an den Verfasser erklärte Volker Roelcke, dass seines Wissens keine für diese Fragestellung relevanten Korrespondenzen mehr im Familienarchiv existieren. 20 Zu den biographischen Angaben siehe UA, PA 1135, Personalakt Roelcke, Lebenslauf; BA-B, Bestand SA 4000003248, 51 Reihe 44. Außerdem danke ich dem Stadtarchiv Kiel für weitere Informationen.
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ausgestattete junge Mann die lateinische, altgriechische, französische und englische Sprache und bekundete großes Interesse an Hygiene bzw. Bakteriologie. Zudem hegte er politische Ambitionen. 1939 notierte er in einem Lebenslauf: »Seit April 1931 gehöre ich der N. S. D. A. P. und der S. A. an und bekleide augenblicklich den Rang eines Sanitäts-Obersturmbannführers.«21 Tatsächlich war Roelcke am 1. April 1931 in beide Organisationen eingetreten (Mitgliedsnummer NSDAP: 624088). In Freikorps oder wehrähnlichen Verbänden hatte er sich zuvor nicht engagiert. Nach bestandenem Staatsexamen absolvierte er sein Medizinalpraktikum von Ende Juli bis Ende Dezember 1933 am Sanatorium der Landesversicherungsanstalt in Tönsheide/Holstein, 1934 wurde er mit einer neun Seiten an reinem Text umfassenden Schrift über die »Function der Venenklappen« von der Universität Kiel promoviert.22 Nach der fast zeitgleich erhaltenen Approbation ernannte der neu nach Kiel berufene Ordinarius für Hygiene, Ernst Rodenwaldt, den aufstrebenden Arzt Karl Roelcke zu seinem Assistenten und nahm ihn ein knappes Jahr später mit nach Heidelberg.23 Rodenwaldt vertrat ebenso wie sein Kollege Heinrich (Heinz) Zeiss (1888–1949) die Idee einer »Geomedizin«.24 Hier flossen Rassenlehren, Hygiene und Bakteriologie zusammen, um ideologische Grundlagen und praktische Empfehlungen zur Umsetzung nationalsozialistischer Herrschaftspläne zu liefern.25 Im Dezember 1935 heiratete Karl Roelcke – mittlerweile »gottgläubig« und nicht mehr evangelisch-lutherisch – die frühere technische Assistentin Ilse Bartram (1907–1996).26 Der erste Sohn Dieter wurde ein Jahr später geboren, 1938 folgte die Geburt der Tochter Gisela. Zu dieser Zeit war Roelcke bereits auf eine Planstelle an der Universität Heidelberg vorgerückt, dem NS-Ärztebund und der NS-Studentenkampfhilfe beigetreten und hatte freiwillig einen mehrmonatigen Wehrdienst bei der Marine in Kiel absolviert. Im März 1937 erhielt er eine einmalige Forschungsbeihilfe in Höhe von 300 Reichsmark, da seine Studien der Universität besonders förderungswürdig erschienen. Roelcke beschäftigte sich mit der Erforschung, Typisierung und Wirkungserklärung noch unbekannter Krankheitserreger. 1936 verkündete er die Entdeckung eines neuen Enteritiserregers, den er »Salmonella Typ Holstein (Salmonella holsatiensis)« taufte.27 Es waren jedoch seine Arbeiten zu Dysenterie-Erregern, mit denen er die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten erregte. So zögerte er nicht, seinen niedergelassenen ärztlichen Kollegen Unfähigkeit bei Diagnose und Bekämpfung der E-Ruhrerreger 21 UA, PA 1135, Antrag auf Zulassung zur Habilitation, Lebenslauf, 23.5.1939. 22 Karl Roelcke (1934). 23 Zur Situation an der Universität und in der Stadt in den ersten Jahren des Nationalsozialismus siehe Eckart/Gradmann (2006); Sellin (2006); Wolgast (2006); Weckbecker (1985). 24 Leven (1997), S. 135. Zu Rodenwaldts Position innerhalb der »rassenhygienischen« Forschergemeinschaft siehe Schmuhl (2005), S. 272, 518 f. 25 Schleiermacher (2005), S. 26 ff. 26 Ich danke dem Stadtarchiv Heidelberg und dem Bürgeramt Heidelberg Mitte für entsprechende Auskünfte. 27 Karl Roelcke (1936), S. 464.
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zu attestieren, und regte Verbesserungen an.28 Aufgrund der problematischen Differentialdiagnose der unterschiedlichen Erreger nutzte Roelcke 1938 die Chance für eine großangelegte Studie in einem Badener Gefängnis. [Hier] wurde die Widerstandsfähigkeit eines E-Ruhrstammes gegenüber Austrocknung geprüft und mit einem Shiga-Kruse- und einem Flexner-Stamm verglichen. Die erheblichen Unterschiede in der Resistenz, die sich auch bei mehrfacher Wiederholung der Versuche bestätigten, gaben dazu Veranlassung, das Verhalten der genannten Erreger in verschiedenem Milieu und bei der Einwirkung einer ganzen Reihe von Substanzen zu prüfen.29
So untersuchte Roelcke die Überlebensdauer von Keimen verschiedener Stämme, indem er diese Hitze, Kälte und Desinfektionsmitteln (Sagrotan, Kaliumpermanganat) sowie UV-Licht aussetzte. Letztendlich zeigte sich, dass die E-Ruhrerreger am widerstandsfähigsten waren – und am wenigsten erforscht.30 Gemeinsam mit Kollegen – darunter dem eigenen Schwager Willi Bartram – vertiefte Roelcke seine Studien. Er verwarf die Idee der Existenz eines »idealen Systems« bezüglich des Verhaltens der Erreger und unterschied sie in »Glattform, Rauhform und extreme Rauhform«.31 Den mikroskopischen Aufbau präsentierte er 1938, ohne jedoch die einzelnen Erreger der E-Ruhr genauer trennen zu können.32 Hierzu bedurfte es großangelegter Studien, doch fehlte Roelcke ein passendes Versuchstier. Daher kam er zu dem Schluss, dass »als Testobjekt für die Beurteilung eines Impfschutzes gegen Ruhrinfektionen bzw. für die Pathogenitätsprüfung für Ruhrbakterien nur der Mensch [bleibe]«.33 Das gelang ihm offenbar, denn bereits im Sommer 1939 verkündete er: »Wir hatten Gelegenheit, uns in einer Heil- und Pflegeanstalt Nordbadens mit der Pathogenitätsfrage der Flachform von Kruse-Sonne-Keimen zu beschäftigen.«34 Ein solcher Versuch an nicht einwilligungsfähigen Patienten verstieß zwar gegen die 1931 erlassenen preußischen Richtlinien zu Humanexperimenten, die den Ärzten an sich bekannt waren, doch konnte sich Roelcke aufgrund der zeitgenössischen Debatten im Recht fühlen, da Juristen und Ärzte nach 1933 zu der Ansicht gelangten, dass Versuche ohne Einwilligung der Patienten zulässig seien, wenn keine Kosten anfielen, Schmerzen gering waren und/ oder »Gemeinschaftsinteressen« bestanden.35 So erfolgte umgehend die »Fütterung« einer schizophrenen Patientin, ohne dass es zu einer Infektion kam. Unverzüglich mahnte Roelcke weitere Arbeiten »an einem größeren Material« an und erklärte: »Wir fanden an der zuständigen Stelle größtes Verständnis
28 29 30 31 32 33 34 35
Karl Roelcke (1936/37), S. 555. Karl Roelcke (1937/38), S. 307. Karl Roelcke (1937/38), S. 311 ff. Karl Roelcke/Intlekofer (1938), S. 42, 44. Karl Roelcke/Bartram (1938/39), S. 248. Karl Roelcke (1938/39), S. 744. Karl Roelcke (1938/39), S. 744. Noack (2004), S. 165, 168.
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und Entgegenkommen und waren so in der Lage, zwei weitere Fütterungen an zwei anderen Patienten durchzuführen.«36 Ein Resultat in Form einer Infektion – nicht etwa einer Immunisierung – stellte sich gleichwohl erneut nicht ein.37 Dies enttäuschte Roelcke angesichts des »Erfolges«, den Kollegen bei Studien in einem Gefängnis im Raum Heidelberg erzielt hatten.38 Diese Forschungsarbeiten waren aber nur ein kleiner Teil der eigentlichen Tätigkeit Karl Roelckes. Seit Mai 1938 leitete er das dem Heidelberger Universitätsinstitut für Hygiene angeschlossene Medizinaluntersuchungsamt.39 Hier erlernte er die neuesten Wasseruntersuchungsmethoden und gab sein Wissen in Kursen an Studierende und Schüler weiter. Zeitweise betreute er auch die Doktoranden des Instituts. Während seiner Arbeit sah sich Roelcke alsbald mit der dezentralen und hygienisch problematischen Trinkwasserversorgung im Großraum Heidelberg konfrontiert. Insbesondere die Kraichgauregion erregte immer wieder seine Aufmerksamkeit, da die dortigen Bewohner angeblich wenig Interesse an hygienischer Aufklärung und Kooperation mit Behörden zeigten. Über diese Erfahrungen und mögliche Lösungsansätze verfasste Roelcke seine Habilitationsschrift, die er im Juni 1939 an der Universität Heidelberg einreichte.40 Der Kraichgau als Region nahe der französischen Grenze erschien ihm besonders interessant. Auch die Wehrmachtsführung sah dies so, als sie nämlich die Veröffentlichung der Schrift unterband.41 Dieses Verbot umging Roelcke, indem er nur Teile seiner Arbeitsmethodik und die Ergebnisse ohne Benennung der Region publizierte.42 In seinem Gutachten betonte Rodenwaldt, sein Schüler und Mitarbeiter habe ein »gereiftes Urteil« an den Tag gelegt, und empfahl die Schrift ausdrücklich zur Annahme.43 Anfang August erhielt Roelcke auf Empfehlung Rodenwaldts eine Dozentur und behielt seine bisherige Position im Institut bei.44 Das Rektorat der Universität Heidelberg
36 Karl Roelcke (1938/39), S. 745. Das »Entgegenkommen« bezog sich nicht auf eine eventuelle Einwilligung der Patienten, sondern allein auf das Verhalten der Anstaltsleitung. 37 Karl Roelcke (1938/39), S. 748. 38 Ernst/Trappmann (1937/38). 39 UA, PA 1135, Lebenslauf Karl Roelckes. 40 Karl Roelcke (1939). Hierfür hatte Rodenwaldt eine Förderung durch die DFG in Höhe von 1.500 Reichsmark erwirkt, siehe BA-B, Bestand R 73, Nr. 14014, Akt Rodenwaldt, Brief Fachgliederung Wehrmedizin an Rodenwaldt, 11.3.1939. 41 UA, PA 1135, Fachgliederung Wehrmedizin im Reichsforschungsrat an Roelcke, 15.9.1939. 42 Karl Roelcke: Wert (1940); Karl Roelcke: Trinkwasserverhältnisse (1940); Karl Roelcke: Untersuchungen (1942). 43 UA, PA 1135, Gutachten Rodenwaldts, Juni 1939. 44 Hierzu ist anzumerken, dass die Dozenten und die NS-Dozentenschaft die eigentlichen Träger der nationalsozialistischen Ideologie an den deutschen Universitäten waren, da nur diejenigen habilitiert wurden, die sich zuvor im Sinne der 1934 erlassenen Reichshabilitationsordnung entsprechend positioniert hatten; siehe Mertens (2002), S. 225, 229.
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hatte sich ebenfalls für Roelcke ausgesprochen: »Die Erwerbung der Lehrbefugnis liegt im Universitätsinteresse.«45 Ab März 1940 erhielt Roelcke zusätzlich einen (bezahlten) Lehrauftrag.46 Während zahlreiche Kollegen eingezogen wurden, bekam Roelcke immer wieder die begehrte »uk«-Stellung (»unabkömmlich«) und stieg in der Universitätshierarchie weiter auf.47 Da Rodenwaldt als beratender Hygieniker für die Wehrmacht durch ganz Europa reiste, übernahm Roelcke faktisch die Leitung des Instituts.48 Nach 1943, als die für Rodenwaldts Forschungen besonders interessanten subtropischen Gebiete nicht mehr von deutschen Truppen besetzt waren und die als zentrale Koordinationsbehörde dienende Militärärztliche Akademie in Berlin ausgebombt worden war, arbeitete Roelckes Institutsdirektor vor allem rund um Bad Nauheim weiter.49 Dass Roelcke in der Endphase des Krieges nicht doch noch eingezogen wurde, verdankte er einem von Rodenwaldt offenbar in absentia diagnostizierten chronischen Ekzem.50 Neben der Untersuchung von Wasserproben, der universitären Lehre und der Betreuung der Doktoranden und Studierenden widmete sich Roelcke weiterhin der Forschung an Dysenterie-Erregern. Weil seine Versuche zur Infizierung von Versuchspersonen fehlgeschlagen waren, folgerte er, dass die verschiedenen Stadien des Erregers (Rund-/Rauhform) über die Pathogenität bestimmten. Hierzu unternahm er einen Selbstversuch mit 1 Million, 100 Millionen und 1 Milliarde Bakterien in der flachen Erscheinungsform – und blieb gesund.51 In einem weiteren Versuch mit anderen Bakterienformen erzielte er hingegen bei sich Durchfall, Kopfschmerzen und leichtes Fieber.52 Roelcke erkannte, dass seine eigenen früheren Untersuchungen über den Erfolg von Abtötungskampagnen (z. B. mit Sagrotan) in Unkenntnis der verschiedenen Erscheinungsformen des Erregers wahrscheinlich keine Aussagekraft mehr besaßen, und regte vertiefende Studien an.53 In weiteren Forschungsarbeiten – bei denen u. a. Ehefrau und Kinder einer Versuchsperson erkrankten, was die hygienisch-sterilen Arbeitsbedingungen in seinem Labor nicht im besten Licht erscheinen lässt – konnte Roelcke darlegen, dass eine Übergangsform des Erregers die größte Pathogenität zeigte.54 Zeitgemäß nannte er diese die »Bombenform«, erklärte aber zugleich, dass auch ein »Ausscheider der Flachform« aufgrund der Chance des Erregers zur Gestaltwandlung eine Gefahr für seine
45 UA, PA 5494, Rektorat an Kultusministerium, 20.6.1939. 46 UA, PA 1135, Hygienisches Institut an Rektorat, 9.2.1940; UA, PA 5494, Erteilung des Lehrauftrages, 19.3.1940. 47 Bauer (1992), S. 92. 48 Bauer (1992), S. 92; Kiminius (2001), S. 108 f. 49 Oehler-Klein/Neumann (2007), S. 431; BA-B, Bestand R 73, Nr. 14014, Akt Rodenwaldt, Brief Rodenwaldts an Reichsforschungsrat, 18.12.1944. 50 UA, PA 1135, Brief Rodenwaldts an die Universität, 15.2.1945. 51 Karl Roelcke: Ergebnisse (1940), S. 901. 52 Karl Roelcke: Ergebnisse (1940), S. 902. 53 Karl Roelcke: Ergebnisse (1940), S. 902. 54 Karl Roelcke/Bartram (1939/40), S. 300.
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Umwelt darstelle.55 Um die Widerstandsfähigkeit des Erregers benennen zu können, wiederholte Roelcke seine Versuchsreihen aus den 1930er Jahren.56 Es zeigte sich, dass die Kruse-Sonne-Ruhrerreger am widerstandsfähigsten waren. Auch führte er Studien an zwölf Ruhrkranken durch. Hierbei kam es zu einem Zwischenfall: »Die Untersuchungen an einem weiteren Fall mußten abgebrochen werden, da die Erkrankung einen tödlichen Ausgang nahm.«57 Schließlich glaubte Roelcke, in einem neuen, bislang unbekannten Erreger ein zentrales Element zur Erklärung der unterschiedlichen Krankheitsverläufe entdeckt zu haben.58 Um dieser Vermutung nachzugehen, verglich Roelcke in der Folgezeit die unterschiedlichen, statistisch aufgezeigten Fälle von verschiedenen Erscheinungen der Dysenterie. Dadurch schien sich abzuzeichnen, dass trotz möglicherweise vieler Fehldiagnosen seit einigen Jahren die »KruseSonne-Ruhr« an Gefährlichkeit und Häufigkeit zunahm.59 Ihr Nachweis war mit bestehenden Methoden leicht möglich (Widalsche Reaktion).60 Überhaupt schien für Roelcke klar, dass er in besonderem Maße geeignet war, neueste Erkenntnisse in der Naturwissenschaft zu erzielen, da er der »germanischen Rasse« angehörte. Dieser billigte er einzigartige Kompetenzen zu: Übersieht man die Geschichte der Naturwissenschaften so wird man unschwer feststellen, daß alle wesentlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet und die sich aus ihnen ergebenden theoretischen und praktischen Folgerungen nicht eine Leistung der Menschheit schlechthin darstellen, sondern an einzelne Völker und Rassen gebunden sind.61
Allein der »europäische Mensch« germanischer Abstammung sei in der Lage, die Wissenschaft weiterzuentwickeln.62 Für die eigene Arbeit notierte Roelcke außerdem: »Die lebensvolle Darstellung eines Krankheitsbildes ist nur dem praktisch tätigen Arzt und Kliniker möglich, der seine Erfahrungen aus dem täglichen Umgang mit den Patienten schöpft.«63 Dass Roelcke selbst vorrangig Statistiken auswertete und einen Bezug zu Patienten eher über Akten oder gelegentliche Menschenversuche pflegte, verschwieg er allerdings. Im Frühjahr 1942 bedachte er die Fachöffentlichkeit mit der Mitteilung, er habe einen neuen Erreger von Dysenterie entdeckt und könne so viele Krankheitsfälle, bei denen bislang kein Erreger habe identifiziert werden können, erklären.64 Den Erreger entnahm er dem »infantilen Körper« eines zu Untersuchungsbeginn verstorbenen 18-jährigen sowjetischen Kriegsgefangenen, der im Institut für Pathologie der Universität Heidelberg obduziert und nach hygienisch-bakteriologischen Methoden zielgerichtet un55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Karl Roelcke/Bartram (1939/40), S. 301 f. Karl Roelcke: Resistenz (1940), S. 452, 454. Karl Roelcke: Resistenz (1940), S. 453. Karl Roelcke: Bacterium (1940). Karl Roelcke/Neuberger (1941), S. 646. Vergleichbares Ergebnis für Freiburg/Brsg. bei Bautz (1940/42). Karl Roelcke (1941), S. 82. Karl Roelcke: Voraussetzungen (1942), S. 233. Karl Roelcke: Voraussetzungen (1942), S. 240. Karl Roelcke: Statistisches (1942), S. 407. Karl Roelcke (1942/43), S. 357.
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tersucht worden war.65 Die Beziehungen zwischen dem pathologischen und dem hygienischen Institut waren eng: Der Direktor der Pathologie, Alexander Schmincke (1877–1953), war ebenso wie Roelcke in der SA engagiert66, zudem wirkten beide Institute seit 1938 in DFG-Projekten zusammen67. Roelcke räumte in seinem Untersuchungsbericht ein, dass die »Menschenpathogenität des Stammes« noch nicht vollkommen bewiesen sei, weswegen weitere Forschungen erforderlich seien.68 Zusätzlich unternahm er zur Abgrenzung alle zur Verfügung stehenden Nachweismethoden, um auszuschließen, dass der Erreger nicht doch nur eine Variante bekannter Bakterien war.69 Roelcke und seine Mitarbeiter rührten die Werbetrommel, um die Bedeutung der eigenen Entdeckung in der Fachöffentlichkeit herauszustellen.70 1943 präsentierte Karl Roelcke einen umfänglichen Überblick über die Dysenterieforschung insgesamt sowie über die eigenen Arbeiten.71 Dabei ging er auch auf die zeitgenössischen Versuche zur Immunisierung ein und riet zur »Verfütterung« des Erregers an Geisteskranke.72 Er selbst habe diesbezüglich bereits Studien durchgeführt und unter anderem einen von Rodenwaldt entwickelten Impfstoff erfolgreich eingesetzt. Die dabei aufgetretenen Nebenwirkungen versuchte er als »psychisches Moment« herunterzuspielen.73 Insgesamt setzte Roelcke in der Behandlung aber nicht allein auf die Wirkung eines Serums, sondern auf eine umfängliche Prophylaxe und im Falle von Erkrankungen auf parallel zu erfolgende diätetische Maßnahmen.74 Schlussendlich erklärte er, die Dysenterie sei an der »Heimatfront« seitens der Ärzte fest im Griff und keinesfalls seit 1939 besonders angestiegen.75 An anderer Stelle musste Roelcke jedoch einräumen, dass die Arbeit der Hygieniker darunter litt, dass nicht mehr genügend Desinfektionsflüssigkeiten zur Verfügung standen. Er empfahl daher die Anwendung selbst hergestellter Seifenmischungen.76 1944 veröffentlichte Roelcke mit einem Mitarbeiter eine Studie über eine massive Typhusepidemie, die im Oktober 1942 in Baden ausgebrochen war und bis März 1943 weder zum Erliegen kam noch von den Ärzten beendet werden konnte. Insgesamt erkrankten demnach 630 Kinder, 1.050 erwachsene Frauen und 600 65 Karl Roelcke (1942/43), S. 357. 66 Eckart (2006), S. 978. 67 BA-B, Bestand R 73, Nr. 14014, Akt Rodenwaldt, Brief Richard Teutschländers an DFG, 14.9.1938; Brief Rodenwaldts an den Bevollmächtigten für Seuchenforschung im Reichsforschungsrat, 18.12.1944. Zu den DFG-Projekten allgemein siehe Eckart (2010). 68 Karl Roelcke (1942/43), S. 366. 69 Karl Roelcke (1942/43), S. 366–372. 70 Karl Roelcke: Pathogenese (1942), S. 179; Karl Roelcke/Berdan (1942), S. 278. 71 Karl Roelcke (1943). 72 Karl Roelcke (1943), S. 33. 73 Karl Roelcke (1943), S. 94. 74 Karl Roelcke (1943), S. 115, 118. 75 Karl Roelcke (1943), S. 154. Durch diese Einlassungen beraubte sich Roelcke aber auch jeder Möglichkeit der Einwerbung von Drittmitteln seitens der DFG und des Reichsforschungsrates, da diese nur noch explizit »kriegswichtige« Projekte förderten, siehe Flachowsky (2008), S. 262; Flachowsky (2010), S. 63. 76 Karl Roelcke/Reichel (1943/44), S. 678.
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Männer.77 Letztendlich schien die mangelhafte Kanalisation die Hauptursache gewesen zu sein.78 Stellten sich bei Karl Roelcke im Laufe des Krieges Zweifel am »Endsieg« und der Effektivität der eigenen Arbeit ein? Die durch Bombenangriffe verursachte Zerstörung der Infrastruktur in den Großstädten und der so begünstigte Ausbruch von Seuchen konnten ihm kaum verborgen geblieben sein.79 Roelcke verrichtete unverdrossen seine Arbeit, offenbar zur vollsten Zufriedenheit des Regimes. Im April 1944 wurde ihm nämlich das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ohne Schwerter verliehen. Gleichzeitig avancierte er zum Sanitäts-Standartenführer in der SA. Noch in der letzten Dekanatssitzung der Heidelberger medizinischen Fakultät am 17. Januar 1945 wurde seine Ernennung zum außerordentlichen Professor (ohne Bezahlung) bestimmt.80 Roelcke gehörte zu jenem Teil der Heidelberger Dozentenschaft, der sofort nach Eroberung der Stadt durch US-Truppen und noch vor der Gesamtkapitulation der deutschen Streitkräfte seiner Posten enthoben wurde.81 Sogleich begann er an seiner Rehabilitierung zu arbeiten. Er betonte am 19. Mai, gerne und häufig mit jüdischen Kollegen zusammengewirkt zu haben. Außerdem attestierten ihm Freunde und Bekannte eine in höchstem Maße angegriffene Gesundheit.82 Die Besatzungsbehörden zeigten sich davon nicht überzeugt und verbrachten ihn in verschiedene Internierungslager. Die dort herrschenden Versorgungsbedingungen führten zu einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, wie Roelcke beklagte. Gleichwohl sei er nicht geflohen, da er »ein vollkommen reines Gewissen« habe.83 Im Vertrauen auf die Persönlichkeit Adolf Hitlers habe ich meine Pflicht getan. Der Mißbrauch dieses Vertrauens (dauernder Hinweis auf den Einsatz neuer Waffen, die die »geschichtliche Wende« herbeiführen sollten), das nutzlose Opfer zahlloser Menschen, das Versagen der Führung, die unmenschliche Behandlung politischer Gegner und Juden in den Konzentrationslagern, von der ich erstmals während meiner Haft durch glaubwürdige, ehemalige K. Z.-Lagerinsassen erfuhr, u. a. haben zu einer Krise und Wandlung meiner Anschauungen geführt.84
Die Entscheidungsträger der bereits im August 1945 wiedereröffneten Universität Heidelberg hatten ab Januar 1946 die Möglichkeit, belastete, jedoch für die Aufrechterhaltung des Wissenschaftsbetriebes notwendige Mitarbeiter bevorzugt entnazifizieren zu lassen.85 Doch anstatt Karl Roelcke zu benennen, 77 78 79 80 81 82 83 84 85
Karl Roelcke/Machleid (1944), S. 43. Karl Roelcke/Machleid (1944), S. 45. Reinisch (2013), S. 198, 273. Eckart (2012), S. 257. Remy (2002), S. 118. Zur Einstellung der Professorenschaft zur Entnazifizierung siehe Tent (1996). UA, PA 1135, Lebenslauf vom 19.5.1945, Attest von Ilse Krieck. UA, PA 1135, Lebenslauf vom 19.5.1945, Entnazifizierung. UA, PA 1135, Lebenslauf vom 19.5.1945, Entnazifizierung. UA, B-3029/20, Spruchkammer-Anfragen 1945–1950, Mitteilung der amerikanischen Militärregierung an die Universität Heidelberg, 2.1.1946. Zur Wiedereröffnung der Universität siehe Wolgast (2001), S. 291.
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landete er auf der Liste der »ausgeschiedenen« Dozenten.86 Roelckes Arbeit als Leiter des Medizinaluntersuchungsamtes wurde offenbar als entbehrlich angesehen und er selbst nicht als würdig erachtet, am Neuaufbau der Universität zu partizipieren. Nach langer Internierungshaft wurde er schließlich im Oktober 1947 als »minderbelastet« entnazifiziert und im Januar 1949 als »Mitläufer« eingestuft.87 In den Akten des Nürnberger Ärzteprozesses wird er nur kurz erwähnt. Man klagte ihn dort weder an noch lud man ihn als Zeuge.88 In demselben Jahr, in dem die Bundesrepublik gegründet wurde, wandte er sich an Rodenwaldt, der die Entnazifizierung bereits hinter sich gebracht hatte und wieder an der Universität Heidelberg lehrte, mit dem Hinweis: »Meine wissenschaftliche Laufbahn wurde 1945 infolge einer formalen politischen Belastung unterbrochen.« Roelcke pochte also auf seine erneute Bestallung als Universitätsdozent.89 Im März 1949 versicherte Rodenwaldt dem Dekan der medizinischen Fakultät, er würde Roelcke sogleich als Assistenten wieder beschäftigen, wenn eine Planstelle frei würde.90 Doch wenige Tage später schrieb Rodenwaldt wiederum an den Dekan: »Im Anschluss an unsere telefonische Unterhaltung teile ich Ihnen mit, dass Herr Roelcke Ihrem Rat folgend, darum bittet, sein Gesuch zunächst zurückzustellen.«91 Obwohl sich auch die Dozentenschaft der medizinischen Fakultät umgehend für Roelckes Wiedereinstellung verwandte, erfolgte diese nicht.92 Letztmalig betonte Roelcke in einem Schreiben von Ende Dezember 1953 seinen Anspruch auf Wiedereinstellung und forderte die Wahrung seiner Rechte auf Erhalt einer Dozentur.93 Doch dazu kam es nicht. Er blieb Leiter seines eigenen Labors. Um nachzuvollziehen, warum Roelcke eine wissenschaftliche Karriere verschlossen blieb und welche Bedeutung er für die zeitgenössische Hygiene und Bakteriologie hatte, ist es notwendig, die Forschungen seiner Kollegen im In- und Ausland mit seinen eigenen zu vergleichen.
86 87 88 89 90 91 92 93
UA, B-3029/13, Rektorat an Landesverwaltung Baden, 8.1.1946. UA, PA 1135, Brief Roelckes an Rodenwaldt, 21.2.1949. Dörner/Linne (1999), Fiche Nr. 211, Signatur 04/271. UA, PA 1135, Brief Roelckes an Rodenwaldt, 21.2.1949. UA, PA 1135, Brief Rodenwaldts an das Dekanat, 14.3.1949. UA, PA 1135, Brief Rodenwaldts an das Dekanat, 19.3.1949. UA, PA 1135, Entschließung der Dozentenschaft, 2.5.1949. UA, PA 5494, Brief Roelckes an die Universität Heidelberg, 30.12.1953; Kenntnisnahme durch das Ministerium, 5.1.1954. Roelcke war nicht der einzige prominente Angehörige der medizinischen Fakultät, der seine wissenschaftliche Karriere nicht fortsetzen konnte. Am bekanntesten war der ehemalige Dekan und NS-Wissenschaftsfunktionär Johann Daniel Achelis (1898–1963), der nach 1945 Manager bei der Pharmafirma C. F. Boehringer wurde, siehe Neumann (2006), S. 692.
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Karl Roelckes wissenschaftliche Leistung im Kontext der zeitgenössischen Forschung Die Beschäftigung mit der »Ruhr« bzw., dem internationalen Sprachgebrauch folgend, der Dysenterie, war seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung für die deutschsprachige Bakteriologie und Hygiene gewesen. An deutschen Hochschulen bzw. Forschungsinstituten tätige Gelehrte leisteten wichtige Beiträge zur Identifizierung bzw. Diagnose der bakteriellen Erreger.94 Als Kontrollinstitution fungierte im Hintergrund das Reichsgesundheitsamt.95 In der Arbeit seiner Mitarbeiter vermischten sich frühzeitig die Bereiche von Bakteriologie und Hygiene.96 Viele Forscher glauben an die Existenz eines stabilen (statischen) Bakteriums, doch gerade am Beispiel der Dysenterie-Erreger sollte diese Einschätzung schon vor 1914 in Zweifel gezogen werden.97 Aufgrund der Erfolge im Kampf gegen die Dysenterie in Deutschland98 und der lediglich aus den Kolonien bekannten Epidemien99 glaubten führende Ärzte, auch im Kriegsfall die Krankheit kontrollieren zu können. Diese Einschätzung erwies sich bereits nach wenigen Monaten als fataler Irrtum.100 Die Mortalität betrug bisweilen 50 Prozent, und die Erkrankten litten unter Langzeitschäden.101 Der Dysenterie maß man gleichwohl weniger Bedeutung zu als dem Typhus, an dem deutsche Ärzte rassistische und insbesondere antisemitische Klassifizierungsmuster erprobten.102 Letztendlich versagten alle Prophylaxe- und Behandlungsmethoden, die einem starren Muster zur Beurteilung der bakteriellen Erreger folgten. Aus Sicht vieler deutscher Gelehrter gab es insgesamt vier Ruhrerreger: Shiga-Kruse-Bazillus, SchmitzBazillus, Flexner-Gruppe und Kruse-Sonne-Bazillus.103 Es gab jedoch auch Forscher, die Shiga-Kruse-Ruhrbazillen, Kolitisbazillen (Flexner-/Y-Stämme) und kolitisähnliche Erreger unterschieden.104 Eine einheitliche Terminologie konnte erst nach 1945 endgültig erzielt werden. Das Versagen der Wissenschaftstheorie und die Schwierigkeiten der Begriffsfindung sind bei sämtlichen Parteien des Ersten Weltkrieges anzutreffen. Deswegen kamen zahlreiche Forscher in den 1920er Jahren anstelle monokausaler zu multikausalen Begründungen für Ausbruch und Verlauf von Seuchen. Dieses neue Weltbild konterkarierte die Einschätzung führender deutscher 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Mochmann/Köhler (1984), S. 271–276. Hüntelmann (2008), S. 189. Hüntelmann (2008), S. 361. Berger (2009), S. 161. Vögele (2001), S. 112. Eckart (1997), S. 389. Eckart (2014), S. 173. Konrich (1943), S. 130 f. Eckart (1996), S. 306; Weindling (1996), S. 235; Weindling (2000), S. 83–86; Weindling (2007), S. 367, 370. Damit unterschieden sie sich von der österreichisch-ungarischen Militärärzteschaft, deren Angehörige bereits vor 1914 Ausrottungskampagnen gegen die Dysenterie in Bosnien-Herzegowina gestartet hatten; siehe Fuchs (2011), S. 65. 103 Shiga (1933/34), S. 9. 104 Rupilius (1933), S. 1484.
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Forscher der Vorkriegszeit und fand insbesondere nach 1933 in Deutschland keine Beachtung mehr.105 Stattdessen bemühten sich die deutschen Hygieniker, jede neue Erregerform in die bestehende Nomenklatur und bakteriologische Theorie einzuordnen. Hiervon war insbesondere die E-Ruhr betroffen, deren zunehmende Verbreitung seit Mitte der 1920er Jahre große Beachtung fand.106 Die Frage, welche Ursachen dafür verantwortlich sein könnten, dass ein neuer Erreger aufzutauchen vermochte, obwohl die Vorbeugemaßnahmen immer weiter perfektioniert wurden, stellte man nicht. Eine Hinterfragung der Konsequenzen des eigenen Handelns war im Denken der deutschen Bakteriologen und Hygieniker nicht vorgesehen. Selbstkritik an früheren Einschätzungen äußerte auch Karl Roelcke nur, um auf diese Weise weitere eigene Forschungen über die Dysenterie begründen zu können.107 Aufgrund seiner monokausalen Arbeitsweise entgingen ihm gleichzeitig zentrale Probleme der eigenen Analyse. Beispielsweise übersah er, dass die unterschiedlichen Nährböden, die in der deutschen Hygiene zur Züchtung von Erregerstämmen benutzt wurden, eine Vergleichbarkeit der Untersuchungen faktisch verunmöglichten. Hierüber wurde in der deutschen Forschung zwar eifrig diskutiert108, aber die Konsequenzen für die eigene Arbeit erst nach 1945 bedacht109. Roelcke selbst profitierte schlussendlich von dieser Neubewertung der Nährböden, denn die Universitätsinstitute lagerten entsprechende Untersuchungen in der Folgezeit an Speziallabore (z. B. an das von Karl Roelcke) aus.110 Der Grund für Roelckes Ausscheiden aus der universitären Wissenschaft nach Kriegsende lag nicht nur in seiner tiefen Verstrickung in die nationalsozialistische Wissenschaftsgesellschaft, sondern auch in einer fachinternen Niederlage begründet, die seinen Ruf als Laborforscher beschädigte. Seit 1942 hatte er die Existenz eines neuen Erregers behauptet und diesem zentrale Bedeutung für Krankheitsverläufe und Therapieanstrengungen zugebilligt. Doch Ende 1949 bewies der Bonner Bakteriologe Heinz Seeliger (1920–1997), dass Roelckes Erregerstamm identisch mit dem MadampensisErreger war und keinesfalls eine Neuentdeckung darstellte.111 Das Fundament, auf dem Roelcke seine Rolle als wegweisender Forscher errichtet hatte, brach gerade in den Monaten zusammen, als er sich um eine Wiederanstellung an der Universität bemühte. Seine vormaligen Kollegen übernahmen umgehend die Klassifizierungen ihrer angloamerikanischen Kollegen, die im »Bergey’s Manual« zusammengefasst waren und die Forschungsarbeiten von Rodenwaldts Schule unberücksichtigt ließen.112 Wenige Jahre später zeigte Seeliger 105 Mendelsohn (2007), S. 243, 276 f. 106 Elkeles/Schneider (1926); Elkeles (1929); Sartorius (1929); Weigmann (1933); Fromme (1935). Einordnung bei Boecker (1941), S. 127 f.; Gärtner (1942), S. 65 f. 107 Karl Roelcke: Ergebnisse (1940). 108 Kauffmann (1934); Wedemann (1938/39); Hottche/Minek (1940). 109 Bingel (1947/48); Özek (1951/52); Biechteler (1952). 110 Bader (1949), S. 283. 111 Seeliger (1949/50), S. 496. 112 Breed/Murray/Hitchens (1948). In der Ausgabe von 1954 bezogen sich die Autoren kurz auf Roelckes Fehler bei der Zuordnung des Erregers, siehe Edwards/Ewing (1954), S. G2.
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am Beispiel von Flexnerbakterien auf, dass die von Roelcke für seinen Erreger als Alleinstellungsmerkmal benannte Umwandlung von der einen in die andere Erscheinungsform häufig das Ergebnis unsauberer Laborbedingungen war.113 Damit war Roelckes Ruf als Forscher endgültig ruiniert. Seine ideologisch motivierten Einschätzungen über die Beherrschbarkeit der Dysenterie in den Jahren nach 1939 enttarnten andere Forscher als unwahr. So räumte beispielsweise der Direktor des hygienischen Instituts der Universität Jena, Stefan Winkle (1911–2006), 1949 ein, dass 1943 bis 1944 an verschiedenen Orten in der Mark Brandenburg Dysenterie-Epidemien aufgetreten waren, denen die Ärzteschaft weitgehend hilflos gegenüberstand.114 Selbst innerhalb Berlins, in der Machtzentrale der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße, war die SS offenbar nicht in der Lage, den Ausbruch von Dysenterie zu unterbinden.115 Ein Kollege Winkles zog die Effektivität der bakteriologischen Nachweisverfahren und damit von hygienischen Untersuchungsämtern erstellte Statistiken grundsätzlich in Zweifel.116 Nach 1945 versagten die Kontroll- und Behandlungsmechanismen angesichts des Flüchtlingselends.117 Für deutsche Hygieniker und Bakteriologen war vor 1945 bereits das Versagen der eigenen Methoden an der Front und im Hinterland sichtbar gewesen. In den Gettos für Juden und in den Konzentrationslagern grassierte die Ruhr.118 Auch in den besetzten Ländern wie Dänemark und den Niederlanden häuften sich ab 1942 Epidemien.119 Der Sanitätsdienst der Wehrmacht – bereits im »Polenfeldzug« viel zu langsam für den »Blitzkrieg« und nach 1942 mit den Anforderungen des »Russlandfeldzuges« restlos überfordert120 – befleißigte sich in der Beschönigung der Statistiken, um das totale eigene Versagen zu kaschieren121. Allenfalls »unspezifische Durchfälle«, nicht aber »Dysenterie/Ruhr« wurden an vorgesetzte Dienststellen gemeldet.122 Versuche mit einem Impfstoff begannen 1942 und endeten ohne durchschlagenden Erfolg.123 Im Falle einer prekären Nachschublage mussten sich die Soldaten meist untereinander helfen, da der Sanitätsdienst versagte.124 Der Misserfolg von Spitzenvertretern der deutschen Bakteriologie musste umso bizarrer erscheinen, als man offenbar aus den negativen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges (gescheiterte Therapieprogramme, vergebliche Hygienemaßnahmen und totaler Kontrollverlust im Laufe des Krieges) nicht das Geringste gelernt hatte. Selbstkritik jeder Art lag den Hy113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
Seeliger (1951), S. 251. Andeutung zuvor bei Boecker (1948), S. 17. Winkle (1949), S. 4, 18. Autobiographische Erinnerung bei Sahm (1994), S. 79. Kudicke (1948), S. 30. Henze (1959/60), S. 141. Siehe auch Woelk (2002), S. 287 f.; Reinisch (2013), S. 198. Weindling (1989), S. 552; Löw (2006), S. 156. Futselaar (2008), S. 29, 57 f. Ring (1962), S. 297; Guth (1990), S. 15; Eckart (1990), S. 103. Leven (1997), S. 136. Leven: Quellen (1990), S. 26; Neumann (2005), S. 216 f. Siehe vor allem Sanitätsakademie der Bundeswehr, München, Bibliothek, Müller (1949), S. 17, 44. 123 Leven: Fleckfieber (1990), S. 129; Leven (1994), S. 87, 90. 124 Eckart (2012), S. 382. Autobiographischer Bericht bei Hirschle (2011), S. 97 f.
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gienikern und Bakteriologen fern – weshalb die vehementesten Vertreter dieser Lehren nach 1945 ohne Chance auf die Fortsetzung ihrer Karrieren waren, es sei denn, sie hatten auf anderen Gebieten derartige Forschungsleistungen erbracht, dass sie ihre Irrtümer aufwogen. Dies war bei Ernst Rodenwaldt der Fall, nicht aber bei Karl Roelcke. Rodenwaldt hatte nicht nur frühzeitig vor der Gefahr durch Ruhr im Kriege gewarnt125, sondern sich in den Jahren nach 1945 auch von seinem früheren engsten Mitarbeiter, der sich für einen Dysenterie-Experten hielt, abgesetzt. Anstelle Roelckes berief Rodenwaldt 1951 Helmut Jusatz (1907–1991) in die von ihm an der Heidelberger Akademie der Wissenschaft initiierte »Geomedizinische Forschungsstelle«, obwohl Roelcke durch seine Habilitationsschrift seine Nähe zur »Geomedizin« unter Beweis gestellt hatte.126 In seinen 1957 erschienenen Memoiren erwähnte Rodenwaldt Roelcke mit keiner Silbe.127 Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Berlin (BA-B) – Bestand R 73, Nr. 14014 – Bestand SA 4000003248, 51 Reihe 44 Sanitätsakademie der Bundeswehr, München, Bibliothek – Müller, Hans: Die ansteckenden Krankheiten im deutschen Heer während der ersten 4 Kriegsjahre 1.9.1939–31.8.1943. (=Medical Project 15) Minden 1949 (Sign.: 3044) Stadtarchiv Heidelberg/Bürgeramt Heidelberg Mitte – Sterberegister Stadtarchiv Kiel – Meldekartei Universitätsarchiv Heidelberg (UA) – B-3029/13, B-3029/20 – PA 1135, PA 5494
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 34, 2016, 73–110, FRANZ STEINER VERLAG
Geschlechterbilder in der Gesundheitsaufklärung im deutsch-deutschen Vergleich (1949–1990) Jenny Linek und Pierre Pfütsch Summary Gender images in health education: a comparison between East and West Germany (1949–1990) This essay takes a closer look at the shared traditions as well as separate developments in health education in both German states, based on the circulated gender images. Health education is a rewarding field of investigation because its materials not only convey information on the prevention of sickness or the cultivation of healthy lifestyles; they also – implicitly or explicitly – carry social key messages such as ideas regarding femininities and masculinities or the tasks and functions allocated to women and men within and outside the family. The fact, for instance, that women in East Germany were expected to be part of the labour force as early as the 1950 s, whereas their Western counterparts were expected to stay at home and look after the family, had an effect on health education. The question as to the normative images of femininity and masculinity is therefore at the centre of our inquiry. The sources used are health education publications and popular health magazines from both Germanies. Based on the parameters ‘Home and Family’, ‘Work and Performance’, ‘Attractiveness and Outer Appearance’, the ideas of femininity and masculinity, as portrayed in the health propaganda in East and West, are presented and compared. Analysis of these parameters shows that the gender images, while they coincided in some respects, also evolved in different ways in others, or that entirely different intentions were concealed behind the promotion of similar principles. Many of the guiding images discussed show how the two German states perceived each other. While there were attempts at dissociating from the other state entirely, there were also developments that seem to indicate that they referred to one another to a certain extent.
Einleitung Deutsch-deutsche Vergleiche erfreuen sich derzeit auch in der Zeitgeschichte der Medizin großer Beliebtheit. Oftmals stehen dabei die Unterschiede im Fokus des Vergleichs, obschon sich auch viele Gemeinsamkeiten zwischen BRD und DDR feststellen ließen. Ein Feld, auf dem beispielsweise der gemeinsame Sozialisationshintergrund der DDR- und BRD-Bevölkerung verdeutlicht werden kann, ist die Geschlechtergeschichte. Hier zeigt sich, dass sich gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen viel langsamer vollzogen haben, als es die politische Geschichte suggerierte, und Mentalitäten nicht einfach durch eine politische Systemveränderung überschrieben werden konnten.
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Um sowohl gemeinsame Traditionslinien als auch eigenständige (Auseinander-)Entwicklungen zu verdeutlichen, eignet sich in Bezug auf die Geschlechterthematik der Bereich der Gesundheitsaufklärung im Besonderen. Materialien der Gesundheitserziehung dienen nicht nur der Informationsvermittlung zur Verhütung von Krankheiten oder zur Förderung einer gesunden Lebensweise, sondern sie transportieren implizit oder explizit ebenfalls gesellschaftsrelevante Kernbotschaften, wie zum Beispiel Vorstellungen über Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) sowie die Aufgaben und Funktionen, die Frauen und Männern im familiären und außerfamiliären Kontext jeweils zugedacht wurden. Im vorliegenden Aufsatz wird der Frage nachgegangen, welche normativen Geschlechterleitbilder in der Gesundheitsliteratur der BRD und der DDR vermittelt wurden und wie sich diese im Laufe der Zeit wandelten. Waren Frauen in beiden Staaten auch nach 1945 weiterhin die Hauptadressaten der Gesundheitsaufklärung? Wurden Männer als eigenständige Zielgruppe wahrgenommen? Welche Gesundheitspraktiken wurden eher Männern, welche speziell Frauen zugedacht? Anhand der Parameter »Haushalt und Familie«, »Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit« sowie »Attraktivität und Aussehen« sollen die Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen der Gesundheitspropaganda in Ost und West dargestellt und miteinander verglichen werden. Dabei wird auch die Frage nach der Bezugnahme auf die Geschlechtervorstellungen des jeweils anderen deutschen Staates bzw. der bewussten Abgrenzung von diesen aufgeworfen. Forschungsstand und Quellenmaterial Spätestens seit dem Erscheinen des Sammelbandes zum präventiven Selbst wurden historische Arbeiten zum Thema Prävention auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft diskutiert.1 Doch bereits die Arbeiten von Sigrid Stöckel und Ulla Walter zeigten das Potential einer Kulturgeschichte der Prävention im 20. Jahrhundert.2 Schon vor 25 Jahren arbeiteten Thomas Elkeles, Jens-Uwe Niehoff, Rolf Rosenbrock und Frank Schneider die zentralen Motive für gesundheitsfördernde Maßnahmen der beiden deutschen Staaten heraus und verorteten sie in ihrer ideologischen Eingebundenheit in der Zeit des Kalten Krieges.3 Während sich diese Untersuchungen vornehmlich noch auf die Analyse bestimmter Kulturräume beschränkten, entstehen derzeit einige Arbeiten, die mit dem Vergleich als Methode operieren.4 Allen voran sind hier die Studien von Malte Thießen zum Impfen zu nennen. Thießen 1 2 3 4
Lengwiler/Madarász (2010). Stöckel/Walter (2002). Elkeles u. a. (1991). Insbesondere Fragestellungen aus den Bereichen der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte scheinen ergiebig für vergleichsgeschichtliche Arbeiten, was z. B. der Sammelband von Fraunholz/Hänseroth (2012) zu den deutsch-deutschen Innovationskulturen zeigt.
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versteht Impfen als eine Sozial- und Kulturtechnik der Moderne, die in den beiden deutschen Staaten eine unterschiedliche Entwicklungsgeschichte nahm und auch das Verhältnis zwischen Individuum und Staat sichtbar macht.5 Henning Tümmers nimmt das Aufkommen von Aids in den 1980er Jahren zum Anlass, um nach den unterschiedlichen bzw. auch ähnlichen Strategien von BRD und DDR zur Bekämpfung dieser Krankheit zu fragen.6 Dabei kann er zeigen, wie in der Gesundheitsaufklärung konkret gearbeitet wurde. Diese und deren Institutionalisierung stehen im Fokus des Interesses von Christian Sammer, der am Beispiel des Deutschen Gesundheits-Museums und des Deutschen Hygiene-Museums untersucht, wie aus verflechtungsgeschichtlicher Perspektive Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen Staaten verstanden und durchgeführt wurde.7 Die Kategorie Geschlecht legt Jeannette MadarászLebenhagen ihren Forschungen zur Geschichte der Prävention von kardiovaskulären Krankheiten in Ost- und Westdeutschland zugrunde.8 Während sich Madarász-Lebenhagen aber vorrangig mit den Geschlechterbildern in medizinischen, wissenschaftlichen und politischen Präventionsdiskursen beschäftigt, soll es hier verstärkt um die Geschlechterleitbilder gehen, welche die Gesundheitsaufklärung hervorgebracht hat und die damit den Bürgern ganz konkret als Vorbilder dienen sollten. Als Quellenbasis dienen vorrangig Veröffentlichungen, da es genau diese waren, die die Bürger erreichen und auf sie einwirken sollten. Dazu zählen in erster Linie Medien der staatlichen Gesundheitsaufklärung. Für die BRD sind das allem voran die Publikationen des Deutschen Gesundheits-Museums e. V. (DGM), welches 1967 zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) umgewandelt wurde. Insgesamt wurden 169 Veröffentlichungen gesichtet und ausgewertet.9 Unsere Quellenbasis für die DDR hingegen sind die Publikationen des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (DHMD), welchem eine zentrale Rolle in der Gesundheitsaufklärung der DDR zukam. Aus der großen Fülle an Broschüren, Merkblättern und Plakaten, die das DHMD produzierte, wurde die Schriftenreihe »Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung« (seit 1958 als »Kleine Gesundheitsbücherei« fortgesetzt) für die Analyse ausgewählt. Bei dieser »Grünen Reihe« handelte es sich um kleine, preiswerte, von Wissenschaftlern allgemeinverständlich verfasste Broschüren für die breite Masse der Bevölkerung. Von 1952 bis 1969 erschienen 96 Bände
5 6 7 8 9
Thießen (2016), Thießen (2015) und Thießen (2013). Tümmers (2013). Sammer (2013). Madarász-Lebenhagen (2015), Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013) sowie Madarász (2010). Ein Großteil dieser Publikationen konnte im hauseigenen Printmedienarchiv der BZgA eingesehen werden. Da jedoch bis vor wenigen Jahren keine systematische Sammlung stattfand, ist davon auszugehen, dass dies längst nicht alle erschienenen Veröffentlichungen sind. Dennoch erlaubt es diese hohe Zahl, verlässliche Aussagen über die Geschlechterleitbilder zu treffen.
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zu einer großen Themenbreite gesundheitlicher Aspekte (im Jahr 1964 zum Beispiel in einer Auflage von 420.788).10 Des Weiteren wurden auch Zeitschriften in die Analyse miteinbezogen, da davon auszugehen ist, dass auch diese eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Leserschaft ausübten. Innerhalb der Untersuchung zu Westdeutschland wurde die Zeitschrift Apotheken-Umschau ausgewertet. Die Apotheken-Umschau erschien erstmalig 1956 im Wort & Bild Verlag in einer Auflage von je 50.000 Exemplaren pro Ausgabe und entwickelte sich seitdem schnell zu einem wichtigen Medium in Gesundheitsfragen für die Bürger.11 Heute beträgt ihre Auflage über 21 Millionen; damit ist sie hinter der ADAC motorwelt die Zeitschrift mit der zweithöchsten Auflage in Deutschland.12 Die für die DDR analysierte Zeitschrift Deine Gesundheit 13 wurde seit 1955 herausgegeben. Die monatliche Auflage belief sich in den 1970er Jahren auf 350.000 Exemplare. Aufgrund des begrenzten Papierkontingents gelang es nicht, diese Höhe der Auflage zu überschreiten, obwohl die Nachfrage auf 500.000 stieg.14 Die Zeitschrift war deshalb so begehrt, weil sie die sozialen Hintergründe des Gesundheitsverhaltens und der Lebensweisen der Bürgerinnen und Bürger beleuchtete und folglich zu den ganz wenigen Foren gehörte, in denen relativ offen über die Alltagssorgen der Menschen diskutiert werden konnte.15 Geschlechterleitbilder in der Gesundheitsaufklärung vor 1949 Gesundheitsliteratur fokussierte sich seit dem 18. Jahrhundert vorwiegend auf die weibliche Bevölkerung.16 Im Zuge der Volksaufklärung wurden Frauen zunächst als Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende adressiert. Die Kompetenzen für die Erziehung der Kinder und die Gesundheitspflege in der Familie wurden quasi zu ihrem ›Beruf‹ erhoben.17 Ärztliche Ratgeber wiesen sie auf ihre Verantwortung für die eigene Gesundheit und für die des Säuglings hin.18 Im Zuge der öffentlichen Gesundheitspflege und der Kampagnen zur 10 11 12 13
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Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 36. Vgl. Schulz (2012). Vgl. Schulz (2012). Auch wenn die tatsächliche Lesequote unbekannt bleibt, kann die hohe Auflage als sicherer Hinweis darauf gelten, dass die Inhalte der Zeitschrift von einem großen Teil der Bevölkerung wahrgenommen werden. Die Zeitschrift erschien zwischen 1955 und 1993, zunächst zweimonatlich, ab 1960 monatlich. In den ersten Jahren fungierte das Deutsche Hygiene-Museum als Herausgeber, ab 1972 dann das Nationale Komitee für Gesundheitserziehung. Die Zeitschrift wurde für den durchgängigen Verkaufspreis von 50 Pfennig im freien Handel vertrieben. Vgl. Lämmel (1999), S. 124. Vgl. Mühlberg (1992), S. 49. Diese Offenheit setzte allerdings erst in den 1970er Jahren ein. Dass in den Anfangsjahren der Zeitschrift noch ein anderer Geist herrschte, wird im Abschnitt zur DDR-Gesundheitspropaganda in den 1950er und 1960er Jahren deutlich werden. Vgl. Dinges (2009), S. 22. Genauer dazu: Sachße (2003). Vgl. Dinges (2007), S. 310 f.
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Etablierung hygienischer Verhaltensstandards in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam als weiteres Aufgabenfeld die Vermittlerrolle bei der Reinlichkeitserziehung hinzu. Als »Hüterin von Heim und Herd«19 sollten Mütter und Hausfrauen, aber auch heranwachsende Mädchen fortan ebenso für die ›Hygienisierung‹ des Haushalts, d. h. des Wohnens, Schlafens, Kleidens, Pflegens, Kochens etc., zuständig sein. In eigens zu diesem Zweck verfasster Erziehungsliteratur wurden sie von Hygienikern, Medizinern, Gesundheitspolitikern, Lehrern, Philanthropen und Geistlichen diesbezüglich angeleitet.20 Männer waren demgegenüber sehr viel weniger und nur bei bestimmten Themen Adressaten der Gesundheitspropaganda: So rückten sie beim Arbeitsschutz und hier insbesondere bei der Unfallverhütung in den Blickpunkt.21 Insbesondere das Thema Alkoholismus galt als ein rein männliches Problem, so dass Anti-Alkohol-Kampagnen sich ausschließlich auf Männer bezogen.22 Im 18. und 19. Jahrhundert orientierte sich die Gesundheitserziehung also nicht ausschließlich an den medizinischen Bedürfnissen der Menschen, sondern vermittelte häufig soziale und moralische Wertvorstellungen (des Bürgertums)23. Frauen wurden in erster Linie in ihrer Funktion als Gebärende adressiert – die Gesundheit der Frauen selbst blieb dabei jedoch weitgehend unbeachtet.24 Männer wurden nur in beruflicher Hinsicht und beim Sexualverhalten mit Gesundheitspraktiken in Zusammenhang gebracht. Hintergrund dafür war die seit dem 18. Jahrhundert übliche Überbetonung der biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und deren Umdeutung in soziale Verschiedenartigkeiten.25 Insbesondere die ›weibliche Sonderanthropologie‹ wurde langfristig verankert und ins Feld geführt, um die als passiv und emotionsgeleitet geltenden Frauen an Haus und Herd zu binden und sie an ihre Fürsorgepflichten für die Familie zu erinnern. Männer hingegen wurden aufgrund der ihnen zugeschriebenen Aktivität und Energie dem öffentlichen Raum zugeordnet.26 Man legte sie demzufolge auf Vollerwerbstätigkeit, aber auch Härte und Risiko fest. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert wurden Frauen dann zunehmend professionelle Akteure und nicht mehr nur Objekte der Gesundheitsfürsorge.27 In 19 Heller/Imhof (1983), S. 153. 20 Vgl. Heller/Imhof (1983), S. 152 ff. Auch Manuel Frey, der sich mit der Etablierung der Tugendnorm der Reinlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert befasst hat, sieht die Frauen als Hauptadressaten der Reinlichkeitserziehung. Er erwähnt jedoch, dass auch die männliche Jugend in Manierenbüchern und Erziehungsanstalten auf den Nutzen der Reinlichkeit als Mittel zur Stärkung und Leistungsfähigkeit und somit als unabdingbare Voraussetzung für das Bestehen im Berufsleben hingewiesen wurde; vgl. Frey (1997), insbesondere S. 172–183. 21 Vgl. Dinges (2007) sowie Knoll-Jung (2015). 22 Vgl. Hauschildt (1995), S. 24. 23 Zur bürgerlichen Prägung des Hygiene- und Gesundheitsdiskurses siehe u. a. Frey (1997) und Frevert (1985). 24 Vgl. Dinges (2007), S. 312. 25 Vgl. Dölling (1991), S. 245. 26 Vgl. Budde (2008), S. 66. 27 Vgl. Schleiermacher (1998), S. 49.
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der Sozialarbeit und Krankenpflege sowie im Öffentlichen Gesundheitsdienst des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, speziell in Beratungsstellen oder in der Schulgesundheitspflege, erwarben sich Schwestern und Ärztinnen einen festen Platz. Hier wirkten sie hinsichtlich sozialhygienischer und fürsorgerischer Belange als Vertraute und Erzieherinnen– vorrangig für Patientinnen.28 Seit den 1920er Jahren spielte erb- und »rassehygienisches« Gedankengut verstärkt eine Rolle in der Gesundheitserziehung. Die Nationalsozialisten adressierten insbesondere die Frau in ihrer Rolle als Mutter und »Produzentin des Lebens«.29 Der weibliche Körper wurde als heilig und besonders schutzbedürftig angesehen. Frauen wurde daher beispielsweise stärker vom Rauchen abgeraten als Männern. Das Nikotin sollte weder das deutsche Erbgut schädigen noch die Gebärfähigkeit der Frauen beeinträchtigen.30 Die NS-Kampagne gegen den Tabak richtete sich mit Blick auf die Arbeitskraft und Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes darüber hinaus jedoch auch an die männliche Bevölkerung.31 Geschlechterspezifische Gesundheitsaufklärung in der BRD in den 1950er und 1960er Jahren Nachdem das medizinische System in der unmittelbaren Nachkriegszeit wiederaufgebaut war, wurde auch Prävention schnell wieder zum Thema der Gesundheitspolitik. Jedoch ging es noch nicht um spezielle Inhalte, sondern zunächst vielmehr um die Frage, wie Prävention organisiert werden sollte. In einem Aushandlungsprozess, der mehrere Jahre dauerte, setzten sich in der BRD die niedergelassenen Ärzte gegenüber dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) durch. Allein das Feld der Gesundheitsaufklärung blieb vornehmlich dem Staat als Aufgabe überlassen. Mit der Gründung des DGM in Köln wurde bereits 1949 eine Institution geschaffen, die diese Aufgabe übernehmen sollte. Da sich die Art der Gründung und auch die Aufgaben, die das DGM sowohl als Lehrwerkstatt als auch als Museum übernehmen sollte, stark an das DHMD anlehnten, zeigte sich bereits hier auf organisationsbezogener Ebene eine entstehende Systemkonkurrenz.32 Insgesamt konzentrierte sich die Gesundheitsaufklärung in der BRD in den 1950er und 1960er Jahren stark auf Frauen als Zielgruppe.33
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Vgl. Schleiermacher (1998), S. 53 ff. A. G. Gender-Killer (2005), S. 33. Vgl. Proctor (2002), S. 247. Vgl. Proctor (2002), S. 250 f., sowie dazu auch Dinges (2012), S. 137 f. Vgl. Sammer (2015), S. 253. Vgl. Pfütsch (2015), S. 180 f.
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Haushalt und Familie Die care-Arbeit zählte in den 1950er und 1960er Jahren in der BRD deutlich zu den wichtigsten Aufgaben der Frau innerhalb der partnerschaftlichen Gemeinschaft. Durch konservative Politiker und Vertreter der Kirchen wurde das Ernährer-Hausfrauen-Modell als Idealbild des Geschlechterarrangements propagiert und durch Ehe-, Steuer-, Krankenversicherungs- und Rentenrecht bewusst gefördert.34 Konservative Politiker und Ärzte propagierten zudem in der Öffentlichkeit verstärkt die vermeintlich schädlichen Auswirkungen der Erwerbstätigkeit von Müttern auf ihre Kinder.35 Hinzu kam, dass die Anzahl von Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen möglichst knapp gehalten wurde. De facto veranlasste man so einen Großteil der Frauen dazu, die Aufgaben in der Kindererziehung und im Haushalt selbst zu übernehmen.36 Abb. 1: Titelblatt »Unser Kind ißt Auch in der Gesundheitsaufklärung schlecht – was tun?«, Köln 1960 wurde dieses Bild immer wieder verbreitet. So richtete sich beispielsweise das 1960 vom DGM herausgegebene Faltblatt »Unser Kind ißt schlecht – was tun?«37 (Abb. 1) mit der pluralisierenden Ansprache vordergründig sowohl an Mütter als auch Väter. Bei näherer Betrachtung der Broschüre wird jedoch schnell ersichtlich, dass sie nur an die Mutter als die für die Ernährung des Kindes zuständige Person adressiert war. Zum einen wurde ausschließlich die Mutter immer wieder direkt angesprochen, zum anderen zeigen die Abbildungen des Faltblattes nur die Mutter in der Interaktion mit dem Kind.38 34 35 36 37 38
Vgl. Dinges (2013), S. 38. Vgl. Hausen (1997), S. 29. Vgl. Hausen (1997), S. 30. Deutsches Gesundheits-Museum (1960). Die große Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung, wie sie hier ersichtlich wird, geht vorrangig auf das bürgerliche Heim des 19. Jahrhunderts zurück, in dem die Mutter zur wichtigsten Person für die Kindererziehung erhoben wurde; vgl. Lenz/Adler (2010), S. 87. Durch den öffentlichen Diskurs über die wirtschaftliche Bedeutung der Hausarbeit von Frauen innerhalb der Armenpflege zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Bild der innerhäuslich arbeitenden Frau weiter gestärkt. Die Frauenbewegung des Kaiserreichs kultivierte das Bild der Frau als Mutter, auch im übertragenen Sinne (z. B. im Beruf der Sozialarbeiterin); vgl. Dienel (1993), S. 141 f. Und auch die britische Psychoanalyse in
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Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit Wenn innerhalb der Gesundheitsaufklärung die Berufstätigkeit im Mittelpunkt stand, dann ging es damals höchstwahrscheinlich um die ›Managerkrankheit‹. Der Begriff ›Managerkrankheit‹ bezog sich ganz allgemein auf Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und wurde später auf unterschiedlichste psychosomatische Leiden angewendet.39 Als Ursache für die Erkrankung wurden die hohen Belastungen ausgemacht, denen vor allem Männer als Familienoberhaupt, Alleinernährer und Chef im Büro ausgesetzt waren.40 Hier deutet sich bereits an, dass der Terminus insbesondere auf Männer der oberen sozialen Schichten angewendet wurde. Dieser spezifisch westdeutsche Begriff hob in positiver Weise den Leistungswillen und das Verantwortungsbewusstsein einer führenden sozialen Gruppe in der Zeit des Wiederaufbaus und Wirtschaftswachstums hervor.41 Des Weiteren zeigt sich in diesem Krankheitskonzept deutlich die auf Männer bezogene Amerikanisierung des Lebens.42 Frauen waren von diesem Konzept nahezu ausgeschlossen.43 Wenn es doch in einigen wenigen Fällen auf sie angewendet wurde, dann im Sinne von Frauen als Managerinnen des Haushaltes. Trotzdem »verfestigte das Reden über die Managerkrankheit, die grundsätzlich als eine Krankheit der Männer beschrieben wurde, die auf biologischen und sozialen Differenzkonzepten beruhende Geschlechterordnung der 1950er Jahre«.44 Das DGM gab 1953 zur ›Managerkrankheit‹ gleich zwei Broschüren heraus. Während »Die Krankheit der Verantwortlichen«45 die ›Managerkrankheit‹ und ihre Spezifika näher beschrieb, zeigte »Die Manager-Krankheit lässt sich vermeiden«46 auf, wie die typischen Symptome verhindert werden konnten. Insbesondere durch die Definition des Managerbegriffes richteten sich die Broschüren vorrangig an Männer: Unter einem Manager stellt man sich einen wohlbeleibten Herrn an einem Schreibtisch größeren Formats vor, der in ständigem Kampf mit mehreren Telefonen, Diktaphonen und Sekretärinnen unter einem beachtenswerten Verbrauch von Zigarren oder Zigaretten und anregenden Getränken ein »unübersehbares« Arbeitspensum bewältigt. Konferenzen und Besprechungen füllen den Abend und kurz vor dem Einschlafen wird der Börsen-Anzeiger gelesen. Und trotz aller technischen Hilfsmittel wie Telefon, Diktaphon,
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der Nachfolge Anna Freuds wandte sich verstärkt dem Bild der Frau als Mutter zu; vgl. Zaretsky (2006), S. 277–310. Vgl. Kury (2012), S. 110. Kurys Auswertung von medizinischen Fachzeitschriften zeigt, dass sich auch die Expertinnen und Experten keineswegs darüber einig waren, welche Symptome und Krankheiten unter der Bezeichnung ›Managerkrankheit‹ zusammengefasst werden sollten; vgl. Kury (2012), S. 115. Vgl. Madarász-Lebenhagen (2015), S. 80. Vgl. Kury (2012), S. 124, sowie Kury: Selbsttechniken (2011), S. 145. Vgl. Hofer (2010), S. 13. Vgl. Kury: Zivilisationskrankheiten (2011), S. 185. Kury (2012), S. 124. Graf (1953). Kaiser (1953).
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Schreibmaschine, Sekretärin, Auto und Flugzeug hat dieser Bedauernswerte nie Zeit.47
Jedoch wurden von den Autoren Frauen nicht kategorisch von diesem Krankheitskonzept ausgeschlossen. So wiesen sie darauf hin, dass in den USA auch immer mehr Frauen an der ›Managerkrankheit‹ erkranken würden. Dies wurde auf die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, vor allem in Berufen mit hoher Verantwortung, zurückgeführt.48 Trotzdem bezogen sich die Ratschläge, die zur Vermeidung der Krankheit gegeben wurden, speziell auf die Gruppe der Männer im Alter zwischen 45 und 55 Jahren.49 Attraktivität und Aussehen Ein weiteres zentrales Motiv, welches in den Medien der Gesundheitsaufklärung in Westdeutschland immer wieder auftauchte, war das der Attraktivität. In den 1950er und 1960er Jahren war dies fast ausschließlich mit Weiblichkeit verbunden. 1954 erschien das Faltblatt »Gesund und schön durch Reinlichkeit«,50 in welchem man Abb. 2: Titelblatt »Gesund und schön Tipps zur richtigen Schönheitspflege finden durch Reinlichkeit«, Köln 1954 konnte. Auf der Vorderseite des Faltblattes war eine in ein Handtuch gehüllte Frau mit geschminktem Gesicht und frisiertem Haar abgebildet (Abb. 2). Ihr Blick wirkte positiv und glücklich, so dass bei den Leserinnen folgende Assoziationskette entstand: Schönheit führe zu Gesundheit, welche wiederum Voraussetzung für ein glückliches Leben sei. Neben der Schönheitspflege war es vor allem der Schlankheitsdiskurs, der das Leitbild der attraktiven Frau formte. Im Artikel »Verschönt Sport die Figur der Frau?«,51 der 1956 in der Apotheken-Umschau erschien, wurde für die Ausübung diverser Sportarten durch Frauen geworben: 47 48 49 50 51
Kaiser (1953), S. 17. Vgl. Graf (1953), S. 27. Vgl. Graf (1953), S. 29. Deutsches Gesundheits-Museum (1954). Apotheken-Umschau H. 6 (1956).
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Abb. 3: Titelblatt »Wer schlank ist, hat mehr vom Leben«, Köln 1959
Um sich die körperliche Spannkraft zu erhalten, sind Licht- und Sonnenbäder ideal, ist Schwimmsport ausgezeichnet, und Golf-, Tennis- sowie einige Ballspiele, Leichtathletik, und Eiskunstlauf werden, vernünftig angewandt, niemals schaden. Wir sehen also: es gibt genug sportliche Betätigungen, die die Schönheit der Frau fördern, indem sie ihr nicht nur bis ins hohe Alter hinein die Frische und Spannkraft, sondern auch ihren Körper schlank und jugendlich erhalten.52
Ziel der sportlichen Betätigung sollte es demnach sein, den Körper bis ins hohe Alter hinein schlank und jugendlich und damit schön zu halten. Auch die Veröffentlichungen des DGM propagierten das Schlankheitsmotiv. Im Jahr 1959 wurde ein Faltblatt mit dem bezeichnenden Titel »Wer schlank ist, hat mehr vom Leben« (Abb. 3) herausgegeben, welches über eine richtige Ernährung berichtete und Ratschläge zum Abnehmen gab. Auf dem Titelbild war eine schlanke Frau zu sehen, die auf einer Personenwaage stand und ihr Gewicht kontrollierte. Die Frau trug ein Kostüm, bestehend aus Blazer, Rock und Absatzschuhen, was darauf hindeutete, dass sie berufstätig war. Durch diese Darstellung wurde implizit die Aussage transportiert, schlanke Frauen hätten mehr Erfolg im Berufsleben. Diese Verbindung von Schlankheit und Erfolg wurde in den 1950er und 1960er Jahren jedoch lediglich für Frauen propagiert.53 Die uneingeschränkt positive Darstellung einer berufstätigen Frau in den 1950er Jahren überrascht an dieser Stelle. Das zeigt aber auch, dass es neben den konservativen Vorstellungen von Geschlechterleitbildern durchaus auch andere gab, die sogar in Medien der Gesundheitsaufklärung veröffentlicht wurden. 52 Apotheken-Umschau H. 6 (1956), S. 5. 53 Vgl. Thoms (2000), S. 286 f.
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Doch es muss auch die Frage gestellt werden, warum es diesen Konnex von Schlankheit und Erfolg überhaupt gab. Die Entscheidungsträger über beruflichen Erfolg waren in den 1950er und 1960er Jahren so gut wie ausschließlich Männer. Demzufolge lag es in ihren Händen, ob und, wenn ja, welche Frau eine berufliche Position bekam. Da schlanke Frauen auf die Männer attraktiver wirkten, waren sie im Vorteil. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Frauen in erster Linie dem Leitbild folgen sollten, um den Männern zu gefallen – und nicht, um ihre Gesundheit zu fördern.54 Des Weiteren fällt an dieser Darstellung auf, dass der Zusammenhang von Schlankheit und Gesundheit, zumindest für Frauen, nicht mehr explizit dargestellt werden musste. Offenbar kam es bereits zu Beginn der 1950er Jahre zu einer Naturalisierung des Schlankheitskultes für Frauen im Zusammenhang mit Gesundheit, welche sich so schnell durchsetzte, dass sie kurze Zeit später keiner Begründung mehr bedurfte. Geschlechterspezifische Gesundheitspropaganda in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) erfolgte 1945 eine völlige Neustrukturierung der Gesundheitspolitik, die sich sowohl an den deutschen Traditionslinien der Sozialhygiene als auch an sowjetischen Vorstellungen und Vorgaben orientierte.55 Zwei der grundlegenden Prinzipien des sozialistischen Gesundheitsschutzes waren die prophylaktische Orientierung und die staatliche Verantwortung für das Gesundheitswesen.56 Auch die Gesundheitsaufklärung lag in staatlicher Hand: Als Leiteinrichtung fungierte hier das traditionsreiche DHMD57, das bereits 1945 als »Institut für hygienisch-medizinische Propaganda« seine Arbeit wiederaufgenommen hatte58. Hygienische Bildung und Wissen um Krankheitsverhütung und Gesunderhaltung wurden in den allgemeinen Erziehungs- und Bildungskanon integriert: Mittels ständiger Aufklärung und Unterweisung – in der Schule, am Arbeitsplatz, in der ärztlichen Sprechstunde, in kulturellen Veranstaltungen 54 Doch nicht nur für berufstätige Frauen war die Wirkung auf Männer wichtig. Auch von den Hausfrauen wurde zunehmend erwartet, dass sie neben der zufriedenstellenden Erledigung der Hausarbeit auch den Männern eine erotische Attraktivität bieten konnten; vgl. Lindner (2003), S. 104. 55 Neuere Forschungsarbeiten weisen die lange Zeit vertretene These einer ›Sowjetisierung‹ des Gesundheitswesens der östlichen Besatzungszone zurück und betonen das Anknüpfen an die Ideen aus der Weimarer Republik bzw. der Arbeiterbewegung; siehe z. B. Moser (2002). 56 Vgl. Lämmel (2004). 57 Das DHMD existierte bereits seit 1912 und wurde auf Initiative des Dresdner Industriellen und Odol-Fabrikanten Karl August Lingner als »Volksbildungsstätte für Gesundheitspflege« gegründet. Einführend zur Geschichte des DHMD siehe Vogel (2003). 58 Das Museum unterstand zunächst der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen und ab 1951 dem Ministerium für Gesundheitswesen der DDR.
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usw. – sollte gesundheitsbewusstes Verhalten als »Kernanliegen«59 der allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit verankert werden. Gesundheitspolitik und Gesundheitspropaganda60 der DDR waren offiziell entsprechend der übergeordneten politischen Zielsetzung – der Überwindung von sozialen Unterschieden zwischen den Klassen und Schichten und somit auch zwischen den Geschlechtern61 – geschlechterneutral ausgerichtet. Überwiegend war die Rede von »der« Gesellschaft, »der« Bevölkerung, »den« Bürgern, »den« Werktätigen sowie von »der« sozialistischen Persönlichkeit. Bei genauerer Betrachtung kristallisieren sich jedoch spezielle Zielgruppen sowie deutliche Geschlechterstereotype heraus. Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit Für den Aufbau des Sozialismus bedurfte es gesunder und leistungsfähiger Menschen, genauer Arbeiter und Arbeiterinnen. Daher kam dem Betriebsgesundheitswesen und der gesundheitlichen Betreuung der werktätigen Bevölkerung von Beginn an eine exponierte Stellung zu. In den ersten Jahrgängen der Zeitschrift Deine Gesundheit wurden dementsprechend häufig staatliche Errungenschaften für die Werktätigen präsentiert wie neu errichtete Betriebspolikliniken und Nachtsanatorien62 oder die Vorsorgeuntersuchungen und Arbeitsschutzmaßnahmen in den Betrieben. Auf den Fotos wurden sehr häufig Männer abgebildet, die sich vorbildlich an der Pausengymnastik (Abb. 4) oder an Röntgenuntersuchungen und Impfungen beteiligten. Auch die weibliche Bevölkerung sollte in der DDR berufstätig sein – entsprechend der sozialistischen Frauenemanzipationstheorie63 sowie aufgrund des nachkriegsbedingten Arbeitskräftemangels64. Das Leitbild der berufstätigen Frau wurde allerorts propagiert. In Deine Gesundheit wurden ebenfalls erwerbstätige Frauen abgebildet – jedoch lag der Fokus bei ihnen häufig auf dem äußeren Erscheinungsbild: hübsch zurechtgemacht an der Schreibmaschine 59 Karsdorf/Renker (1981), S. 15. 60 Das Begriffspaar »Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda« etablierte sich in den 1960er Jahren im Zuge einer stärkeren Koordinierung der Gesundheitsaufklärung. Davor wurden verschiedene Begrifflichkeiten wie »hygienische Volksaufklärung« oder »Wissensvermittlung« verwendet. Der Begriff »Propaganda« hatte im DDR-Sprachgebrauch eine positive Konnotation im Sinne von massenwirksamer politischer Öffentlichkeitsarbeit; siehe dazu Linek (2015), S. 203 f. 61 Vgl. Hinze (1996), S. 99. 62 Vorgestellt wurden z. B. das Pawlow-Nachtsanatorium des VEB Stahl- und Walzwerks Brandenburg oder das Nachtsanatorium der Volkswerft Stralsund. 63 Das politische Programm der Arbeiterklasse umfasste auch die »Lösung der Frauenfrage«. Als Kernpunkt der Befreiung und Emanzipation der Frau wurde deren Einbeziehung in die Erwerbsarbeit (und dementsprechend die Vergesellschaftung der Bereiche Hausarbeit und Kindererziehung) angesehen; vgl. Dölling (1993), S. 26. 64 Während der westdeutsche Arbeitsmarkt vom Zustrom der Flüchtlinge aus der SBZ und den Ostgebieten profitierte, wurden die ostdeutschen Frauen dringend für den wirtschaftlichen Wiederaufbau benötigt; vgl. Fulbrook (2011), S. 167.
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oder mit gepflegten Händen beim Betätigen einer Werksmaschine.65 Die Broschüre »Kosmetik der berufstätigen Frau« aus der Reihe »Kleine Gesundheitsbücherei« ist ein weiteres Beispiel für diese Schwerpunktsetzung. Der Autor gab der Leserin zu verstehen, dass die Gesellschaft in ihr nicht nur die »Berufskollegin, sondern stets auch die Frau« sehe.66 Das Bild dieser ›neuen‹, von der Reduktion auf die Mutterrolle befreiten Frau wurde demnach mit »alte[n] Farben«67 gezeichnet, wie es Budde treffend beschreibt68. Auch die vermeintliche Geschlechterneutralität der Gesundheitspropaganda wurde durch viele implizit durchschimmernde, aber auch explizite Ungleichgewichte aufAbb. 4: Foto zum Artikel »Gymnastikpause« gehoben. So wurden weiterhin überin Deine Gesundheit H. 6 (1960), S. 9 (Fotograf wiegend Frauen angesprochen, und Hähnel) dies vornehmlich in ihrer altbekannten Rolle als Hygienebeauftragte und Gesundheitsverantwortliche für die Familie. Auf den Titelblättern von Deine Gesundheit waren in den Anfangsjahren vorrangig Kinder und Frauen zu sehen. Und von den 96 Heften der Schriftenreihe »Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung«/»Kleine Gesundheitsbücherei« hatten zwar 89 einen allgemein gehaltenen Titel, der sich an kein Geschlecht speziell richtete. Sechs befassten sich jedoch mit Frauenkrankheiten oder dem weiblichen Tätigkeitsfeld zugeschriebenen Belangen und nur eines mit Männeraspekten.69 Darüber hinaus waren in den offiziell geschlechterneutral gehaltenen Broschüren häufig frauenspezifische Unterkapitel eingefügt, in denen auf die Besonderheiten des weiblichen Organismus 65 66 67 68
Zu sehen auf einem Bild zum Artikel »Raue Hände« in Deine Gesundheit H. 2 (1956). Gertler (1964), S. 22. Budde (1999), S. 854. Merkel weist in ihren Analysen zu Geschlechterbildern in DDR-Zeitschriften jedoch berechtigterweise darauf hin, dass neue Inhalte auch in alter Form präsentiert werden mussten, damit sie Zustimmung beim Betrachter erzeugten. Gängige Denkweisen zu bestätigen war notwendig, um zur Etablierung neuer Leitbilder beizutragen; vgl. Merkel (1994), S. 377. 69 Zu den Frauenbroschüren zählten u. a.: »Die wichtigsten Krebserkrankungen der Frau« (1952), »Dein Kind und seine Zähne (Mutter, das mußt Du wissen!)« (1954) sowie »Die Wechseljahre der Frau« (1956). Mit männerspezifischen Gesundheitsproblemen befasste sich der Band »Gibt es auch beim Manne Wechseljahre?« (1961).
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eingegangen wurde, wie beispielsweise auf das »feine Gefüge des weiblichen […] Nervensystems«70, das weniger widerstandsfähig gegenüber den Einwirkungen von Giftstoffen sei. Männer wurden demgegenüber insgesamt deutlich weniger adressiert und auch anders präsentiert. Zentraler Bezugspunkt für die Konstruktion von Männlichkeit in der DDR war und blieb die Vollerwerbstätigkeit und die Verankerung im Milieu der Arbeiterklasse.71 Tugenden wie Kraft, Disziplin, Leistungs- und Siegesbereitschaft waren konstitutiv für das vom Staat gesetzte Männlichkeitsleitbild des »sozialistischen Helden«.72 Daher wurden Männer immer im Zusammenhang mit Arbeit und Leistung, Mut oder Tatkraft dargestellt.73 Haushalt und Familie In dem 1958 veröffentlichten Leitartikel »Mehr Hilfe für die berufstätige Frau«74 wurde die männliche Leserschaft von Deine Gesundheit noch dazu aufgefordert, »der berufstätigen Frau die Sorgen und Nöte des Alltags abzunehmen«75. Hausarbeit und Kindererziehung sollten als Gemeinschaftsaufgaben verstanden werden. In einer Bildserie wurden vorbildliche Ehemänner präsentiert, die der Frau beim Kartoffelschälen halfen oder die Kinder zur Krippe brachten. Deutliche Kritik erfuhr hingegen der »Hauspascha«, der mit der Feierabend-Zigarre zuschaut, »wie Mutti schafft«.76 Die Männer sollten die häuslichen, familiären und beruflichen Belastungen der Frauen, die sich negativ auf deren Gesundheit auswirkten, durch ihre Mithilfe im Haushalt abfedern.77 Derlei Appelle oder Hinweise auf Alltagssorgen und Beschwerden der Frauen ließen in den 1960er Jahren deutlich nach. In den Vordergrund traten Aspekte der Mütterlichkeit und Attraktivität. In diesem Jahrzehnt prägten Bilder von weiblichen Schönheiten und beseelt lächelnden Müttern (Abb. 5) das Antlitz der Gesundheitszeitschrift Deine Gesundheit. Ein Grund dafür, dass in den 1960er Jahren wieder stärker auf die ›natürliche‹ Bestimmung der Frauen abgehoben wurde, war sicherlich die geringe Neigung vieler Frauen zur (Voll-)Erwerbstätigkeit. Die herkömmlichen Rollen 70 71 72
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Lickint (1957), S. 7. Vgl. Scholz (2010), S. 211. Vgl. Brandes (2008), S. 69, sowie Scholz (2008), S. 23. Zur Figur des »sozialistischen Helden« führt insbesondere Scholz aus, dass der Arbeiter- und Aufbauheld der 1950er Jahre in den 1960er Jahren vom Sportshelden und Kosmonauten abgelöst wurde. Die proletarische Männlichkeitskonzeption blieb jedoch das Grundmotiv der hegemonialen Männlichkeit in der DDR; vgl. Scholz (2008), S. 12, und Scholz (2010), S. 213. Auf den Fotos zu den Themen Arbeitsschutz, aber auch Stress, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen tauchten fast ausnahmslos Männer auf. Deine Gesundheit H. 2 (1958), S. 3–5. Deine Gesundheit H. 2 (1958), S. 5. Deine Gesundheit H. 2 (1958), S. 5. Deine Gesundheit H. 2 (1958), S. 4.
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Abb. 5: Titelblatt Deine Gesundheit H. 5 (1962) (Fotograf Köntopp)
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Abb. 6: Abbildung aus dem Artikel »Vorbeugend helfen« in Deine Gesundheit H. 2 (1968), S. 36
der Frau als Mutter und Hausfrau waren in den Anfangsjahren noch tief verwurzelt im Bewusstsein der DDR-Bevölkerung. Viele junge Frauen wollten nur bis zur Heirat arbeiten und sich danach um die Familie kümmern.78 Da der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften aber weiterhin sehr hoch war, musste ein »günstiges Klima«79 für Frauenarbeit in der Öffentlichkeit geschaffen werden, beispielsweise indem weniger auf die körperlich harte Arbeit, sondern stärker auf die Schutzbedürftigkeit des weiblichen Organismus abgezielt wurde80. Seit Mitte der 1960er Jahre sanken zudem die Geburtenraten rapide, so dass die Themenschwerpunkte Sexualität, Schwangerschaft und Kindererziehung – 1968 hatte das Stichwort »Säugling« die meisten Eintragungen im Register von Deine Gesundheit – auch mit dieser Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden können. Die Mutter galt fortan wieder stärker als Hauptverantwortliche für die Pflege und Erziehung der Kinder. Väter traten in den 1960er Jahren kaum in Erscheinung, und wenn, dann distanziert und eher unbeholfen in der Funktion des berufstätigen Ernährers, wie in einem Artikel 78
Siehe dazu ausführlicher Fulbrook (2011), S. 174 f., die sich in diesem Punkt auf einen Bericht aus dem Jahr 1955 über junge Textilarbeiterinnen aus dem Kreis Greiz bezieht. 79 Budde (2000), S. 617. 80 Vgl. Budde (2000), S. 617.
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über die Senkung der Müttersterblichkeit von 1968 zu sehen ist (Abb. 6). Während eine Kinderkrankenschwester das Neugeborene hinter einer Glasscheibe dem Vater entgegenhält, betrachtet er – in weißem Hemd und schwarzem Anzug – den Säugling »noch etwas skeptisch«, wie es in der Bildunterzeile heißt.81 Attraktivität und Aussehen Die Themen Schönheit und Kosmetik nahmen seit Beginn der 1960er Jahre breiten Raum in Deine Gesundheit ein. Diese Schwerpunktverlagerung passt zeitlich zu dem Versuch der staatlichen Propaganda, dem in den westlichen Medien Abb. 7: »Übungen für die Morgengymnastik« verbreiteten Schreckensbild des aus Deine Gesundheit H. 11 (1971), S. 352 (Fotograf ostdeutschen ›Mannweibes‹ entgeKirchmair) genzuwirken.82 Die Frauen sollten trotz Berufstätigkeit weiterhin attraktiv sein und erhielten auch in Deine Gesundheit entsprechende Empfehlungen und Anleitungen. »Schönheit im Alltag« wurde als regelmäßige Rubrik eingeführt, in welcher die Redaktion Fragen wie »Ist Kosmetik Luxus?«83 aufwarf. In großer Zahl wurden Artikel zur ästhetischen Medizin und zu kosmetischen Korrekturen, Make-up- und Diät-Tipps sowie Gymnastikübungen (Abb. 7) veröffentlicht. Das Thema Gymnastik wurde zu dieser Zeit nicht mehr vorrangig unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Ertüchtigung betrachtet, sondern eher in Hinblick auf Körperformung und eine schlanke Linie. Dass diese Norm nun ausschließlich für Frauen galt, lässt sich aus der vollkommenen Abwesenheit turnender oder schlanker Männer schlussfolgern. In der Broschüre »Wie werde ich 100 Jahre alt? Ein Ratgeber für gesunde Lebensführung« von 1961 widmete sich das Kapitel »Kosmetik – Helferin im Kampf gegen das Altwerden« ausschließlich den Frauen: So wurde die arbeitende Frau angehalten, das »Bestmögliche aus ihrer Erscheinung« zu machen, 81 »Vorbeugend helfen«. In: Deine Gesundheit H. 2 (1968), S. 36. 82 Budde geht in ihrem Artikel über den sozialistischen Frauenkörper näher auf die westdeutsche Propaganda der ›Vermännlichung‹ der ostdeutschen berufstätigen Frauen ein; vgl. Budde (2000), S. 617 ff. 83 Deine Gesundheit H. 1 (1962).
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oder jungen Mädchen »zweierlei Arten des Zurechtmachens« empfohlen.84 Hier schimmerten neben den sozialistischen Schönheitsaspekten – der Sorge um Frische und Gepflegtheit des Körpers als Voraussetzung für den Erhalt der Arbeitskraft85 – auch die althergebrachten Weiblichkeitsvorstellungen von der modebewussten Frau vor dem Spiegel durch86. Geschlechterbilder in der Gesundheitsaufklärung der BRD in den 1970er und 1980er Jahren In den 1970er Jahren kam es in der Gesundheitsaufklärung in Westdeutschland zu vielen Veränderungen. Zunächst trug die Etablierung des Risikofaktorenmodells in der Präventionsforschung dazu bei, dass Prävention noch stärker auf das einzelne Individuum ausgerichtet wurde. Das Risikofaktorenmodell bezieht sich auf Zivilisationskrankheiten und löste das bis dahin in der medizinischen Forschung vorherrschende, auf Infektionskrankheiten bezogene Erregermodell ab. Es beruht auf der Annahme, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung durch das Vorhandensein bestimmter Faktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck statistisch erhöht.87 Durch die Impulse der Frauengesundheitsbewegung entstand eine Frauengesundheitsforschung, die im Wesentlichen dazu beitrug, dass das Geschlecht als wichtige Kategorie in der Gesundheitsaufklärung stärkere Berücksichtigung fand.88 Die Professionalisierung, die 1967 durch die Umwandlung des DGM in die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung einsetzte89, verstärkte diesen Prozess. Somit wurden Geschlechterleitbilder in der Arbeit der Gesundheitsaufklärung zunehmend wichtiger. Haushalt und Familie Die Themen Haushalt und Familie waren in den 1970er und 1980er Jahren ein Schwerpunkt innerhalb der Arbeit der BZgA. Die im Jahr 1973 von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Zusammenarbeit mit der BZgA herausgegebene Broschüre »Die Ernährung des Kleinkindes und des Schulkindes« (Abb. 8) zeigte weiterhin die Zuständigkeit der Frau für die Ernährung innerhalb der Familie auf. Auf zwei Illustrationen, in denen mit der Zusammenstellung des Essens und der Fütterung eines Klein84 Deutsches Hygiene-Museum Dresden (1961), S. 61 ff. 85 Vgl. Budde (2000), S. 613. 86 Siehe dazu den Artikel von Tippach-Schneider, in dem sie zeigt, dass auch in der sozialistischen Werbung der 1950er und 1960er Jahre die alten Rollenklischees Bestand hatten und die Frau, trotz ausgerufener Gleichberechtigung, im Werbebild immer nur »das Weib« blieb; Tippach-Schneider (1992). 87 Vgl. Erhart/Hurrelmann/Ravens-Sieberer (2008), S. 426, sowie Madarász (2009), S. 189. 88 Vgl. Pfütsch (2015), S. 182–184. 89 Vgl. Sammer (2015), S. 265 f.
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Abb. 8: Titelblatt »Die Ernährung des Kleinkindes und des Schulkindes«, Köln 1973
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Abb. 9: »Die Ernährung des Kleinkindes und des Schulkindes«, Köln 1973, S. 17
kindes zwei Aspekte der kindlichen Ernährung dargestellt wurden, war die Mutter in Interaktion mit dem Kind zu sehen. So war sie es, die das Kleinkind fütterte und dabei auf die Ernährung achtete. Und sie war es auch, die dem Kind beim Frühstück Gesellschaft leistete und ihm das Essen für die Schule vorbereitete und einpackte. Dass diese Zuständigkeitszuschreibung nicht allein auf die Abwesenheit des Vaters aufgrund seiner Berufstätigkeit zurückzuführen ist, verdeutlicht die letzte Abbildung der Broschüre (Abb. 9). Bei einem Familienpicknick im Park saßen die Mutter und die Kinder zusammen und nahmen ein Getränk zu sich. Außerdem lag vor der Mutter die Picknickdecke mit zwei Scheiben Brot und einer Tasche mit weiteren Lebensmitteln. Die Mutter, die Kinder und die Nahrungsmittel wurden also durch ihre grafische Nähe auch inhaltlich eng miteinander verbunden. Der Vater hingegen saß, eine Sonnenbrille tragend, außerhalb des Kreises an einen Baum gelehnt. Er trank auch nichts. Dies alles suggeriert eine Verantwortlichkeit der Frau innerhalb der Familie für die richtige Ernährung der Kinder und die Ausgrenzung des Vaters aus diesem Verantwortungsbereich. Während in dieser Broschüre, die zu Beginn der 1970er Jahre erschien und damit noch vor den durch die Frauenbewegung ausgelösten gesellschaftlichen Debatten, die Zuständigkeit der Frau für innerhäusliche Aufgaben nicht hinterfragt wurde, geschah dies in anderen Publikationen sehr wohl. So wurde zum Schutz der Gesundheit der Frau verstärkt eine Mitarbeit des Mannes im Haushalt gefordert:
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Bestimmt kennen Sie diesen berühmten Satz [»Ich muß ja schließlich das Geld verdienen!« – J. L. & P. P.] von Familienvätern, wenn es darum geht, mal im Haushalt mit anzupacken. Sicher kann niemand von einem Mann erwarten, daß er abends zum Staubsauger greift, wenn die Frau den ganzen Tag zu Hause ist. Aber oft ist es anders. Sie verdient das Geld mit. Und muß dann abends noch kochen, einkaufen, putzen und die Kinder erziehen. Frauen können das ja auch alles viel besser, meint er. Und sieht gar nicht, daß seine Frau langsam davon zermürbt wird. Dieses Zitat stammt aus der 1978 erschienenen Anzeige »Ich muß ja schließlich das Geld verdienen!«. Hier wurde deutliche Kritik an einem Männerbild geübt, welches Frauen als die allein für den Haushalt zuständigen Personen ansah. Zum Wohle der Gesundheit wurde vom Mann gefordert, zumindest ein bisschen die Frau im Haushalt zu unterstützen. Die durch die Berufstätigkeit bedingte Abwesenheit des Mannes zählte nun kaum mehr als Rechtfertigung für die Arbeitsteilung, da immer mehr Frauen ebenfalls berufstätig waren. Jedoch muss angemerkt werden, dass der Unterschied zwischen Ganztagsberufstätigkeit und Teilzeitarbeit nicht thematisiert wurde. Der Großteil der Männer ging einer Vollzeitbeschäftigung nach, während die meisten Frauen halbtags arbeiteten. Trotz dieses signifikanten Unterschiedes im Umfang der außerhäuslichen Tätigkeit wurde in aller Regel eine ›gerechte‹ Aufteilung der Hausarbeit propagiert.90
Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit War in den 1950er und 1960er Jahren Berufstätigkeit innerhalb der Gesundheitsaufklärung noch fast ausschließlich mit Männlichkeit verbunden, änderte sich das im darauffolgenden Jahrzehnt nahezu schlagartig. Die Berufstätigkeit von Frauen und deren Auswirkungen auf das Zusammenleben innerhalb der Familie wurde zu einem der bestimmenden Themen der staatlichen Gesundheitsaufklärung in der BRD. Ein wichtiger Aspekt war dabei die Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Pflichten. Wie oben angeführt, forderte hier die Gesundheitsaufklärung eine stärkere Mitarbeit des Mannes im Haushalt. Daneben setzte sich die staatliche Gesundheitsaufklärung aber auch dafür ein, dass Frauen überhaupt berufstätig sein konnten. In der Broschüre »Familienbilder« berichtete die BZgA über Frau Lang, die aufgrund fehlender Perspektiven psychische Probleme entwickelt hatte: Frauen wie Martina Lang sind häufig unzufrieden, fühlen sich nicht wohl. Obgleich sie eigentlich alles haben. Typische Klagen: »Immer bleibt alles an mir hängen. Warum muß ich eigentlich immer den Dreck für andere wegmachen? Wir sind doch hier kein Hotel! Kann ich denn nie meine Ruhe haben…« Sie sind deshalb oft unglücklich, weil sie als Hausfrau und Mutter zuwenig [sic!] Anerkennung finden. Sie fühlen sich »an den Rand des Geschehens« gedrückt. Besonders hart empfinden das viele Frauen, die vor ihrer Heirat berufstätig waren. Auf der einen Seite werden sie von der Erziehung der Kinder, der Betreuung des Ehemannes und der Hausarbeit stark in Anspruch genommen. Auf der anderen Seite ist ihnen das »nicht genug«. Sie brauchen Bestätigung. Und die Unabhängigkeit, die ihnen früher auch das selbstverdiente Geld gegeben hat. Auch das Gefühl der Einsamkeit zermürbt manche Frauen.91
90 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1978). 91 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1979), S. 41.
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Als Lösungsmöglichkeit für dieses Problem wurde innerhalb der Broschüre die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit vorgeschlagen. Und auch in diesem Fall wurde vom Mann Verständnis und Mitarbeit im Haushalt eingefordert: Spätestens dann, wenn die Kinder größer sind, wieder in den Beruf zurückkehren. Dafür sollte vor allem der Mann Verständnis aufbringen. Wichtig ist die moralische, aber auch die praktische Unterstützung von seiner Seite. Das heißt, er muß eben auch im Haushalt mal mit anpacken und kann nicht mehr eine immer perfekt aufgeräumte Wohnung erwarten.92
Neben der Berufstätigkeit von Frauen wurde in den 1970er und 1980er Jahren weiterhin auch die Berufstätigkeit von Männern in der Gesundheitsaufklärung thematisiert. Während bei Frauen die positiven Auswirkungen von Berufsarbeit hervorgehoben wurden, ging es bei Männern zumeist um die negativen, die häufig Folgen des Überschreitens der Leistungsgrenzen darstellten. Im Beispiel der Familie Eckhardt ging der Vater einer Schichtarbeit nach, was dazu führte, dass er kaum noch am Familienleben teilnehmen konnte. Des Weiteren hatte der durch die Schichtarbeit gestörte Lebensrhythmus Auswirkungen auf die Gesundheit von Herrn Eckhardt, der ein Magengeschwür bekam.93 Bei Herrn Wissel war die Situation ähnlich. Auch er arbeitete im Schichtdienst und leistete zahlreiche Überstunden.94 Diese körperliche Belastung, gepaart mit dem Druck der hohen finanziellen Verantwortung für die Familie, war letztendlich für einen Herzinfarkt verantwortlich. Kardiovaskuläre Krankheiten, insbesondere der Herzinfarkt, und die verhaltensbedingten Risikofaktoren waren seit Ende der 1970er Jahre typische Themen für männerspezifische Ansprache in den Kampagnen der Gesundheitsaufklärung. Das ist v. a. auf die höheren Erkrankungsraten von Männern und ihr Risikofaktoren förderndes Verhalten zurückzuführen. Beide Fälle zeigten die gesundheitlichen Auswirkungen eines auf Höchstleistung ausgerichteten Männerleitbildes und kritisierten es damit indirekt. Attraktivität und Aussehen Bis in die 1960er Jahre hinein war das Aussehen des Mannes nur selten ein Thema der Gesundheitsaufklärung. Allein im Zusammenhang mit der Körperpflege der Frau wurde ab und an erwähnt, dass sich auch der Mann pflegen könne. Da die Gesundheitsaufklärung sich ab den 1970er Jahren vermehrt auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deren Risikofaktoren konzentrierte, kam nun verstärkt auch das Thema Übergewicht auf. Der Artikel »Am Wochenende droht der Herzinfarkt!«, der 1970 in der Apotheken-Umschau erschien, stilisierte im Einleitungssatz den Herzinfarkt noch geschlechterneutral als »Zi92 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1979), S. 41. 93 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1979), S. 59. 94 Medizinische Studien zeigen, dass Schichtarbeiter oder Personen, die über längere Zeit einer Mehrarbeit ausgesetzt sind, ein deutlich erhöhtes Risiko haben, Herz-KreislaufErkrankungen zu erleiden; vgl. Siegrist (2013), S. 146.
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vilisationskrankheit schlechthin«.95 Danach wurden aber explizit die Männer angesprochen: Die meisten Männer sterben an Herz- und Kreislaufleiden. Die Frauen haben es besser: Ihnen diktiert die Mode, schlank zu bleiben. Die Männer dagegen – Gesichter, Bäuche und Hinterbacken sind prall, oft gar fett. Doppelkinn und Nackenwulst gehören beinahe zum Statussymbol des erfolgreichen Mannes.96
Diesen »Statussymbolen« wurde spätestens mit Beginn der 1970er Jahre der Kampf angesagt: »Doppelkinn und Nackenwulst sind in Wirklichkeit mittelbare Symptome für die männermordende Arteriosklerose (Arterienverkalkung). Sie ist unweigerlich mit dem Körperfett verbunden, vor allem ihre frühen, lebensgefährlichen Formen.«97 In aller Deutlichkeit wurde hier auf die Gefahren des Übergewichtes hingewiesen und in einem weiteren Schritt eine schlanke Figur als Ideal eines Mannes propagiert: »Es kommt nicht sosehr [sic!] darauf an, die Muskeln zu stählen. Es kommt wesentlich mehr darauf an, nicht aus den Fugen zu geraten. Ein Mann sollte niemals mehr wiegen als er mit 21 Jahren wog.«98 Hier begann sich langsam im gesellschaftlichen Diskurs das Leitbild des schlanken Mannes durchzusetzen. Männlichkeitsleitbilder wie das durch Ludwig Erhard verkörperte, bei dem die Körperfülle Wohlstand und Erfolg suggerierte, hatten nach und nach ausgedient.99 Auch auf der Attraktivitätsebene setzte sich das Bild des schlanken Mannes durch. So zeigte die Zeitschriftenwerbung ab den 1980er Jahren überwiegend leistungsstarke und durchtrainierte Männer.100 Bei der Durchsetzung dieses Körperleitbildes half der Fitnessboom, der Ende der 1960er Jahre, aus den USA kommend, in Westdeutschland einsetzte und in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten seinen Durchbruch erlebte.101 Im Zuge dieser Fitnesswelle entwickelte sich ein männlich geprägter Körperdiskurs, der Männern ein gewisses Maß an Körperwissen vermittelte.102 Männlichkeit stellt seitdem eine spezifische Form der Körperinszenierung dar, die darauf ausgelegt ist, bestimmte Körperpartien, beispielsweise den Bauch, zu formen.103 Dies scheint vor allem bei jungen Männern die wichtigste Form der Selbstrepräsentation zu sein, da
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Apotheken-Umschau H. 2 (1970), S. 8. Apotheken-Umschau H. 2 (1970), S. 8. Apotheken-Umschau H. 2 (1970), S. 8. Apotheken-Umschau H. 2 (1970), S. 8. Vgl. Thoms (2000), S. 286 f. Vgl. Dreßler (2011), S. 153. Erste Fitnessstudios, die aber insbesondere auf Bodybuilding und Kraftsport fokussiert waren, entstanden in der BRD bereits in den 1960er Jahren; vgl. Dilger (2008), S. 280. Studios, welche den Fitnessaspekt in den Mittelpunkt stellten, kamen verstärkt erst in den 1980er Jahren auf; vgl. Kläber (2013), S. 151. 102 Zwar führte dies auch dazu, wie Brandes richtig anmerkt, dass Männer zum Zweck der Leistungssteigerung und Selbstdarstellung ihren Körper überforderten und schädigten, doch darf dies nicht generalisiert werden; vgl. Brandes (2003), S. 11. Ebenso Klingemann (2009), S. 42 f., sowie Bründel/Hurrelmann (1999), S. 144. 103 Vgl. Meuser (2007), S. 158.
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es für sie schwieriger ist, sich über andere Statussymbole zu definieren.104 Die erfolgreiche Durchsetzung von Fitness als Gesundheits- und Schönheitspraxis bei Männern hängt wohl damit zusammen, dass Sport per se zunächst nicht als Schönheitshandeln galt und dadurch den Männern auch die Möglichkeit gab, sich vom traditionell weiblichen Gesundheits- und Schönheitshandeln abzugrenzen.105 Und auch im Bereich der Schönheitspflege wurden die Männer zunehmend angesprochen. Die Rubrik »Kosmetik« in der Apotheken-Umschau, die sich bis 1985 exklusiv an die weiblichen Leser richtete, enthielt von da an auch Artikel für Männer. So appellierte »Auch Männerhaut braucht Pflege« 106an sie, sich, ähnlich wie die Frauen, mehr um ihre Haut zu kümmern. Die Männer wurden nun in vielen BereiAbb. 10: Titelblatt Deine Gesundheit H. 1 chen verstärkt als Zielgruppe für Kos(1974) (Fotograf Kirchmair) metik- und Pflegeprodukte entdeckt. Dass dies äußerst erfolgreich war, zeigt die Tatsache, dass in den 1980er Jahren der Absatz von speziellen Produktlinien der Kosmetikindustrie für Herren stark anstieg.107 Geschlechterbilder in der Gesundheitspropaganda der DDR in den 1970er und 1980er Jahren Das Risikofaktorenmodell wurde auch in der DDR rezipiert und verdrängte das Konzept der umfassenden sozialen Prävention, welches bis Ende der 1960er Jahre die DDR-Gesundheitspolitik bestimmt hatte.108 Im Fokus stand 104 105 106 107 108
Vgl. Neubauer/Winter (2004), S. 37. Vgl. Penz (2010), S. 166 f. Apotheken-Umschau H. 10a, (1985), S. 34 f. Vgl. Thoms (2009), S. 110. In den akademischen Medizinerkreisen der DDR wurde der Risikofaktorenansatz bereits Ende der 1950er Jahre diskutiert und gewann im Zuge großangelegter Bevölkerungsstudien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Mitte der 1960er Jahre langsam die Oberhand über die verhältnisorientierte Prävention. Ausführlicher dazu: Timmermann (2010). Die positive Rezeption des Risikofaktorenmodells in der Gesundheitspolitik ist zum einen auf die Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung, genauer um die Aufnahme in die WHO, zurückzuführen, die 1973 gelang. Zum anderen sorgte auch die wirtschaft-
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nicht länger die Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern der Lebensstil der DDR-Bevölkerung. In der Gesundheitserziehung setzte man daher verstärkt auf Verhaltensänderung und problematisierte stärker Risikofaktoren wie das Rauchen, die Ernährung und fehlende Bewegung. Die Zeitschrift Deine Gesundheit erlebte in den 1970er Jahren ebenfalls einen grundlegenden Wandel: von einer eher durchschnittlichen Gesundheitszeitschrift, die sozialistische Normen und Werte zur Krankheitsverhütung und gesunden Lebensführung – speziell an Frauen – vermittelte, hin zu einem Journal mit provokanten Titelbildern und -geschichten, die weit über die Vermittlung reiner Gesundheitsaspekte hinausreichten und sich zudem an eine größere Zielgruppe richteten. Zu der neuen Gestaltungsart und -weise zählte auch das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen. Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit Während in Westdeutschland bezüglich der Erwerbstätigkeit der Frauen nun die Diskussionen einsetzten, die in der DDR schon in den 1950er Jahren stattgefunden hatten, war man hier bereits einen Schritt weiter. Weibliche Erwerbstätigkeit war in den 1970er Jahren zum Normalfall geworden. 1970 lag die Frauenbeschäftigungsquote bei rund 80 Prozent.109 Auch in Deine Gesundheit wurden inzwischen sehr viel selbstverständlicher Frauen im Beruf abgebildet als noch in den 1950er und 1960er Jahren. Dabei ging es zudem nicht mehr um Randaspekte wie die gepflegten Hände oder die passende Kleidung der Arbeiterin, sondern beispielsweise um Sicherheit am Arbeitsplatz (Abb. 10) oder die Vereinbarkeit von Schichtarbeit und Familie.110 Männer wurden zwar immer noch häufiger im beruflichen Kontext abgebildet. Insgesamt trat aber die Verknüpfung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit in der Gesundheitspropaganda in den Hintergrund. Prägnanter wurden Familienthemen und allgemeine Gesellschaftsthemen sowie das Gesundheitsverhalten bzw. die Gefahren und Risiken dargestellt, denen sich die Menschen aussetzten. Mit der Wende zum Risikofaktorenmodell Anfang der 1970er Jahre traten auch in der DDR unverkennbar mehr Männer als direkte Adressaten in Erscheinung.111 Der Mann wurde nun aber überwiegend als »Problemfall« lich schwierige Situation der DDR, insbesondere die hohen finanziellen Belastungen im Gesundheits- und Sozialwesen, für diese Umorientierung auf das Konzept der Individualprävention; vgl. Niehoff (1998), S. 185. 109 Vgl. Hockerts (1994), S. 532. Diese Angabe gibt den »Anteil der ständig Berufstätigen im arbeitsfähigen Alter, einschließlich der Lehrlinge und Studenten, an der weiblichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter« an. Hockerts (1994), S. 542, Anm. 68. 110 Wie im Artikel »Zeitproblem« in Deine Gesundheit H. 1 (1978), S. 18 f. 111 Dies lässt sich auch für andere Formate der Gesundheitserziehung bestätigen, beispielsweise die Gesundheitsfilme, die das Deutsche Hygiene-Museum seit den 1960er Jahren in Auftrag gab und die in verschiedenen Reihen im Fernsehen der DDR ausgestrahlt oder
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Abb. 11: Titelblatt Deine Gesundheit H. 9 (1972) (Fotograf Kirchmair)
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Abb. 12: Foto zum Artikel »Das erste Jahr« aus Deine Gesundheit H. 4 (1978), S. 103 (Fotograf Kirchmair)
dargestellt, ähnlich wie in der Bundesrepublik. Ganz im Kontrast zu den Bildern der 1950er Jahre, die Männer bei der Pausengymnastik oder hinter dem Röntgenschirm zeigten, dominierten jetzt rauchende, trinkende und dickbäuchige Männer die Abbildungen in Deine Gesundheit. Artikel zu den Themenbereichen Alkohol und Herzerkrankungen (Abb. 11) wurden ausschließlich mit Fotos von Männern gestaltet. Frauen wurden aus diesem Diskurs vollkommen ausgeblendet, obwohl viele von ihnen einer Doppelbelastung 112 aus
im Kinobeiprogramm und bei Veranstaltungen im DHMD gezeigt wurden. Auch hier wurden zur Veranschaulichung negativer Gesundheitsverhaltensweisen deutlich häufiger Männer ausgewählt als Frauen. An dieser Stelle kann auf diese filmischen Gesundheitsbeiträge nicht weiter eingegangen werden. Bislang zu Gesundheitsfilmen in der DDR: Schwarz (1998) mit einem vergleichenden Blick auf die Bundesrepublik sowie der Sammelband »Kamera! Licht! Aktion! Filme über Körper und Gesundheit 1915 bis 1990« von Roeßiger/Schwarz (2011) mit einem umfangreichen Verzeichnis des Filmbestands des DHMD. 112 Wierling spricht sogar von einer »Vierfachbelastung« der Frauen durch Beruf, Familie, Bildungs- bzw. Qualifizierungsmaßnahmen und gesellschaftlich-politische Aktivitäten; vgl. Wierling (1999), S. 839.
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Vollerwerbstätigkeit und Familienarbeit ausgesetzt waren und somit eine Exposition für Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufwiesen113. Seit Ende der 1970er Jahre lösten sich die Geschlechterstereotype langsam auf. Männlichkeit wurde nun nicht mehr nur mit Härte und mangelndem Fürsorgeverhalten assoziiert. Haushalt und Familie Fragen der Hausarbeit traten in den 1970er Jahren deutlich hinter das große Thema »Familie und Partnerschaft« zurück. Die sinkende Geburtenrate wurde seit Anfang der 1970er Jahre von der stark ansteigenden Scheidungsquote flankiert114, und somit beschäftigte sich die Gesundheitserziehung nicht mehr nur mit den Problemen der Kinderlosigkeit und Kindererziehung, sondern auch mit Aspekten der Liebe und Partnerschaft. Die Mutterrolle der Frau wurde noch stärker hervorgehoben, doch auch Väter wurden als Partner und Erziehungsverantwortliche in die Pflicht genommen. Neben die Frau als »Hüterin der höchsten Güter«115 trat ein neuer Männlichkeitstypus, nämlich der des »zärtlichen Vaters« (Abb. 12). Diese Entwicklung entsprach dem in den 1970er Jahren einsetzenden Väterdiskurs, der das hegemoniale Männlichkeitsbild, das den familiären Kontext nahezu vollkommen ausklammerte116, herausforderte und in den 1980er Jahren ein neues Leitbild prägte. Dieses war von Emotionalität und Verantwortung für die Familie bestimmt.117 In den 1980er Jahren thematisierte Deine Gesundheit familiäre Konfliktbereiche noch offener. In dem Beitrag »Der zweite Vater«118 wurden beispielsweise die Folgen von Trennungen dargestellt und Wege zu deren gemeinsamer Bewältigung aufgezeigt. Den neuen Partnern alleinerziehender Mütter wurde
113 Auch in epidemiologischen Studien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen lag der Fokus auf männlichen Probanden, obwohl Kardiologen immer wieder eine differenzierte Geschlechteranalyse im Bereich der koronaren Herzkrankheiten gefordert hatten. Siehe dazu ausführlich Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013). 114 Vgl. Hockerts (1994), S. 534. 115 Diese Bezeichnung der Frau findet sich in einem Artikel über die Geburt in Deine Gesundheit H. 8 (1976), S. 236. 116 Vgl. Scholz (2010), S. 220. 117 Siehe dazu Schochow, der aufzeigt, wie Mitte der 1980er Jahre ein Umdenken in der Sozialpolitik einsetzte, mit dem man die demographischen Schwierigkeiten in der DDR in den Griff bekommen wollte. Ankerpunkt war nun nicht mehr die berufstätige Frau, sondern der Mann in seiner Rolle als Vater. Den Vätern wurde seit 1986 der Anspruch auf die Gewährung des Babyjahres oder die bezahlte Freistellung im Falle der Erkrankung des Kindes eingeräumt. Männer sollten sich also nicht mehr nur über die Arbeit definieren, sondern auch über ihre verantwortungsvolle und unersetzbare Rolle in der Familie, die es der Partnerin ermöglichte, Kinder zu bekommen und berufstätig zu sein. Schochow (2012). 118 Deine Gesundheit H. 8 (1986), S. 235–237.
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»Einfühlungsvermögen, Kompromißbereitschaft und vor allem Liebe zu den Kindern«119 nahegelegt, um in die Rolle des ›neuen‹ Vaters zu wachsen. Attraktivität und Aussehen Waren die Themen Kosmetik, Mode, Gymnastik und Diät noch Dauerbrenner in den 1960er Jahren, so tendierten diese Bereiche in den 1970er Jahren in Deine Gesundheit gegen null. Erst in den 1980er Jahren wurden attraktivitätssteigernde Aspekte wieder stärker aufgegriffen – diesmal auch speziell an die männliche Leserschaft adressiert. So wollte das Themenheft »Möglichkeiten der Kosmetik«120 im Jahr 1982 bewusst auch »das starke Geschlecht ansprechen«, da »regelmäßige Gesichtsund Körperpflege auch jeden Mann angeht«121. In dem Artikel »Pflegefall Mann?« wurde darauf verwiesen, dass »auch Männer altern, wenn sie nicht Kosmetik – das heißt regelmäßig Körperpflege – betreiben«, und auch ein Männergesicht »nach einem anstrengenden Arbeitstag, einer langen Reise oder einer strapaziösen Nacht fahl, müde, abgespannt und schlaff« wirkt.122 Auch die zwölfteilige Serie zum Thema Yoga eröffnete 1984 mit einem Mann auf dem Titelbild (Abb. 13) und vermittelte die Botschaft, Atemübungen, Körperbeherrschung und Gefühlskontrolle wären auch der männlichen Gesundheit zuträglich.123 Trotz der Abbildung des dynamisch-athletischen Yoga-Mannes in knapper Bekleidung herrschte ein deutliches Geschlechterungleichgewicht im Bereich der nackten Körperdarstellungen: Seit den 1970er Jahren wurde der nackte Frauenkörper sehr erotisierend in Szene gesetzt. Hin und wieder tauchten auch nackte Männer auf; nackte Frauenkörper waren jedoch sehr viel häufiger und zumeist in reizvoller Pose zu sehen. Der Sinn dieser Art von Nacktdarstellungen erschloss sich häufig nicht, zumindest nicht aus thematischer Sicht. Dies wurde auch von der Leserschaft in Briefen an die Redaktion kritisch angemerkt. Diese Entwicklung deckt sich mit den Befunden Ina Merkels zur allmählichen Sexualisierung des Frauenkörpers in der DDR in den 1970er Jahren.124 119 120 121 122 123
Deine Gesundheit H. 8 (1986), S. 236. Deine Gesundheit H. 9 (1982). Deine Gesundheit H. 9 (1982), S. 322. Deine Gesundheit H. 9 (1982), S. 331. Mit der Yoga-Serie setzte sich die Redaktion von Deine Gesundheit über ein Tabu hinweg – waren doch westlich beeinflusste Sportarten und Gesundheitsbewegungen offiziell nicht gern gesehen. Der Bundesvorstand des Deutschen Turn- und Sportbundes erhob daher auch massive Kritik gegen die Yoga-Serie; vgl. Hennig (1998), S. 61. Zu weiteren Auseinandersetzungen mit den übergeordneten Ministerien wegen des Aufgreifens heikler Themen und provokanter Darstellungen siehe das Interview mit der ehemaligen Chefredakteurin Ursula Hertel: Von »Wasser-Heften« (1999). Kurze Ausführungen dazu auch bei Linek (2015), insbesondere S. 208 f. 124 Vgl. Merkel (1995), S. 104.
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Auch die Aktfotos im Unterhaltungsjournal Das Magazin unterlagen einer zunehmenden Erotisierung. Bis dato war die Darstellung von Nacktheit mit Schönheit und Gesundheit verbunden – und nicht mit Erotik und Sexualität.125 Merkel macht hier eine Abwendung vom sozialistischen Gegenentwurf der Nacktdarstellung als unerotische Kunstform und eine Hinwendung zu westlichen Lebensmustern und Sittlichkeitsvorstellungen aus.126 Resümee Ziel dieses Aufsatzes war es, gemeinsame Traditionslinien und eigenständige Entwicklungen der Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen Staaten anhand der kolportierten Geschlechterleitbilder näher zu betrachAbb. 13: Titelblatt Deine Gesundheit ten. So stand die Frage nach den norH. 1 (1984) (Fotograf Kirchmair) mativen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit, die in breit rezipierten Gesundheitsmedien in Ost und West vermittelt wurden, im Zentrum des Interesses. Die Analyse zeigte grundlegende Gemeinsamkeiten. Auf den ersten Blick sprechen die Befunde gegen eine allgemeine Systemkonkurrenz. Zunächst kann rein quantitativ festgestellt werden, dass in beiden Staaten über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg Frauen insgesamt deutlich häufiger angesprochen wurden als Männer. Dies liegt hauptsächlich an der stärkeren Thematisierung frauenspezifischer Gesundheitsfragen. Besonders auffällig war die geringe Präsenz von Männern in den 1950er und 1960er Jahren, was sich durch weitere Gemeinsamkeiten der Gesundheitsaufklärung in BRD und DDR erklären lässt. Insbesondere in diesen Jahrzehnten wurden Frauen in beiden Ländern weiterhin als Gesundheitsverantwortliche dargestellt, die für die Ernährung, den Haushalt und auch die Kindererziehung zuständig sein sollten. Hier zeigt sich deutlich, dass geschlechtergeschichtliche Transformationsprozesse nur langsam vorankommen. Das Leitbild der Frau als Gesundheitsexpertin innerhalb der Familie bildete sich bereits im 18. Jahrhundert heraus und verfestigte 125 Vgl. Merkel (1995), S. 99. 126 Vgl. Merkel (1995), S. 104.
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sich stetig. Während in der BRD insbesondere durch konservativ geprägte Mehrheiten in Gesellschaft und Staat dieses Ideal nach der Staatsgründung 1949 weiterhin propagiert wurde, setzte die DDR-Führung von Beginn an bewusst auf eine Nivellierung von Geschlechterunterschieden. Doch trotz dieser politischen Maxime hielt sich auch hier noch lange Zeit das Bild der Frau als der einzigen Gesundheitsverantwortlichen innerhalb der Familie. Die Etablierung des Risikofaktorenmodells spielte sowohl in der BRD als auch in der DDR ab Beginn der 1970er Jahre eine wichtige Rolle bei der Implementierung geschlechterspezifischer Leitbilder. In beiden Staaten erfolgte eine Hinwendung zum Individuum, wodurch auch dem Faktor Geschlecht eine stärkere Rolle zukam. Weiterhin fiel in der Analyse der Gesundheitsaufklärungsliteratur der in den 1970er Jahren einsetzende Defizitdiskurs zur Männergesundheit auf.127 Auch dieser setzte weitgehend synchron in BRD und DDR ein. Der Mann wurde in den Darstellungen der Gesundheitsaufklärung von nun an vermehrt als Problemfall gezeigt. Wenn in Fallgeschichten jemand zu viel rauchte, übermäßig Alkohol trank, sich falsch ernährte oder auch zu wenig bewegte, waren dies überwiegend Männer. In der BRD ist diese Entwicklung wahrscheinlich auf die in den 1970er Jahren auch die Öffentlichkeit prägende Frauenbewegung zurückzuführen, die es nahezu ausschloss, dass Frauen als Negativbeispiele präsentiert wurden.128 Die DDR-Gesundheitserziehung adressierte Männer und Frauen in den 1950er Jahren gleichermaßen als ›sozialistische Persönlichkeiten‹. Negative und positive Gesundheitsbeispiele waren hier noch geschlechtergerecht verteilt. In der Folgezeit wurden männliche und weibliche Sphären wieder stärker voneinander getrennt betrachtet, und der Mann fungierte nun als Gegenpart zur fürsorglich-gesundheitsbewussten Frau. Die Analyse der Geschlechterleitbilder orientierte sich an den drei Parametern »Berufstätigkeit und Leistungsfähigkeit«, »Haushalt und Familie« sowie »Attraktivität und Aussehen«. Die detaillierte Betrachtung verschiedener Gesundheitsmedien ergab, dass sich die Geschlechterleitbilder zwar in einigen Punkten glichen, teilweise aber auch auseinanderentwickelten (siehe Tab. 1) oder sich gänzlich andere Intentionen hinter der Propagierung ähnlicher Leitfiguren verbargen. Während das Leitbild der Frau als Gesundheitsverantwortliche innerhalb der Familie in der BRD bis zu Beginn der 1970er Jahre unhinterfragt gestärkt wurde, forderte man in der DDR bereits in den 1950er Jahren eine Einbeziehung des Mannes in Haushalts- und Familienfragen, da im Gegensatz zur BRD auch die Frau berufstätig sein sollte. Erst 20 Jahre später zeigte sich durch den Einfluss der Frauenbewegung eine ähnliche Veränderung des Leitbildes in der BRD. Allerdings wurde dieser Wandel nicht oktroyiert, sondern erwuchs aus gesellschaftlichen Strömungen. Wirkt aus gegenwärtiger Betrachtungsweise die geforderte Mitarbeit des Mannes in der DDR in den 1950er Jahren durchaus progressiv, verschwand diese in den 1960er Jahren zwischenzeitlich, 127 Vgl. Pfütsch (2015), S. 184–190. 128 Vgl. Pfütsch (2015), S. 183 f.
Männer sollten berufstätige Frauen unterstützen
1970er/ 1980er Jahre
Quelle: eigene Darstellung
Keine Aufgaben
1950er/ 1960er Jahre
Weiterhin zuständig für Haushalt und Familie; Berufstätige sollten Aufgaben abgeben
Allein für Familie und Haushalt verantwortlich
Verstärkte Zuständigkeit für Familie
Einbeziehung in Haushalts- und Familienaufgaben
Mutterrolle sehr wichtig, Haushaltsaufgaben weiterhin (implizit) bei den Frauen
Stärkung der Mutterrolle
Überwiegend zuständig für Haushalt und Familie
Berufstätig in Vollzeit
Alleinernährer
Berufstätig in Vollzeit
›
Berufstätig in Teilzeit
Nicht berufstätig
‹
Berufstätig in Vollzeit
Berufstätig in Vollzeit
›
DDR
BRD
›
›
‹
DDR
BRD
‹
Berufstätigkeit/Leistungsfähigkeit
Haushalt/Familie
Tab. 1: Geschlechterleitbilder in der BRD und der DDR nach ausgewählten Parametern
Berufstätig
Berufstätig
‹
Schlankheit als Leitbild
Bedeutung von Aussehen steigt
Aussehen eher unwichtig
›
BRD
Schönheit und Schlankheit von hoher Bedeutung
Schönheit und Schlankheit wichtig für Erfolg
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Attraktivität/Aussehen
Bedeutung von Aussehen steigt
Aussehen eher unwichtig
›
DDR
Schönheit und Schlankheit wichtig
Schönheit von Bedeutung
‹
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um in den 1970er Jahren in leicht veränderter Form wieder zu erscheinen. Grund hierfür war der durch Abwanderung und Geburtenrückgang verursachte demographische Druck, der durch die Propagierung eines gestärkten Mutterbildes gemildert werden sollte. Männer als Väter und damit als auch für die Gesundheit mitverantwortliche Personen tauchten erst in den 1970er Jahren unter dem Schlagwort der ›zärtlichen Väter‹ wieder auf. In der Frühphase der BRD war Berufstätigkeit in der Gesundheitsaufklärung vor allem mit der ›Managerkrankheit‹ verbunden. Zwar wurden Frauen von diesem Krankheitskonzept nicht kategorisch ausgeschlossen, doch die Publikationen der Gesundheitsaufklärung sprachen vorrangig Männer an. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen ab den 1960er Jahren wurden deren Belange aber schnell auch in der Gesundheitsaufklärung präsenter. Die bundesdeutsche Gesundheitsaufklärung hieß die Erwerbsarbeit von Frauen gut und forderte zeitgleich von den Männern Unterstützung der Frauen ein. Die Erwerbsarbeit von Männern, die immer noch stark mit Leistungsstreben und Stärke verbunden war, wurde hingegen zunehmend kritisch betrachtet. Damit wurde indirekt Kritik am bestehenden Männlichkeitsleitbild geäußert, jedoch weder explizit ausgesprochen noch Alternativen präsentiert. Auch auf diesem Feld wurde in der DDR bereits frühzeitig und im Gegensatz zur BRD das andere Geschlecht in die Gesundheitspropaganda miteinbezogen. So waren aufgrund des normativen Leitbildes der berufstätigen Frau eben auch Frauen bereits in den 1950er Jahren Leitbilder in den Gesundheitsmedien der DDR. Bei genauerem Hinsehen fiel jedoch auf, dass die berufstätige Frau eine andere Darstellung erfuhr als der berufstätige Mann. Ihr Aussehen war oftmals wichtiger als die ausgeübte Tätigkeit. Die Bedeutung von Attraktivität und Aussehen war innerhalb der Gesundheitsaufklärung der beiden deutschen Staaten einem ähnlichen Wandel unterworfen. Sowohl in der BRD als auch in der DDR war die Schönheitspflege für Frauen ein permanent wichtiges Thema. Die westdeutsche Gesundheitsaufklärungsliteratur war angefüllt mit Schönheits- und Pflegetipps für Frauen. Attraktivität und Schlankheit wurden als für Frauen wichtigste Eigenschaften für Erfolg im Leben kolportiert. Die Schönheitstipps der Gesundheitspropaganda in der DDR sollten insbesondere dazu beitragen, dem Bild der ›geschlechtslosen Frau‹ aus der westdeutschen Propaganda entgegenzuwirken. Trotzdem war auch in diesem Kontext Berufstätigkeit weiterhin wichtig. So wurde ein gepflegter und attraktiver Körper als eine Voraussetzung für den Erhalt der Arbeitskraft eingefordert. Ab den 1980er Jahren trat in beiden Ländern auch vermehrt der Mann im Kontext der Schönheitspflege auf. In der BRD war es zunächst die Körperpflegeindustrie, die das Potential von Männern als Zielgruppe erkannte und sie bewarb. Die Gesundheitsaufklärung folgte wenig später. Und auch die Gesundheitserziehung der DDR propagierte von nun an das Leitbild des gepflegten Mannes. An vielen dieser Leitbilder lässt sich eine gegenseitige Bezugnahme zum anderen deutschen Staat ablesen. Auf der einen Seite gab es Versuche, sich direkt von ihm abzugrenzen, wenn beispielsweise in den 1950er Jahren in der
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DDR Frauen als Berufstätige dargestellt wurden. Auf der anderen Seite verliefen Entwicklungen wie zum Beispiel die Thematisierung von Körperpflege und die steigende Bedeutung von Schönheit im Männerleitbild nahezu parallel, was auf eine gewisse gegenseitige Bezugnahme hindeutet. In weiteren Forschungen könnte diese gegenseitige Verflechtungsgeschichte näher beleuchtet werden. So wäre danach zu fragen, welcher Staat sich eher an seinem Gegenüber orientierte oder auch bei welchen Gesundheitsthemen besonders auf die Aktivitäten des anderen Staates geachtet wurde und warum. Des Weiteren sind die Geschlechterleitbilder ein Produkt der jeweiligen Institutionen zur Gesundheitsaufklärung und damit zwangsläufig auch den persönlichen Ansichten und Meinungen der Redaktion bzw. der Autoren und Autorinnen unterworfen. In der DDR war die Entwicklung der Geschlechterbilder in der Zeitschrift Deine Gesundheit beispielsweise nicht repräsentativ für die gesamte Gesundheitspropaganda der DDR. So kamen seit den 1970er Jahren immer mehr Mitarbeiter in das Redaktionskollegium, die sich an neue Themen mit provokanten Aufmachern wagten, was ihnen häufig Ärger mit den übergeordneten Ministerien einbrachte.129 Auch wenn sich die Analyse dieser Form der persönlichen Einflussnahme auf die Inhalte der Gesundheitsaufklärung aus Quellengründen nicht gerade als einfach erweist, wäre eine weitere Auseinandersetzung damit sicher lohnenswert. Gegenwärtig steht eine zielgruppenorientierte, gendersensible Gesundheitsaufklärung noch am Anfang ihrer Entwicklung.130 Interessanterweise erkannte die Werbeindustrie die Notwendigkeit bzw. in diesem Fall den verkaufsstrategischen Vorteil einer Perspektive, die die kulturellen Prägungen und Handlungsweisen von Frauen und Männern einbezieht, deutlich früher als die Gesundheitserzieher. Die Tabakindustrie beispielsweise richtete seit Ende der 1920er Jahre immer wieder Kampagnen sprachlich und inhaltlich gezielt an Frauen oder Männer und berücksichtigte dabei deren (vermeintliche) Bedürfnisse oder versuchte vielmehr, die Bedürfnisse von Männern und Frauen mit dem Verkauf von Tabakwaren in Einklang zu bringen.131 Geschlechterdifferenzierte Ansätze in der Raucherprävention werden hingegen erst seit wenigen Jahren beschritten. Als Beispiel ist hier die Publikation der beiden Aufklärungsbroschüren »Stop Smoking – Girls« und »Stop Smoking – Boys« anzuführen.132 Erstmalig veröffentlichte die BZgA hier zwei geschlechterdifferenzierte Publikationen zu einem Thema mit dem Ziel, Mädchen und Jungen gezielter in ihrer spezifischen Lebenswelt zu erreichen. Wahrscheinlich aus Kostengründen fand diese Strategie jedoch auf anderen thematischen Gebieten der Gesundheitsaufklärung noch keine Anwendung.
129 Vgl. dazu das Interview mit der bereits erwähnten Chefredakteurin von Deine Gesundheit, Ursula Hertel: Von »Wasser-Heften« (1999), insbesondere S. 81. 130 Vgl. Walter/Lux (2006), S. 38. 131 Vgl. Dinges (2012), S. 132–139. 132 Vgl. Walter/Lux (2006), S. 42.
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Insbesondere Präventionskonzepte, die sich an männliche Zielgruppen richten, existieren bislang kaum133, was Altgeld angesichts des risikoreicheren Gesundheitsverhaltens und der höheren Sterblichkeit der Männer als »Gesundheitsförderungsparadox«134 bezeichnet. Geschlechterrollen müssen bedient, d. h. die spezifischen Motivationen und Lebenslagen von Frauen und Männern berücksichtigt werden, um Barrieren bei der Inanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen zu beseitigen.135 So müssten zum Beispiel Programme zum Nikotinausstieg die bei Frauen weitverbreitete Angst vor einer Gewichtszunahme auffangen, Initiativen zum Gebrauch von Sonnenschutzmitteln die geringe Akzeptanz gleichgeschlechtlichen Körperkontakts bei Männern beachten136 und Ankündigungstexte für Sportkurse auf vornehmlich weibliche Attribute verzichten. So weist Altgeld darauf hin, dass sich Anbieter von Gesundheitskursen nicht über eine geringe Teilnahme von Männern wundern müssten, »wenn zu einem Kochkurs für Einsteiger Schürze und verschließbare Behälter oder zu Kursen für Bewegung und Stressbewältigung dicke Socken mitzubringen sind«.137 Bibliographie Gedruckte Quellen BRD Apotheken-Umschau: Jg. 1956; Jg. 1970; Jg. 1985 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Ich muß ja schließlich das Geld verdienen! Köln 1978. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Familienbilder. Informationen über Familien in unserer Zeit. 17 Beispiele – Probleme und Hilfen. Köln 1979. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung; Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Die Ernährung des Kleinkindes und des Schulkindes. Köln 1973. Deutsches Gesundheits-Museum: Gesund und schön durch Reinlichkeit. Köln 1954. Deutsches Gesundheits-Museum: Wer schlank ist, hat mehr vom Leben. Köln 1959. Deutsches Gesundheits-Museum: Unser Kind ißt schlecht – was tun? Köln 1960. Graf, Otto: Die Krankheit der Verantwortlichen. Manager-Krankheit. Köln 1953. Kaiser, Karl: Die Manager-Krankheit lässt sich vermeiden. Köln 1953. DDR Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann: 75 Jahre Deutsches Hygiene-Museum in der DDR. Ein historischer Abriß. Dresden 1987.
133 Vgl. Altgeld (2007) und Altgeld (2009). Auch der Männergesundheitsbericht 2013 zum Thema »Psychische Gesundheit« benennt deutliche Lücken im Versorgungsangebot für Männer. Stiehler präsentiert einige wenige gesundheitsfördernde Projekte, die die seelische Gesundheit von Jungen und Männern in den Blick nehmen: Stiehler (2013). 134 Altgeld (2007), S. 91. 135 Siehe dazu ausführlicher Walter/Lux (2006). 136 Vgl. Walter/Lux (2006), S. 43 f. 137 Altgeld (2013), S. 10 f.
Geschlechterbilder in der Gesundheitsaufklärung
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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 34, 2016, 111–207, FRANZ STEINER VERLAG
Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft. Krankengeschichten in Briefen1 Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott Summary Protestant clergymen among Hahnemann’s clientele. Patient histories in letters The correspondence between the pastors Albert Wilhelm Gotthilf Nagel (1796–1835) and August Carl Ludwig Georg Mühlenbein (1797–1866), presented here in a standard edition, has been investigated at Fulda University as part of the project ‘Homöopathisches Medicinieren zwischen alltäglicher Lebensführung und professioneller Praxis’ (‘Homeopathic medicine between everyday use and professional practice’). Of the altogether 78 transcribed documents, 53 are letters written by either of the two pastors, 16 are patient journals by Samuel Hahnemann, 9 letters by the pastors’ wives and Mühlenbein’s mother. The two series of letters, originally composed between 1831 and 1833 in old German cursive script, can now be used as sources for research into the history of homeopathy. As part of the research project, developments in the history of science and in the regional and ecclesiastic history of the late feudal petty state of Köthen-Anhalt have been assessed and numerous documents of the Nagel and Mühlenbein family histories examined that place the transcribed patient letters of the two Protestant clergymen within the context of the Hahnemann Archives. These findings complement and extend previous insights into Hahnemann’s Köthen clientele, especially when it comes to the structure and milieu of the local clerical elite. Inspired by the interpretive methods of sequential textual analysis, form and content of the letters of the two clergymen and their relatives were also investigated as methodically structured lines of communication. The body of sources published here presents – embedded in the body-image (of sickness and health) prevalent at the time – the medical cultures of educated patients as well as the increasingly professionalized medical practices of Samuel Hahnemann in a flourishing urban doctor’s surgery.
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Die Transkription wurde vorgenommen von Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott, Projektgruppe »Homöopathisches Medicinieren«, Hochschule Fulda, unter Mitarbeit von Sandra Dölker, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM). Wir danken dem IGM, hier insbesondere Prof. Dr. Martin Dinges und Sandra Dölker, die unser Projekt von Beginn an sehr wohlwollend unterstützt haben. Es wurde mit internen Forschungsmitteln seitens der Hochschule Fulda im Umfang von 10.000 EUR gefördert.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Einleitung »Für die Sorge um das Gemüt sowie den Körper«, schreibt Bettina Brockmeyer in ihrem Buch »Selbstverständnisse«, »fühlten sich um 1830 sowohl Mediziner als auch Theologen zuständig.«2 Ausgehend von diesem ganzheitlichen Blick auf das menschliche Dasein erscheint es aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht reizvoll, sich für jede historische Epoche und immer wieder neu mit autobiographischen Dokumenten kranker Ärzte und/oder leidender Geistlicher und ihrer Familien auseinanderzusetzen, in denen sich professionelle Vorstellungen und alltagsbezogene Wissensbestände manifestieren. Das gilt umso mehr, als gesundheitswissenschaftliche Ansätze davon ausgehen, dass Gesundheit, eingebettet in Alltagspraxis und Alltagspraktiken, interaktiv hergestellt wird. In Haushalten und Familien als Handlungsräumen mit einer exklusiven Kommunikationsform (besondere Leibgebundenheit, hohe Interaktionsdichte, alltagsbezogene und transgenerationale Zeitstrukturen)3 wird Wirklichkeit konstruiert, Gesundheit erzeugt und Krankheit bewältigt. Genau auf diese Momente beziehen sich die Patientenbriefe an Samuel Hahnemann auf einzigartige Weise: Sie repräsentieren die medikale Alltagskultur aus Sicht der Patienten, vermitteln viel unmittelbarer als andere Dokumente ihr Körperbild, ihre Anschauungen zu leiblichen Vorgängen, und dies über längere Zeiträume hinweg. Zudem werden uns konkrete familiale Beziehungen und lokale Praktiken detailreich zur Anschauung gebracht.4 Samuel Hahnemanns »homöopathisches Mediciniren«5 begreifen wir als historisch konkrete, ganzheitliche, auf die Patientinnen und Patienten als ganze Person gerichtete professionelle Praxis, die aufs engste mit der Lebensweise der Kranken, mit ihren Beschäftigungen, ihrer häuslichen Lage, ihren bürgerlichen Verhältnissen oder ihrer »Gemüths- und Denkungsart«6 verwoben ist. Die von schreibkundigen, wortgewandten und die eigene Wahrnehmung detailliert reflektierenden Verfassern stammenden Briefe gewähren uns nicht nur Einblicke in die kulturelle Praxis des Briefeschreibens7, sondern auch einen vermittelten Zugang zu ihren Vorstellungen vom Leib sowie zu gebräuchlichen Heilweisen als Praktiken der alltäglichen Lebensführung. Zu den beiden Pastoren Albert Wilhelm Gotthilf Nagel (1796–1835) und August Carl Ludwig Georg Mühlenbein (1797–1866) und ihren Familienangehörigen konnten zahlreiche bildungs- und familiengeschichtliche Quellen ausfindig gemacht werden, die uns eine sozialhistorische Einordnung der Patientendokumente in einem viel umfassenderen Sinne gestatten, als das auf der 2 3 4 5
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Brockmeyer (2009), S. 31. Vgl. Allert (1998), S. 1. Dinges (2002), S. 104. Wir benutzen den heute nicht mehr gebräuchlichen Begriff »mediciniren«, der sowohl in den Schriften Samuel Hahnemanns als auch in den Briefen von Albert Wilhelm Gotthilf Nagel vorkommt, als Terminus, um soziale Praktiken des Heilens, der Selbsteinnahme von Arzneien und/oder andere gesundheitsbezogene Handlungen zu bezeichnen. Vgl. Hahnemann (1865). Brockmeyer (2009).
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Grundlage der medizin-/homöopathiegeschichtlichen Forschungen und der Interpretation der Patientenbriefe und Krankenblätter allein möglich wäre. In diesem speziellen Kontext erweitert sich mit unseren zwischenzeitlich veröffentlichten sozial-, regional- und familiengeschichtlichen Recherchen über die Pastoren Nagel und Mühlenbein8 der Wissensbestand über die Beziehungen zwischen Protestantismus/Pietismus und Homöopathie, über die Bedeutung der lokalen geistlichen Eliten für die Verbreitung der homöopathischen Heilweise bis in die niederen Stände und damit zu Fragen, die Robert Jütte als Forschungsdesiderate bezeichnet hat9. Sie ergänzen unser bisheriges Bild über Struktur und Verkehrskreise innerhalb der Patientenschaft Hahnemanns im unmittelbaren Umkreis seiner Köthener Praxis. Beide Briefserien evangelischer Geistlicher aus Köthen-Anhalt um 1830, die nun in einer Edition vorliegen10, tragen zur weiteren wissenschaftlichen Erschließung der Bestände des Archivs des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung bei11. Als Teil der transkribierten Patientenbriefe und Krankenblätter aus der Köthener Praxis des Begründers der Homöopathie, Samuel Hahnemann, sind sie fortan leichter für Fragestellungen zur Geschichte der Medizin und Gesundheitswissenschaften auswertbar. Aus diesen Quellen heraus können wir vermutlich besser verstehen, welche lokalen und epochenspezifischen Vorstellungen von Krankheit und ihrer Behandlung12 sowie welche Vorstellungen vom Kranksein und vom Genesen die Beziehungen zwischen medizinischen Experten (Heilkünstlern) und Laien (Erkrankten und deren Angehörigen) strukturier(t)en – Beziehungen, die wir heute vereinfacht als Arzt-Patienten-Beziehungen etikettieren und deren Bedeutung für die Wiederherstellung von Gesundheit gemeinhin als außerordentlich hoch eingeschätzt wird. Dennoch gelingt es auch in modernen und postmodernen Gesellschaften nicht ohne weiteres, eben diese hochkomplexen Beziehungen zwischen Heilerinnen und Heilern sowie Erkrankten systematisch so zu gestalten, dass die Genesung gefördert, eine Heilung beschleunigt oder zumindest keine Schädigung der Patientinnen und Patienten bewirkt wird. Suchprozess und Auffindung Bereits im Jahre 2009 entstand die Idee, unsere Forschungsaktivitäten am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda auf das Terrain der Medizingeschichte, genauer auf historische Quellen, die auf die Anfänge der Gesundheitswissenschaften verweisen, zu lenken. Dabei wollten wir nicht mit 8 9 10 11 12
Schlott/Schlott/Kreher (2014). Jütte (1996), S. 24. Melanie Schlott hat die Briefe in Anlehnung an Michalowski (1990) mit Akribie und Sorgfalt transkribiert. Sandra Dölker danken wir für die korrigierende Durchsicht, Ergänzung und Lückenschlüsse des Manuskripts. Dinges (2014). Duden (1987); Jütte (2013).
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
irgendwelchen Dokumenten arbeiten, sondern mit autobiographischen Dokumenten von guter Qualität, die sich für interpretative Analysen eignen. Wir nahmen an, Krankenakten, Tagebücher oder Archive, die möglichst viel von der Lebenswelt und der alltäglichen Lebensführung jener Menschen widerspiegeln, die gepflegt oder behandelt wurden, ließen sich in Fulda, das über eine Vielzahl von altehrwürdigen staatlichen und kirchlichen Institutionen der Krankenpflege und Gesundheitsversorgung verfügt, sicher leicht finden. Nachdem dort unsere Suche im Stadtarchiv, im Archiv des Bistums und im Deutschen Tuberkulosearchiv sowie in diversen Einrichtungen der Krankenbehandlung und Fürsorge geraume Zeit erfolglos geblieben war, dehnten wir sie auf entferntere Orte aus. Bei einem Besuch im Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart kamen unsere Projektmitarbeiterinnen Swantje Kubillus, Nicole Mottl und Julia Zahren Ende 2009 zum ersten Mal in Kontakt mit den dort vorhandenen Sammlungen. Ihrem Rechercheauftrag folgend, brachten sie eine Beständeübersicht13 und etwa 20 noch nicht wissenschaftlich erschlossene Briefe verschiedener Patientinnen und Patienten von Samuel Hahnemann als Beispielmaterial in Kopie mit nach Fulda. Unter ihnen befanden sich auch zwei der in deutscher Kurrentschrift14 verfassten Briefe eines gewissen Pfarrers Nagel, die am 9. September 1831 und 5. Dezember 1832 in Kleinpaschleben geschrieben worden waren. Endlich hatten wir ein Material gefunden, das so narrativ, d. h. so detailliert in seiner sprachlichen Verfasstheit und so reichhaltig für gesundheitswissenschaftliche Fragestellungen war, wie wir uns das von Beginn an vorgestellt hatten. Einordnung und Deskription der Briefbestände Zur Veröffentlichung liegen 26 Briefe der Familie Mühlenbein aus dem Zeitraum vom 13. März 1831 bis 5. November 1832 und 52 Briefe der Familie Nagel aus dem Zeitraum vom 16. Juli 1831 bis 23. Januar 1833 in transkribierter Form vor. Sie wurden von ihren Verfassern auf Papieren unterschiedlicher Stärke mit Feder geschrieben, wobei uns heute fragil anmutende, pergamentoder seidenpapierartige Bögen verwendet wurden, die speziell gefaltet und abschließend zumeist außen adressiert worden sind. Über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren offenbart sich in den Briefen, die zwischen Kleinpaschleben und Köthen, Wörbzig bzw. Görzig und Köthen kursierten sowie aus anderen zeitweiligen Aufenthaltsorten der Patienten verschickt wurden, eine intensive Kommunikation zweier Pfarrersfamilien mit der Praxis Samuel Hahnemanns.
13 14
Dinges (2009); Dinges (2014). Grundfertigkeiten des Lesens alter Privatschriften hatten wir uns mit der Unterstützung des seinerzeitigen Leiters des Fuldaer Stadtarchivs, Herrn Dr. Thomas Heiler, angeeignet.
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Alle im Rahmen unserer Projektgruppe bearbeiteten Dokumente stammen aus der Sammlung »B Deutsche Patientenbriefe und Krankenblätter von Samuel Hahnemann (Laufzeit: 1831–1835)«.15 In beiden Fällen sind es mit August Carl Ludwig Georg Mühlenbein und Albert Wilhelm Gotthilf Nagel die männlichen Haushaltsvorstände, die den überwiegenden Teil der Briefe verfasst haben. Einige wenige Briefe stammen von den Ehefrauen oder Müttern der beiden Pastoren (Familie Mühlenbein: 7, Familie Nagel: 2). Darüber hinaus enthalten beide Briefserien einige zum Teil ausführliche Krankenblätter mit Anamnesen oder Zwischenberichten zu den Krankengeschichten verschiedener Familienmitglieder (Familie Mühlenbein: 6, Familie Nagel: 11). Zudem verzeichnet nahezu jeder einzelne Brief Anmerkungen und/oder Verordnungen Samuel Hahnemanns, die ebenfalls mit transkribiert wurden. In beiden Briefbeständen gibt es Hinweise auf weitere Dokumente, die uns nicht vorliegen und die unser Bild von der lebhaften Kommunikation zwischen Hahnemann und seinen Patienten bzw. zwischen den beiden Pfarrersfamilien weiter vervollständigen könnten. Jenseits des voneinander abweichenden Umfangs weisen beide Briefserien Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf, die für bzw. gegen eine gemeinsame Veröffentlichung sprechen könnten. Für eine gemeinsame Veröffentlichung der Briefe von Pastor Nagel und Mühlenbein spricht, dass beide offenbar miteinander befreundet waren und vermutlich auch die Familien engen Kontakt miteinander pflegten. So schrieb Albert Wilhelm Gotthilf Nagel am 9. September 1831 einen Brief an Mühlenbein und bat den Freund, am kommenden Sonntag für ihn, den Erkrankten, dessen Zustand sich zusehends verschlechtert hatte, zu predigen (B31522). Im vorliegenden Bestand der Nagel-Briefe finden sich mehrfach Hinweise auf einen solchen Freundschaftsdienst. Umgekehrt jedoch werden die Nagels in den uns vorliegenden Briefen der Familie Mühlenbein nicht erwähnt. In den bereits veröffentlichten Krankenjournalen oder den dazugehörigen Kommentaren und Personenregistern finden sich verschiedentlich Hinweise auf Mühlenbein16, jedoch unseres Wissens kein einziger Verweis auf Albert Wilhelm Gotthilf Nagel oder seine Familie. Obgleich sich die Laufzeit beider Briefserien, die jeweils mehrere Sequenzen täglicher Korrespondenz mit Hahnemann enthalten, überlappt, gibt es mit dem 18. Mai 1832 interessanterweise nur ein einziges Datum, an dem sich beide Pfarrersfamilien vereint an den Homöopathen gewandt haben. Als methodisch gestaltete Kommunikationszüge17 müssen die Briefe in ihrer Eigensinnigkeit als spezielle Aufschreibesysteme verstanden werden und
15 16 17
Dinges (2009), S. 13. Fischbach-Sabel: Krankenjournal (1998); Fischbach-Sabel: Termini (1998). Allein ihre sequenzielle Abfolge zu untersuchen und die Krankheitsverlaufskurve des Erleidens bei Nagel zu rekonstruieren, wäre ein lohnendes Unterfangen: Schütze (1995).
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
sowohl in ihren Entstehungs- als auch in Verwendungszusammenhängen untersucht werden18. Die Briefe der beiden evangelischen Geistlichen und ihrer Familienangehörigen können nicht allein als Schriftstücke betrachtet werden, die ihren individuellen Schreibstilen oder den zeitgemäßen Usancen brieflicher Kommunikation entsprechen. Vielmehr dürften beide Verfasser auch auf die von Hahnemann praktizierte »individualisirende Untersuchung [jedes] Krankheitsfalles«19 und die seitens des Homöopathen geforderte Aufschreibeweise reagiert haben. Hahnemann empfahl »Krankheitsuntersuchern«, die Kranken ohne Unterbrechung aussprechen zu lassen und das Wahrgenommene in ihren eigenen Ausdrucksformen aufzuzeichnen. Für jede Angabe eines Symptoms oder einer Beschwerde sollte eine neue Zeile benutzt werden, so dass Zeitangaben, Ausprägungsgrade, Medikation, Empfindungen und »Geistes- oder Gemüthszustände« auf nicht suggestive Weise nachgefragt und nachgetragen werden konnten.20 Diese Empfehlungen an die Ärzte dürften sich gleichsam in den mehr oder weniger expliziten Anforderungen an die brieflich korrespondierenden Patientinnen und Patienten widerspiegeln. In unserem Quellenkorpus verbinden sich zeitspezifische Selbstverständnisse gebildeter Briefeschreiber21 und die von Hahnemann ausgehende Methodisierung und Rationalisierung der Arzt-Patienten-Kommunikation, welche im Laufe der Zeit immer weitere gesellschaftliche Kreise betraf22. Von ihrer Gestalt her, d. h. formal hinsichtlich ihres Aufbaus und der enthaltenen Textsorten, können wir in dem von uns bearbeiteten Quellenkorpus sechs große Gruppen an Dokumenten unterscheiden. Formale Gestalt der Patientenbriefe a) aus Patientenhand geschlossene Briefe Als solche verstehen sich von ihrer Gestalt her geschlossene Dokumente, die mit Höflichkeitsformeln eröffnet werden, auf die längere narrative Sequenzen folgen (z. B. detaillierte Darstellungen des Erlebten aus der Perspektive des Verfassers oder seine Angehörigen betreffend) und die dann mit Grußformeln oder Ergebenheitsbezeugungen, Ortsangaben und Datierung sowie mit Adressblättern oder Umschlägen komplettiert werden.
18 19 20 21 22
Wolff (2000). Hahnemann (1865), § 83 ff. Hahnemann (1865), § 85–88; vgl. Jütte (1998). Brockmeyer (2009). Vgl. Jütte (2007), S. 155 ff.
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Kurzbriefe Kurze Briefe ohne Anrede, die jedoch im Grundsatz die narrative Darstellungsform wahren und mit einer Unterschrift enden. geschlossene Briefe mit vorangestelltem oder angehängtem Symptomund Befindensbericht Narrative Texte, die das Interesse des Verfassers an biographischer Selbstpräsentation besonders befördern (zur Geltung kommen lassen), werden relativ gleichgewichtig kombiniert mit der tagebuchartigen Darstellung von Symptomen und des Befindens, gleichsam um der Berichtspflicht Hahnemann gegenüber nachzukommen. tabellarische Symptom- und Befindensberichte Das meint die taggenaue und tageszeitbezogene Aufzeichnung der als wichtig erachteten Symptome und Empfindungen, die Dokumentation von Änderungen des Befindens, Anmerkungen zu Verzehr und Ausscheidungen, zu Schlaf und Gemütsbewegungen. tabellarische Symptom- und Befindensberichte mit integrierten narrativen Sequenzen Bei dieser Dokumentenart überwiegen die tabellarisch berichtenden Darstellungen, die jedoch an einigen Stellen erzählerisch vertieft werden. b) von Hahnemann verfasst Krankenblätter Die von Samuel Hahnemann verfassten ausführlichen Krankenblätter wirken kryptischer als jene Dokumente, die von seinen Patientinnen und Patienten erstellt worden sind. In ihnen wird die jeweilige Krankengeschichte und Behandlung stichwortartig registriert – als eine Art kondensierte Anamnese. Dabei vermischen sich tageszeitgenaue und taggenaue Symptombeschreibungen und Verordnungen mit retrospektiven Betrachtungen, die unterschiedlichste Zeiträume rekapitulieren und bei Nagel sogar bis in die Kindheit und Jugend zurückreichen (vgl. E31332 vom 16. Juli 1831). Diese Krankenblätter und die Kurznotizen auf allen Patientenbriefen (oftmals in Gestalt schwer zu dechiffrierender Apothekerzeichen) werden in dem, was sie enthalten, deutlich bestimmt durch das Interesse des Homöopathen: Erscheinungen der Haut und Empfindungen auf der Körperoberfläche, Schmerzempfindungen und Gemütsbewegungen, Beobachtungen zu Essen, Trinken, Verdauung und Ausscheidung sowie zum Geschlechtsleben. Die folgende Übersicht ist das Resultat einer ersten groben Kategorisierung und Sequenzierung aller Dokumente beider Briefbestände und verweist auf eine formale Differenziertheit, die noch genauer untersucht werden kann.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Tab. 1: Formale Gestalt der Patientenbriefe Nagels und Mühlenbeins im Vergleich Art der Dokumente
Nagel
Mühlenbein
a) aus Patientenhand geschlossener Brief (teilweise mit vorangestelltem oder angehängtem Symptom- und Befindensbericht)
33
13
Kurzbrief
0
7
tabellarischer Symptom- und Befindensbericht
2
1
tabellarischer Symptom- und Befindensbericht mit integrierten narrativen Sequenzen
6
0
Krankenblätter
11
523
Gesamt
52
26
b) von Hahnemann verfasst
Quelle: eigene Zusammenstellung auf der Grundlage der ausführlichen Deskription des Briefbestandes
Erwartungsgemäß sind von der Gestalt her geschlossene Briefe im Materialkorpus am häufigsten anzutreffen. Albert Nagel greift häufiger zu tabellarischen Darstellungen von Symptomatik und Befindlichkeit als August Mühlenbein, der offenbar stärker dazu tendiert, die geschlossene Briefform zu wahren. Eine genauere Sichtung der Briefe Albert Wilhelm Gotthilf Nagels zeigt, dass er auf dramatische Veränderungen seines Gesundheitszustandes oder eine Zuspitzung der Lage im Haushalt des Pfarrers mit einer Veränderung seiner Schreibweise ›reagierte‹, indem er von der tabellarischen zu einer narrativeren, d. h. erzählenden und die Geschehnisse schreibend bewältigenden Darstellungsweise überging. Genau in diesen Fällen werden Patientenbriefe als erlebens- und erfahrungsverarbeitende Selbstbeschreibungen so interessant für interpretative textanalytische Verfahren, die von systematischen Zusammenhängen zwischen Textsorten und Themen, also besonderen Thematisierungsweisen ausgehen.24 Den von Albert Wilhelm Gotthilf Nagel am 9. September 1831 verfassten Brief an seinen Freund Mühlenbein haben wir einer tiefergehenden textanalytischen Analyse unterzogen und in seiner inhaltlichen und formalen Gestalt untersucht. Eine solche Mikroanalyse steht für die meisten Dokumente beider Briefserien noch aus und müsste um eine sequenzielle Analyse der Kommunikationszüge in beiden Briefserien ergänzt werden, um so die Muster der Wahrnehmung und Bewältigung von Krankheit, die Krankheitsvorstellungen, die familienbiographischen und beruflichen Selbstverständnisse von Landgeistlichen empirisch rekonstruieren zu können. 23 Ein ausführliches Krankenblatt zu Karoline Mühlenbein ist ohne eigene Signatur in einen Brief eingefügt (B32379 vom 4. April 1832). Ein weiteres Dokument gehört möglicherweise nicht zum Briefbestand Mühlenbein (E331028 vom 19. August 1833). 24 Fischer-Rosenthal (1996); Rosenthal (2005).
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Zeitgeschichtliche Hintergründe und lebensgeschichtliche Daten Unser Projekt zum »homöopathischen Mediciniren« reicht zeitlich genau in die medizinhistorische Epoche, auf die sich Michel Foucaults paradigmatisches Buch über die Geburt der Klinik bezieht25 und in der u. a. in Paris die empirisch-klassifizierende, nach unserem heutigen Verständnis »neuzeitliche« Phase der Medizin eingeläutet wurde. Unser Forschungsinteresse richtet sich jedoch nicht auf Frankreich, sondern auf Sachsen-Anhalt, eine für die Geschichte der Medizin und Gesundheitswissenschaften sehr bedeutsame Region.26 Halle an der Saale, wo um 1700 Frühaufklärung und Pietismus der modernen Wissenschaft und einer frühen Form des Wohlfahrtsstaates wichtige intellektuelle und moralische Impulse gaben27, sowie Bernburg, Dessau, Köthen, Nienburg und das Gebiet um Köthen mit der Gemeinde Kleinpaschleben, wo die beiden Pfarrersfamilien als Teil der lokalen Bildungselite lebten, sind die zentralen Schauplätze des Geschehens. Regionalgeschichtlich gesehen fiel das Wirken der beiden Geistlichen in Köthen und Kleinpaschleben in eine Zeit der wirtschaftlichen Stagnation. Die einst fortschrittlichen Domänen Anhalts konnten ihre Wirkung als frühkapitalistische Wirtschaftsformen nicht voll entfalten, da agrargesetzliche Reformen im spätfeudalen Kleinstaat Köthen-Anhalt ausblieben. Es gab Konflikte um Ablösungsfragen, um Hut- und Triftrechte, die bis zur Revolution von 1848 nicht geklärt werden konnten, so dass es zu einer starken sozialen Differenzierung der ländlichen Bevölkerung zu Lasten der ärmsten Kossaten und Kleinstbesitzer kam.28 In den beiden folgenden Kästen sind wichtige lebensgeschichtliche Daten der beiden evangelischen Geistlichen zusammengestellt. Abb. 1: Lebensgeschichtliche Daten von August Carl Ludwig Georg Mühlenbein 7.9.1797 in Nienburg geboren Vater: Johann Karl Wilhelm Mühlenbein (1760–1840), Schlossprediger in Nienburg, Pastor in Domburg, 1806–1840 Pastor in Wörbzig Mutter: Johanne Marie Friederike, geb. Kampper (1769–17??) 5.5.1810–1815 Besuch des gymnasialen Zweigs der renommierten Latina in den Franckeschen Stiftungen, Halle/Saale 24.10.1816 Studium an der theologischen Fakultät der Universität Halle, einer der angesehensten ihrer Zeit 1820 Hilfslehrer in Köthen 1821 Kollaborator an der Herzoglichen höheren Töchterschule in Köthen 1823 zum Oberlehrer ernannt 1824 Oberlehrer an der Armenschule und dem Lehrerseminar in Köthen
25 26 27 28
Foucault (1988). Toeller (2004). Lepsius (1996). Hoppe (1983), S. 9–31.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott 13.8.1826 Heirat: Karoline Mühlenbein, geb. Bunge aus Köthen (1809–18??); Tochter eines Gerbers und Lederfabrikanten vier Söhne: Gustav (1827–?); Richard (1829–?); Ferdinand (183?–?); Karl (1831–1910) 1832–1866 Pastor in Görzig 1860 Gründung einer »Kleinkinderbewahranstalt« in Görzig 16.7.1866 in Görzig gestorben
Quelle: eigene Zusammenstellung
Abb. 2: Lebensgeschichtliche Daten von Albert Wilhelm Gotthilf Nagel 18.12.1796 in Amesdorf geboren Vater: Christian Heinrich Nagel (1759–1812), Seminarlehrer in Köthen, Diakon in Güsten, 1787–1812 Pfarrer in Amesdorf Mutter: Auguste Friederike, geb. Lüdicke aus Köthen; Tochter eines Kaufmanns 27.10.1809–1815 Besuch des gymnasialen Zweigs der renommierten Latina in den Franckeschen Stiftungen, Halle/Saale 5.5.1815 Studium an der theologischen Fakultät der Universität Halle, einer der angesehensten ihrer Zeit Kirchenkandidat in Köthen 1826–1835 Pfarrer in Kleinpaschleben 23.6.1826 Heirat: Albertine Nagel, geb. Kohl aus Köthen (1801–1837), Tochter des Regierungsrates Johann Christian Wilhelm Kohl (1772–1822) vier Töchter und zwei Söhne: Anna (1827–?), Johannes (1828–1829), Eulalie (1829–?), Clara (1830–?), Albertine Mathilde (1831–1833), Karl (17.2.–31.8.1835) 1831–1833 Patient bei Samuel Hahnemann 31.5.1835 in Kleinpaschleben gestorben Quelle: eigene Zusammenstellung
Beide hier folgenden Briefserien als Belege der Patientenschaft der beiden Pfarrer und ihrer Familien bei Samuel Hahnemann datieren mit März 1831 bis Januar 1833 aus einer Zeit, in der der Homöopath in Köthen fest etabliert war und eine florierende Praxis führte. Zwei Drittel seiner Patientinnen und Patienten stammten zu der Zeit aus dem Adel, der Hofhaltung, dem Gerichtswesen, der Verwaltung, der Wissenschaft, dem Erziehungswesen, der Kirche und den künstlerischen Berufen.29 Albert Wilhelm Gotthilf Nagel litt – wie wir aus dem ersten Dokument, der Anamnese, erfahren – seit seiner Studienzeit (im Alter von 19 Jahren) an einer unbekannten Krankheit, die er jahrelang schulmedizinisch behandeln 29 Vgl. Jütte (2007), S. 152.
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ließ (E31332 vom 16. Juli 1831). Wenige Tage nach seiner Heirat im Jahre 1826 in Köthen stellte sich neben der Kurzatmigkeit erneut Bluthusten ein. In der Folge verschlimmerten sich die Beschwerden, an denen er möglicherweise schon sehr lange laborierte, immer wieder und führten schließlich im Sommer 1831 dazu, dass er den ärztlichen Rat Samuel Hahnemanns suchte. Die vorliegenden Briefe Mühlenbeins setzen mit einem Bericht über die Genesung und eine 14-tägige Episode des relativen Wohlbefindens seiner Frau Karoline ein, der einen Zusatz von Hahnemann mit einem Verweis auf deren vierwöchige Behandlung enthält (B31013 vom 13. März 1831). Der Abdruck der transkribierten Briefe beginnt mit den von August Carl Ludwig Georg Mühlenbein verfassten, die etwas früher einsetzen, aber auch früher enden als der Briefbestand Nagels. Bibliographie Allert, Tilman: Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin 1998. Brockmeyer, Bettina: Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gesundheit im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2009. Dinges, Martin: Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1830: Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann. In: Martschukat, Jürgen (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt/Main; New York 2002, S. 99–125. Dinges, Martin: Beständeübersicht des Archivs des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM). Stuttgart 2009. Dinges, Martin: Beständeübersicht des Archivs des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM). Stuttgart 2014. Duden, Barbara: Vorbemerkung: Wider die Ungeschichtlichkeit des Leibinneren. In: Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut: Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987, S. 7–11. Fischbach-Sabel, Ute: Hahnemann, Samuel: Krankenjournal D 34 (1830). Stuttgart 1998. Fischbach-Sabel, Ute: Medizinisch-pharmakologische Termini, Dialektwörter, Abkürzungen. In: Hahnemann, Samuel: Krankenjournal D 34 (1830). Kommentarband zur Transkription, hg. v. Robert Jütte. Stuttgart 1998, S. 35. Fischer-Rosenthal, Wolfram: Strukturale Analyse biographischer Texte. In: Brähler, Elmar; Adler, Corinne (Hg.): Quantitative Einzelfallanalysen und qualitative Verfahren. Gießen 1996, S. 99–161. Foucault, Michel: Vorrede. In: Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/Main 1988, S. 7–17. Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst: Mit Abdruck der Vorreden und Wichtigsten Varianten der ersten bis fünften Auflage, neuen Bemerkungen und einem Anhange aus Samuel Hahnemann’s Schriften, hg. v. Arthur Lutze. Köthen 1865. Hoppe, Günther: Domänen, Drescher und Kossaten. Zu den agrarischen Verhältnissen im Köthener Land bis zur Revolution von 1848. (=Kleine Köthener Monographien zur Regionalgeschichte 2) Köthen 1983. Jütte, Robert: Samuel Hahnemanns Patientenschaft. In: Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie. Patienten, Heilkundige, Institutionen. Von den Anfängen bis heute. Heidelberg 1996, S. 23–44. Jütte, Robert: Case taking in homeopathy in the 19th and 20th centuries. In: British Homeopathic Journal 87 (1998), S. 39–47. Jütte, Robert: Samuel Hahnemann. Begründer der Homöopathie. München 2007. Jütte, Robert: Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2013.
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Lepsius, M. Rainer: Die pietistische Ethik und der Geist des Wohlfahrtsstaates oder: Der hallesche Pietismus und die Entstehung des Preußentums. In: Clausen, Lars (Hg.): Gesellschaften im Umbruch. Frankfurt/Main 1996, S. 110–124. Michalowski, Arnold: Richtlinien zur Edition von Hahnemann-Handschriften. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9 (1990), S. 195–203. Rosenthal, Gabriele: Biographieforschung und Fallrekonstruktionen. In: Rosenthal, Gabriele: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim; München 2005, S. 161–198. Schlott, Thilo; Schlott, Melanie; Kreher, Simone: Der »Blut hustende« Kleinpaschlebener Pastor Albert Wilhelm Gotthilf Nagel. Biographisch-medizinische Rekonstruktion auf der Grundlage von Patientenbriefen an Samuel Hahnemann. In: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 23 (2014), S. 109–134. Schütze, Fritz: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger, Heinz-Hermann; Marotzki, Winfried (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen 1995, S. 116–153. Toeller, Richard (Hg.): Die Geburt einer sanften Medizin. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle als Begegnungsstätte von Medizin und Pietismus im frühen 18. Jahrhundert. Halle/ Saale 2004. Wolff, Stephan: Dokumenten- und Aktenanalyse. In: Flick, Uwe; Kardorff, Ernst von; Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 502–513.
Danksagungen Unser besonderer Dank gilt a) Herrn Prof. Dr. Dinges, Herrn Prof. Dr. Jütte und Frau Dölker vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart für die intensive fachliche Unterstützung und die Bereitstellung der Patientenbriefe, b) den zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Archivs der Universität Halle, des Archivs der Franckeschen Stiftungen, des Archivs der Stadt Köthen und des Archivs der Stadt Bernburg für ihre Hilfsbereitschaft, c) Frau Kersten vom Evangelischen Pfarramt in Kleinpaschleben, d) Frau Ingeborg Streuber, Kustodin des Schlossmuseums in Köthen, e) Pfarrer Arne Tessdorf, Kirche St. Vitus, Güsten, f) Herrn Preckel vom Landeskirchenamt Dessau, g) Herrn Dr. Heiler, Leiter des Stadtarchivs und des Kulturamtes der Stadt Fulda, für die Vermittlung profunder Kenntnisse im Lesen/Transkribieren der deutschen Kurrentschrift, h) den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Julia Zahren und Swantje Kubillus der Hochschule Fulda für ihre konstruktive Mitarbeit im Projekt »Homöopathisches Medicinieren«.
Transkription1 Patientenbriefe Pfarrer Mühlenbein n
B31013 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Frau Karoline), geschrieben am 13.03.1831, von Hahnemann bearbeitet am 13.03.1831
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\Den 13 März 14 §, künftig natr. m. [Natrium muriatium] / hatte den 13 Febr. [Februar] 14 Calc [Calcarea carbonica]`` v. [und] 26 Febr [Februar] noch einmal fort Calc [Calcarea carbonica]``/ Werthgeschätzter Herr Hofrath! Da ich heute mit meiner Frau über Land fahre so ist es keinem von uns möglich, zu Ihnen zu kommen. Meine Frau hat sich übrigens in den verflossenen 14 Tagen überaus wohl befunden; sie hat über nichts zu klagen Ursach gehabt, und würde sonach complett gesund sein, wenn auch der weiße Fluß aufgehört hätte. Da derselbe aber noch ebenso geht als vorher, so ersuche ich Sie, mit d. [der] Medicin gefälligst darauf Rücksicht zu nehmen. Ihr Köthen am 13. März ergebenster 1831 LMühlenbein
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B31050 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Gustav), geschrieben am 03.04.1831, von Hahnemann bearbeitet am 03.04.1831
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\Den 3 April 7 § No 1 ant. cc. [Antimonium crudum] 1 Globuli C30 bis Die [Dienstag]/ Werthgeschätzter Herr Hofrath! Unser Gustav, der es schon seit einigen Tagen auf der Brust hatte, daß er öfters husten mußte, und gestern wahrscheinlich etwas zu viel Kuchen gegessen hat, wurde in dieser Nacht auffallend krank. Er bekam ein ordentliches Fieber, zuerst Frost, so daß er zitterte und zusammenschauderte, Füße und Hände waren eiskalt, Kopf Brust und Leib aber trocken heiß. Der Frost verlor sich und es trat noch mehr Hitze über den ganzen Körper ein, sodaß auch nach und nach Hände und Füße warm wurden. Er klagte hierauf über den Leib und bekam in einzelnen Abschnitten sehr heftige Leibschmerzen, so daß er dabei laut aufschrie und sich krümmte und umherwarf. Während der Schmerzen trat starker Schweiß ein, der aber gleich weg war, sobald sie sich legten. Um 3 Uhr des Nachts fing sich der Zustand an und jetzt 5 ¾ Uhr
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In Anlehnung an die Editionsrichtlinien von Michalowski (1990).
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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würgte er sich und wollte brechen, konnte aber nicht dazu kommen. Ich bitte um Ihr gütige Hülfe. Wörbzig d. [den] 3. Apr. [April] 1831 Ihr ergebenster LMühlenbein
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B32385 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline (über ihren Sohn Richard), geschrieben am 05.04.1831, von Hahnemann bearbeitet am 05.04.1831
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\5 Apr [April] Mühlenbeins Richard gestern früh mehrmals er Anto. crud [Antimonium crudum] gerochen morgen ganz früh zu riechen Carb. v. [Carbo vegetabilis] vielleicht über morgen [Tinktur] [Schwefel]/ Den 4tn April mittags um 12 Uhr stellte sich das Fieber wieder ein er war sehr ruhig dabei, nur einige mal auf, und blickte ⌈sehr oft⌉ um immer mit den Augen, Wenn er hustete, so dauerte es nur kurze Zeit, ohne sehr viel zu weinen Er war bei alle dem nur sehr leicht zugedeckt, vor dem Fieber trank er sehr viel, während demselben fast gar nicht. Die Nacht hat er sehr ruhig geschlafen, Die Lippen sind nicht mehr schwarz⌈…⌉ den ganzen Vormittag ist er ruhig gewesen nur schrecklich eigensinnig, hat wenig *und hat unter nach Draußen war, lang und ist auch öfter draußen gewesen, weil er so sehr weinte*, gehustet, Den Nachmittag stellte sich wieder Frost ein, und er war sehr unruhig hat ein halbes Franzbrodt gegessen und auch ein ganz kleines bischen Taubenfleisch, gegen drei Uhr stellte sich das Fieber wieder ein die Hände fingen ihm wieder an zu brennen und auf die Backen bekamm er ganz rothe Flecken, während dem Fieber bekamm er Oeffnung zwar nur sehr wenig und sehr hart er greift im Schlafe immer auf den Kopf und schläft sehr unruhig. Urin hat er öfter gelassen. Die Zunge ist nur noch wenig belegt. /hat gestern den 7 ein Paar Mal gewürgt und Schleim ausgebrochen gestern manchmal etwas gegessen, diesen Morgen wollte er Milch, ließ sie aber stehen auch forderte er ein Bämme2, aß aber nichts davon ist kalt anzufühlen und hat kein Leben, heute Stuhl gehabt hat (doch selten) st. Husten ihm heute N. M. [Nachmittag] den 8ten stark in [Tinktur] [Schwefel] U riechen lassen\ erst mußte der ganz kleine Carl (auch an [Tinktur] [Schwefel] riechen) darnach hatte sich das Stechen nicht gebessert war auch etwas eigensinniger.
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»Bämme« bedeutet im anhaltinischen Sprachgebrauch »Brotschnitte«.
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Den 16 April bekam jedes dieser Kinder Calc. [Calcerea carbonica] ein Globuli C30, der Richard war noch sehr eigensinnig und hatte etwas geschwollenes übers rechte Auge und mehrere Bückelchen am rechten Ohre.
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B31060 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Gustav), geschrieben am 06.04.1831, von Hahnemann bearbeitet am 06.04.1831
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\6 April Mühlenbeins Gustav auf Acon 1 Globuli C30 den 4ten Apr [April] / Gestern Abend traf ich ihn ziemlich munter. Das Pulver wurde ihm etwa um 8 Uhr eingegeben. In d.[der] Nacht zwar geschlafen aber 5–6 mal aufgewacht, und nach d. [dem] Trinken verlangt. Heute Morgen immer Fieber, große Hitze, und dabei über Kopfschmerzen geklagt; zuweilen gehustet und dabei Schmerzempfindung, starkes Verlangen nach Trinken – Zuckerwasser \(1/2 Apfel gegessen)/. Dieser Zustand dauerte den ganzen Morgen bis Nachmittag 2 Uhr. Da schlief er fest ein und kam dabei sehr in Schweiß; gegen 4 Uhr wachte er auf und schrie wohl ¼ Stunde lang ohne aufs Fragen anzugeben, wo es ihn wehthun; es schien mehr Eigensinn und Verdrüßlichkeit als Folge des Schlafs zu sein. Er verlangte hierauf Milch, und trank 2 Tassen Milch mit Appetit, verlangte ein Butterbrodt, aß aber nur 2 Happ. Er urinierte, was er seit heute Morgen 6 Uhr nicht gethan. Der Urin sah dunkel und trübe aus. Um 5 Uhr Stuhlgang, beschwerlich und hart und dunkel. Seit 4 Uhr schon Spiellust und sogar das Verlangen nach draußen. Nachmittag wieder etwas Ausfluß aus d. [der] Nase.
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B31062 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Gustav), geschrieben am 07.04.1831, von Hahnemann bearbeitet am 07.04.1831
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohl [Wohlgeboren] p. expr. [per express] frei Köthen
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((2)) \7 Apr. [April] Mühlenbein Gustav heute N. M. [Nachmittag] Bell. [Belladonna Atropa] 1 Globuli C30 § extra trocken einzugeben 7 April/ Werthgeschätzter Herr Hofrath Nach dem Ihnen gestern eingehändigten Zettel kennen Sie den Zustand Gustavs bis vorgestern Abend. Er hatte auch die Nacht darauf ziemlich geschlafen, war auch am gestrigen Morgen noch munter, trinkt 2–3 Tassen Milch und hatte Lust zum Spielen. Gegen 10 Uhr hatte das Fieber wieder angefangen und bis d [dann] 4 Uhr des Nachmittags angehalten, er war dabei auch mehr hin gewesen als vorgestern, hatte gewaltige Hitze gehabt, über d. [den] Kopf geklagt und öfters gehustet – trocken – beim Husten selbst Schmerzgefühle verrathen, und zugleich über Schmerzen in der Magengegend geklagt, sich auch öfters auf d. [der] Herzgrube gefaßt. Um 4 Uhr Nachmittags hatte sich Schlaf eingestellt, der bis gegen 8 Uhr anhielt. Nach dieser Zeit war er wieder munter, freute sich über die ihm mitgebrachten Spielsachen, ließ sich nicht an den Tisch setzten und verlangte einige abgekochte
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Pflaumen und aß davon 4 Stck. [Stück] Schlief dann wieder und hat die ganze Nacht gut geschlafen, –, nur einmal aufgewacht. Beim Aufstehen wollte er zu Stuhle, wollte aber wegen empfundener Schmerzen nicht drücken, und seit Abgang war nur ein kleines unbedutendes Stückchen. Er war hierauf am heutigen Morgen munter bis gegen 10 Uhr trank einige Tassen Milch, und spielte, zeigte sich doch dabei sehr eigensinnig. Um 10 Uhr trat wieder Fieberhitze ein, er liegt dabei ziemlich ruhig – und trinkt jetzt wieder 2 Tassen Milch (Des Morgens hat er auch schon einigemal Gose getrunken) Er wollte wieder zu Stuhle, schrie aber beim Drücken und ließ deshalb nach so daß gar kein Abgang erfolgte und er nur Urin ließ, was er seit gestern gegen Abend nicht gethan hatte. (Gestern Nachmittag hatte er öfters gepißet.) Das Fieber ist heute nicht so heftig als gestern; h [hat] geschlafen von halb 11 Uhr bis gegen 12 Uhr, da aufgewacht und heftig geschrien über Leibschmerzen. Sehr oftes Husten; er kann aber nicht recht aufhusten, denn es schmerzt ihn zu sehr. Gegen 2 Uhr wird das Fieber heftiger, wieder viel Hitze, unruhiges Umherwerfen, Klagen über Leibschmerzen, es kullert im Leibe,
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ob das wohl von der Gose ⌈sei⌉ ist? Immer noch Husten ohne Erfolg, er getrauet sich gar nicht aufzuhusten, und giebt in seinen Mimen dabei zu erkennen, daß es ihn sehr schmerzt. Haben Sie nun doch die Güte, dem armen Kleinen wieder
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Medicin zu schicken, damit das garstige Fieber nachläßt, das ihn ganz abmattet, denn er kann kaum noch allein gehen. Seit 9 Uhr ist er nicht vom Sopha aufgestanden. Ihr Wörbzig d.[den] 7. Apr. [April] 1831. ergebenster Lmühlenbein Nachmittags 2 Uhr LMühlenbein
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E31102 Anamnese von Hahnemann (über Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline und ihren Sohn Gustav), geschrieben am 20.04.1831
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Den 20 April Mühlenbeins Gustav v. [vom] 6,7 Apr. [April] hatte erst Acon [Acontium napellus], dann Bell. [Belladonna atropa] Worauf er argen Schweiß bekam und dann war er schnell wohl aber sehr eigensinnig geworden Schlaf und Appetit hatte gleich beim Antritt des Fiebers ein paar Bläschen am rothen Halse was nur ein größerer Fleck geworden ist, als ein Thaler im Mittelpunkte hellroth, am Umkreise dunkelroth schabig. Doch klagte er keine Empfindung, kein Zücken Es heute noch gehen lassen Sie Mühlenbein ist schwanger, heute ihr 14 3 wegen den W.Fl.4 dreis natr.m. [Natrium muriaticum] und Kali [Kalium] v. [vom] 26 März Febr [Februar] hatte den 13 März Calc [Calcera carbonica] früh 14 befand sich nun wohl, blaß bei Gustav Kopf †…† /und dann für 2 G wieder\ Stuhl nun regelmäßig jezt bekömmt ihr das Spazieren vor keiner Speise mehr Ekel W.Fl.5 viel weniger (hatte ihr schon viele Jahre seit der ersten Niederkunft) Schlaf gut trinkt kein Kaffee
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E31101 Anamnese von Hahnemann (über Pfarrer Mühlenbeins Sohn Richard), geschrieben am 20.04.1831
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Mühlenbeins Richard heute 7 § No 1 Latm [Latrodectus mactans] 1 Globuli C30 seit einige Tage Röth in der r. [rechten] Augenwulst (soll den Urin nicht gut haben lassen können?) heute morgen unwillkürlich stehend dan dünnen Stuhl fahren lassen, sonst Schlaf gut, Essen und Trinken
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Unter der Ziffer 14 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 14 Streubzw. Zuckerkügelchen gemeint. Weißfluss. Weißfluss.
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eigensinnig
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E31173 Anamnese von Hahnemann (über Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline), geschrieben am 18.05.1831
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18 Mai Mühlenbein Sie es ward Niederkunft ohne Arznei zu lassen v. [vom] 20 Apr. [April] 14 alt [alternierend6] hatte den 19 März calc. [Calcarea carbonica]`` erwartet die Niederkunft zu Ende Mai oder Anfang Juny hat sich weit wohler befunden, keinen Ekel noch W. Fl.7 Nur kann sie sich nicht lange bewegen möchte gern liegen, Füße wollen nicht /fort\ Schlaf sehr gut, Appetit, Stuhl den 16 Stiche in der l. [linken] Bauchseite von Anstrengung
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B31273 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Richard), geschrieben am 18.06.1831, von Hahnemann bearbeitet am 18.06.1831
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\18 Jun [ Juni] das Kind an Camph. [Campher] R. [Tinktur] lassen und 1 § auf den Abend/ Werthgeschätzter Herr Hofrath! Richard ist seit einig Tag nicht recht wohl; es fehlt ihm am Lust zum Spielen, er ist fast den ganzen Tag eigensinnig, hustet öfters, nießt mitunter, ist auch des Nachts unruhiger als gewöhnlich, hat zuweilen trockene Hitze, einigemal schien es, als wolle er sich brechen. Finden Sie nöthig, ihm Medicin zu geben, so bitte ich darum und verharre mit Ergebenheit. LMühlenbein d. [den]18. Jun. [Juni] 1831
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B31274 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Richard), geschrieben am 20.06.1831, von Hahnemann bearbeitet am 20.06.1831
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\10 Jun [ Juni] †…† Camph. [Campher] [Tinktur] und 2 §/ Das Pulver den Sonnabend Abend d. [den] 18. eingenommen Richard hat in d. [der] Nacht vom Sonnabend zum Sonntag sehr gut geschlafen, und war auch gestern morgen recht munter. Nachmittag wurde er jedoch wieder eigensinnig verlangte öfters als gewöhnlich nach Essen und Trinken ohne ersteres aber wirklich zu genießen. In der letzten Nacht war er sehr unruhig, er hat fast garnicht geschlafen, verlangte immer zu trinken. Jetzt ist er ebenfalls noch in sehr eigensinniger Stimmung,
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»Alternierend« im Sinne von »jeden zweiten Tag einnehmen«. Weißfluss.
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beim Milchtrinken heute und gestern Morgen auch des Mittags bei d. [der] Suppe hustet er stark, bei jedem Schluck hustet er. Köthen d. [den] 20 Juni. 1831. Ihr ergebenster LMühlenbein
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B31343 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Frau Karoline und einen namentlich nicht genannten Sohn), geschrieben am 19.07.1831, von Hahnemann bearbeitet am 19.07.1831
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((1)) \19 Jul [ Juli] Sie Mühlenbein 3 Camph [Campher] alle Stunde 1 g in Wasser/ Werthgeschätzter Herr Hofrath! Meine Frau hat heute Kirchgang gehalten, wonach sie unwohl geworden. Sie klagt über Halsschmerzen, die Mandeln sind angeschwollen; im Halse selbst hat sie Stechen, namentlich beim Schlucken; auch hört man’s an der Sprache, daß der Gaumen oder Hals geschwollen sein muß. Außerdem hat sie auch Drücken in Stirn und Augen. Die Tage her hat sie nicht geklagt, wohl hat aber der Kleine schon seit einigen Tagen mehr geschrien als bisher, vorzügl [vorzüglich] des Abends und wollte er während dieser Schreiperiode die Brust nicht nehmen. Finden Sie es für nöthig meiner Frau heute Abend noch Medicin zu geben, so bitte ich darum. Uebrigens hatte sich meine Frau vorgenommen, Sie morgen früh zu besuchen und bittet, ihr dazu eine Zeit zu bestimmen, doch wo möglich nicht so früh. Ihr ergebenst LMühl [LMühlenbein]
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlg [Wohlgeboren] hier.
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B31353 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Frau Karoline), geschrieben am 21.07.1831, von Hahnemann bearbeitet am 21.07.1831
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\21 Jul [ Juli] Mühlenbein ihr noch 6 g Campher ein nehmen lassen/ Ihrem Befehle gemäß, werthgeschätzter Herr Hofrath, benachrichtige ich Sie von dem Zustand meiner Frau. Sie ist bis jetzt ganz wohl und hat über nichts zu klagen. Der Kleine ist gestern Nachmittag sehr unruhig gewesen, hat gestern den ganzen Tag keinen offenen Leib gehabt,
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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hat aber in dieser Nacht gut geschlafen – bis jetzt aber noch keine Oeffnung. Cöthen am 21. Jul. [Juli] 31. Ihr ergebenster LMühlenbein
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlg [Wohlgeboren] hier.
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E31582 Anamnese von Hahnemann (über Pfarrer Mühlenbeins Mutter), geschrieben am 29.09.1831
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29 /Sept [September]\ Pastorin Mühlenbein (62) hat seit 14 Tagen Husten /und Schnupfen\ früh gegen Morgen \5 U. [Uhr]/ und Abend \4,5 U. [Uhr]/ /vor Schlafen gehen\ nach vielem Husten Schleimspucken hat immer gegen Ab. [Abend] schon lange so ein Treiben im Blute /Hände, Adern\ wird warm und ängstlich schon lange aufgetreten Schlaf doch nachts ziemlich, stöhnt im Schlafe sep [Sepia succus] oft so beklemmt auf der Brust, wie zu eng auch nach Gemüthsbewegung sep [Sepia succus] Stuhl tägl [täglich] N. M. [Nachmittag] Appetit leidlich/ kein Nachtschweiß 14 § No 1 [Tinktur] [Schwefel] ein Globuli C30
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B31591 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline (über ihren Sohn Karl), geschrieben am 02.10.1831, von Hahnemann bearbeitet am 02.10.1831
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\2’ Oct. [Oktober] Carl Mühlenbein v. [vom]16 Sept [September] da 7 alt [alternierend] Mutter [Tinktur] [Schwefel] zwei Globuli C30/ Hochgeehrtester Herr Hofrath! \Soll ihm diesen Ab. [Abend] Klistir von reinen lauen Wasser geb [geben]/ Mein kleiner ⌈ist⌉ Karl ist wieder krank, er schreit seit einer Stunde fast immer, und ist schon heute den ganzen Tag über sehr unruhig gewesen, hat öfters gehustet, und hat seit zwei Tagen keinen offenen Leib gehabt, auch ist er des Nachts sehr unruhig, Ich bitte Sie daher recht sehr, mir doch Metizin zu schicken Ihre ergebenste K Mühlenbein
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B31628 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Frau Karoline), geschrieben am 10.10.1831, von Hahnemann bearbeitet am 10.10.1831
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\10 Oct. [Oktober] Mühlenbein Sie 7 § No 1 Rheum`` nächstens calc. [Calcarea carbonica]/ Meine Frau ist seit gestern Morgen krank, lieber Herr Hofrath, und bittet um ihre gütige Hülfe. Ihr Zustand ist folgender. † 8 Leibschmerz, wie Wehen, hauptsächlich in der Nabelgegend, ziehend, in Ruhe wie in Erregung gleich Kollern im Leibe Häufiger ganz dünner Stuhl, starker säuerlicher Geruch unverdaute Speisen, die in dem gestern Mittag genossenen Apfelmus befindlich gewesenen kleinen Rosinen, sind ganz so, wie sie waren, wieder abgegangen Abgang von stinkenden Blähungen. Appetitlosigkeit Trockenheit im Munde, mit Durst verbunden, Unruhiger, träumender Schlaf, Schwindel beim längeren Stehen Schlaffheit im ganzen Körper, Unlust zur Arbeit Schwere der Füße Drücken in der Stirn † 9 der Leibschmerz kommt ruckweise, dabei biegt sie sich zusammen, und streicht mit beiden Händen den Leib nach unten zu ___________
Der Säugling ist dabei ganz munter. Cöthen d. [den] 10. Octbr [Oktober] 31. Ihr ergebenster LMühlenbein
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Dem Herrn Hofrath Hahnemann Wohlig hier
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B31649 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline (über sich selbst), geschrieben am 16.10.1831, von Hahnemann bearbeitet am 16.10.1831
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\Frau Pastor Mühlenbein in Wörbzig v. [vom] 29 Sept [September]/ Den 1ten Oktober nach ist mein Gefinden das selbe Den 2ten der Husten ist sehr stark *16 Okt. [Oktober] 1410* Den 3ten das selbe Den 4ten der Husten Läßt etwas nach aber der Druck von dem Blute ist noch stark so daß mich mannigmal ist als wenn mich alles zu enge wäre Den 5ten auch so wie gestern doch schlafe ich jetzt
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Anfang einer Aufzählung. Ende einer Aufzählung. Unter der Ziffer 14 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 14 Streubzw. Zuckerkügelchen gemeint.
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wenig und ich kann mich nicht denken daß in meiner Lebens Art die Schult (lig) Liegt ich esse des Abends wenig Den 6 Husten ist viel besser Den 7 auch läßt das Treiben in Blute etwas nach aber Schlafen kan ich wenig und wenig Aptiet Den 8ten und 9ten und 10 mein Husten ist ganz ver schwunden es ist mich auch so ziemlich wohl nur fihle ich immer solche schwere in mich es ist als wenn mein Magen so schwer wäre Den 11ten und 12 Husten habe ich nicht mehr aber das Blut ist immer noch unruhig, auch die Schwere fihle ich immer noch Den 13ten diese Nacht habe ich wenig geschlafen Stuhlgang habe ich aber alle Tage
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B31751 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Mutter Friederike (über sich selbst), geschrieben am 10.11.1831, von Hahnemann bearbeitet am 10.11.1831
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\10 Nov [November] Pastorin Mühlenbein v. [vom] 16 Oct. [Oktober] hatte den 29 Sept [September] 14, [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30 = 1, 31, 10 = 42. 14 Placebo/ Bey den ersten 3 Pulfer habe ich keine Veränderung bemerkt Den 26ten October mein Husten ist ganz weg auch findet sich etwas Schlaf, den 27ten mein Mund ist in wendig ganz Wund auch habe ich auf der rechten Seide in der Backe und nach dem Auge zu einen zeimlihgen (ziemlichen) Schmerz Den 28ten Der Schmerz ist noch den 30ten der Schlaf ist etwas besser auch habe ich jetz mehr Aptit, der Schmerz ist aber noch den 2ten November das Zahnfleisch ist noch ganz Wund auch ist mein ganzer Körper so entfindlich Den 4ten die Schmerzen in meinen Magen ist nicht mehr so stark auch das Treiben im Blut hat sich sehr gegeben F Mühlenbein
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B31790 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Frau Karoline), geschrieben am 23.11.1831, von Hahnemann bearbeitet am 23.11.1831
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlg [Wohlgeboren] hier.
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((2)) \23 No. [November] Mühlenbein soll Ab [Adends] sehr wenig genießen/ Verehrtester!
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Ich rechne stark auf Ihre gütige Entschuldigung wegen der Störung, die Ihnen meine Frau wieder meinen Willen verursacht hat. Obgleich ich ihr sagte, daß es nicht nöthig sei, hatte sie doch in der Angst des Herzens fortgeschickt. Ehe aber der Bote zurückkam, war ich schon wieder hergestellt. Ich wußte nämlich, daß ich nur gestern und vorgestern bei Gelegenheit des an beiden Tagen gehaltenen Besuches den Magen mit fetten ungewohnten Speisen überladen hatte. Da ich nur gestern einen sehr unbedeutent und heute Morgen gar kein Stuhlgang gehabt hatte, so war die Natur genöthigt, sich des Uebermaßes auf ungewöhnliche, und wie es nicht anders sein kann, quälende höchst anstrengende Weise zu entledigen. Mir schien das von Ihnen in einer Note des Organ. [Organon] empfohlene Mittel »Aufriechen am Aconit und hierauf einige Tassen starken Kaffetrankes genossen« für meinen Fall specifisch zu sein, und ich bin nicht getäuscht worden. Schon nach dem Riechen ließen die Schmerzen nach und nach dem Genuß des Kaffees war ich wieder auf den Beinen; und würde unfehlbar selbst zu Ihnen gekommen sein, wenn ich nicht befürchtete, daß das üble Wetter meinem aufgeregten Körper schaden könnte. Ich habe auch nach dem Kaffee noch einige Male breiigen Stuhlg. [Stuhlgang] gehabt, doch schmerzlos, habe jetzt nur noch ein geringes Brennen im Unterleibe, sowie das Gefühl einer Art unbedeutender Gärung in demselben. Von dem mir überschickten †…† habe ich noch nichts genommen. Soll es noch geschehen? Der Zufall trat ein, als ich ein paar Löffel Milchsuppe gegessen hatte. Die übrigen Speisen bleiben natürlich unangetastet. Darf ich nun oder auf d. Abend etwas genießen? Hunger und Appetit habe ich jetzt schon. Cöthen d. [den] 23. Novbr. [November] 1831. Ihr ergebenster LMühlenbein Den 3 Dez [Dezember] roch Mühlenbein Lycop [Lycopadium] B31794 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über sich selbst und seine Arbeit), geschrieben am 24.11.1831, von Hahnemann bearbeitet am 24.11.1831
((1)) Werthester HerrHofrath! Unter der Zeit, als mein Bote bei Ihnen war, mußte ich wieder zu Stuhle. Der Abgang war ebenfalls wieder Blut, ohne Koth. Ich bediente mich dann des Riechfläschchens worauf im Laufe einer Stunde die Schmerzen etwas nachließen, doch mußte ich nochmals zu Stuhle, und der Abgang war ebenso. Vor einer halben Stunde, wo ich wieder zu Stuhle ging, war es mehr hell rotgefärbter Schleim, ebenfalls ohne Koth. Die Leibschmerzen sind nicht mehr so heftig, doch ist es immer noch als wenn der Bauch inwendig verwundet wär, aber auch als wenns die Gedärme recht derb zusammengedrückt würden; am Schlimmsten, wenn ich, wie jetzt, beim Schreiben den Leib drücke durch das Verbiegen des oberen Körpers. Die Fleischbrühe mit 1 Semmel hat mir vortrefflich geschmeckt; kann ich des Abends wieder etwas Suppe essen? Und was für welche?
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Fleischbrühe ist nicht mehr vorhanden. Beigehend erhalten Sie noch den Brief des Herrn Dr. [Doktor] Schmidt mit allem Danke zurück. Zugleich benachrichtige ich Sie daß ich heute von d. [der] Regierung eine Verfügung erhalten habe 1., so lange als Sr. [Seiner] Herzogl [Herzoliche] Durchl [Durchlaucht] sich über den Verkauf der homöopath. [homöopathische] Arzneien nicht gnädigst ausgesprochen haben, sich des Verkaufs und der Austheilung von Arzneien, es mögen solche von Herrn Hofrath Hahnemann, oder aus auswärtige Apotheken genommen sein bei Vermeidung fünf Thaler Strafe für jeden Contraventionsfall 11 zu erhalten, 2., ein Verzeichnis von denjenigen Personen, an welche er homöopath. [homöopathische] Arzneien für Geld abgelassen, binnen acht Tagen bei Herzogl [Herzoglichen] Landesregierung einzureichen. Ich habe mich darüber nicht geärgert. Ihr LMühlenbein d. [den] 14. Novbr [November] 31. ((2)) \24 Nov. [November] Mühlenbein ihn heute plb [Plumbum metallicum] riechen lassen/ Sehr werthgeschätzter Herr Hofrath! Ihrer Erlaubnis zu Folge aß ich gestern Abend ein bißchen Wassersuppe mit einem Ei abgequirrlt; und ein Schnittchen Butterbrodt, nicht den 4ten Theil von dem, was ich sonst zu essen pflege. Bald darauf fingen die Leibschmerzen, die mich dahin ganz verlassen hatten, wieder an und traten fast eben so heftig auf als den Mittag. Heftiges Schneiden und Kneipen in d. [den] Gedärmen, so daß ich mich ganz zusammen biegen mußte; dabei starkes Pressen im Mastdarme, Drängen nach dem Stuhle und fast noch heftigeres zum Urinieren; es erfolgte dünner Stuhl, der aber nicht leicht abging sondern herausgepresst werden mußte; sehr bald darauf wieder. Ich griff nun zum Kampfer und nach und eines Tropfen in einem Lüffel voll kalt Wasser und wiederholte dies nach jedesmaliger Zwischenzeit von 5 Minuten 6Mal, hatte mich während der Zeit ins Bett gelegt und die Schmerzen ließen nach nur der Stuhl- und Urinzwang blieb, so daß ich nach mehrere Male aufstehen und zu Stuhle gehen mußte. Es erfolgte dabei immer nur wenig dünner Stuhl, obgleich es schien als wenn noch viel abgehen müßte, ebenso auch wenig Abgang von Urin, obwohl die Blase ganz angefüllt zu sein schien. Dieses Drängen zum Stuhl und zum Urinieren blieb die Nacht durch und weckte mich circa 4Mal aus dem Schlaf auf, und hatte immer denselben geringen Erfolg. Gegen Morgen zu fand das Drängen weniger statt; und ich war bis auf ein geringes Wundheitsgefühl eine Art Schrunde im Leibe ganz wohl. Gegen 8 Uhr stand ich auf mußte dann nach ungefähr einer halben Stunde wieder zu Stuhle und der Abgang Zwischenfall einer Gesetzesüberschreitung.
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war zu meinem größten Erstaunen fast lauter Blut – durchaus kein Koth dabei, dagegen aber mit etwas Schleim untermischt. Seit der Zeit habe ich fortwährend Schneiden im Leibe, was, wenn ich den Leib vorbiege, stärker wird. Ich habe natürlich seit gestern Abend noch nicht das Mindeste genossen, und wage dies auch jetzt noch nicht.
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Sehr unlieb ist es mir, daß ich nicht selbst zu Ihnen kommen kann, aber ich wage es nicht. Ich muß Sie daher äußerst bitten mir außer der etwa nöthigen Medicin auch die wesentlichsten Verhaltensregeln mitzuteilen. Cöthen d. [den] 24. Novbr [November]1831. Ihr LMühlenbein
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B31858 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Magd), geschrieben am 08.12.1831, von Hahnemann bearbeitet am 08.12.1831
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((1)) Mühlenbeins Magd von Br [Bryonia alba] [Tinktur] Halsstechen wieder und Kehle auch wieder – \Gestern N. M. [Nachmittag] vielen Schweiß wenig geschlafen, sieht im Liegen rot aus a heute Bell. [Belladonna atropa] [Tinktur]/ Unser Dienstmädchen hat seit gestern Abend einen dicken Hals Aeußerlich ist der Hals auf der rechten Seite steif und verursacht Schmerzen bei d. [der] Bewegung, die Halsdrüsen sind geschwollen auf d. [der] Seite Innerlich am Schlund ist alles geschwollen, so daß sie nichts hinunterschlucken kann. Stechende Schmerzen beim Schlucken (ohne daß sie etwas hinunterschluckt) Kopfschmerzen, als wenn die Stirn zerspringen sollte Däuselig Ihre Menses sind in Ordnung, jetzt ist ihre Zeit nicht.
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb [Wohlgeboren] hier.
Gestern Abend habe ich sie an Kampfer riechen lassen, da ich glaubte daß es von Erkältung herrühre, aber ohne Erfolg. Ich würde ihr Bryon. [Bryonia alba] geben wegen 1, 7, 21, 25, 78, 81 ihrer Symptome wenn nicht Ihre sichere Hülfe so nahe wär. Finden Sie es für gut, so kann es noch geschehen, da ich damit versehen bin, wo nicht, so werden Sie schon die Güte haben, mir etwas anderes für sie zu schicken. Cöthen d. [den] 8.Dzbr. [Dezember] 1831. Stets der Ihrige LMühlenbein /Lassen Sie sie einmal, doch nur wenig an Bryon [Bryonia alba] riechen; morgen früh wollen wir sehen, ob Bell. [Belladonna atropa] nöthig sei. Ihr S. H. [Samuel Hahnemann]\ ((2))
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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B32042 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seine Söhne Richard und Gustav), geschrieben am 16.01.1832, von Hahnemann bearbeitet am 16.01.1832
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\16 Jan. [ Januar] Richard Kali [Kalium] 1 Globuli C30 dem Gustav soll er Cupr [Cuprum metallicum] 1 Globuli C30 geben/ Lieber Herr Hofrath! Richard, dem Sie am 13. d.[des] M. [Monats] etwas gegen die Fieberhitze gaben, hat heute einen heftigen Husten folgender Art: Er krächzt fast unaufhörlich Er ist dabei immer, als wollte er sich brechen, was auch heute Mittag ein Mal geschah Er ist sehr eigensinnig und knorrig, was er sonst nicht ist. Der Appetit ist sehr gering. – Stuhlg. [Stuhlgang] in Ordnung. Auch Gustav hat den Husten so ähnlich nur bei weitem nicht so stark. – Soll ich ihm etwa Cupr [Cuprum] geben? oder wollen Sie mir etwas anderes für sie schicken? Im erstern Falle wollen Sie gefälligst den Boten nur ein: Ja! mit zurückgeben, damit Sie keine unnötige Mühe haben. Ihr LMühlenbein d. [den] 16. Jan [Januar] 1832 Kali [Kalium] nehmen der Husten aber den 17ten N. M. [Nachmittag] von 12 U. [Uhr] an wieder knorrig und schreig, doch ohne Husten
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeboren hier
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B32379 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein und dessen Mutter Friederike (über die Söhne Richard und Gustav und Pfarrer Mühlenbeins Frau Karoline), geschrieben am 04.04.1832, von Hahnemann bearbeitet am 04.04.1832 sowie mit Datum vom 23.03.1832
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((1)) \4 Apr [April] Mühlenbeins Richard soll bloß N. M. [Nachmittag] heute ant. cr. [Antimonium crudum] riechen/ Lieber Herr Hofrath! Da ich heute in Dienstgeschäften verreisen muß, sendete ich Ihnen den Bericht über Richards Zustand gestern Nachmittag und die Nacht über schriftlich zu. Gestern Mittag, nachdem er auf Antim. [Antimonium] cr [udium] ? gerochen, bekam er etwas Appetit. Suppe, die er nie geliebt, wollte er jedoch nicht er langte selbst nach etwas Fleisch, spie es aber wieder aus; er schaute nach allen Speisen auf dem Tische umher doch behagte ihm keine; von einige herbei geholten Aepfeln aß er einen halben Den Nachmittag war er größtentheils wach und ruhig; gegen 4 Uhr ließ ich riechen, und er aß hernach einige Bisquitplätzchen, war bis gegen Abend
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ruhig, nur daß ihn der Husten öfters incommodirte 12. Halb 9 Uhr trat das Fieber wieder ein, Füße und Leib waren brennend heiß, die Backen geröthet. Er griff dabei mit den Händen über den Kopf weg, und nach den Lippen die ihn beim Husten schmerzten. Er schlief immer 5–10 Minuten, dann erwachte er, schrie, hustete und achzte einige Minuten, dann schlief er wieder. Frost ging nicht vorher; auch trank er nicht dabei. Ich ließ ihn während dieses Zustandes wieder an Ant. [Antimonium] crud [ium]? Riechen, er ⌈schlaft⌉ schlief darauf immer länger und länger, bis er hernach stundenlang schlief und er keine Hitze mehr hatte. Gegen Morgen zu schlief er recht ruhig. Beim Aufstehen zeigte er viel Neigung zum Erbrechen, er würgte mehrmahls aber ohne Erfolg. Jetzt trinkt er etwas Milch; der Husten ist lockerer als die Tage her. Die Respiration ist noch rasch. 4ten Apr.[April] Ihr ergebenster LMühlenbein Die Nase läuft ihm auch sehr, und er ist sehr eigensinnig will gern raus getragen sein und hat noch keine Oeffnung wieder gehabt. ((2)) \23. März ⌈beiden⌉ erst acon [Aconitum napellus] [Tinktur] v. [vom] 26 Febr. [Februar] und nach 4 Stunden wonöthig Placebo ant cr. [Antimonium crudum] 1 Globuli C30 bloß Richard nahm [Antimonium crudum] 1 Globuli C30/ *die Nacht (23/24) um 12 wieder das ängstliche Schütteln, dann Bel [Belladonna atropa] gerochen da schlief er ruhiger, daß von Zeit zu Zeit (gelindes) Rütteln immer in Sch. [Schmerz] Schreit dabei und dann kommts noch ein paar Mal, gestern Abend die Nacht und heute (24) morgens sich Schleim gebrochen Vor dem Brechen wieder unruhig, will raus und rein, setzt ein paar Mal hin ehe es zum Brechen kömmt – dann ruhig gestern Abend viel getrunken* Gustav und Richard Mühlenbein Gustav Fieber seit gestern gegen Abend. Viel Hitze, und dabei starken Durst. Die Augen thun ihm weh. Auch klagt er über Leibschmerzen. Beim Schlaf kurzer Athem, und momentan Zucken durch den ganzen Körper, odervielmehr Zusammenfahren Die Nacht durch viel Schweiß. Heute Morgen Milch verlangt, aber nur die Tasse auf ein Mal ⌈halb ge⌉ halb getrunken, dann wieder niedergelegt, und später dies wiederholt. Gegen Morgen hatte die Hitze nachgelassen; um 7 Uhr fing sie wieder an. Richard, der seit einigen Wochen sehr wenig aß, †…† *Gustav gestern Ab. [Abend] recht hübsch bis 12 U. [Uhr] dann Schreien über Leibschm., Leib †…† schmerzt. und †…† da nachts auch Bel [Belladonna atropa] [Tinktur] nur rückweisen, die Nacht 3 Mal doch weniger mit Gesichtshitze seit 9 U. [Uhr] V. M. [Vormittag] aber arge Hitze klagt Kopfe und Behelligte.
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Leibschmerzen dabei oft Aufstoßen, Lippen trocken, Stuhl gut Richard gestern durchfällig heute kein Stuhl keine Lust zum Spielen beide eigensinnig beide Cham [Chamomilla] [Tinktur]* kaum warmen Speisen, allenfalls Brei; dabei abmagert und sehr eigensinnig ist, verfiel gestern nach Tische, obwohl er nur einige Bissen Bäckerbrodt gegessen hatte, in Schlaf, nach 1 Stunde erwachte er, und hatte im Schlafe hofirt (dicker lehmfarbiger Brei, starker Geruch). Setzte sich dann auch nochmals auf d. [den] Nachtstuhl; Die Excremente ebenso, nur weniger. Dann war er ⌈sehr ⌉ munter nur still und muthlos. In der Nacht bekam er ebenfalls Fieber, wie Gustav. Viel Hitze, dabei Wimmern und starker Durst, anfangs trockene Hitze, späterhin die Haut feucht Oft aus dem Schlafe erwacht und geschrien. Früh beim Trinken der Milch (auch nur die Tasse halb) Zittern der Hände Stuhlgang bald darauf, gehackt und schleimig. Der Leib thut ihm weh. Er verfällt immer wieder in Schlaf; erwacht oft wieder, schreit und ringt die Hände. (Milch will er nicht mehr trinken, ⌈aber⌉ / sondernGose) ((3)) Sie Mühlenbein nach abgewohnung (vor 6 Tagen) die Brüste strotzend beide haben einen rothen Fleck, wobei es heute sticht mehr als die vorigen Tage § [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30 Richard den 28 heute morgen ein Mal und ein Mal geschüttelt wie brecherlich, auch war er eigensinnig, schläft mit geschlossenem Mund, aber zuweilen halbgeöffneten Augen, ist er erwacht (alle ½, 1, 2 Stunden) so ists oft nur ein Augenblick und dann stöhnt und kränkt er, macht ein schmerzhaftes Gesicht beim Husten Zunge ist rein geworden / seit mehreren Tagen kein Stuhl / heute ein umschrieben rothen Fleck auf der einen Backe 1 st. lang hatte den 25 Ab. [Abend] [Arsenicum] gerochen / Cham [Chamomilla] [Tinktur] / Bell [Belladonna atropa] [Tinktur] / Ant. Cr [Antimonium crudum] 1 Globuli C30 / acon [Aconitum napellus] [Tinktur]. den 28 heute wieder Bell [Belladonna atropa] [Tinktur] Abend den 30 die Nacht ruhig geschlafen früh mehr getrunken auch etwas genossen, dann ins Freie, dann geschlafen Mittag 12 Uhr bis 3 U. [Uhr] dann Kälte d.[des] Gesichts die Hände und Füße und heißer Bauch drauf auch Gesicht heiß und roth – beim Husten und Schlucken geschrien, Stuhl seit Sonntags nicht soll Klystier vom lauen Klöster 21 Nachtschlaf gut, kein Stuhl heute, wenig Durst, nichts gegessen äußerst eigensinnig, will müßte mehrmals in die freie Luft, stöhnt beim Sitzen, schneller Athem, im Gesicht zuweilen heiß,
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im Schlaf Gesichtsschweiß heute Br. Morgen [Arsenicum] 2 davon je Nacht unruhig, diese besser gewesen keine Milch und nur Wasser getrunken, schläft zu ¼ Stu. [Stunde], nacheinander, schrie dann plötzlich auf mit ängstlichkeit, mußte raus, und dann wieder ins Bett und ist wieder auf. Mit Husten erwacht er. / Gegen Ab. [Abend] sich gewürgt zum Erbrechen Dieser Morgen 3 ¼ auch erwacht mit Schreien, und oftmals Würgen nacheinander, dann wieder Abwechslung von Schlafen und Aufschreien, mit großem Durst um 7–8 ½ U. [Uhr] heute geschlafen Gestern Stuhl mit Beschwerden heute [Arsenicum] [Tinktur] früh wollte pissen um 6 ½ und konnte nicht nun unwillkürlich †…†
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B32606 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbein (über seinen Sohn Karl), geschrieben am 18.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 19.05.1832
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\19 Mai Mühlenbeins Carl Cham [Chamomilla] erlaubt, und wenns morgen nicht besser ist, Calc [Calcerea carbonica] 1 Globuli C30/ Sehr werthgeschätzter Herr Hofrath! Mein kleiner Carl, der jüngste, ist schon längere Zeit so heiser; er röchelt, daß mann es mehrere Schritt weit hört, hustet dabei, vorzüglich des Nachts und ist durch in der nacht unruhig; in d. [der] vergangenen Nacht hatte er sich zwei Mal verunreinigt, das 2te Mal dünner Stuhlgang. Uebrigens ist er namentlich am Tage munter und vergnügt. Mir scheint zwar Cham. [Chamomilla] zu passen, doch traue ich meiner Ansicht zu wenig, und ersuche Sie daher freundschaftlichst, mir auf einen kleinen Zettel den Namen des Mittels, das ich ihm geben soll, aufzuschreiben. So werden Sie die wenigste Mühe damit haben und dem Kleinen wird geholfen. Sie in aller Eile, mit welcher ich diesen Brief schreibe, herzlich grüßend, verbleibe mit dergrößten Hochachtung Ihr ergebenster LMühlenbein Görzig am 18. Mai 1832
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B321395 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Mutter Friederike (über sich selbst), geschrieben am 23.10.1832, von Hahnemann bearbeitet am 23.10.1832
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\23 Oct [Oktober] alte Mühlenbein Buch v. [vom] 19 da ihr 7 § und [Spiritus] [Salpeter] z. [zum] R. [Riechen]/ Wörzig den 22 October /wieder und wenns nicht hinreicht No 1 zu riechen (mur magn [Magnesium muriaticum])\ den 20ten die Kopfschmerzen lassen etwas nach, aber Hitze habe ich viel, doch ist meine Haut etwas feut, das Husten ist aber
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sehr stark – den 21ten die Kopfschmerz haben ganz nachgelassen aber das Treiben im Blute ist und die Hitze ist *Heut 7 Placebo tägl ⌈eins⌉ zwei, und gefragt, ob sie von dem andern Gläschen Gebrauch gemacht aufdessen Papiere No 1 stand* noch sehr stark Aptiet weinig und weinig Schlaf der Husten ist sehr stärk doch habe ich in wendig keinen Schmerz nicht mehr den 22 Kopfschmerzen habe ich nicht mehr auch habe ich diese Nacht etwas geschlafen der Husten ist. etwas besser aber die Hitze habe ich noch Die verdauung ist Regelmäßig Heude [Heute] Abent [Abend] nehm ich das letze Pulfer F Mühlenbein
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B321453 Krankentagebuch von Pfarrer Mühlenbeins Mutter Friederike (über sich selbst), geschrieben am 05.11.1832, von Hahnemann bearbeitet am 06.11.1832
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\6 Nov [November] alte Muhlenbein v. [vom] 23 Oct. [Oktober] da 7 Placebo / 7 Placebo und [Spiritus] [Salpeter] d. [detur13] (und No 1 murmagn [Magnesium muriaticum]) \?/ ⌈…⌉ 19 in Buche hat sies gerochen heute? 7 alt. [alternierend] bei No 1 und 5 [Schwefel] [Tinktur]./ Werthgeschätzter H Hoffrath Mit meinem Befinden ist es alle Tage etwas besser geworden, der Husten komt nur noch einige Mal des Tages, auch ist es bey weiten nicht mehr so angreifend Die Hitze hat sich auch fast ganz verloren, aber meine Hände sind noch so heiß, Kopfschmerzen habe ich nicht, aber ein immer werendes [immerwährendes] getöse vor meinem Ohre auch habe ich noch viel Treiben in Blut, schlafen thun ich so ziemlich, der Appiet [Appetit] wird auch etwas besser aber seid 2 Tagen fühle ich solchen heimlichen Schmerz in der Linken Seite er komt von den Rücken her und geth unter Arm nach der Brust, wenn ich mich der Hand hin drücke fühle ich es auch, es muß von der Aufregung des Husten seyen, der Schmerz ist neben den Rückgrat über die Hüfte, Ihre Ganzergeben F Mühlenbein Wörbzieg [Wörbzig] ten [den] 5ten Nov [November]
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E331028 Krankennotizen von Hahnemann (über eine unbekannte Frau), geschrieben am 19.08.1833
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Lateinisch für »gegeben«.
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19 Aug [August] Mühlenbein An Reiche in Zelle Frau (32) krank ihr [†…†] Tiele alle 10 Tage zu riechen erst in 5 1 Globuli C30 [Schwefel] dann in Nm natr m [Natrium muriaticum] dann in HS hep [Hepar] [Schwefel] dann in c. a. carb. an [Carbo animalis]
Patientenbriefe Pfarrer Nagel n
E31332 Anamnese von Hahnemann (über Pfarrer Nagel), geschrieben am 16.07.1831
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16 Jul. Pastor Nagel in Kl. Paschleben [Kleinpaschleben] seit 5 Jahren verheiratet Hat bloß gestern früh 11 U. [Uhr] bis Ab. [Abends] 10 Uhr gerochen. Blutspeien verlor sich daran, hat gar keine neuen beschwerden vom CamphorR [Tinktur] gespürt,. Hatte schon vor 12 Tagen etwas Blut ausgeworfen den 14ten kam Blut sehr viel, hustete es auch. ist auch sehr kurzäthmig seit 5 Jahren. Den ganzen Mai darauf Husten, Schnupfen mit großer Mat= tigkeit u [und] viel Auswurf wie dicker Nasenschleim zäh Von jeher nicht viel Husten I Wenn sein Uebel im Anzuge ist artet freilich alles in Husten aus bloß bei Nießen, Lachen, Schnauben dann Husten, oft krampfhaft Bisher kam unversehens Bluthusten, mit vorgangiger Engheit auf d [der] Brust vorzüglich nach Essen \ph. Calic. Carbon Con [†…† Calcium carbonicum †…†]/ im vorigen Herbste leztes Blutspeien (zum ersten Male vor 5 Jahren Ende July fühlt sich drauf überm Knie Schlaffheit, wird davon ganz niedergeschlagen. Bnn ließ im zur /Ader\ bei jedem Stechen in der Brust,, Seite ließ er 1821, 22, 23, 24. \Blut/ War 23 in Ems als Kind sehr kranklicht u schwächlich, aber auf der Schule und Universität ganz gesund *Sehr schweißige Füße blaß im Gesicht geruchlos, von jeher hat Wellen über die ganz Haut.* im 20ten Jahre als Kandidat in großen Platz gekommen, hielts aus 1 Jahr, von da gekränkelt und so fort bis heute Stuhl sehr regelmäßig eher zu oft, nicht zu weichl. [ich] In den ersten 8 Tagen seiner Verheiratung kam das Blutspeien zum ersten Male. Da gleich Aderlaß. ¼ Jahr nun schwer Brustkrankheit von Maischbädern besser. Arznei war alle mal krank, oder †…† [Weinstein]si und Pillen abführend, die ihn linderten wenn er Brust,, beengung hatte.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Hatte viel Geschlechtstrieb im Ehestand in Anfang als Junggesell, trank keinen Wein (und kein Kaffe d [den] 13n also vor d lezten Blutspeien Erdbeer mit purem Weine genossen (etwa ein Glas Wein betragend) Das seltne Blutspeinen in Menge tief aus d [der] Brust, das gewöhnlich kömmt durch Räuspern aus den Kehlkopf auch die letzten 3 Tage meist nur aus d [dem] Kehlkopf dabei gewöhnlich und wieder so beengt, daß er nicht mäßig konnte, oder Schmerz in einem Schulterblath, Stich und Drücken sehr beengend Sein Uebel gewöhnlich mit Unterleibbeschwerden verbunden. I *predigt sehr kräftig und laut und ist dabei nicht ausser Odem und nicht angegriffen aber bei Vorlesen kömmt er ausser Odem. Brust aufgeregt, voll Leidenschaft, kann sich kaum mäßigen zur Niedergeschlagenheit und zur Freud fühlt aufgelegt.* Ist gespannt über dem Magen, dann darf er nur ein Bisse essen so ist er voll, dann ist die Zunge belegt dann Aufstoßen säuerlich, und Aufschwulken dabei ist er kurzäthmig. Er kömmt aber auch ohne Unterleibsbeschwerden Kurzathmigkeit, dabei oft Herzklopfen, und Wallen im Blute eher wird kein Mal gesund wieder, wenn er nicht einmal predigen kann, was ihn jedesmal herstellt. erschrickt sich über Blutspeien bloß weil er dann nicht predigen soll. Auch allemal früher beim Blutspeien I Wie alles bei ihm, auch bei Aerger heftig vor 14 Tagen kams von Aerger Erst seit 1 Jahren Schnupfen wieder, vor Weihnacht und im Mai 1819 zuerst (damit fing sich s. [seine] Krht [Krankheit] an) ein (Kopfe) Ohrgeschwür mit ungeheueren Schmerzen, seitdem auf dem l. [linken] Ohr /schwerhörig 20 Zoll\ Jezt sehr eng, und wirds noch mehr beim Gehen I doch kann er tief Athemholen I beim Campher R. [Tinktur] konnte erst. mäßig /(sonst bei Engbrustigkeit nicht.)\ 14 † …† N°1 [Tinktur] [Sulphur] 1 Globuli C30 wennes gut geht, d [den] 18te früh anzufangen Appetit, diese Nacht etwas ruhiger als vor d [den] Campher gehts indes nicht gut 8 [Tropfen] [Spiritus] Camph. [Champhor] einzunehmen nicht bezahlt
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B31491 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 01.09.1831, von Hahnemann bearbeitet am 01.09.1831
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Dienst. [Dienstag] 2 Aug. [August] heute früh etwas mehr Husten als gewöhnlich; die aeltere Sache \1 Sept. [September] Past [Pastor] Nagel heute 24 N° 1 †˹…˺2 ad. 1 Globuli C 12 v. [vom] 1 Aug [August] hatte d [den] 16 Jul [ Juli] [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30/ ist seit gestern Abend abgelegt. Mittw. [Mittwoch] 3 Aug. [August] Hustenreiz und Auswurf weniger als gestern.
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Dumpfig auf der * Bei ⌈Das⌉ bloße Gehen auf Ebenen ist er nicht engbrüstig, nur beim steigen und wenn Er mit jemand im Gehen spricht auch darf er nicht zu schnell gehen Sonst kömmt er außer Athem* Brust wie gestern. Blutauswurf bis vor ½ Stunde 6–7 mal Jedesmal mehr und röther. Nach einigen Stunden der Auswurf nicht mehr mit Blute vermischt. Abends gegen 7 Uhr fand sich der bekannte Schmerz in der rechten Schulter ein; um 9 Uhr war er nicht mehr. Donnerst. [Donnerstag] 4 Aug [August] Früh gegen 3 Uhr bis 5 heftiger Leibschmerz. Kein Husten. Stuhlgang erfolgte ungewöhlicher Weise erst geg [gegen] 1 Uhr. Aber ½ 6 Uhr spürte ich den bekannten Schulterschmerz, der sich auch noch den Arm herzog. Gegen 10 Uhr war er gelinder. Freit. [Freitag] 5 Aug. [August] Kein Schmerz mehr in der Schulter und Seite. Kein Husten. †…† Mal lockerer Auswurf. Stuhlgang Nachmittag nicht consistentz \Viel Räuspern/ dampfig auf der Brust. Sonnab. [Sonnabend] 6 Aug.[August] Zunge belegt. Offner Leib wieder sehr weich Sont.[Sonntag] 8 Aug.[August] Röcheln in der (Brust) Luftröhre, doch nur ½ Stunde. Appetit gering. Stuhlgang Nachmittag fest. Mont [Montag] 8 Aug.[August] Röcheln in d. [der] Bruströhre. Stuhlgang Abends. Dienst [Dienstag] 9 Aug. [August] Rauh auf d. [der] Brust. Ungeregelter Stuhlgang \nicht gutes, stückiger/ *hat immer den Reiz zu so ersuchen ob d Schulterbl. [Schulterblatt] Noch da sei* Mittw [Mittwoch] 10 Aug.[August] Rauh in der Kehle. Schmerz auf der rechten Brustseite \hemmt den Oden und das Nießen/ Don. [Donnerstag] 11 Aug. [August] wieder rauh auf d. [der] Brust. Stuhlgang sehr ungeregelt. Freit [Freitag] 12 A. [August] Morgens dampfig auf d. [der] Brust. Kurzer Odem. Hohler Husten Sonn. [Sonntag] 13 A.[August] Husten. Kurzer Odem Sonntag 14 A. [August] Am Schluß der 2ten Predigt fühlte ich ein Druck auf der rechten \bloß beim athmen/ Brustseite, der mich den ganzen Tag nicht verließ und Sich Abends mehr auf der Schulter zog, in der Nacht aber die ganze rechte Seite einnahm. *Ehedem Stich im Achselgelenk beim athem hohlen Ehedem auch wohl Brustkrampf Wie zusammengepreßt und beengt und †…† zugleich* Mont [Montag] 15 Der Schmerz ist verschwund [verschwunden], aber auf der Brust fühle ich mich sehr auffallend kurz ist mein Odem Dienst. [Dienstag] 16. Die Brust ist etwas heiter. (vorher Brustschwach) Mittw [Mittwoch] 17. Kein Wehn mehr auf d. [der] Brust doch beengt. Der Magen ist * I da an coloc [Colocynthis] gerochen* seit etwa 7 d. [des] M. [Monats] in Unordnung gekomm [gekommen] I (Aerger). Der Appetit
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Ist nicht mehr so gering als bisher, aber die Zunge belegt. Donn [Donnerstag] 18 Kurzer Odem. Etwas Husten und Auswurf ist immer vorher Freit [Freitag] 19. Wie gestern. Sonn. [Sonnabend] 20. Seit einiger Zeit weniger viel Schleim im Mund Sont. [Sonntag] 21. Schleim, etwas Husten. Mont [Montag] 22. Husten mehr als gewöhlich. Kurzer Odem * Husten immer früh etwas mehr oder weniger selten gar nicht und allemal Etwas Auswurf hat er keinen Auswurf klingt der Husten hohl* Dienst [Dienstag] – Sonnab [Sonnabend] Mein Zust [Zustand] bleibt sich zieml [ziemlich] gleich. Ich fühle mich im Ganzen wohl, und mein Hauptübel scheint Brustbewegung, die bald mehr bald weniger fühlbar wird. Heute wieder einige Blut= *Seit d [dem] Aerger des 17 der Stuhl unordentl [unordentlich], weich und recht früh Vor mir immer regelmäßiger guter Stuhl* streifen im Auswurf. ⌈Mitt [Mittwoch]⌉ Sonnt. [Sonntag] Das Predigen ward mir heute sauerer. Mont. [Montag] Dienst. [Dienstag] Heute fühlte ich beim Steigen wie kurz und eng mein Oden Mittw [Mittwoch] u [und] Donn. [Donnerstag] Kein Krankheitszeichen außer d.[der] gewöhnl [gewöhnlichen] Beengung f [auf] d. [der] Brust Kl. P. [Kleinpaschleben] 1. Sept. [September] Nagel E31492 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagel), geschrieben am 01.09.1831
((1)) 1 Aug. [August] Past. [Pastor] Nagel vom Champher R. [Tinktur] verlor sich ds [das] Blutspeien v. [vom] 16 Jul [ Juli] bekam da 14 [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30 und 3 [Spiritus] Camph. [Campher] im Fall wieder Blutspeien käme 1 [Gutta] zu nehmen was er nicht nöthig hatte. Im Ganzen sich wohl gefühlt und mehr Aufregung doch gehabt: Nur die Kurzäthmigkeit war die ersten, 8 Tage schlimmer, auch in der Nacht Albdrücken14 gehabt. Inden Morgen Husten (ehedem auch doch selten) auch sonst Perioden von mehrerst Wochen wo er früh 3,4 Mal dem Ab. [Abend] Vorher etwas zu viel gegessen aufhusten mußte I vor nur 4,5 Wochen Jezt [jetzt] aber seit 8 Tagen alle Morgen wieder 3, 4 Mal aufhusten, wirft wenig Schleim aus ofters sonst nie über Mundgeschmack um das Zahnfleisch und Zunge was er vor mir lange nicht hatte, jezt aber seit 8 Tagen wieder. ⌈Der⌉ Zufall ⌈war bei⌉ von Neigung zu krampfh. [krampfhaftem] Husten jezt [jetzt] nicht wenn er kurzathmig ist, ist er unwohl, reizbar, einmal leicht übel, gestern auch. Alpträume.
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heute frei auf der Brust I früh geht er umher Stu [Stunden], ehe er etwas geniest, dann mäßiges alle Morgen Stuhl, nur ein paar Mal wenig, I Mittagsbrod gegessen und sich daher N. M [Nachmittag] ist wohl befund sonst zwischen den Schulterblättern drückender Spann [drückendes Spannen] von Athem holen, jetzt frei davon auch zuweilen frei im Unterlaibe oft noch leers (aber kein säuerl. [säuerlich]) Aufstoßen l. Ohr 15, 16 Zoll kein Geräusch Schlaf im ganzen gut, doch einige Mal schwere Träume 2415 § und16 Coloc. [Colocynthis] R [Tinktur] gegen Aerger Soll die vollen Zacke weglassen B31522 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 09.09.1831, von Hahnemann bearbeitet am 09.09.1831
((1)) Lieber Freund \9 Sept [September] Nagel hat Camphor zum riechen bekommen./ /v. [vom] 7 Sept [September] da 24, Led [Ledum] 1 Globuli C12\ Gestern früh warf ich Blut aus, doch nicht mehr als in den letzten Zeiten, weshalb ich meine Aengstlichkeit wiederum glücklich unterdrückte. Gegen Abend hatte ich mit den Mitgliedern der Ortskonsisdion17 eine Conferenz, sprach dabei sehr viel, worauf sich dan [dann] sogleich ein so heftiger Blutauswurf einstellte, wie ich ihn seit Jahr und Tag nicht gehabt habe. Was ich heute auswerfe, ist kohlschwarz. Zwei Lettre: erhielst du dem S. F. Hahnemann von meinem Zustand in Kenntnis setzen. Sollte er das Riechen verordnen, so bitte um ein neues Fläschchen. 2, Kannst du künftigen Sonntag für mich predigen? , Hahnemann weiß aus meinem letzt, schriftl [schriftlichen] Berichte schon, dass ich mit meinem Magen zerfallen bin – sage ihm doch, daß das schlimmer geworden, und daß meine Zunge ganz gelb und stark belegt sei. Uiber dem Knie habe ich seit einiger Zeit einen verdächtig Schmerz; ich hatte ihn ganz ehnlich vor dem Jahre lange ehe ich das kalte Fieber bekam. Mein Pursche muß durchaus so lange warten, bis du meine Angelegenheit hast besorgen können. Dein aufrichtiger Fr.[Freund] Nagel KlP [Kleinpaschleben] den 9 Sept. [September] 31. [1831]
Unter der Ziffer 24 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 24 Streubzw. Zuckerkügelchen gemeint. Zeichnung einer 1 cm großen Flasche. Ortskonsistorium = Ortsgemeinderat.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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Herrn Oberlehrer Mühlenbein Hochfhrat Koeth [Köthen] nebst einer versigelten Schachtel
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B31526 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 10.09.1831, von Hahnemann bearbeitet am 10.09.1831
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((1)) Wohlgeborener Herr, \ Den 10 Sept. [September] hat. †…† ox Zum riechen bekommen soll den Champhor beiseite setzen/ Besonders hochgeehrtester Herr Hoffrath ! Mein Auswurf sieht noch eben so schwarz aus und ist eben so häufig als gestern. Ich huste nicht, wie vorgestern Abend, wo bei lockeren Husten viel klares Blut kam, sondern räuspere gestern und heute aus der Kehle und der Luftröhre. In diesem Augenblicke war es ein langer ziemlich hellrother Faden, den ich herausräusperte Uibrigens bin ich ohne Schmerzen, ohne Ruhe, ohne Sorgnis heute wie gestern und vorgestern. Heute Morgen wieder viel Schleim im Munde. Der Appetit ist rein und gut. Die Zunge jedoch belegt. Die Empfindung im Knie noch dieselbe. Ich habe gestern zweimal gerochen und heute früh einmal, und erbitte mir durch Uiberbringer Ihre fernere Befehle. Mit wahrer Hochachtung und Liebe der Kl. Paschl [Kleinpaschleben] den 10, Sept [September] 1831 gehorsamster Nagel
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†…† Wohlgeboren Der Herr Hofrath Hahnemann in †…† Koeth [Köthen]
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B31574 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 27.09.1831, von Hahnemann bearbeitet am 27.09.1831
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\20 Sept. [September] Nagel 24 nächstens ferrum calc. [Calcium] carb. [Carbonicum] amm. [Ammonium muraticum] amm. [Ammonium muraticum] Nux [Nux vomica] v. [vom] 9,10.Sept [September] hatte (u. [Tinktur] [Schwefel])
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den 1 Sept [September] Led. [Ledum] 1 Globuli C 12 dann erst Campher R [Tinktur] / d. [den] 10 Sept [September] [Säure] Cl R [Tinktur] Fr. [Freitag] 2. Sept. [September] Stuhlgang erst Nachmittag – wenig Empfindung über dem Knie 3. Sept. [September] Morgens rauher Husten mit einigen grünlichen Auswurf. Ich hatte mir gestern eine kleine Erkältung zugezog [zugezogen] (Nießen). Empfindung über dem rechten Knie [schon seit 14 Tagen] 4. Sept. [September] Schlecht geschlafen, Empfindung über dem rechten Knie. Viel Schleim im Mund. (ich habe gestern Kriessbrei [Griesbrei] und sehr hart geräucherte Wurst gegessen, worauf ich mich sehr angefüllt fühlte.) 5. Sept. [September] Beim Erwachen war mein Mund wieder mit vielem Schleim überzogen. Stuhlgang erst Nachmittags. 6. Sept. [September] Beim Erwachen wiederum mit Schleim im Munde. Die Empfindung über dem Knie ist härter. Stuhlgang wenig. 7. Sept. [September] Beim Erwachen wie gestern. Die Empfindung über dem Knie spüre ich be,, sonders des Nachts wenn ich aufwache. – kalt –. Stuhlgang wenig, Bei dem Auswurfe Blutstreifen. (Wein) 8. Sept. [September] Die Empfindung im Knie wie gestern. Mehr Blut unter dem Auswurf. Abends nach 9 Uhr reines Blut. Stuhlgang regelmäßig 9. Sept. [September] Knie wie gestern. Ungewöhnlich viel Schleim im Mund. Auswurf ganz schwarz noch. Stuhlgang regelmäßig. Auch der Appetit in den Tagen wie heute immer vorhanden. Kein schlechter Geruch, auch kein Aufstoßen erfolgt. 10. Sept. [September] Knie. Viel Schleim. Schwarzer Auswurf, weshalb ich zum dritten \Camph [Champher]/ male gerochen – In des 2te Fläschchen nitrit acid habe ich einmal ganz wenig gerochen. Mein Auswurf blieb gefärbt. 11. Sept. [September] Die Empfindung im Knie dieselbe, besonders wenn ich es beuge. Viel Schleim im Mund. P. [Pulver] Zunge belegt. Nachmittag wenig Stuhlgang. 12. Sept. [September] Knie, Schleim, Zunge wie gestern; in der vergangenen Nacht aber seit langem einmal wieder recht gut geschlafen. Für gestern bemerkte ich noch, daß mein Auswurf des Nachmittags und vermischt war. 13. September. 14. September.
Schleim im Mund, Zunge belegt, Empfindung im Knie wie gestern. Gestörrter Schlaf. Weicher Stuhlgang. (Weintrauben) Der Magen thut weh, wenn ich mit dem Finger drauf drücke. In dieser Nacht und heute früh ist die Empfindung über dem
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Knie heftiger. Zunge ist nach hinten zu gelblich und der Mund beim Erwachen mit Schleim überzogen. 15. September. Heute fast gar keine Empfindung über dem Knie Viel Schleim im Munde. Ich athme heute früh schwerer. Mehrere Male Husten und Auswurf von grünlicher Farbe. Kein Stuhlgang. 16. September. Über dem Knie in dieser Nacht mehr Empfindung. Viel Schleim im Mund; viel Hustenreiz, kein Auswurf. Die Zunge ist sehr viel mehr belegt. Stuhlgang. Kürzer Oden. 17. September. Das Gefühl über dem Knie heute wieder nicht so stark. Viel Schleim im Mund. Die Zunge sehr belegt, nur die Spitze ist noch rein; der Appetit aber immer gut. Durstig. 18. Sept. [September] Mein Schlaf ist seit einigen Nächten unterbrochen. Husten früh wieder mit Schleim im Mund. Der Schmerz über dem Knie scheint in den Sehnen zu stecken; wenn ich mich niederbücke, wobei die Sehnen mehr angespannt werden, hätte ich ihn mehr. Heute Morgen, wie gestern ( ⌈…⌉ ⌈…⌉) einige male Husten mit schwarzem Auswurf. In der Schulter folgt heute einmal wieder der b alte Schmerz, der sich während der ersten Predigt in die rechte \Brust/ Seite hinzog und mir fast den Odem versetzte. Jetzt abends gegen 5 Uhr kann ich zwar wieder tief aufathmen, aber die ganze Seite ist mir taub und es thut mehr äußerl [äußerlich] mehr als wenn ich drauf klopfe. Der Odem ist mir etwas gehemmt – kein Stich. ((3)) versagendes Nießen canst. carb. [Carbonicum] r. Z calc. [Calcium] höchst leidenschaftlich calc. carb. [Calcium Carbonicum] †…† an canst natrium kali [Kalium] nux [nux vomica] ph. Sup Z [Säure] Cl [Chlor] [Säure] ph. nach Bluthusten größer Engbrustigheit ferrum nitri acid viel Schleim im Mund alumen *auch oben [Säure] auch alumina Cup Bluthusten auch Auch alumen calc. [Calcium] [Säure] [Schwefel] Caps calc [Calcium] besorgt ((4)) \27 Sept [September] Nagel v. [vom] 20 Sept [September] den10 [Säure] Cl [Chlor] R. [Tinktur] Wie unterkothig mehr äußerlich 19. Sept. [September] Kürzer Oden. Damphig. Der Schmerz in der Seite ist noch da. Die Empfindung über dem Knie zieht sich weiter in den Oberlende hinauf und ich spüre dieselbe besonders wenn ich mich wieder niederbücke. Schleim im Munde. 20.–22. Sept. [September] Wie am 19 nur mit dem Unterschied, dass der Schmerz in der
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rechten Seite verschwunden ist. 23. Sept. [September] Derselbe Zustand: Morgens mit Schleim im Mund. Zunge bald mehr bald weniger belegt. – P. [Pulver] Empfindung über dem Knie. Ge,, hemmter Oden. 24. Sept. [September] Wie gestern. Gegen abend auch Brausen im kranken Ohre. 25. Sept. [September] Außer meiner feststehenden Uibel bemerkte ich abends, daß mein Oden einen pheifenden [pfeifenden] Ton hatte. 26. Sept. [September] Ich besuchte heute im Krankenhaus, in welchem viele Nerven,, fieberkranke18 sich befanden. Dies aber kann unmöglich der Grund meines Schnupfens sein, den ich abends gegen acht Uhr zuerst in der Kehle verspürte. Auf meinem linken Ohre bin ich jetzt sehr taub. /27 glaubt von Obstessen der Schleim im Mund Zunge recht gelb rauh, ⌈vom⌉ an Hande [Händen] etw. [etwas] rauher, fühlt Fieber. Hat Hitze im Gesichte, Drücken an der Stirn, äußerlich frostig kalt an Händen u. [und] Füßen und Rücken Puls 90 (Hals Schm [Schmerz] mehrmals aus setzend Puls) die erst Durchfall bekommen, red irre, viel Wasser, Durchfall, trinken, schwitzt hat in 4, 5 Wochen nicht getrunken (gestern einmal in †…† dort unter Nervenfieberkranken gewesen glaubt er bekäms auch sonst beim Eintritt eines Schnupfens solche Fieberanfälle seit gestern Ab. [Abend] Fließschnupfen, diese Nacht viel geschwärmt und geträumt und oft erwacht oft Aufstoßen, heute kein Appetit Riecht sehr übel aus dem Mund Unmäßig weniger heute, weil er nicht gegessen hat. In der Regel so fieberhaft bei Eintritt eines Schnupfens (oft sonst Stockschnupfen heute Fließschnupfen) Heute N. M. [Nachmittag] viel hohl gehustet und trocken Heute 3 [Cuprium] crud [crudum] Riechen alle 4 Stunden bis das Fieberhafte vergeht. Jetzt etwas tauber links Bei starkem Husten nur Blut / blaß
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B31577 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 28.09.1831, von Hahnemann bearbeitet am 28.09.1831
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\28 Sept [September] Nagel ihm nichts verordnet noch zu zu sehen ⌈ob er⌉ angestockt ist/Verehrter Herr Hofrath ! Mein Zustand hat sich seit gestern um nichts geändert und gebessert, außer dem Drücken über den Augen, das heute früh nicht vorhanden ist. Gestern Abend war es so heftig, daß ich nicht lesen konnte. Gerochen habe ich gestern Abend um 8 Uhr noch ein– mal. In dieser Nacht habe ich ebenso unruhig geschlafen als in der vorigen; aber mehr aus der Nase geschnoben. Heute früh huste ich mehr als gestern aber ich kriege nichts herauf. Aus dem Munde
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Typhuskranke.
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habe ich in dieser Nacht viel weggespuckt. Meine Zunge ist nicht stärker belegt. Mein Blut wallt fieberhaft. Mit Hochachtung und Liebe KlP [Kleinpaschleben] den 28.Sept [September] 31.[1831] ergebens Nagel
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E31694 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagel), geschrieben am 26.10.1831
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((1)) 26 oct. [Oktober] Past. [Pastor] Nagel hatte den 10 Sept. [September] [Säure] Cl R [Tinktur] v. [vom] 28 den 9 Sept. [September] Campf [Campher] R [Tinktur] 27 Sept [September] da [Antimon] crud [crudum] den 1 Sept. [September] ⌈…⌉ Led. [Ledum] Schnupfen und Husten viel minder, nur etwas Husten und Auswurf noch Husten gewöhnlich hohl, Auswurf löst sich leicht in gr. [großen] Pfocken [Flocken] tags 5, 6 Mal rund wie Nasenschleim zum ersten Male Auswurf schwärzlich auf †…† täglich belegte Zunge und auch Schleim im Mund öfters Auswurf / Albdrücke19 mit Phantasie als wäre er umflattert von Blutsaugern stets Träume sehr lebendig jetzt freier gewesen auf seiner Brust kann abends keine Kartoffeln essen Stuhl tägl [täglich] Blut nicht wieder gehustet 24 Anna (4) ein etwas gekrümtes [gekrümmtes] Rückgrat 14 alt. No 1’ No2’’ [Tinktur] [Schwefel]
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B31724 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst und seine Frau Albertine), geschrieben am 31.10.1831, von Hahnemann bearbeitet am 31.10.1831
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\Nagels Frau/ Bitte ergebenst um gütige Antwort auf folgende Frage 1. Meine Frau hat den einzigen Entschluß gefaßt, dem Kopfschmerzvalet 20 zu sagen und mit mir Ihre Gesundheitsschokolade zu genießen. Sie hat aber ein Kind an der Brust und das Bedürfnis öfter zu trinken, das Bier ist jetzt zu schlecht und gewiß schädlich.
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Alpträume. Wahrscheinlich ist gemeint: »dem Kopfschmerz Lebewohl zu sagen«.
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Was soll sie trinken? \Ist 30 Jahre alt/ Seit ihrer vorletzten Entbindung, wo ihr durch den Gebärtsfehler [Geburtsfehler] die Nachgeburt abgeholt wurde, fühlt sie in der rechten Seite unter den kurzen Rippen einen empfindlichen Schmerz der auch nach ihrer letzten Entbindung (vor 3 Wochen so heftig wurde, daß sie das rechte Bein kaum heben konnte. Der Schmerz verliert sich auch jetzt wie damals nach und nach, so daß sie gegenwärtig nur Empfindung hat, wenn sie die †…† Stelle mit dem Finger berührt. Die Erscheinung ist mir jedoch verdächtig und ich frage: Soll sie nichts dagegen gebrauchen? Die angeordnete sehr scharfe Salbe scheint mir nur ein Palliativ zu sein. Meine Frau leidet auch in gesunden Tagen sehr häufig an Kopfschmerz, vorzügl [vorzüglich] aber jetzt. Der geringste Tumult um ihr her, die bei 4 kleinen Kindern nicht zu meiden,bringt ihr Kopfweh, das sich nur verliert, wenn die äußere Ruhe hergestellt ist. Kann dieser Kopfschwäche nicht abgeholfen wird? *Kind hat gewöhnlichen Stuhl ⌈und hat⌉ †…† und Friesel Sie ist ruhigen Gemüths guter Verdauung, stillt zu viel sehr ⌈mäßig⌉ matt, wegen gr. [großen] Blutverlustes Ihr 28, [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C 30* Ergebens Nagel KlP [Kleinpaschleben] den 29 Oct [Oktober] 31 [1831]
((2)) \31 oct [Oktober] Nagel und Frau heute/ 29. Sept. [September] Mein Schlaf war in dieser Nacht wieder ruhig. Ich werfe heute garstig aus – große grünliche Flocken. Nachmittag und Abends ist der Husten häufiger, nicht immer mit Auswurf. Appetit wieder sehr gut. (Schleim im Munde – Knie) der schnupfen im Gange. 30 Septemb. [September] Mein Schlaf war wieder sehr unruhig und unterbrochen. Viel Schleim im Munde. Nach dem Aufstehen von 5 – ¾ 6 Uhr viel trockener Husten. Sehr weicher Stuhlgang. Der Husten wird locker. Schnupfen geht 1 October. [Oktober] Unterbrochener Schlaf. P. [Pulver] Morgens viel Schleim im Munde. Weicher Stuhlgang. Husten fest, wie gestern früh; spaterhin [späterhin] locker Der Schnupfen ist seit Montag im Gange. Empfindung über dem Knie gelinde 2 Oct. [Oktober] Oft unterbrochener Schlaf. Viel Schleim. Stuhlgang weich. (Weintrauben?) Husten fest. Stuhlgang weich. Nase trocken. Der Husten ward Vormittag locker, ich warf 6–7 mal garstig aus (grünliche Farbe in nicht runden Flocken). Nachmittag war der Husten wieder fest und hohl. aber die Nase wieder fließend. 3 October. [Oktober] Ich wollte ruhigen Schlaf erzwingen durch Entbehrung des Abendbrodtes, aber es hat nicht geholfen. Viel Schleim im Munde. Empfindung über dem Knie war gestern Abend anders, sie erschien wie Lähmung, Schwäche im Knie selbst
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heute früh ist es beim Alten. Der Husten wurde Vormittags wieder locker und ich werfe große Massen, die im Spucknapf zusammenfließen, aus; die Farbe ist nicht mehr so grün. Stuhlgang nicht zu weich. Belegte Zungenwurzel. Schnupfen fließt. 4 October. [Oktober] Schlaf etwas besser. P. [Pulver] Schleim; Knie; Zunge wie gestern. Der Schnupfen ist immer noch gut im Gange, und der Husten locker mit weißlichem Auswurf. ((3)) October [Oktober] 5. Schlaf ziemlich ruhig. Stuhlgang weich. Die Empfindung über dem Knie gelinde. Der Husten ist fest, bis ich etwas warmes getrunken habe. Die Zunge gelb belegt. Schnupfen im Gange. October [Oktober] 6. Schlaf sehr schlecht; mehr Schleim im Munde; Empfindung über dem Knie, die mir jetzt wie Schwäche oder Lähmung der Sehnen erscheint, ist auch heute früh fühlbarer. / Eine sehr nothwendige Arbeit hielt mich bis zur Mitternachtsstunde am Studiertische/. Der Schnupfen geht noch immer. Die Zunge ist noch immer stark belegt. Husten und Auswurf sind Vormittags lockerer und häufiger als Nachmittag. October [Oktober] 7. Von 9 Uhr Abends bis früh um 2 Uhr ruhiger fester Schlaf. Nachher Husten ohne Auswurf bis gegen 3 Uhr. Vormittag lockerer Husten. Beim Erwachen wie gewöhnlich Schleim im Munde. Die Empfindung über dem Knie nicht ganz so heftig als gestern. Der Schnupfen fließt nicht mehr so stark. Der Oden seit einig Tagen, vielleicht in Folge des anstrengend Hustens kurz. Nach Tische war ich auffallend krank, so daß ich ins Bett flüchten mußte. Ich fühlte mich zerschlagen, war, trotz des warmen Sonnenscheins, draußen und im Zimmer frostig und hatte über der Augen einen dämpfenden zusammenziehenden Schmerz. Im Bett ward der Schmerz heftiger, mein ganzer Leib glühete, und meine Nase, die vormittag nach floß, war wie ausgetrocknet. Dieser fieberhafte Zustand (ganz kurzer Oden) dauerte einige Stunden und ich kehrte nach und nach so wieder, daß ich mich Abends gegen 8 u [und] 9 ziemlich matt fühlte. October [Oktober] 8. Ich habe ziemlich ruhig geschlafen und leicht transpiriert. Schleim im Munde. Zunge etwas mehr belegt. Knie. October [Oktober] 9. Schlaf nicht sehr ruhig. Schleim. Knie. Husten mit Auswurf. October [Oktober] 10. Schlaf sehr unruhig. Schleim. Knie. Der Schnupfen ist gestern
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stokkig geworden. Ich muß mich anregen, um heiter zu sein. Viel Husten mit Auswurf. October [Oktober] 11. Entweder ich träume lebendig, oder ich wache ganz – dies ist mein Nachtleben. Schleim. Empfindung über dem Knie heute sehr gelinde. Morgens Husten und Auswurf. Die Zungenwurzel noch belegt October [Oktober] 12. Seit lange zum erstenmale gut geschlafen. Uibrigens wie gestern. Die Empfindung über dem Knie wird immer unmerkbarer. Der Auswurf runder. Zunge noch immer belegt. October [Oktober] 13. Schlaf wieder nicht so gut. Uibrigens wie gestern und in den vorig Tagen. October [Oktober] 14. Wegen der Entbindung meiner Frau habe ich nur 2 Stunden Im Bette, aber auch ohne Schlaf zugebracht. Die Empfindung über dem Knie ist ganz weg. Der Husten ist seltener und der Auswurf rum. Der übele Schleim aber ist noch immer im Munde, wenn ich Morgens erwache. October [Oktober] 15. Schlaf unterbrochen. Viel Schleim im Munde. Morgens einigemal Husten mit Aufregung. Die Empfindung über dem Knie ist heute doch wieder zu spüren. Die Zunge ist auch noch belegt. Und der Schnupfen scheint wieder eintreten zu wollen; Ich nieße öfters. October [Oktober] 16. Schlaf beser als gestern. Schleim. Knie. Zunge belegt. Husten den ganzen Tag, doch sehr locker. October [Oktober] 17. In dieser Nacht habe ich gut geschlafen, aber von 3 bis 4 Uhr viel gehustet. Schleim. Im Knie keine Empfindung. Die Zunge ist nur nach der Wurzel hin belegt. Wenig Husten, locker und in großen Flocken. ((5)) October [Oktober] 18. Schlaf gut. Knie ohne Schmerz. Zungenwurzel belegt. Husten und Auswurf. October [Oktober] 19. Schlaf sehr unterbrochen – Alp. [Alpträume] – (stärkeres Abendbrodt). Der Hu[Husten] ist ganz im Abnehmen; Auswurf selten und in großen Flokken. Stuhlgang erst Nachmittags. Morgens viel Schleim im M. [Mund] – Zungenwurzel October [Oktober] 20. Schlaf gut. Knie gut. Schleim im Munde. Viel Reiz zum kurz Husten. Soeben (eine halbe Stunde nach dem Aufstehen) huste ich einen fast ganz schwarzen Auswurf herauf; der seine Farbe wahrscheinlich von dem Oelqualme angenommen hatte, den ich Gestern Abend von 7–9 Uhr in einer Bauernstube eingeathmet hatte. Der Reiz zum Husten ist nun nicht mehr so stark. – Uiber dem Knie spüre ich keine Empfindung mehr. Die Zungenwurzel ist noch immer belegt. October [Oktober] 21. Schlaf ziemlich – (viel und lebendig geträumt). Zungenwurzel ist noch sehr belegt. Wenig Husten und Auswurf. Viel Schleim wie gewöhnlich, beim Erwachen im Mund. Uiber dem Knie keine Empfindung mehr. October [Oktober] 22. Schlaf nicht gut. Zungenwurzel belegt. Im Munde viel Schleim. Der Husten bellt. Auswurf selten und locker.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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Oct. [Oktober] 23 Schlaf konnte nicht ruhig sein, weil die ganze Nacht durch ein Kind schrie. Viel Schleim im Munde. Zungenwurz belegt. Ohngefähr 1 Stunde lang Kiechzen in der Luftröhre. Ich habe einige Abende mehr als ein bloßes Butterbrod gegeßen und ich fühlte, daß mir das nicht gut bekommen. Kl P. [Kleinpaschleben] den 23 Oct. [Oktober] 31 [1831] *Oct. 23–26. Schlaf ziemlich. Viel Schleim im Munde. Zungenwurzel belegt. Husten bellt zuweilen. Selten Auswurf, locker und in groß Flocken.* Nagel.
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October [Oktober] 27. Schlaf gut. Schleim im Munde. Zungenwurzel belegt. Ich huste heute mehr, werfe aber nicht öfter aus, als in den vorigen Tagen. Der Husten bellt. Nachmittags fühlte ich, besonders bei Bewegung und beim tiefen Athmen einen drückenden Schmerz auf der rechten Magenseite, den ich noch nie gefühlt hatte. In Folge des †…† Genußes konnte er erst entstanden sein. October [Oktober] 28. Eine fast ganz schlaflose Nacht. Brennende Hitze, stetes Träumen. – Schleim; Zungenwurzel. Morgens viel Reiz zum Husten ohne Auswurf. Den Druck am Magen habe ich nicht mehr gespürt. Gegen Abend war Mein Blut wieder sehr unruhig und mein Geschäft glückte October [Oktober] 29. Wieder eine schlechte, fast schlaflose Nacht, voll lebendiger Träume. Kopf, Hände und Füße so heiß, daß ich Letztere gern am kalten Bettbrete abkühlte. Mehr Schleim im Mund als gewöhnlich und die Zunge mehr belegt. Hustenreiz; mehrentheils trockener Husten, bis endlich ein Auswurf sich ablößt, worauf der Husten (ruhiger) seltener wird. vertas 21
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B31769 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 16.11.1831, von Hahnemann bearbeitet am 16.11.1831
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\18. Nov [November] Nagel ihm Champhor †…† ab 1, 2 Mal zu riechen †…† v. [vom] 26 oct [Oktober]/ November 3. Schlaf gut. Zungenwurzel belegt. Schleim im Mund. November 4. Viel Schleim im Mund. Zungenwurzel belegt. Schnärcheln und
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Lateinisch für »wende um«.
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Chiemen. Mehr Husten mit lockerem Auswurf als gewöhnlich. November 5. Viel Schleim im Mund. Zungenwurzel belegt. Viel Husten ohne Auswurf – rauh und hohl. Der Auswurf, der sich etwa löset ist von salzigem Geschmack. Abends noch mehr harter Husten. November 6. Viel Schleim im Mund. Zungenwurzel belegt. Husten fängt heute früh wieder und wie gestern, und ich bemerke daß mein Oden auch kürzer ist als gewöhnlich. November 7. Eine sehr übele Nacht. Wenig Schlaf und in demselben die *Ich hatte gestern sehr aufregende Kirchengeschäfte und conversierte Nachmittags mit einem Schwerhörigen über meine Kräfte lebendigsten Träume und ein langer qualvoller Alpdrücken, dessen Beginn einem plötzlich entstehenden Orkane glich. Eine halbe Stunde lang plagte mich ein heftiger bellender Husten, der mir den Oden zuweilen erschöpfte und Schweiß auspreßte. Heute früh ist mein Zunge mehr belegt, mehr Schleim im Mund, und mein Oden kürzer. Kurzer trockener Husten und Engbrustigkeit den ganzen Tag. Ich hatte abends mehr gegeßen als gewöhnlich November 8. Ich habe sehr gut geschlafen. Im Mund wieder ungewöhnlich viel Schleim. Meine Brust ist mir voll; es fiept und schnarrt und reizt unaufhörlich zum kurzen Husten bis ein Auswurf sich abläst, worauf ich Ruhe habe. Vormittag um 9 Uhr: Ich habe nun öfter (ohngef. [ungefähr] 8mal) leicht und locker aufgehustet nun bin freier aus der Brust. Meine Zunge aber ist stark belegt. Von Nachmittag 2 Uhr an bis Abends –Brustschmerz – drück mitten auf der Brust. v. [vertas 22]
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November 9. Viel Schleim im Mund. Zunge noch sehr belegt. Brust voll der Schmerz auf der Brust – mehr drückende Mattigkeit – ist kaum noch zu spüren. Husten nicht zu viel, laufend Auswurf Stuhlgang nicht regelmäßig, nur heute sehr geringe Quantität November 10. Ich habe in dieser Nacht wieder nicht so ruhig geschlafen als in der vorigen, obwohl ich gestern sehr mäßig gegessen und nichts schädliches genoßen habe. Heut früh beim Erwachen war mein Zustand wie gewöhnlich – Schleim –Zunge und leises Schnarcheln. Ich nahm kein Pulver, weil ich in einer Kammer geschlafen hatte, in welcher Abends vorher ein Fläschchen Eiternöl ausgeschüttelt und der starke Geruch bis jetzt darin verbreitet war. Jetzt ohngefähr([ungefähr] ¾ Stund nach dem Aufstehen) habe ich schon 2mal Blut ausgeworfen zwar mit Speichel vermischt, aber doch ganz hellroth.
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Lateinisch für »wende um«.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Ich bin diesem rothen Feinde gegenüber sehr blaß und betreten! Kl. P. [Kleinpaschleben] 10. Nov.[November] 1831 Nagel *10 Minuten später wieder vermischt, doch mehr Blut als Speichel und hellroth. Er löset sich stets mit trocken Husten; die sputa sind groß.* In diesem Augenblicke kam im mäßiger Schluß ganz unvermischt doch schwärzlich. Der Husten klingt schon seit 14 tagen hohl und] hundebellig. Dabei ist heute wieder Reiz zu kurzem trockenen Husten. – Soll ich mit den Pulvern wie gewöhnlich fortfahren oder werdenSsie es für gut halten, mir eine Interimes medicin 23 zu verordnen. Mit großer Hochachtung und herzlicher Liebe Ihr gehorsamster 10 N.[November] 31. [1831] Nagel
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B31797 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst und seine Tochter Albertine Mathilde), geschrieben am 24.11.1831, von Hahnemann bearbeitet am 25.11.1831
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\Nagels Frau 25. Nov. [November] der Mutter jetzt extra § Calc. [Calcium]« um darauf noch einmal [Schwefel] zu geben und ⌈28⌉ 14 alt. [alternierend]/ Krankheitbild Meiner jüngsten 6 wochen alten Tochter Mathilde Vierzehn Tage nach der Geburt zeigte sich auf dem ganzen Körper ein Ausschlag – kleine gelbe Pusteln, voll Waßer, das wenn man sie aufdrückte Auf dem Kopfe ward dieser Ausschlag am stärksten, gelbe übelriechende Pflaster und Schärfe \fast so groß wie ein kleiner Pfennig/. Gegenwärtig sind die Pusteln am Leibe nicht mehr, die Haut ist schabig. Der Ausschlag auf dem ganzen Haarkopfe, doch etwas weniger am Hinterkopfe, ist noch jetzt von der oben angegebenen Quan= tität ud die Qualität und von dem übelsten Geruche. Das Uibel \ist/ also nun 4 Wochen alt. [Der Kopf wird täglich mit lauem Waßer gewaschen.] Übrigens ist das Kind sehr bleich, nimmt nicht sehr zu, hat täglich einigemal Stuhlgang, will stets gewiegt sein und ist sehr empfindlich gegen alle auch die kleinsten Diätfehler der Mutter, die wie bewußt, theils mit ihrer Brust, teils wieder mit Kuhmilch schenkt. Noch bemerke ich, daß der Ausschlag auf dem Kopfe noch nicht eingetreten sondern blas am Leibe befindlich wie, als Sie die Güte hätten, mir für meine Frau eine Portion Pulver zu geben, die noch nicht ganz verbraucht sind. Kl. P. [Kleinpaschleben] den. 24. Nov. [November] 1831. Nagel
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Zwischenmedikation.
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\25 Nov. [November] Nagel Er 28, No 1 (Kali [Kalium] 1 Globuli C30 noch leicht) Amm. [Ammonium] 1 Globili C30 v. [vom] 18 Nov [November] und 31 und 26 oct. [Oktober] da 24 atte 10 Sept [September] [Säure] Cl R [Tinktur] den 1 Sept [September] Led. [Ledum] 1 Globuli C 12 7 Sept [September] [Antimon] †…† / den 16 jul [ Juli] [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30/ November 11. Ich habe in dieser Nacht gut geschlafen. – Viel Schleim im Munde. Die Brust war voll, bis ich 2mal große Flocken mit vielem schwärzlichen Blute vermischt, herausgehustet habe. Den ganzen Tag hindurch mein Auswurf noch mit Blut untermischt. November 12. Sehr viel Schleim im Munde. Zunge, wie gestern und früher, belegt. Der Appetit ist ununterbrochen gut ; ebenso der Stuhlgang November 13. Nicht so viel Schleim im Munde – auch die Zungenwurzel nicht so stark belegt wie vor einigen Tagen. Der Schlaf ist in der ganzen Woche sehr gut gewesen. Nov. [November] 14. Schleim im Munde und Zungenwurzel belegt, wie gewöhnlich Der Schlaf in dieser Nacht unterbrochen und voll der lebhaften Träume. Der Husten ist sehr selten, klingt abrauh und hohl. Nov. [November] 15. Wie gestern. Nov. [November] 16. Schlaf ziemlich ruhig. Schleim im Munde. Zungenwurzel belegt. Oden beengt, Brust voll und steter Reiz zu kurzem Trieb von Husten, bis ich einigemal aufgehustet hatte. Als ich mich Abends niederlegte wiederholte sich derselbe Hustenschauer. Nov. [November] 17. Schlaf sehr unterbrochen. – Schleim – ZungenwurzelDer kitzelige trockene hohle Husten stellt sich wieder ein. ((3)) Nov. [November] 18 Schlaf unterbrochen. Kein Schleim im Munde Zungen= wurzel belegt. Oden gehemmt. Husten selten aber hohl. Nov. [November] 19. Schlaf etwas beßer und ruhiger als in den vorigen Nächten. Sehr viel Schleim im Munde. Zungenwurzel belegt. Der Husten klingt hohl. Schnupfen ist eingetreten. Nov. [November] 20. Schlaf ziemlich. Sehr viel Schleim im Munde und Zungenwurzel belegt. Der Schnupfen ist nicht stärker geworden, aber der Husten, der recht hohl klingt. Nov. [November] 21 Eine gute Nacht. Viel Schleim im M. [Mund] Zungen wurzel belegt. Die Brust voll (oder ist das nur die Luftröhre, ich weiß nicht.) Nov. [November] 22. Schlaf gut. Schleim und Zunge wie gewöhnlich. Mein Zustand ist in der letzten Zeit sich ziemlich gleich geblieben. Schleim im Munde, wenn ich morgens erwache, belegte Zunge, und gehemter Oden besonders
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
beim Treppensteigen recht fühlbar, sind wesentliche Merkmale meines Krankheitsbildes. Sollte meine Krankheit vielleicht eine Psorische sein? ––– Ich erinnere mich nämlich noch nachträglich daß ich als ein Knabe von ungefähr neun Jahren zwischen den Fingern einen juckenden Ausschlag (keine Materienpusteln, sondern trockene rothliche) hatte welcher mir sehr bald durch Waschen mit schwarzer Seife vertrieben wurden von den Symptomen, welche Sie in Ihrem unsterblich Werke von den chronischen
((4))
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Krankheit en I vom. p. 80te als solche auffahren, die auf ein psorisches Siechtum schließen lassen, habe ich an mir folgende bemerkt: Abgang von Spulwürmern und Maden in meinen Kindes und Jugend= alter, bis in mein 19tes Jahr Häufiges, heftiges Nasenbluten bis ins Jahr 1823. Schweißige Füße Heftiger Wadenklauen, vorzüglich in meinem 17,5 Jahre doch schon im Knabenalter nicht selten Sehr öfterer und langwieriger Stock- und Fließschnupfen in frühen und späteren Jahren ein unerwährender häufiger Ausfluß aus der Nase wie er bei Knaben und junger Leuten wohl selten ist) Kurzes Hüsteln Leichte Verkalkung einzelner Theile des Körpers / zb [z. B.] der Schulter, Lende, Knie Uibeler Mundgeruch Leibschneiden (fast jeden Morgen vorzüglich im Sommer während meiner Universitätsjahre. Gegenwärtig leide ich seit 8 Tagen an einem leichten Husten und Schnupfen Ich ersuche gehorsamst um neue Medicin und wünsche, daß Sie mir in einigen Zeilen schreiben, was ich Ihnen jetzt schuldig bin, damit ich dankbar berichtige, so bald Wetter und Weg meine Reise nach Köthen erlauben. Mit wahrer Liebe und Hochachtung Er. [Euer] Wohlgeborener Kl. Paschl. [Kleinpaschleben] den 24. November 1831. ergebenster Nagel
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E31798 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagels Tochter Anna und dessen Mutter Auguste Friederike), geschrieben am 25.11.1831
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Pastor Nagel’s Anna (4) v. [vom] 26 Oct.[Oktober] da 14 alt. [alternierend] 1’ 2’’ [Tinktur] [Schwefel] hat ein etwas gekrümmtes Rückgrat befind sich wohl, munter, guter Appetit von Kindheit an sehr unruhiger Schlaf, wirft sich rum eher zur Hartleibigkeit geneigt, trinkt früh Milch
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14 alt [alternierend] fort ⌈Groß⌉. Pastor Nagels Mutter (65) bis vor ¼ Jahr Brummgebraucht war gesund, bis zum 34sten Jahre, dann Gicht in Wochen arge Kopfgicht24, war 18 Wochen nieder arge Sch [Schmerzen] im Kopfe war dick am recht Kopfe und Halse konnte nicht liegen mit Zahnweh in einer Stiche 4 Woche vom Ausziehn eines Zahns vergings, nach Ausziehen des Zahns blutete es 24 stu. [Stunden] 1806 über den Tod ihrer Tochter sich gegrämt – nun Magenleid wenn sie was aß, war sie krank, schlechte Verdauung vor 16 Jahren von Krätze angesteckt, seitdem ⌈sehr⌉ Sennen25 wie zu kurz unter der Wade, auch in Ruhe Sch [Schmerz] drin konnte nicht gehen, bis braucht Salza davon etwas besser vor 1 1/2 Jahren eine halbe Tasse Blut gehustet 1 Woche drauf wieder, und 4 Wochen drauf in der Nacht eine Art Blutbrechen bei wenig Husten und nun alle 4 Wochen, auch wohl alle 8 Tage etwas Blutspucken wenn sie sich ängstigt, kömmt 6, allemal etwas Husten zu Johannis Fieber und spuckte viel Blut vorher allemal mehr Husten und blutlicher [blutiger] Auswurf dann kommt ein wenig Bluthusten ½ Löffel voll. Was sie sehr matt macht. Nach Verlust des Menstruens hatte sie oft fliegend Hitze die weg ging, ⌈wenn⌉ seit der Bluthusten da ist jezt [jetzt] guter Appetit / Schlaf nur bis 3 Uhr Ehedem kam Regel 8 Tage früher oder 8 Tage später, war immer sehr viel. Heiterer Charakter, Stuhl täglich 2, 3 Mal doch nicht weich 50 Jahr alt gegen Leberübel, Speichelfluß zweimal. 14 alt. [alternierend] No 1’, 2’, 3’ [Tinktur] [Schwefel] 4 Tassen Kaffee früh N. M. [Nachmittag] auch. Soll 2 Tassen †…† trinken
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E31880 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagels Mutter Auguste Friederike), geschrieben am 13.12.1831
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13 Dez [Dezember] alte Frau Pastor Nagel heute 14 fort v. [vom] 25 Nov. [November] da 14 alt. [alternierend] No 1’, 2’, 3’ [Tinktur] [Schwefel] †…† = 18 nicht wieder Blut gehustet hatte weniger Husten / der Klamm in den Waden und den Zehen (sonst alle Nächte mehrmal) ist von [Schwefel] weg das Reißen schlimmer in der Hand, kann die ganze Hand
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Kopfschmerz. Sehnen.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
nicht zumachen, kann den Mittelfinger nicht austreck ohne große Anstrengung und dann knackt dann / Nachts ziehen in der Hand und Unruhe in den Füßen Abends im Sitzen wohl stund Kriebeln drin. Auch (wie sonst) zu Durchfall geneigt, wenn sie Kohl ist oder Aepfel, fast ohne Schm. [Schmerzen] mit Poltern, (wie sonst) Vordem (vor 3 Jahr) hätten wohl 6 Jahr den Schnupfen und keinen Geruch und ein dreifacher Polyp im r. [rechten] Nasenloch (ward raus geschnitten –) ⌈dann kam⌉ davon verlor sich der Schnupfen und der Geruch kam wieder Ein Jahr drauf viel Fieber ¾ Jahr im Bette zugebracht Jetzt wieder Schnupfen, fließend, doch etwas Geruch dabei Schlaf nach so unruhig nach 2 Uhr, ist dann bloß Schlummern und Rumwerfen, oft mit ängstl [ängstlichen] Träumen Ehedem mit fliegend Hitze, jetzt auch wieder, Appetit nicht sonderlich (ehedem auch) trinkt nun nur 2 Tassen halb Milch Kaffee bis die}1/2 Tass dazu soll weniger dazu nehmen kann keine Milch trinken ist ihr zuwider Chokolade [Schokolade] verdirbt ihr den Magen
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B31907 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 22.12.1831, von Hahnemann bearbeitet am 22.12.1831
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeboren pepr. [per Express] Koethen
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Verehrter Herr Hofrath! Ich kann es vor meinem Gewissen verantworten, wenn ich mit einer Expertonation die mein Zartgefühl bisher nicht laut werden ließ, nicht länger mehr zurückhalte. Sie befolgen die sehr wichtige Maxime, daß Sie von Ihrer wohlhabendere Patienten eine größere Vergütung fordere, als von den Aermere; denn Sie üben damit eine Art der Gerechtigkeit gegen Ihre familie und gegen Ihre, freilich alles Geld der Erde auf wiegende, Kunst aus und setzen sich zugleich in den Rand, die Armen des Evangelium von der Gesundheit umsonst mitzutheilen. Da sich Ihre Tagen jedoch größthenteils nur auf Vermuthung gründen können, so ist es aber so natürlich als verzeihlich wenn zuweilen ein error in calculo26 mit unterläuft zumal da ich weiß, daß man der elendsten Mittel sich be
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Kalkulationsfehler.
((1))
((2))
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dient, um Sie in dieser Hinsicht zu täuschen. Exempla sunt in promptu odiosa 27. Ich halte darbei elende Kunstgriffe unter meiner Würde und habe es verschmäht im – ärmlichen Gewande
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Gewande – vor Ihnen zu erscheinen; ich lege meine Feierkleider an, wenn ich dem Manne mich nahe, den ich nicht blos im tiefsten Herzen verehre, sondern auch äußerlich zu ehren mich gedrungen fühle. Durch mein Äußeres nur oder durch was sonst – so sagen Ihre wachen und Ihre dankbarsten Patienten – sind Sie induiert, mich in die Klaße der Wohlhabenden zu werfen – in die ich leider wahrlich nicht gehöre. Verlangen Sie es, so will ich meine ganze Lage Ihnen aufdekken – die durchaus nicht erfreulich ist. Doch vielleicht haben Sie einigen Grund mich für ehrlich zu halten und mir mein Wort zu glauben, wenn ich sage, daß ich am Ende jeden Vierteljahres mit meiner Kaße erschöpft und mir dadurch auch jetzt zurückgehalten bin, Ihnen meine Schuldigkeit zu entrichten. Auch reiche Leute haben zuweilen kein Geld in Kaße; aber wenn ich in Kaße nichts habe – so habe ich überhaupt nichts – und ich erschrak schon manchmal vor dem Gedanken, daß mich am Schluße eines Viertelsjahres einmal der Tod überfallen könnte: Die Meinen hätten dann nicht so viel um mich begraben zu laßen.
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Sie erraten jetzt meine Bitten, deren Eine das †…† war betrifft, das ich schon schuldig, die ander aber das, das ich bei meinem scheinbar langwierigen Uibel noch schuld wart. Das erste betragend bitte ich, ein gütiges Nachricht bis Neujahr; das zweite betreffend ersuche ich Sie, wenn es möglich ist, die Kur nicht zudringlich erscheint, für die Folgezeit einen niedrigeren Satz mir zu stellen. O! daß Sie ahnen möchten, welchen Kampf es mir gekostet hat, den üblen Schein auf mich zu werfen, als war ich Einer der mit der Wißenschaft feilscht; aber Glaube an Ihre Menschenfreundlichkeit und meine Lage geben mir endlich den Muth dazu. Ich überlaße Ihren gutmaß nun alles; versichere im Voraus meine Zufriedenheit mit allem, und bitte nur um das Eine, daß Sie mir Ihre wohlwollend Freundlichkeit nicht entziehen. †…† †…† verehrend †…† Wohlgeb [Wohlgeboren] KlPschl. [Kleinpaschleben] 22 Dec [Dezember] 31. ergebenster Nagel
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Gemeint ist: »Beispiele sind offenkundig, aber das Wort darüber ist verhasst«.
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Krankheitsbild meiner Frau \22 Dez [Dezember] Nagels Frau ihr heute ⌈14 No 1’ 2’ 3’ Calc [Calcium]⌉ v. [vom] 31 oct. [Oktober] hatte da 14 No 1 [Tinktur] [Schwefel] den 25 Nov. [November] Calc [Calcium]`` und 14 alt [alternierend28] Ihr nochmals heute 14, [Tinktur] [Schwefel] `/ `/ /dann abgewöhnung\ Patient hat heute das letzte Pulver genommen, das gegen den Ausschlag des Säuglings verordnet war. Die Leiden, die gegenwärtig bei der Mutter vorherrschen, sind: peinvolle Unruhe in den Füßen bis ans Knie hinauf in der Knorpel des Abends, in den Waden ist der crampfhafte Schmerz, drücken, Ziehen, am schlimmsten. Der Kopfschmerz findet sich seit 14 Tagen wieder öfter ein. Eben solange ist es her, daß der Appetit mehr und mehr schwindet und Leibschmerz (drücken im ganzen Leibe) zu jeder Tageszeit besonders Abends und in der Nacht oft vorkommt. der Urin und der Stuhlgang sind sehr spärlich; auch klagt P. [Patient] über Hitze im Gesicht. Alle diese Uibel haben jedoch meine Frau noch nicht soweit uberwaltigt, daß sie im Bette läge oder ihre Geschäfte nicht versehen könnte; sie fürchtet aber für ihr Kind und fragt hiermit an, ob sie das Kind nicht entwöhnen könne (nach und nach) da die Nahrung, der sie ihm gebe, nicht der Rede werth sei. v. [vertas 29] Der Säugling Der Ausschlag heilt ab. Das Kind ist ruhiger, aber sehr blaß und sehr mager. Darf es nicht neben der Milch noch ein wenig gefüttert werden? Meine aelteste Tochter Anna. Heute 14 alt [alternierend30] 1’ 2’’ 3’’ Calc [Calcium] /v.26 oct. [Oktober] hatte da 14 alt. [alternierend31] 1’ 2’’ [Tinktur] [Schwefel]\ Das Uibel im Rachen hat sich natürlich noch nicht geändert, aber das Kind ist munter und scheint stärker zu werden. Die Pulver sind alle eingenommen (Seit vorgestern leidet es am Schnupfen.) Kl.Paschleb [Kleinpaschleben] d. [den] 22 Dec [Dezember] 31. Nagel
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Nov. [November] 26 Mein Schnupfen fließt seit 8 Tagen. Der Husten ist nicht viel häu- \Pastor Nagel v. [vom] 25 Nov [November] da
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Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«. Lateinisch für »wende um«. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«.
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28,1 Anna 1 Globuli C30 \ da v. [vom] Mittel/ figer als gewöhnlich und loset sich leicht, klingt aber oft hohl, und der Auswurf ist mitunter schlechter, grünlicher, Aussehens. Die Zunge ist nicht sehr belegt, aber des Morgens habe ich gar zu viel Schleim im Mund. Schnärcheln und Chiemen ⌈den⌉ bald mehr bald weniger Nov. [November] 27. Wie gestern. Nov. [November] 28. Heute früh erwachte ich mit eiskalten Knien. Der Schnupfen ist im Abnehmen. Alles Uibrige wie in den vorig Tagen. Nov. [November] 29. Beim Erwachen wieder eiskalte Knie. Husten seltener. Zunge nicht sehr belegt. Viel Schleim im Mund beim Erwachen. Schlaf unterbrochen. Der Husten klingt noch hohl. Nov. [November] 30. Unterbrochener Schlaf, kalte Knie, viel Schleim im Mund. Der Husten, selten mit Auswurf, klingt schlecht; Zungenwurzel belegt. Der Appetit ist seit Montags auffallend stark. Eben spüre ich denselben Schmerz über dem Knie, den ich vor mehreren Wochen so lange hatte. Kalte Füße machten den Anfang, dan folgten kalte Knie und nun mit Leiden verbundender Schmerz über dem rechten Knie. Auch der schlechtere Schlaf, der damals den,, selben Zustand begleitete, findet jetzt wieder statt. December 1. Schlaf besser. Die Erkalkung des Knies wird nicht schlimmer Zungenwurzel. Schleim. December 2. December 3. December 4.
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December 5. December 6. December 7. December 8.
((8))
Schlaf gut. Die kalten Füße und kalte Kniees scheinen zu genesen. – Zungenwurzel – Schleim. Ruhiger Schlaf. Keine Empfindung mehr im Knie. Die Zunge ist sehr stark belegt – seit Donnerstags †…† etwas mehr. Schlaf ziemlich: Zungenwurzel sehr stark belegt. Morgens viel Schleim im Mund. Früh gegen 9 Uhr der alte Schmerz in der Schulter der sich den Tag über nach und nach wieder verlor. Mein Korper [Körper] steckt voll Erkältung. Kalte Füße. Versteckter Schnupfen. Fester harter Husten. Starkes fiepen in der Brust. Kurzer Oden. Unterbrochener Schlaf. Starkbelegte Zungenwurzel. Viel Schleim. Kalte Füße. Häufig Nießen. Husten etwas lockerer als gestern. Schlaf ruhiger. Zunge belegt. Viel Schleim. Kalte Füße und Nachts kalte Knie. Mehr Husten, sehr hohl und trocken. Wie gestern; doch ist der Husten etwas lockerer. Sehr lebendige Träume. Zungenwurzel belegt. Viel Schleim im M. [Mund]
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December 9.
Nachts kalte Knie. Morgens Husten und Auswurf. Gegen Abend Frößteln. Seit mehreren Tag ist mein Oden gehemmter. In dieser Nacht habe ich – was sehr selten ist – geschwitzt. Das rechte Knie wurde aber doch wieder kalt. Zunge mehr
((9)) belegt; mehr Schleim im Mund. Der Husten klingt als wäre die Brust voll. December 10. In dieser Nacht weckte mich ein heftiger Husten, selten mit Auswurf, der wohl eine gute halbe Stunde anhält. Das rechte Knie ist kalt, wenn ich erwache. – Zunge; Schleim –. Mein Oden ist sehr kurz. Ich habe gestern meine Brust betrachtet – sie sieht einem Skelett ähnlich. Mein Oden ist jetzt gar zu beengt. Ein wenig Husten mit Auswurf den ganzen Tag uber [über]. December 11. Schlaf ruhig. Beim erwachen eiskalte Knie. Viel Schleim im Mund. Chiemen auf der Brust. Oden kurz. December 12. Ich habe gestern Abend Fleisch gegeßen und Aepfel 1 Globuli C3 Schlaf Nacht. Mehr Schleim. Auf d. [der] Brust voller. Oden sehr gehemmt. December 13. Wieder sehr unruhiger Schlaf. Schleim im Mund. Sehr gehemmter Oden. Ich bemerke auch, daß ich wieder huste, wenn ich lache. December 14. Sehr unruhiger traumvoller Schlaf. Viel Schleim im Mund. Recht voll und eng auf der Brust. Ich fühlte mich nur lang leicht, wenn ich gar nichts genieße; ich glaube, ich mußte die Hungerkur gebrauchen. December 15. Diese Nacht habe ich mich wieder hin und her geworfen und weil ich gestern Abend mehr als meine Milch aß, so war auch mein Mund von breiigen Schleim ganz ange füllt. December 16. Ich habe mehr und besser geschlafen, wurde aber mitten in der Nacht von einem heftigen ¼ Stunde dauernd Husten (ohne Auswurf) überfallen. Viel Schleim im Mund. Zunge belegt. Kurzer Oden. December 17. December 18.
December 19. December 20. December 21.
Schlaf ruhig. Nicht zu viel Schleim im Mund. Zunge auch nicht mehr so belegt. Der Husten klingt immer hohl. Heute kein offener Leib. Oden beengt. Ich habe in dieser Nacht fast 6 Stunden ohne Unterbrechung geschlafen. Nicht zu viel Schleim im Mund. Zungewurzel nicht mehr so weit vor belegt. Das Schnarchen und Schnorcheln auf der Brust erzeugte beim Erwachen allerlei halb tiefe, halb hohe Töne. Meine Knie haben fast die gewöhnliche Wärme wieder. Stuhlgang – aber sehr unbedeutend. Schlaf gut. Schleim. Zungewurzel. Gehämmter Oden. Stuhlgang unbedeutend. Auch im rechten Knie ist noch nicht alle lähmende Empfindung verschwunden. Wie gestern. Mehr Schleim im Mund. Zungenwurzel mehr belegt. Der Stuhlgang war heute geregelt in Qualit [Qualität] und
((10))
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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December 22.
Quantit. [Quantität] Mein Husten, zwar nicht häufig, klingt immer bellig. Aufstoßen und Blähungen waren in der letzten Zeit häufig. Mein Befinden ist heute Vormittag nicht besser und nicht schlechter als gestern und an den vorigen Tagen. Nur der Husten, ohne Auswurf, ist seit gestern Abend stärker Ich habe nur noch 2 Pulver. Kl. Paschleb [Kleinpaschleben] den 22 Dec. [Dezember] 1831.
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B32101 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Mutter Auguste Friederike, seine Frau Albertine, seine Tochter Anna und sich selbst), geschrieben am 30.01.1832, von Hahnemann bearbeitet am 31.01.1832
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31 Jan [uar] Pfarrer Nagel v 22 Dez. damals er wohl 28 Erben habe, hatte d. 25 Nov, 28 Amm. [Ammonium] 30 heute\Frau Pfarrer Nagel v. [von] Heute pus [Pulsatilla] [Eisen] in No 1`und`7/ Die Witwe Pfarrer Nagel /v. [von] 6 Jan. [ Januar] hatte den 25 Nov. [November] 14 alt. [alternierend] 1`, 2`, 3` [Tinktur] [Schwefel] heute 14 alt. [alternierend] in No 1 und 4 Kali [Kalium] 1 Globuli C30\ In dem Briefe ohne Datum, den ich Sie Anfange der vorigen Woche erhielt, klagte die Mutter, daß sie einige Tage so heftige Kreuz- und Seitenschmerz gehabt, daß sie ganz krumm gehen mußte; auch daß sie mehr an Husten gelitten und von häufigen Anfallen der Diarrhoe heimgesucht wurden. Die Pfarrer Nagel jun. [junior]/v. [vom] 22 Dez [Dezember] den 31 Oct [Oktober] da 14 in No 1 [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30 den 25 Nov. [November] Calc [Calcium] ``bekam den 22 Dez [Dezember] 14 alt. [alternierend] heute 14 alt [alternierend] Calc. [Calcium] \†…† carb. [Carbon] Kali [Kalium] †…† amm. [Ammonium muriaticum] †…† †…† ph. †…†/ Leidet fast jeden Abend an qualvoller Unruhe in den Füßen \calc. [Calcium] [Eisen]/ von den Knien ab, hat häufig dieselbe Empfindung in den Armen so daß sie die Hände immer zusammengreifen möchte und erwacht oft des Morgens mit dem heftigsten Kopfschmerz. Seit 14 Tagen heftiger Husten. Jetzt seit 4 Tagen Regel stark zum ersten Male. Anna Nagel *Hatte den 22 Dez [Dezember] 14 alt. [alternierend]1; 2; 3; Calc [Calcium] 1 Globuli C30 heute 14 alt [alternierend] [Säure] Phos [Phosphor] No 1 und 3`* Die rechte Seite des Kindes scheint sich immer mehr herauszudrän gen und die linke in demselben Maaße einzusenken. Das Kind ist übrigens munter und schläft sehr ruhig wenn sie auf dem Rücken liegt. Schläft sehr unruhig wenn sie auf der Seite liegt Vert. [vertas 32]
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Lateinisch für »wende um«.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
((2)) Der Pfarrer Nagel. \ Mathilde (†…†) hat noch trocken Schorfe auf den Kopf, wie eine trocken Krusten siist [sie ist] sehr blaß 14 alt [alternierend] No 1 6 über den ganzen Kopf [Tinktur] [Schwefel]/ Mein Befinden hat sich ofenbar im ganzen gebessert. Einzelne besondere Bemerkungen: Je weniger und je leichtere Speisen ich genieße desto wohler fühle ich mich. Meine Zungewurzel ist leicht belegt. Jeden Morgen ist mein Mund voll Schleim, zuweilen in solcher Maße, daß er ausläuft. Mein Schlaf ist oft unterbrochen, zumal wenn ich abends etwas mehr als gewöhnlich gegeßen habe. Genieße ich, was sehr selten der Fall ist, Abends Fleischspeisen, so habe ich in der Nacht häufiges Aufstoßen, das zuweilen nach verdorbenen Speisen schmeckt. Mein Husten, der mich nie ganz verläßt, klingt hohl und der damit verbundene Auswurf ist nicht zu stark. Chiemen und Schnärcheln und Schnarchen auf der Brust wie kurzen Oden ist das stehende Uibel, doch nicht an einem Tage so arg wie am andern. In der letzten Zeit erwache ich des Nachts oft wegen Eiskälte und einigem Schmerzes bald des rechten bald es *(pol) puls [Pulsatilla pratensis]33* linken Knies. Chinarinde Schmerz bloß Nacht, und wenn es kalt ist wie Ersperrung Kl. [Klein] Paschleben den 30 Januar 1832. /Einmal (äußerst) arger [Ärger] nächtl [nächtlich] Waderklamm [Wadenkrampf] Kann 8 Tag 3 Pollution hat wenig Versuchung zum Coitus.
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((3)) 1 Febr Amtmann Schulze von Wedegast (35) Seit 17 Jahr so taubhörig, hört das Picken seiner Uhr. Brachte beständig (Schmals sei natürlich vorher viel Aug. [August] 1830 kaltes Fieber von China unterdrückt seitdem rheum. [rheumatische] Sch. [Schmerzen] in de ganzen Züge viel an Schnupfen gelitten, jetzt seit anno dan [dann] aber arg im Rücken, Schulterblätter d. l. [des linken] Arme ist wie wehgethan hatte sie ein Fieber diese Sch [Schmerzen] am heftigsten leicht verkältlich 1831 wieder kalt Fieber im März, Mai und Juny dagegen 4 Mal China [Chinarinde] jedesmal 14tags gebraucht bis neuerh. Vor 3 Mo [Monaten] wenn der Wind geht kamen die sch allemal, dann Urin wie Molke. wenn er in der Stube bleibt, hat er kein solchen Schm. [Schmerzen] Sch [Schmerz] mehr stehend Appetit, doch mit Blähungen
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Nach dem Wort »puls« folgen zwei miteinander verbundene Kreise.
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und Aufstoßen geplagt Stuhl tägl. [täglich], weiß Ab nach den Geschmackes des Genossenen Bet [Betragen] bald besser bald schlechter 28 1’, 3’, 6’, 10’, 15’, [Tinktur] [Schwefel] Kinder Moritz (5) Drüsengeschwülste am Hals tat etw. [etwas] Sch.[Schmerzen] Morgens und im Schlafen Kleinste ½ Jahr alt Ludwig auf drücken †…† 14 alt [alternierend] No 1’, 2’, 4’ [Tinktur] [Schwefel] etwas Nabelbruch, schläft
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B32134 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 08.02.1832, von Hahnemann bearbeitet (ohne Datum)
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\3 ant. cr. [Antimonium crudum] [Alaun] Riechen Nagel/ P T. Gestern erkrankte ich plötzlich in dem Hause eines Amtsnachbars ein Stündchen von meinem Wohnorte. – Es war abends zwischen 5 und 6 Uhr, als ich eine bange Wärme an meinem Körper so das Bedürfnis spürte, alle Knöpfe springen zu lassen. Man fand dies natürlich, weil es in der Stube sehr heiß und ich selbst sehr warm angekleidet war. Bald aber wurden meine Füße und Hände, vorzüglich die Fingerspitzen eiskalt und der Kopf heiß. Das Frösteln verbreitete sich über den ganzen Körper und ich ließ anspannen. – Unterwegs fror ich nicht viel mehr als vorher in der warmen Stube; aber zwei Büchsenschuß von meinem Hause brach der Klapperfrost aus. In meinem Zimmer beruhigte sich der Frost wieder in etwas; aber als ich in das Bett, das ganz durchwärmt war, kam, warf mich der Frost hoch auf, die Zähne klapperten, die Brust bebte, und im Magen, der seit Mittag 1 Uhr nichts empfangen hatte, fühlte ich ein drückenden Schmerz. Erst nach 2 Stunden wurde ich warm, im Kopfe heiß, und fing an heftig rasch in aller mir bekannten Sprachen zu schwatzen. Nach und nach traf ein sehr gelinder unbedeutender Schweiß ein und gegen 12 Uhr schien das Fieber zu weichen. Ich schlief – bei vielen Schwärmereien, die doch nicht mehr laut wurden, von halben zu halben Stunde. Gegenwärtig / Morgens 9 Uhr / befinde ich mich beßer als ich gestern dachte. Ich nieße zuweilen. Meine Brust war heute Morgen voll Schleim. Die Zunge ist belegt. Kein Appetit; aber auch kein widerlicher Geschmack. Aus der Nase mehr Abfluß als gewöhnlich. v. [vertas 34]
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Muthmaßliche Veranlassungen:
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Lateinisch für »wende um«.
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Ich habe mich in den letzen Tagen bis zum Ausbruch des Fiebers auffallend wohl befunden und mir daher manches gebeten, was ich sonst wohl ängstlich vermieden. Dahin rechne ich: Das öftere Wechseln der warmen Stube mit der freien Luft, ohne Kopfbedeckung, ohne wärmeren Anzug; das Herumpatschen im Dreck und Näße, so daß meine Strümpfe einigemal ganz durchnäßt waren; auffallendes Stechen im Halzstalle, im Garten, auf nassem Strase etc. Endlich habe ich von einem Stück Mandeltorte, das uns überschickt wurde, 3 Tage lang, ⌈Mon⌉ Sonntag, Mont. und Dienst, ohngefahr so viel gegeßen, als 3 Semmeln ausmachen; und ich höre jetzt von meiner Frau, daß in allen Mandeltorten bittere Mandeln seien. Mein Magen schien übrigens im guten Stande, denn meine Zunge war noch gestern Nachmittag rein und roth, doch kann ich nicht läugnen, daß ich schon bei der letzten Mahlzeit nicht den gewöhnlichen Appetit hatte, und daß die 4 Stuhlgang schon 2mal nicht wie sonst in Qualität und Quantität geregelt war – ich meine: Nicht so consistent und nicht so viel als sonst. Noch muß ich bemerken, daß die Knie, die ich schon oft angeklagt habe, bei dem Fieberanfall eine Hauptrolle spielten, denn sie waren noch lange eiskalt, als sich die anderen Theile wieder erwärmt hatten. Ergebenst Nagel Kl. P.[Kleinpaschleben] den 8 Febr.[Februar] 32. [1832]
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B32145 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 11.02.1832, von Hahnemann bearbeitet am 11.02.1832
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\7 § N 1 arsen/ Lieber Herr Hofrath! *11 Febr. [Februar] Nagel* Mein Fieber ist nicht gewichen. Am Mittwoch befand ich mich leidlich und hielt das empfindliche Frösteln nur für eine natürliche Folge des vorig Tages. Appe tit fand sich nicht. Von der Brust, die immer angefüllter wurde, lägte sich mir selten weißer Schleim. Der nächtliche Schlaf war nicht erquickend. Donnerstag Vormittag: Brust voll, Zunge mehr belegt, ein wenig Appetit. Gegen 2 Uhr Frösteln, nach und nach stärkerer Frost. Ich legt mich nicht ins Bett, sondern versuchte es in der Nähe eines sehr heißen Ofens den Schauer zu unterdrücken. Nur die Scheu vor Bettlägrig keit konnte mich zu dieser Thorheit verleiten. Gegen 4 Uhr trat die Hitze ein. Aber als ich mich zu Bette legte, erschien das Frieren doch wieder und ich brachte eine schlechte Nacht zu. Den ganzen Freitag über habe ich eine Zerschlagenheit in allen Gliedern im hohern Grade gefühlt als an den vorigen Tagen. Kein Appetit. Fleisch ekelt mich an. Zunge noch mehr
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belegt und nach der Wurzel zu gelblich. Stets Frösteln. Gegen Abend mehr Frost – Hitze. In dieser Nacht fast gar kein Schlaf, ungeheueres Schwärmen, bestandiges Herumwerfen.
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Heute Früh nun fühl ich mich sehr krank – abgespannt, zerschlagen und das Frösteln, das zuerst bei Händ und Füßen beginnt, tritt wieder ein. Der Stuhlgang blieb nur Donnerstag aus. Gestern war derselbe vorhanden, doch sehr unbedeutend und hart. Heute noch nicht. Am meisten quält mich der Schleim auf der Brust, ich huste bei jedem tiefen Athemzuge, aber der Auswurf ist nur selten, wenn ich niederlege, ist der Hustenreiz am größten. Meine Knie waren in dieser Nacht, auch bei brennender Hitze des ganzen übrigen Körpers, eiskalt. Ich ⌈…⌉ werde nicht lange außer dem Bette ausdauern können, eine allgemeine Verstimmung hat meinen Körper ergrifen. Wenn ich vom Stuhle aufstehe, ist mir’s, als müßte ich in die Knie sinken. Zu meiner ⌈H⌉ Nahrung genieße ich Hafergrütze oder Fleisch brühe und meinen heftigen Durst im Fieber stille ich mit Zuckerund Himbeerwaßer; um den Schleim auf der Brust zu lösen, nehme ich von Zeit zu Zeit einen Löffel voll gekochten Zuckersafts. Heute ist mein Appetit ganz verschwunden, auch die Suppe widersteht mir. Ergebenst Nagel Kl P [Kleinpaschleben] den 11. Febr [Februar] 1832
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B32159 Krankentagebuch von Pfarrer Nagels Frau Albertine (über ihren Mann), geschrieben am 13.02.1832, von Hahnemann bearbeitet am 13.02.1832
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\den 13 Febr [Februar] / Krankenbericht über den Pfarrer Nagel in Kl. [Klein] Paschleben, vom 11ten bis zum 13ten Februar *7 o alt. [alternierend35]* Der Patient fühlt sich im Ganzen genommen wohle. Das Fieber hielt am Sonnabend bis Abend vier Uhr an, nachher erfolgte offener Leib und Appetit, der Schlaf war nicht ganz ruhig. Sonntag beim Erwachen viel Husten und Auswurf, bis neun Uhr allgemeines Wohlbefinden von ½ zwölf Uhr bis Abend vier Uhr Fieber wobei viel Durst, nachher erfolgte Appetit und Offenerleib [offener Leib]. Eine große Mattigkeit fühlte der Kranke in den Kniekehlen und den Beingelenken, die Brust
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Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«.
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schien ganz mit Schleim angefüllt, der sich auch durch den matten Husten nicht lösen konnte, er war so eng auf der Brust, daß er kaum zweimal in der Stube auf und ab gehen konnte. Der Schlaf war ziemlich, jedoch weckte ihn ein heftiger Husten, der viel Schleim herauf brachte. Ein sehr dummer Streich hat der Patient gemacht, er hat gestern gepredigt und das Abendmahl gehalten. Die Zunge bis vorn weislich belegt, der Urin sehr braun gefärbt. Auf der Brust fühlte er große Beschwerde. Ergebenst Kl. [Klein] Paschleben den 13ten Februar. Albertine Nagel
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgebohren in Köthen
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B32208 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst und seine Tochter Albertine Mathilde), geschrieben am 25.02.1832, von Hahnemann bearbeitet am 29.02.1832
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29 Febr [Februar] ihm 7 alt [alternierend]/ Sis Nagel er den 25 Febr [Februar] § ant. cru [Antimonium crudum]`/17 Feb [Februar] Carb. [Carbon] / [Arsenik] / /ant cru [Antimonium crudum] R [Tinktur] 22 Dez [Dezember] [Tinktur] [Schwefel] ’/31 Okt. [Oktober] [Tinktur] [Schwefel] ;/Calc. [Calcium]’’ heute 7 alt [alternierend] ant cru [Antimonium crudum] Mathilde hatte den 29 Febr [Februar] § ant. cru [Antimonium crudum] ⌈12 Dez [Dezember] [Tinktur] [Schwefel]’/31 Okt. [Oktober] [Tinktur] [Schwefel];/Calc [Calcium]’’⌉ Mutter den 24 7 alt [alternierend] Carb. [Carbon] v [vegetabilis]’ / 31 Jun [ Juni] 1, 3, 6 [Tinktur] [Schwefel] Anna den 24 Febr. [Februar] 4 alt. [alternierend] Carb. [Carbon] ’/’ Wohlgeschätzter Herr Hofrath Ich wage es kaum, Sie mit einigen Zeilen zur Last zu fallen und doch halte ich es für meine Pflicht auch, Ihnen einigen Bericht abzustatten, nachdem die Frist von einigen Tagen, welche Sie selbst gestellt hatten, verstrichen ist. Ich bin wohl. Der Schmerz, Druck, heftig bis kein lauten *Der Schmerz ist überheupt nur beim tiefen Athmen zu spüren. Ich halte es für versetzte Blähungen oder Erkältung.* Aufschrei, wenn ein Reiz zum Nießen den Oden hemmt, steht seit einigen Tagen wieder fester auf seinen Flecke, der rechten Seite zwischen den mittelsten Rippen. In der linken Seite wiederholt sich noch immer ein jezuweiliges, stärkeres Aufstoßen, wahrscheinlich des Herzens, das den Puls einen kurzen Augenblick stillstehen macht. Vorzüglich spür ich diesen Zufall nach dem Eßen und bei Bewegung.
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Uibrigens bin ich, wie gesagt, wohl. Appetit und Schlaf sind gut, alle übrigen Funktionen in Ordnung. Kräfte noch schwach. Mein jüngstes Töchterchen, Mathilde, der Halbsäugling ist auch bestens. Das Würmchen hustet aber noch viel, hat sehr belegte Zunge, isst und trinkt wenig. Die eingeimpften Pocken scheinen gar nicht zu kommen. Mit Liebe und Hochachtung ergebenst Ihr Nagel.
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeboren pxp. [per Express] Koethen
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B32279 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Mutter Auguste Friederike, sich selbst und seine Töchter Clara, Anna und Albertine Mathilde), geschrieben am 14.03.1832, von Hahnemann bearbeitet am 15.03.1832
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((1)) \15 März Nagel hatte zuletzt den 17 Febr [Februar] Carb [Carbon] v. [von] 1 Globuli C30 / [Arsenik] / [Antimon] †…† /22 [Tinktur] [Schwefel] /31 Okt. [Oktober] [Tinktur] [Schwefel] /Calc [Calcium]’’ v. [vom] 23 Febr [Februar] 14 alt. [alterrierend] 1’, 3’, 6’, 10’ [Tinktur] [Schwefel] †…† mußte wegen Blutspeien No 10 aussetzen/ Der Pfarrer Nagel. *vorige Woche arger Schnupfen mit Erk. [Erkältung] in der Schläfe 2 Tage* Ich leide noch immer an den Nachwehen meiner überstandenen Krankheit: (Fieber und Seitenschmerz). In der rechten Brust ist immer noch eine Stelle, wo ich einen drückenden bückenden Schmerz empfinde, wenn ich mich zu bette lege, der jedoch nur fühlbar wird, wenn ich den Oden tief sinken laße. Mein Herz pocht noch immer auffallend \(mit aussetzendem Pulse)/, und besonders heftig nachdem Essen und bei Bewegung. Mein Urin ist noch größtentheils hochbraun. Die Kräfte sind noch sehr schwach; ich bin lendenlahm und brustmatt. \träumt viel, wacht oft auf/ Mein Appetit ist stark genug; der Schlaf nicht immer ruhig und selten ergreifend. Mein Husten ist locker, der Auswurf löst sich leicht in großen runden Flocken. Mit Blähungen habe ich seit 14 Tag viel zu schaffen. /kann doch sein Amt verwalten und predigen / kann nicht weit spazieren. / hatte Oberschenkel und Waden sollen sehr abgemagert seyn.\ \Den 24 Feb [Februar] Carb. [Carbonicum] ’,’/ Anna, die aelteste Tochter *hatte Calc. [Calcium] /Bell. [Belladonna] /Kali [Kalium] / [Schwefel] 26 Okt [Oktober]* Das Ubel im Rückgrad und in der Seiten verschlimmert sich. Gegenwärtig sind ihr die Pocken zum zweitenmale eingeimpft. /noch nichts hört Husten von Carb. [Carbonicum] weg\ den 31 Jan [ Januar] hatte das †…† wegen 14 alt [alternierend] 1, 3, 6 [Tinktur] [Schwefel]/ *gegen den erstickenden Husten bekommen § ant. cr. [Antimonium crudum] v. [v\ohne Brust (20 Wochen) on] den 24 Febr [Ferbruar] und davon gleich besser* Mathilde, die Jüngste
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Der Ausschlag auf dem Kopfe heilt nach und nach ganz ab. Das kleine Wesen leidet häufig an Husten und Schnupfen. Es scheint eine heitere Seele in dem Kind zu sein; aber die Gesichtsfarbe laßt auf eine körperliche Verstimmung schließen, denn sie ist gar zu bleich. – Seit gestern Abend bricht das Kind alles hinweg, was es genießt und hat Fieber. (Pocken? morg [morgen] d. [den] 9te Tag) /§ ant. cr. [Antimonium crudum] 1 Globuli C30 heute /Clara den 24 Febr [Februar] Carb. [Carbonicum] 1 Globuli C30 ganz wohl\ ((2)) \14 alt [alternierend] 1’, 3’, 6’ [Tinktur] [Schwefel]/ Die verwitwete Pfarrer Nagel. *Den 31. Jan [ Januar] 14 alt [alternierend] in 1 und 4 Kali [Kalium] /14 alt [alternierend]1’, 2’, 3’ [Tinktur] [Schwefel] 25 Nov [November]* \v. [vom] 31 Jan/ Die neuesten Nachrichten vom 8 d. [des] M. [Monats] lauten günstiger, als die seit Tagen \seit ½ Jahr/ früher eingegangen. Damals hatte wieder Blutauswurf ½ Tassen kopf voll und ganz schwarz statt gesund, ferner Husten, Seitenschmerz, und ruhiger Schlaf, Frost und Hitze und nächtlicher abmattender Schweiß, stark fließender Schnupfen, Kollern im Leibe. In dem neuesten Briefe klagte die gute Mutter noch über den lange anhaltenden Schnupfen, oftmals Bauchgrimmen und Durchfall und starker Kopfschmerz zur Nachtzeit. Kl. [Klein] Paschleben den 14 März 1832 Nagel. / Die junge Pastor Nagel hat immer noch beim Monatl. [ichen] mit Schmerzen vor der Regel, und Schwere in den Beinen Blut will nicht fließen / hatte den 31 Jan [ Januar] 14 alt. [alternierend] Calc [Calcium] ’/’ /22 Dez [Dezember] [Tinktur] [Schwefel] ’/’ /28 Nov. [November] Calc [Calcium]’’ / 31 Okt [Oktober] [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30 vonjeher zu wenig Monatb. [Monatsblutung] Sch. [Schmerzen] nicht mehr so häufig, auch die Unruhe in Arm und Bein weniger dießmal seit den 13 März gar zu wenig / heute 14 alt [alternierend] 1’, 3’, 6’, 10’ [Tinktur] [Schwefel]\
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E32360 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagel), geschrieben am 01.04.1832
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1 Apr. [April] Nagel v. [vom] 15 März da 14 alt [alternierend] No 1, 3, 6, 10 [Tinktur] [Schwefel] Gestern Bluthusten und noch heute (Neumond) Bei der 2ten Predigt nicht gehustet und also auch nicht ausgeworfen hatte 14 alt. [alternierend] nahm gestern No 7 heute ander 7 § damit er No 10 [Tinktur] [Schwefel] vermeiden
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B32472
Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 25.04.1832, von Hahnemann bearbeitet am 25.04.1832
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((1)) \25 April Pfarrer Nagel v. [vom] 15 März ⌈…⌉, da 1, 3, 6, 10 14 § alt [alternierend] mußte aber d [den] 1 April wegen erfolgtem Blutspeiens No ⌈…⌉ 10 weglassen v. [vom] 1 Apr [April] und bekam ⌈…⌉ 1 andre 736 § früh die hat er nun verbraucht 14 alt. [alternierend] No 1 [Tinktur] [Schwefel]/ Mein Befinden seit dem 1ten April Das unbedeutende Blutspeien hörte am 3ten April ganz auf. Herzpochen mit aussetzendem Pulse ist nicht beßer geworden; heftiger empfinde ich es bei Bewegungen und nach dem Eßen. \nur zufallweise/ Mein uraltes Uibel nur anstallweise enger Oden und belegte Zungenwurzel und Schleimansammlung im Munde, wenn ich des Morgens erwache, scheint sich vermindern zu wollen. Unregelmaßige Diat und härtere Speisen ⌈von⌉ führen sogleich Magenbeschwerden herbei; das kleinste Versehen in dieser Hinsicht rächt sich sofort durch ein höchst unbehagliches Gefühl im Magen, er läßt die Speise nicht durch und mein Oden wird enger. Das kleinste Stück Kuchen beschwert meinen Magen. Schlaf und Verdauung sind in Ordnung. Kl. [Klein] Paschleben den 25 April 1832 ((2)) Anna Nagel /5 Jahre alt. / heute 14 alt [alternierend] No 1 8 1 [Tinktur] [Schwefel] v. [vom] 15 März hatte den 24 Febr [Februar] Carb [Carbon]’,’/ Calc. [Calcium] /Bell [Belladonna] /Kali [Kalium] / [Schwefel]’,’’26 Oct [Oktober] dann [Säure] ph.\ Das Kind scheint kerngesund; aber das gebogene Rückgrad und die eingesunkene linke Seite werden immer fühlbarer. Kl. [Klein] P. [Paschleben] den 25 April. ((3)) \Den 25 Oct [Oktober] s/ Die Witwe Pfarrer Nagel *heute 14 alt [alternierend] 1, 8, Sep [September] v. [vom] 15 März hatte da 14 alt. [alternierend] 1; 3; 6’1 [Tinktur] [Schwefel] /14 alt. [alternierend] 1; 4’ Kali [Kalium] /25 Nov. [November]14 alt [alternierend] 1; 2; 3’1 [Tinktur] [Schwefel]* Viel Husten und Beengung auf der Brust. – Wechsel Weise einige Tag hartleibig und wieder einige Tage Diarrhoe. Der Appetit ist unbedeutend. In der Nacht häufig Kopfschmerz. *Lycop. [Lycopodium] Sep. [Sepia] Carb. [Carbon] v. [von] Z. Silit* Tragarth d. [den] 31 April.
Unter der Ziffer 7 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 7 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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B32513 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Magd), geschrieben am 28.04.1832, von Hahnemann bearbeitet am 01.05.1832
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\1 Mai Kinder Klanmberg ihr Carb. [Carbon] gegeben v. [von] Buch/ Werthgeschätzter Herr Hofrath Meine Magd hat seit dem stillen Freitag das kalte Fieber, so daß es heute zum fünften male und jedes mal heftiger eingetreten ist. Die Kranke hat mehr Hitze als Frost und auffallend nur im Froste viel Durst. Nach der Hitze folgt Schweiß. Heute klagt Patient noch über reißend Schmerz im Kopfe und im Rücken und über Stiche in der Brust. Die wahrscheinliche Veranlassung ist das Stubenscheuern vor dem Feste und das Schlafen in einer frischgescheuerten Stube, wogegen sie vergebens gewarnt ward Das Mädchen ist jung und sehr vollblutig. Ich bitte ergebenst um Medicin für dieselbe Kl [Klein] Paschl [Paschleben] den 28 April Ihr gehorsamer 32 [1832] Nagel
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B32530
Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Frau Albertine), geschrieben am 04.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 07.05.1832
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\7 Mai Nagels Frau No 1 Nux v. [Nux vomica] 1 Globuli C30 jetzt und morgen um dieselbe Stund No 2 ant. cr. [Antimonium crudum] wenn Engbrustigkeit und Appetitlosigkeit noch anhielt/ Wertgeschätzter Herr Hofrath! Meine gute Frau ist schon seit 8 Tagen unwohl, aber seit gestern bedenklich krank. Vor ungefahr 8 Tagen fing sie an zu husten und über Appetitlosigkeit zu klagen und machte dabei die Bemerkung, daß sie seit einiger Zeit auffallend abmagere. Ihre Brüste, die zwar nie hoch gewesen, sind wie verschwunden und mitten auf der Brust ist das Loch, das schon seit früher Jugend da war, zum Erschrekken tief eingesunken. Gestern war ein Auswurf, der ganz zähe war, mit Blute vermischt, oder vielmehr: er war ganz fleischfarben. Heute früh war vor ihrem Bette ein großer Flecken voll ausgehusteter Auswurfe, in deren einem nur ein braunes Pünktchen von sich zeigte. Auf der Bruste fühlte sich die Kranke so eng, als sei sie festgeschnürt, und zwei Schritte reichen hin, sie außer Oden zu bringen. Ich bitte ergebenst um Medicin und bemerke nur noch, daß von vorigen Freitag Abends, bis Dienstag früh die Reini-
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gung stark ging, und daß unmittelbar nach dem Aufhören die Brustbeklemmungen eintraten. Ihr gehorsamer Nagel Kl. [Klein] P. [Paschleben] den 4 Mai 1832
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B32539 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Mutter Auguste Friederike und seine Frau Albertine), geschrieben am 06.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 06.05.1832
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((1)) \6 Mai Pfarrin Nagel heute 4 §/ amm [Ammonium muriaticum] 1 Globuli C30 tagl. [täglich] eins an allen v. [vom] 4 Mai da No 1 Nux v. [Nux vomica] und 2 den Tag drauf ant. cr [Antimonium crudum]/ v. [vom] 15 März da 14 alt. [alternierend] 1, 3, 6, 10 [Tinktur] [Schwefel] / Calc [Calcium]’,’ / 22 Dez [Dezember] [Tinktur] [Schwefel] ’,’ / 28 Nov [November] Calc [Calcium]’’ / 31 Oct. [Oktober] [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30/ Befinden der Pfarrer Nagel seit dem 4ten Mai Die Kranke hustete heftiger und häufiger und vorzüglich gestern früh war mehr Blut unter dem Auswurfe, das laute Sprechen ward ihr sauer und die Beklemmungen auf der Brust wurden nicht gelinder. Dabei befand sie sich in einer Stimmung, welche ihr bei ihren Krankheiten sonst gar nicht eigen ist; sie glaubte, es werde mit ihrer Gesundheit nun aus sein, und sie müsse sich auf das Scheiden von den Ihrigen, die sie so heiß liebt, gefaßt machen. Heute früh fühlte sie sich sonst ganz leicht auf der Brust, und schon gestern Abend, nachdem das 2te Pulver genommen war, waren die Beklemmungen
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etwas gewichen. Der Husten aber trat auch heute früh mit der vorigen Gewalt ein, und der Auswurf war zuletzt wieder vielleicht in Folge der Anstrengung, mit kleinen Blutstreifen untermischt. Appetitlosigkeit ist noch immer vorhanden. Meine gute Frau ist im ganzen ein sehr schwächliches Weib. Sollte das Fahren, (das ihr überhaupt nicht zusagt) von hier bis 2 Stunden jenseits Merseburg und ⌈am⌉ 3 Tage nachher dieselbe Tour zurück vielleicht die Ursach ihrer Krankheit sein? Zumal, da sie mit Husten und Appetitlosigkeit schon vorher geplagt war und ihre Menses 37 am Tage vor der Abreise eingetreten waren. Wollen Sie gefälligst dem Uiberbringer sagen, wann ehe, er wieder kommen darf, um die Medicin bei ihnen ab-
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Menstruation.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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zuholen. Mit Liebe und Hochachtung Ihr Kl. [Klein] P. [Paschleben] den 6 Mai 1832 ergebe [ergebener] D. ((Diener)) Nagel
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B32553 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Frau Albertine), geschrieben am 09.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 09.05.1832
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((1)) \9 Mai Nagelin ChinR. [Chinarinde] und das lezte [letzte] § nehmen v. [von] 6 da 4 § tägl [täglich] No 1 amm [Ammonium muriaticum] / Die Pfarrer Nagel j [junior] in Klein Paschleben seit dem 6ten Mai Die Kranke hat zwar noch eins von den zuletzt übersendeten 4 Pulvern übrig, aber ihr Zustand ist seit Montag Abend von der Art, daß ichs für meine Pflicht halte, sofort zu berichten. Bis Montags Abend war die Beßerung auffallend, [da] aber, ohngefähr gegen 7 Uhr, kehrte (wahrscheinlich in Folge einer Erkältung in einem dampfigen Keller, wo sich die Unvorsichtige am Nachmittage wohl eine halbe Stunde aufgehalten hatte) der Husten heftiger, als vorher, zurück. Es schien eine Art Krampfhusten, welcher einige Stunden anhielt und nur beim Niederlegen noch viel schlimmer ward. Der Schlaf, der bis dahin nicht ausgeblieben war, war ganz gewichen und am andern Morgen, den 8 Mai, kehrte der Husten in derselben Heftigkeit wieder; der Auswurf, ⌈wo⌉ der nur selten und erst nach großer, brechartiger Aufregung er
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folgte, war öfters mit Blut untermischt, und die Kranke klagte nun zwar nicht mehr über Stiche und Beklemmung, aber über Schmerz im Leibe und Roth- und Wundsein in der Brust, die der stete Husten zu Wege bringt. Als sie sich gestern zum Mittagsschlaf niederlegte konnte sie bei aller Müdigkeit kein Auge zuthun, weil die im Liegen gedehnte Lunge unaufhörlich hustete. Ebenso wars abends und diese ganze Nacht, auf welcher die arme Leidende nicht ein halb Stündchen geschlafen hat. Heute früh war sie so müd, aber eben jetzt 6 Uhr ist sie aufgestanden, weil sie hofft, daß im Sitzen der Husten weniger quaelen wird. Unter dem Auswurfe, wenn er sich leichter löst, ist bräunliches Blut, und der Geschmack des Erstern ist ganz salzig, daher auch vielleicht das stete Kribbeln bis tief in den Schlund hinunter. Der Appetit, der auch wieder da war, ist verschwunden. Die Kranke behauptet, ihr ganzes Uibel sei ein zurückgetretener Schnupfen.
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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Ich bin hier in Koethen und wage nicht, selbst vor Ihnen zu erscheinen, weil ich nicht stören will, mein Pursche erwartet Ihre Befehle, [wenn] ehe er die Medicin bei Ihnen abholen darf. Mit Liebe und Hochachtung Ihr Kl. [Klein] Paschl [Paschleben] den 9 Mai 1832 ergebenster Nagel
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Ps. [post scriptum] Nach warmer Milch, bemerkt meine gute Frau eben, beruhigt sich der Husten ei etwas, weshalb sie dieselbe nun häufig trinkt Ders. [derselbe]
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeboren Koethen
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B32561 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Frau Albertine), geschrieben am 11.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 11.05.1832
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\11 Mai 438 § den 9. da Chin R. [Chinarinde]/Befinden der Pfarrer Nagel jun [junior] in Klein Paschleben seit dem 9 Mai Nachmittags Das Blut unter dem Auswurfe blieb nach dem Riechen in das übersendete Fläschchen weg und es erfolgten Blähungen, die während der ganzen Krankheit nicht vorhanden waren, was die Kranke um des willen bemerkt, weil sie häufig bei ihr vorkommen. Der Abend und die Nacht waren gut; nur morgens gegen 1 Uhr trat wieder ein heftiger Hustenschauer ein, der durch warme Milch zum Lösen gebracht wurde. Heute früh war Patient trotz des guten Schlafs zerschlagen und immer müde, der Husten ward wieder anhaltender und unter dem Auswurfe sechsmal Blut bemerkbar. Den Tag über quälte der Husten seltener, und der \drückende/ Kopfschmerz
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mit dem die Kranke heute erwachte, blieb gegen zwölf Uhr weg. Appetit ist gering. Offener Leib hat nur heute gefehlt. Beim Husten ist im Leibe unter den kurzen Rippen, ein druckender Schmerz. Das Gemüt der Kranken ist im Ganzen beßer
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Unter der Ziffer 4 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 4 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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gestimmt, aber gar zu leicht astieirt, nicht durch Aerger und Unwille sondern durch die sanften Gefühle ihres Herzens. Mit Hochachtung und Liebe Ihr ergebenster Nagel Kl P. [Kleinpaschleben] den 10ten Mai Abends 1832
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B32571 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Frau Albertine), geschrieben am 15.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 15.05.1832
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((1)) \1 Mai Nagelin heute 7 § No 1 [Tinktur] [Schwefel] 1 Globuli C30/ Befinden der Pfarrer Nagel j. [junior] in Kl. [Klein] Paschleben seit dem 10 Mai Meine gute Frau ist wie neugeboren. Nachdem sie das dritte von der zuletzt übersendeten 4 Pulvern genommen hatte, wurde der Husten, dessen Heftigkeit wirklich aufs Höchste gestiegen war und zuletzt ein Magenhusten zu ⌈sch⌉ sein schien, (der Schleim war bittern salziger und sauern Geschmacks) ruhiger. Das Gefühl unbeschreiblicher Müdigkeit und Mattheit, das besonders des Morgens sich zeigte, hat täglich sich vermindert. Der Appetit ist auch von Tage zu Tage etwas beßer und heute recht gut geworden; doch klagte die Genesende noch gestern Abend über den immer noch anhaltenden sehr übeln Geschmack nach faulen verdorbenen Speisen. – Ganz frei von
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von diesem schlechten Geschmacke ist sie auch heute nicht und der Reiz zum Husten ist auch immer noch da. Der Auswurf ist schaumig, weiß, ohne Geschmack. Die Brust ist voll und Patient sagt mir eben es koche immerwährend mitten in der Brust; es sei ihr zu Muthe wie einem Dampfigen. Die Stimmung ist wieder heiter. Mit Liebe und Hochachtung Ihr Kl. [Klein] P. [Paschleben] den 15 Mai ergebenster D. [Diener] 1832 Nagel.
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B32592 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Frau Albertine und seinen Dienstboten Christoph Bekker), geschrieben am 18.05.1832, von Hahnemann bearbeitet am 18.05.1832
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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\18 Mai Pfarrer Nagels Knecht/ Wertgeschätzter Herr Hofrath! Den Bericht, den ich in Angelegenheit meiner Frau am 15 d. M. [des Monats] bei Ihnen einreichen ließ, hatte ich schon am folgenden Tage wiederrufen, und die Medizin, um die ich gebeten hatte, ablehnen mußte, weil die Reste der Krankheit verschwunden waren. Ich traute jedoch dem Frieden nicht und habe deshalb bis heute gezögert. Die Genesung zeigte sich nun bleibend, mein gutes Weib ist ganz hergestellt, die Brust ist rein, der Husten fort, der Appetit wieder da und die heiterste Stimmung. Dank Gott! und Ihnen! – Ich habe aber nun wieder einen anderen Kranken, der Uiberbringer, Christoph Bekker, in meinen Diensten, hat das kalte Fieber einen Tag um den anderen. In der Nacht vom Freitag (11ten Mai) zum Sonnabend will Patient den Anfall zum erstenmale gehabt haben, doch \bloß Hitze/ ohne Frost. Sonntags den 13 Mai war er mit Frost verbunden. Die Heftigkeit hat mit jedemmale zugenommen, der Appetit ist verschwunden und sogar das Getränk bricht der Kranke weg. Gestern war es der vierte Anfall und vielleicht darf er nun Medizin, um welche ich hiermit bitte, einnehmen. \auf der r. [rechten] Backe Bläschen Ausschlag, rothbraun drum rum, juckt und brennt/ Kl. [Klein] P [Paschleben] den 18 Mai Mit Ehrfurcht und Liebe Ihr ergebenster D. [Diener] * Nagel 32 [1832] /jene Nacht um 11 Uhr bis 3 Uhr Frost dann Hitze gleich mit Schweiß bis gestern Ab. [Abend] 7 ½ Uhr]\ 24 *In Frost zieh Sch. [Schmerzen] im Kreuze und Beinen in Frost und Hitze bes. [besonders] die Hitze Sch [Schmerzen] mit †…† verordnen alle 2 Tage zu Stuhle, wassrig und bitter im Mund / ⌈Son [Sonntag]⌉ seit Mitwoch nichts gegessen heute Hafergrütze weggebrochen, brach alles Getränk weg 7 No 1 ant cr [Antimonium crudum] 2 †…† 3; 4; 5’ †…†
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B32675 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 05.06.1832, von Hahnemann bearbeitet (mit Datum vom 05.05.1832)
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeboren px†…† Koethen
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((2)) \5 Jun [ Juni] Nagel ohne den †…† gelesen und 30 ant. cr. [Antimonium crudum] geschickt/ Wohlgeschetzter Herr Hofrath. Seit gestern Abend um elf Uhr bin ich total betrunken, ohne auch nur einen einzigen Schluck geistigen Getränkes zu mir genommen zu haben. Ich war gestern Nachmittag im Concerte des Singvereines, wo ich einen von den Pfann-
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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kuchen, die ich für meine Frau und Kinder einpacken ließ, aß. Nach dem Concerte aß ich zu Abend beim Rathe Vienethaler und ich genoß dort einen Teller \geronnene/ Milch mit vielem Zucker unter welchen sehr viel Zimmt gemischt war (wozu ich höflichkeitshalber nichts sagte), und nachher die Helfte von einer aufgeschnittenen Scheibe Kalbsbraten; den Beschluß machte ich mit vielem Weißbrot, Butter und Käse, woran ich mich, so lange es
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Frühjahrsbutter gibt, wohl schon mehrmals zu sehr gehalten habe. Die ganze Gesellschaft trinkt Wein, ich nahm nach dem Butterbrockn 2 kleine Glas Gose 39 zu mir. Um zehn Uhr stieg ich mit meiner Frau und meiner aeltesten Tochter in den Wagen und noch in der Kudte 40 wiederfuhr mir etwas, worüber ich einen tiefen einigen Ärger empfand. Als ich nach einer Stunde in meinem Hause angelangt, aus dem Wagen stieg, stand ich nicht fest auf den Füßen. Ich wankte vor – und rückwärts und taumelte nach links und rechts wie einer im höchsten Grade Betrunkener. Auf dem Stuhle sitzend hatte ich Mühe mich festzuhalten, so zog die Schwere meines Kopfes mich herunter. Ich müßte wie ein
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Betrunkener ausgezogen und ins Bette gefahrt werden. Aengstlicher Schweiß war mir dabei aus allen Poren gedrungen. Liegend empfand ich kein Unbehagen, ich lag schwer und fast wie Blei, nur wenn ich mich aufrichtete, schwankte der Kopf. Ehe ich mich legte spürte ich schon Uibelkeit und ich war kaum im Bette, da schwalkte alles Gegessene herauf, es erfolgte ein heftiges Erbrechen mit so saurem Geschmacke, daß mich ein heftiges Schuddern zusammenschüttelte und daß die ganze Kammer sauer roch. – Eine Stunde nach dem ersten erfolgte ein 2tes Erbrechen. Ich habe ziemlich gut geschlafen und war beim Erwachen der Meinung, es müßte alles vorüber sein. Dem ist nun aber nicht so. Ich kann heute noch nicht allein gehen sondern schwanke wie ein Besofener ich habe noch heute Mühe, auf dem Stuhle fest zu sitzen, und empfinde auch nachdem †…† Tasteschmerz Kasten genommen, noch einige Uibelkeit. Ich bitte um Hilfe; Morgen soll ich die Bußtagspredigt halten.
39 Das Ur-Bier »Gose« stammt aus Leipzig. 40 Hier ist wahrscheinlich eine Kutte/ein Mantel gemeint.
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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Mit Liebe und Hochachtung ergebenst Kl P [Kleinpaschleben] den 5 Juni 1832 Nagel
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B32739 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Tochter Clara), geschrieben am 18.06.1832, von Hahnemann bearbeitet am 18.06.1832
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((1)) \18 Jun [ Juni] 3 § à Natr. m. [Natrium muraticum] nach dem Anfalle ein, vorher aber ant. cr [Antimonium crudum] zum Riechen v. [vom] 5 Jun. [ Juni] Pfarrer Nagels kleinstem Kinde/ Klara Nagel in Klein Paschleben, 2 Jahr alt. ist erseit heute Vormittag, wie mir es scheint, an einem Magenfieber krank. Schon gestern hatte das Kind wenig Appetit und in dieser Nacht hörte ich das Träumende wiederholt sagen: »bin satt«. Heute früh war die Kleine sehr knorrig, mußte binnen einer halben Stunde zweimal zu Stuhle, und der Abgang war hakkig. Gegen 10 Uhr stellte sich das Fieber ein, das Kind war auffallend kalt, verfiel nach und nach in Hitze und klagte über Kopfweh. Der Appetit zum Essen ist ganz gewichen, – viel Durst aber vorhanden. Die Zunge ist sehr weiß und ein übeler Geruch im Munde. Ich bin um des lieben Kindes willen expreß hieher gekommen und sähe es recht gern, wenn Sie die Güte hätten, mich möglichst bald abzufertigen. Schließlich erlaube ich mir noch zu bemerken, daß Sie mich in Ihrer letzten gut gemeinten Zuschrift recht hart angelasten haben und daß ich mir meine Rechtfertigung auf eine mündliche Unterredung vorbehalte Koethen den 18 Juni 1832 Mit herzlicher Liebe und Hochachtung KlPaschleb. [Kleinpaschleben] Ergebenst A. Nagel
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Herr Hofrath Hahnemann Wohlgeb [Wohlgeboren] Koeth. [Köthen]
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B32772 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Tochter Clara), geschrieben am 22.06.1832, von Hahnemann bearbeitet am 23.06.1832
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\23 Jun [ Juni] Nagels Kleinstes v. [vom] 18 Jun [ Juni] 7 § No 1, 4 Calc. [Calcium]/ Klara Nagel seit dem 18 Juny. Ich belästige ungern, aber ich verdiene am Ende einen Vorwurf von Ihnen, wenn ich länger verschweige, daß das Kind seit meiner letzten ergebenster Eingabe vom vorig Montage täg-
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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lich 2 bis dreimal laxiert. Der Abgang sah am vorigen Dienstage höchst verdächtig aus – lauter Schleim und röthlich. Am Mittwoch aber so dünn und ebenso schleimig, aber braun, es schwammen lauter viele kleine weiße Maden drin. Gestern und heute ist es gewöhnlicher Durchfall, d. [der] i. [ist] breiig und von brauner Farbe. Fieber ist nicht wieder gekommen, der Appetit ist auch da. Ergebenst der Ihrige Nagel Kl P. [Kleinpaschleben] den 22 Jun. [Juni] 32 [1832]
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B32884 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 17.07.1832, von Hahnemann bearbeitet am 17.07.1832
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((1)) \17 Jul [ Juli] Nagel. den 14 da 14 alt. [alternierend] extra Calc [Cacium] eigenommen darauf noch blutiger Durchfall; Ab. [Abends] besser, den 15ten war Durchfall weg, war aber sehr matt heute 30 †…† alle 4 Tage †…† zu riechen bis der Mißappetit weicht/ Der Pfarrer Nagel in Kl. Paschleben July 11. Vormittags frei von allem Durchfall; dafür gegen Nachmittags von 1 bis 5 Uhr war ich desto häufiger damit geplagt; ich wurde ganz marode, fing an zu frösteln und mußte ins Bett, wo ich wieder Frost mit Hitze und Schweiß durchmachte. Es war derselbe Zustand wie vor 3 Wochen nur alles in gelinderem Maaße, vielleicht weil ich erschöpfter war. Das Herzpochen war gar arg. July 12. Heute früh sehr matt und sehr kurz und eng auf meiner Brust; auch etwas Husten, der fest ist. Die Zunge ist stark belegt. Der Appetit ist sehr gering und sobald ich das geringste genieße, so fühle ich Kollern und Schmerzen im Leibe und muß zu Stuhle. Der Abgang ist heute immer dünner schleimig mit Blut. Viel Durst. Seit Nachmittags 1 Uhr empfinde ich fast ununterbrochen einen schneidenden Schmerz im Leibe. Jul. [Juli] 13. Heute früh trieb mich der Durchfall zum Bette heraus und ich mußte in einer halben Stunde 2mal gehen. Ich habe jedoch den größten Theil der Nacht gut geschlafen und fühle mich deshalb gestärkt. Meine Zunge ist mehr belegt als gestern. Appetit habe ich nur auf Lieblingsspeisen – gekochtes Fleisch ekelt mich an. – Zu Stuhle habe ich nicht mehr gemußt.
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Jul. [Juli] 14.
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Ich habe heute das Extrapulver genommen, weil ich wieder
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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Jul. [Juli] 15.
Jul. [Juli] 16.
Jul. [Juli] 17.
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nicht schnell genug aus dem Bette kommen konnte und bald nach dem Stuhlgang doch noch Drang dazu verspürte. In die verfloßenen Nacht war der Schlaf nicht gut. Die Zunge ist belegt. Die Kräfte schwach. Auch heute habe ich noch ofte zu Stuhle gemußt, daß ich nun ganz ausgemergelt bin. Heute war Sonntag und darum hatte ich keine Zeit zum Kranksein. Vor der Kirche mußte ich noch 2mal zu Stuhle und das Sprechen ist mir heute so sauer geworden wie vielleicht nach Weines, aber Drang zum Stuhlgang habe ich den ganzen Tag nicht mehr gespürt. Belegte Zunge, wenig Appetit – Herzklopfen. Heute früh war mein Stuhlgang geregelt. Die Zunge aber ist sehr belegt und der Appetit schwach. Wie erschöpft ich bin, bemerke ich besonders an der Kraftlosigkeit meiner Stimme. Heute früh war mein Stuhlgang wieder dünn doch ohne Beängstigung und ohne Schneiden im Leibe. Des Schleimes ist beim Erwachen eben so viel wieder im Munde als im vergangenen Winter /nun gar kein Appetit Ekel vor gekochtem Fleisch, aber kaltes Fleisch und Butterbrod gern Heute wieder Kollern im Leibe, muß früh nach Erwachen schnell zu Stuhle\
((3)) \17 Jul. [ Juli] v.[vom] 25 April da 14 alt. [alternierend]1, 8 Sep [September] und v. [von] Mitte heute 14 alt [alterirend] No 1, 8 Nux 1 Globuli C30/ Frau Pfarrer Nagel sen. [senior] Vor vierzehn Tagen kehrte auf einige Stunden lang der Zustand des Blutspeiens wieder. Vorher ganz, wie gewöhnlich, Unruhe im Blute und Schlaflosigkeit, nachher folgte Mattigkeit. Mit kurzen Oden ist Patient immer geplagt. Der Husten ist gegenwartig gar nicht arg. Seit langer als 8 Wochen findet sich in der Regel des Morgens ein dämischer drückender Kopfschmerz ein, der eine Stunde nach dem Aufstehen nach und nach verschwindet. Seit 4 Tagen ist mitten in der Stirn ein Schmerz, der besonders fühlbar beim Auftreten, beim Fahren und bei allen körperlichen Erschütterungen ist; noch einige Tage älter ist das harte Gehör Öfter überfällt schon Morgens, bald nach dem Aufstehen, eine so große Müdigkeit, daß die Neigung zum Bette wieder unwiderstehlich ist. \17 Jul. [ Juli] /heute 14 alt. [alternierend]1, 8 [Tinktur] [Schwefel] v. [vom] 25 Apr [April] da 14 alt [alternierend] 1 und 8 [Tinktur] [Schwefel] v. [vom] Mittel/ Anna Nagel, die äelteste Tochter Der Zustand im Rucken und in der Seite scheint sich zu beßern, und das Kind vermißt ungern seine Pulver
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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Kl. [Klein] P. [Paschleben] den 17 Jul [Juli] 1832
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E 32959 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagels Tochter Anna), geschrieben am 28.07.1832
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28 Pfarrer Nagels Anna v. [vom] 17 Jul [ Juli] da [Schwefel] nur eine Beule über der r.[rechte] Schläfe, die brennsch [Brennschmerzen] machen soll wird bald aufgehen
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B321040 (B32040) Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Töchter Clara und Albertine Mathilde), geschrieben am 23.08.1832, von Hahnemann bearbeitet am 23.08.1832
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((1)) \23 Aug [August] Nagels Clara/Der Pfarrer Nagel Nachtrag zu dem am 16 Aug. [August] abgegebenen Berichte Am Schluße des letzten Berichtes klagte ich über Mangel an Appetit und Zerschlagenheit in den Schenkeln. Diese Uibel haben bis gestern zugenommen. Sonntags Nacht hatte ich mich erkältet und daher fanden sich auch Kreuzschmerzen ein. Wenn ich hustete that es wie im Kopfe und im Kreuze zu gleicher Zeit wehe. Montags Früh und Dienstags Früh war einmal Blut unter dem Auswurfe. Seit gestern Nachmittag ist Schmerz im Kopfe und Kreuze, Schwäche aus den Schenkeln und Knien und Appetitlosigkeit verschwunden. Der Stuhlgang ist heute ausgeblieben. \heute acon [Aconitum napellus] zum Riechen N. M [Nachmittag] und früh/ Klara Nagel Meine dritte Tochter 3 Jahr alt hatte vor 8 Tagen einen heftigen Fieberanfall, der nicht wiederkehrte. Bis gestern war sie ganz gesund; aber schon in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch
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Mittwoch fing sie an zu husten, die Eßlust war verschwunden, die Brust wurde voll, sie hustete viel und brach dabei weißen Schaum aus. Heute hat sie unaufhorlich Reiz zum Husten, es kocht auf der Brust und seit früh um 9 Uhr ist eine starke Fiber-
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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hitze eingetreten. Kl. [Klein] Paschleben den 23 Aug. [August] 1832 Nagel. Vielleicht ist es auch gut, wenn auch Mathilde meine jüngste Tochter (3/4 Jahr alt) Medicin erhält; denn sie befindet sich fast in dem nämlichen Zustande als Klara nur mit dem Unterschiede, daß ihr Husten nicht so arg, der Appetit nicht so schlecht und
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das Fieber erst im Beginnen ist. Die Brust aber hat sie eben so voll und jagt mit kurzem Oden. Ders. [Derselbe]
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B321070 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Töchter Clara und Albertine Mathilde, Anna und sich selbst), geschrieben am 26.08.1832, von Hahnemann bearbeitet am 26.08.1832
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\26 Aug [August] v. [vom] 16 und 19 und 23 Jul [ Juli] / Krankheitsbild meiner jüngsten Tochter Mathilde cf. Bericht v [vom] 22 Aug [August] N.3. \ihr heute 741 § ⌈…⌉ bis sie und bei Nr B riechen †…†/ Mathilde N I. [Nummer 1] Das Fieber war gestern stärker. Der Husten quält fast ununterbrochen. Die Brust ist ganz voll. Kein Appetit zum Essen, auch wenig Durst. Kein offener Leib seit vorgestern. Seit ebensolang nun ein einzig mal Urinieren, das ganz dick und lehmigt war. Das Kindchen krankt immerwährend und der Husten scheint Schmerz zu verursachen. – Medicin hat sie nicht erhalten. \auch diese 742 bis die soll auch an B riechen/ N II. [Nummer 2] Klara cf. Bericht vom 22 August N. 2. [Nummer 2] Das Fieber erreichte den höchsten Grad, der Zustand war höchst ängstlich. Zum Riechen in das verordnete Fläschchen konnte ich’s nicht bringen. Die Krankheit scheint aber gewichen; doch hustet und röchelt das Kind noch viel, und hat viel rothe Flecke, besonders des Morgens über den ganz Körper N. 3. [Nummer 3]
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((3))
((1))
Unter der Ziffer 7 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 7 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint. Unter der Ziffer 7 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 7 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
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\hatten den 19 Aug [August] 14 alt. [alternierend] 1. †…† [Tinktur] [Schwefel] N. 3. [Nummer 3] Anna cf. Bericht vom 18. oder 19 August. Die dort angezeigten rothen Flecke treten bald mehr, bald weniger hervor. Der Appetit ist noch nicht ganz hergestellt. Zuweilen klagt das Kind über Schmerzen an der rechten Kopfseite. \v. [vom] 16 Aug. [August] sollte da bekommen 14 alt. [alternierend] /Puls [Pulsatilla pratensis] 8 [Tinktur] [Schwefel] R. [Riechen] N4. [Nummer 4] Der Pfarrer Nagel cf. Ber. [Bericht] vom 16 und 23 August Wenn es die Zeit noch irgend erlaubt, so bitte ich auch für mich, der ich nun seit 3 Wochen ohne Medizin bin. Herzpochen – öfters zu weicher Stuhlgang – kein andenklicher Appetit – Unruhe im Blute (Albdrücken) – dies sind die vorherrschenden Symptome in mein Uibel befinden. Ergebenst. KL. [Klein] P. [Paschleben] den 26 Aug [August] Nagel
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B321095 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Tochter Clara), geschrieben am 28.08.1832, von Hahnemann bearbeitet am 29.08.1832
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\29 Aug [August] Nagel 7 jedes tagl [täglich] eines früh und †…† noch einmal B(ell) [Belladonna atropa] R [Tinktur] v. [vom] 26 da 7 jeder bis die und B(ell) [Belladonna atropa] R. [Tinktur]/ Klara Nagel cf. Bericht vom 26 August. Die Pulver haben gute Folgen hervorgebracht, doch hat das Kind noch viel gehustet und dabei weißen Schleim, und wenn sie eben gegeßen hatte, das Genoßene ausgebrochen. Der Appetit ist erst seit gestern wieder gut; aber der Husten ist noch heftig. Die Pulver sind alle. Mathilde Nagel cf. Bericht v. [vom] 26 August Das erste Pulver schien Wunder zu wirken und die Kleine beßerte sich bis Montag Abend sichtbar. Da aber kam wieder Fieber, mehr Husten, und Appetitlosigkeit. So war der Zustand gestern den ganzen Tag bis gegen 4 Uhr. Seitdem ist das Kind sehr wohl, aber hustet noch sehr stark. Die Medicin ist verbraucht. Kl. [Klein] Paschleb [Paschleben] den 28 Aug [August] 32. [1832] Ergebenst Nagel
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Evangelische Geistliche in Hahnemanns Patientenschaft
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B321116 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Schwiegermutter und seine Mutter Auguste Friederike), geschrieben am 02.09.1832, von Hahnemann bearbeitet am 02.09.1832
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((1)) Krankheitsbild der Regierungsräthin Kohl von Koethen, \2 Sept [September] Kohlin ihr heute 443 § Abends eins zu nehmen hatte den 30. Aug [August] 744 § und [Spiesglanz] †…† R [Tinktur] die andere früh und nicht mehr riechen/ gegenwärtig in Kl Paschleben [Kleinpaschleben] cf. Bericht vom 30 Aug. [August] E 31 Aug. Die Krankheit behauptete den von vorigen Tagen gemeldeten Charakter 1. Sept. [September] In der Nacht einige Stunden Schlaf. Morgens nach dem Genuße einer halben Tasse Gesundheitsschokolade erfolgte wieder der drückende spannende Schmerz im Kopfe. Gegen 9 Uhr wollte Patient einige Minuten außer dem Bette lege; aber es trat sogleich ein ohnmachtähnlicher Zustand ein, die Lippen wurden blau und es entstand ein Summen im Kopfe, als wenn Waßer darinnen sind. Leichter Schweiß und leichter Schmerz im linken Oberarm ist fast immer da. Nachmittags wurde der Schmerz im Hinterkopfe und über dem linken Auge immer heftiger, die Füße waren kalt, die Hände heiß. Viel Durst. Der Husten, der bis,, her häufig vor und mit vielem Auswurfe verbunden, blieb stehen –. Große Angst, Weinen –. Nach einig Stunden
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kehrte der Husten zurück, die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, die Unruhe war großer, keine Minute Schlaf, stets durst und viel Aufstoßen. Nachts 12 Uhr schien die Leiden nachzulaßen. Patient mußte zu Stuhle, wo sie nach vieler Noth offener Leib erhielt. (der Nachmittags abgegangene Urin sah hatte völlig kastenbraune farbe.) Nachdem die Kranke ⌈wieder ⌉ ins Bette gelegt war, wurde der Husten wieder stärker und die Brust 3 Minuten lang krampfhaft zusammengezogen. Nachher erfolgte Ruhe, aber kein Schlaf 2 Sept. [September] Die Kranke liegt ganz hin, sie fühlte sich unbeschreiblich matt, hustet beständig und wirft viel aus, klagt über wenigen Schmerz vom rechten Ohre bis uber das linke Auge. Die Brust ist ganz matt, sie
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Unter der Ziffer 4 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 4 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint. Unter der Ziffer 7 steht im Originaltext ein Kreis. Hier sind wahrscheinlich 7 Streu- bzw. Zuckerkügelchen gemeint.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
röchelt beständig. Die Stimmung ist höchst betrübt bis zum Weinen. Auch heute, wie gestern und vorgestern erfolgt nach allem Genoßenen, Aufstoßen, doch ohne Ohn schmach. Die Kranke trinkt dünnes Bier, Zuckerwaßer und ißt einige Lofel Hafergrütze oder Fleischbrühe.
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((3)) Krankheitsbild der Pfarrer Nagel sen. [senior] gegenwär- \2 Sept [September] alte Nagel v. [vom] 19 Aug [August] da 14 alt [alternierend, im Sinne von jeden zweiten tag einzunehmen], 1 [Tinktur] [Schwefel] 8 amm [Ammonium muriaticum] soll die Pulver fortbrauchen und in 3 [Spiesglanz] zwei Morgens riechen/ tig in Waldau cf. Ber.[Bericht] vom 10 July, worauf erst noch der erst Husten des August Medicin erfolgte. Meine arme Mutter ist fast noch kränker als meine Schwiegermutter. Sie hatte am 21 Aug. einen starken Blutauswurf, wenigstens 1 großen Taßenkopf voll und seitdem ist sie immer kränker, appetitloser, schlafloser geworden. Am 28sten Abends trat ein fieberhafter Zustand ein – Ziehen im ganzen Körper, wenig Hitze, wenig Schweiß aber der Kopf ganz taub. Die Kranke versichert, sie habe wenn sie bei steter Müdigkeit, die Augen einmal aufschlag alles doppelt gesehen. In diesem halbschwummernden Zustand hat sie drei Tage zugebracht. Beim Aufstehen taumelte sie. Nun ist gar kein Schlaf mehr da, große Mattigkeit, Appetitlosigeit, kalte Füße, belegte Zunge. Ich bitte dringend herzlich um Medicin. Kl. Paschleb [Kleinpaschleben] den 2 Sept. [September] 1832 Ergebens Nagel Sie wollen gefälligst auf den Paketen den Betrag bemerken.
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb. [Wohlgeboren] Koethen
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B321221 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Mutter Auguste Friederike und sich selbst), geschrieben am 22.09.1832, von Hahnemann bearbeitet am 22.09.1832
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb. [Wohlgeboren]
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inl. [inliegend] 3 45 P. C. Koethen
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((2)) Frau Pfarrer Nagel sen. gegenwärtig in \ †…† davon d. [den] 3 oct. [Oktober] Blutspeien wenig aber Schlaflos, appetitlos riecht aus dem Mund, belegte Zunge nicht viel Husten gebraucht Mittel v. [vom] 19 Aug. [August] d. [den] 22 Sept [September] Nagel Mutter v. [vom] 2. Sept [September], da 14 alt [alternierend46] 1 [Schwefel] 8 amm [Ammonium chloratum] I heute 14 alt [alternierend47] in 1,8 [Tinktur] Puls [Pulsatilla pratensis] / Waldau bei Bernburg. cf Ber [Bericht] v.[vom] 2 Sept. [September] Von den letztgemeldeten Uibel erholte sich Patient nach und nach bis zum 5ten Sept, an welchem Tage ohne alle Veranlaßung wieder ein starker Blutverlust erfolgte. (Sie warf ohngefähr bei 8mal ausspeien ein kleines Theeköpfchen Blut von sich) Uibrigens war sie frei von Fieber. Der Appetit aber war, wie gewöhnlich beim Blutspeien, auch diesmal verschwunden. 9 Sept. [September] Der Appetit fand sich nach und nach wieder, und die liebe Mutter war vollkommen gesund und heiter geschäftig, da erfolgte am 19 Sept [September] Abends ganz plötzlich und wieder ohne voraufgehendes Uibelbefinden ein noch stärker Blutauswurf als am 5 d. M.[des Monats], auch ohne Husten, ohne Fieber
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Fieber Auch die Nachricht, die ich darüber erhielt, reiste ich sogleich hin und fand meine arme Mutter an 20 Sept [September] doch sehr schwach. Der Appetit war wieder ganz weg, die Zunge aber ziemlich rein, sie klagte über Drücken im Magen und in der linken Seite, das auch äußerlich zu sein schien, weil es schmerzte, wenn man hinfühlte. Der Schlaf ist selten gut; aber einige Nächte vor dem jedesmaligen Blutauswerfen weicht er ganz. Während des Blutspeiens fühlte Patient oft ein Kribbeln zwischen den Schultern. Außerdem viel Aufstoßen, was jedoch von keinem verdorbenen Geschmack ist und fast immer Trommeln und Brausen vor den Ohren. (das zuletzt übersendete Riechfläschchen ist nach Vorschrift gebraucht Anna, meine älteste Tochter.
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Es folgt nach der Ziffer 3 ein Zeichen für eine Währungseinheit. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«.
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*Mittel v. [vom] 19 Aug. [August]* cf. Ber. [Bericht] vom 26. Aug. [August] *4 § ⌈…⌉ 1, 3 [Tinktur] [Schwefel]* Das Kind ist munter. Ihr Rückenübel scheint noch immer im Abnehmen.
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Der Pfarrer Nagel Mittel v. [vom] 19 Aug [August] cf. Ber. [Bericht] v. 26 Aug. [August] 14 alt. [alternierend48]1, 8 kali [Kalium] Ich werde ein Riese von Gesundheit und selbst eine kleine Repetition meiner alten Uibel, woran ich seit vorigen Dienstag laboriere, läßt mich rüstig und stark am Dienstags (18 Sept [September]) früh war nämlich mein Auswurf einigemale wieder mit Blut vermischt und heute früh war es ebenso. Einige Nächte vor dem 18 Sept [September] schlief ich sehr unterbrochen, träumte sehr viel und lebendig. Ich huste und räuspere häufig, besonders des Morgens, habe kürzeren Oden als sonst, und wenn ich des Morgens aufwache, schnärcheln die alten Töne auf meiner Brust. Sollte vielleicht der heutige Genuß der Pfirsich, meiner Lieblingsfrucht, die ich zu Weilen mit sehr wenig (vermischten) Weine zu mir genommen habe, das Uibel erzeugen? Mit der vollkommensten Hochachtung und Liebe Kl Paschl [Kleinpaschleben] den 22 Sept. [September] 1832. ergebenst Nagel Meine Schwiegermutter ist wieder in Köthen und wird ihre Schuldigkeit selbst entrichten.
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B321239 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Tochter Clara), geschrieben am 25.09.1832, von Hahnemann bearbeitet am 25.09.1832
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\25 Sept. [September] 7 § No 1 Kali [Kalium] tägl. [täglich] eins/ Klara, meine dritte Tochter Nagels. Das Kind ist seit ihrer letzten Krankheit (cf. Bericht vom 26 und 28 August) nicht ganz frei vom Husten gewesen. Am 22 und 23 Sept [September] schien dieselbe Krankheit wie die im August im Anzuge zu seyn. Die Kleine fieberte, hatte kein Appetit, hustete unaufhörlich und war so voll auf der Brust, daß sie kaum sprechen konnte. Heute ist sie nicht mehr krank, hustet aber noch viel, hat wenig Appetit und sobald sie gegeßen hat, röchelt es ihr auf der Brust. Dazu sind seit dem 20ten beide Mundwinkel voll heftig Ausschlags und ähnliche Stelle scheinen sich auf den Wangen anzeigen zu wollen
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Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«.
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bemerken muß ich noch, daß das Kind seit Jahr und Tag vorzüglich aber seit der Krankheit im August ein so starkes Jucken an allen Gliedern (Leib, Arme Lenden, Beine bis auf die Zehen) hat, daß sie überall zerkratzt ißt und fast keine weiße Stellen am ganzen Körper hat. Sollten Sie heute keine Zeit haben, mir Medicin für die Kleine zu übermachen, so wollen Sie mir gefälligst befehlen, wann ehe diese abgeholt werden soll. Es gereicht mir zur größesten Freude, wenn Ihnen der Rest meiner Pfirsicherndte nicht unangemessen ist. Mit Liebe und Hochachtung Kl. [Klein] Paschl [Paschleben] den 25. Sept [September] 32 [1832] ergebenst Nagel
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Herrn Hofrath Hahnemann Wohlgeb. [Wohlgeboren] Koethen nebst 1 Körbchen mit Pfirsich.
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E321430 Krankennotizen von Hahnemann (über Franziska Nagel), geschrieben am 30.10.1832
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31 oct [Oktober] Amtmann Nagel doch v. [von] Franciska in Waldau bei Bernburg eines bäßer [besser] Auge, Augenlidränder voll trocken stärker seit 6 Jahren Unterkieferdrüse Geschwülst jetzt nicht zuweilen an d [den] Ohrdrüsen Stechen Fließ Schnupfen fast immer zuweilen Kraft Mangel d. [der] Händ [Hände] täglich Stuhl träge sehr zähige Mattigkeit Blässe und h [hinten] l.[links] in Hinterkopf raus drücken 28, 1, 8’ 15, 22 [Schwefel] R. [Tinktur] ins Glasf [Glasfläschchen] riechen
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B321438 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 31.10.1832, von Hahnemann bearbeitet am 31.10.1832
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((1)) Pfarrer Nagel *31 oct. [Oktober] v. [vom] 22 Sept [September] da 14 alt [alternierend] 1, 8 Kali [Kalium]* cf. Ber. [Bericht] d. [den] 22.Sept. [September] a. c. Bis zum 9. October ist mein Wohlbefinden zuweilen durch engen Oden gestört gewesen. Der Stuhlgang war öfters von zu geringer Quantität und nicht immer consistenter Qualität.
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Simone Kreher, Melanie Schlott und Thilo Schlott
Am 9. October spürte ich des Morgens Blut unter dem Auswurfe und bei wiederholtem Räuspern erschienen ganze Flocken desgleich vor schwärzlicher Farbe. Schon seit drei Nächten habe ich sehr unruhig geschlafen und auf das Lebhafteste geträumt, besonders in der letzten Nacht, in welcher ein höchst erschütterndes Ereignis während des Gottesdienstes mich Träumenden veranlaßte, die Männer in zwei Reihen nach zwei Chören und die Weiber in vier Reihen durch zufragen. Die Kirche war schon voll und nur erst, nachdem ich den letzten erforscht hatte, erwachte ich. Mein Herz hatte dabei so viel gelitten und das Herumgehen und das viele Sprechen hatte mich so erschöpft, daß ich fast der Meinung Raum geben möchte: das Blutspeien heute früh ist eine Folge dieser Traumaufregung. Der blutige Auswurf hörte gegen Abend auf.
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((2)) Frau Pfarrer Nagel sen. [senior] \31 oct. [Oktober] Nagel Witwe v. [vom] 22 Sept [September] 14 alt [alternierend49] in 1 und 8 Puls [Pulsatilla pratensis] / 14 alt [alterniernd50] 1 [Schwefel], 8 amm [Ammonium chloratum] und v. [vom] 19 Aug [August] Mittel heute 14 alt [alternierend51] 1, 5, 9 [Schwefel] R [Tinktur]/ vor No 1 (Puls) [Pulsatilla pratensis] schon Blutspeien und ein paar Tage drauf wieder/ cf. Ber.[Bericht] d [den]. 22.Sept.[September] /vorher rote Brocken Blutspucken und allemal vorher ein paar Tage starker Husten mit wenig Husten und darauf auch wenig\ Sept. [September] 24. Schlechter unruhiger Schlaf, wenig Appetit, heftiger Durst, Ohrenbrausen, Stechen in der hinteren linken Seite. Belegte Zunge Sept [September] 25. Wenig Schlaf. Frost von Abends 9 bis Morgens 4 Uhr trotz der Warmflasche, darauf Hitze und Schweiß. Heftiger Durst. Kein offener Leib. Sept. [September] 26. Wenig Schlaf. Kurzer Oden. Mattigkeit. Ohrenbrausen. Kein Appetit, kein offener Leib. Sept. [September] 27. Schlaf beßer. Mattigkeit. Kein Appetit, kein offener Leib. Sept. [September] 28. Schlaf gut. Appetit beßer. Mattigkeit. Kurzer Oden. Endlich offener Leib, hart, dann breiartig mit vorübergehenden Leibschneiden. Sept. [September] 29. Schlaf ziemlich. Appetit gut. Kein offener Leib. Sept [September] 30. Husten, zuweilen Ohrenknacken. Kurzer Oden. Luftiges Aufstoßen. Gegen Morgen Schweiß
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Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«. Im Sinne von »jeden zweiten Tag einzunehmen«.
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Okt. [Oktober] 1. Zweimal offener Leib. Nach dem Essen heftiges Aufstoßen, Kurzer Oden. Mattigkeit. Zuweilen Knacken in beiden Ohren. Okt. [Oktober] 2. Wenig Schlaf. Wenig Appetit. Ohrenbrausen. Mattigkeit. Nach dem Sitzen das Gefühl schmerzhafter Schwäche im Rückgrade von den Schultern bis ins Kreuz. Okt. [Oktober] 3. und 4. Alle die alten Uibel waren grade nicht gewichen aber es waren gute Tage Okt. [Oktober] 5. Unruhiger Schlaf; zweimal offener Leib. Mattigkeit. Wenig Appetit. Verstimmt. Viel heftiges Aufstoßen mit Bruststichen. Rückenschmerz. Okt. [Oktober] 6. Viel geschwärmt im Schlafe Okt [Oktober] 8. Ruckenschmerz. Kurzer Oden. Wenig Appetit. Ohrenbrausen. Okt. [Oktober] 9. Wie gestern. Okt. [Oktober] 9–2⌈9⌉3 Ist das Befinden immer besser geworden so daß mir die gute Mutter, als sie in diesem Tage in mein Haus kam, wie neugeboren erschien.
193 ((3))
((4)) Alles ging gut bis zum 29 Okt [Oktober], wo plötzlich ohne alle und jede Veranlassung wieder heftiges Blutspeien eintrat, das jedoch Gott Lob auch das ganze Wohlsein nur sehr wenig störte. Abends und Morgens quält jedoch seit einigen Tagen der Husten und in dieser letzten Nacht war der Schlaf fast ganz gewichen. Kl. [Klein] Paschleben 31 Okt. [Oktober] 1832. \Alle Morgen früh mit weniger zuweilen viel Auswurf Bluthusten amm [Ammonium chloratum] ant [Säure] mur Nitr [Nitrat] [Säure] Cl ph [Schwefel] Zinc/ Anna Meine älteste Tochter wächst auffallend, ist daher sehr mager, übrigens frisch und munter. Die Mutter behauptete, daß ihr Uibel im Kiefer seit einiger Zeit wieder sichtbar sei /4 § bei 1, 3 [Tinktur] [Schwefel] R [Tinktur]\ N. S.
((5))
10 Oct. [Oktober] Ich habe wieder die ganze Nacht hindurch entweder gewacht oder geträumt. Die Hände waren sehr heiß. Morgens – wie schon seit mehreren Tagen – viel zäher Schleim im Munde, besonders auf der Zunge. 11 Oct. [Oktober] Ich esse und trinke mit Appetit, ich verdaue regelmäßig und bin am Tage ganz wohl – aber auch in dieser Nacht befand ich mich wie ein Kranker: der Schlaf ist häufig un*13 Kali [Kalium]* terbrochen, die Träume sind zu lebhaft, ich habe viel
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Hitze und am ganzen Körper und besonders in den Händen. Auch das Herzpochen war in dieser Nacht recht arg. 12. Oct. [Oktober] Der Schlaf in dieser Nacht war schon etwas ruhiger, ich erwachte erst gegen 2 Uhr. 13 Okt. [Oktober] Ich habe heute bis 3 Uhr und erlich auch einmal wieder erquiklich geschlafen. Mein Auswurf ist heute ein wieder blutig oder vielmehr fleischfarbig mit einzelnen rothen Punkten. ⌈Oden⌉, Appetit, Verdauung sind in guter Ordnung – ungewöhnlich viele Blähungen gehen schon seit mehreren Tagen von mir. Der Oden ist kürzer und beengter als er jetzt eine Zeitlang zu hege pflegte. 14 Oct. [Oktober] Schlaf gut bis früh 3 Uhr. Morgens, wie jetzt gewöhnlich, viel Schleim im Munde.
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15 Oct. [Oktober] Wie gestern. Seit einigen Tagen Entzündung in den Augen. 16 Oct. [Oktober] Der Schlaf wird beßer. Es scheint wieder alles in der alten guten Ordnung. Die Augen aber sind schlimmer geworden 17 Oct. [Oktober] Schlaf gut. Heute früh aber viel Blutauswurf – schwärz licher Farbe.(Brechen – braune Butter). Meine Augen sind des Morgens zugeschworen; auch am Tage muß ich viel wäß rige Materie auswischen. – Der Auswurf war bis Abends blutig gefärbt. 18 Oct. [Oktober] Kein Blut mehr. Schlaf nicht so ruhig. Die Augen waren beim Erwachen nicht so fest zugeschworen. Empfindliche Stiche auf der rechten Kopfseite. 19 Oct. [Oktober] Unterbrochener Schlaf. Stechen im Kopfe nicht mehr. Morgens mehrmaliges Nießen. Der Oden ist seit einigen Tagen beengt, besonders fühlbar beim Treppensteigen. Abends thränten meine Augen mehr und als Licht angezündet wurde, erblickte ich um dasselbe einen regenbogenfarbigen Kreis. 20 Okt. [Oktober] Unruhig geschlafen, viel geträumt, viel Schleim im Munde, dessen säuerlicher Geruch ich erst jetzt bemerkt habe, weil ich mich deßselben bediene, um meine zu geschworenen Augen zu öffnen. Diese thränen auch heute früh. Bis zum 26 Okt [Oktober] habe ich bald mehr bald weniger ruhig geschlafen. Die Augen sind des Morgens nicht mehr so fest zugeschworen. Mein Oden ist sehr beengt, und darum noch steter Reiz zum /Auch am Gemüth leicht regbar gewesen\
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kurzen trockenen Husten, vorzuglich Abends beim Niederlegen. Viel Schnärcheln und Chiemen. Viel Schleim im Munde. – Verstimmung des Gemüthes. 26–31 Okt. [Oktober] Der Schlaf ist beßer geworden, aber meine Brust ist noch immer voll, der Oden kurz, viel Reiz zum Husten
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doch wenig Auswurf. Im linken Ohre empfinde ich oft brennende Hitze, im linken Nasenloche habe ich schon seit einigen Wochen Schörfe. Mein Augenübel ist nicht mehr so schlimm. /sehr kurzäthmig\ Kl. [Klein] Paschleben den 31 Okt. [Oktober] 1832
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B321599 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst), geschrieben am 30.11.1832, von Hahnemann bearbeitet am 30.11.1832
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Der Pfarrer Nagel \30 Nov. 7 †…† altern [alternierend] Natr. mur [Natrium muratium] R. [Tinktur] bei jeden [Pulver] Nagel Pfarrer 30 Nobr [November] 1831/ cf. Ber. [Bericht] v. [vom] 31 Okt. [Oktober] 1–3 Nov. [November] Meine Brust ist noch immer voll, der Oden so kurz wie seit langer Zeit nicht, besonders Abends beim Niederlegen und Morgens beim Aufstehen, und natürlich beim Gehen und nach dem Eßen. Chiemen. Der Stuhlgang ist weich. Viel Husten, wenig Auswurf, der zuweilen mit Blut untermischt ist. 3–17 Nov. [November] Fortwährend, bald mehr bald weniger, voll auf der Brust, kurzer Oden, Chiemen und Schnärcheln, viel Reiz zum Husten und jetzt des Morgens mehr Auswurf. Der Stuhlgang ist ebenfalls stets weich und zuweilen ganz dünn. Zehn Tage lang war meine Zunge, die Spitze ausgenommen, braun gefärbt, ohne daß der Appetit abgenommen hätte. Des Morgens hat sich viel Schleim im Munde angesammelt. 17–23 Nov. [November] Immer mehr Chiemen und Schnärcheln auf der Brust, mehr Husten und Auswurf, belegtere Zunge (bei vollem Appetite); viel angesammelter schleimiger Speichel des Morgens; weicher Stuhl gang. Nov. [November] 24. Gegen Abend viel Hitze im Gesicht – fieberhafte Empfindung, in der Nacht wenig Schlaf.
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((2)) Nov. [November] 25. Morgens viel Husten, der bis in die Halfte der ersten Predigt anhielt. Nachdem ich die zweite Kirche gehalten, die Kinderlehre vollendet und eine Taufe verrichtet hatte, bebte ich wie ein frostiger Schneider. Der Appetit war verschwunden, mir war fieberhaft zu Muthe, und als ich nach einigen Stunden nolens volens ins Bett mußte, brach ein klappernd Schüttelfrost aus, der einige Stunden anhielt; darauf erfolgte Hitze und Schweiß. Nov [November] 26. Ich hatte keinen Drang aus dem Bette, daß ich den ganzen Tag hütete – wenig Apetit; zweimal, Morgens und Abends ziemlich star-
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kes Nasenbluten. Kein Stuhlgang. Nov. [November] 27. Alpdrücken. Sehr fader schleimiger Geschmack im Munde – ganz braune rauhe Zunge. Nachmittags befand ich mich wohl, und nur beim Sprechen erinnerte mich meine Brustmattigkeit daran, daß ich krank sei. – Viel krächzender Husten, selten mit Auswurf. Offener Leib. Nov. [November] 28. Ich habe wenig geschlafen und fühle mich sehr angespannt. Zunge belegt. Sehr kurzer Oden und steter Reiz zum kurzen Husten, nur zuweilen tiefer Husten mit Auswurf. Kalte Hände und Füße. Gegen Abend wieder Fieber, das mich trotz allen meinen Sparrens, ins Bette trieb Nov. [November] 29. In der Nacht oft aufgewacht und viel geschwärmt. Morgens mehr tiefer Husten und Auswurf, grünlich in weißen scheumig und schleimigen Speichel eingefüllt. Nachmittag gegen drei Uhr trieb ein unaufhorliches Frösteln und Schaudern in Raihen, auf den Aermen und Lende bei kalten Händen und Füßen, und Hitze im Gesichte, den Patienten doch wieder ins Bette. Nov. [November] 30. Schlaf wie gestern. Morgens einigemal leiser Husten mit Auswurf.
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wurf. Die Zunge noch immer belegt, doch nicht mehr braun sondern weiß. Das Chiemen und Schnärcheln auf der Brust, ist, seitdem ich krank bin, fast ganz verschwunden, denn ich genieße nichts weiter, als ein wenig Suppe und ein Stückchen Brot trocken mit einem Apfel, obwohl ich, besonders im Fieber, Appetit auf allerlei habe. Nach jedem Eßen habe ich luftiges Aufstoßen. Blähungen sind ofter, offener Leib einen Tag um den anderen da. Aus der Nase schaube ich oft große Flocken und zuweilen stockt aller Abfluß. Ich bitte ergebenst um Medicin, weil die Krankheit wieder nicht weichen zu wollen scheint. Das Honorar b [bringe] ich Ihnen sofort nach meiner Genesung. Mit Hochachtung und Lie [Liebe] ergebenst Nagel KlP [Kleinpaschleben] den 30 Nov. [November] 32. [1832]
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B321635 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst, seine Töchter Anna und Albertine Mathilde sowie seine Frau Albertine), geschrieben am 05.12.1832, von Hahnemann bearbeitet (mit Datum vom 30.11.1832)
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Pfarrer Nagel \v. [vom] 30. Nov. [November] da 7 alt [alternierend] und Natr mur [Natrium muriaticum] gerochen wie oft?/ cf Ber. [Bericht] v. [vom] 30 Nov. [November] 30 Nov. [November] Das Fieber blieb heute aus. Abends ein heftiger Husten 1 Dec. [Dezember] Morgens lockerer Husten mit gelblichem Auswurfe. Guter Appetit. Offner Leib. Leicht kalte Hand und kalte Füße. Abends heftiger Husten. 2 Dec. [Dezember] Meine Krafte sind entsetzlich geschwunden. Zweimal offner Leib, das eine mal Durchfall. Wenig Appetit. 3 Dec. [Dezember] Mitten in der Nacht weckte (weckte) mich ein trockner Husten, der wohl eine Stunde anhielt. Des morgens fader Geschmack im Munde. 4 Dec. [Dezember] War Mitternacht wieder heftiger Huste. Schlechter krankhafter Geschmack im Mund – übelriechend. 5 Dec. [Dezember] Ich wälze mich eine Stund im Bette herum, dann erfolgt der Hustenschauer, der in dieser Nacht so heftig war, dass ich fast erstickt wäre; wenn dann einigemal Auswurf, der salzigen Geschmacks ist, herangekommen, so schlafe ich ein bis Morgens 4 und 5 Uhr. Mein Geschmack ist noch immer fade krankhaft, und die Zunge braun belegt. Gesunder offner Leib Auch meine Augen, über welche ich im vorletzten Berichte klagte, und im letzten zu klagen vergeßen hatte, sind immer noch so? krank. Kl. Pa. [Kleinpaschleben] den 5 Dec [Dezember]1832 Nagel.
((2)) Frau Pfarrer Nagel jun. [junior] \4 § und bei jeder S [Stunde] riechen/ Meine Frau leidet seit ihrer zweiten Schwangerschaft im Jahre 1827 im dritten Monat diesen Zustandes, an einer Art Vorfall: wie ein Taubenei und wenn es schlimmer wird, wie ein Hühnerei, tritt etwas hervor. Auch gegenwärtig befindet sie sich in dem dritten Monat ihrer Schwangerschaft und dasselbe Uibel zeigt sich seit sechs Tagen. Morgens wenn sie aufsteht, fühlt sie nichts; nur wenn sie einige Stunden herum geschustert hast, tritt es erst kleiner, und je mehr sie sich anstrengt, desto größer hervor. Die früheren Aerzte verordneten natürlich paliative Kräuter zum Waschen und reines Liegen. *heute 4 § 1, 3 Calc [Calcium] R [Tinktur]* Anna *hatte den 30 oct [Oktober] 4, 1, 3 [Schwefel] †…†* Meine älteste Tochter cf. Ber. [Bericht] vom 30 Nov. [November] Ihr Uibel in der Seite ist jetzt zu unserer frühsten Besorgniß, nicht schlimmer geworden. Auch das linke Auge, an welchem sie in ihrem ersten Jahre eine Ausschlag hatte, der über den ganze Wange hinlief (das Inwandige schien nicht entzündet) leidet wieder. Es thränt, besonders wenn sie liest, und abends bei Lichte; morgens ist es zugeschworen. seit etl [etlichen] Tagen nicht mehr Mathilda
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meine jüngste Tochter cf. Ber.[Bericht] v [vom] Jan [Januar] und Febr [Februar] 1831. Sie ist durch ihre ängstliche Halte von einem Kopfausschlage geheilt worden fortwährend aber ist das Kind häufig sehr durch (meine Mamma mags verdalmatschen 52, hat auch oft kleine Bläschen und Pusteln um den Mund herum, sie leidet mit einem Worte an Schorfe.
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Frau Pfarrer Nagel Senior \v. [vom] 30 oct.[Oktober] da 14 alt. [alternierend, im Sinne von jeden zweiten Tag einzunehmen] ⌈2 g⌉ 1, 5, 9 [Schwefel] R [Tinktur]/ Die stehend in Uibel waren: drückende Kopfschmerz in den Kinn lief hinauf in den Hirnschädel, besonders bei Fahren und Gehen. Husten besonders in der Nacht. Schwäche im Kreuze und in den Augen. Sie sieht alles doppelt, wie sie versichert. Das Blutspeien hat sich auch wieder einmal vegetirt. \vor 3 Wochen/ Franziska Nagel \Husten hat sie früh, muß lang husten ehe sie was auswirft seit 8 Wochen warf sie auch Blutstückchen fast stets [Schwefel] 1 †…† [Säure] [Salpeter] Geht vom [Gold] Derselben in großere oder kleinerer Entfernung, oben im Rücken weißt beim Stehen Sch [Schmerzen] auch in Setzen das eurem hat sich gegeben/ Aus Waldau cf. Ber [Bericht] v.[vom] 30 Nov.[November] d. J.[des Jahres] Die angefangene Kur hat den besten Erfolg. Nach den ersten 8 Pulvern ist ihr Hauptübel, der Kopfschmerz gewichen. Vielleicht könnte nun ihr krankhafter Hauts†…† auch in Ordnung gebracht werden. Kl. P. [Kleinpaschleben] den 5. Dec.[Dezember] 1832
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5 Dez [Dezember] Nagel Francisca aus Waldau v. [vom] 31 Oct [Oktober] da 28, 1, 8, 15 R [Tinktur] [Schwefel] 21 [Schwefel] R [Tinktur] wenn sie sich bewegt hat sie nur im Gesicht Schweiß hat noch tägl [täglich] Sch. [Schmerzen] bes. [besonders] Ab. [Abends] im Hinterkopfe ziehend reißend im Kreutze [Kreuz] nur im Setzen Sch. [Schmerzen] bes. [besonders] wenn sie lange sitzt Sch [Schmerzen] weniger nach [Schwefel] Unterbusendrüse war recht aufgeschwollen, jetzt weg noch stets Schnupfen, doch nicht so arg bald Fließ, bald Stockschnupfen Frühlings Mattigkeit weniger Schlaf, App. [Appetit] zuweilen kann sie nichts festhalten, noch von Kindheit an
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Hier ist wahrscheinlich gemeint, dass die Mutter die Kinder verzogen hat.
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28, bei 1, 8, 15 Rinde
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16 Dez [Dezember] Sie Pfarrer Nagel v. [vom] 5 Deze [Dezember] da 4 § alle 10 Tage und jedesmal [Schwefel] R [Tinktur] Vorfall ist schlimmer/gestern früh zum letzten Male gerochen/nicht mehr früh weg der Vorfall, ⌈sondern⌉ sondern heute auch früh und die ganze Nacht da gewesen. Auch seit 5, 6 Tagen weißer Abfluß ohne Jücken. Husten ist ganz weg Vorfall ist seit 5 Jahren entstanden bei der zweiten Schwangerschaft – kam immer im dritten Monat und war im vierten weg. Bärmuttervorfall53 anr [Aurum metallicum] sep [Sepia succus] stann [Stannum metallicum] / ihr [Gold] zu riechen gegeben soll den 20 einmal wenns nicht besser / dran riechen Er hatte den 30 Nov. [November] 7 alt [alternierend] und jedes Mal NaCl [Natrium Chlorid] zu R [Tinktur] heute Blut ausgeworfen gestern Ab. [Abend] etwas gerochen war nicht rauh in der Kehle beim Sprechen und sonst wohl / Stuhl entweder hartstückig oder breiig nur zu einer Mahlzeit Appetit / mehr Ab. [Abends] Appetit
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\21 Dez [Dezember] Pst [Pastor] Nagel Er hatte den 30 Nov [November] 7 alterne [alternierend] und jedesmal (Lehmann) an Natr. m. [Natrium muriaticum] R [Tinktur] heute 7 alterne [alternierend] und bei No 1 Lit [Lithium] R. [Tinktur] Ihr Abends heute [Eisen] R. [Tinktur]/ Werthgeschätzter Herr Hofrath! Eine üble Ahndung war es vielleicht, daß ich am vererichenen Samstage 16 d. [des] M [Monats] so dringend um Medicin für mich bat. Ich fühlte es, daß ich von meinem letzten Magenübel noch nicht ganz frei war; denn meine Zunge war stets bald mehr bald weniger, bald weiß bald braun belegt. Auch fing es, wie ich Ihnen ebenfalls sagte, wieder an, auf der Brust zu chiemen. Dazu ward ich täglich mehr von gar zu vielen Blähungen ge-
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Gebärmuttersenkung.
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plagt, die von so übeln Geruch sind, wie ich es bei mir gar nicht gewohnt bin. Ist aber der Magen in Unordnung, so erfolgt, dies habe ich oft schon an mir erfahren, gar leicht eine Erkältung, die ich mir seit vorgestern wirklich zugezogen habe. Ich leide nämlich seit vorgestern Abend am Schnupfen, der mehr stockt als fließt, und an einem drückenden Schmerz in der Stirn und über dem linken Auge und an der gleichen in der linken hinteren Seite unter
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dem Arme. Auch Husten stellt sich seit heute früh ein. Selbst auf die Gefahr hin, daß ich mit meinen Klagen zur Last falle und kostbare Zeit raube, habe ich meine Befürchtungen doch nicht verschweigen und Sie hiermit herzlich um Medicin bitten wollen, weil das Fest vor der Thür ist, das große Anstrengungen von mir fordert. Meine arme Frau (cf. Ber [Bericht] v. [vom] 12 Dec [Dezember] und was sie selbst am 16ten aufzeichneten) Befindet sich immer noch in der bemitleidenswerthesten Lage. Ihr Uibel steht fest und verändert sich nicht im geringsten. Am 19ten Morgens war beim Erwachen, wie gewöhnlich, alles verschwunden; aber es folgte, bei dem heftigsten Drang zum Urinieren, kein Urin, der erst nach und nach und nur tropfenweise kam. Unmittelbar nachher stellte sich dann auch die alte Erscheinung wieder ein. Am 20 ten hat sie, der Verordnung gemäß gerochen. Sie haben mir das Berichten zur Pflicht gemacht. Kl. [Klein] Paschleben den 21 Dec [Dezember] 1832 Ergebenst Nagel
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((2))
Krankentagebuch von Pfarrer Nagels Frau Albertine (über sich selbst), geschrieben am 28.12.1832, von Hahnemann bearbeitet am 28.12.1832
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28 Dez [Dezember] Nagels Frau heute wieder [Eisen] R [Tinktur]
((1))
((2)) \28 Dez [Dezember] †…† v. [vom] 28 Nov. [November] da 14 alt [alternierend] 1, 53 g †…† ? Lahsap. R [Tinktur] heute 14, 1, 5, 9 ph R [Tinktur] P. [Pulver] Anfang 17 August/
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Den 29 Novem [November] vermuthlich von Erkältung bey der Rückreise von Cöthen, Den ganzen Vormittag, eiskalte Füße und Mangel an Lebenswärme am ganzen Körper; – des Abends feuchtete der After und juckte heftiger nach dem Kratzen / welches das Jucken blohs auf kurze Zeit aufhob / WundheitsSchmerz; – Dieses Symptom dauerte, abnehmend, 3–4 Tage. Den 30 Novemb. [November] genommen das Pulver No 1 und gerochen in das Gläschen – eben derselbe Zustand. 1 Decemb. [Dezember] Beym Austehen vom Bette Trockenheit im Munde bis zum Frühstück / am folgenden Tag auch und noch stärker / – das Herzklopfen viel stärker wie die vorigten Tage, besonders nach dem Mittageßen; dabey Nasenverstopfung und Trockenheit im Munde und an den Lippen. Den 8 und 16 Decemb. [Dezember] Auch gerochen in das Gläschen, die Pülverchen wurden aber regelmäßig einen Tag um den anderen genommen. – Vom 2 bis 15 Decemb. [Dezember] blieb sich der Zustand ziemlich gleich, namentlich: bis an den 10ten war der Stuhlgang täglich des Morgens zwischen 9 und 10 Uhr – den 10ten reiste früh Morgens nach Dresden, und den Tag blieb der Stuhl aus; den andern Tag kam er des Morgens um \Bor [Borax venata] Sep [Sepia succus] sil [Silicia terra]/ die gewöhnliche Zeit, des Abends aber stellte sich wieder, bey Feuchten des Afters, das Jucken wie oben beschrieben war, mit dem Unterschiede, daß dieses Mal Maden zum Vorschein kamen; Diese Beschwerde hielt, abnehmend, an 2–3 Tage: – vom 14 bis zum 21 Dec. [Dezember] war der Stuhl unnormal, kam ofte des Nachmittags und einst bleib einen Tag ganz aus. Bis zum 15 Dec. [Dezember] war das Herzklopfen sehr lästig, und manchen Tag war es von Früh Morgens bis Abend fast ohne Unterbrechung; – / es schien mir, daß das Herzklopfen vermindert sich, nach Aufstoßen oder Windabgang /.– Die Hühneraugen schmerzten, eine Zeitlang, blohs des Morgens im Bette, wie erfroren gewesene Stellen, – später verging, allmählig der Schmerz und entstand wieder vom 10.ten – Den 12 ten und 17ten pollutionen. – Vom die Maden zeigten sich noch den 16.ten Vom 15ten scheint der Zustand, gewißermaßen, sich gebeßert zu haben; das Herzklopfen nahm allmählig ab, manchen Tag war es gar nicht fühlbar; der Stuhl wieder weniger knotig / manchen Tag war er sogar breiig / auch ist weniger Schleim am After nach dem Stuhle; die gewöhnlich, nach dem Mittageßen, statt findende Schwere im Unterleibe und sabsapar Auftreibung, verminderte sich und – das Gemüth heiter, fast gar kein Heimweh und Langeweile: – aber, eine Zeitlang, fast täglich war in den Füßen, beym Sitzen, ein Gefühl, als ob die übermäßig mit
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\†…† †…†/ Blut gefüllt wären; – eben dieselbe Empfindung, war viel stärker, traf ein den 22 Dec. [Dezember] Morgens am rechten ((3)) †…† †…† Arme; – die letzten Tage wurden die Hühneraugen wieder schmerzhafter; – den 19ten und den 23ten empfand beym Spazieren eine Art von Podagra-Schmerzen im rechten Fuße; – Den 23ten fühlte des Morgens, auf kurze Zeit, ein Verrenkungsschmerz in der linken Seite der Brust und des Rückens / auch fühlte vor dem 15 fast täglich des Morgens eine Unbequemlichkeit im rechten Schultergelenke bey Bewegung des Arms, die Kreutzschmerzen ließen sich nur ein paar Mal, und auf kurze Zeit, leise fühlen/. –Kopfschmerzen habe nicht selten / was ich zum Theile den hiesigen Ofen zuschreibe / aber das unnatürliche dabey ist, daß der Schmerz pflegt sich / ein Drücken/ im rechten Stirnhügel / selten im linken/ über dem Auge zu fixieren – im innern Munde wird leicht wund, beym Essen von Brodrinden oder Zwiebacken – und überhaupt ist ofte \agar [Agaricus muscaricus] natr m. [Natrium muriaticum] ph [osphor] sep [Sepia succus]/ mehr oder weniger Geschwulst des innern Zahnfleisches, – auch die Trockenheit im Munde und der Lip\ph/ pen findet nicht selten statt, zuweilen auch Wundheitsschmerz im linken Mundwinkel. – die Sehkraft scheint etwas geschwächt zu seyn und das rechte Auge thränt leicht im Freyen bey etwas rauher Witterung. – Seit einiger Zeit bin ich für die Kälte empfindlicher geworden / auf ein paar Stunden/ nach dem Essen zu Mittage. – Eigentlicher, natürlicher Geschlechtstrieb ist nicht vorhanden, aber an \ph carb [Carbonicum] r./geilen Gedanken fehlt es nicht – die dabey entstehenden Errectionen sind schwach und unvollkommen, und doch, nach solchen kommt immer viel Schleimausfluß beym Harnen, manchmal ganz weiß und rein. – Die Hemmorhoidalknoten scheinen, auch, nicht an Volum abzunehmen, – und sind leichter nach dem Stuhlgange hineinzubringen, wenn der Stuhl einen Tag ausgeblieben ist. – Früher that Das getrunkene Waßer, auf nüchtern Magen, gar keine Wirkung – jetzt aber scheint es den Stuhlgang zu befördern. – Schnupfen tritt sehr oft, mit Nießen, ein und dauert blohs kurze Zeit, besonders aber wird der Schnupfen erregt, wenn die Füße nur etwas feucht werden. Den 26 Dec [Dezember] Während der Reise nach Cöthen, viel Schleimausfluß nach dem Harnen/ dieses war mir auch auffalend bey der Reise nach Dresden / und beym Ankommen, da ich meinen Nachtsack selbst aus der
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Post ins Gasthaus trug und dabey die Kräfte etwas anstrengte, so fühlte ziemlich lange Zeit einen ((4)) beschleunigten starken Herzschlag 27 Dec. [Dezember] Stuhlgang des Morgens, obgleich den Tag vorher fast nichts gegeßen habe, – den ganzen \ph sep [Sepia succus]Tag sehr frostig / völliger Mangel an Lebenswärme/ nach dem Eßen Kopfschmerz im linken Stirnhügel. /Hühneraugen Sch. [Schmerzen] theils wundheit auf Knie gedrückt Bein hart.\
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B33056 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über sich selbst, seine Frau Albertine, seine Mutter Auguste Friederike und seine Tochter Clara), geschrieben am 08.01.1833, von Hahnemann bearbeitet am 08.01.1833
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Pfarrer Nagel \8 Jan [ Januar] Er v. [vom] 21 Dez [Dezember] da 7 alt. [alternierend] No 1 Sil [Silicea terra] R [Tinktur] heute 4 alle Wochen / hier [Salpeter] R [Tinktur]/ cf. Ber. [Bericht] v. [vom] 21 Dec [Dezember] 1830 54 22 Dec. [Dezember] Schlaf ziemlich ruhig, doch nicht ohne Unterbrechung Morgens viel Schleim im Munde. Der Schnupfen ist im Gange. Der drückende Schmerz in der Seite weicht mehr, vielleicht, weil heute einige Blähungen, die gestern plötzlich stille standen, abgehen. Kein Drücken mehr in der Stirn; aber, aber doch wieder Blut unter dem Auswurfe – jedoch wenig und schwarz Die Zunge ist heute auch reiner als gestern. 23 Dec. [Dezember] Schlaf gut. Verdauung in Ordnung. Mogens viel Schleim im Munde, und die Zunge noch immer belegt Nachweh von dem drückenden Schmerze in der †…† linken Seite ist besonders beim Fahren auf unebenem Wege empfindlich. Beengter Oden. 24 Dec. [Dezember] Morgens viel Schleim im Munde und belegte Zunge Der drückende Schmerz ist nur noch beim tiefen Athmen zu spüren. Auf der Brust beengt. 25. Dec. [Dezember] Morgens viel Schleim im Munde und die Zunge noch braun belegt. Schlaf und Stuhlgang in guter Ordnung. Viel Husten, wenig Auswurf. Eng auf der Brust. Heute wieder mehr Abgang von Blähungen.
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27 Dec. [Dezember] Schleim – belegte Zunge – Husten – Chiemen auf der Brust 28 Dec. [Dezember] Morgens, wie gewöhnl viel Schleim im Munde, belegte Zuge
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Hier ist wahrscheinlich 1832 gemeint.
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Schnupfen und Husten. 29. Dec. [Dezember] Wie gestern und noch mehr Chiemen auf der Brust 30 Dec. [Dezember] Wie gestern 31 Dec. [Dezember] Schnupfen stockt; die Stibben in der Nase thun weh, der Schmerz ist drückend und wenn ich nur leise die Nase berühre, so ist alles wie unterketig. 1 Januar 1833. Der Anfang des neuen Jahres ist mir nicht gütig. Der Schnupfen ist bald stockig, bald fließend, viel Reiz zum Husten, bald mehr, bald weniger Auswurf; daneben die alten Uibel: Schleim – belegte Zunge, Chiemen, Blähungen. 7 Januar Der oben bezeichnete Zustand ist immer derselbe, nur an einem Tage schlimmer als am andern und am 2ten Januar war den ganzen Tag ⌈ent ⌉ mein Auswurf mit Blut untermischt. Ich gehe fleißig spaziren, habe auch größtentheils guten Appetit, bin aber in den letzten Monaten viel magerer geworden, und mein Gesicht wird faltig und alt. Γ55 Und meine armen Augen. Seit Oktober sind sie krank. Soll ich denn kein Mittel dagegen gebrauchen? /Thränen im Kalten und Warmen, nicht aber zu ge bei Licht Schein ⌈aus⌉ †…† schwören Früh ein weiße Materie drin Regenbogen,, Schein ums Licht Nitr [Nitrat] je länger er liegt desto mehr thränen sie abends, und dann muß er sie auswischen die Ränder der Lider roth heute hier Nitr [Nitrat] R. [Tinktur]\ Γ Der Stuhlgang ist auch seit einigen Tagen in Unordung: unregelmäßig, wenig und nicht consistent.
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\⌈14 alt [alternierend]⌉ †…† bei No 1 Kali [Kalium] R [Tinktur]/ Die Pfarrer Nagel jun. [junior] cf. Ber [Bericht] v.[vom] 21 Dec. [Dezember] /v. [vom] 21 Dez [Dezember] da [Eisen] R [Tinktur] und den 24 Dez [Dezember] zum zweiten Male [Eisen] R [Tinktur] Muttervorfall56\ Das verdrießliche Uibel, das seine Zeit trotzig abgehalten, wich, wie Frost, urplötzlich, am 31 Dec [Dezember], nachdem ⌈d⌉ 4 Wochen gerade gequält hatte. Als es am 5 Dec [Dezember] anfing, wich der heftige Husten, an welchem sie seit einigen Tagen gelitten hatte, der jedoch seit den 2ten Januar so heftig wiedergekehrt ist, daß heute in Folge der Anstrengung – es ist eine Art Brechhusten – Blut mit kam. /Staupenweise Husten, läuft Wasser aus dem Munde, würgt Schleim und Wasser aus, früh trockener Schnupfen hintereinander, täglich wohl 5 Mal schläft schwer ein, wacht oft auf und träumt sehr ängstlich, Appetit, Stuhl, munter\ Klara 3 Jahr alt Leidet seit 8 Tagen an Appetitlosigkeit, seit einigen Tagen an Schnupfen und hat sich heute vor Frost ins Bett scherren müßen Der üble Geruch aus dem Munde ist sehr stark
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Zeichen für einen Einschub (siehe Zeile 21). Gebärmuttersenkung.
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Frau Pfarrer Nagel sen. gegenwärtig in Petzkendorf 57 bei Merseburg cf Ber [Bericht] v. [vom] 5 Dec. [Dezember] 32 [1832]. /v. 5 Dez [Dezember] da 14 alt. [alternierend] No 1, 8 [Schwefel] R [Tinktur]\ Die kränkelnde gute Mutter klagt in ihrem letzten Briefe über Schlaflosigkeit und Mattigkeit, kurzen Husten und kurzen ⌈H ⌉ Oden. Schnupfen immerwährend Breistuhl bei No 8 wieder Blutspucken heute 14 alt. [alternierend] [Gold] R [Tinktur] bei Kl. [Klein] Paschleben den 7 Januar 1833 Nagel.
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B33068 Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Magd), geschrieben am 10.01.1833, von Hahnemann bearbeitet am 10.01.1833
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\10 Jan [ Januar] hat sie [Arsenikum] oder ⌈bell [Belladonna atropa]⌉? bekm [bekommen]/Werthgeschätzter Herr Hofrath Seit vorigem Sonntag liegt unsere Magd krank – ein neues Elend für meine arme Frau, die sich bei ihrem heftigen Husten nun aller Arbeit unterziehen muß. Die kranke Magd hat während des Festes viel getanzt und geranzt 58 und sich wahrscheinlich einer heftigen Erkältung zugezogen. Mit heftigen Kopfstichen und Reißen in allen Gliedern begann die Krankheit. Ihre Regeln traten am Dienstage ein. Seit gestern Nachmittag erschien ein frieselartiger Ausschlag im Gesicht und auf den Händen. Das Gesicht ist heute wie ein rothes Tuch, lauter kleine rothe Punkte. Patient klagt über heftiges Stechen in der Stirn, und wenn sie sich bewegt, über Stiche in der Brust (beim Athmen keine Empfindung). Im Munde bitterer Geschmack. Seit Sonntag kein offner Leib und kein Appetit. Ich bitte ergebenst um Medicin und ersuche Sie, mir zu bemerken, was ich Ihnen schuldig bin. Hochachtungsvoll der Ihrige Nagel
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B32082 (B33082) Krankentagebuch von Pfarrer Nagel (über seine Magd und seine Tochter Albertine Mathilde), geschrieben am 12.01.1833, von Hahnemann bearbeitet am 12.01.1833
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Mannlehn-Rittergut Petzkendorf, Provinz Sachsen, Regierungsbezirk Merseburg, Kreis Querfurt, 1961 umgesiedelt und 1968 vom Tagebau Geiseltal abgebaggert. Viel gegessen.
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((1)) \12 Jan [ Januar] Die magd in das Glas R [Tinktur] [Säure] heute einmal, und wo nothig, auch Morgen einmal zur selben ST. [Stunde] riechen zu lassen auch die Kinder sollen alles 4 Tage zur Vorbeugung in †…† (ox) riechen/Die Magd des Pfarrer Nagel cf. Ber. [Bericht] d. [den] 10 Jan [Januar] 33. [1833] /3 ox R hat sie keine blauen Flecke nach den †…† erhalten und auch keine Narbe, Halsweh verschwand\ Sie hat nach der Aussage des hiesigen Chirurg die Pocken im hohen Grade. Das ganze Gesicht und die Hände sind voll rother Pusteln mit gelben Bläschen, die Nase ist angeschwollen und der ganze Kopf dick. Die Kranke klagt über Halsweh und behauptete er sei so verschwollen, dass sie kaum Schlucken könne, was man auch an ihrer Sprache bemerkt. Viel Durst und Lechzen nach kühlem Getränke, was ihr jedoch nicht gereicht wird. Soll sie von den übersendeten Pulvern fortnehmen oder muß sie noch andere haben? Ich darf meine Pflicht an den Dienstboten nicht versäumen. Das Mädchen klagt noch: Sie sehe keinen Stich mehr /Augenbollenschwulst ließ gleich nach und nach tox [Rhus toxicodendrom] Unter so bemerkten Pockenumständen bin ich besorgt für meine Kinder. Können Sie mir kein Schutzmittel übersenden? Klara, die dreijährige, befindet sich leider wieder in dem Zustand, den ich in meinem Berichte vom 7/8 Januar geschildert und wieder angestrichen hatte, viel ein augenblickliches Intervallum eingetreten war. Dazu hat sie seit zwei Tagen
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keinen offenen Leib und ist sehr marode und eigensinnig. Soll sie nicht medicinieren? Mathilde die 5/4 jährige fängt auch seit gestern an zu kränkeln. Es röchelt dem Kind aus der Brust und zuweilen ist Fieberhitze in den Händen und auf dem Antlitze zu spüren. Das Laufen, das ihr seit mehreren Monaten so viel Freude macht, stellt sie ein und ankert nach Schooß und Mantel. Seit einigen Tagen hustet sie. Anbei erfolgen 6 59 für Jannr [Januar] und die Versicherung, dass ich gern bereit bin, die außergewöhnliche Anspruchsnahme für meine Kinder durch außergewöhnliches Honorar zu vergüten, wenn Sie mir gefälligst den Betrag auf den verp. [verpackten] Paketen bemerken wollen Mit Hochachtung Ergebenst KLPd [Klein Paschleben den] 12. Jan. [Januar] 33. [1833] Nagel
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Nach der Ziffer 6 steht vermutlich ein Währungszeichen.
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E33147 Krankennotizen von Hahnemann (über Pfarrer Nagel), geschrieben am 23.01.1833
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23 Jan [ Januar] Pfarrer Nagel seit. seit Ende Sept [September] Augenthränen in Stüben und †…† dreinen [tränen} früh sind sie zugeklebt hat auch alle 4 Tage wie die anderen zur Vorbeugung gegen die Pocken an Tox [Rhus toxicodendrom] gerochen jetzt vor 7 Tagen und vorgestern im Freien Rede gehalten ist rauh auf d. [der] Brust, Catarr†…†, Hustet. Schnupfen ist im Gange, ⌈glaubt im⌉ fröstelt immer, wogegen das Gehen ins Freie hilft I glaubt sein Catarrh Fieber zu kriegen, mit wundem Magen, belegte Zunge Frost und Hitze 4, 5 Ziehen in d. [den] Gliedern N.Mittag [Nachmittag]
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MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE 34, 2016, 209–240, FRANZ STEINER VERLAG
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang Summary The company Willmar Schwabe in the Nazi era This essay follows the history of the Schwabe Company between 1933 and 1945 when it, like all other companies at the time, had to subject to the state-enforced conformity (‘Gleichschaltung’). While Willmar Schwabe II (1878–1935), the company’s second director, kept clear of Nazi politics, both of his sons, who succeeded him at an early age, became members of the Nazi party: Willmar III (1907–1983) probably from initial conviction and Wolfgang (1912–2000), who joined in 1937, more likely for opportunistic reasons. The two lay journals published by Schwabe – the Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie and the Biochemische Monatsblätter – embraced the Nazi ideology more thoroughly than the general homeopathic journal Allgemeine Homöopathische Zeitung, including above all contributions on racial hygiene. Our research has revealed that Schwabe only employed foreign workers from 1942 on, that their number was much lower, at 0.9 per cent in 1942 and 3.6 per cent in 1944, than that of other pharmaceutical companies and that their pay hardly differed from that of German workers. The sales and profit figures investigated have shown that the company did not profit exceptionally from the new Nazi health policies (‘Neue Deutsche Heilkunde’): while its sales and profits rose in the Nazi era due to the increased use of medication among the civil population during wartime, the drugs produced by Schwabe remained marginal also during the war, as is apparent also from its modest deliveries to the army. All in all one can conclude that the company offered neither resistance nor particular support to the Nazi ideology.
Einführung Lange Zeit wurde in Publikationen zur Geschichte pharmazeutischer Unternehmen die Epoche des Nationalsozialismus nur sehr knapp und fragmentarisch behandelt. Erst in den letzten Jahren entstanden Studien, die sich speziell diesem Thema widmeten und auch die Verstrickung leitender Firmenmitarbeiter in Verbrechen der Nationalsozialisten1 sowie die Beschäftigung von Zwangsarbeitern2 untersuchten. Bei Unternehmen, die Homöopathika, Phytotherapeutika oder andere Arzneimittel der Komplementärmedizin herstellten, muss zusätzlich gefragt werden, inwieweit die Förderung alternativer Thera-
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Lindner (2005) und Lindner (2009). Bernschneider-Reif (2002) und Lindner (2005), S. 218–258.
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Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
pien im Rahmen der »Neuen Deutschen Heilkunde« ihnen besondere Vorteile oder Umsatzzuwachs bescherte. Seit den 1990er Jahren entstanden einige Studien, die sich mit der Geschichte der Firma Willmar Schwabe befassten. Volker Jäger behandelt in seinem 1991 erschienenen Aufsatz auch die Zeit des Nationalsozialismus unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung.3 2004 untersuchte Ulrich Meyer den Einfluss der »Neuen Deutschen Heilkunde« auf die pharmazeutische Industrie, wobei er auch auf die Firma W. Schwabe einging.4 In der 2014 in Leipzig abgeschlossenen medizingeschichtlichen Dissertation über die Firma Schwabe von Cornelia Hofmann wird innerhalb der Firmengeschichte die NS-Zeit relativ breit dargestellt, einschließlich Umsatz- und Produktentwicklung, Werbung und Forschung.5 Die in diesen Arbeiten publizierten Ergebnisse sollen im Folgenden verifiziert und anhand weiterer Quellen überprüft werden. Im Rahmen der Untersuchungen zur Geschichte der Firma Schwabe war es der Familie, dem Unternehmen und den beteiligten Pharmaziehistorikern ein Anliegen, auch die NS-Zeit wissenschaftlich seriös zu bearbeiten. Es wurden deshalb erstmals umfangreiche Archivrecherchen, u. a. in Leipzig, Dresden und Berlin, durchgeführt. Auch wenn zum Teil kontroverse Diskussionen der Ergebnisse nicht ausblieben, danken die Autoren der Familie Schwabe und dem Unternehmen, dass sie die aufwendigen Recherchen ohne inhaltliche, zeitliche oder finanzielle Einschränkungen gefördert haben. Dies ist gerade bei Familienunternehmen mit zahlreichen Nachkommen und Namensträgern nach Erfahrung vieler Historiker keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die Besitzer der Firma und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus Bis zum 30. September 1935 wurde das Unternehmen von Carl Otto Willmar Schwabe (1878–1935), dem Sohn des Gründers Carl Emil Willmar Schwabe (1839–1917), geleitet. Willmar Schwabe II, der noch aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, war konservativ-liberal und stand bis 1924 der Deutschen Volkspartei nahe, die er auch mit Geldspenden unterstützte.6 Diese Partei forderte die Wiederherstellung des Kaisertums und lehnte die Weimarer Verfassung ab, trat aber auch für eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche ein und hielt Distanz zu deutschnationalen Kreisen sowie deren offen propagiertem Antisemitismus. Dem introvertierten Willmar Schwabe II dürfte die NSDAP mit ihren Massenaufmärschen und lauter Propaganda missfallen haben; als erfolgreicher Unternehmer konnte er es sich bis zu einem gewissen Grad auch leisten, reserviert zu bleiben. Schwabes rechte Hand, der Direktor und Apotheker Hugo Platz (1876–1945), trat allerdings bereits am 1. Mai 1933 3 4 5 6
Jäger (1991). Meyer (2004), S. 175 f. Hofmann (2014), S. 81–99, 140–157. StAL, Bestand 20706, Nr. 241, fol. 1: Spenden und Zahlungen an Volkspartei.
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der NSDAP bei, vermutlich, um so seine Loyalität und die der Firma Schwabe gegenüber den neuen Machthabern zu zeigen.7 Nach dem frühen Tod von Willmar Schwabe II führten dessen Söhne, Carl Reinhold Willmar (Willmar III) (1907–1983) und Willmar Carl Wolfgang (1912–2000), die Firma als offene Handelsgesellschaft weiter.8 Der ältere Sohn, Willmar III, hatte nach der Reifeprüfung zunächst eine zweijährige Apothekerlehrzeit in der Leipziger Hirsch-Apotheke absolviert und danach Medizin in Leipzig und anschließend in Freiburg studiert, wo er sich gleichzeitig noch für Pharmazie immatrikulierte. In München legte er 1931 das pharmazeutische und zwei Jahre später das medizinische Staatsexamen ab. Für das Sommersemester 1932 wechselte er an die Universität Kiel; 1934 erhielt er wiederum in München die Bestallung als Arzt und trat im September 1935 eine Stelle am Homöopathischen Krankenhaus Stuttgart an, die er aber einen Monat später aufgrund des Todes seines Vaters aufgab.9 Zunächst übernahm er zusammen mit seinem Bruder die Unternehmensleitung. Die Beförderungskartei der Kriegsreserveoffiziere gibt den 1. Januar 1940 als den Zeitpunkt an, an dem er in die Sanitätsabteilung 14 des Offizierskorps des Bezirks Leipzig eintrat.10 Am 24. Februar 1943 startete er zum Fronteinsatz11 als Truppenarzt (Oberarzt der Reserve) beim Technischen Bataillon 23 des Wehrmachtsheeres12. Bereits am 17. Juli 1932 war Willmar III in Kiel in die NSDAP eingetreten; die Mitgliedschaft begann am 1. August, und er erhielt die Mitgliedsnummer 1245518.13 Trotz regelmäßiger Zahlungen seines Parteibeitrages besaß er 1935 immer noch keinen Mitgliedsausweis, weshalb er mehrfach nachfragte.14 Da er Kiel wieder verlassen hatte und offenbar »unauffindbar« war, wurde sein Austritt mit Januar 1933 angegeben, für den 25. Juli 1936 ist dann ein Wie-
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BArch Berlin, NSDAP-Gaukartei (ehem. BDC): Platz, Hugo, Nr. 2431295. Am 12. März 1938 erfolgte die Eintragung als offene Handelsgesellschaft in das Handelsregister. StAL, Bestand 20706, Nr. 266, fol. 1, S. 2: Bericht des Betriebsführers Steuerinspektor Schädrich. BArch Berlin, VBS 283, Nr. 6055004951 [ohne Paginierung]: Fragebogen zum Verlobungs- und Heiratsgesuch, V. B. Nr. 41216, Schwabe, Willmar Carl Reinhold, 19. Dezember 1936. BArch Freiburg, Militärarchiv RW59, Nr. 2090: Kartei: Sanitätsoffiziere der Reserve: Dr. Schwabe Willmar geb. 20.12.07. StAL, Bestand 20706, Nr. 342, fol. 228v: Ausfertigung, Beschluss vom 8. Februar 1943, 183 X Schw 42/42. GLAK, Bestand 465h, Nr. 21293, fol. 2: Meldebogen von Dr. med. Reinhold-Willmar Schwabe, Karlsruhe, 14. Januar 1947. BArch Berlin, NSDAP-Gaukartei (ehem. BDC): Schwabe, Willmar, Nr. 1245518. BArch Berlin, VBS 1, Nr. 1110030119 [ohne Paginierung]: SS-Pioniersturmbann 1 an NSDAP Braunes Haus, Abteilung Kartei, München, 7. März 1935. Willmar Schwabe III fragte exakt ein Jahr später, am 7. März 1936, erneut nach, wobei er sich beschwerte, dass er keine Antwort auf seine bisherigen Anfragen erhalten hatte. HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Dr. med. Willmar Schwabe an [die NSDAP], Leipzig, 7. März 1936.
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dereintritt vermerkt.15 Die Weiterzahlung seiner Mitgliedsbeiträge dürfte ihm beim Behalten der ursprünglichen Mitgliedsnummer wohl geholfen haben. Willmar III war seit seiner Studienzeit in München ab Juni 1933 auch Mitglied der SS (Mitgliedsnummer 161023), wobei er zunächst dem Motorsturm und später dem SS-Pioniersturm 1 angehörte, in dem er sich als Arzt betätigte.16 Wie aus einem Meldebogen hervorgeht, trat er jedoch 1936 aus17, gehörte also nicht, wie Cornelia Hofmann behauptet18, der SS bis 1945 an. Außerdem war Willmar Schwabe III Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSD-Ärztebund), der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der Deutschen Arbeitsfront (DAF).19 Er galt »politisch als zuverlässig« und stand nach der Einschätzung eines Ortsgruppenleiters »auf dem Boden der NS-Regierung«.20 Sein jüngerer Bruder Willmar Carl Wolfgang Schwabe begann nach dem Abitur 1931 seine pharmazeutische Ausbildung in der Saxonia-Apotheke in Leipzig und legte dort 1933 das pharmazeutische Vorexamen ab. Vom Sommersemester 1933 bis Wintersemester 1934/35 studierte er in Kiel und Freiburg Pharmazie und bestand 1935 in Freiburg das pharmazeutische Staatsexamen. Daran schloss er an der Universität München ein Studium der Volkswirtschaft an und setzte seine Ausbildung an der Leipziger Handelshochschule fort. Hier legte er im April 1937 die kaufmännische Diplomprüfung ab und wurde zum Thema »Marktbedingungen und Absatzwirtschaft der biologischen Heilmittelindustrie« im Dezember 1938 promoviert. Bereits 1935 hatte er mit seinem Bruder Willmar III die Leitung der Firma übernommen.21 Wolfgang Schwabe beantragte am 6. Dezember 1937 rückwirkend zum 1. Mai die Aufnahme in die NSDAP und erhielt die Mitgliedsnummer 5800329.22 In einer Beurteilung von Januar 1938 wird er jedoch noch als Parteianwärter bezeichnet.23 Der Ermittlungsbericht des Kriminalamtes Leipzig 15 16
BArch Berlin, NSDAP-Gaukartei (ehem. BDC): Schwabe, Willmar, Nr. 1245518. HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Ermittlungsbericht Leipzig 10.09.1947, Kriminalamt Leipzig, Kommissariat K5, Tagebuch-Nr. 5-3-6485/47/18; BArch Berlin, VBS 283, Nr. 6055004951 [ohne Paginierung]: Fragebogen zum Verlobungs- und Heiratsgesuch, V. B. Nr. 41216, Schwabe, Willmar Carl Reinhold, 19. Dezember 1936. 17 GLAK, Bestand 465h, Nr. 21293, fol. 1: Meldebogen von Dr. med. Reinhold-Willmar Schwabe, Karlsruhe, 14. Januar 1947; HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Zeichen- und Tagebuch-Nr. 30–59/39300 über Dr. Karl Reinhold Willmar Schwabe, 13. Mai 1938. Dort heißt es, dass er »früher der SS an[gehörte] und […] wegen geschäftl. Behinderung ausgetreten« sei. 18 Hofmann (2014), S. 91, Fußnote 360. 19 BArch Berlin, RÄK (ehem. BDC): Schwabe, Carl Reinhold Willmar; HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragte[r] über Dr. Wilmar [sic!] Carl Reinhold Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938. 20 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Ortsgruppenleiter an den Kreisorganisationsleiter der NSDAP, Leipzig, 20. Mai 1936 (R.3/116). 21 Schwabe (1939), S. 164, Lebenslauf, und O. A. (1980) [ohne Paginierung]. 22 BArch Berlin, NSDAP-Gaukartei (ehem. BDC): Schwabe, Wolfgang, Nr. 5800329. 23 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragter über Wolfgang Carl Wilmar [sic!] Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938.
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aus dem Jahre 1947 datiert die Mitgliedschaft auf 1940.24 Diese Quelle erweist sich aber als nicht sehr zuverlässig, da sie das Ziel verfolgte, die Firmenbesitzer als Kriegsverbrecher zu entlarven, um so die Enteignung begründen zu können.25 Die Auswertung der Ermittlungs- und Prozessakten, die in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR mit politischer Zielstellung entstanden, erfordert ein quellenkritisches Herangehen, wie es bei Cornelia Hofmann fehlt. Am 3. Mai 1949 erfolgte der Beschluss, das Strafverfahren gegen die Schwabe-Brüder als ›Verbrecher‹ nach Abschnitt II Artikel III C II Ziffer 4 zu der Direktive 38 des Alliierten Kontrollrates vom 12. Oktober 1946 einzuleiten.26 Viele Zahlenangaben in den Prozessakten waren falsch, und auch die Befragung von Zeitzeugen erbrachte teilweise sehr widersprüchliche Aussagen. Insgesamt wurden die beiden Angeklagten als Belastete eingestuft27 und ihr Vermögen eingezogen. Das Urteil erfolgte am 23. Juli 1951.28 Eine Revision wies man zurück, erst am 19. September 1991 kam es zur Aufhebung des Urteils des Landesgerichts Leipzig.29 Die Angabe von Cornelia Hofmann, Wolfgang Schwabe sei seit 1932 Parteimitglied gewesen30, ist offenbar auf die Verwechslung der Eintrittsdaten von Willmar III und Wolfgang Schwabe in den von ihr verwendeten Akten der Kleinen Strafkammer von 1951 zurückzuführen. Wie sein Bruder gehörte auch Wolfgang der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der Deutschen Arbeitsfront an.31 Zudem war er Mitglied der SA, vermutlich bis Mitte 1936/Ende 193732; sein Ausscheiden wurde wie das seines Bruders aus der SS mit beruflicher Überlastung begründet. Aus einer Karteikarte des Landeskriminalamtes Leipzig von 1949 geht eine Mitgliedschaft bei der SA von 1932 bis 1935 hervor. Diese Quelle ist aus den genann24 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Ermittlungsbericht Leipzig 10.09.1947, Kriminalamt Leipzig, Kommissariat K 5, Tagebuch-Nr. 5-3-6485/47/18; HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 1: Betr. Dr. Willmar Schwabe, Leipzig Breitingstr. 54/56. 25 HStAD, Bestand 11378, Nr. 424, fol. 127: Bericht über den Stand der im Zuge des Befehls 201 im Januar durchgeführten Arbeiten, Leipzig, 26. Januar 1948. 26 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Beschluss, Landesregierung Sachsen, Polizeipräsidium Leipzig, Aktenzeichen: 5–3/108/49/201/13, Leipzig, 3. Mai 1949. 27 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Abschrift, Im Namen des Volkes! Urteil vom 23. Juli 1951, 1. Kl. Strfk. (201) 64/49 an das Polizeipräsidium, Zentralkartei Leipzig, [o. O., o. D.], hier fol. 1. 28 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: 2. Kl. Strfk. (201) 64/49 an das Polizeipräsidium, Kommissariat C 10 Leipzig, 9. Oktober 1951. 29 Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe: Beschluss des 1. Strafsenats des Bezirksgerichts Chemnitz vom 19. September 1991. 30 Hoffmann (2014), S. 91, 98. 31 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragter über Wolfgang Carl Wilmar [sic!] Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938. 32 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Ortsgruppenleiter an den Kreisorganisationsleiter der NSDAP, Leipzig, 20. Mai 1936 (R.3/117); HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragter über Wolfgang Carl Wilmar [sic!] Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938.
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ten Gründen aber als nicht sehr zuverlässig anzusehen. So heißt es darin auch, dass er von 1932 bis 1945 der NSDAP angehört und einen Doktortitel der Medizin (anstatt der Wirtschaftswissenschaften) erworben habe.33 Wolfgangs bejahende Einstellung zum Nationalsozialismus wird in einer Beurteilung des Kreisbeauftragten der NSDAP von 1938 zwar erwähnt, zugleich jedoch betont, dass seine »Beteiligungen an Spenden und Opfern […] dem Einkommen entsprechend höher sein« könnten.34 Auch die Spendenfreudigkeit von Willmar III wurde 1938 vom Kreisbeauftragten der NSDAP moniert: »Die Beteiligung an Spenden und Opfern könnte dem hohen Einkommen nach angemessener sein. Es werden jedoch u. a. Freitische für Studenten und auch kirchliche Spenden gegeben.«35 Im Staatsarchiv Leipzig befinden sich zwei Bücher der Brüder Schwabe, in denen diese von 1936 bis Dezember 1944 handschriftlich ihre monatlichen Privatausgaben auflisteten.36 Dazu zählen auch Beitragszahlungen an Verbände und Organisationen, Spenden und sonstige Ausgaben, wie Zahlungen an das Deutsche Jungvolk, den NSD-Ärztebund, das Winterhilfswerk, das Deutsche Rote Kreuz, aber auch an die SSStandarte, an die beide im November 1939 einen einmaligen Betrag von je 100 Reichsmark (RM) leisteten. Weitere Zahlungen an die SS oder SA sind jedoch nicht nachweisbar. Die seit 1938 bis Dezember 1944 getätigten Zahlungen der Brüder an NS-Organisationen lassen sich somit relativ exakt nachweisen. Laut Erinnerung des Prokuristen Alfred Schulze, der seit 1925 in der Firma wirkte und ab 1942 die Buchhaltung leitete, überwiesen sie aber von einem Privatkonto zwischen 1940 und 1943 14.000 RM an die »Adolf-Hitler-Spende der Deutschen Wirtschaft«.37 Während des Zweiten Weltkriegs unterstützten sie insbesondere das Winterhilfswerk, daneben das Rote Kreuz, ein Kinderheim, die Kriegsernährungsfürsorge und die Kriegsstättenpflege. Neben privaten Spenden sind Zahlungen der Firma im Rahmen der »Adolf-Hitler-Spende« belegt, die vom 1. Juni 1933 bis zum Kriegsende insgesamt 28.187,59 RM betrugen.38 Die Höhe dieses quasi obligatorischen Beitrages errechnete sich prozentual nach der Lohn- und Gehaltssumme (fünf Promille). Addiert man die Beträge von 1939/40 bis 1943/44, so ergibt sich die 33 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Karteikarte LKA 201, Aktenzeichen: 5–3a/108/49/201 Bearb. Hartmann, Leipzig, 26. August 1949 (Dr. med. [sic!] Wolfgang Schwabe). 34 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragter über Wolfgang Carl Wilmar [sic!] Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938. 35 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Kreisbeauftragter über Dr. Wilmar [sic!] Carl Reinhold Schwabe, Leipzig, 15. Januar 1938. 36 StAL, Bestand 20706, Nr. 283 und 284: Privatausgaben Dr. Willmar und Dr. Wolfgang Schwabe (1936–1944). 37 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Polizeipräsidium Leipzig, Vernehmung von Alfred Schulze, Leipzig, 29. April 1949. 38 Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe: Firma Dr. Willmar Schwabe an die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, Zustimmungserklärung, Leipzig, 14. Juni 1933, 6. Juli 1934, 30. Juni 1935, 30. Juni 1936, 28. Juni 1937, 22. September 1938 (Quartalsmeldung von 576,75 RM = 2.307,- RM/Jahr), 26. Juni 1939, 20. Juni 1940, 1. Juli 1941, 7. Juli 1942, 5. Juli 1943 und 15. Oktober 1944.
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Summe von 13.130,58 RM, die in etwa mit der Aussage Schulzes (14.000 RM) übereinstimmt. In der Zeitschrift Die Pharmazeutische Industrie, offizielles Organ des entsprechenden Reichsverbandes (Reipha), hieß es, dass die Firmen »dem Wunsch des Führers entsprechend« keinerlei Verpflichtungen eingehen durften, die ihre Beteiligung an der »Adolf-Hitler-Spende« verhindern würden.39 Während Wolfgang Schwabes Eintritt in die Partei und in die SA wohl eher aus opportunistischen Gründen erfolgte, scheint Willmar III in den ersten Jahren ein überzeugter Anhänger der NSDAP gewesen zu sein, wie seine Mitgliedschaft bereits vor 1933 und die intensiven Bemühungen um sein Mitgliedsbuch zeigen. Vermutlich erwuchs seine politische Haltung auch aus einer Opposition gegen den konservativen Vater, während sein Bruder Wolfgang ein eher ruhiges und dem Vater ähnliches Naturell besaß. Bemerkenswert erscheint aber Willmars Eheschließung im September 1942 mit Margarete Merker, geborene Scharte (geb. 1916)40, die im kommunistischen Widerstand tätig gewesen und zweimal von der Gestapo verhaftet worden war41 – eine Tatsache, die sie sicherlich nicht vor ihrem Mann verheimlicht haben dürfte. Auch wenn diese Heirat vermutlich keine politischen Gründe hatte, spiegelt sie doch Willmars eigenwilliges Wesen wider. 1947 erfolgte allerdings die Scheidung dieser Ehe. NS-Ideologie in der Firma Im Gestapo-Bericht von 1937 heißt es: »Der Betrieb wird im nationalsozialistischen Sinne geführt und als vorbildlich bezeichnet.«42 Die Aussagen von Zeitzeugen, die Anfang der 1950er Jahre im Rahmen des Enteignungsverfahrens in der DDR eingeholt wurden, erweisen sich hingegen als widersprüchlich, wenn einerseits Wolfgang Schwabe als der aktivere Nationalsozialist bezeichnet wird43, ein anderer Zeuge aber behauptet, dass sich die Schwabe-Brüder gegenüber ihren Angestellten »nie im nazistischen Sinne geäußert hätten«44. Belegt sind eine Reihe von Sozialleistungen wie Weihnachtsgratifikationen und Kaffeestunden für jugendliche Mitarbeiter45, Zuwendungen für Mitarbeiter bei Geburten und Eheschließungen, aber auch für im Heeresdienst Befindliche 39 O. A. (1936), S. 341. 40 StAL, Bestand 20706, Nr. 342, fol. 229: Abschrift aus dem Güterrechtsregister für den Bezirk des Amtsgerichts Leipzig. 41 StAL, Bestand 20706, Nr. 409 [ohne Paginierung]: Lebenslauf Margarete Schwabe 1950. 42 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Leipzig, 15. März 1937. 43 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: [Polizeipräsidium Leipzig, Vernehmung von] Hermann Rackwitz, Leipzig, 29. April 1949. Hermann Rackwitz berichtete auch, dass beide Brüder »gute Nationalsozialisten« gewesen wären. 44 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Abschrift, Im Namen des Volkes! Urteil vom 23. Juli 1951, 1. Kl. Strfk. (201) 64/49 an das Polizeipräsidium, Zentralkartei Leipzig, [o. O., o. D.], fol. 3. 45 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Geheime Staatspolizei, Staatspolizeistelle Leipzig, 15. März 1937.
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sowie für KdF (»Kraft durch Freude«)-Fahrten der bei Schwabe Beschäftigten46. Diese Leistungen waren aber wohl eher Ausdruck der paternalistischen Fürsorge eines Familienunternehmens, die nun als »Dienst an der Volksgemeinschaft« bezeichnet wurde. Nachweisbar sind ferner Spenden an das Winterhilfswerk (WHW)47, das mit Sach- und Geldgeschenken Bedürftige vor allem in den Wintermonaten unterstützte. Diese Spenden betrugen seit 1936 zehn Prozent der Lohnsteuersumme und wurden direkt vom Unternehmen einbehalten und abgeführt.48 Die Firma Schwabe spendete auch gelegentlich Arzneimittel an die NSDAP, beispielsweise im Dezember 1939 300 Dosen Hamamelis-Puder an eine Partei-Ortsgruppe in Leipzig.49 Diese Arzneimittel wurden teilweise in privater Initiative an Wehrmachtssoldaten weitergeleitet. Nachweisbar ist auch, dass die Firma Propagandaschriften für die Mitarbeiter kaufte und verteilte, so 1939 die Broschüren »Wie sie lügen«50, »Arbeiter, Bauern und Soldaten« und »Unser Sozialismus, der Hass der Welt«51. Die Bibliothek der Firma Schwabe wurde ferner »durch laufenden Ankauf von nationalem Schriftgut« ergänzt.52 Regelmäßig gab es Betriebsappelle, die »dem Gemeinschaftsgedanken Rechnung« trugen.53 Von der NS-Ideologie war auch die Feier anlässlich des 75-jährigen Firmenjubiläums beeinflusst, auf der die Brüder Schwabe als »Führer von bestem nationalsozialistischem Empfinden« geschildert wurden54 und bei der es hieß: »Heute dagegen wissen wir, dass unser Großdeutsches Reich und damit Europa unter der genialen Führung Adolf Hitlers einer neuen besseren Zeit entgegengeht.«55 Im Unterschied dazu finden sich in der aus Anlass des 100. Geburtstages von Willmar Schwabe I 1939 erschienenen Broschüre »Ein Leben im Dienste
46 StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 3: Sozialbericht für das Geschäftsjahr 1939; StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 6–11: Sozialbericht für das 3. Quartal 1940 der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig; StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 12v: Sozialbericht für das Geschäftsjahr 1940 der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig. 47 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 45: Dr. Schr. / Kö. an das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes Leipzig, [Leipzig], 30. Oktober 1944. 48 Das Winterhilfswerk war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern existierte bereits vorher, wie beispielsweise die in Hamburg seit 1923 vom Arbeiterrat durchgeführten Winterhilfen. Zur Geschichte des Winterhilfswerkes siehe Zolling (1986), S. 154–198. 49 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 47: NSDAP Kreis Leipzig Ortsgruppe Osten P an den Betriebsführer der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig, 14. Dezember 1939. 50 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 46: Reichspropagandaamt Sachsen an den Betriebsführer, Dresden, 10. November 1939. Darauf befindet sich der Vermerk: »500 Stück bestellt am 24.11.39 an das Gefolgschaftsbüro erhalten am 2.12.39.« 51 StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 4: Sozialbericht für das Geschäftsjahr 1939. 52 StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 10: Sozialbericht für das 3. Quartal 1940 der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig. 53 StAL, Bestand 20706, Nr. 174, fol. 10: Sozialbericht für das 3. Quartal 1940 der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig. 54 O. A.: Bericht (1941), S. 8. 55 O. A.: 75 Jahre (1941), S. 9.
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der Homöopathie« selbst im Abschnitt »Von der weiteren Geschichte der Firma« keinerlei Bezüge zur NS-Ideologie.56 NS-Ideologie in Zeitschriften des Verlagshauses Schwabe Im Folgenden soll analysiert werden, inwieweit auch die vom Verlagshaus Schwabe herausgegebenen Zeitschriften die NS-Ideologie propagierten. Dies betrifft zum einen Laienzeitschriften wie die seit 1870 in Schwabes Verlag erscheinende Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie und die 1924 gegründeten Biochemischen Monatsblätter, die sich speziell der von Wilhelm Schüßler (1821–1898) initiierten Biochemie und auch der Naturheilkunde im weiteren Sinne widmeten. Diese Journale dienten zugleich einigen Vereinen als Mitgliederzeitschriften. Vor 1933 spielten politische Aspekte in den Laienzeitschriften eine untergeordnete Rolle.57 Dies änderte sich aber mit der »Gleichschaltung«, indem sie nun zu Multiplikatoren des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 wurden. Ziel dieses Gesetzes war die Sterilisierung von »Erbkranken«, die an tatsächlich oder vermeintlich (z. B. Tuberkulose) genetisch bedingten Krankheiten litten. Da man eine »schwere Entartung« befürchtete, sollte das »biologisch minderwertige Erbgut« ausgeschaltet, eine »allmähliche Reinigung des Volkskörpers« und die »Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen« bewirkt werden.58 Das unter Leitung von Josef Goebbels (1897– 1945) stehende Reichsministerium für »Volksaufklärung« und Propaganda forderte im Spätsommer 1933 in einem Aufruf, dass die »Rassenhygiene« dem »Bewusstsein jedes Einzelnen eingehämmert werden« müsse. Große Bedeutung kam dabei den »unzähligen deutschen Vereine[n]« zu, zu denen auch homöopathische und biochemische Laienvereine und ihre den Mitgliedern zugestellten Zeitschriften zählten. Goebbels ließ keinen Zweifel daran, dass er den vorbehaltlosen Einsatz für die »Rassenhygiene« als Indikator für politische Zuverlässigkeit ansah.59 Die Biochemischen Monatsblätter stimmten im November 1933 in die »rassenhygienische« Kampagne ein. Der Aufmacher des Heftes widmete sich dem Thema »Der neue Mensch im neuen Reich«60, direkt gefolgt von einem Beitrag zur »Rassenpflege und Erblichkeitsforschung«61. Das Heft schloss mit einem illustrierten Kurzbeitrag zur »Adolf-Hitler-Gedenkmünze« im »Jahre deutscher Schicksalswende«.62 In der Leipziger Populären erschien am 1. September der Aufmacher »Um Deutschlands Zukunft – Aufstieg oder Niedergang?«, der unverhüllt die »Ras56 57 58 59 60 61 62
O. A.: Leben (1939). Steuernthal (1932); Weißbach (1932). Drucksache 16/3811 (2006). Karrasch (1998), S. 130. Feichtinger (1933). Frey (1933). O. A: Jahre (1933).
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senhygiene« propagierte.63 Es folgten im Oktober auf der Titelseite angeblich »Unpolitische Betrachtungen zu Ritter, Tod und Teufel«, die eine historisch geradezu absurde Linie von den Cholera-Erfolgen der Homöopathie zum Reichskanzler Adolf Hitler (1889–1945) zogen. Der Beitrag schloss mit apokalyptischer Rhetorik und dem gesperrt gedruckten Satz: »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen!«64 Anschließend konnte sich der Leser anhand eines Aufsatzes des Duisburger Internisten Wilhelm Hildebrandt (1878–1934), dessen Hauptarbeitsgebiet die Rassenkunde war, über »Rasse – vererbbares innersekretorisches Gleichgewicht« informieren.65 Das November-Heft der Leipziger Populären verzichtete zwar auf einen eigenen Aufsatz zur »Rassenhygiene«, veröffentlichte dafür aber mehrere Rezensionen von diesem Thema gewidmeten Büchern. Im Dezember folgte ein Beitrag »Deutscher zwischen deutschen Ahnen und deutschen Enkeln« zu Fragen der Genealogie, wobei hier scheinbar beiläufig das antisemitische »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 und der »arische Blutnachweis« Berücksichtigung fanden.66 Eingerückt in diesen Aufsatz wurde ein Gedicht des lippischen Heimatdichters Otto Franzmeier (1885–1980), das den Sitz des Erbgutes aus den Zellkernen in ein mystisch verklärtes »Blut« verlegte. Um die politische Zuverlässigkeit noch stärker zu betonen, versuchte K. W. Thiele nachzuweisen, dass man in der Leipziger Populären bereits in den 1920er und frühen 1930er Jahren NS-Ideologie vertreten habe, was allerdings nicht überzeugend gelang.67 Das Heft schloss mit dem Foto einer Betriebsversammlung der Firma Schwabe. Unter dem Transparent »Einigkeit und Recht und Freiheit – durch Adolf Hitler«, angebracht an der ansonsten von Willmar Schwabe II genutzten »Aussichtsgondel« im großen Arbeitssaal, hörte die Belegschaft in weißen Arbeitskitteln am 10. November 1933 »eine Rede des Führers« im Radio. Hakenkreuzfahnen, ein Hitler-Foto und NS-uniformierte Männer rahmten die Veranstaltung ein.68 Die Biochemischen Monatsblätter wandten sich auch 1934 weiteren »rassenhygienischen« Themen zu, so im Januar dem »Abwehrkampf gegen den erbkranken Nachwuchs«.69 Zugleich empfahl man im Sinne einer »biologischen Familienforschung« die »Anlage einer Erbgut-Stammkarte«.70 Im FebruarHeft ging man der Frage nach: »Wer ist erbkrank im Sinne des Gesetzes?«71, denn Anfang 1934 begann die praktische Umsetzung der »Rassenhygiene« mit eigens ins Leben gerufenen »Erbgesundheitsgerichten«. Ein weiterer Aufsatz beschäftigte sich mit Schizophrenie. 63 Thiele: Deutschlands Zukunft (1933). 64 Thiele: Betrachtungen (1933), S. 184. 65 Hildebrandt (1933). Zu Hildebrandt siehe Voswinckel (2002) und Berggreen/Kuhlmann (1934). 66 Bahmann (1933). 67 Thiele: Treue (1933). 68 O. A.: Foto (1933). 69 Frey (1934). 70 Feichtinger (1934). 71 Petermann (1934).
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Am 15. September 1935 wurden das »Reichsbürgergesetz«, das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« und das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz)« erlassen. Diese sogenannten »Nürnberger Gesetze« führten zu einer neuen Eskalationsstufe der Judenverfolgung im Deutschen Reich. Offensichtlich in diesem Zusammenhang erschienen in den Biochemischen Monatsblättern im Oktober und November zwei lange, allerdings nicht namentlich gezeichnete Beiträge zum Thema »Entwicklung, Vererbung und Rasse«.72 Der zweite Artikel schloss mit dem Satz: »Die nationalsozialistischen Gesetze […] zur Verhinderung einer ehelichen Gemeinschaft zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen Blutes dienen dem Besten, was sich unser Volk wünschen kann, der Erhaltung der nordischen Rasse.«73 Trotz ihres politischen und vor allem »rassenhygienischen« Engagements wurden die Biochemischen Monatsblätter im Dezember 1935 aus unbekannten Gründen eingestellt. Die Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie eröffnete den Jahrgang 1934 mit einem Motto aus Hitlers »Mein Kampf«: »Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes.«74 Auch in weiteren Heften findet man Hitlerund Goebbels-Zitate, zur Hervorhebung häufig gerahmt. Neben einem autobiographischen Artikel eines in NS-Uniform und mit Hakenkreuzarmbinde und Schäferhund abgelichteten Laienheilers75 untersuchte Rudolf Tischner (1879–1961), der Arzt und Historiograph der Homöopathie, die Frage, ob Hahnemann ein Jude gewesen sei76. Recht verhalten war dagegen die Reaktion der Zeitschrift auf die Anerkennung der Schwabeschen Pharmakopöe als amtliches Homöopathisches Arzneibuch (HAB) am 1. Oktober 1934. Es wurde gleichzeitig die abwartende Haltung einiger medizinischer Fachzeitschriften gegenüber der Homöopathie beklagt.77 1935 gab es eine zweiteilige Berichterstattung über die Nürnberger »Ausstellung deutscher Volksheilkunde« mit Fotografien des fränkischen Gauleiters Julius Streicher (1885–1946), Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer, und des Reichsärzteführers Gerhard Wagner (1888–1939).78 1937 folgte ein ausführlicher Bericht über den 12. Internationalen Homöopathischen Kongress in Berlin, als dessen Schirmherr Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß (1894–1987) fungierte.79 Dem Ende der »Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde« widmete man hingegen nur eine kurze Notiz. Diese erst 1935 gegründete Arbeitsgemeinschaft wurde vom Reichsärzteführer Wagner aufgelöst.80 Dagegen erschien 1937 wiederum ein dreiteiliger 72 73 74 75 76 77 78 79 80
O. A.: Entwicklung (1935). O. A.: Entwicklung (1935), S. 249. Thiele: Weg (1934), S. 1. Senf (1934). Tischner (1934). Thiele: Homöopathie (1934). Thiele (1935). O. A.: XII. Internationaler Homöopathischer Kongress (1937). O. A.: Reichsarbeitsgemeinschaft (1937); Jütte (1996), S. 51 f.; Jütte (2014).
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»rassenhygienischer« Aufsatz »Krankheiten und Ehe«.81 Insgesamt wirkt die Berichterstattung in der Leipziger Populären ab 1936 allerdings weniger ideologielastig. Im Gegensatz zu den beiden betrachteten Laienzeitschriften handelte es sich bei der 1832 entstandenen und von 1910 bis 1938 im Verlag der Firma Dr. Willmar Schwabe erscheinenden Allgemeinen Homöopathischen Zeitung um ein Journal, das sich vornehmlich an Fachleute – homöopathische Ärzte, Heilpraktiker und Apotheker – wandte. In dieser Zeitschrift wurde die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten von einem der Herausgeber, Hans Wapler (1866–1951), enthusiastisch begrüßt. Dieser versuchte im August 1933 in einem Brief, Adolf Hitler für die Homöopathie zu gewinnen.82 Hitler bedankte sich bei ihm noch im selben Monat.83 In einem Schreiben an den Reichsärzteführer Gerhard Wagner nahm Wapler Bezug auf Hitlers Antwort und bemerkte: »In dem vorangestellten Brief an unsern Volkskanzler […] werden die Leser darauf aufmerksam gemacht, daß Hitler für die Grundsteinlegung des Dritten Reiches als Richtschnur das dem Leben abgelauschte Ähnlichkeitsprinzip genommen hat.«84 Es finden sich auch in weiteren Aufsätzen, Referaten und Geleitworten der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung gelegentlich Bezüge zur NS-Ideologie und einige wenige »rassenhygienische« Bemerkungen. Aber in der Folgezeit spielten nationalsozialistische Themen im Vergleich zu den Laienzeitschriften eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt standen – insbesondere nachdem die »Neue Deutsche Heilkunde« gescheitert war – die homöopathische Behandlung von Krankheiten, praktische Erfahrungsberichte von Ärzten und die therapeutische Verwendung von Arzneipflanzen. Dies bestätigt auch die Analyse der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung von Roswitha Haug.85 1939 wechselte die Zeitschrift in den Berliner Karl F. Haug Verlag.86 In den Preislisten der Firma Schwabe, die in der NS-Zeit erschienen, lassen sich ideologische Bezüge kaum nachweisen.87 Fremdarbeiter bei Schwabe Bis Ende November 1942 waren Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland geholt worden, davon 1.376.000 aus den Ostgebieten, 292.000 aus dem Generalgouvernement, 38.000 aus dem Warthegau, 79.000 aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, 168.000 aus Frankreich, 103.000 aus Belgien sowie Nordfrankreich, 86.000 aus den Niederlanden und 189.000 aus dem 81 82 83 84 85 86 87
Roller (1937). Wapler: Similia (1933); vgl. auch Jütte (1996), S. 46. O. A.: Adolf (1933). Wapler: Noch einmal Similia (1933). Haug (2009), S. 75–155. Zu den Gründen des Wechsels siehe Haug (2009), S. 125. O. A.: Illustrierte Preisliste (1935).
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
221
übrigen Europa.88 Insofern stellt sich die Frage, ob auch die Firma Schwabe Fremdarbeiter beschäftigte und wie groß ihre Anzahl war. Angaben zur Mitarbeiterzahl bei Schwabe differieren in den verschiedenen Quellen, vermutlich da die Beschäftigten in der der Firma angeschlossenen Druckerei und Apotheke, in Niederlassungen und einberufene Soldaten mit- oder auch nicht mitgezählt wurden. Die Kernaussagen werden davon aber kaum verändert. Vor 1942 lassen sich bei Schwabe keine Fremdarbeiter nachweisen. 1942 waren es fünf, 1943 acht und 1944 schließlich 24. Das entspricht zwischen 0,9 und 3,6 Prozent der Belegschaft. Die Behauptung Hofmanns, der Anstieg der Fremdarbeiterzahl der Firma Schwabe sei mit »Wehrmachtsaufträgen und damit dem Profit durch das nationalsozialistische System erklärbar«, kann nicht bestätigt werden.89 Wehrmachtsaufträge ließen sich im Bundesarchiv Freiburg nicht nachweisen; wie später noch ausgeführt wird, gab es sie zwar, allerdings machten sie nur einen geringen Teil des Gesamtumsatzes aus. Das Arbeitsamt hatte vielmehr der Firma Schwabe die Fremdarbeiter nur als Ausgleich für eingezogene oder dienstverpflichtete Arbeitskräfte zugeteilt, wobei die Anzahl der Einberufenen, die 1943 58 und 1944 sogar 66 betrug, in keiner Weise kompensiert werden konnte.90 In anderen Industriezweigen war dagegen der Anteil von Fremdarbeitern wesentlich höher. Er betrug beispielsweise in 22 Firmen der Rüstungsindustrie 1942 20,9 Prozent, wozu noch 4,3 Prozent Kriegsgefangene kamen.91 Einen Vergleich über mehrere Jahre mit der zum I. G. Farben-Konzern gehörenden Firma Hoechst92, die auch zu den besonders wichtigen Arzneimittelherstellern zählte, sowie mit der Firma Schering93 zeigt Tabelle 1.
88 Umbreit (1999), S. 217. Umbreit gibt als Summe 2,2 Millionen an; addiert man seine Zahlen, kommt man jedoch auf 2,331 Millionen. 89 Hofmann (2014), S. 171. 90 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 48: Eink. M / P an das Arbeitsamt Leipzig, [Leipzig], 11. Dezember 1941; HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 12: Betr. Sonderaktion, Verwaltung Ag / B 1085 an die Industrie- und Handelskammer Leipzig, Wehrwirtschaftl. Abtl. z. Hd. Herrn Dr. Uhlig, [Leipzig], 4. April 1940; StAL, Bestand 20706, Nr. 269, fol. 11: Bericht über die Prüfung des Jahresabschlusses 1944 der Firma Dr. Willmar Schwabe, Leipzig O 29, Breitingstr. 54/56; StAL, Bestand 20706, Nr. 176, fol. 54: Lohnnachweis für das Jahr 1944, Dr. Willmar Schwabe, Leipzig. 91 Kroener (1999), S. 812. In dem von Jonas Scherner veröffentlichten Bericht über die deutsche Wirtschaftslage von 1943/44, eine Bilanz des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion über die Entwicklung der deutschen Kriegswirtschaft bis Sommer 1944, sind zwar fast alle Sparten aufgeführt, nicht jedoch die pharmazeutische Industrie. Vgl. Scherner (2007). 92 Lindner (2005), S. 227. 93 Wlasich (2011), S. 206.
222
Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
Tab. 1: Fremdarbeiter bei Schwabe und weiteren Firmen Jahr
Mitarbeiter Schwabe gesamt
Anzahl Fremdarbeiter (%)
Anzahl Fremdarbeiter bei Hoechst (%)
Anzahl Fremdarbeiter bei Schering (%)
1942
553
5 (0,9 %)
2.814 (24,8 %)
k. A.
1943
611
8 (1,3 %)
3.130 (26,4 %)
k. A.
1944
666
24 (3,6 %)
3.219 (26,8 %)
282 (38 %)
Die Tabelle verdeutlicht, dass in anderen auch Arzneimittel produzierenden Unternehmen der Anteil von Fremdarbeitern um ein Vielfaches höher als bei Schwabe war. Diese Firma beschäftigte neben Franzosen, Niederländern, Ukrainern und Russen insbesondere Polen.94 Das Spektrum ihrer Tätigkeiten erstreckte sich von un- oder angelernten Hilfsarbeiten bis zu hochqualifizierten wissenschaftlichen Aufgaben, denn unter den ausländischen Mitarbeitern befanden sich mindestens zwei Apotheker und ein promovierter Akademiker. Der polnische Apotheker bezog 1944 ein Gehalt von 1.306 RM (für 100 Arbeitstage), der ukrainische 2.071 RM (für 175 Arbeitstage). Das Jahresgehalt angestellter deutscher Apotheker lag dagegen bei 300 Arbeitstagen zwischen 3.240 und 6.960 RM. Die bei Schwabe tätigen ausländischen Apotheker erhielten also, rechnet man die 100 bzw. 175 Tage auf 300 hoch, ein Gehalt, das im unteren Bereich eines deutschen Apothekers lag. Der ausländische promovierte Akademiker, möglicherweise Arzt – die Nationalität ließ sich nicht ermitteln –, erhielt bei Schwabe 1944 6.015 RM/Jahr, während ein deutscher Mediziner als wissenschaftlicher Mitarbeiter 14.188 RM bekam.95 Demzufolge bezahlte die Firma Schwabe ausländische Akademiker nur teilweise schlechter als deutsche. Bei »einfachen« Mitarbeitern orientierte sie sich an den gültigen Tarifen der chemischen Industrie und gewährte sogar Leistungszuschläge und Weihnachtsgratifikationen.96 Die ausländischen Mitarbeiter erhielten eine Arbeitskarte vom Arbeitsamt, auf der die monatlichen Überweisungen des Betriebsführers (Schwabe) auf ein Postscheckkonto vermerkt wurden. Von diesem konnten sie Geld an Angehörige senden oder es sich auszahlen lassen. Die gezahlten Löhne an ausländische Mitarbeiter gab Schwabe im jährlichen Lohnnachweis für die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie an.97 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Fremdarbeiter bei Schwabe eine schlechtere Behandlung erlebten als deutsche Mitarbeiter. Sogar in der Urteilsbegründung von 1951 – die nicht das Ziel verfolgte, die Schwabe-Brüder 94 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: [Polizeipräsidium Leipzig, Vernehmung von] Hermann Rackwitz, Leipzig, 29. April 1949; HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 13–18: Karteikarten diverser Arbeiter. 95 StAL, Bestand 20706, Nr. 176, fol. 40r, 49r, 52r, 64–66: Lohnnachweise für die Jahre 1942–1945, Aufstellung der Namen. 96 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 13–18: Karteikarten diverser Arbeiter; Wlasich (2011), S. 174. 97 StAL, Bestand 20706, Nr. 176, fol. 39, 40r, 44, 56: Lohnnachweise für die Jahre 1942– 1945, Aufstellung der Namen.
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
223
zu entlasten, sondern zwecks Enteignung ihre Schuld nachzuweisen – heißt es, dass ihre Behandlung die gleiche gewesen sei wie die von deutschen Arbeitern. So wurden Polen beispielsweise nicht gezwungen, das »P« für Pole am Revers zu tragen98, was in anderen Firmen wie Hoechst – hier gab es das Abzeichen »Ost« für die Ostarbeiter – zunächst üblich war99. Die Firma Schwabe soll sogar rassisch Verfolgte in den Betrieb aufgenommen und ihnen eine wissenschaftliche Ausbildung ermöglicht haben.100 Diese im Zuge des Verfahrens gegen die Schwabe-Brüder getätigte Zeugenaussage ließ sich allerdings nicht näher belegen. Trotz intensiver Recherchen konnte auch nicht festgestellt werden, ob jüdische Mitarbeiter oder bei Schwabe beschäftigte Sozialdemokraten und Kommunisten in der NS-Zeit staatlicher Verfolgung ausgesetzt waren. Umsatzentwicklung der Firma Schwabe Immer wieder wird gegenüber Herstellern von Phytopharmaka, Homöopathika und anderen Arzneimitteln der Komplementärmedizin der Vorwurf erhoben, dass diese von der sogenannten »Neuen Deutschen Heilkunde« und der von ihr geprägten Gesundheitspolitik des Dritten Reiches profitierten und eine besondere Förderung erlebten. Im Mittelpunkt der »Neuen Deutschen Heilkunde« standen eine »biologische Medizin«, die Stärkung der »Volksgesundheit« sowie die Prävention von Krankheiten. Dabei spielte der Einsatz pflanzlicher und homöopathischer Arzneimittel eine besondere Rolle.101 Fritz Krafft behauptete sogar, dass »die heute auf diesem Gebiet tätigen Firmen […], wenn schon nicht ihre Entstehung, so doch ihre wirtschaftliche Bedeutung dieser nationalsozialistischen ›Wiedergeburt der Pharmazie‹ verdanken«.102 Um diese These zu überprüfen, ist es erforderlich, die Umsatz- und Gewinnentwicklung der Firma Schwabe zu analysieren. Hier gibt es unterschiedliche Angaben in den verschiedenen Quellen, die wohl vor allem daraus resultieren, dass diese zum einen nicht zwischen Netto- und Brutto-Umsätzen unterscheiden und zum anderen entweder nur das Leipziger Werk oder den kompletten Betrieb mit Zweigniederlassungen, Apotheke und Druckerei betreffen. Diese Unterschiede verändern aber nicht die Kernaussage. Für un-
98 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Abschrift, Im Namen des Volkes! Urteil vom 23. Juli 1951, 1. Kl. Strfk. (201) 64/49 an das Polizeipräsidium, Zentralkartei Leipzig, [o. O., o. D.], hier fol. 3. 99 Lindner (2005), S. 248 f., 252. 100 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Abschrift, Im Namen des Volkes! Urteil vom 23. Juli 1951, 1. Kl. Strfk. (201) 64/49 an das Polizeipräsidium, Zentralkartei Leipzig, [o. O., o. D.], hier fol. 3. 101 Jütte (1996); Schlick (2008), S. 387–398; Bothe (1991); Schröder (1982); Heyll (2006), S. 229–269. 102 Krafft (1996), S. 443.
224
Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
sere Analyse wurden die Angaben des Finanzamtes Leipzig, die der Buch- und Betriebsprüfer Fritz Moser 1949 erhob, zugrunde gelegt.103 Volker Jäger untersuchte 1991 in einem Aufsatz zur Geschichte der Firma Willmar Schwabe auch deren Umsatzentwicklung von 1927 bis 1944.104 Die Zahlen der Jahre 1937 bis 1944 stimmen tendenziell mit den Angaben des Finanzamtes von 1949 überein. Für 1927 bis 1930 verwendete er jedoch Umsatzzahlen, die von denen des Finanzamtes abwichen; die von ihm an dieser Stelle zitierte Akte beginnt aber erst mit dem Jahr 1929 und enthält für 1929 und 1930 andere Daten, als er angibt (Gesamtumsatz 1929 3.535.145 RM und für 1930 3.499.414 RM).105 Während Jäger nur 1933 einen Umsatztiefpunkt erwähnt, weisen unsere Zahlen einen weiteren für 1928 aus. Cornelia Hofmann benutzte für ihre Analyse die Angaben des Leipziger Finanzamtes, allerdings stellte sie die Zahlen als Schaubild dar, was gewisse Ungenauigkeiten mit sich bringt.106 In Tabelle 2 werden die Umsatzzahlen der Firma Schwabe, ausgehend von denen des Leipziger Finanzamtes von 1949107, mit den Zahlen anderer pharmazeutischer Firmen wie Sandoz (Nürnberg)108, Henning (Berlin)109, dem Pharmabereich von Hoechst (Frankfurt am Main)110, der I. G. Farben111 sowie Schering (Berlin)112 verglichen.
103 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8, fol. 24 f., hier S. 6 f.: Bericht über die bei der Firma Dr. Willmar Schwabe […] vorgenommene Buch- und Betriebsprüfung, Karl Fritz Moser, Leipzig, 20. Juni 1949. 104 Jäger (1991), S. 181, 185. 105 Jäger (1991), S. 181, 185; HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8, fol. 24 f., hier S. 6 f.: Bericht über die bei der Firma Dr. Willmar Schwabe […] vorgenommene Buch- und Betriebsprüfung, Karl Fritz Moser, Leipzig, 20. Juni 1949. 106 Hofmann (2014), S. 94. 107 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8, fol. 24 f., hier S. 6 f.: Bericht über die bei der Firma Dr. Willmar Schwabe […] vorgenommene Buch- und Betriebsprüfung, Karl Fritz Moser, Leipzig, 20. Juni 1949. 108 Fritz (1992), S. 221, 223. 109 Fischer (1992), S. 369 f. 110 Lindner (2005), S. 227, 312. Nach einer Schätzung von Carl Lautenschläger (1888–1962), Leiter des I. G. Farben-Werkes Hoechst, lagen die Umsätze in den Jahren 1940–1944 wesentlich höher, und zwar bei je 85.000.000 RM. »Lautenschlägers Zahlen sind also keine wirklich guten Zahlen, aber sie sind die besten verfügbaren – und damit immer noch besser als reines Raten.« Lindner (2005), S. 301. 111 Bartmann (2001), S. 166, 383. 112 Hamann (1990), S. 26, 37.
225
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit Tab. 2: Umsatzentwicklung pharmazeutischer Firmen zwischen 1925 und 1944 Jahr
Schwabe
Sandoz, Nürnberg
Henning, Hoechst, Berlin Pharmabereich, Frankfurt am Main
I. G. Farben, Pharmabereich
Schering, Berlin
1925
2.571.000
356.000
1926
2.398.000
665.000
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
1927
2.482.000
971.000
k. A.
k. A.
81.502.984
4.541.000 (Deutschland) 13.551.000 (Welt)
1928
2.220.000
1.234.000
820.000
k. A.
k. A.
k. A.
1929
3.300.000
1.516.000
860.000
k. A.
k. A.
7.119.000 (Deutschland) 20.415.000 (Welt)
1930
3.239.000
1.658.000
880.000
k. A.
k. A.
k. A.
1931
2.953.000
1.629.000
760.000
k. A.
k. A.
k. A.
1932
2.523.000
1.596.000
630.000
k. A.
k. A.
k. A.
1933
2.426.000
1.729.000
826.949
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
19.000.000
k. A.
k. A.
1934
2.587.000
2.087.000
661.782
k. A.
k. A.
k. A.
1935
2.998.000
2.616.000
794.135
38.900.000
96.500.000
5.652.000 (Deutschland) 20.772.000 (Welt)
1936
3.127.000
2.890.000
791.217
k. A.
k. A.
k. A.
1937
3.211.000
3.330.000
948.833
45.600.000
k. A.
k. A.
1938
3.774.000
4.200.000
924.222
k. A.
173.233.833
6.442.000 (Deutschland) 28.266.000 (Welt)
1939
3.866.000
4.920.000
959.680
52.900.000 (Mitarbeiter: 1.369)113
k. A.
k. A.
1940
3.911.000
5.125.000
1.035.621
k. A.
k. A.
k. A.
1941
4.894.000
7.936.000
1.396.829
k. A.
k. A.
k. A.
1942
5.860.000 (Mitarbeiter: 553)
8.800.000 1.603.863 (Mitarbei- (Mitarbeiter: 300) ter: 82)
67.400.000
k. A.
k. A.
1943
6.196.000
k. A.
355.835.746
k. A.
8.132.000
1.421.110
226 Jahr
Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang Schwabe
Sandoz, Nürnberg
Henning, Hoechst, Berlin Pharmabereich, Frankfurt am Main
I. G. Farben, Pharmabereich
Schering, Berlin
1944
6.816.000 (Mitarbeiter: 666)
6.038.000 1.529.572 (Mitarbei- (Mitarbeiter: nicht ter: 104) bekannt)
k. A.
281.649.702 (Mitarbeiter: 6.341)
k. A.
1945
4.823.555112
1.315.000
k. A.
k. A.
12.000.000 (Deutschland)
631.433
Die Nettoumsätze der Firma Schwabe zeigen bereits 1929, also noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, einen ersten Gipfel, den vor allem das neue in Paunsdorf entstandene Werk ermöglichte, das 1926 fertiggestellt worden war. Bis zur Machtergreifung Hitlers fielen die Umsätze dann jedoch wieder kontinuierlich, wohl eine Folge der schlechten wirtschaftlichen Situation, nicht zuletzt aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und der damit in Zusammenhang stehenden schwindenden Kaufkraft sowie des wachsenden Protektionismus im Welthandel. Nach 1933 stiegen die Umsätze dank der sinkenden Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Erholung, ab 1935 auch dank des zunehmenden Exportgeschäfts115 langsam wieder an, übertrafen aber erst 1938 den Umsatz von 1929. Solche dramatischen Steigerungsraten wie von 1928 auf 1929 um 50 Prozent fehlten allerdings. Dies gilt ebenso für die beiden letzten Friedensjahre 1938 und 1939 sowie für das erste volle Kriegsjahr 1940. Erst 1941 und 1942 sowie bedingt auch 1944 kam es wieder zu deutlichen Steigerungen. Da aber Wehrmachtslieferungen bei Schwabe eine nur sehr geringe Rolle spielten und nicht über zwei116 bis maximal vier Prozent lagen117, resultierten die Steigerungen aus dem allgemeinen, kriegsbedingt wachsenden Arzneimittelbedarf der Zivilbevölkerung. Tabelle 3 weist für ausgewählte Zeitspannen die erzielten prozentualen Umsatzsteigerungen der einzelnen Firmen aus.
113 Bartmann (2001), S. 109. 114 HStAD 11384, Nr. 3522, fol. 4: Umsätze der Jahre 1930–1947. Dass es sich um NettoUmsätze handelt, geht aus fol. 8 hervor. 115 Jäger (1991), S. 183. 116 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 8: Betr. Sonderaktion, Verwaltung Ag / B 1085 an die Industrie- und Handelskammer Leipzig, Wehrwirtschaftl. Abtl. z. Hd. Herrn Dr. Uhlig, [Leipzig], 4. April 1940. 117 Sie sollen nach Margarete Schwabe drei oder vier Prozent ausgemacht haben. Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe: Dipl.-Kfm. Rudolf Ronneberger an Dr. Wolfgang Schwabe, Leipzig, 17. Mai 1949, S. 2.
227
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit Tab. 3: Prozentuale Umsatzsteigerungen der Firmen in ausgewählten Zeitspannen118 Zeitspannen
Schwabe
Sandoz, HenNürnberg ning, Berlin
1925–1942
127,9 %
2.371,9 %
1927–1944
174,6 %
521,8 %
1927–1945
94,3 %
35,4 %
1928–1944
207 %
389,3 %
86,5 %
k. A.
Hoechst, Pharmabereich, Frankfurt am Main
I. G. Farben, Pharmabereich
Schering, Berlin
254,7 %
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
245,6 %
k. A.
k. A.
k. A.
k. A.
164,3 %
k. A.
k. A.
k. A.
Ein Vergleich der Umsatzsteigerungen von Schwabe mit den in Tabelle 2 genannten Firmen bietet interessante Aufschlüsse: Die in Schweizer Besitz befindliche, aber in Nürnberg ansässige Firma Sandoz konnte ihren Umsatz von rund 1,7 (1933) auf rund 8,1 Millionen RM (1943) steigern – und damit wesentlich mehr als Schwabe im gleichen Zeitraum. Es fällt auf, dass dieses Unternehmen bereits in Friedensjahren nachhaltig von der wirtschaftlichen Belebung profitierte, denn bereits 1939 erzielte Sandoz rund 4,9 Millionen RM Umsatz. Bei der vor allem auf Schilddrüsentherapeutika spezialisierten Firma Henning in Berlin wuchs der Umsatz nur von rund 820.000 RM (1933) auf rund 1,5 Millionen RM (1944) und somit deutlich weniger als bei Schwabe. Die Hormonpräparate dieser Firma waren aber lebenswichtige Arzneimittel und wurden daher auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten von Ärzten verordnet, weshalb die Umsätze in den 1920er und frühen 1930er Jahren relativ stabil blieben. In den späteren Jahren erwiesen sich die Wachstumsmöglichkeiten indikationsbedingt als begrenzt. Demgegenüber weist die Pharmasparte der I. G. Farben mit ihren zahlreichen kriegswichtigen allopathischen Präparaten für die ärztliche Therapie wie Sulfonamide oder auch für die Selbstmedikation wie Aspirin® deutliche Steigerungen auf: 1935 betrug der Umsatz 96,5 Millionen RM, 1938 belief er sich auf rund 173 Millionen RM. Bis 1943 stieg er weiterhin rasant auf schließlich rund 356 Millionen RM, hatte sich also in den ersten Kriegsjahren nochmals verdoppelt. Die Pharmasparte der I. G. Farben AG erlebte also bereits in Friedenszeiten stärkere Umsatzsteigerungen als Schwabe und während des Zweiten Weltkrieges nochmals einen bedeutenden Anstieg, nicht zuletzt aufgrund umfangreicher Wehrmachtslieferungen von Arzneimitteln wie Chemotherapeutika und stark wirksamen Analgetika.119 Zu Schwabes unmittelbarem Konkurrenten Madaus finden sich in der Literatur keine Umsatzzahlen. Allerdings gibt es in der Dissertation von Gert Dietrichkeit Angaben zur Anzahl der Mitarbeiter zwischen 1919 und 1939, die in der Tabelle 4 widergegeben werden.120 118 Errechnet anhand der Tabelle 2 »Umsatzentwicklung pharmazeutischer Firmen zwischen 1925 und 1944«. 119 Bartmann (2001), S. 152 f.; Lindner (2005), S. 312. 120 Dietrichkeit (1991).
228
Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
Tab. 4: Anzahl der Mitarbeiter der Firma Madaus 1919–1939121 Jahr
Mitarbeiterzahl
1919
Unternehmensgründung, 1 Mitarbeiter und 3 Chefs (die Gebrüder Madaus)
1920
15
1923
Rückgang von 110 auf 60 (inflationsbedingt)
1925
150
1929
250
1935
460
1936
547
1939
700
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Mitarbeiter mit dem Umsatz der Firma korrelierte. Vermutlich dürfte er sogar noch stärker gestiegen sein, weil bei dem breiten Sortiment an Homöopathika mit dem Wachstum deutliche Skalen- und Rationalisierungseffekte eintraten, die sich positiv auf Umsatz (und Gewinn) auswirkten. Die Madaus-Zahlen belegen eindeutig und sicher noch viel klarer als die der bereits etablierten Firma Schwabe, dass die Naturheilmittelproduktion schon in der Weimarer Republik blühte und für ihre positive Entwicklung keineswegs der Förderung der NS-Medizinideologen bedurfte. Die Anzahl der Mitarbeiter stieg von 1919 bis 1929, in nur zehn Jahren, von vier auf 250 – und das trotz Nachkriegszeit und Inflation; 1923 gab es allerdings einen kurzzeitigen Rückgang. Die Ideen der Lebensreform-, Wandervogel- und Naturheilbewegung, die ja alle um 1900 blühten122, führten nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren zu einem beträchtlichen Anstieg der Umsätze bei Herstellern von Arzneimitteln der Komplementärmedizin. Dieser Aufschwung ging dann in der NS-Zeit, anfangs leicht gefördert, weiter. Dies zeigt sich auch in der anthroposophischen Medizin und Pharmazie: Steiner hatte seine grundlegenden Ideen bis 1920 propagiert, 1921 kam es zur Gründung der Weleda, die ebenfalls florierte.123 Die neugegründeten Unternehmen Weleda und Madaus nutzten diesen gesellschaftlichen »Mega-Trend« stärker als die bereits etablierte Firma Schwabe. Wie die von uns ermittelten Zahlen ausweisen, profitierte Schwabe nicht in besonderem Maße von der NS-Gesundheitspolitik, denn die »Neue Deutsche Heilkunde« hatte bereits 1936 ihren Zenit überschritten. Anfang 1937, nach Auflösung der »Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde«, mutierte sie zur »inhaltsleeren Worthülse«124, während der Umsatz der Firma Schwabe 1937 den von 1929 noch nicht wieder erreicht hatte. Nach 1933 waren es zunächst die sinkende Arbeitslosigkeit und die steigende Kaufkraft, die den Absatz der Schwabeschen Produkte förderten. Wegen der Kon121 122 123 124
Dietrichkeit (1991), S. 26–32. Rothschuh (1983), S. 105–117, 135 f. Werner (2014). Hofmann (2014), S. 16; Meyer (2004), S. 176 f.
229
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
kurrenz mit der Dresdener Firma Madaus forcierte Schwabe zudem in dieser Zeit die Produktion von warenzeichengeschützten Spezialitäten, die bessere Erlöse gegenüber den eher generischen Homöopathika und Schüßler-Salzen brachten. In den Kriegsjahren profitierte Schwabe dann von dem allgemein steigenden Arzneimittelbedarf der Bevölkerung. Fliegerangriffe dürften zu einem höheren Verkauf von Schlaf- und Beruhigungsmitteln wie dem damals noch cannabishaltigen Plantival® geführt haben. Kleinere Verletzungen behandelte man mit Hametum® (ein Wundpräparat aus der Zaubernuss), und bei der während des Krieges zunehmenden Mangelernährung fanden Stärkungsmittel wie Vitaplasgen® größeren Absatz.125 Homöopathische Globuli stillten zweckentfremdet den »Zuckerhunger« von Kindern.126 Tab. 5: Anteil der einzelnen Abteilungen am Gesamtumsatz in Prozent und absolut 1940–1944127 1940
1941
1942
1943
1944
47,9 % 1.839.892
46,6 % 2.216.847
49,1 % 2.773.459
48,7 % 3.232.265
44,8 % 3.021.922
0,7 % 27.724
0,8 % 37.751
0,6 % 35.677
–
–
10,5 % 404.025
10,9 % 516.022
6,8 % 381.392
6,2 % 414.189
5,9 % 395.806
1,1 % 41.748
0,9 % 40.888
0,4 % 19.789
–
–
8,0 % 306.797
7,7 % 367.907
6,2 % 352.833
3,1 % 208.812
–
Spezialitäten
28,8 % 1.105.949
31,3 % 1.490.459
36,6 % 2.065.865
41,8 % 2.773.036
49,3 % 3.327.482
Handelsware
2,2 % 85.363
1,2 % 54.839
–
–
–
Porto u. Verpackung
0,7 % 27.732
0,6 % 30.203
0,3 % 17.632
0,1 % 8.500
0,03 % 2.153
100 % 3.839.230 (identisch)129
100 % 4.754.916 (4.808.586)
100 % 5.646.647 (5.722.956)
100 % 6.636.802 (6.563.560)
100 % 6.747.363 (6.746.990)
Homöopathie Collóo128 Biochemie Pflanzenmittel HamamelisPräparate
Gesamt
125 Zur monatlichen Produktion von Spezialitäten zwischen 1943 und 1944 siehe StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 1–97. 126 Schlick (2008), S. 397, 412. 127 Firmenarchiv der Riemser Pharma GmbH, Greifswald (Standort Leipzig): Netto-Umsätze der Firma Dr. Willmar Schwabe 1930 bis 1952. »–« zeigt an, dass die Produkte nicht weiter hergestellt wurden und somit keine Umsätze mehr mit ihnen erzielt werden konnten. 128 Bei Collóo handelt es sich um Kolloidpräparate. 129 Die Zahlen in Klammern sind die Originalsummen aus der Quelle. Da diese Summen jedoch bis auf das Jahr 1940 rechnerisch nicht korrekt sind, wurden hier die eigens errechneten Summen aus den einzelnen Spalten verwendet.
230
Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
Tab. 6: Anteil der verkauften Packungen der einzelnen Abteilungen in Prozent und absolut 1940–1944130
Homöopathie Collóo Biochemie Pflanzenmittel HamamelisPräparate Spezialitäten
1940
1941
1942
1943
1944
54,6 % 6.024.975
53,6 % 7.423.825
60,4 % 9.611.653
60,3 % 11.376.217
58,0 % 11.396.393
0,6 % 64.698
0,7 % 98.853
0,5 % 85.463
–
–
20,4 % 2.256.061
21,1 % 2.925.006
12,8 % 2.044.688
12,6 % 2.374.721
11,5 % 2.268.329
0,7 % 80.501
0,6 % 79.124
0,2 % 36.503
–
–
7,1 % 784.363
6,9 % 957.230
5,7 % 909.665
3,0 % 572.458
–
16,6 % 1.832.778
17,2 % 2.377.725
20,3 % 3.227.329
24,0 % 4.528.005
30,5 % 5.989.637
Wie Tabelle 6 zeigt, stieg die Anzahl der Packungen von Homöopathika bis 1944, was daran lag, dass Apotheken solche Arzneimittel aufgrund des hohen Personalaufwandes nicht mehr selbst herstellten, sondern als abgabefertige Packungen bei Schwabe bestellten.131 Zugleich wuchs auch der Anteil der Spezialitäten am Gesamtumsatz (siehe Tabelle 5) und überholte 1944 den der Homöopathika, obwohl von den Packungen nur 30,5 Prozent auf Spezialitäten entfielen und 58 Prozent auf homöopathische Arzneimittel. Demnach waren die Spezialitäten hochpreisiger als die Homöopathika. Der Umsatzanteil der biochemischen Mittel sank dagegen auf 5,9 Prozent. Arzneimittel von Schwabe waren nur in sehr geringer Anzahl im sogenannten »Brandt-Plan« aufgeführt. Dieses Verzeichnis stammte von Karl Brandt (1904–1948), dem Begleitarzt Adolf Hitlers, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS, der im Juli 1942 offiziell zum Generalbevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen ernannt worden war.132 Im September 1943 avancierte er zum Koordinator des gesamten Sanitäts- und Gesundheitswesens, und Hitler übertrug ihm die Leitung sowie Steuerung der medizinischen Wissenschaft, Forschung und der Einrichtungen, d. h. auch der Herstellung und Verteilung von Sanitätsmaterial.133 Für die Koordinierung der Fertigarzneimittelproduktion entstand der nach ihm benannte »Brandt-Plan«, der eine Liste der wichtigsten Arzneimittel war, »deren Herstellung die für die Volksgesundheit und Wehrmachtsversorgung maßgeblichen Stellen für vor-
130 Firmenarchiv der Riemser Pharma GmbH, Greifswald (Standort Leipzig): Netto-Umsätze der Firma Dr. Willmar Schwabe 1930 bis 1952. 131 Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe: Dipl.-Kfm. Rudolf Ronneberger an Dr. Wolfgang Schwabe, Leipzig, 17. Mai 1949, S. 2. 132 Erlaß (1942). 133 Zweiter Erlaß (1943).
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
231
dringlich erklärt haben«.134 In einem Schreiben an die Firma Schwabe vom April 1944 hieß es dazu: »Die Arzneimittel der Brandtliste sollen vordringlich hergestellt werden, d. h. es sind bei auftretenden Engpässen im Arbeitseinsatz, in der Energieversorgung, in Rohstoffen u. Ä. zunächst die Herstellungen voll zu versorgen. Erst dann dürfen andere, von Ihnen bisher erzeugte Arzneimittel weiter hergestellt werden, soweit Kapazitäten aller Art noch vorhanden sind.«135 Die Firma Schwabe erhielt im April 1944 eine Herstellungsanweisung136 nur für ›Glissitol‹ (monatlich 175 kg) und ›Traumaflid-Suppositorien‹ (monatlich 350 kg)137. Glissitol, ein »Cholagogum [galletreibendes Mittel] mit verstärkter Glyzerin-Gleitwirkung durch besonders wirksame Choleretica«, enthielt Ochsengalle, Rhabarber, Pfefferminzöl, Glycerin und homöopathische Urtinkturen. Die Traumaflid-Zäpfchen, die gegen Hämorrhoiden angewendet wurden, bestanden aus Arnika-Frischpflanzenauszug, Aluminiumacetat-Lösung, homöopathischen Urtinkturen sowie Kakaobutter, Wollwachs und Vaseline.138 Schwabe beantragte im Mai und September 1944 die Aufnahme weiterer Präparate in den »Brandt-Plan«, eine Bestätigung dieser Vorschläge erfolgte jedoch nicht mehr, denn am 8. November 1944 wurden alle bis dahin erteilten Herstellungsanweisungen für Arzneimittel und Bestätigungen über die Zugehörigkeit zum »Brandt-Plan« zum 1. Januar 1945 für nichtig erklärt.139 Vorangegangen war eine Intrige von Hitlers Leibarzt Theo Morell (1886–1948) gegen Brandt, die Anfang Oktober 1944 zu dessen Entlassung als Begleitarzt geführt hatte.140 Gewinnentwicklung der Firma Schwabe Neben den Umsatzzahlen der Firma Schwabe sind auch die Angaben zum Gewinn überliefert. 134 StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 82: Fachgruppe Pharmazeutische Industrie an Firma Dr. Willmar Schwabe, Berlin, Abtl. Forst/Laus., 29. April 1944. 135 StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 82: Fachgruppe Pharmazeutische Industrie an Firma Dr. Willmar Schwabe, Berlin, Abtl. Forst/Laus., 29. April 1944. Hervorhebungen im Original. 136 Die staatliche Reglementierung zur Koordinierung der Produktion durch sogenannte Herstellungsanweisungen (»Hersta«) begann spätestens mit Verkündung des ›Totalen Kriegs‹ Anfang 1943. Vgl. Wlasich (2011), S. 119. Bereits 1942 wurden Firmen mit besonders kriegswichtigen Fertigungen für Heereslieferungen in die höchste Dringlichkeitsstufe ›S. S.‹ (Sonderstufe) eingeordnet und zum Spezialbetrieb ernannt, wie etwa Roche Grenzach. Vgl. Bächi (2009), S. 200 f. 137 StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 84: Fachgruppe Pharmazeutische Industrie an Firma Dr. Willmar Schwabe, Berlin, Abtl. Forst/Laus., 29. April 1944. 138 StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 90: Kurzcharakteristik der Spezialpräparate; StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 87 f.: Rohstoffanforderung für die Präparate des Brandt-Plans. 139 O. A. (1944). 140 Klimpel (2005), S. 29–31; Bruppacher (2013), S. 517, 553, 556; Schmidt (2009), S. 492– 507.
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Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
Tab. 7: Reingewinn der Firma Schwabe 1925–1944141 Jahr
Reingewinn in RM
Jahr
Reingewinn in RM
1925
944.000
1935
515.000
1926
396.000
1936
383.000
1927
429.000
1937
362.000
1928
380.000
1938
419.000
1929
471.000
1939
335.000
1930
431.000
1940
635.000
1931
310.000
1941
1.177.000
1932
237.000
1942
1.717.000
1933
332.000
1943
1.861.000
1934
298.000
1944
1.530.000
Der deutliche Gewinnabfall von 1925 zu 1926 resultiert aus dem Neubau in Leipzig-Paunsdorf, denn der Umzug und die Produktionsverlagerung verursachten beträchtliche Kosten. Die Kredite reduzierten die Gewinne auch in den folgenden Jahren. Diese waren aber 1941 getilgt, Zinsen und Abschreibungen sanken, so dass die Gewinne nun deutlich zunahmen. Gleichzeitig erlebte das großzügig geplante Werk in Paunsdorf durch das Umsatzwachstum während des Krieges nun seine volle Auslastung. Zudem war der Gewinnanstieg wohl auch die Folge deutlicher Skaleneffekte bei unterproportional wachsenden Mitarbeiterzahlen sowie einer erheblichen Veränderung der Sortimentsstruktur in Richtung margenstarker Spezialitäten.142 Ob diese höheren Gewinne auch – wie Hofmann, gestützt auf die Akten zum Prozess gegen die Brüder Schwabe, behauptet – Folge einer Kriegsproduktion »ohne Rücksicht auf die Belange der Zivilbevölkerung« aufgrund vielfältiger Wehrmachtsaufträge, Lieferungen an Wehrmachtsapotheken, Wehrmachtslazarette, Wehrmachtsinspektionen und Wehrkreissanitätsparks waren143, soll im Folgenden untersucht werden. Wehrwirtschaftliche Bedeutung der Firma Schwabe Am 25. September 1937 teilte das Reichs- und Preußische Wirtschaftsministerium Willmar III mit, dass seiner Firma eine »wehrwirtschaftliche Bedeutung«
141 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8, fol. 25 f., hier S. 7 f.: Bericht über die bei der Firma Dr. Willmar Schwabe […] vorgenommene Buch- und Betriebsprüfung, Karl Fritz Moser, Leipzig, 20. Juni 1949. 142 Persönliche Mitteilung von Klaus-Peter Schwabe, Karlsruhe, 11. November 2014. 143 Hofmann (2014), S. 95–98.
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
233
zukomme.144 Im Oktober 1937 avancierte Willmar III zur Vertrauensperson für wehrwirtschaftliche Fragen seines Unternehmens. Er verpflichtete sich, »insbesondere strengstes Stillschweigen über [s]eine Tätigkeit […] zu wahren« und Auskünfte an das Wirtschaftsministerium über wehrwirtschaftliche Fragen seines Betriebes »nach bestem Wissen und Gewissen ohne Rücksicht auf die Betriebsinteressen zu erteilen«.145 Im Staatsarchiv Leipzig befinden sich zahlreiche Schreiben von Krankenhäusern, die für wehrwirtschaftliche Zwecke ausgestellt wurden. Sie bestätigten der Firma Schwabe die Wirksamkeit ihrer Heilmittel, so beispielsweise die Universitäts-Frauenklinik Tübingen am 13. November 1943 zu Klimaktoplant®146, das verschiedene homöopathische Urtinkturen bzw. niedrige Verdünnungen enthielt147. Diese Schreiben der Kliniken dienten vor allem dazu, »Herstellungsanweisungen« für den »Brandt-Plan« und damit die nötigen Rohstoffe für die Produktion zu erhalten. Die Firma Dr. Willmar Schwabe war während des Zweiten Weltkrieges aufgrund der Bewirtschaftung von der Zuteilung der Rohstoffe durch die Fachgruppe Pharmazeutische Erzeugnisse der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie abhängig.148 Die »wehrwirtschaftliche« Bedeutung sicherte ihr die Existenz. Andere Firmen hingegen wie die Weleda, die diesen Status nicht erhalten hatten und sogar einen Stilllegungsbescheid für den Betrieb bekamen, kämpften um Fristverlängerung der erteilten Fertigungserlaubnis. Die Weleda erreichte die Genehmigung zur Weiterproduktion mit Hilfe ärztlicher Bescheinigungen aus Privatpraxen oder Kliniken über die Wirksamkeit ihrer Präparate. Zuvor hatte die Reichsstelle Chemie die Firma ausdrücklich aufgefordert, solche Belege schnellstmöglich einzureichen.149 Nach Margarete Schwabe sollen Wehrmachtslieferungen drei oder vier Prozent des Gesamtumsatzes ausgemacht haben.150 Ein langjähriger Mitarbeiter der Firma Schwabe, Walter Heinrich (1897–1988), kaufmännischer Angestellter seit 1919 und seit 1942 Prokurist der Versandabteilung, gab in 144 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Sächsische Staatskanzlei, Leiter der Außenstelle des Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministeriums an Dr. Willmar Schwabe, Dresden, 25. September 1937; Hofmann (2014), S. 95. 145 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Verpflichtungserklärung von Dr. Willmar Schwabe, Sächsische Staatskanzlei, Dresden, 7. Oktober 1937. 146 Klimaktoplant enthielt homöopathische Verdünnungen bzw. Urtinkturen von Ignatia, Traubensilberkerze (Cimicifuga), Blasentang (Fucus), Tintenfisch (Sepia), Buschmeisterschlange (Lachesis) und Blutwurz (Sanguinaria). Vgl. StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 18: Zusammensetzung und Rohstoffbedarf für Klimaktoplant-Herstellung, [1944]. Es hat heute eine geänderte Zusammensetzung, siehe http://www.klimaktoplant.de/klimaktoplantr-n/wirkstoffe.html (letzter Zugriff: 18.11.2015). 147 StAL, Bestand 20706, Nr. 236, fol. 19: Universitäts-Frauenklinik Tübingen an die Firma Wilmar [sic!] Schwabe, Tübingen, 13. November 1943. 148 StAL, Bestand 20706, Nr. 217, fol. 85: [Fa. Schwabe] an die Fachgruppe Pharmazeutische Erzeugnisse der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie, [Leipzig], 10. Mai 1944. 149 Werner (2014), S. 171. 150 Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe: Dipl.-Kfm. Rudolf Ronneberger an Dr. Wolfgang Schwabe, Leipzig, 17. Mai 1949, S. 2.
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seiner Vernehmung durch die Kriminalpolizei Leipzig im Zuge der Ermittlungen gegen die Firma Schwabe jedoch zu Protokoll: »Ich kann mich entsinnen, daß während des Krieges auch an Wehrmachtsinspektionen, Wehrmachtsapotheken sowie Wehrkreissanitätsparks geliefert wurde. In erster Linie wurden Tinkturen, Dilutionen und Salben geliefert. Spezialitäten wurden weniger verlangt.«151 Originalquellen wie Lieferscheine oder Ähnliches konnten jedoch nicht gefunden werden. Aus einem Schreiben der Firma Dr. Willmar Schwabe an die wehrwirtschaftliche Abteilung der Industrie- und Handelskammer Leipzig im April 1940 geht hervor, dass zwei Prozent des erzielten Umsatzes des Unternehmens auf direkte Wehrmachtsaufträge entfielen.152 Für die deutsche Kriegsmarine ließ sich trotz umfangreicher Studien kein einziges Arzneimittel der Firma Schwabe nachweisen.153 Auch innerhalb der Sanitätsausrüstung des Heeres und der Luftwaffe werden keine Arzneimittel von Schwabe erwähnt.154 Zudem findet sich keine einzige Spezialität der Firma Schwabe im »Arzneiheft für Heer und Luftwaffe« vom 1. August 1939, in dem nach der Heeresdienstvorschrift 183 »alle im Heer und in der Luftwaffe planmäßigen Arzneimittel, soweit sie nicht schon im Deutschen Arzneibuch aufgeführt sind«, gelistet waren. Bei der Wehrmacht mussten nur diese Arzneimittel vorrätig gehalten werden; andere konnten »nur im Ausnahmefall und dann nur mit Genehmigung durch den Wehrkreisarzt von den Apotheken der Reservelazarette beschafft werden«.155 Bei den Vorwürfen umfangreicher Wehrmachtslieferungen spielte aber wohl auch die Herstellung von Arzneimitteln durch den Wehrkreissanitätspark IV Leipzig in Paunsdorf eine Rolle. Anfang 1944 nutzte dieser zeitweise Räumlichkeiten der Firma Dr. Willmar Schwabe in Leipzig – vermutlich, weil seine Produktionsstätte bei den schweren Angriffen auf Leipzig im Dezember 1943 beschädigt worden war –, um dort Ampullen zu produzieren; dies bestätigt auch eine Benachrichtigung über den Stromverbrauch der Firma Schwabe an die Wirtschaftskammer Leipzig.156 Schwabe konnte sich aber vermutlich gegen diese »Einquartierung« nicht wehren. Hofmanns Behauptungen, dass »vielfältige Wehrmachtsaufträge« vorgelegen hätten, in »verstärktem Maße« Lieferungen an Wehrmachtsabteilungen erfolgten und dass daraus »erhebliche Kriegsgewinne« erzielt worden seien157, ist daher zu widersprechen.
151 HStAD, Bestand 13471, Nr. ZM 576 A8 [ohne Paginierung]: Polizeipräsidium Leipzig, Vernehmung von Walter Heinrich, Leipzig, 29. April 1949. 152 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 8: Betr. Sonderaktion, Verwaltung Ag / B 1085 an die Industrie- und Handelskammer Leipzig, Wehrwirtschaftl. Abtl. z. Hd. Herrn Dr. Uhlig, [Leipzig], 4. April 1940. 153 Vongehr (2014). 154 Zabler (1942), S. 126–175, 358–360; Müller (1993), S. 225–285. 155 Deckenbrock (1984), S. 3. 156 HStAD, Bestand 11384, Nr. 3522, fol. 42: [Schwabe] an die Wirtschaftskammer Leipzig, [Leipzig], 3. Februar 1944. 157 Hofmann (2014), S. 95 f.
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
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Es fanden sich schließlich trotz intensiver Recherchen auch keinerlei Hinweise, dass die Firma Schwabe für die bekannten Dachauer KZ-Versuche mit Schüßler-Salzen Präparate geliefert, von den verbrecherischen Menschen-Experimenten gewusst oder diese gar beauftragt hätte. Resümee Wie fast alle in der NS-Zeit arbeitenden Unternehmen unterzog sich auch die Firma Schwabe der »Gleichschaltung«. Allerdings gab es hier Unterschiede: Willmar Schwabe II hielt bewusst Distanz zur neuen Politik, konnte aber nicht verhindern, dass die in seinem Verlag herausgegebenen, an Laien gerichteten Zeitschriften die vom Goebbelsschen Reichspropagandaministerium aufoktroyierte »rassenhygienische« Propaganda verbreiteten. Der Duktus der beiden von der Firma Schwabe herausgegebenen Periodika – der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie und der Biochemischen Monatsblätter – ähnelt sehr demjenigen der Konkurrenz, nämlich der Zeitschrift für Biochemie und der Homöopathischen Monatsblätter. Diese wurden nicht von einem pharmazeutischen Unternehmen, sondern von den Vereinen »Biochemischer Bund Deutschlands« bzw. der vor allem in Württemberg stark vertretenen »Hahnemannia« publiziert.158 Die Leipziger Populäre und die Biochemischen Monatsblätter unterscheiden sich von der ebenfalls bei Schwabe verlegten Allgemeinen Homöopathischen Zeitung insbesondere durch ihren massiven Einsatz für die »Rassenhygiene«. Die gegenüber Schwabe quasi autonome Redaktion der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung konnte dieses Thema möglicherweise weitestgehend ausblenden, weil es in anderen medizinischen Periodika behandelt wurde. Willmar III war bereits frühzeitig ein wohl zunächst überzeugtes Mitglied der NSDAP, während sein Bruder Wolfgang Schwabe vermutlich aus Opportunismus 1937 der Partei beitrat. Obwohl nach außen hin beide Brüder den Eindruck zu erwecken suchten, ihren Betrieb im nationalsozialistischen Sinne zu führen, finden sich selbst in den Ermittlungsakten, die zwecks Enteignung das Ziel verfolgten, die Mitschuld der Schwabe-Brüder nachzuweisen, keine überzeugenden Belege für ihr Auftreten als Nationalsozialisten. Dies bestätigt auch ihre immer wieder monierte geringe Spendenfreudigkeit für nationalsozialistische Organisationen. Das 75-jährige Firmenjubiläum stand hingegen ganz im Zeichen des Nationalsozialismus, und es gab im Firmenalltag die geforderten Betriebsappelle sowie nationalsozialistische Propagandabroschüren, die verteilt wurden. Den während des Krieges überwiegend weiblichen Mitarbeitern blieb aber vermutlich für politische Aktivitäten wenig Zeit und Kraft, denn Beruf, Familie und später kriegsbedingte Sorgen forderten sie zunehmend. Die Anzahl der Fremdarbeiter war bei Schwabe im Vergleich zu anderen Unternehmen gering, ihre Bezahlung unterschied sich kaum von derjenigen 158 Karrasch (1998), S. 130.
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Christoph Friedrich, Ulrich Meyer und Caroline Seyfang
deutscher Mitarbeiter. Wie die Analyse der Umsatz- und Gewinnzahlen zeigt, war die Firma kein besonderer Profiteur der NS-Gesundheitspolitik im Sinne der »Neuen Deutschen Heilkunde«, so dass die von Meyer 2004 publizierten Ergebnisse bestätigt werden können.159 Die Umsätze stiegen zwar in der NS-Zeit wie bei allen Arzneimittelherstellern, jedoch vornehmlich aufgrund des kriegsbedingten Mehrverbrauches von Medikamenten durch die Zivilbevölkerung. Die Schwabeschen Arzneimittel waren während des Krieges im Unterschied zu denen allopathischer Firmen für die Wehrmacht von marginaler Bedeutung. Dies wird zum einen dadurch belegt, dass nur zwei ihrer Arzneimittel im »Brandt-Plan« – der Liste der wichtigsten Arzneimittel für die »Volksgesundheit« und Wehrmachtsversorgung – vertreten waren. Zum anderen findet sich auch im »Arzneiheft für Heer und Luftwaffe« vom 1. August 1939 nicht eine einzige Spezialität der Firma. Dies erklärt zugleich den geringen Umfang von Wehrmachtslieferungen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Familienbetrieb sicherlich kein Hort des Widerstandes, aber auch keine besondere Pflegestätte der NSIdeologie war. Seine Besitzer bemühten sich allerdings, den Forderungen des NS-Staates weitgehend nachzukommen, um trotz schwieriger wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen die Produktion und damit die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln aufrechterhalten zu können. Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin) – NSDAP-Gaukartei (ehem. BDC): Platz, Hugo, Nr. 2431295; Schwabe, Willmar, Nr. 1245518; Schwabe, Wolfgang, Nr. 5800329 – RÄK (ehem. BDC): Schwabe, Carl Reinhold Willmar – VBS 1, Nr. 1110030119: Schwabe, Willmar, Personalakten – VBS 283, Nr. 6055004951: Schwabe, Willmar, Personalakten Bundesarchiv Freiburg/Brsg. (BArch Freiburg) – Militärarchiv RW59, Nr. 2090: Kartei: Sanitätsoffiziere der Reserve: Dr. Schwabe Willmar geb. 20.12.07 Firmenarchiv der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe – Beschluss des 1. Strafsenats des Bezirksgerichts Chemnitz vom 19. September 1991 – Dipl.-Kfm. Rudolf Ronneberger an Dr. Wolfgang Schwabe, Leipzig, 17. Mai 1949 – Firma Dr. Willmar Schwabe an die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, Zustimmungserklärung, Leipzig, 14. Juni 1933, 6. Juli 1934, 30. Juni 1935, 30. Juni 1936, 28. Juni 1937, 22. September 1938 (Quartalsmeldung von 576,75 RM = 2.307,-/Jahr), 26. Juni 1939, 20. Juni 1940, 1. Juli 1941, 7. Juli 1942, 5. Juli 1943 und 15. Oktober 1944 Firmenarchiv der Riemser Pharma GmbH, Greifswald (Standort Leipzig) – Netto-Umsätze der Firma Dr. Willmar Schwabe 1930 bis 1952 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) – Bestand 465h, Nr. 21293: Sühnebescheid Spruchkammer Karlsruhe vom 26. April 1948, Reinhold Schwabe, Arzt und Apotheker, geb. 20. Dezember 1907 159 Meyer (2004), S. 177.
Die Firma Willmar Schwabe in der NS-Zeit
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Gedruckte Quellen und Literatur Bächi, Beat: Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933–1953). (=Interferenzen 14) Zürich 2009. Bahmann, Reinhold: Deutscher zwischen deutschen Ahnen und deutschen Enkeln. In: Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie 64 (1933), S. 230 f. Bartmann, Wilhelm: Zwischen Tradition und Fortschritt. Aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935–1975. Diss. phil. Frankfurt/Main 2001. Berggreen, Paul; Kuhlmann, Fritz: Nachruf für Professor Wilhelm Hildebrandt. In: Münchner Medizinische Wochenschrift 81 (1934), S. 684 f. Bernschneider-Reif, Sabine: Zwangsarbeit – Aufarbeitung – Aufbauarbeit. Möglichkeiten eines pharmazeutischen Unternehmens gegen das Vergessen und für die Zukunft. In: Geschichte der Pharmazie 54 (2002), S. 33–37. Bothe, Detlef: Neue Deutsche Heilkunde 1933–1945. Dargestellt anhand der Zeitschrift »Hippokrates« und der Entwicklung der volksheilkundlichen Laienbewegung. (=Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 62) Husum 1991. Bruppacher, Paul: Adolf Hitler und die Geschichte der NSDAP. Eine Chronik. Teil 2: 1938– 1945. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Norderstedt 2013. Deckenbrock, Walter: Die Versorgung der Wehrmacht (Heer und Luftwaffe) mit Arzneimitteln im Zweiten Weltkrieg. (=Düsseldorfer Arbeiten zur Geschichte der Medizin, Beiheft X) Düsseldorf 1984. Dietrichkeit, Gert: Gerhard Madaus (1890–1942). Ein Beitrag zu Leben und Werk. Diss. rer. nat. Marburg 1991. Drucksache 16/3811: Antrag auf Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, 13. Dezember 2006, online unter http://dip21. bundestag.de/dip21/btd/16/038/1603811.pdf (letzter Zugriff: 18.11.2015).
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Internet http://www.klimaktoplant.de/klimaktoplantr-n/wirkstoffe.html (letzter Zugriff: 18.11.2015)
ISSN 0939-351X