Medizin, Gesellschaft und Geschichte 32 351510769X, 9783515107693

Das Jahrbuch des IGM beinhaltet als Themenschwerpunkt Pflegegeschichte. S. Wildman zeigt am Beispiel Englands im Zeitrau

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German Pages 272 [274] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Anschriften der Verfasser
Editorial
I. Zur Sozialgeschichte der Medizin
“Docile bodies” or “impudent” women: conflicts betweennurses and their employers, in England, 1880-1914
Conflicting chains of command in Dutch Catholic nursing
(1839-1966)
Fighting for one’s own health – care as a cause of illness
Alltag im Krankenhaus – Normen und Konflikte am Beispieldes Wiener »Rothschild-Spitals« um 1900
Gemeindepflege um 1900
»Die praktische Außenarbeit in der Tuberkulosefürsorge steht und fällt mit der Tuberkulosefürsorgeschwester«.
»Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens« – Entwicklung der offenen Altenhilfe von der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1970er Jahre
Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander
Eine »Pflicht der Humanität und Ehre der deutschen Judenheit«:
Jüdische Gehörlose in Deutschland 1800-1933. Blicke in die Geschichte einer doppelten Minderheit
II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen
Die Grippe-Pandemie nach dem Ersten Weltkrieg und dieHomöopathie im internationalen Vergleich
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Medizin, Gesellschaft und Geschichte 32
 351510769X, 9783515107693

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte MedGG 32

Franz Steiner Verlag Stuttgart

32

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Band 32

Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Band 32 (2014) herausgegeben von Robert Jütte

Franz Steiner Verlag

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M.A. Layout: Arno Michalowski, M.A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart www.steiner-verlag.de/medgg Publikationsrichtlinien unter: www.igm-bosch.de/content/language1/downloads/RICHTL1-neu.pdf www.steiner-verlag.de/programm/jahrbuecher/medizin-gesellschaft-und-geschichte/publikationsrichtlinien.html Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0939-351X ISBN 978-3-515-10769-3 (Print) ISBN 978-3-515-10770-9 (E-Book)

Inhalt

I.

Anschriften der Verfasser

7

Editorial

8

Zur Sozialgeschichte der Medizin Themenschwerpunkt: Pflegegeschichte Stuart Wildman “Docile bodies” or “impudent” women: conflicts between nurses and their employers, in England, 1880-1914

9

Annelies van Heijst Conflicting chains of command in Dutch Catholic nursing (1839-1966)

21

Marion Baschin Fighting for one’s own health – care as a cause of illness

35

Elisabeth Malleier Alltag im Krankenhaus – Normen und Konflikte am Beispiel des Wiener »Rothschild-Spitals« um 1900

51

Bettina Blessing Gemeindepflege um 1900

69

Sylvelyn Hähner-Rombach »Die praktische Außenarbeit in der Tuberkulosefürsorge steht und fällt mit der Tuberkulosefürsorgeschwester«. Anforderungen in der ambulanten Versorgung: Das Beispiel der Tuberkulosefürsorgerinnen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

93

Kristina Matron »Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens« – Entwicklung der offenen Altenhilfe von der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1970er Jahre

111

Jürgen Schlumbohm Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander: Anonyme Geburten im Göttinger Accouchierhaus 17941819

137

Claudia Prestel Eine »Pflicht der Humanität und Ehre der deutschen Juden-

II.

heit«: Die »Schwachsinnigenfürsorge« am Beispiel der Israelitischen Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder Wilhelm-Auguste-Victoria-Stiftung in Beelitz e. V.

167

Ylva Söderfeldt Jüdische Gehörlose in Deutschland 1800-1933. Blicke in die Geschichte einer doppelten Minderheit

207

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen Stefanie Jahn Die Grippe-Pandemie nach dem Ersten Weltkrieg und die Homöopathie im internationalen Vergleich

231

Anschriften der Verfasser

Marion Baschin, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected]

Kristina Lena Matron, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected]

Bettina Blessing, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected]

Claudia Prestel, Dr. School of History University of Leicester UK-Leicester LE1 7RH [email protected]

Sylvelyn Hähner-Rombach, Dr. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Annelies van Heijst, Prof. Dr. Tilburg University Postbus 90153 NL-5000 LE Tilburg [email protected] Stefanie Jahn Seewartenstr. 10 20459 Hamburg [email protected] Elisabeth Malleier, Dr. Maroltingergasse 56-58/4/12 A-1160 Wien [email protected]

Jürgen Schlumbohm, Prof. Dr. Dr. h. c. Jenaer Str. 33 37085 Göttingen [email protected] Ylva Söderfeldt, Dr. Uniklinik RWTH Aachen Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Wendlingweg 2 52074 Aachen [email protected] Stuart Wildman, Dr. School of Health and Population Sciences College of Medical and Dental Sciences 52 Pritchatts Road UK-University of Birmingham B15 2TT [email protected]

Editorial Das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat seit vielen Jahren bereits einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit auf die Pflegegeschichte gelegt. Das spiegelt sich auch in der Beiheftreihe zu dieser Zeitschrift wider, in der bereits einige Dissertationen zur Geschichte der Krankenpflege sowie eine Quellenedition erschienen sind. Zum ersten Mal hat nun das Jahrbuch des IGM einen solchen Themenschwerpunkt. Auch in der Geschichte war das Verhältnis von Krankenschwestern zu ihrem Arbeitgeber nicht frei von Konflikten, wie Stuart Wildman am Beispiel Englands im Zeitraum von 1880 bis 1914 aufzeigt. Interne Hierarchien konnten ebenfalls zu Streit im Pflegebereich führen, wie Annelies van Heijst für die Niederlande deutlich macht und dabei zudem die katholische Krankenpflege in den Blick nimmt. Marion Baschin geht der Frage nach, welche gesundheitlichen Folgen die private häusliche Krankenpflege für die Ausübenden haben konnte. Elisabeth Malleier ermöglicht uns einen Blick in die nicht weniger konfliktreiche Welt eines jüdischen Krankenhauses in Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wenig bekannt war bislang auch, wie die Gemeindepflege um 1900 aussah. Diese Lücke schließt jetzt die Studie von Bettina Blessing. Sylvelyn Hähner-Rombach untersucht die Arbeit einer wenig bekannten Gruppe von Krankenschwestern, der Tuberkulosefürsorgerinnen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts noch eine wichtige Rolle in der Bekämpfung einer weitverbreiteten »Volksseuche« spielten. Die Zeitgeschichte der Krankenpflege ist mit einem Beitrag von Kristina Matron vertreten. Sie skizziert am Frankfurter Beispiel die Entwicklung der offenen Altenhilfe von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu Beginn der 1970er Jahre. Außerhalb des Themenschwerpunkts sind zwei Beiträge angesiedelt, die einen patientengeschichtlichen Fokus haben. Jürgen Schlumbohm wertet eine bislang unbekannte Quelle zur Geschichte der Geburtshilfe im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aus und verweist auf die Möglichkeit zur anonymen Geburt in dieser Zeit. Claudia Prestel zeigt auf, wie jüdische Familien vor 1933 mit ihren geistig zurückgebliebenen Kindern umgingen und welche Versorgungsmöglichkeiten es für diese Randgruppe gab. Auch wenn Gehörlose sich nicht als Patienten sahen, sondern als eine kulturell anders lebende Minderheit, so passt gleichwohl der letzte Beitrag zur Sozialgeschichte der Medizin von Ylva Söderfeldt in diesen Kontext, nämlich der Gesundheitsfürsorge im Judentum. Die zweite Sektion dieser Zeitschrift, die traditionsgemäß Aufsätze zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen vorbehalten ist, weist diesmal nur einen, dafür aber sehr substantiellen Beitrag auf, nämlich die vergleichende Untersuchung von Stefanie Jahn zur homöopathischen Behandlung von Opfern der sogenannten »Spanischen Grippe« am Ende des Ersten Weltkriegs. Stuttgart, im März 2014

Robert Jütte

I.

Zur Sozialgeschichte der Medizin

Themenschwerpunkt: Pflegegeschichte

“Docile bodies” or “impudent” women: conflicts between nurses and their employers, in England, 1880-1914 Stuart Wildman Zusammenfassung »Gelehrige Körper« oder »dreiste« Frauen: Auseinandersetzungen zwischen Krankenschwestern und ihren Arbeitgebern in England, 1880 bis 1914 Wenn Historiker über Konflikte in der Krankenpflege im England des 19. Jahrhunderts schreiben, konzentrieren sie sich auf die großen Auseinandersetzungen, die in London zwischen Ärzten oder Schwesternschaften und Krankenhausgremien ausgetragen wurden. Im frühen 20. Jahrhundert richtete sich das Interesse an Konflikten oft auf die aufkommenden Gewerkschaften bei den Angestellten der Nervenanstalten und die Einführung von Streiks als Mittel zum Erzwingen besserer Arbeitsbedingungen. Das Interesse an Auseinandersetzungen, die sich auf die alltägliche Routine im Krankenhaus zur damaligen Zeit bezogen, hält sich dagegen in Grenzen. Krankenschwestern wurden von Organisationen ausgebildet und angestellt, die über strenge Vorschriften verfügten, lange Arbeitszeiten, Arbeitspläne und pflegerische Tätigkeiten rund um die Uhr diktierten und absoluten Gehorsam verlangten. Im späten 19. Jahrhundert konnte man von Krankenschwestern tatsächlich im Foucaultschen Sinne als »gelehrigen Körpern« sprechen. Von den überlieferten Aufzeichnungen beziehen sich viele auf Disziplinierungsmaßnahmen, aber wenige davon betrafen Krankenschwestern – besonders als Gruppen, die Beschwerden vorbrachten oder Entscheidungen der Obrigkeit in Frage stellten. Es gab Auseinandersetzungen, aber sie wurden gewöhnlich nicht systematisch dokumentiert. Die Fälle, die in den Akten von Einrichtungen festgehalten wurden oder sogar in die fachliche oder allgemeine Presse vordrangen, beziehen sich auf Gruppen von Krankenschwestern, die sich der Obrigkeit widersetzten und gegen Entscheidungen, Misshandlung, Diskriminierung oder unzumutbare Arbeits- oder Lebensbedingungen protestierten. Basierend auf den Aufzeichnungen mehrerer Organisationen und auf Berichten in Fachzeitschriften und Zeitungen untersucht der Beitrag die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. Dabei identifiziert er eine Reihe von Konflikten und analysiert die Vorgehensweise der Krankenschwestern sowie die Reaktionen ihrer Arbeitgeber. Vergleiche zwischen Krankenschwestern und anderen weiblichen Arbeitskräften werden diskutiert. Zum Teil können diese kleineren Auseinandersetzungen als Wegbereiter der Gewerkschaften und Arbeitskampfmaßnahmen gesehen werden, die in den 1920er Jahren aufkamen. Insgesamt zeigen diese Konflikte, dass es Krankenschwestern gab, die es – anstatt passiv zu bleiben – in Kauf nahmen, als »dreist« abgestempelt zu werden, weil sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen und sich für bessere Bedingungen einsetzten.

MedGG 32  2014, S. 9-20  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Stuart Wildman

Introduction Conflict is a constant feature that appears in narratives of nursing reform during the nineteenth century. The first are concerned with the old style nurses in hospitals and in particular with their conduct before and during the Crimean war. Later, much attention has been given to major disputes between nursing sisterhoods, doctors and hospital managers in London.1 Discussion of conflict in the early twentieth century has often centred on the rise of trade unions amongst mental asylum workers and the advent of the strike as a means of demanding better conditions of service.2 Little attention has been given to disputes about everyday life and work in hospitals and nursing associations in this period. There are many examples, in surviving records, of individuals being subjected to disciplinary action for misdemeanours but few concerning nurses airing grievances or disputing decisions made by those in authority. This exploratory paper examines the period up until the First World War. This paper examines the nature of nursing reform and its influence upon the everyday working conditions and quality of life of nurses in a variety of institutions. It identifies and discusses a number of disputes between groups of nurses and their employers across the time period. Reasons for the occurrence of conflict will be put forward and discussed in the light of changes within society. The reaction of employers, the leaders of the nursing profession and the nursing press will be addressed and conclusions that compare nurses with other female workers put forward. In order to progress it is necessary to describe the nature of the institutions that are included within this study. During the nineteenth and early twentieth centuries health care in Britain differed for the social classes. The rich purchased medical and nursing care in the open market, and received that care in their own homes. For working people there were different systems. Some could subscribe to clubs or friendly societies that provided medical care in times of need. Many treated themselves by consulting medical and home care manuals. For the poor there were two systems. For the respectable working poor a network of voluntary or charitable hospitals, dispensaries and nursing societies founded by philanthropists provided either care in the hospital or in the patient’s own home, without charge. The employment and training of nurses was an integral part of this system. The indigent poor, those who had no job or were unable to work, were admitted to workhouses founded under the Poor Law system and funded by local taxes. This system was administered by paid officials and overseen by the guardians of the poor, elected by local tax payers and who met at least monthly to consider management issues. Workhouses offered medical care for those in need and from the late nineteenth century special wards and separate hospi1

See for instance: Waddington (1995).

2

See for instance: Carpenter (1988).

“Docile bodies” or “impudent” women

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tals were constructed by local poor law authorities for the sick poor. By the early twentieth century a network of public hospitals had been established and these too moved towards employing trained nurses and establishing their own training schools. It is the voluntary hospitals and societies and the relatively new poor law or public hospitals which are the focus of this study. Nurse Training and work Nightingale’s experience of supervising nurses in the Crimean war influenced her views regarding the future organisation of nursing. Between November 1854 and November 1855, 44 nurses out of a total of the 108 who had been recruited were dismissed, of these all 12 who were alcoholics and the 4 dismissed for impropriety were working-class nurses.3 The situation in the voluntary hospitals in Britain was said to be no different with nurses accused of drunkenness, the use of abusive language, failure to control tempers, leaving the wards and hospital without permission, stealing from the patients and the hospital, demanding payment from patients and relatives, cruelty to patients, and sexual liaisons with patients and medical students.4 This was accompanied by widespread condemnation of domiciliary nurses, typified in Charles Dickens’s portrayal of Sarah Gamp, by those wishing to reform nursing. Although this stereotype has been challenged in recent years it had great resonance in mid-nineteenth century Britain.5 Nightingale thought that some of the best nurses in the Crimea were working-class women with hospital experience but many lacked the moral discipline to be able to practice without supervision. In order to reform nursing the hospital and its management systems needed to be transformed. As part of her strategy for reform, Nightingale was convinced that there was a need for a trained female head of nursing within hospitals. She believed that the success of nursing depended upon: The authority and discipline over all the women of a trained lady-superintendent who is also matron of the hospital, and who is herself the best nurse in the hospital, the example and leader of her nurses in all that she wishes her nurses to be.6

The position of the matron or Lady Superintendent was to become crucial in the reform and modernisation of nursing. A major achievement of the Nightingale reforms was to promote a female chain of command in the hospital, at the apex of which was the hospital matron with her expanded

3

Helmstadter: A real tone (2003), p. 12.

4

Helmstadter: A real tone (2003), pp. 17-22.

5

Summers (1989).

6

Nightingale (1883), p. 1039.

12

Stuart Wildman

managerial role.7 This included responsibility for recruitment, training and supervision of nurses during their working day. According to Nightingale Ward training is but half of training. The other half consists in women being trained in habits of order, cleanliness, regularity and moral discipline […] and the probationers under the matron’s immediate hourly direct inspection and control.8

A woman in a position of authority was expected to be able to ‘exhibit in her own person’ those qualities expected of a nurse and was required ‘to cultivate them in those who are placed under her’.9 The hospital was seen as the place in which the nurse would develop knowledge, skills and a disciplined way of working. More than knowledge and skills the hospital was to ensure that nurse training would inculcate a disciplined way of working. Florence Lees, a Nightingale trainee and subsequent active nurse reformer felt that: Hospital training in the full sense of the word, means careful discipline or drill. In other words, order, quickness, punctuality, truthfulness, trustworthiness, method, cleanliness, neatness, implicit and intelligent obedience to those in authority over them, an obedience so absolute and so well understood that a doctor can as fully depend upon his orders being carried out by the nurse as if he himself were present.10

Nightingale devised a system for observing the probationers’ conduct and performance that asked for a report about the nurses’ ability to undertake patient care but also about their character which included punctuality, quietness, trustworthiness, neatness, cleanliness, sobriety, honesty and truthfulness.11 These views of the ideal qualities required by nurses were taken up by nursing associations and hospitals from the 1860s onward and were expected of both the new recruit and the established nurse.12 Thus the trainee or probationer was expected to ‘act in complete obedience to the instructions of the Sister and Staff-Nurses’ and to develop a work ethic that stressed punctuality, hard work and long hours.13 Nurses lived and were trained within hospitals which had strict regulations, timetables that dictated a nurse’s activity throughout the twenty-four hour day and a regime that demanded absolute obedience to authority. According to Alison Bashford, nurses in the late nineteenth century could indeed be de7

Witz (1992), pp. 140-143.

8

Nightingale to H. Bonham Carter, 3 September 1865, cited in Baly: The Nightingale nurses (1986), p. 6.

9

Lees (1876), p. 7.

10 National Association (1875), p. 17. 11 Baly (1997), Appendix 1, pp. 229-230. 12 See the following for example: Lees (1876), pp. 1-27; Wood (n.d.), pp. 7-19; Stewart/Cuff (1889), pp. 4-5; Lewis (1895), pp. 1-7. 13 Blissett (1888), p. 140.

“Docile bodies” or “impudent” women

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scribed, in Foucauldian terms, as ‘docile bodies’.14 Monica Baly has described ways in which Nightingale advocated the design of both hospitals and the nurses’ accommodation in such a way as to enable the hospital matron and her subordinates to keep the ordinary nurses and probationers under constant observation and discipline15 – a veritable panoptical regime. This system of training and discipline was taken up by all hospitals and nursing associations, both voluntary and public. Historians have suggested that it was introduced to meet the challenges of the 1860s but did not change much until after the First World War. For Monica Baly this system prevented innovation in practice and education whilst Carol Helmstadter puts its survival down to economics because of a need to maintain the productivity of nurses and economy of expenditure in a period of severe underfunding of hospitals.16 Nurses and their employers As a result of these strict disciplinary regimes it is not surprising that there were disputes within institutions between nurses and their superiors. In addition to discipline, nurses protested against poor living accommodation and food. Finding evidence of the existence of conflict is not easy. Most disputes happened within closed institutions which did not reveal problems to the outside world. In the main these conflicts have been identified in the pages of the professional nursing press which came into being with the creation of two journals – the Nursing Record and the Nursing Mirror in 1888. Between this time and 1912 instances of protests about living conditions, the quality of food and about overbearing discipline have been identified within the pages of the professional press. However, some information can be found earlier in records of institutions. For instance, in 1876 the nurses of the Salisbury Diocesan Nursing Association objected to the Lady Superintendent’s disciplinary regime within the nurses’ home and forced her resignation. The management committee felt, that although she maintained a high moral tone within the home, she had failed to consider the comfort of the nurses and should have had more ‘sympathy with the lesser and greater trials of their calling’.17 The nurses were informed of the outcome but were told that their behaviour would not be tolerated in the future. In subsequent years they made representations for wage increases but never challenged the decisions of the committee. 14 Bashford (1998), pp. 44-48. 15 Baly: The Nightingale nurses (1986), p. 6. 16 Baly: Florence Nightingale (1986), p. 219; Helmstadter: Building a new nursing service (2003), pp. 594-595; Helmstadter (1993), pp. 60-65. 17 Wiltshire and Swindon Record Office, J8/109/1: Salisbury Diocesan Institution for Trained Nurses, Minute Book 1871-1876, 26 February 1876.

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Stuart Wildman

The first publicised dispute occurred in 1888 in Sheffield and was referred to as the “Sheffield Nurses’ Strike”. During April of that year the Lady Superintendent complained about the inadequate and overcrowded accommodation in the Sheffield Nurses’ Home and in particular the way that the management committee occupied her own room for committee meetings once a week and the lack of quiet rooms for nurses who were ill. The committee insisted that she ‘address them in a more respectful manner’ and dismissed her complaint. She resigned and 31 nurses informed the committee that unless she was asked to remain they would leave with her.18 At the Annual General meeting the Lady Superintendent and the nurses were referred to as ‘impertinent and impudent’ and the subscribers present supported the committee’s stance. She was forced to leave the home one month early but enough local people and doctors believed she was hard done by and set up a rival charity in which she and the nurses could continue their work. She continued to run this Home well after 1900. To Mrs Bedford Fenwick, the self-styled leader of professional nursing and the owner of the Nursing Record this was a clear case of exploitation of nurses by a charity. They earned large amounts of money for the Home but received poor pay and accommodation.19 She and the British Nurses’ Association campaigned for nurses to set up co-operatives in which they would receive most of the profits from their labours rather than being exploited by private enterprises or charitable associations. The British Journal of Nursing likened many of these associations to ‘sweat shops’ in industry whereby workers were exploited and abused. The only other dispute that has been found in the late nineteenth century was at the General Hospital, Birmingham in 1891 when one of the Hospital Visitors (a representative of the House Committee) was approached about both the quality of the food and the reaction of the House Governor, the most senior male administrator.20 Some nurses had raised a petition against the quality of the food but they said they were threatened by the House Governor with dismissal and accused of being liars. The matron was also afraid to approach him because of his manner and abusive language towards her. His reaction was that the nurses were likely to make unreasonable complaints and that modern day nurses were ladies who had been accustomed to better food at home than the hospital could be reasonably expected to provide. The report of the House Visitor was acknowledged by the House Committee but apart from checking on the quality of the food for a period of a week no further action was taken. Thus the problem was 18 Sheffield Nurses’ Home, resignation of the matron and nurses. In: The Sheffield and Rotherham Independent, Wednesday May 16 1888. 19 Nursing echoes. In: The Nursing Record 1 (1888), no. 10, pp. 114-115. 20 Birmingham City Archives, MS 528927: ‘Report of Mr John Lee, hospital visitor’ 6 & 11 February 1891, in a Collection of leaflets, manuscripts, letters etc. relating to the General Hospital Birmingham, 1882-1899.

“Docile bodies” or “impudent” women

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never discussed again and it can be presumed the nurses were too afraid to raise the issue. It would appear that in both the Sheffield and Birmingham cases the nurses’ concerns were dismissed and that the validity of their protests was not taken seriously. No further cases of complaint in the nineteenth century or in the voluntary hospitals have been found. Subsequently, disputes were reported after 1900 but only in the Poor Law hospitals. Why was this the case? It has been claimed that living conditions for nurses in the voluntary hospitals and the more progressive larger poor law infirmaries were better than most workhouses or small public hospitals and that there was a difference in recruits with the voluntary sector attracting women of a higher social class and with a greater sense of vocation for nursing as a professional activity. As such, it is said, that nurses in the voluntary sector were more likely to tolerate the discipline and living conditions associated with nursing. Nurses recruited to the poor law were seen as poor quality and the work – dealing with the chronic sick and bedridden – was unlikely to attract educated women who wanted a varied career in nursing, with good prospects for the future.21 What then lead nurses in the poor law sector to take action? The first factor must have been the influence of the political and economic climate in Britain at the time. Inflation was running high which was eroding the living standards of the workers and there were moves by employers to gain greater control over and improve the productivity of the work force. After 1900 there was a ‘resurgence of class consciousness and class conflict’ and an ‘upsurge of political and industrial unrest’.22 This came from below and took the government, employers and trade union leaders by surprise and only abated at the outbreak of war in 1914. Strikes increased at an alarming rate and these even spread to school children in 1911.23 Women became more militant. Women workers were more likely to take industrial action in the form of strikes and some suffragettes saw that the threat of violent action gave them unprecedented publicity in their campaign for votes for women. Some nurses actively supported this movement, an extreme example being nurse Annie Humphreys of Birmingham who was given 4 months imprisonment for smashing windows in London in 1912.24 Information about militant action was readily available in the newspapers and this is seen as a means by which unofficial action such as strikes was spread from area to area.25 21 Abel-Smith (1960), pp. 47-49. 22 Perkin (1989), p. 101. 23 Baker (2010). 24 Nursing Mirror, 9 April 1912, p. 4. 25 Baker (2010).

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Stuart Wildman

In terms of the nurses’ case the following letter written anonymously summed up the position of many in the early twentieth century: Many people talk of nursing as a heavenly calling, and they will think that such a thing as a union is desecration. But we feel that we could fulfil our heavenly calling better if our earthly welfare were better looked after. How can we play the role of ‘ministering angels’ to the best of our ability when our minds and bodies are wearied out by too long hours, the swallowing of half masticated food, lack of change and pleasure, and last, but by no means least, the petty tyranny of hospital life? Surely, we do not need such treatment in order to become good nurses. Is it not time that nurses rebelled openly, and so made it easier for nurses in the future? We need shorter hours, longer mealtimes, larger salaries, and more freedom in our off-duty. Nurses would fulfil their calling of healing and uplifting much better if their own lives were made brighter.26

This was something that many nurses in the poor law sector seemed to agree with. In 1905 nurses at the asylums in Sunderland and Glasgow threatened strike action against hospital authorities who wished to lengthen their hours of work but most unrest seemed to have occurred in 1911 and 1912.27 This was at the height of industrial and political unrest and some nurses, it would seem, were no longer prepared to tolerate the poor employment and living conditions, as they saw them, within the poor law sector. In November 1911, nurses complained about inadequate accommodation, food and training in the Brighton Union Infirmary, where they had to sleep in rooms in close proximity to patients, including those with tuberculosis, and were disrupted by the constant noise. Remarkably for the time they did not strike.28 Later that month two probationers at the Fusehill Workhouse, Carlisle were reprimanded by the superintendent nurse. They complained to the secretary of the board of guardians that the superintendent deliberately delayed giving them passes to leave the hospital and expected them to scrub the floors and clean the fireplaces in the ward. In addition, one nurse complained she had a skin complaint on her hands which was not treated and was allegedly told by one of the charge nurses that ‘if she had such a filthy dirty disease she would drown herself’.29 When they did not receive support for their case from a subcommittee the two probationers and three colleagues hung up their keys and left the hospital.30 They declared they were on strike and would resign unless action was taken.31 This dispute was 26 Nursing Mirror, 9 September 1911. 27 The British Journal of Nursing, February 11 1905, p. 118, & December 16 1905, p. 502. 28 The complaints at Brighton Union Infirmary. In: Nursing Times, 11 November 1911, p. 1011. 29 The British Journal of Nursing, February 3 1912, p. 92. 30 Nursing Mirror, 2 December 1911, p. 143. 31 The Carlisle Journal, 28 November 1911, p. 4.

“Docile bodies” or “impudent” women

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particularly acrimonious and the guardians took sides with some supporting the nurses and the others the superintendent. One guardian allegedly said that superintendent deserved to be flogged.32 As a result of this the Local Government Board sent an inspector and an inquiry was held in January 1912. Feelings were riding high and the superintendent nurse was verbally abused by female pauper inmates of the workhouse on her way to the inquiry and the police had to be called to maintain order.33 The Inspector found that there was no case against the superintendent and that the nurses had deserted their posts and should not be re-instated. However there was a need to consider the system of passes and dietary allowances given to the nurses in order to improve their living conditions.34 Further incidences of dissent by nurses occurred in early 1912. Two nurses in the Aberdare Hospital, South Wales deserted their posts suddenly and complained about the behaviour of the untrained matron of the hospital who used abusive language, mocked the religious affiliations of one of the nurses and accused the other of attempting to seduce her husband. A resulting hospital committee dismissed both the master and matron.35 In the same month the nurses of the York Workhouse boycotted the food because of its poor quality and when they were offered sausages for a Sunday breakfast they hung them on the gas lamps in the nurses’ dining room with a label entitled ‘suspended – no further use for you’.36 The medical officer of the workhouse thought the nurses were right to be dissatisfied with the standard of food.37 In early March 1912 unrest was reported in the Kidderminster workhouse in Worcestershire but no details of this survive.38 These incidents demonstrate that nurses were willing to take action when they felt aggrieved by their situation. These cases generated a lot of comment in the professional press about the state of nursing, particularly within the poor law sector. For Mrs Bedford Fenwick, the champion of registration, all of these incidents demonstrated that there was a lack of discipline within the infirmaries and sick wards of workhouses and that the Local Government Board needed to take action to prevent patients from suffering. This would be facilitated by the formation of a national nursing department under the direction of a matron-in-chief with a number of nursing inspec32 Inquiry into the Carlisle strike. In: Nursing Times, February 3 1912, p. 114. 33 The British Journal of Nursing, February 3 1912, p. 92. 34 Report of the Local Government Board. In: Carlisle Express and Examiner, March 2 1912, p. 7. 35 Aberdare Hospital Sensation. In: Aberdare and Mountain Ash Weekly Post, 27 January 1912, p. 5; The Aberdare hospital Scandal. In: Aberdare Leader, 3 February 1912, p. 2. 36 The York Nurses. Suspended Sausages. In: Nursing Times, February 10 1912, p. 132. 37 Nursing Mirror, February 10 1912, p. 303. 38 Nursing Mirror, March 2 1912, p. 355.

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tors. Secondly, legal registration of nurses was required under a central authority with disciplinary powers to ensure only proper persons could practice.39 The Nursing Mirror, owned by Mrs Bedford Fenwick’s rival Sir Henry Burdett, who was an opponent of registration, demanded that nurses should be put under the ‘yoke of discipline’ and that they should resign and get a job elsewhere if they were dissatisfied with their conditions. If issues did arise nurses were advised to write to the matron in ‘temperate language, confined to the facts, and signed by all the staff’. All in all, the Nursing Mirror recommended that nurses should courageously accept disagreeable conditions in order to succeed in their careers.40 In contrast to this widespread condemnation, the Nursing Times congratulated the York nurses in conducting their ‘strike’ in a good-tempered and spirited way41 but it, along with Mrs Bedford Fenwick, roundly condemned the system whereby the workhouse wards for the sick were controlled by an untrained master and matron and not the superintendent of nurses42. These incidents and the reaction to them may have prompted the government to take action as a local government order was issued in 1913 which gave control of the sick wards to the medical superintendent and the management of nurses to the trained superintendent or matron.43 Given the conditions within workhouses, it is surprising that there were not more strikes and disputes within the poor law sector. However, many working-class women were brought up to be obedient to authority and for some, work was something to be tolerated before they left to be married and this could account for the low number of disputes. But the absence of disputes or protests ‘does not necessarily mean that women were always deferential, respectful or submissive’.44 Women in a variety of occupations were likely to leave and gain employment elsewhere if they were dissatisfied with their working conditions.45 This was not an option for the nurse probationers in these cases, as they needed to complete their training, but trained nurses with a hospital certificate were able to find alternative employment quite easily. Thus public disputes were probably the only way many probationers could protest about harsh conditions and treatment. The way in which these disputes manifested themselves is typical of the way in which working women protested. Female workplace resistance was characterised by spon-

39 Editorial. Out of hand. In: The British Journal of Nursing, February 10 1912. 40 Nurses with a grievance. In: Nursing Mirror, March 9 1912, p. 371. 41 The York Nurses. Suspended Sausages. In: Nursing Times, February 10 1912, p. 132. 42 Nursing Times, 11 November 1911, p. 1011. 43 Kirby (2000), p. 69. 44 Roberts (1984), pp. 46-48. Emphasis in original. 45 Zimmeck (1986).

“Docile bodies” or “impudent” women

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taneity, lack of restraint and an element of street theatre.46 All of which can be seen in the examples of the protests by nurses in this paper. In conclusion, resistance of general nurses to authority as an element of labour relations in nursing has been largely ignored by historians. Apart from Mick Carpenter’s work on the history of the Confederation of Health Service Employees (COHSE) most historians have concentrated on the period after the First World War and the situation in the Asylums rather than in general hospitals. Is this, because they are attracted to organised unionism and the strike, which by its nature is dynamic and threatening to societal order rather than the more mundane disputes dealt with in this study? Or is it because the idea that most nurses were indeed ‘docile bodies’ and incapable of resistance pervades the thoughts of those who study the history of British nursing? This exploratory study demonstrates that some women were prepared to risk their positions and join with others to protest about their terms and conditions of employment. However, more work needs to be undertaken to identify whether disputes were more widespread than is reported in this paper and also how these disputes were linked to women workers in general and the political climate operating at the time in particular. Bibliography Archives Birmingham City Archives MS 528927: ‘Report of Mr John Lee, hospital visitor’ 6 & 11 February 1891, in a Collection of leaflets, manuscripts, letters etc. relating to the General Hospital Birmingham, 18821899 Wiltshire and Swindon Record Office, Chippenham J8/109/1: Salisbury Diocesan Institution for Trained Nurses, Minute Book 1871-1876

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Conflicting chains of command in Dutch Catholic nursing (1839-1966) Annelies van Heijst Zusammenfassung Konflikte in den Befehlsketten der katholischen Krankenpflege in Holland (1839-1966) Protestantische Laienschwestern spielen eine besondere Rolle in der Geschichte der professionellen Krankenpflege in Holland. Die katholischen Nonnen, die in vielen Krankenhäusern als Schwestern tätig waren, werden hingegen als unprofessionell angesehen. Die Krankenpflege begann als eine Frauentätigkeit unter dem Regime einer religiösen Obrigkeit. Seit dem Mittelalter hatten die Nonnen traditionelles »stilles Wissen« angesammelt. Obgleich zunächst noch nicht theoretisch formuliert, wurde die Pflege von einem »Team« von Nonnen und ihren Mitarbeitern in organisierter Form durchgeführt. Als Ärzte in den 1870er Jahren begannen, Pflege-Ausbildungen einzuführen, wurde die konfessionelle Pflegetradition »vor der Geschichte versteckt«. Mit der weiteren Entwicklung von der konfessionellen zur professionellen Pflege kamen die Nonnen öffentlich in Verruf. Dafür gab es zwei Gründe. Die Nonnen begannen relativ spät mit der Ausbildung, behielten aber ihre Führungspositionen. Dazu kamen Schwierigkeiten bei Befehlsketten in katholischen Spitälern. In den 1960er Jahren wurden religiöse Befehlsketten von solchen abgelöst, die der Logik professioneller Krankenpflege folgten.

Catholic and Protestant origins of Dutch nursing Since medieval times, nursing the sick, the weak and the elderly was a widely established and religiously based practice in Western Europe. Founders of institutes and care giving personnel, too, were driven by religious motivations. They believed that looking after the sick and financing these provisions was part of their obligation as Christians.1 From the twelfth century onwards, Catholic nuns belonged to the forerunners of nursing care in the public domain. All over Europe, they founded guesthouses and other provisions in which the sick and the poor found a refuge. There, a religious regime was prevalent: the institute had a religious name; its care giving staff maintained a religious life-style; the order of the day was structured by religious events such as prayer and mass; and priests paid regular visits to the residents.2 The people who acted as care givers were either members of religious orders or lay-people. They were called ‘in fathers’ and ‘in mothers’ (binnenvaders and binnenmoeders). Supported by their assistants, they took care of the managerial and caring work. So-called ‘out fathers’ and ‘out mothers’ (buitenvaders and buitenmoeders) had a governing task and formed a board of trustees or ‘regents’ (regenten). They organized and financed their institutes, set up the regulations and made the decisions about the admittance or refusal of the poor and sick. Sometimes the boards of these chari1

Van Heijst (2008), pp. 11-19; Vis (2008).

2

Querido (1967), pp. 7-48.

MedGG 32  2014, S. 21-34  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Annelies van Heijst

table organizations were directed by the municipality; sometimes they were private organizations through which citizens looked after their coreligionists. Since the Reformation the situation changed. In overall Catholic WesternEuropean regions, teams of charitable religious together with their assistants kept on carrying out the care giving. In Protestant regions, however, the boards of guesthouses and orphanages had difficulties in finding suitable personnel. The work was left to people who were neither practiced nor very dedicated and in fact often needed shelter themselves. As a consequence, the practice of care giving deteriorated here. This was also the case in the Low Countries. The Republic of the Seven United Netherlands (1588-1795) was the result of a revolt of the northern Dutch provinces against their Catholic Spanish rulers, led by the Protestant William the Silent. Ever since the takeover in Amsterdam in 1578, the Dutch state was predominantly Protestant, which left long-lasting marks on the nation as a whole.3 Although tolerated, Catholics in the Republic in fact had to endure repression and were treated as second-rate citizens. They were denied public office and restricted in setting up societal organizations. Furthermore, they encountered difficulties in exercising their religious ceremonies. When in 1578 nuns and religious brothers were banned from guesthouses and other institutes for care-depending people, the provisions for the poor and the sick eroded. It was not until 1795 that this situation changed. Then, due to French intervention, the Batavian Republic was installed. Its legislation reflected the ideals of the Enlightenment and the French Revolution. Freedom of public religion was officially granted to all denominations. From that time on, Catholics and Jews were allowed to establish organizations of their own and were free to exercise their religion in public. During the nineteenth century, the civil rights of the Catholics were also restored, allowing them to gain full citizenship. In the emancipation process that followed, they took pride in establishing societal and ecclesiastical organizations of their own. In 1809, the population of the Netherlands consisted of 58 per cent Protestants, 38 per cent Catholics and a mixed minority of Jews, Liberals and Socialists.4 Most Catholics lived in the southern part of the country, while Protestants lived mainly in the West and the North, Jews formed a small, but distinct denominational community, most of them living in towns and cities. The by far largest group lived in Amsterdam.5 The multiform religious city of Amsterdam, in the western part of the country, played a major role in the rise of professional nursing in the Netherlands.6 Re3

Van Leeuwen (2000).

4

Knippenberg (1992), p. 61.

5

Van Leeuwen (2000), pp. 82-107.

6

Vis (2008).

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markably, Catholics set the professional standard there. In 1839, a group of nun-nurses was called to Amsterdam because of their excellent reputation: they established a small guesthouse for the elderly and began to give district care.7 Their work functioned as an exemplary model for the Protestant Society of Nursing.8 It was the latter organization that in 1878 co-established the first trajectories of training for nurses.9 Consequently, Protestant women who were involved in this organizational initiative, like Jeltje de Bosch Kemper and Anna Reynvaan, became the icons of nursing. Their Protestant background was not viewed as being a very important feature; on the contrary, their efforts for the professionalization of nursing were emphasized. At that time, nursing was still perceived as an activity for which women were especially equipped because of their gender; women, especially those from the (upper) middle class, were thought to have a (moral) ‘calling’ for this type of work.10 When more and more hospitals began to develop their own training program for nurses, the need for centralization came up. In due course, the neutral Association for Nursing Care (Bond voor Ziekenverpleging) was established, in which hospitals of all denominations participated. The Association was founded in 1893 and became a main factor of hospital reform. From then, it still took some decades for a standard curriculum and exam to be acknowledged as the proper basis for nursing training. In the beginning, the state left the development of professional medical and nursing care to the professionals themselves. The state only came up with regulations and arrangements when things were settled by the Association for Nursing Care. It wasn’t until 1921 that the Dutch government acknowledged the nursing exams.11 On an international scale, historians seem to appreciate the nuns’ contribution to the practice of nursing, as the work of Nelson, McCauley and Peckham Magray shows.12 Dutch historians, however, tend to have a negative view on nuns in nursing. Either the nuns’ role is ignored or they are denounced as being unprofessional. Dutch Protestant women, however, are praised as the forerunners of nursing.13 In the following, we will reconstruct the origins of this historical depiction.

7

Archive Sisters of Charity of Tilburg, Chronicles. Saint Bernard’s.

8

Pley (1989), pp. 23-47.

9

Mooij (2006), p. 302.

10 Van Drenth/De Haan (1999), pp. 14-21. 11 Binnenkade (1973), pp. 11-14. 12 Peckham Magray (1998); Nelson (2003); McCauley (2005). 13 Binnenkade (1973); Van der Mey (1980); Dane (1985); Wiegman (1998).

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The rise of the modern hospital and the trained nurse During the 1870s, the traditional guesthouse began to disappear and the modern hospital was dawning. Consequently, the practice of nursing underwent a profound change. In a modern hospital patients could cherish the hope of being healed. Earlier in time, medical doctors simply would not have had that option. The only thing possible in those days was nursing the sick. From the second half of the nineteenth century onwards, the body of medical knowledge grew and medical instruments became available. Therefore, medical doctors began to be in need of the help of qualified nurses, women who understood medical practice and were able to carry out the medical doctors’ instructions. However, medical doctors did not value, or even notice, the body of knowledge that nurses had built up throughout ages of nursing. The ‘tacit knowledge’ of nurses had never been put into words; it had arisen from long-term experience in daily practice and was handed over from one generation of nurses to the next. Experienced nurses were living role-models. Part of this ‘tacit knowledge’ was articulated by Florence Nightingale in her “Notes on Nursing” (a book which was also informed by new medical insights on hygiene). In her early years, Nightingale had been trained by the Sisters of Mercy in Paris and the Deaconesses of Kaiserswerth in Germany. When tracing the history of nursing, this oral and practice-based tradition of nursing should be taken into account. If not, many generations of nurses are disregarded and thus the false impression is being created that qualified nursing did not begin until the 1870s, when doctors took the lead of the training.14 In the opinion of the medical doctors who founded the first trajectories of training, nurses had a lot to learn. The doctors considered themselves likely candidates for teaching. Therefore, they were the ones to develop training programs that were taught in hospitals. These consisted predominantly of medical courses, complemented by one or two taught by a female nurse. Much weight was given to theoretical knowledge and nurses were disciplined so that they would obey doctors’ orders. The late start in training of nun-nurses From 1878 onwards, the modern hospital arose in the Netherlands; by 1945, about half of all Dutch hospitals were Catholic. In a Catholic hospital nuns occupied the leading positions, except for medical issues. Nuns did the nursing, sometimes assisted by lay-nurses, maids and servants who cleaned and cooked. Before 1878, nun-nurses were not officially trained. Even so, their approach (like that of Protestant deaconesses) bore many characteristics of professional work. They took care of strangers and worked in a team so that the continuity of nursing was guaranteed; they 14 Van Heijst/Derks/Monteiro (2010), pp. 188-327.

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received payment in return; drawing on collectively and personally acquired insights they worked systematically; and they learned from practical experience. When the nursing training programs started, thousands of Dutch Catholic nuns were already nursing in hundreds of guesthouses and psychiatric wards, homes for the elderly and the disabled. Some of these religious communities went as far back as medieval times. The nuns could not spare the time to get trained, since that would have disrupted their work. Therefore no nuns were sent to the training programs in the 1880s and 1890s. Having not sufficient time certainly was a motive, but another cause remained more obscure. The nuns did not see the need of being trained, since in the Catholic milieu they held the monopoly of nursing. Meanwhile, hundreds of lay-women – also Catholic ones – became trained nurses. As a result, Catholic nuns remained behind and therefore they were stigmatized as being ‘unprofessional’. It was not until 1901, that eleven nun-nurses in Amsterdam took the training and passed the exam. They were the first trained nun-nurses in the Netherlands.15 The group lived and worked in the Catholic Onze Lieve Vrouwe Gasthuis, a newly built hospital that, when opened in 1898, was the largest in the city. They all were members of the congregation of Sisters of Carolus Borromeus of Maastricht, headed by mother Alphonsine van Haeff. The latter, who played an important part in the group’s attending the formal training, was a trained pharmacist herself. From that time on, a new standard was set. It spread all over the Netherlands, from one sister congregation to the other. When Catholic nuns began to acknowledge the fact that they had been reluctant in catching up with this new development, they set up training programs of their own. In the early days of the 1900s, these trainings were only accessible to nuns. After some years, however, also lay-nurses were welcomed.

3,674

Lay-nurses of unspecified denominations 2,201 (60%)

Table 1: Dutch female nurses in

Catholic nuns

Deaconesses

1,055 (28%)

418 (12%)

191216

The monopoly of nun-nurses in the Catholic milieu made it difficult for the lay-nurses to get employed in a Catholic hospital. Catholics generally assumed that nuns were the most dedicated and qualified nurses. Furthermore, the salary in Catholic organizations was low. The formerly higher level of professionalization of lay-nurses did not contribute much to their position, because by 1912, the nun-nurses had become equally qualified. Yet, compared to the (much larger) group of lay-nurses, only a slightly 15 Archive Sisters of Charity of Carolus Borromeus, Nr. 2166: Diary OLVG (1901). 16 Archive Bond voor Ziekenverpleging, No. 114: Enquête (1912).

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higher percentage of nun-nurses were trained. Even further behind were the Deaconesses, because compared to the nuns and the lay-nurses, many of them were untrained. 2,201 lay-nurses 1,055 nun-nurses 418 deaconesses

Diploma 734 (33%) 344 (34%) 40 (10%)

No diploma 1,467 (66%) 711 (66%) 378 (90%)

Table 2: Dutch female nurses with a diploma in 191217

Religious and professional chains of command Simultaneously to this development, other reasons appeared that can explain the damaged public image of Dutch nun-nurses and their absence from the history of professional nursing. We will only focus on hospitals and not look into other healthcare institutions in which nuns worked. In the hospitals, the distribution of power caused the trouble and hence led to the negative public image of nun-nurses. Two regimes of power clashed: the religious regime and the professional one. Guesthouses of the old days had operated under a religious regime that was based upon spiritual values and supervised by clerical men and women religious. In modern hospitals, however, another logic was applied, namely that of a professional regime which followed from modern medicine. This transformation did not take place overnight, but took many decades. During the long phase of alteration, several types of conflicts arose in Catholic hospitals. Through rumor and slander these became known in the outside world, causing severe damage to the reputation of nuns. The difficulties were related to various chains of command, as will be pointed out next. General organizational outline Congregations of charitable nuns were hierarchically organized in a very strict way. The nuns had a double task in life. Inside the convent they were supposed to lead a monastic life of prayer; outside the convent many of the nuns labored in works of mercy, especially in the field of mission, education and health care that brought them right into society. The work was carried out in Catholic institutions, where nuns occupied the leading positions. In the last decades of the nineteenth century, when the modern hospital arose, nuns either owned the hospital (bearing the full financial risk of its exploitation), or they were connected to the hospital through a collective contract between the congregation and the board of regents that governed it. The first model is called ‘ownership’, the second model is known as a ‘contract hospital’. In the Netherlands, the latter type was the most common. About two-third of all Catholic hospitals were ‘contract hospitals’. 17 Archive Bond voor Ziekenverpleging, No. 114: Enquête (1912).

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Power struggle amongst the nuns In order to understand the dynamics in a hospital served by nuns, we first have to trace the distribution of power amongst the nuns themselves. On top of the hierarchal pyramid of the nuns’ community was the general mother superior. Together with her council, she resided in the motherhouse of the congregation. Next to the motherhouse, the congregation had various satellite houses. There, nuns lived in a convent that was often situated in the hospital that they served. Each of these convents was headed by a local mother superior. She was responsible for the sisters’ of her convent living according to the founding texts, the Rule and Constitutions of the congregation. Since the mother superior embodied the highest authority, nuns had to obey her categorically. This authority was of a spiritual nature: in the voice of the superior mother, the nuns were supposed to hear the voice of God. A number of nuns living in a convent had their working place outside the actual convent; such was the case for nun-nurses. They nursed the sick and therefore were in the hospital for the main part of their day. To make matters complex, there, the hospital mother superior was in charge. She functioned as the superior of the nuns in the hospital and as head of all nonmedical personnel; in other words, she was the co-director of the hospital. Even so, her power over the nuns was limited, because as religious and according to Canon Law, she and the nun-nurses of her staff were placed under the command of the local mother superior. If the hospital mother superior gave a nun-nurse permission for something and was overruled by the superior of the convent, the latter had to be obeyed. This signals that the religious regime was valued as the most important. Requirements that followed from the practice of nursing were perceived as subordinate to demands that followed from spiritual obligations. Sometimes, the mother superior of the convent was a wise woman who did not overrule the instructions of the hospital’s superior. In those cases, there were no or just minor problems. Sometimes, clashes were absent because one and the same nun embodied both tasks, i.e. she was the mother superior of both the convent and the hospital. This applied to mother Alphonsine van Haeff, the pioneer mentioned above, who was the superior of both the nuns working in the Onze Lieve Vrouwe Gasthuis and those living in the hospital’s convent. On the other hand, there are numerous examples that show a more ambivalent practice, in which the division of hierarchical power caused tensions and right-out oppositional demands. Often, a reasonable nun-nurse who was the mother superior of the hospital and gave priority to what was professionally needed was then overruled by the mother superior of the convent. It can be concluded that many nun-nurses who worked in hospitals experienced anxieties and even conflicts between the demands of their religious and professional duties. Nun-nurses were supposed to give priority to the

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religious obligations that were ordered by the superior of the convent, even when the superior of the hospital had instructed otherwise or their professional ethics objected to the religious tasks given. It was a source of frequent and profound frustration and anger. If the nun-nurses disobeyed the instructions of the superior of the convent they would fail as a nun; if they abstained from what was professionally needed they would fail as a nurse. Since they held both identities at the same time, this was a diabolic dilemma. In charge

Congregation General Mother Superior →

Convent Local Mother Superior →

Catholic Hospital Hospital Mother Superior

Table 3: Power structure of the religious regime for nun-nurses in a Catholic hospital

Power struggles between nun-nurses and medical doctors Medical doctors got entangled in power struggles as well. In the traditional guesthouse, medical doctors had only been passing by. They paid visits to the sick every now and then, but were not continuously present. This changed when the modern hospital came into existence. Because medical attention was vital for successful healing, a medical doctor became chief of the hospital. He was the ‘medical-superintendent’ who was held accountable by the hospital’s board. Depending on the type of hospital, the board consisted either of regents (Catholic lay men coming from the upper societal strata, and presided by a clergyman), or of nuns (i.e. the general mother superior of the congregation that owned the hospital, her council, and a clergyman who assisted the nuns). On the work floor, the medical-superintendent was assisted by the already mentioned hospital mother superior, who was co-director. The latter was responsible for directing the nursing activities and household matters. Next to her, there were matrons: nun-nurses put in charge of the hospital’s wards. Although the matrons had to supervise all kinds of nursing activities, their leading positions often were the result of their religious status and not of their capabilities as nurses. It goes without saying that numerous clashes resulted from this typical distribution of power. Firstly, there were clashes pertaining to the way the hospital was governed – especially in those cases where the hospital was owned by the sister congregation. Then, the medical-superintendent was held responsible by the general mother superior and her council, even though the latter had no medical or nursing expertise. On a regular basis, substantial decisions had to be discussed, be it financial issues, appointing new medical doctors, renovating or expanding the building, and buying medical instruments. Sometimes the board of nuns accepted the demands of the medical-superintendent, demands that followed from medical logic. But frequently difficulties arose due to the unequal and hybrid division of government, terms of reference and expertise. Sometimes the board of nuns simply would not listen to

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medical argumentations, because they thought they knew best. Furthermore, congregational interests were not always congruent with those of a specific hospital. A board had not only one hospital to run, but an entire congregation of sisters, including other satellites, other hospitals and often numerous schools as well. Making decisions for the whole enterprise could imply having other priorities than those of a specific medicalsuperintendent.18 Other types of disagreement could occur within the hospitals themselves. These conflicts often arose between the medical-superintendent on the one hand and the hospital mother superior on the other. If the latter was not professionally trained, or just a stubborn woman, she did not understand the need of doing things the way the doctor ordered them. This included his instructions to the nursing staff or household staff. In view of that, medical doctors then had to fight to get proper assistance and consequently, the treatment of patients could be hindered or even endangered. In Amsterdam’s Catholic Onze Lieve Vrouwe Gasthuis, medical-superintendent Nico van Spanje found mother Alphonsine van Haeff at his side. As mentioned earlier, this trained nurse was the superior of the convent (which housed in the hospital) and also the superior mother in the hospital. She teamed up with Dr. Van Spanje and made sure there were no tensions between religious and nursing practice. The success of this hospital can therefore be attributed to this well-functioning team of a doctor and a nun-nurse. A third type of disparity occurred when the medical-superintendent was supported by the hospital mother superior, but met by opposition from the mother superior of the convent. As explained earlier, the latter was the nuns’ highest direct authority. So, if the mother superior of the convent overruled any instructions of the leaders in the hospital, the staff of nunnurses had to obey her. Subsequently, all types of tension and conflict troubled the working place. Furthermore, these could not be kept silent. Maids, servants and assisting lay-nurses in the hospital sensed the anxiety and talked about it, thus causing public rumors. Medical-superintendent of the hospital (for general medical matters) Assisted by the hospital mother superior (for nursing and household matters)

Model of contract hospital Board of regents (lay-people presided by a clergyman)

Model of ownership Board of nuns (and their spiritual director, a clergyman)

Table 4: Power structure concerning the board of Catholic hospitals

It can be concluded that in the Catholic hospital run by nuns, there were basically conflicting regimes of religious and professional power. These conflicts arose from an inadequate distribution of power. For many dec18 Van Heijst/Derks/Monteiro (2010), pp. 255-256.

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ades, religious claims were made in a professionalizing context. The religious regime was stronger and surpassed the professional one. This should be acknowledged as a structural problem. When wise and harmonizing people were involved, the problems were toned down, but on the other hand they were fueled when less managerial talented people were in charge. By and large, these coincidental factors did not really change the structural side of the matter. Power struggles between lay-nurses and nun-nurses A final type of conflict arose between nun-nurses and lay-nurses. Again, these conflicts were tied up with the ambiguous blending of religious and professional power. From the 1880s onwards, lay-nurses had been given limited contracts at Catholic hospitals. They were frequently hired and fired, often only employed for short periods in times when the hospital was short of religious personnel. These Catholic lay-nurses were united in a Union, established in 1905. There, their limited rights were vocalized and discussed, such as their lack of opportunities to make a career in Catholic hospitals, as the leading positions would always go to nuns. This was even the case when the latter were untrained or evidently less trained and less experienced as lay-nurses. It contributed to the public image of nuns being not fully qualified. Only if there were no sufficient nun-nurses available, lay-nurses were appointed head of a ward. Co-director of the hospi- Head of the various wards tal One nun-nurse On each ward a nun-nurse (if that was impossible, a lay-nurse was appointed)

Personnel working on the wards Some nun-nurses Lay-nurses Maids and servants for cleaning and cooking

Table 5: Power structure of nurses in the hospital

The fact that nuns were automatically put in charge reflected their higher ecclesiastical position. Until the second Vatican Council (1962-1965) clergymen and member of religious orders were considered as more elevated as lay-Catholics. The religious hierarchy dictated all other hierarchies. In the course of the twentieth century, this began to change. The nuns realized that the only rationale on which they could continue to occupy leading positions was to get adequate training. Otherwise, their dominance would no longer be legitimate. Governmental regulations supported and reinforced this tendency. In the 1940s and 1950s, the nuns began to profile themselves as fully professionally qualified. This indicates the level of influence that the professional regime, by then, had reached. Even so, it still was no exception for trained lay-nurses to work under the supervision of a nun-nurse who was less qualified or even unqualified. Right until the 1980s, when the last nuns were working in Dutch hospitals, they were given the leadership, be it under the condition that they had the diplomas they needed.

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Managerial responses The frequency and nature of these conflicts in Catholic hospitals were acknowledged at the highest level of the Church organization. In 1905, a Catholic Union for lay-nurses was established by a medical doctor and a priest, who both felt that this group was in bad need of support. This signals both the articulate and built-up societal discontent and the deprived position of lay-nurses in Catholic culture. In 1926, the Dutch bishops showed concern, although not so much about the position of lay-nurses but about the damaged public image of Catholics. They established a national platform, the Saint Canisius Association, which existed until 1966. All Dutch sister congregations involved in Catholic health care were to join. The union consisted of the councils of sister congregations, i.e. the general mothers superior. It can hardly be labeled as an adequate response. On annual meetings, clergymen overloaded these members of the Saint Canisius Association with learned spiritual talks, which did neither shake the nuns’ world-view nor their policy. In fact, most of the Dutch general superiors were not ready to adapt existing power structures, since that would have undermined their own religious authority as well. It was not until the 1940s and 1950s that some medical doctors were invited as key-note speaker at the Saint Canisius Association’s meetings. These fiercely underlined the need of professionalization of nun-nurses. By that time, the majority of the nun-nurses working in the hospital acknowledged that need themselves, unlike many mothers superior outside the hospital who stuck to their Rule. The religious power structure remained intact until the second Vatican Council, when all religious orders and congregations were urged to renew their Rule and adapt their life-style to modern times. By then, however, it was already too late. Dutch nuns had become an aging social group that was rapidly losing its leading positions in all societal domains and had been surpassed by lay-professionals on all fronts. Conclusions Looking back in time, the year 1878 appears to be the turning point in the history of Dutch nursing. Then, the modern hospital began to arise. Until that day, the largest part of nursing had been religiously based. Nonetheless, the female tradition of religious-motivated nursing, as carried out by nun-nurses, is not integrated in the historical canon of Dutch nursing. Two things are missing in the historical picture; a tradition of women has been ignored, and a religious tradition has been stigmatized on false grounds. Considering the gender factor, it can be stated that male doctors caused a shift in the domain of nursing that traditionally had been developed by women. When medical doctors entered the modern hospital they needed nurses they could rely on, so they began to train them. Newly trained nurses positioned themselves as higher qualified and looked down on their nursing predecessors. Consequently, generations of untrained nurses, amongst

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whom were many nuns, were marginalized and ultimately neglected. Their expertise and tacit knowledge was not valued. In conclusion, through the male and medical influence the aspect of female competence that underpinned ages of nursing practice became disregarded. Simultaneously, nursing in the context of a religious regime became labeled as the opposite of ‘professional’. The adequacy of this judgment can be doubted, however, when the characteristics of professionalism are taken into account. Nun-nurses did draw on a body of knowledge, as was a prerequisite of professionalism. Furthermore, they worked in teams, they transferred their expertise, were supervised and paid for their work, be it a small sum. In other words: nursing in the context of a religious regime was an organized and systematized care provision for unknown people. There was, however, a specific type of professionalism at stake here. Their skills and knowledge were not medically informed, nor articulated in print or theory. All was transferred orally and practice-based. In addition, nun-nurses, as well as their lay-colleagues, did demonstrate devotion and know-how in dealing with the sick, the weak and the elderly. Looking closely at the discourse of professionalism, it can be argued that this triggered two side effects. Firstly, it despised the religiously based competence that used to underpin the practice of nursing. Secondly, it valued theoretical knowledge much higher than tacit knowledge, although the latter was relevant for nursing as well. Overlooking this, the suggestion can be made to avoid the opposition between ‘unprofessional and religious’ versus ‘professional and secularized’ care. This opposition runs through the historiography of Dutch nursing, but it is in fact a simplification that overlooks the complexities of the past and has created false antagonisms. Another set of conclusions concerns the chains of command. Between 1870 and the 1960s, Dutch Catholic hospitals became the scene of various types of conflicts. The time of profound change began when the religious regime, which was still dominant in most Catholic hospitals at the turn of the century, had to compete with the professional regime of medics and trained nurses. New types of disagreement came up, as two chains of command were simultaneously applied in the modernizing hospital. On the one hand, there were chains of command based on religious principles and values, while on the other hand, there were those derived from professional principles. This article has shown how power struggles arose amongst the nuns themselves, between medical doctors and nuns, and between lay-nurses and nun-nurses. These conflicts originated in two rivaling regimes, the religious and the professional one, which were valid at the same place and the same time. In the 1920s, the Dutch bishops tried to control the damage by raising the Saint Canisius Association. The episcopate did not succeed, however, since the clergy had no direct influence in hospitals. In 1966, the Saint Canisius Association was liquidated; it marked the end of the era of the religious regime.

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It is important to acknowledge the structural dimension of these conflicts, although individual aspects mattered as well. People working in a Catholic hospital were likely to clash because of their different hierarchical positions, which rooted in either the religious or the professional regime. Yet, clashes could be mitigated if individuals were wise and knew how to get along. In the course of the twentieth century, nun-nurses who worked in a hospital acknowledged that the professional regime should be given priority. But it was too little, too late, and they were not able to convince their fellow-nuns outside the hospital. This is a rarely acknowledged tragedy. All conflicts arose in the ever-changing setting of a Catholic hospital during a long period of transgression. The changes taking place took almost a century. When medical doctors and trained nurses invaded the modern hospital, the religious regime was not suddenly replaced by a professional regime. From the 1870s until the 1960s, two regimes co-existed, or rather coconflicted, next to each other. Finally, the professional regime triumphed. All that time, conflicts caused a lot of pain in the hearts and minds of the people concerned. Hopefully, historical insights may shed light on the views of the combatants and their joined devotion to the sick. Bibliography Archives Archive Sisters of Charity of Tilburg, Sint Agatha Chronicles. Saint Bernard’s Archive Sisters of Charity of Carolus Borromeus, Sint Agatha Nr. 2166: Diary OLVG (1901) Archive Bond voor Ziekenverpleging, Amsterdam No. 114: Enquête (1912)

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Fighting for one’s own health – care as a cause of illness Marion Baschin Zusammenfassung Der Kampf um die eigene Gesundheit – Pflege als Krankheitsursache Jahrhundertelang haben Angehörige Familienmitglieder im Krankheitsfall versorgt. Doch diese häusliche Krankenpflege hat kaum Niederschlag in schriftlichen Quellen gefunden. Die Journale von Clemens (1785-1864) und Friedrich (1828-1910) von Bönninghausen, zweier Homöopathen aus Münster in Westfalen, dokumentieren die Krankengeschichten ihrer Patienten. Einige der Einträge zeigen nicht nur die Pflegeleistungen an sich, sondern vor allem auch, welche gesundheitlichen Folgen diese Tätigkeit für die Ausübenden haben konnte. Die berühmte westfälische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff zählte zu den ersten Patienten Clemens von Bönninghausens. Auch sie pflegte verschiedene Angehörige und erkrankte infolge dieser Tätigkeit. Mit Hilfe ihrer Briefe und Gedichte lässt sich exemplarisch zeigen, wie die private häusliche Krankenpflege motiviert war und inwieweit sie vom sozialen Umfeld erwartet wurde. Dabei zeigt sich noch viel mehr als in den Einträgen der Krankenjournale, dass die intensive Pflege nicht nur eine körperliche, sondern auch eine große psychische Belastung darstellen konnte. Die Untersuchung weiterer »EgoDokumente« wäre wünschenswert, um das Feld der häuslichen Krankenpflege durch Laien weiter zu erforschen.

Introduction The care of patients at home has always taken place. However, long professional care is, and has always been, required only for a fraction of those suffering from illness. But, usually when suffering from brief or minor complaints, we treat ourselves or call on those close to us. Moreover, in the 19th century, the costs involved and the complete lack of care facilities meant, in many cases, that people had no other option than to be cared for at home by members of their family or sometimes neighbours.1 However, it is tragic that, in publications about the health system of a town, the services of nurses and carers are referred to mostly in a general sentence, saying that sick people were looked after by their families. For example, in such an investigation about the city of Münster, we find: “Most sick people in Münster were visited at home by the doctor and looked after by their family, even in the case of fatal illnesses.”2 Although some cases in the city were also looked after by professional carers, particularly by the Sisters of St. Clement and the deaconesses of the Protestant hospital, details on home care of the sick, particularly by lay healers, are hard to find.3 At that time, 1

See for America Apple (1990) or Risse/Numbers/Walzer Leavitt (1977) for example.

2

Schwanitz (1990), pp. 57-58.

3

Eckart/Jütte (2007), pp. 286-295, with additional literature and an overview of research; Stolberg (2003), p. 77. A brief explanation on the general activities of the Sisters of St. Clement is given in Jungnitz (1981), pp. 74-110.

MedGG 32  2014, S. 35-49  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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as today, carers took great risks and difficulties and also experienced negative effects on their own health. This report presents the results of the investigation of the patient journals of two Münsteranian homoeopaths. These documents shed light – from an unexpected source – on care activities at home and the resulting conflicts for carers. Firstly, a brief description of the records will be given. Secondly, those patients who became ill as a result of taking care of someone else will be taken into account. With the help of letters, which are only available for the most famous patient, the German poetess Annette von Droste-Hülshoff, the question of why those now affected took on the “burden of care” will be considered and presented in the third part. The article will conclude with some methodological remarks. Source – The patient journals The lay homoeopath Clemens von Bönninghausen practiced in Münster, Westphalia, from 1829 until his death in 1864. He was born in 1785 and had studied law before turning to his healing activities. Although he was never approved as a legal physician, he was allowed to practice by an extraordinary permission from the Prussian king.4 According to homoeopathic principles, he kept very detailed patient journals. The notes von Bönninghausen made concern not only the actual symptoms the sick people were complaining about, but various other pieces of information about the social status of the patients, the remedies they had taken and the therapies they had previously received, and, in some cases, the cause of the illness and other circumstances of the patients’ lives as well as the information about the ongoing homoeopathic treatment.5 His son Friedrich (1828-1910) took over the practice in 1864 and continued his father’s records. Friedrich had also first studied law but then added a proper study of medicine from 1855 until 1858. He was approved as a legal medical practitioner in Münster from 1862 on. During a PhD thesis, dealing with the patients of Clemens Maria Franz, and a current project, investigating the practice of Friedrich, several of the years covered by the 149 journals they had both compiled were examined.6 The entries in the documents have been transferred 4

For more details concerning him and his practice: Kottwitz (1985) and Baschin (2010).

5

For a description see Baschin (2010) and Baschin (2011). Concerning homoeopathic case taking see Jütte (1998) and Gillis (2006).

6

Baschin (2010) and the description of the ongoing project at http://www.igmbosch.de/content/language2/html/12298.asp (last accessed: Jan. 29, 2014). The years covered in both research projects are 1828/29-1833, 1839-1843, 1849-1853, 18591863/64 (the practice of the father) and 1864-1867, 1872-1875, 1879-1882 and 18861889 (the practice of the son). The journals are kept in the IGM, P 1-P 149. There is no biography of Friedrich von Bönninghausen available. For brief information, see Schroers (2006), p. 16.

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into databases and then analysed according to the social structure of the patients, the illnesses they wanted to have cured and questions of consultation behaviour as well as the practice of the healers in general. In several cases, the surviving patient journals of these two homoeopaths reveal that carers were actually fighting to protect or restore their own health.7 Usually an attempt was made to treat the complaint in another way before consulting the homoeopath. Besides these preliminary histories, the journals also indicate the socio-statistical data on those who had themselves now become patients. The journals make it clear which hazardous consequences such self-sacrificing work could have for carers and also how they worked to combat them. Therefore the records document caregiving at home by families and other lay people and the resulting health problems. This is a field which, due to the lack of source documentation, is very difficult to investigate but needs to be researched. Taking care and being ill – risks and conflicts Of the 35 people who became ill as a consequence of their caring activities, 29 were women and five men, whilst, in one case, the sex could not be known for sure, but was most probably a man. This is not a surprising result, as former research works have shown that giving care was left to the women and that such work was expected from them in most cases.8 Information about their profession was found with 14 people. The care activities were carried out by members of all social classes. Eight people came from the lower class, and, in particular, worked as farmers. Three people each were members of the middle and the upper classes.9 Most carers were adults, aged between 21 and 30 years old.10 But even teenagers aged 16 or 18 were asked to take on the task. There were four children who are part of the investigation as they were infected by their nurse and in one case the child suffered from extremely delayed consequences of the caring activity carried out by the mother.

7

In total, the patient histories of 14,266 ill people seeking a cure from Clemens Maria Franz von Bönninghausen and 6,832 doing the same from Friedrich von Bönninghausen were examined. A connection to care activities could be made in 24 cases treated by Clemens and in 11 cases treated by Friedrich.

8

Stolberg (2003), pp. 77-83; Schweig (2009), p. 216; Hoffmann (2010), p. 340.

9

As such, this is also a proof that domestic care was carried out amongst all the levels of society. However, reports of such activities amongst members of the lower classes are comparatively rare. Stolberg (2003), p. 78; Schweig (2009), pp. 214-223.

10 The age of one of the people was not specified. Four were the above-mentioned children. Four of the patients were between 16 and 20 years old, eleven between 21 and 25 years old and three between 26 and 30 years old. Six patients were aged between 31 and 40 and a further six were 41 years old or older.

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But the patient records also tell us, who received the care and which illnesses were cared for. Family members, such as children, siblings, parents, a grandfather or wife were looked after. Of course, there were other sick people too, whose relationship to the carer is sadly not clear in the journals. For example, it is not clear what the relationship between a 16 year old and the “man” whom she cared for, but who died of dropsy, was. It could be a case of neighbourly help or even paid work.11 The patients were suffering from brain fever, scabies, cholera, consumption or dropsy.12 In these cases, the illnesses were both contagious and dangerous. Care was given, despite the risk of catching the illness, and some carers did indeed catch the illnesses from the patients. A 24 year-old woman had clearly been looking after her grandfather for some time. He had been suffering from dizziness and apoplexy. It is not explicitly reported which activities the caregiving involved, nor how they were carried out. At least this entry states that she gave “anxious” care, which we can take as meaning extremely loving and intensive care. Also, the comment “day and night care” gives us an indication of how much effort the activity required. In addition, one entry in the journal shows that a 54 year-old woman, who cared for her father intensively around the clock, clearly took her task very seriously. The same applies to the “excess” care another woman gave to her mother. Another case states that the caregiving activity of a daughter was made up of rubbing her father with a grey ointment, containing mercury. However, most entries simply specify “care” or “sitting up (at night)”, without any explanation of the services provided. The length of the caregiving activities was mentioned in two patient histories. For example, the mother of a 21 year-old woman had suffered from brain fever for four weeks and was looked after the whole time by her daughter, who now saw the first symptoms of the disease in herself. A girl is also recorded as having provided care of the same disease for even longer, in this case five weeks. Two further patient histories highlighted the intensive care of patients by carers. During the course of their illness, those affected became a part of the family network set up for their medical assistance and care.13 In the case of his own son, Clemens von Bönninghausen stated that his son had “deteriorated” to such an extent, due to teething and coughing, that convalescence 11 In 16 cases, it is unknown who received care or what their relationship was to those now affected. In one case, a girl was suffering. A wife and a grandfather appear in one case each. In three cases each, fathers and mothers were cared for by children, whilst five children received care from their mother. Five patients were looked after by siblings. Similar results concerning those who received care in home today: Hoffmann (2010), pp. 338-339, and for the Early Modern period Stolberg (2003), pp. 78-79. 12 The following illnesses were encountered (number in brackets): scabies (two), whooping cough (one), dropsy (one), brain fever (nine), cholera (one), consumption (two). 13 For general information, see Lachmund/Stollberg (1995) and Stolberg (2003).

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was unlikely. However, the boy’s health improved “thanks to the care given to him and now he is healthy, is blossoming and is very strong”.14 In addition, such intensive care and attention was not always crowned with success, as testified to by a letter from Wilhelm Grimm to Jenny von DrosteHülshoff, the sister of the poetess.15 The carers had become infected with the illnesses, from which those they were caring for were suffering. In particular this occurred in those cases connected to brain fever. Others showed similar symptoms to those they had been looking after, causing them to think they were suffering from the same complaint. This applied, for example, to the poetess Annette von Droste-Hülshoff, who, after caring for her brother who had died of consumption, was of the opinion that she herself was suffering from the disease.16 Similarly, another patient had cared for a “child with scabies” and traced her eye infection back to the child.17 Other patients had physical and psychological complaints, stomach ache, aching in the head or limbs, sore throats, exhaustion and dizziness, a nervous complaint (not specified in detail), pressure in their chest or a rash. The strain caused some women to miss their period.18 The patient mentioned above, who had rubbed her father with the ointment containing mercury, suffered from “involuntary movements of the right arm and leg” and had “difficulty speaking, due to a heavy tongue and lots of spittle in the mouth”. However, in another case we find simply: “Sick after tending the sick”.19 A countess’s “extreme worry” about sick children caused her to develop a strong rash. Sitting with a dying patient caused a 33 year-old woman to suffer from depression for seven whole years before she visited the homoeopath.20 The illness of a baby was also traced back to the fact that its mother was “continuously depressed during pregnancy on account of caring for its [that is the mother, M. B.] father”.21

14 IGM, P 151, p. 41; P 76, fol. 107. This is also documented by other histories. Baschin (2010), p. 191, or Schweig (2009), pp. 215-216. 15 Schulte-Kemminghausen (1978), pp. 90-91. 16 IGM, P 151, p. 1, also IGM, P 53, fol. 173. For similar findings Stolberg (2003), pp. 80-81. 17 IGM, P 80, fol. 29. 18 This was the case in IGM, P 75, fol. 29, P 119, fol. 376, and P 149, fol. 167. 19 IGM, P 103, fol. 242, and P 149, fol. 154. 20 For example, see IGM, P 116, fol. 81, and P 138, fol. 212. The psychological impact of such care of the sick and dying was also a topic in the letters of Droste-Hülshoff, as can be seen in the quotations mentioned later. 21 IGM, P 78, fol. 69. For further information on the emotional afflictions during pregnancy, see Baschin (2010), p. 211 and pp. 217-218.

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A lot of people had already tried to improve their symptoms by other cures. But the different attempts with medical therapies or consultations of other doctors were not successful.22 Now they tried to find help from the two homoeopaths. Those cases, in which children were infected by caregivers, signal an additional problem encountered in caregiving. Multiple families seem to have shared a child’s nurse, who then carried whooping cough from one child to the next. Babies were also affected by rashes and scabies in the same manner. The consequences for those providing care are not explained in the journals. However, it becomes clear that, in such cases, “helping hands” actually turned into wandering “sources of risk”.23 The risks connected to taking care of people suffering from infectious diseases were well known by the carers. Therefore, in some cases, they themselves required remedies from the homoeopath to prevent infection. The above-mentioned 16-year-old was in fear of catching “hydrophobia” (rabies). This was because, while taking care of the poor sufferer, she herself had had some wounds on her hands, which made an infection more possible. In other cases, remedies against nervous fever were required.24 Despite all the risks of becoming infected themselves from the known “infectious” illnesses of the patients, those who had themselves now become ill all chose to engage in or to continue their caring duties. In addition, the entries of the two healers show that looking after seriously ill people up to their death also had serious psychological effects. The records therefore shed light on caregiving at home, which was carried out mainly by adult women, and the resulting health problems. Conflicts and motives in family caring – The example of Annette von Droste-Hülshoff The patient history of Annette von Droste-Hülshoff is the first recorded by the homoeopath Clemens von Bönninghausen. Annette von DrosteHülshoff was born in 1797 in a castle near Münster in Westphalia.25 Her musical and literary talents were supported by her family. In 1838 she published her first books with poems and four years later her famous novel 22 Nine patients had clearly not tried any previous treatment before going to the homoeopath. Five people had consulted a doctor in advance and 14 patients had been given medicines. 23 On this problem with additional literature: Hähner-Rombach (2009). 24 For examples, IGM, P 73, fol. 215, P 113, fol. 126, and P 141, fol. 44. 25 There are several biographies about the poetess. For this article, the following were used: Beuys (1999); Droste zu Hülshoff (1998); Maurer (2004). For additional literature on the person and her works: http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/ index.php?id=00000003&layout=2&author_id=00000080 (last accessed: Jan. 29, 2014).

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“Die Judenbuche” followed. From 1841 on, she spent most of her time in Meersburg on Lake Constance, and died there in 1848. The famous German poetess traced her own health problems from November 1829 onwards to the fact that she had cared for her brother Ferdinand, who had been sick with tuberculosis.26 She was convinced that she was suffering from the same symptoms, for example “serious emaciation with a lack of energy”, “redness on fallen-in cheeks”, “permanent stabbing pains on the left side”, “continuous suffocation in the chest, as if from a tight corset” as well as “major depression and hopelessness”.27 Having consulted another doctor without any improvement, this doctor suggested a homoeopathic treatment. For several years, Clemens Maria Franz von Bönninghausen tried to help the poetess whose state improved from time to time but who also used other medicines and consulted other doctors as well, especially when she was away from Münster and no other homoeopath was available. We know nothing so far about Annette herself taking care of her brother. Some of her letters describe the health of Ferdinand and how she worries about him having coughed and vomited blood.28 However, none of her letters exist for the period between November 1828 and November 1829.29 This “silence” may be explained by her intensive care of her brother, which occurred during these months. Ferdinand died in June 1829. How much Annette von Droste-Hülshoff had obviously committed herself to the task of nursing can be seen from a letter from her concerned sister addressed to Wilhelm Grimm. According to Jenny’s description, Annette suffered from “nervous irritation and cramps”, as diagnosed by a doctor. And, although the healer had told them that the illness was not serious, Jenny was deeply worried about her sister’s health and was afraid of losing her as well.30 In his response, Wilhelm Grimm assured Jenny that he was quite confident that Annette’s health problems were not too serious. He expressed the opinion that the exhaustion was connected to the task of nursing, and stated: “I 26 The original journal can be found in Bönninghausen (2011), pp. 3-10. For more details concerning the treatment: Kottwitz (1985), pp. 109-144 and pp. 172-177, Dinges/Holzapfel (2004) and Beuys (1999), pp. 204-206. 27 Bönninghausen (2011), p. 3. The original words were: “sehr bedeutende Abmagerung mit Hinschwinden der Kräfte”, “Röthe auf den eingefallenen Wangen”, “beständige Stiche in der linken Seite”, “fortwährend Brustbeklemmung wie von zusammengeschnürtem Brustkasten” and “große Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit”. 28 For example in the following pages of her edited letters: Droste-Hülshoff (1987), pp. 60, 65, 81-82 and 90. Her sister Jenny von Droste-Hülshoff also writes about her brother’s illness: Schulte-Kemminghausen (1978), p. 86 and p. 115. A description of the family members is given by Droste-Hülshoff (1998), pp. 136-196. Her brother was born in 1802. 29 See the edition Droste-Hülshoff (1987). Also confirmed by Beuys (1999), p. 202. 30 Schulte-Kemminghausen (1978), p. 116 (letter 27th July 1829).

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have heard how wonderfully committed she is to the illness of her brother, and I consider there to be nothing more natural than for her nerves to have suffered from the effort.”31 Nursing and caring activities are reported in several of the letters written by Annette herself. She even cared for her nurse, several relatives and friends. This fact is also stressed in the different biographical works about her.32 And the poetess took the task of nursing and caring very seriously. In one case she refused to visit her sister on Lake Constance because she felt the urgent necessity to take care of her nephew at Burg Hülshoff.33 From time to time she clearly neglected her own health when taking care of another person. As such, her sister and her mother, for example, were very worried about Annette’s health and tried to help and comfort her themselves.34 But they were not always successful and when one day the poetess was ill herself she complained about her mother not having the necessary patience to take care of her.35 Within the family, the caring services of Annette were appreciated and expected. Moreover, the poetess grew up in a noble family, principally characterised by the Christian values of brotherly love and care.36 For example, her own mother preferred care from Annette than from her daughter Jenny and also praised her to the skies.37 Annette von Droste-Hülshoff did not marry. Therefore a lot of relatives thought she would have plenty of free time, for example writing letters, paying visits, giving music lessons to cousins or helping during an episode of illness.38 Annette knew about these expectations, dealt with them – as will be described later – and tried to fulfil

31 Schulte-Kemminghausen (1978), p. 122. 32 Beuys (1999), p. 196; Droste zu Hülshoff (1998), p. 90. Further details in the following annotations. 33 Droste in a letter to her mother of 3rd November 1840: Droste-Hülshoff (1993), p. 151. 34 Her sister: Schulte-Kemminghausen (1978), p. 116, her mother: Beuys (1999), p. 196, or the attempt by her brother Werner to send her to Münster after her care activities “to relax and enjoy herself”, in the letter of 4th October 1833: Droste-Hülshoff (1987), p. 140. Further examples: Droste zu Hülshoff (1998), pp. 80-82. 35 Letter to her sister Jenny of 1st July 1846. Droste-Hülshoff (1992), p. 384. But obviously the poetess herself was not a very patient patient. Beuys (1999), p. 202. 36 Droste zu Hülshoff (1998), pp. 85-92, and Beuys (1999), p. 196. 37 Droste zu Hülshoff (1998), p. 90. He quotes a letter to Annette written by her mother in 1841: “How often I have thought of you, sweetest Nette, and wished good Jenny would do what she could […] but I could not bring myself to make the poor thing suffer as she suffers so much already.” 38 Droste zu Hülshoff (1998), pp. 93-98; Beuys (1999), p. 199 and p. 217.

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them, although the work sometimes took more from her than she could provide.39 During the care of several patients, she was exposed to serious anguish or was extremely affected by the psychological problems of those affected.40 However, as can be read in her own letters, Annette von Droste-Hülshoff was actually happy to meet these expectations and worked hard to do so. For example, she wrote to her mother from Bonn in March 1831, whilst staying with a friend and looking after her serious illness: God knows what you must think of me, dearest mother, but I know that I am completely innocent and, over the course of the last four weeks, often did not know whether I was coming or going. I am now in my 5th week with Mertens [her friend called Sibylle Mertens, M. B.], who is very seriously ill. I am under a great strain, such as I have scarcely experienced before. I have looked after poor Mertens day and night, almost completely on my own; as she had recently dismissed her maid for drinking and could not stand her any more. Her two eldest daughters are at the inn. Adele Schopenhauer is always ill. So I was on hand to help. Poor little “Bill” didn’t sleep a wink for the first 14 days; now things have improved, but I still have to get up once or twice, almost every night. I have started doing all the housework and surely have to use over 20 bowls a day; at other times, I have to check on the children […] –.41

As there were no other members of the family or friends, to say nothing of staff, on hand, Annette took on all the necessary work. Care also included doing the housework, looking after the children and, of course, sitting up at night. Annette may have been replaced by another woman for some of the time, but then she would take up her task again. Her friend lay in bed with dizziness and cramps. She took enlivening baths but the situation seemed to be very serious, even though the doctor assured her that it wouldn’t be fatal. The poetess no doubt also helped her friend before and during the baths. Annette described her state of mind during and after the caregiving activities with the words: “My God, what fears I suffered!” The patient reacted so greatly to the news of Annette’s early departure that the carer changed her plans and promised to stay “until she had recovered somewhat”, which, in Annette’s opinion, “could be a few more weeks”. In another case, Annette herself did not feel particularly well, but still felt the obligation to be with her brother who, in her opinion, was in a worse situation than she was and

39 For example several episodes of caregiving tasks are given in the letter to her sister dated 4th October 1833: Droste-Hülshoff (1987), pp. 138-142; Beuys (1999), p. 199 and p. 217; Maurer (2004), p. 60; Droste zu Hülshoff (1998), p. 285. 40 Droste in the letter of 7th February 1831 to Therese von Droste-Hülshoff, in DrosteHülshoff (1987), p. 121; Droste in the letter of 4th October 1833 to Jenny von DrosteHülshoff, in Droste-Hülshoff (1987), pp. 138-142. 41 Letter to Therese von Droste-Hülshoff of 11th March 1831. Droste-Hülshoff (1987), pp. 122-125. The other quote is also from there. On the friend, see also Beuys (1999), pp. 208-209.

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needed attention. She particularly emphasised her consideration for sick people, even if she felt less for the healthy.42 In 1846, Annette was again called to a case of serious illness. This time, together with her mother, she cared for an uncle, who was suffering from intestinal cancer. The two women carried out the work on their own and the certainty that the patient could not be helped, “eventually overwhelmed […] our energies”, especially when the patient felt well. After this, both the poetess and her mother felt “very unwell, and we [meaning Annette and her mother, M. B.] couldn’t get better either”.43 In this case too, the dying patient was looked after in the home of members of the family. These examples illustrate the services of caregiving and nursing in the case of Annette von Droste-Hülshoff. They prove that such episodes are described in private letters and that systematic research of the corpus could probably bring up many more. Furthermore, in several letters and even poems, the poetess discusses her nursing tasks and her motives for doing so. For example, she regrets not having helped a friend when he was ill. She does emphasise her own stamina and ability to carry out such work: “Oh, I can surely care for the sick! And I am not helpless but (and I think I may say this) determined and capable in any cases where people feel ill.”44 Her own determination to take on even long-lasting and difficult caregiving work becomes clear here. If help was required, then she was always there for her friend, without question. In later years, she wrote to Carl von Haxthausen, her uncle: “It is my fate to travel from one sick person to the next, I like doing it and it does not harm me. […] and I want at least to do my best.” In this case, she was not feeling well herself and was considering another homoeopathic cure, whilst at the same time planning to offer care and provide company to her brother Werner who had injured his knee and was receiving an allopathic cure. Although knowing she might not be a great help, she wanted to stay at his side talking and walking around with him to improve his knee.45 In this case, she calls it “her fate” to hurry from one patient to the next. This implies the social and, in particular, family expectations. However, in the same breath, she emphasises that she liked to take on the work and it would 42 Letter to her sister Jenny, 1st July 1846. Droste-Hülshoff (1992), p. 384. It says there: “Mother had little sympathy with my caregiving, and said she thought we argued too much, but if I sometimes do not take enough care of the healthy, one can surely not say that for the sick.” 43 Letter to Levin Schücking of 11th February 1846. Droste-Hülshoff (1992), pp. 356357. 44 Letter to Levin Schücking of 27th May 1842. Droste-Hülshoff (1993), p. 310. 45 Letter of 26th June 1846 to Carl von Haxthausen. Droste-Hülshoff (1992), pp. 378381. Information concerning Carl von Haxthausen: Droste zu Hülshoff (1998), pp. 237-239.

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not harm her. The latter was not always the case, as can be seen in the previous and following quotations. She expressed similar sentiments regarding her motives during the care of her sick friend Mertens, and did not play down the symptoms of exhaustion which this work brought with it: “I gladly carry out the work, and feel good doing it, but I am often tired, so tired, like a cart horse […].”46 In two poems Annette also dealt with the feeling of fulfilment, which motivated her to carry out her work. They clearly show that the care of a dear friend not only included staying up at night and carrying out the housework, but also naturally included prayer. At the same time, the poem “Nach fünfzehn Jahren” also clearly shows the physical exhaustion, in particular tiredness and dizziness, caused by this self-sacrificing work.47 In a further poem, Annette deals with the question of how to achieve “wealth, love and happiness”. The poetic answer discusses the services involved in tending the sick. A loving, self-sacrificing activity, rewarded at the end by a “reborn glimmer around the convalescing face” and a “loving glance at you, in a way that friends and not lovers can give”. Such an incident leads to feelings of happiness, love and wealth (“Then you are happy, loved and are rich”). The task fills one with strength and the feeling of being at the centre of the world, or a rock, which cannot be damaged. (“A rock on which all lightning forks […] Then you are the centre of your world, the circle, from which all happiness stems.”)48 As such, she describes 46 Letter to her mother Therese von Droste-Hülshoff of 11th March 1831. DrosteHülshoff (1987), pp. 122-123. 47 The poem “Nach fünfzehn Jahren” deals with the care of her sick friend Sibylle Mertens. Original in Droste-Hülshoff (1985), pp. 162-163, explanation in the volume Droste-Hülshoff (1997), pp. 1139-1146. The original text is: “Wie hab’ ich doch so manche Sommernacht, / Du düstrer Saal, in deinem Raum verwacht! / Und du, Balkon, auf dich bin ich getreten, / Um leise für ein teures Haupt zu beten, / Wenn hinter mir aus des Gemaches Tiefen / Wie Hilfewimmern bange Seufzer riefen, / Die Odemzüge aus geliebtem Mund; / Ja, bitter weint’ ich – o Erinnerung! / Doch trug ich mutig es, denn ich war jung, / War jung noch und gesund. Du Bett mit seidnem Franzenhang geziert, / Wie oft hab’ deine Falten ich berührt, / Mit leiser, leiser Hand gehemmt ihr Rauschen, / Wenn ich mich beugte durch den Spalt zu lauschen, / Mein Haupt so müde, daß es schwamm wie trunken, / So matt mein Knie, daß es zum Grund gesunken! / Mechanisch löste ich der Zöpfe Bund / Und sucht’ im frischen Trunk Erleichterung; / Ach, Alles trägt man leicht, ist man nur jung, / Nur jung noch und gesund!” 48 The poem entitled “Das Ich der Mittelpunkt der Welt” was published for the first time in 1844. It can be found in Droste-Hülshoff (1985), pp. 320-321, explanations in Droste-Hülshoff (1998), pp. 1821-1826. The original words are: “Standest an einem Krankenbett du je, / Nach wochenlangen selbstvergeßnen Sorgen, / Hobst deine schweren Wimpern in die Höh’, / Zu heißem Dankgebete an dem Morgen, / Und sahst um des Genesenden Gesicht / Ein neuerwachtes Seelenschimmern schweben / Und einen Liebesblick auf dich, wie nicht / Ihn Freund und nicht Geliebte können geben?

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the emotionally-fulfilling feelings of selflessly caring for another and being there for them. According to Annette, wealth, love and happiness only occur when one spends time with others and cares for them. This poem shows that the self-sacrificing activity of the poetess was also based on her own deep conviction. In her eyes, “the weeks of caregiving” were “not dead time” but Christian devotion.49 In other works, the poetess deals with the balancing act between family obligations and her own desires. As she was unmarried and so “not bound to any kitchen”, she felt that “We [the poem is directed at a friend and includes Annette, M. B.] have only been created to be helpful.” However, Annette did not sink into self-pity when faced with these expectations. On the one hand, she offers self-criticism, as she didn’t fight against her fate.50 However, as can be seen, she drew great satisfaction from her caregiving activities. The care and responsibility for those she loved allowed her to withstand the pressures of the work involved. Therefore, the drive to provide care came from her own social feelings of obligation as well as the expectations of her by her family and surroundings.51 As such, it is really difficult for historians to separate these different motives and to locate them in the conflict between her own conviction and selfsacrificing help on the one hand and social or family expectation and duty on the other. This is especially the case when, as in most cases, no sources are available to shed light on this aspect. Therefore the letters of the poetess von Droste-Hülshoff are a rare piece of good fortune. In general, her letters talk a lot about health and illness and the behaviour of those being affected and their cures. That private letters are a rich source in this respect has already been proven by several works. But, as can be seen, careful reading can also give hints on nursing and domestic caregiving. Unfortunately, this aspect has not so far been the focus of research and has only been taken into account in few recent publications.52 Dann bist du glücklich, bist geliebt und reich, / Ein Fels, an dem sich alle Blitze spalten; / Dann mag dein Kranz verwelken, mögen bleich / Krankheit und Alter dir die Stirne falten: / Dann bist der Mittelpunkt du deiner Welt, / Der Kreis, aus dem die Freudenstrahlen quillen, / Und was so frisch der Bäche Ufer schwellt, / Wie sollte seinen Born es nicht erfüllen!” 49 Droste zu Hülshoff (1998), p. 285. 50 Beuys (1999), pp. 199-200. The poem quoted there is called “Auch ein Beruf”. These quotes come from the second stanza. The self-criticism begins in the fourth stanza and is expressed in the following manner in stanza five: “Denn wer nicht kämpfen mag der Trage! / Dulde wer nicht zu handeln weiß!” Droste-Hülshoff (1985), pp. 360-362. Concerning her general family situation: Droste zu Hülshoff (1998), pp. 45-47. 51 Beuys (1999), p. 196, talks of “clear Christian duty”. On the subject of the offered sacrifices as dealt with in the 20th century in the context of caregiving see Hoffmann (2010), p. 341. 52 In general concerning letters as sources for historical research: Dinges/Barras (2007),

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Final remarks and conclusion Despite all the risks of being infected by those suffering from illnesses known to be dangerous, the carers had all decided to fulfil their caregiving duties. As the letters of the poetess Droste show, the fulfilment of society’s expectations as well as their own self-sacrifice motivated the work. It is difficult to separate these two ideals, if it is possible at all. Moreover, for the majority of carers, no documents exist, which could give clues on this point. In some cases the caring service might have been paid, which also suggests financial motivation.53 But this cannot be proved from the sources presented here. But the entries of both healers show, as in the case of Droste-Hülshoff, that taking care of seriously ill people until their death also meant a great psychological burden. The records and letters document care giving at home by families or other lay people and the health problems which resulted. This is a field which, due to the lack of sources, is very difficult to investigate. In connection with the research of illnesses, a scheme has been suggested to describe the problems in this field. A lot of illnesses are treated without having been a patient in a hospital or having seen a doctor. But, due to the character of these institutions during a career as a patient, a lot of documents detail these treatments and they are therefore easier to investigate.54 But those episodes of illness being dealt with in private have not provided us with similar documents. This applies in the same way to the research in nursing history. Caregiving in one’s own home has only occasionally left traces in written sources, especially if the task was carried out by lay people. The only direct way would be the use of “ego documents”. But, up to now, they have rarely been evaluated with such a focus. Therefore the entries in the patient journals deliver an indirect method of finding clues in this field, which is so difficult to investigate. They are able to show, at least partially, the burden and risks involved in home caregiving. The results with respect to the carers – that they were mostly adult women – and the fact that home caregiving took place, are not new. But, with the help of the records, some proof could be collected in sources for the caring activities which took place. With this the correct, but in most cases unproven, assumption that this sort of care took place could be traced in historical sources. With this conclusion, we can see that it might be worth investigating patient journals, letters and other “ego documents” for further hints, in order to receive additional clarity about home caregiving, especially by lay and also taking into account nursing in their research: Stolberg (2003), pp. 77-83, and Schweig (2009), pp. 214-223, with further literature. On the basis of autobiographies Hoffmann (2010), pp. 338-342, deals with the aspects of caregiving. 53 This applies particularly to those carers, whose relationship to the patient is unknown. For more on paid domestic caregivers see Stolberg (2003), p. 79. 54 Eckart/Jütte (2007), p. 290, and Larsen (1991).

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people. In part, this task, which is undoubtedly time-consuming, could begin with sources which are already under investigation and which might deliver clues. Out of a lot of little mosaic pieces, a picture could be built, which would clarify home caregiving activities and their environment. Bibliography Archives Archives of the Institute of the History of Medicine of the Robert Bosch Foundation in Stuttgart (IGM) P 1-P 149 (patient journals of Clemens and Friedrich von Bönninghausen) P 151

Internet Links http://www.igm-bosch.de/content/language2/html/12298.asp (last accessed: Jan. 29, 2014) http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php?id=00000003&layout=2&author _id=00000080 (last accessed: Jan. 29, 2014)

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Alltag im Krankenhaus – Normen und Konflikte am Beispiel des Wiener »Rothschild-Spitals« um 1900 Elisabeth Malleier Summary The day-to-day routine in hospitals – standards and conflicts, based on the example of the Rothschild Spital in Vienna around the year 1900 The juxtaposition of official regulations and letters of complaint from Vienna’s Rothschild Hospital shows, beyond the rhetoric and euphemisms of hospital reports, how lively and diverse day-to-day life was in a Jewish hospital around the year 1900. The letters of complaint query the official hospital rules and show that ideal and reality did not always coincide. Often, religious questions were at the root of the critique – such as doubts as to whether kosher dietary laws were adhered to – or conflicts between the agents involved, be they individuals or groups, patients, nurses, physicians or administrative staff. As part of this process, power structures, social hierarchies, patient rights and gender issues were called into question and renegotiated.

Einleitung Quellen zur Krankenhausgeschichte, die einen lebendigen Einblick in das Alltagsleben erlauben und die sich über beschönigende Selbstdarstellungen und/oder personenzentrierte ärztliche Erfolgsgeschichten hinausbewegen, sind nicht leicht zu finden.1 Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass eine möglichst positive Darstellung des Krankenhausbetriebes ein ausschlaggebender Faktor für den Erhalt der nötigen Subventionen und Spendengelder war. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass derartige Berichte den Alltag im Krankenhaus nur sehr unzureichend wiedergaben. Um dieses Bild zu vervollständigen, ist es notwendig, sich jenen seltenen Zeugnissen zuzuwenden, die von Akteurinnen und Akteuren stammen, die sich in der Hierarchie des Krankenhauses häufig auf einer untergeordneten Ebene befanden und deren schriftliche Zeugnisse in der Regel nicht archiviert wurden.2 Die im folgenden Beitrag verwendeten Quellen stammen hauptsächlich aus dem Bestand der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem sowie aus der 1

Dieser Konferenzbeitrag ist ein Teil meiner mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung Stuttgart durchgeführten Studie »Jüdische Spitäler, Krankenunterstützungsvereine und Krankenpflegeschulen in Österreich-Ungarn (1867-1918)« (unveröffentlichter Forschungsbericht), Wien 2007. Zu einzelnen Veröffentlichungen aus dieser Studie siehe das Literaturverzeichnis.

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Zu einem sozialhistorischen Zugang zur Krankenhausgeschichte siehe u. a. Labisch/Spree (1996). Zur schwierigen Quellenlage in Bezug auf die Schilderung des Alltagslebens »von unten« in den Krankenhäusern des 19. Jahrhunderts siehe u. a. Elkeles (1996).

MedGG 32  2014, S. 51-68  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Bibliothek des Jüdischen Museums der Stadt Wien.3 Es handelt sich dabei einerseits um Dienstanweisungen aus dem »Spital der israelitischen CultusGemeinde Wien«, dem späteren »Rothschild-Spital«4, und andererseits um Beschwerdebriefe aus derselben Einrichtung, die in den Jahren zwischen 1882 und 1915 an die Direktion des Krankenhauses bzw. an die Direktion der IKG als übergeordnete Instanz verschickt wurden. Die darin angesprochenen Konflikte machen die Machtstrukturen und Handlungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Akteurinnen und Akteuren innerhalb der Krankenhaushierarchie auf eine andere, lebendigere Weise sichtbar, als dies in Hausordnungen und Dienstanweisungen geschieht. Die beschriebenen Konflikte sind nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Funktionswandels des Spitals seit dem 18. Jahrhundert zu sehen, zu dessen Kennzeichen Individualisierung, Medikalisierung, Professionalisierung und Hierarchisierung gehörten.5 Die ärztlichen Bemühungen gingen dahin, aus einer Institution mit fragwürdigem Ruf, in der Menschen – seien es Arme, chronisch Kranke, Reisende, Kinder, Obdachlose – häufig aufgrund sozialer Indikationen untergebracht waren, zu einem Ort zu machen, der eine zielgerichtete medizinische Behandlung ermöglichte sowie für wohlhabende, d. h. zahlende Patientinnen und Patienten attraktiv gemacht werden sollte und der außerdem die Möglichkeit der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung bot.6 Das im Jahr 1873 eröffnete neue Wiener jüdische Krankenhaus erfuhr um 1900 eine rasche Erweiterung, die u. a. durch die tatkräftige finanzielle Unterstützung seitens der Familie Rothschild ermöglicht wurde. Im Jahr 1903 wurde im Rothschild-Spital ein chirurgisch-gynäkologischer Pavillon für 50 Kranke in Betrieb genommen, das Ambulatorium bestand bereits seit dem Jahr 1902. Im Jahr 1906 wurde eine neue Augenambulanz und 1907 eine psychiatrische Ambulanz eröffnet. 1910 erfolgte eine Zweiteilung der medizinischen Abteilung, die inzwischen auf 114 Betten angewachsen war.7 Die Zahl der behandelten Patientinnen und Patienten wuchs ebenfalls stetig. 3

CAHJP, Bestand Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 2393 und A/W 3187, http://cahjp.huji.ac.il/content/austria (letzter Zugriff: 22.1.2014). Mein herzlicher Dank geht an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der CAHJP und der Bibliothek in Wien.

4

Das alte jüdische Spital mit 40 Betten befand sich in der Seegasse 9 neben dem jüdischen Friedhof. Dieser älteste jüdische Friedhof Wiens besteht bis heute. Das neue jüdische Krankenhaus mit anfangs 100 Betten befand sich am Währinger Gürtel 97 und wurde von Anselm Freiherr von Rothschild (1803-1874) in Erinnerung an seinen Vater aus eigenen Mitteln errichtet und dann der IKG geschenkt. Mit dem Bau wurde 1870 begonnen, die Einweihung des Spitals erfolgte am 10. April 1873, am Vorabend des Pessachfestes; siehe Oberreiter (1998).

5

Zum Strukturwandel der Institution Krankenhaus mit Bezug auf Michel Foucault siehe Jütte (1996).

6

Ausführlich zum Bedeutungswandel des Krankenhauses im Zuge der Aufklärung: Paul (1996). Des Weiteren: Spree (1995).

7

Koblizek (1998), S. 24.

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Wurden im Jahr 1900 bei einer Bettenzahl von 100 insgesamt 875 Kranke stationär behandelt, so waren es im Jahr 1903 bei einer Bettenzahl von 150 bereits 1632 und im Jahr 1908 bei einer Bettenzahl von 170 sogar 2349. Ein großer Teil der Patientinnen und Patienten war arm und wurde unentgeltlich behandelt. Ihr Anteil betrug in den Jahren 1902/03 81 Prozent, er sank bis 1908/09 auf 69,2 Prozent.8 Die rasche Expansion des Krankenhauses machte auch die Notwendigkeit der Ausbildung von Krankenpflegepersonen deutlich. Im Gegensatz zur raschen Erweiterung der Klinik und der Schaffung von Arbeitsplätzen für Ärzte erfuhr dieser Berufszweig allerdings aufgrund fehlender finanzieller Mittel keine große Förderung. Das von 1907 bis 1918 bestehende »Kaiserin Elisabeth-Institut für israelitische Krankenpflegerinnen« am Wiener Rothschild-Spital konnte vor allem aufgrund von Spenden und durch das Engagement von Frauen, die die Wichtigkeit einer weiblichen Berufsausbildung erkannt hatten, errichtet werden.9 Für die Kranken ging mit der Aufnahme ins Krankenhaus die Unterordnung in eine fremde soziale Welt mit eigenen Spielregeln einher, wie dies Jens Lachmund und Gunnar Stollberg formulieren.10 Diese veränderte soziale Rolle des Kranken hatte Auswirkungen sowohl auf die ArztPatientinnen/Patienten-Beziehung als auch auf die Beziehung zu anderen Akteurinnen und Akteuren im Krankenhaus. Die Beziehungen waren außerdem stark von der sozialen Herkunft der Kranken bestimmt. Während früher sowohl Arzt als auch Pflegepersonen Gäste bzw. Untergebene im Haus wohlhabender Kranker waren, mussten sich nun die Kranken einer ihnen fremden Ordnung im Krankenhaus beugen. Zu dieser veränderten sozialen Position des bzw. der Kranken gehörten neben der Entfernung aus der gewohnten Umgebung auch der Ausschluss von Angehörigen und Freunden und eine damit einhergehende »Einsamkeit des Kranken«.11 Während das Wartepersonal häufig mehr als Wächter über die Einhaltung der Krankenhausordnung denn als Pflegepersonen in Erscheinung trat, war das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ebenfalls ein Autoritätsverhältnis, das von einer »ärztlichen Interaktionsdominanz« gekennzeichnet war.12 Geregelt wurden die unterschiedlichen Hierarchien innerhalb der Institution durch sog. Spitalsordnungen und Dienstanweisungen. Über die Jahre wurden immer ausgefeiltere Regelungen formuliert, die die Aufgaben und Positionen der einzelnen Akteurinnen und Akteure innerhalb der Institu8

Berichte des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien (1902), S. 16f.; Berichte des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien (1904), S. 17; Berichte des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien (1910), S. 26.

9

Malleier: Professionalisierungsbestrebungen (2008); Malleier: Kaiserin ElisabethInstitut (1998).

10 Lachmund/Stollberg (1995), S. 164ff. 11 Lachmund/Stollberg (1995), S. 170. 12 Lachmund/Stollberg (1995), S. 171ff.

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tionshierarchie bis ins kleinste Detail festschrieben. Nach Martin Scheutz verschränkten Spitalsordnungen Schriftlichkeit, Hierarchie und institutionelle Komplexität miteinander, sicherten Eigenzeit und -raum der Institution und schufen Kontrollierbarkeit durch Oberbehörden und Disziplinargewalt für die lokalen Spitalleiter.13

Wie sahen diese Veränderungen normativer Vorgaben im Lauf der Jahrzehnte im Wiener Rothschild-Spital aus? Da Dienstordnungen nicht zuletzt auch der Vermeidung von Konflikten dienten, werden im Folgenden die Veränderungen in den »Instruktionen« des Wiener Rothschild-Spitals mit Schwerpunkt auf das Warte- bzw. Krankenpflegepersonal vergleichend dargestellt und einer Analyse unterzogen. Dienstordnungen im Wiener Rothschild-Spital Dienstanweisungen können auf mehrfache Art gelesen werden. Als normative Arbeitsanleitungen geben sie Einblick in die Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen des Wartepersonals. Zum anderen sind sie auch ein Beispiel für den Versuch, einheitliche Verhaltensweisen der Arbeitenden festzulegen und eine hierarchische Ordnung zu konstruieren. So können Instruktionen für Wärterinnen und Wärter neben konkreten Handlungsanleitungen für das Personal auch als Versuche gelesen werden, deren Arbeit innerhalb der Krankenhaushierarchie eine bestimmte Position zuzuweisen. Bei einem Vergleich diverser Dienstordnungen über einen längeren Zeitraum fällt zunächst der zunehmende Umfang dieser Instruktionen auf. Kam die älteste Spitalsordnung des jüdischen Spitals aus dem Jahr 1791 noch mit insgesamt 16 Paragraphen aus, von denen sich sechs mit Regeln für den »Spitalsvater« befassten, so enthielt die mehr als acht Jahrzehnte später verfasste »Dienst-Anweisung für das Wartepersonale« aus dem Jahr 1874 bereits 50 Paragraphen. Die 1902 verabschiedeten »Instructionen für WartePersonale und Diener. Haus-Ordnung« schließlich bestanden bereits aus 130 Paragraphen allein fürs Wartepersonal und weiteren 16 Paragraphen für die Hausdiener.14 In den drei Jahrzehnten zwischen 1874 und 1902 war es also zu einer wahren Explosion von Verhaltensregeln für das Wartepersonal gekommen. Beim Durchlesen dieser »Instructionen« entsteht der Eindruck, als sollten sie die nicht vorhandene Ausbildung des Pflegepersonals ersetzen. Zugleich macht ein Blick in die Gehaltsliste des Spitals aus den ersten acht Monaten des Jahres 1902 die Lohnverhältnisse deutlich. Die 20 13 Scheutz (2011), S. 124. 14 Zur Spitalsordnung des jüdischen Spitals in Wien aus dem Jahr 1791 siehe Wölfler (1873), S. 7f. Es handelt sich dabei um eine gekürzte Version des Entwurfs einer Spitalordnung, für die Wölfler irrtümlicherweise das Entstehungsjahr 1897 angibt. Zur ausführlichen Version siehe Pribram (1918), S. 569f. – Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874); Instructionen für Warte-Personale und Diener (1902). Zur Entwicklung von Dienstinstruktionen und Verhaltensvorschriften an nichtjüdischen Spitälern in Österreich zwischen 1796 und 1914 siehe Wiesmühler (2006), S. 38-57.

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festangestellten Wärterinnen verdienten in diesem Zeitraum zusammen ungefähr ebenso viel wie eine einzige Person, nämlich der Spitalsdirektor. Direktor Dr. Leopold Osers15 Gehalt samt Nebenbezügen betrug 3206 Kronen, während die 20 Wärterinnen zusammen 3446 Kronen erhielten, wobei bei Letzteren allerdings noch Unterkunft und Verpflegung hinzukamen16. Die 50 Paragraphen der Dienstanweisung aus dem Jahr 1874 regelten neben konkreten Aufgabenbeschreibungen auch das Verhältnis zwischen Wärterinnen/Wärtern und Patientinnen/Patienten, zwischen Wärterinnen/Wärtern und Ärzten und anderen Beschäftigungsgruppen im Spital. Die Dienstordnung begann mit der Anweisung der Wärterinnen und Wärter zur sorgsamen Pflege der Kranken. Diesen »haben sie ihre ganze Aufmerksamkeit und Thätigkeit zuzuwenden« (§ 1). Im Vergleich dazu betonte der erste Paragraph aus dem Jahr 1902, dass das Wartepersonal »in allen die Krankenpflege in der Anstalt betreffenden Angelegenheiten« der Anstaltsdirektion unterstehe, des Weiteren: »Das Warte-Personale hat allen Anordnungen des Primararztes in Bezug auf die Krankenpflege genau und pünktlich Folge zu leisten.«17 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich also die Betonung der Pflichten der Wärterinnen und Wärter gegenüber den Kranken hin zur Gehorsamspflicht gegenüber der Ärzteschaft verschoben. Wie sah die praktische Krankenpflegetätigkeit laut Dienstanweisung von 1874 aus? Neben der administrativen Regelung der Krankenaufnahme (§ 2) findet sich in § 3 zusammen mit einer weiteren Aufforderung zur freundlichen Aufnahme der Kranken die Anweisung, die Patientinnen und Patienten »zu entkleiden, die Unreinen sofort von Schmutze und etwaigem Ungeziefer vollständig zu reinigen und mit reiner Wäsche zu versehen«. Einer der am 15 Der Arzt Dr. Leopold Oser (1839-1910) war von 1872 bis 1910 Direktor des Rothschild-Spitals. 16 Aufstellung und Kostenvoranschlag von Gehältern und Löhnen des Krankenhauspersonals im »Israelitischen Spital« in Wien für die Jahre 1901-1903. CAHJP, A/W 2393, 1. Der Verwalter Dr. Markus Koranyi bezog mit 2133 Kronen das zweithöchste Gehalt in den ersten acht Monaten des Jahres 1902, die beiden Primarärzte Dr. Otto Zuckerkandl und Dr. Karl Fleischmann verdienten rund 1353 K bzw. 1160 K, der erste Sekundararzt 1200 K. Die anderen Ärzte bzw. Hilfsärzte erhielten zwischen 400 und 933 K plus Wohnung und Verpflegung. In die Kategorie des Dienstpersonals, das zusätzlich Wohnung und Verpflegung erhielt, gehörten u. a. die Wirtschafterin mit einem Lohn von 480 K und der Portier mit 720 K. Die zwei Köchinnen verdienten zusammen 805 K und die vier Hausdiener insgesamt 790 K (36 K/Person und Monat). Ohne Angabe der genauen Personenanzahl genannt sind außerdem die Kategorien »Bedienerinnen und Mägde«, die insgesamt 1686 K verdienten, sowie »temporäres Dienst- und Wartepersonale« mit insgesamt 2902 K Verdienst innerhalb der ersten acht Monate von 1902. 17 Instructionen für Warte-Personale und Diener (1902), § 1.

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häufigsten wiederkehrenden Hinweise in der Dienstordnung war jener, der diverse Reinigungsarbeiten zum Inhalt hatte. Dies lässt darauf schließen, dass es hier öfters zu Konflikten gekommen sein muss. Die Regeln zur Reinigung bezogen sich auf die Kranken, deren Straßenkleidung, auf das Bett, die diverse Bettwäsche, die Krankenzimmer, das Speisegeschirr, Instrumente, Verbandsmaterial und die Wärterinnen bzw. Wärter selbst. »Zu der in der Hausordnung festgesetzten Stunde müssen die Krankenzimmer gereinigt und in Ordnung, und die Wartepersonen ordentlich angekleidet auf ihren Plätzen sein.« (§ 17) Für die Herstellung eines hygienischen Umfelds – seine Bedeutung für die Verhinderung von Krankheitsübertragungen war erst im 19. Jahrhundert »entdeckt« worden18 – war also primär das Wartepersonal zuständig. Mehrere Paragraphen der Dienstordnung regelten den Umgang des Wartepersonals mit dem Eigentum des Patienten bzw. der Patientin, dessen bzw. deren Kleidern oder »sonstigen Effecten«: »Das Eigenthum eines Kranken oder Verstorbenen in eigene Verwahrung zu nehmen ist den Wärtersleuten für alle Fälle strengstens verboten.« (§ 6) Streng geregelt waren für die Kranken der Kontakt nach außen, zu Angehörigen, die Versorgung mit Speisen von auswärts, ebenso das Tragen der eigenen Kleidungsstücke und die erlaubten Tätigkeiten im Krankenhaus: Diejenigen Kranken, denen eine Beschäftigung gestattet ist, dürfen sich mit Lesen, Schreiben und erlaubten Spielen unterhalten, wenn sie sich hierbei ruhig verhalten und ohne Rücksicht auf Gewinn spielen.19

Wie alle Ge- und Verbote lässt auch diese Anweisung darauf schließen, dass das, was verboten wurde, gelegentlich vorkam. Geregelt wurde das Verhalten des Wartepersonals auch gegenüber Sterbenden und Toten sowie gegenüber Spitalsbesucherinnen und -besuchern. In einem eigenen Paragraphen wurde das Besuchsverbot für männliche Diener gegenüber weiblichen Kranken ausgesprochen sowie jenes gegenüber Mägden, »den Kranken Speise oder Getränke einzuschleppen« (§ 36). Der Handel mit Speisen war – wie zeitgenössische Diskussionen auch für das Wiener Allgemeine Krankenhaus (AKH) zeigen – immer wieder Thema. Dabei ging es zum einen um die schlechte Qualität der Krankenhauskost und zum anderen um den Verkauf von Speisen und Getränken durch Krankenhausangestellte, die sich damit ihr niedriges Gehalt aufbesserten. Die schlechte Kost im Krankenhaus und der schwunghafte Lebensmittelhandel waren auch eines der Themen einer im Mai 1887 am AKH durchgeführten Untersuchung, welche in der Folge zu parlamentarischen Debatten im Abgeordnetenhaus führte.20

18 Frevert (1985). 19 Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874), § 16. 20 Malleier (1996).

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Im Unterschied zur Dienstordnung von 1902 wurde in jener von 1874 erst im § 18 neben der Organisation des Wartedienstes auch das Verhältnis Wärterin/Wärter/Arzt detailliert festgeschrieben: Bei der ärztlichen Visite erhalten Wärter und Wärterinnen genaue Angaben darüber, was sie über den ganzen Tag zu thun, und wie sie jeden einzelnen Kranken zu pflegen haben, es müssen also alle für diese Abtheilung bestimmten Wartpersonen bei der Visite zugegen sein, und den Aerzten von Bett zu Bett folgen. Die Dienstwärterin muß dem Primararzte über alle seit der letzten Visite an den Kranken oder im Krankenzimmer vorgekommenen Veränderungen Auskunft geben. Sie hat die Anordnungen für die nächste Dienstperiode in Empfang zu nehmen, durch ein Zeichen zu erkennen zu geben, daß sie dieselben gehört und verstanden habe, und wo nöthig auch die entsprechenden Zeichen an der Kopftafel anzumerken. Die D i e n s t w ä r t e r i n (Wärter) hat sich stets unter den Kranken aufzuhalten, und darf die Abtheilung durchaus nicht verlassen.21

Neben der »Dienstwärterin« gab es die »Beiwärterin«. Sie trug »nach der Visite die Extracte oder das Receptbuch in die Apotheke, die Diätzettel in die Küche, die Kopfzettel der Entlassenen in die Kanzlei, besorgt überhaupt den Dienst außerhalb des Krankenzimmers«.22 Als weitere Hilfsperson wird in der Dienstordnung von 1874 die »Pavillonmagd« genannt, die u. a. für das Essenholen zuständig war. Zusätzlich zu den schon genannten umfangreichen Tätigkeiten der Wärterinnen und Wärter wie Überwachungsund Pflegearbeiten, der Versorgung Sterbender und Toter, der geschilderten Zusammenarbeit mit den Ärzten, der Durchführung administrativer Tätigkeiten sowie diverser Reinigungsarbeiten werden als weitere Aufgaben der Wärterinnen und Wärter noch genannt: die Heizung der Öfen, das Anzünden der Gasflammen, die Stellung der Ventilationsvorrichtungen und die Herrichtung der Bäder (§ 44). So mussten die dienstleistenden Wärtersleute durch die Nacht wachen, dürfen sich durchaus nicht zu Bett begeben, um den schwächeren Kranken besonders hilfreiche Hand bieten zu können. Sie müssen jeden Kranken, ohne Unterschied, sanft und freundlich behandeln, seine Schwächen und Launen mit möglichster Geduld ertragen, sich nicht in Streit oder Zank mit ihm einlassen, den Widerspenstigen und Unfolgsamen nicht schimpfen, sondern Beschwerden, welcher Art sie immer sein mögen, den Vorgesetzten zur Abhilfe bekannt geben.23

Modern mutet die Vorschrift an, die Kranken nicht nach ihren Krankheiten zu benennen, sondern bei ihrem Namen mit Vorsetzung von »Herr« und »Frau« zu bezeichnen (§ 45). Auch die dienstfreie Zeit des Wartepersonals, das verpflichtet war, im Haus zu wohnen, wurde in der Dienstordnung von 1874 geregelt: Nach dem Mittagessen, und wenn die Krankenzimmer gereinigt sind, kann die dienstfreie Wärterin (Wärter), also jeden 2. Tag, sich behufs ihrer eigenen Erholung aus der Anstalt entfernen, muß aber bis 6 Uhr abends wieder zurück und in ihrem Zimmer 21 Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874), § 18 (Hervorhebung im Original). 22 Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874), § 19 (Hervorhebung im Original). 23 Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874), § 45.

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sein, um erforderlichen Falles Aushilfsdienste leisten zu können. Ein längeres Ausbleiben kann nur gegen einen Erlaubnißschein gestattet werden, welcher Schein dann beim Eintritte in das Haus dem Portier übergeben werden muß.24

Es war den Wärterinnen und Wärtern verboten, andere Personen im Wärterszimmer übernachten zu lassen (§ 47). Die letzten Paragraphen der Dienstordnung betrafen das Verbot, Trinkgelder oder »Geldeswerth für geleistete oder zu leistende Dienste zu verlangen« (§ 46), sowie Kündigungsformalitäten. Das Dienstverhältnis konnte von beiden Seiten mit 14-tägiger Kündigungsfrist aufgelöst werden, »im Falle schlechter Aufführung« auch ohne Frist. Über das »schlechte Benehmen« entschied der Primararzt oder der Verwalter, ein Rekurs (Einspruch) dagegen war nicht zulässig (§ 48). Für geringere Vergehen waren Dienstenthebungen von 14 Tagen oder vier Wochen möglich (§ 49). Wie diese Vorgaben deutlich machen, wurde von einer grundsätzlich unbegrenzten Verfügbarkeit des Pflegepersonals – und zwar sowohl des männlichen als auch des weiblichen – ausgegangen. Dass Pflegende nur mit einer besonderen Erlaubnis das Haus verlassen durften, war damals auch in anderen Spitälern üblich, ein eigenes Zimmer für das Wartepersonal jedoch nicht. Berüchtigt waren jene Holzverschläge, in denen die Wärterinnen des Allgemeinen Krankenhauses in Wien schliefen und die den amerikanischen Besucherinnen und Verfasserinnen der ersten umfassenden Geschichte der Krankenpflege, Lavinia Dock und Adelaide Nutting, so negativ in Erinnerung geblieben waren: Their sleeping accommodations are cubicles in the wards – not outside of the wards, but in them – on a line with the patients’ beds. In these boxes they also take their meals, which they bring up for themselves […].25

Dass das Wartepersonal jeden zweiten Tag einige Erholungsstunden hatte, in denen es sich vom Krankenhaus entfernen konnte, stellte im Vergleich zu anderen Spitälern ebenfalls eine Besserstellung dar.26 Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass diese Freizeitregelung auch in der Dienstanleitung des Wiener jüdischen Spitals eher einem theoretischen Idealzustand als der Realität entsprach. So schrieben Wärterinnen in einer Beschwerde noch im Jahr 1913 von 30-Stunden-Diensten.27 So weit zu den vielfältigen Regelungen in 24 Dienst-Anweisung für das Wartepersonale (1874), § 23. 25 Dock/Nutting (1910), S. 515f., und Hofmokl (1910), S. 62f. Eine Abbildung eines solchen Verschlages aus dem Jahr 1905 befindet sich im Buch von Walter (2004), Anhang 13. 26 Es konnte vorkommen, dass eine Pflegerin wochenlang nicht in der Lage war, das Krankenhaus zu verlassen. So berichtete beispielsweise Agnes Karll (1868-1927) – die Gründerin der »Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands« (gegründet 1903) –, während ihrer Ausbildung drei Wochen lang nicht aus dem Gebäude herausgekommen zu sein. Siehe u. a. Rübenstahl (1994), S. 82. 27 Beschwerde der Pflegerinnen Martha Medek, Anna Sperl, Emilie Thiel an den Präsidenten der IKG, 27. Mai 1913. CAHJP, A/W 2393, 1.

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den Dienstordnungen des Rothschild-Spitals. Im Folgenden werden den hier beschriebenen Normen – sozusagen als die Realität des Krankenhausalltags ergänzendes »Kontrastprogramm« – die Beschwerdebriefe mit ihren Hinweisen auf Brüche und Widerstände gegen diese Normvorgaben entgegengesetzt. Beschwerden im Wiener Rothschild-Spital (1882 bis 1915) Konflikte im Krankenhaus konnten sich zwischen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren entwickeln, etwa zwischen Patientinnen/Patienten und Ärzten, Patientinnen/Patienten und Wärterinnen/Wärtern sowie Wärterinnen/Wärtern und Ärzten, und zwar zwischen Einzelnen oder Gruppen der Genannten und der Spitalsverwaltung, aber auch innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen. Anlässe für Beschwerden seitens der Kranken konnten aber auch das Essen oder die mangelnde Rücksicht auf religiöse Bedürfnisse sein. So wurde im Jahr 1907 in der Neuen National-Zeitung unter dem Titel »Wie arme Juden sterben« gegen das Rothschild-Spital der Vorwurf vorgebracht, dass Schwerkranke nur widerwillig aufgenommen, die Angehörigen eines Sterbenden nicht verständigt und in der Todesstunde niemand gerufen würde, um mit dem Sterbenden das »Sch’ma Jisroel« zu beten. In jedem Spitale Wiens wird jedem sterbenden Christen sein »Vaterunser« vorgebetet; selbst im »Allgemeinen Krankenhause« haben die Juden in diesen letzten Monaten Zuspruch eines bestellten Gemeindebeamten. Nur im Rothschild-Spital muss der Jude wie ein Tier verenden…28

Am deutlichsten wurde die Kritik an Missständen im Spital von den sog. »Zahlstockpatienten« (d. i. Privatpatienten) formuliert. Ein solcher Patient war Dr. R., der sich in den Jahren 1904, 1905 und 1906 im RothschildSpital hatte behandeln lassen. Er beschwerte sich jedes Mal sowohl über die Kost als auch über die pflegerische und medizinische Betreuung. Das Fleisch und die Semmeln seien von schlechter Qualität, die Kost insgesamt schlecht zubereitet und kalt serviert. Die Wärterinnen ließen sich oft stundenlang nicht blicken und würden medizinische Verordnungen nicht genau bzw. zu spät durchführen. Der Primararzt habe sich nach einer schweren Operation zehn Tage lang nicht um ihn gekümmert, und eine von einem jungen Arzt vorgenommene Katheterisierung sei so ungeschickt durchgeführt worden, dass es zu inneren Verletzungen gekommen sei, worunter der Patient über zehn Monate lang gelitten habe. Und außerdem seien die bisherigen Beschwerden des Patienten seitens der Spitalsdirektion unbeantwortet geblieben, klagte Dr. R.29 Ein anderer Privatpatient, der strenggläubige Bankkaufmann Isaac T. aus Przemysl, sah seine religiösen Bedürfnisse im Rothschild-Spital grob ver28 Schacherl (1907), online unter http://www.compactmemory.de/ (letzter Zugriff: 22.1.2014). 29 Bericht ohne Namen des Verfassers (Dr. R.), 1908. CAHJP, A/W 2393, 1.

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letzt und legte dies anhand einer ganzen Beschwerdeliste dem Präsidenten der IKG, Dr. Alfred Stern, in einem Brief dar30: Die Tatsache, dass sowohl beim Eingangstor als auch bei den Krankenzimmern keine »Mesuse« (jiddisch für »Mesusa«31) angebracht war, errege die Gemüter frommer Kranker bereits beim Eintritt in das Krankenhaus, anstatt sie zu beruhigen. Des Weiteren würden die koscheren Speisegesetze durch die fehlende Trennung von Speisegeschirr und Essbesteck für Milchiges und Fleischiges gröblich verletzt und die Kranken würden anstatt koscher »nur mit Treife«, d. h. mit rituell Unreinem, verköstigt. Dabei sei es irrelevant, ob die Verletzung der Speisegesetze bereits in der Küche oder durch nichtrituelle Behandlung der zubereiteten Speisen durch das falsche Geschirr und Besteck erfolge. Und schließlich seien Ärzte, die am Sabbat rauchend im Krankenhauskorridor promenierten, ebenfalls ein verletzender Anblick für Gläubige. Darüber hinaus beschwerte sich Herr T. noch darüber, dass Anselm Freiherr von Rothschild nicht in allen Druckschriften des Spitals als dessen Stifter genannt sei. Der Beschwerdeführer gab sich jedoch überzeugt, dass Dr. Alfred Stern32 als »ehrenhafter loyaler Vorstand« der Israelitischen Kultusgemeinde seine Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen genau kennen und auch erfüllen würde. Wer um die jahrzehntelangen Konflikte der Wiener IKG mit den strenggläubigen Juden weiß, wird aus dieser Bemerkung auch eine Spitze gegen die IKG heraushören.33 Die Replik der Kultusgemeinde auf den Tadel erfolgte in diesem Fall rasch und bestand darin, darauf hinzuweisen, dass sehr wohl an den »meisten Krankenzimmern« eine Mesusa angebracht sei und dass es selbstverständlich gesonderte Essbestecke für Milchiges und Fleischiges gebe. Gegen das Rauchen der Ärzte auf den Krankenhauskorridoren werde ein Direktionserlass ausgeschickt, um dieses Verbot wieder in Erinnerung zu rufen. Bezüglich des in den Drucksorten verwendeten Titels »Spital der israelitischen Cultusgemeinde« sei man gern bereit, für das Krankenhaus die Bezeichnung »Rothschild-Spital« einzuführen.34 Gelegentlich wagten auch solche Kranken eine Klage, die nicht Privatpatientinnen und -patienten waren. So reichten im September 1911 die Schwestern Fanni und Julie N. eine Beschwerde über das demütigende Ver30 Isaac T., Przemysl, an Dr. Alfred Stern, 25. Februar 1914. CAHJP, A/W 2393, 1. 31 Schriftkapsel, die ein Gebet enthält und in religiösen Haushalten an jedem Türpfosten angebracht wird. 32 Dr. Alfred Stern (1831-1918) war Jurist und ab 1888 über drei Jahrzehnte Vorstand der IKG Wien; siehe Österreichisches Biographisches Lexikon online: http://www.biographien.ac.at/oebl?frames=yes (letzter Zugriff: 22.1.2014). 33 Burstyn (1988). 34 Dr. Carl Fleischmann an die IKG, 3. März 1914. CAHJP, A/W 2393, 1. Carl Fleischmann (1859-1924) war Leiter der gynäkologischen Abteilung und Leopold Osers Nachfolger als Direktor des Rothschild-Spitals.

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halten eines Arztes ein und wichen auch bei nochmaliger Befragung nicht von ihrer Schilderung ab. Die 46-jährige Julie N. war herzkrank und hatte bereits seit mehreren Jahren aus der »Dr. Adolf Sachs Stiftung für Herzund Aortakranke« eine monatliche Unterstützung von 10 Kronen erhalten. Für eine Verlängerung dieses Bezuges war es nötig, ein neues Zeugnis vom Spital der IKG über die Herzkrankheit einzureichen. Als sie sich dieses Zeugnis besorgen wollte, ließ sie der behandelnde Arzt zunächst unnötig lange warten und kommentierte die Beschwerde der Schwester mit der Feststellung: »Wären Sie zu Hause geblieben, ich habe Sie nicht gerufen.« Im Untersuchungszimmer forderte er die Patientin auf, sich zu entkleiden, und zog dann andere, nichtjüdische Patientinnen – wie die Schwestern in ihrer Beschwerde betonten – vor. Als Julie N. während der Wartezeit ihre Blöße mit ihrer Bluse bedeckte, da durch die offene Ambulanztür männliche Kranke ins Ambulanzzimmer schauten, wies sie der Arzt mit den Worten zurecht: »Wenn sie arm sind, dürfen Sie sich nicht schämen und wenn ich zehn Männer hereinrufen will, sie müssen sich auch entkleiden, dafür werden sie gratis behandelt […].«35 In ihrer Aufregung über diese demütigende Behandlung verlor die Patientin anschließend das Zeugnis und stieß beim Versuch, sich ein neues zu verschaffen, auf weitere Unannehmlichkeiten, worauf sie infolge der ganzen Aufregung ohnmächtig wurde. Von ärztlicher Seite wurde damit argumentiert, dass sich die Patientin nicht habe entkleiden wollen und nur das ärztliche Parere (Gutachten) abholen wollte. Auch sei sie unzufrieden gewesen, weil der neue Befund nicht mit dem früheren übereinstimmte, durch den sie in den Genuss der Unterstützung gekommen sei.36 Die Kultusgemeinde antwortete mit einer Ermahnung und einer vorsichtigen Parteinahme für die Schwestern. Es sei wohl davon auszugehen, dass die Angaben der Schwestern N. »nicht unrichtig« seien. Auch könne bei diesem »sehr bedauerlichen konkreten Anlasse« nicht verschwiegen werden, dass Klagen über einen nicht immer entsprechenden Umgang mit den Patienten seitens einzelner Herren Ärzte nicht zu den Seltenheiten gehören, und dass sich hieraus in weiteren Kreisen der Bevölkerung, welche ja immer generalisiert, eine unrichtige Meinung über das Spital

bilden könne. Ein verletzender Umgang mit den Kranken sei »in keinem Spitale, am allerwenigsten aber in einem jüdischen Spitale zu rechtfertigen«, so die IKG weiter.37 Auch das Schutzdamenkomitee des »Israelitischen Mädchenwaisenhauses« wandte sich einmal mit einer Bitte an den Vorstand der IKG, die ebenfalls den rauen Umgangston betraf, diesmal allerdings seitens anderer Patientin35 Fanni und Julie N., Beschwerdeprotokoll, 8. September 1911. CAHJP, A/W 2393, 1. 36 Stellungnahme von Carl Fleischmann an die IKG Wien vom 14. September 1911. CAHJP, A/W 2393, 1. 37 IKG an Dr. Fleischmann, 19. September 1911. CAHJP, A/W 2393, 1.

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nen und Patienten. »Die Kinder, die mit Kranken aus allen Schichten der Bevölkerung dort in einem Zimmer liegen, hören oft Dinge sprechen, sehen mancherlei, was man in der häuslichen Erziehung sorgfältig vermeidet.«38 Um diese schädlichen Einflüsse zu vermeiden, bat man, den Kindern gegen eine Aufzahlung die Begünstigung angedeihen zu lassen, in einem Extrazimmer untergebracht zu werden.39 Wärterinnen waren ebenfalls Gegenstand von Beschwerden. So wurde im Jahr 1912 in einem anonymen Schreiben, das mit »Viele Augenkranke« gezeichnet war, in ungelenker Schrift und fehlerhafter Rechtschreibung das inhumane Verhalten der Wärterinnen auf der Augenabteilung angeprangert. Es heist das wir Juden human sind, doch wo besteht diese Humanität? Im Rothschildspital sind Wärterinnen, die für eine Strafanstalt passen und nicht für die Pflege armer kranker Juden. Warum sind in einen Jüdischen Spital nicht auch Pflegerinen, eine Wohltat der Menschen diese Engeln an Sanftmut. [sic!]40

Auf der Augenabteilung seien die Wärterinnen wahre Bestien, wie eine Befragung der Kranken bestätigen würde. Am Ende des Schreibens wurde damit gedroht, an die Öffentlichkeit zu gehen, um die Kranken davor zu warnen, das Rothschild-Spital aufzusuchen.41 In der Stellungnahme des Spitalsdirektors Dr. Carl Fleischmann hieß es dazu, dass eine Befragung auf der Augenabteilung keinerlei Anhaltspunkte für eine Begründung der Beschwerde ergeben habe. Im Juli 1915 wurde die Beschwerde eines Rabbiners und galizischen Flüchtlings beim »Verein für arme kranke Israeliten« gegen die unwürdige Behandlung im jüdischen Spital eingereicht.42 Ein über Empfehlung des Herrn Rabbiners Baumgarten von der »Schiffschul« aufgenommener Patient musste eine »Unterleibsfistel-Operation« durchführen lassen. Als der Patient wegen seines geschwächten Zustandes die Toilette nicht mehr rechtzeitig erreichte und den Boden des Zimmers beschmutzte, wurde er von einer Wärterin geschlagen. Dies konnte von anderen im Zimmer anwesenden Patienten bestätigt werden. Außerdem habe ihm die Wärterin seine Pelzweste und seine Röhrenstiefel weggenommen und er habe sie nicht wie38 An den Vorstand der IKG, 21. Juni 1882. CAHJP, A/W 2393, 1. Das durch eine Stiftung von Charlotte Lea Merores geb. Itzeles im Jahr 1902 eröffnete »Israelitische Mädchenwaisenhaus« befand sich in der Bauernfeldgasse 4 im 19. Bezirk von Wien. 39 Die Forderung nach einer Trennung von Kindern und Erwachsenen war auch ein Argument für die Errichtung von Kinderkrankenhäusern; siehe dazu die Debatten im jüdischen Kinderkrankenhaus in Budapest: Malleier: Beitrag zur Geschichte (2009). 40 Anonymes Schreiben an den Hochlöblichen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, 1912. CAHJP, A/W 2393, 1. 41 Anonymes Schreiben an den Hochlöblichen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, 1912. CAHJP, A/W 2393, 1. 42 Protokoll aufgenommen am 22. Juli 1915. CAHJP, A/W 2393, 1.

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der erhalten. Wie die Direktion des Spitals wenige Tage später mitteilte, war die betreffende Wärterin entlassen worden. Bezüglich der verschwundenen Sachen wurde eine gerichtliche Untersuchung angekündigt. Auch seitens des Wartepersonals konnte es zu Beschwerden kommen. Die Grenze zwischen persönlichen Animositäten und real stattgefundenen Ungerechtigkeiten ist nachträglich nicht mehr zu ziehen. So stieß beispielsweise das Verhalten des Verwalters auf Kritik. Während Wärterinnen getadelt würden, wenn sie bei Erledigungen länger ausblieben oder Besuch erhielten, könne die Wirtschafterin mit einem Beamten des Krankenhauses Stunden allein verbringen, ohne dass es den Verwalter kümmerte. Während die Wirtschafterin in ihrem Zimmer »abendliche Festmahle« mit dem Mann veranstalte, würden die Wärterinnen zu wenig zu essen bekommen.43 In einer anderen Beschwerde seitens dreier Wärterinnen aus dem Jahr 1913 ging es ebenfalls um ein vermutetes bzw. nahegelegtes »unanständiges Verhalten« einer Kollegin, einer Pflegerin, die laut Aussage »ihre Nachtdienste statt bei den Patienten im Zimmer eines Arztes« absolviere. Die Beschwerdeführerinnen forderten die Entlassung der Betreffenden »binnen 24 Stunden […] im entgegengesetzten Falle diese schamlosen Zustände in den nächsten Tagen in den Wiener Blättern publiziert werden«.44 Die Frau wurde aufgrund der Beschuldigung tatsächlich entlassen. Hinweise darauf, dass der Arzt ebenfalls entlassen wurde, gibt es nicht. Hauptkritikpunkt im Schreiben der Wärterinnen war in diesem Fall jedoch eine neue Vorgesetzte, eine Oberpflegerin. Diese war Wärterinnen mit jahrelanger Erfahrung, die »ihren Dienst stets pflichtgetreu ausgeübt« hätten, vor die Nase gesetzt worden und trete nun mit Kleinlichkeiten an die ohnehin schon überlasteten Pflegerinnen, die manchmal bis zu 30 Stunden ununterbrochen im Dienst seien, heran.45 Bereits im Jahr 1902 war es in der Versorgungsanstalt der IKG Wien, dem ehemaligen jüdischen Spital, zu ähnlichen Spannungen zwischen Wärterinnen und anderen weiblichen Mitarbeiterinnen gekommen. Damals hatten zwei Wärterinnen, Elvira S. und Franziska St., aufgrund von Streitigkeiten mit einer ehrenamtlich arbeitenden »Ehrendame« die Kündigung eingereicht.46 Doch auch das Verhalten der 43 »Euer Hochwohlgeboren« (ohne Datum). CAHJP, A/W 2393, 1. 44 Die Beschwerdeführerinnen waren die Pflegerinnen Martha M., Anna S., Emilie T. an den Präsidenten der IKG, 27. Mai 1913. CAHJP, A/W 2393, 1. 45 Zu den ebenfalls missglückten Versuchen, Ende des 19. Jahrhunderts an den öffentlichen Wiener Krankenhäusern sog. »Prefäktinnen« und später sog. »Oberpflegerinnen« als weibliche Vorgesetzte für die Wärterinnen einzusetzen, siehe Walter (2004), S. 205216. Zu den vielfältigen Konfliktebenen im Krankenhaus in Bezug auf Führungspositionen in der Krankenpflege bzw. zwischen Krankenpflege und Medizin siehe HähnerRombach (2008) und Blessing (2006). Zu Österreich siehe auch Malleier (1996) und Malleier: Débacle (2009). 46 Bericht der Versorgungs-Anstalt der israelitischen Cultusgemeinde Wien an Theodor Goldschmidt, 12. August 1902. CAHJP, A/W 2393, 1.

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Ärzte gegenüber den Pflegerinnen lasse zu wünschen übrig, fuhren die Kritikerinnen fort. Riefen sie während des Nachtdienstes den Arzt, so würde die betreffende Pflegerin von diesem angefahren. Auch sei es schon öfters vorgekommen, dass in dringenden Fällen im ganzen Haus kein Arzt anwesend war. Die Beschwerde endete mit der Feststellung, dass eine Kontrolle der Herren Ärzte jedenfalls notwendiger sei als die der Pflegerinnen.47 Schluss Für eine Historikerin kann es bei einer Berücksichtigung dieser Dokumente als Quellen zur Krankenhaus- und Krankenpflegegeschichte nicht so sehr darum gehen, herauszufinden, welche Beschwerde jeweils begründet war und welche nicht. Was eine Auseinandersetzung mit diesen Zeugnissen jedoch ermöglicht, ist ein Einblick in die Macht- und Hierarchieverhältnisse innerhalb eines Krankenhausbetriebes jenseits stereotyper Lobeshymnen, wie sie üblicherweise in Jahres- und Jubiläumsberichten zu lesen sind. Die in den Dienstanweisungen präsentierte Ordnung im Krankenhaus wird durch die Beschwerdebriefe in Frage gestellt und macht deutlich, dass Ideal und Wirklichkeit häufig nicht übereinstimmten. Anlass für Kritik konnten dabei religiöse Fragen wie etwa Zweifel an der Einhaltung koscherer Speisegesetze sein, mehrheitlich handelte es sich aber um Konflikte zwischen Akteurinnen und Akteuren im Krankenhaus als Einzelpersonen oder als Gruppe, seien es Patientinnen/Patienten, Pflegerinnen/Pfleger, die Ärzteschaft oder die Krankenhausverwaltung. Hinterfragt und neu ausgehandelt wurden dabei Machtstrukturen, Handlungsspielräume und soziale Hierarchien, Rechte der Patientinnen und Patienten sowie Geschlechterfragen. Sichtbar werden so zum einen klassenspezifische Unterschiede in der Behandlung von Patientinnen und Patienten, aber auch die starke gegenseitige soziale Kontrolle. Diese bestand insbesondere auf den unteren Hierarchieebenen des Krankenhauspersonals und spiegelt die eingeengte und rechtlose Position der Akteurinnen und Akteure wider. Dass eine gegenseitige Kontrolle von Patientinnen bzw. Patienten und Pflegepersonal von der Krankenhausleitung durchaus beabsichtigt war, weist Barbara Leidinger in ihrer Studie zu einem Bremer Krankenhaus nach.48 Es kam allerdings, wie das zuletzt genannte Beispiel einer Beschwerde von Wärterinnen zeigt, durchaus auch zu einer Kritik am Verhalten der Ärzte gegenüber dem Pflegepersonal. Eine weitere Auffälligkeit ist das Ausmaß sozialer Kontrolle insbesondere für das weibliche Pflegepersonal. Dabei scheinen sich vor allem die Frauen gegenseitig kontrolliert zu haben. Diese Kontrolle umfasste das Privatleben ebenso wie die Freizeit. Gordon Uhlmann spricht in diesem Zusammen-

47 Beschwerde von Martha M., Anna S., Emilie T. an den Präsidenten der IKG, 27. Mai 1913. CAHJP, A/W 2393, 1. 48 Leidinger (2000).

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hang daher von Internierungszwang.49 Diese Arbeitsorganisation kann einerseits mit einer möglicherweise zum Teil noch bestehenden Vorstellung des »ganzen Hauses« als Ort, in dem Leben und Arbeit nicht klar getrennt waren, erklärt werden50, zum anderen aber auch damit, dass man weltliches Pflegepersonal in ein Lebensraster pressen wollte, das jenem eines christlichen Ordens oder einer Kongregation entsprach. Dass es Versuche der Installierung derartiger ordensähnlicher Einrichtungen für Krankenpflegerinnen und -pfleger auch in jüdischen Spitälern gab, zeigt das Beispiel der jüdischen Beerdigungsbruderschaften in Budapest. So schrieb etwa die Pester Chewra Kadischa im Jahr 1909 von Plänen, die Frage fehlender ausgebildeter Krankenpflegerinnen und -pfleger mit der Schaffung eines »förmliche[n] jüdische[n] Orden[s] der ›barmherzigen Schwestern‹« zu lösen.51 Auch wenn diese Pläne nicht zum Erfolg führten, kann die von Claudia Prestel und Hilde Steppe52 für das Deutsche Reich formulierte These, wonach jüdische Krankenschwestern in einem geringeren Ausmaß Forderungen nach Unterordnung, Gehorsam und Selbstaufopferung ausgesetzt waren als ihre christlichen Berufskolleginnen, für Österreich-Ungarn daher nur mit Einschränkungen bestätigt werden.

49 Uhlmann (1996), S. 408. 50 Ausführlich zum Konzept des »ganzen Hauses« und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Wunder (1992). Zum Konzept des »ganzen Hauses« mit dem Ehepaar als Arbeitseinheit, das für kleinere Krankenhäuser teilweise noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt, am Beispiel des jüdischen Krankenhauses in Prag siehe Malleier: Beiträge zur Organisation (2009). 51 Anonym (1909), S. 1. Ausführlich dazu Malleier (2007), S. 227ff., und Malleier: Beitrag zur Geschichte (2009). 52 Prestel (1992), S. 57; Steppe (1997), S. 252f.

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Gemeindepflege um 1900 Bettina Blessing Summary Parish nursing around the year 1900 This contribution first introduces the factors that supported the development of parish nursing before going on to explain the diverse organizational concepts involved and their development over time. It looks at the various Catholic and Protestant as well as secular institutions active in this field. The article then discusses the manifold tasks, fields of work and approaches to problem-solving that were characteristic of parish nursing. The various cultural, social and religious problems that the parish nurses had to contend with on a daily basis are also presented, including the increasing competition with other professional groups. The article concludes by looking at the standing of parish nurses in society and the advantages and disadvantages of parish nursing as opposed to hospital nursing from the point of view of the parish nurses themselves.

Einleitung Unterschiedliche Faktoren trugen zur Entwicklung der Gemeindepflege bei. Die mit der Industrialisierung einhergehenden Umwälzungen des 19. Jahrhunderts stellten die Gesellschaft vor neuartige Probleme.1 Die Familienund Haushaltsstrukturen in den Städten und auf dem Land veränderten sich und ließen die Einstellung von Gemeindekrankenpflegerinnen als sinnvoll erscheinen.2 Hatten bis dahin vor allem Frauen ihre kranken Familienmitglieder gepflegt, konnten sie dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen, wenn sie einer regelmäßigen Erwerbsarbeit außer Hause nachgingen.3 Zur Verbreitung der Gemeindepflege trug aber auch die Ausdifferenzierung der Armenfürsorge zur »sozialen Fürsorge« bei; Konzepte zum Ausbau der Gesundheits-, Kinder- und Jugend-, Arbeitslosen- und Wohnungsfürsorge machten deutlich, dass die Einrichtung der Gemeindekrankenpflege ein weiteres geeignetes Instrumentarium zur Versorgung unbemittelter Schichten war.4 Darüber hinaus wurde die Gemeindepflege durch die Entwicklung der Medizin gefördert. Die naturwissenschaftliche Medizin, die die alte Säftelehre ablöste, veränderte das Gesundheitsbewusstsein und ließ den Wunsch nach einer verbesserten medizinischen sowie auch pflegerischen Versorgung reifen.5 Eine weitere Ursache, die das Aufkommen der Ge1

Sachße (2003), S. 20.

2

Zur Veränderung der Familien- und Haushaltsstrukturen vgl. zum Beispiel Gestrich (2003).

3

Abeling (1898); Böhringer (1995), S. 6.

4

Reininger (1998), S. 24.

5

Brunner (1910), S. 1. Zur Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin vgl. zum Beispiel Eckart (2011), S. 107-136.

MedGG 32  2014, S. 69-92  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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meindepflege begünstigte, ist in der Hygienebewegung zu suchen, deren Ziel die Verbesserung der natürlichen Lebensumwelt des Menschen war.6 Zur Verbreitung und Umsetzung der Hygienekonzepte sah man die Gemeindeschwestern als geeignete Multiplikatoren an. Außerdem nahm die Gemeindepflege durch die Einführung der Kranken- und Invaliditätsversicherungen einen sichtbaren Aufschwung.7 Entscheidende Impulse zur Organisation der Gemeindepflege gingen von den Kirchen und ihren Protagonisten aus, die sich aufgrund ihres theologischen und sozialen Fundaments für die Versorgung armer Kranker engagierten.8 Aber auch Ärzte und Vereine machten es sich zur Aufgabe, die Gemeindepflege voranzutreiben, um eine Linderung der Not zu erzielen. Besonders problematisch stellte sich die Versorgungslage der Kranken um 1900 in kleinen Städten und auf dem Land dar. Die ländlichen Regionen verfügten nur in einem geringen Ausmaß über Krankenhäuser. Erschwerend kam hinzu, dass die Ärzte oft mehrere Stunden entfernt von den Kranken wohnten.9 Um 1900 war die Mehrheit der deutschen Bevölkerung noch auf dem Land sesshaft: So lebten 1871 zwei Drittel der 41 Millionen Einwohner Deutschlands in ländlichen Gemeinden, nur 4,8 Prozent in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Bis 1910 hatte sich die Bevölkerung auf 64,4 Millionen vermehrt, von denen sich nunmehr 21,3 Prozent in Großstädten niedergelassen hatten.10 Da die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin in mehr oder weniger ländlich strukturierten Gebieten wohnte, richtet der Beitrag seinen Fokus vor allem auf die ländliche Gemeindepflege. Trotz des Bemühens, die Gemeindepflege auf dem Land einzuführen, verfügte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der weitaus größte Teil der ländlichen Gemeinden nicht über eine entsprechende Versorgungseinrichtung.11 Einer Schätzung zufolge waren 1913 von etwa 70.000 in Deutschland gelegenen Ortschaften mit weniger als 2000 Einwohnern noch etwa 60.000 ohne »geordnete Krankenpflege«.12

6

Schilling (1898), S. 59.

7

Berbig (1900), S. 146.

8

Friedrich (2006), S. 85; Gatz (1997). Zur Bedeutung der Landkrankenpflege des Deutschen Caritasverbandes und ihres Initiators Pfarrer Matthias Kinn (1847-1918) vgl. Reininger (1998).

9

Büttner (1898); Mazner (1908), S. 164; Lutzer (2002), S. 459. Zur medizinischen Unterversorgung auf dem Land vgl. Schweikardt (2008), S. 115f.

10 Sachße (2003), S. 20. 11 Brunner (1910), S. 1; Jacobsohn (1902), S. 242. 12 Schweikardt (2008), S. 117.

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Organisationsformen Die unterschiedlichen Verhältnisse vor Ort führten zu flexiblen Regelungen, so dass die Gemeindepflege von verschiedenen Organisationen ausgeübt wurde. In größeren Kommunen konnten verschiedene Einrichtungen nebeneinander existieren. Grundsätzlich muss zwischen geistlichen und weltlichen Berufskrankenpflegerinnen unterschieden werden. Zu Ersteren gehörten die katholischen Ordensschwestern und die Diakonissen. Im 19. Jahrhundert widmete sich eine Reihe katholischer Orden der ambulanten Pflege, unter ihnen die Clemensschwestern, die Franziskanerinnen, die Dienstmägde Christi und die Grauen Schwestern.13 Grundsätzlich widersprach es dem Ordensideal, dass sich die Ordensschwestern alleine niederließen; d. h. einer Gemeindestation sollten mindestens zwei Schwestern angehören.14 Zudem durfte das Mutterhaus nicht zu weit von der Gemeindestation entfernt sein, damit der Austausch gewahrt blieb und das Mutterhaus die Kontrolle behielt. Mitunter gab es auch Vorbehalte gegenüber den katholischen Ordensfrauen; so waren sie aufgrund ihrer abgeschiedenen Lebensweise dem Vorwurf ausgesetzt, der Haushaltsführung, die sie zum Beispiel für die erkrankte Mutter übernehmen sollten, kein Verständnis entgegenzubringen. Hinzu kam, dass es sich für eine katholische Ordensfrau nicht schickte, kranke Wöchnerinnen zu Hause zu pflegen.15 Vor allem war die Gemeindekrankenpflege aber auch deshalb ein problematisches Arbeitsfeld für katholische Ordensschwestern, da sie sich durch den Kontakt mit Weltlichen, insbesondere durch die Pflege in den Familien, vom strengen Ordensleben entfernen konnten. Diesbezüglich stellte der Verband katholischer Kranken- und Pflegeanstalten fest: Sie sehen auch manchmal ein schönes Familienleben zwischen Mann und Frau und Kindern, sehen vielleicht, wie junge Eheleute sich untereinander oder den Kindern allerlei Zärtlichkeiten erweisen, hören vielleicht junge Frauen, die ungefähr in ihrem Alter sind, in überschwänglichen Ausdrücken von ihrem Glück, ihrem Manne, ihren Kindern erzählen u. dgl. Das macht leicht Eindruck auf das Herz und kann, wenn man länger in solchen Familien pflegen muss, schwere Versuchung gegen den heiligen Beruf mit sich bringen; er kann Ihnen [sic!] als ein zu großes Opfer vorkommen, als ein zu großer Verzicht auf so viel Schönes, und es können sich allerlei Wünsche in ihnen regen.16

13 Brunner (1910), S. 71; Ehl (1922), S. 185-194. Zu den Clemensschwestern jetzt auch Faber (2014). 14 Brunner (1910), S. 30; Holzmann (1907), S. 12. 15 Krüger (1903), S. 122. 16 Ehl (1922), S. 186f. Ähnliche Vorbehalte gab es allerdings auch bei den Diakonissen; so wurde befürchtet, dass längere Aufenthalte in bessergestellten Haushalten ihren einfachen Lebensstil gefährdeten. Vgl. Albrecht (2010), S. 113.

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Um die Reinheit ihrer Seele nicht zu gefährden, wurde den Ordensfrauen in Großstädten, wo das »Laster wohnte«, empfohlen, die einschlägigen Straßen und Häuser zu meiden und auf ihren Wegen zu und von den Kranken weder die Vorübergehenden, namentlich männliche Personen, noch Schaufenster anzuschauen. Zu ihrem Schutz vor weltlichen Einflüssen hatten sie auch außerhalb ihres Klosters an ihren religiösen Frömmigkeitspraktiken festzuhalten. Zur geistigen Stärkung schrieb etwa die Regel der Mallersdorfer Schwestern vor, dass sich die Ordensfrauen vor dem Ausgang aus dem Kloster eine kurze Zeit in der Kapelle sammeln und vor dem Gekreuzigten auf die Knie werfen sollten, um dann die »erlangte Sammlung des Geistes« durch ein inneres Gebet zu wahren.17 Damit wurde zugleich auch der Versuch unternommen, sich vor den weltlichen Einflüssen zu wappnen. Maßgebend für den Aufbau der Gemeindepflege wurde vor allem die Diakonie.18 Einrichtungen zur ambulanten Versorgung waren von der Diakonie zunächst nur in großen Städten eingeführt worden, später auch in mittleren und kleinen Städten. Sehr kleine Gemeinden, die nicht imstande waren, eine eigene Diakonisse zu beschäftigen, beauftragten vielfach auch eine in der Kleinkinderschule angestellte Diakonisse, die sich der in der Gemeinde lebenden Kranken und Pflegebedürftigen annahm. 1903 gab es ungefähr 12.000 Diakonissen, die ca. 75 Mutterhäusern angehörten. Von ihnen waren 2000, also 17 Prozent, auf 1200 Gemeindestationen verteilt.19 Die Gemeindepflege war um 1900 überwiegend das Arbeitsfeld von katholischen Ordensfrauen und Diakonissen.20 Für beide galt, dass die Krankenpflege kein »Selbstzweck« war, sondern Teil der christlichen Lebensgestaltung.21 Nicht nur die katholischen Ordensschwestern, sondern auch die Diakonissen hatten sich von weltlichen Einflüssen abzuschotten, Gott zu dienen und sich auf die christlich motivierte Pflege zu konzentrieren.22 Nach Auffassung der katholischen und protestantischen Kirche forderte die Schwere des Krankendienstes eine höhere Motivation als »nur« menschliches Mitgefühl und materielle Entschädigung. Die Krankenpflege musste in erster Linie um Gottes Willen geschehen, die Gottesliebe war die ausschlaggebende Motivationsbasis.23 Daher stand auch bei dem Eintritt in eine geistliche Mutterhausgemeinschaft die religiöse Berufung und nicht die Eignung 17 Holzmann (1907), S. 7. 18 Zum »Amt der Gemeinde-Diakonissen« vgl. Friedrich (2006), S. 86-91. 19 Viele der Mutterhäuser waren zur sog. »Kaiserswerther Generalkonferenz« zusammengeschlossen. Daneben gab es aber auch noch Mutterhäuser, die dem Verband nicht angehörten. 20 Trapp (1908), S. 128; Jacobsohn (1902), S. 242, 246; Schweikardt (2008), S. 61. 21 Schweikardt (2008), S. 65. 22 Friedrich (2006), S. 88. 23 Holzmann (1907), S. 5.

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zur Krankenpflege im Mittelpunkt. Fragt man nach den geistigen Grundlagen und Beweggründen der katholischen Krankenschwestern, die zum Ergreifen des »Berufs« führten, so gilt für die Ordensangehörigen, daß sie zum Teil gar nicht von vornherein gerade diesen Beruf erstrebten, sondern in den Orden eintraten mit der Bereitschaft, sich durch ihre Oberen im Gehorsam in jede ihnen richtig erscheinende Aufgabe senden zu lassen. Viele von ihnen haben gewiß im Stillen oder auch ausdrücklich den Wunsch gehabt, sich der Pflege der Kranken zu widmen, die ja zu allen Zeiten als ein bevorzugtes Werk christlicher Barmherzigkeit galt.24

Daneben gab es noch christliche Genossenschaften, die sich durch einen stärkeren weltlichen Charakter auszeichneten, wie die vom evangelischen Diakonieverein Berlin-Zehlendorf ins Leben gerufene »Vereinsschwesternschaft«.25 Die Schwesternschaft sollte den Frauen moralischen Halt, Beschäftigung und materielle Sicherheit bieten, ihnen aber mehr Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung als den Ordensschwestern einräumen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bereitete der Verein die Schwestern auf die Gemeindekrankenpflege vor. Neben den Schwestern, die Mitglieder einer mehr oder weniger christlichgenossenschaftlich geprägten Institution waren, gab es sowohl weltliche unabhängige Berufskrankenpflegerinnen, die sog. wilden Schwestern, als auch weltliche abhängige Berufskrankenpflegerinnen. Die unabhängigen Schwestern finanzierten sich aus den Beiträgen der Kranken selbst.26 Sie waren weder einer kirchlichen Einrichtung, einer Gemeinde, einem Verband noch einem Verein als Krankenpflegerin unterstellt. Der Nachteil dieses Modells bestand allerdings darin, dass sie auf dem Land weder über ein ausreichendes noch aufgrund des sich stets ändernden Krankenstandes über ein fixes Einkommen verfügten, so dass sich diese Organisationsform in ländlich strukturierten Gebieten im Allgemeinen nicht durchsetzte.27 Die weltlichen abhängigen Berufskrankenpflegerinnen hingegen gehörten einer kirchlichen Institution, einer Kommune oder einem Verein bzw. Verband an, wie dem Caritasverband, der rheinischen Frauenhilfe, den Vaterländischen Frauenvereinen, den Landkrankenpflegevereinen, Bauernvereinen, Landwirtschaftsvereinen etc.28 Diese Organisationen sorgten für die Einrichtung und den Unterhalt des Pflegepersonals; sie regelten die Besol24 Stehlin (1967), S. 16. 25 Brunner (1910), S. 30. Zu Karl Friedrich Zimmer (1855-1919) und dem von ihm in Zehlendorf gegründeten »Evangelischen Diakonieverein« sowie zu der Vereinsschwesternschaft vgl. Gaida (2011), S. 39-48. 26 Vgl. zu den »wilden Schwestern« Rübenstahl (1994). 27 Brunner (1910), S. 32f.; Arnold (1910), S. 239. 28 Brunner (1910), S. 33f.

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dungsfrage und bestimmten die Bedingungen, die an die Pflegerinnen gestellt wurden.29 Die Krankenpflegerin war ausführendes Organ der sie entsendenden, überwachenden und leitenden Organisation. Die genannten Einrichtungen wie die Vaterländischen Frauenvereine konnten für ihre Schwestern auch Mutterhäuser gründen.30 So gab es um 1910 ca. 31 solcher Anstalten des Roten Kreuzes, die sich zum »Verband deutscher Krankenpflegeanstalten vom Roten Kreuz« mit Sitz in Kassel zusammengeschlossen hatten.31 Der Schwerpunkt der Rot-Kreuz-Schwestern lag in den Städten.32 Das geistliche wie das weltliche Mutterhaussystem bot den Vorteil, dass die Ausbildung den Mutterhäusern oblag und die Schwestern auch von diesen kontrolliert wurden. Im Fall ihrer Erkrankung oder ihres Todes stellte das Mutterhaus sofortigen und gleichwertigen Ersatz.33 In Bayern war es unter anderem der Dritte Orden mit Sitz in München, der in der ambulanten Pflege einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte.34 Der Verein hatte es sich um 1900 zur Aufgabe gemacht, in Stadt und Land, wo immer es an der Kranken-, Wochenbett-, Kinderpflege und der Krüppelfürsorge fehlte, gut geschultes und gut organisiertes weltliches Pflegepersonal für Kommunen, Heil- und Pflegeanstalten sowie für Privatpersonen ohne Unterschied der Konfessionen zur Verfügung zu stellen.35 Zur Ausbildung wurden unbescholtene, geistig und körperlich gesunde katholische Mädchen und kinderlose Witwen angenommen, die entschlossen waren, in einem ernsten, religiös-sittlichen Lebenswandel den Anforderungen der Regel des Dritten Ordens für Weltleute nachzukommen.36 Um 1908 unterhielt der Dritte Orden in München bereits 150 Berufsschwestern.37 Es konnte allerdings nicht nur zu einem »Wettstreit der Konfessionen« um die Kranken kommen, sondern auch zu einem Wettstreit innerhalb der Konfessionen.38 So trat der Dritte Orden in Konkurrenz zu den geistlichen 29 Partsch (1906), S. 7. 30 Im Jahre 1912 gründete zum Beispiel die Vorsitzende des Vaterländischen Frauenvereins, Frau Marie von der Marwitz-Friedersdorf, in Seelow, in der Mark Brandenburg, zur Ausbildung junger Mädchen für den Schwesternberuf ein Mutterhaus vom Roten Kreuz. Vgl. http://www.oldenburgische-schwesternschaft.de/geschichte.php (letzter Zugriff: 29.1.2014). 31 Brunner (1910), S. 72. 32 Brunner (1910), S. 72. 33 Brunner (1910), S. 33. 34 Vgl. zum Dritten Orden in München Böhringer (1995). 35 1902 gab es bereits sechs Krankenpflegestationen des Dritten Ordens in München. Vgl. Böhringer (1995), S. 47. 36 Brunner (1910), S. 73. 37 Brunner (1910), S. 74. 38 Zum Wettstreit der Konfessionen vgl. Schweikardt (2008), S. 61.

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Ordensschwestern, die trotz des herrschenden Personalmangels befürchten mussten, von den weltlichen Krankenschwestern verdrängt zu werden, da die Ordensvorschriften den Klosterfrauen im Allgemeinen einen längeren Aufenthalt in den Wohnungen der Bedürftigen nicht gestatteten, während diese Beschränkungen für die Drittordensschwestern entfielen.39 Umfassende statistische Angaben zur Gemeindepflege, insbesondere zu der auf dem Land, fehlen für die Zeit um 1900, so dass es nicht möglich ist, Aussagen zu treffen, wie viele Krankenschwestern in der Gemeindepflege tätig waren. Am Beispiel des Vaterländischen Frauenvereins Preußens und des Badischen Frauenvereins wird bereits deutlich, dass es nicht möglich ist, Pauschalurteile zu fällen40:

Schaubild 1: Vaterländischer Frauenverein Preußens 1907 39 Böhringer (1995), S. 74. 40 Der Vaterländische Frauenverein Preußens unterhielt 1907 699, der Badische Frauenverein 166 Landkrankenpflegestationen. Während dem Verein in Preußen etwa gleich viele Rot-Kreuz-Schwestern (973) und Diakonissen (983) angehörten, war die größte Gruppe des badischen Vereins die der katholischen Ordensschwestern (118). Unbedeutend war hingegen die Zahl der katholischen Ordensschwestern (86) beim Vaterländischen Frauenverein Preußens, und auch die »anderen Schwestern« (370) spielten nur eine untergeordnete Rolle. Beim Badischen Frauenverein lagen hingegen Diakonissen (61), Rot-Kreuz-Schwestern (63) und freiwillige Krankenpflegerinnen (69) in etwa gleich auf. Vgl. Brunner (1910), S. 2.

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Schaubild 2: Badischer Frauenverein 1907

Berufskrankenpflegerin – Landkrankenpflegerin In der Gemeindepflege wurden aber nicht nur Berufskrankenschwestern, sondern auch »Krankenhelferinnen«, die sog. Landkrankenpflegerinnen, eingesetzt. Die Berufskrankenpflegerinnen hatten im Allgemeinen ihre Ausbildung in einem Krankenhaus erhalten und sollten über eine langjährige Erfahrung in der Krankenpflege verfügen. Ob und in welchem Umfang die verschiedenen Institutionen Lehrfächer, die für die Armenpflege von besonderer Bedeutung waren, wie Hauswirtschaft und Gesundheitspflege, in den Unterrichtsplan mit einbezogen, ist fraglich und bedarf noch der Analyse. Als musterhaft organisiert und geradezu vorbildlich hatte in Deutschland die Einrichtung der Armenkrankenpflege in England gegolten.41 Das bekannte »Königin-Victoria-Jubiläums-Institut« in London widmete sich mit besonderer Sorgfalt der Ausbildung der Gemeindeschwestern. Die Anstalt war 1887, zum 50-jährigen Regierungsjubiläum der Königin (1837-1901), gegründet und durch Spenden finanziert worden. Fand sich in einer Stadt Englands eine hinreichende Zahl wohltätig gesinnter Bürger, die die Ver41 Jacobsohn (1902), S. 245.

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sorgungslage der Kranken verbessern wollten, wandten sie sich an das Jubiläumsinstitut und baten um Überlassung einiger fertig ausgebildeter und tüchtiger Gemeindeschwestern. Trotz der Zunahme an ausgebildeten Berufskrankenpflegerinnen konnte der Bedarf in Deutschland nicht gedeckt werden. Aus diesem Grund wurde das Modell der Landkrankenpflege konzipiert.42 Die Landpflegerinnen erhielten im Allgemeinen eine vier- bis sechswöchige theoretische Ausbildung unter der Leitung eines Arztes sowie eine zweimonatige Unterweisung in einem Krankenhaus.43 Nach dieser Ausbildungszeit mussten sie ihr Wissen durch Lehrbuchstudium und »durch eigenes Nachdenken über gemachte Beobachtungen und Erfahrungen« sowie durch »ärztliche Belehrungen« auffrischen.44 In Baden sollten allerdings alle fünf Jahre Wiederholungskurse stattfinden. Der Unterricht war kostenlos, für Verpflegung und Unterkunft mussten die Krankenhelferinnen selbst aufkommen.45 Für die Anstellung und Besoldung waren die badischen Bezirke, in denen die Landkrankenpflegerinnen wirkten, verantwortlich. In einzelnen Gemeinden bezogen die Frauen ein festes Gehalt, in anderen Wartgelder. Später übernahmen mancherorts auch die Kreise die Ausbildungskosten.46 Im Kreis Karlsruhe schlossen die Gemeinden mit den Aspirantinnen einen Vertrag, nach dem sich diese verpflichteten, vier Jahre lang nach ihrer Ausbildung in der Gemeinde als Krankenpflegerin zu verbleiben und im Falle früheren Ausscheidens die vom Kreis gewährte Unterstützung zurückzuzahlen. Um ihre Akzeptanz sicherzustellen, hatten die Landpflegerinnen in dem Dorf oder in der Gemeinde tätig zu sein, in der sie ansässig waren. Zur Überwachung der Landkrankenpflegerinnen setzte der Badische Frauenverein in den ersten Jahren eine Vereinsschwester ein, später eine Vertrauensdame.47 In Baden arbeitete im Jahr 1905 jede Landkrankenpflegerin im Durchschnitt 32 Tage und absolvierte 21 Nachtwachen und über 600 Einzelbesuche.48 Trotz des hohen Engagements des Badischen Frauenvereins waren 1903 dennoch 62 Prozent der Landgemeinden ohne Krankenpflege.49 42 Zum Konzept der Landkrankenpflege, insbesondere zu dem der Caritas, vgl. z. B. Krieger (2008), S. 146-156. 43 Dietrich (1899), S. 122. 44 Lutzer (2002), S. 460. 45 Dietrich (1899), S. 122. 46 Dietrich (1899), S. 122. 47 Zum Schutz vor Überarbeitung waren in der Dienstanweisung des Badischen Frauenvereins dieselben Regelungen wie für die Privatkrankenpflege vorgesehen. Vgl. Lutzer (2002), S. 460. 48 Lutzer (2002), S. 462. 49 Lutzer (2002), S. 462. Zur katholischen Landkrankenpflege vgl. Reininger (1998).

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Die Landkrankenpflege war ein kostengünstiger Weg, um über ein Mindestmaß an Pflege zu verfügen. Die Ausbildung der in der Pflege tätigen Frauen blieb aber deutlich hinter dem Ausbildungsniveau der »Vollschwestern« zurück.50 Daher kam es auch zu Kontroversen mit den Berufskrankenschwestern, die die Einführung der Landkrankenpflegerinnen beklagten und darlegten, dass der gute Wille und die selbständige Unterrichtung für die Gemeindepflege nicht ausreichten, sondern eine gründliche Ausbildung und eine mehrjährige Tätigkeit in einem Krankenhaus Voraussetzung für eine qualifizierte Pflege auf dem Land seien.51 Die Ausbildung bezeichneten sie als das Rückgrat der Gemeindepflege und wiesen zugleich darauf hin, dass mit mangelnder Ausbildung eine Geringschätzung weiblicher Erwerbsarbeit einhergehe.52 Ein weiterer Kritikpunkt der Berufsschwestern war, dass es sich bei den Landkrankenpflegerinnen im Allgemeinen um sehr junge und unerfahrene Frauen handelte, während das Aufgabenfeld »reife und gebildete« Persönlichkeiten erfordere. Bildung und gute Charaktereigenschaften seien, so die Argumentation, die Voraussetzungen, um Überlegenheit und Autorität, die für die Gemeindeschwester unabdingbar seien, auszustrahlen.53 Pflegestationen Sofern sich die Gemeinden nicht im Einzugsgebiet des Mutterhauses befanden, setzte eine gut organisierte Gemeindepflege das Vorhandensein einer Pflegestation voraus.54 Die Pflegestation sollte den Bewohnern die Möglichkeit bieten, sich in Krankheits- und Unglücksfällen schnelle Hilfe und kompetenten Rat zu holen. Als ein Vorläufer der gemeinschaftlich organisierten Krankenpflege kann der durch Spenden der Dorfbewohner erworbene Sanitätskasten angesehen werden.55 Da zu seiner Anschaffung im Allgemeinen erst der Widerstand der ländlichen Bevölkerung gebrochen werden musste, wurden auf Anraten der Ärzte häufig die Ortspfarrer eingeschaltet, die einen unmittelbareren Kontakt zu den Dorfbewohnern hatten und daher eine effektivere Überzeugungsarbeit leisten konnten. Aus diesem Grund war der Sanitätskasten, der

50 Lutzer (2002), S. 463. 51 N. N.: Landpflege (1908); N. N.: Gemeindepflegeseminare (1908). 52 N. N.: Gemeindepflegeseminare (1908). 53 Krüger (1907), S. 259. 54 Die Wohnsituation der Schwestern unterschied sich von Ort zu Ort. Ihre Wohnung konnte an die Pflegestation angegliedert sein, sich aber auch im Pfarrhaus befinden. Üblich war es außerdem, dass für sie eine eigene Wohnung angemietet wurde. 55 Behla beziffert die Anschaffungskosten auf 190 Mark, den jährlichen Unterhalt auf 15 Mark. Vgl. Behla (1902), S. 119.

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die notwendigsten Pflegeutensilien wie Verbandszeug, Medikamente etc. enthielt, gewöhnlich im Pfarrhaus untergebracht. Gefordert wurde auch immer wieder die Errichtung von öffentlichen Krankenstuben. Sie erfüllten aber nicht die Funktion eines Krankenhauses, das eine umfassende medizinische Versorgung bot, sondern ihre Einrichtung sollte den Kranken die Möglichkeit geben, ihr ungesundes Wohnumfeld zu verlassen, um in einem sauberen Umfeld gepflegt zu werden.56 In welchem Umfang die Krankenstuben auf dem Land verbreitet waren, ist gemäß dem derzeitigen Forschungsstand allerdings nicht zu beantworten. In Westfalen dienten hin und wieder auch »ländliche Pflegehäuser«, in denen die Siechen untergebracht waren, der Aufnahme armer Kranker. Ihre Pflege übernahmen Diakonissen, deren Tätigkeit sich aber auch auf die Gemeinde erstreckte, zuweilen sogar auf mehrere Ortschaften.57 In den ländlichen Regionen der Regierungsbezirke Trier und Koblenz, in denen mitunter auch alte und chronisch Kranke sowie Hilfsbedürftige aller Art gemeinsam in einem Haus untergebracht waren, sahen die Gesundheitsbehörden diese Form der Versorgung wegen fehlender Separierung allerdings als einen »Übelstand« an.58 Aufgabenfelder der Gemeindepflege Charakteristisch für den Aufgabenbereich der Gemeindeschwestern war ein umfangreicher Wirkungskreis; so betreuten sie mitunter die Bewohner der Siechenhäuser, standen aber auch Konfirmandenanstalten und Jungfrauenvereinen vor, leiteten Strickschulen und sog. »Großmütterchenvereine«.59 Zahlreiche Gemeinden setzten – wie schon erwähnt − die Berufskrankenpflegerin zugleich auch als Schulschwester ein. So gab es im Königreich Sachsen 1898 neun solcher mit der Gemeindepflege verbundenen Kleinkinderschulen, die von dem Dresdner Mutterhaus der Diakonissen betreut wurden.60 Vielfach versorgten die Kinderschulschwestern die Kranken und Siechen nach Schulschluss in der Abendzeit. Brachen Epidemien aus, wurden die Kleinkinderschulen geschlossen; die Diakonissen widmeten ihre ganze Arbeitskraft dann den Kranken. Die medizinische Versorgung der Kranken beinhaltete neben dem Anlegen von Verbänden auch die Verabreichung von Bädern, Massagen, Behandlungen mit Elektrostrom sowie das Setzen von Injektionen, Blutegeln und Schröpfköpfen. Die Quellen nennen hin und wieder auch die Durchfüh-

56 Zur mangelnden Hygiene auf dem Land, wie der fehlenden Kanalisation, und den daraus resultierenden Krankheiten vgl. Marx-Jaskulski (2008), S. 66-71. 57 Büttner (1898), S. 250. 58 Krieger (2008), S. 172. 59 Trapp (1908), S. 129. 60 Büttner (1898), S. 251.

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rung von Operationen.61 Steriles Verbandszeug für die Landbevölkerung stellten die Schwestern häufig auch selbst her, zum Beispiel aus alter Leiboder Tischwäsche.62 Mancherorts hatten sie auch den Auftrag, die Armen ihrer Gemeinde mit Medikamenten unentgeltlich zu versorgen. Vielfach waren die Schwestern verpflichtet, Tagebücher oder Notizbücher zu führen, in denen der Name des Patienten, sein Geschlecht, seine Konfession, sein Alter, seine Krankheitssymptome sowie die eigenen Beobachtungen aufgezeichnet werden mussten.63 Eine Auswertung dieses Quellentyps steht noch aus. Gewünscht war zudem, dass die Gemeindeschwester profunde Kenntnisse über die gängigen Volksseuchen, die üblichen Kinder- und Berufskrankheiten sowie über die Wochenbettpflege und die Grundlagen der Ernährung Gesunder und Kranker besaß.64 Als Beispiel für die medizinische Unterversorgung auf dem Land sei der folgende Bericht einer Schwester vorgestellt: Ich kam hin und fand die Wohnung für dortige Verhältnisse sauber, nur ein auffallender stinkender Geruch war hier noch viel intensiver. Der alte Mann war schon sehr schwach und elend. In seinem ärmlichen Bett war nur eine Strohschütte, auf dieser lagen alte Röcke usw. Ein Deckbett war vorhanden. Das kranke Bein lag auf nassen, schimmeligen Lumpen, die zusammen klebten, ekelerregender Geruch ging von ihnen aus. Ich konnte das Bein nicht aufwickeln, alle Lagen darum waren verjaucht und zusammengetrocknet. Da holte ich mir eine andere Schwester zur Hilfe und die nötigen Verbandssachen. In einem Bade von übermangansaurem Kali befreiten wir das Bein aus seinen Hüllen. Und Entsetzen schüttelte uns. Wir mussten alle Kraft zusammennehmen[,] um nicht schwach zu werden. Der Fuß war am Knöchel buchstäblich abgefault. Er hing nur noch an einer Sehne, war schwarz und jauchend. Die Knochen lagen frei, eine Zehe fehlte schon. Ein grausiger Anblick. Wir verbanden so gut es ging und sorgten auch für Stärkungsmittel, doch es war zu spät, nach 3 Tagen erlöste der Tod den Armen. Ich glaube nicht, dass ich so etwas Furchtbares noch einmal zu sehen bekomme. Es ist ja auch kaum zu glauben: In unserer Zeit, in der so viel getan wird für Elend und Not, da fault einem lebendigen Menschen ein Glied von seinem Körper.65

Umfangreich ist das Quellenmaterial, das uns aus Sicht der Gemeindepflegerinnen und Ärzte über die ungesunden Wohnverhältnisse um 1900 auf dem Land unterrichtet.66 Allerdings war mangelnde Hygiene keineswegs ein Unterschichtenphänomen. Als Beispiel sei auf den Bericht des Kreisphysi61 Partsch (1906), S. 18. Schweikardt verweist darauf, dass um 1850 konfessionelle Pflegekräfte in der »kleinen Chirurgie« Prüfungen ablegten. Vgl. Schweikardt (2008), S. 67. 62 Ausführlich hierzu Krüger: Improvisation (1902). 63 Böhringer (1995), S. 79-83; Gaida (2011), S. 221; Land-Krankenpflege des Bayerischen Frauenvereins vom Roten Kreuz (1901), S. 17f. 64 Jacobsohn (1902), S. 247. 65 N. N. (1912), S. 18. 66 Zu den ungesunden Wohnverhältnissen auf dem Land vgl. Marx-Jaskulski (2008), S. 65-71.

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kus aus Querfurt, Julius Schilling, verwiesen, der das fehlende Hygienebewusstsein auf dem Land anprangerte: Eine Kammer, in welcher unter dem Bett Kartoffeln liegen, an der Thür unnötige Kleidungsstücke hängen, in den Ecken verschimmelte Stiefel stehen und an der Wand neben dem Ofen der Käse aufgehängt wird, im Frühjahre unter dem Ofen die jungen Gänse liegen und auf einem Tische Milchgefäße stehen, bedarf gründlicher Aufräumung. Als Krankenstube passt sie nicht, insbesondere für Schwindsüchtige, zumal leicht Krankheitskeime in die Milch und auf den Käse gelangen können.67

Die Gemeindeschwestern sollten, wie schon erwähnt, auch zu den »Wächterinnen der Dorfhygiene« avancieren.68 Sie galten durch den engen Kontakt zu den Bewohnern als die »berufenen Träger sanitärer Aufklärung«.69 So hatten sie an der Verbesserung des Volkswohls mitzuwirken und der konservativen Haltung der Landbewohner, die nach gängiger Auffassung an allem Alten hingen, als ob sie es ererbt hätten, entgegenzuwirken. Es war vor allem ihr engerer Kontakt zu den Bewohnern, der die Gemeindepflegerin für diese Aufgabe als prädestiniert erscheinen ließ: Vermöge ihrer intimen Stellung in den mittellosen Familien, in denen sie häufig auch die Sorge für den Haushalt, die Obhut der Kinder etc. übernehmen müssen, gelingt es ihnen oft besser noch als dem ja nur kurze Zeit verweilenden Arzte erziehlich zu wirken, von schädlichen Lastern zu entwöhnen und zu fruchtbringender Arbeitsamkeit anzuregen.70

Die Lebensumstände der Kranken auf dem Land machten es im Allgemeinen notwendig, dass die Gemeindeschwester auch als Hauswirtschafterin fungierte; so kochte sie für die kranke Mutter und ihre Familie, wusch die Wäsche, schrubbte die Böden und reinigte die Wohnungen; d. h. die Gemeindeschwester verrichtete auch grobe und niedere Reinigungsarbeiten. Diese Art von Tätigkeiten war keineswegs unumstritten.71 Typisch für den Arbeitsbereich der Gemeindeschwester waren Krankenbesuche und Nachtwachen. So galt ihre Sorge auch alten und vereinsamten Menschen; dem Bericht einer Schwester ist zu entnehmen, dass sich unter den vielen Einsamen, die sie betreute, vor allem »Witwen, Unverstandene und Übersehene sowie nervöse Frauen« befanden.72 Ihre Pflegeleistung bestand, wie sie darlegte, vor allem darin, für sie ausreichend Zeit zu haben. Besonders strapaziös gestaltete sich im Allgemeinen die Pflege Alkoholabhängiger, zum Beispiel wenn die Schwester während der Nachtwache ihren 67 Schilling (1898), S. 60. 68 Schilling (1898), S. 59; zu England vgl. Wildman (2009), S. 47. 69 Jacobsohn (1902), S. 244. 70 Jacobsohn (1902), S. 244. 71 Um 1900 kam es zu Diskussionen, ob die Hausarbeit ein integraler Bestandteil der Krankenpflege sei; s. hierzu die Fußnoten 102-105. 72 N. N.: Gemeindepflegeseminare (1908), S. 112.

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verbalen Attacken ausgesetzt war.73 Mitunter konnte es auch zu Gewalttätigkeiten kommen; so berichtete eine Schwester, als sie einen Jungen vor seinem prügelnden Vater in Schutz nahm und dazwischenging, dass ihr der Mann mit dem Rohrstock in seinen Händen eine Tracht Prügel androhte und ihr das für die Kinder vorgesehene Bratenschmalz vor die Füße warf.74 Darüber hinaus leisteten die Schwestern Sterbebeistand und fungierten mitunter als Leichenfrauen. Als Beispiel sei auf Auguste Krüger verwiesen, die nach dem Tod einer Heimgegangenen zwei Stunden bei der Familie verweilte, der Verstorbenen die Federbetten nahm und sie auf die mit einem Gummituch bedeckte Matratze gerade hinlegte, ihr die Hände faltete und sie mit einem Betttuch bedeckte.75 Als ihr zu Hause Zweifel kamen, ob sich ihre Arbeit nicht auch auf die Totenwäsche bezog, wurde ihr von der leitenden Schwester klargemacht, dass man in der Gemeinde die Leichen waschen müsste, jedoch an Orten, wo eine Leichenfrau vorhanden sei, sie diese Arbeit nur bei den Armen zu verrichten habe. Die Tätigkeit konfessionell gebundener Gemeindeschwestern beschränkte sich nicht nur auf die leibliche Pflege, sondern auch auf die seelische.76 Sowohl die katholischen Ordensschwestern als auch Diakonissen waren – wie bereits erwähnt − in erster Linie keine Krankenpflegerinnen, sondern die Dienerinnen Gottes, die sein Reich auf Erden verkündeten.77 So beteten die Schwestern mit den Kranken, lasen ihnen aus der religiösen Erbauungsliteratur vor und führten mit ihnen geistliche Gespräche. Mit ganzer Seele hatten sich die Gemeindeschwestern den Kranken zu widmen, um ihr Seelenheil zu retten. Die Untrennbarkeit von leiblicher und seelischer Krankenpflege spiegelt zum Beispiel der Bericht der Schwester Maria Brauer wider: In der Krankenpflege setzt man vieles ein, Geist und Gemüt, Leib, Seele und alle Kräfte, hier wird es wahr, was der Herr Jesus sagt: wir müssen das Leben für die Brüder lassen. Es soll ja eine gute Krankenpflegerin nicht bloß alle Pflegeakte, wie Verbinden, das Lager in Ordnung halten, für Speisen und Trank sorgen, vollbringen, sie soll sich auch mit ihrer Seele dem Kranken widmen und an das Wort Jacobi 1,27 denken. Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott und dem Vater ist der: die Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen, und sich von der Welt unbefleckt zu halten. Oh welch ein Geständnis liegt in einem Armen- und Krankenbesuch! Wenn er rechter Art ist, kann er wie ein Sonnenstrahl nach dunklen Wetterwolken wirken, den Kranken trübe Gedanken und Sorgen vertreiben und die Tränen trocknen. […] Die Gemeindeschwester hat ihre Arbeit unter Kranken und Gesunden, unter Armen und Reichen, 73 So berichtete eine Schwester: »Es ist eine furchtbare Situation für eine junge Schwester eine Nacht am Krankenbette in Gesellschaft eines solchen Trunkenboldes zubringen zu müssen. Oft wünschte ich, der Betreffende möchte so viel trinken, dass er einschliefe, damit nur das wüste Reden und Streiten ein Ende hat […].« N. N. (1901), S. 344f. 74 Vgl. Rüstig (1908), S. 83. 75 Krüger (1900), S. 322. 76 Schweikardt (2008), S. 63. Zu den Diakonissen vgl. Nolte (2009), S. 30. 77 Partsch (1906), S. 16.

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ihr Beruf führt sie mit Hohen und Niederen zusammen. Schön und mannigfaltig ist ihre Tätigkeit, aber auch groß und schwer ihre Aufgabe.78

Wie die Untersuchung von Ulrike Gaida zeigt, führte das komplexe Arbeitsfeld der Gemeindepflegerinnen des Diakonievereins Berlin-Zehlendorf im Laufe der Zeit auch zu Abgrenzungsschwierigkeiten mit anderen Berufsgruppen wie den Fürsorgerinnen.79 So konnten sich Überschneidungen in Bezug auf die Betreuung von Säuglingen, die Mütterberatung, die Versorgung Körperbehinderter sowie in Bezug auf die Betreuung Tuberkulosekranker ergeben.80 Ulrike Gaida verweist auf eine Reihe von Ursachen, die zur Entstehung von Konflikten zwischen Fürsorgerinnen und Gemeindeschwestern in den 1920er Jahren führten. Beispielsweise konnten die an Lebens- und Dienstjahren älteren Gemeindeschwestern unter die Führung der jüngeren Fürsorgerinnen geraten, aber auch eine gegenseitige Abhängigkeit verschärfte mitunter das Arbeitsklima. Die Gemeindeschwester-Tagungen von 1925 und 1929, die im Heimathaus des Diakonievereins BerlinZehlendorf stattfanden, zeigen, welche Konflikte im Zuge der Professionalisierung neuer Berufsgruppen entstehen konnten. Gemeindeschwester − Arzt Galt auch für die Gemeindepflegerin der Grundsatz, ihr Beruf sei die Pflege des Kranken und nicht seine Behandlung, so gab es gleichwohl (Not-) Situationen, in denen sie handeln und in den ärztlichen Kompetenzbereich eingreifen musste, zum Beispiel wenn der Arzt oder das Krankenhaus zu weit entfernt und Gefahr in Verzug war. Gerade die medizinische Unterversorgung führte dazu, dass die Gemeindeschwestern dem Vorwurf der Kurpfuscherei ausgesetzt waren.81 Allerdings hatten sie sich auch selbst gegen Kurpfuscher zur Wehr zu setzen, die sich um 1900 auf dem Land noch großer Beliebtheit erfreuten. Weise Frauen, Schäfer, Barbiere, Menschen, die in ihrem Leben Schiffbruch erlitten hatten, gehörten zu dem Kreis von Personen, die sich zu dieser Zeit in den ländlichen Gemeinden noch großer Anerkennung erfreuten.82 78 Brauer (1905), S. 296. 79 Gaida (2011), S. 226. 80 Gaida (2011), S. 222-230. 81 Der Begriff »Kurpfuscher«, der sich auch auf approbierte Ärzte erstrecken konnte, war mit Einführung der Gewerbeordnung von 1869/71 populär geworden und entwickelte sich zu einem »Kampfbegriff«. Neben der beruflichen Qualifikation wurde auch das medizinische Angebot in Frage gestellt. Von den »Kurpfuschern« sind die »Pfuscher« bzw. »Medikaster« zu differenzieren. Bei ihnen handelte es sich nicht zwangsläufig um einen schlechten, inkompetenten Arzt, sondern um einen Heiler, der, ohne Arzt, Wundarzt oder Apotheker zu sein, eine Heiltätigkeit ausübte. Vgl. Jütte (1996), S. 21. Zu den Kurpfuschern auch Mildenberger (2011), S. 19. 82 Schilling (1898), S. 60.

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Zudem befanden sich die Gemeindeschwestern in einer schwierigen Situation, wenn sie in engem Kontakt zu den Dorfbewohnern standen und wussten, dass diese das Arzthonorar nicht aufbringen konnten, sie aber gezwungen waren, den Arzt zu rufen, und selbst nicht handeln durften. Gerade auf dem Land konnte das Arzt-Schwestern-Verhältnis angespannt sein.83 Da die Schwester zuerst ans Krankenbett gerufen wurde und ihr Urteil die Hinzuziehung des Arztes bestimmte, sah er sich in Abhängigkeit von ihr. Außerdem konnten nach Ansicht der Ärzte die Empfehlungen der Gemeindeschwester beim Kranken die Vorstellung erwecken, sie wisse sachverständigen Rat zu geben, und »das nicht nur bei armen, unbemittelten Kranken, sondern von Arbeiterwohnungen, durch Bauernhöfe hindurch bis zu den Schlössern hinauf«.84 So klagten die Ärzte, keine Kranken mehr in Behandlung zu haben, die nicht schon über einen längeren Zeitraum von den Schwestern therapiert worden seien. Neben Kurpfuschern und Naturheilkundigen waren es die Gemeindeschwestern, die den Medizinern ein weiterer Dorn im Auge sein konnten.85 Auch befürchteten die Ärzte, dass die Öffentlichkeit falsche Vorstellungen von dem Aufgabenbereich einer Gemeindeschwester entwickle bzw. dazu beitrage, sie zu bestimmten Handlungsweisen zu drängen.86 Da viele Pflegestationen mit den Beiträgen der Gemeindemitglieder finanziert wurden, glaubten diese daher, zu besonderen Ansprüchen berechtigt zu sein, und machten sie gegenüber den Schwestern geltend. In diesen Fällen zwang der Selbsterhaltungstrieb die Schwestern häufig, den unberechtigten Forderungen nachzugeben. Ärztlichen Berichten ist zu entnehmen, dass es Gutsherren und Gutsinspektoren gab, die meinten, mit Anstellung der Schwester auf einen Arzt verzichten zu können; so sollte die Schwester statt seiner Hilfe leisten, wenn ein Arbeiter erkrankte oder im Betrieb verunglückte. Im Regierungsbezirk Breslau forderte beispielsweise ein Gutsinspektor, die Arztrechnungen müssten aufhören, da es nun eine Schwester gebe. Auch kam es vor, dass der Arzt zwar die Diagnose stellte, der Patient seine Behandlung dann aber in die Hände der Gemeindeschwester legte. Akzeptanz der Gemeindeschwestern Die Akzeptanz der Gemeindeschwestern war vor allem auf dem Land ambivalent. Egodokumente zeigen, dass ihnen Dankbarkeit, Anerkennung und 83 Partsch (1906), S. 27f. 84 Partsch (1906), S. 28. 85 So schrieb ein Arzt: »Das alte eingewurzelte und durch die Kurpfuscherei und den Naturheilschwindel immer wieder genährte Misstrauen unserer Bevölkerung gegen den Arzt und die wissenschaftliche Medizin kommt den Schwestern in ihrem Bestreben zu statten, sich bei dem Kranken rasch die Vertrauensstellung eines ärztlichen, sachverständigen Ratgebers zu verschaffen […].« Partsch (1906), S. 28. 86 Partsch (1906), S. 34.

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Liebe entgegengebracht wurden.87 In kleineren Orten konnten sie sogar zu den Persönlichkeiten der Gemeinde zählen und den Rang einer Autorität einnehmen.88 Keineswegs wurden die Gemeindeschwestern aber überall mit offenen Armen empfangen, sondern sie stießen mitunter auf Vorbehalte. Ihr Erscheinen wurde häufig als ein Eindringen in die Privatsphäre empfunden. Da sie während der Pflege einen tieferen Einblick in die familiären Verhältnisse bekamen, begegnete man ihnen auch mit Vorbehalt und Skepsis.89 Dienstinstruktionen ermahnten sie daher, keine ›wandelnde Zeitung‹ zu sein und ihre Gastrolle nicht zu missbrauchen.90 Beispiele belegen, dass sich die ländliche Bevölkerung gegen die Einführung der Gemeindekrankenpflege auch heftig auflehnte. Immer wieder mussten die Gemeindeschwestern gegen den Unverstand der Landbevölkerung ankämpfen, die die Notwendigkeit eines Pflegedienstes nicht einsah.91 Schwester Auguste Krüger riet daher, den Nutzen der praktischen und zweckmäßigen Maßnahmen ständig zu wiederholen, da der Bauer aus bloßem Gehorsam keiner Anordnung folge; so schrieb sie: Freilich möchte ich bei diesen »geistigen Improvisationen« mich nicht immer von einem Arzt belauscht wissen, denn fachwissenschaftlich darf ich mich dabei nicht ausdrücken, desto mehr aber anschaulich. Dabei kommt mir mein Teilchen Pädagogik, das ich mir als Kinderlehrerin angeeignet, trefflich zu statten, denn man muß bei den Landleuten oft geistig ebenso tief herabsteigen und sich ihrem Begriffsvermögen anpassen, wie bei 5-6jährigen Kindern.92

Schenken wir Auguste Krüger Glauben, so war der Widerstand in den vermögenderen Schichten sogar größer als in den ärmeren. Während die Armen in der Hoffnung auf Unterstützung die Dienstleistungen der Krankenschwestern billigend in Kauf nahmen, waren diejenigen, die etwas Verdienst oder Haus und Hof besaßen, nicht bereit, für ihre Pflege Geld auszugeben. Mit Empörung reagierten sie z. B., wenn sie aus eigenen Mitteln Verbandszeug erwerben mussten.93 Die Landbevölkerung, alten Traditionen stark verhaftet, konnte jegliche Neuerungen ablehnen, auch wenn sie noch so gut gemeint waren. Der »Literarischen Beilage« zum Klerusblatt von 1928 ist zu entnehmen:

87 N. N. (1912). 88 Jäger (1904), S. 246. 89 Jäger (1904), S. 245f.; Arnold (1910), S. 240. 90 Schilling (1898), S. 59. 91 Krüger: Improvisation (1902), S. 360. 92 Krüger: Improvisation (1902), S. 360. 93 Krüger: Improvisation (1902), S. 360.

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Wie es war vor aller Zeit, so bleibt es und soll es bleiben in Ewigkeit. Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter sind ohne Schwestern krank gewesen und gestorben; wir können es auch.94

Auch Geistliche, die sich für die Einführung der Gemeindepflege einsetzten, waren des Öfteren Anfeindungen ausgesetzt.95 Sie mussten unter ihren Gläubigen erst »Missionsarbeit« leisten, um sie von der Notwendigkeit der Gemeindepflege zu überzeugen.96 Allerdings scheinen es nicht alle Pfarrer als ihre Aufgabe angesehen zu haben, sich für die Krankenpflege in ihrer Gemeinde starkmachen zu müssen. Einige zogen es vor, wie es Pfarrer Berbig aus Schwarzhausen in Thüringen formulierte, sich hinter den Mauern ihres Pfarrhofs zu verschanzen, um keinen »materiellen oder sozialen Boden«, der »als heiß« galt, zu betreten und sich die Finger zu verbrennen. Die Unterversorgung ihrer Gemeindemitglieder nahmen sie in Kauf. Mangelnde Anerkennung konnten aber auch die in den Städten tätigen Gemeindepflegerinnen erfahren. Anna Rüstig berichtete 1908: Ueberhaupt ist es empörend, was eine Schwester in Berlin vom Publikum zu leiden hat, da ist auch der Westen nicht ausgenommen. Ich habe darüber schon Klagen gehört, will aber hier nur von mir sprechen. Hinterherschreien in den gewöhnlichsten Ausdrücken, sei es um den Stand oder die Tracht zu verspotten, passiert einem täglich so und so oft. Wie schützt man sich dagegen? Dem Geistlichen, der im Ornat über die Straße geht, wagt doch niemand zu nahe zu treten; warum zeigt man den gleichen schuldigen Respekt nicht der Gemeindeschwester?97

Zudem nahmen die nicht genossenschaftlich organisierten Gemeindeschwestern nicht den gleichen gesellschaftlichen Rang wie die Angehörigen eines Mutterhauses, Vereins oder Verbands ein.98 So wurden die in der Berliner Gemeindepflege tätigen Mutterhausschwestern, wie Anna Rüstig darlegt, kaum beschimpft, da sie in dem Ruf standen, »aus reiner Humanität« zu handeln, während die selbständigen Pflegerinnen ihren Beruf nur ausübten, um angeblich »Reichtümer zu erwerben«. Im Allgemeinen waren die »freien Schwestern« dem Vorwurf ausgesetzt, ihnen fehle es im Gegensatz zu den einer Organisation angehörenden Schwestern an moralischem Rückhalt, ethischer Gesinnung und Zuverlässigkeit.99 Vor- und Nachteile der Gemeindepflege aus Sicht der Schwestern Ambivalent war die Einstellung der Berufskrankenpflegerinnen zur Gemeindepflege. Als positiv wurde es bewertet, dass der Kontakt zu den Pa94 Zit. n. Reininger (1998), S. 32. 95 Krüger (1907), S. 258; Berbig (1900), S. 145f. 96 Berbig (1900), S. 145. 97 Rüstig (1908), S. 84. 98 Jacobsohn (1902), S. 242f. 99 Schweikardt (2008), S. 117.

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tienten intensiver als in der stationären Pflege war und sie somit größeren Einfluss auf den Kranken hatten. Vor allem waren es aber das selbständige Handeln und die Eigenverantwortlichkeit, die die Gemeindeschwestern zufriedenstellten. Im Allgemeinen galt die ambulante Pflege gegenüber dem Hospitaldienst jedoch als schwieriger.100 Viele der in der Krankenpflege Tätigen zogen daher den stationären Dienst der ambulanten Pflege vor. Zu den Vorteilen des stationären Dienstes gehörte, dass es im Krankenhaus eine vorgeschriebene Ordnung gab. Zudem befand sich gewöhnlich ein Arzt in der Nähe. Die Arbeit der Einzelnen war aufeinander abgestimmt, das Konzept war die Teamarbeit. Diese Voraussetzungen entfielen in den Privathaushalten, wo die Schwestern mehr oder weniger auf sich alleine angewiesen waren und der Arzt nur kurz bei den Kranken verweilte. Außerdem kam es in der Gemeindepflege aufgrund des engeren Kontakts leichter zu Konflikten mit den Angehörigen der Kranken, die die Pflege erheblich erschweren konnten. Privathaushalte erforderten andere Umgangsformen als das Hospital; während nämlich die Hospitalpflegenden dem Kranken als eine geschlossene Gruppe erschienen und sich die Aufmerksamkeit weniger auf den Einzelnen konzentrierte, präsentierte sich die Schwester in der häuslichen Pflege als eine individuelle Persönlichkeit.101 Wie bereits kurz angesprochen, führten die Arbeitsfelder der Gemeindekrankenpflegerin, die eine Reihe von Aufgaben umfassten, die nicht unmittelbar zum Pflegedienst am Krankenbett gehörten, zu Diskussionen.102 Während die Pflege in wohlhabenden Kreisen die Verrichtung gröberer Arbeiten außerhalb des Krankenzimmers ausschloss, da diese durch das Dienstpersonal ausgeübt wurden, mussten die Gemeindeschwestern bei armen Gemeindemitgliedern auch schmutzige Hausarbeiten verrichten. Daher galt die Gemeindepflege aus Sicht vieler Schwestern als nicht attraktiv. Mitunter wurde die Ansicht vertreten, ihre Arbeit sei mit der »eines Mädchen[s] für Alles« vergleichbar, da Scheuern, Waschen etc. grobe Dienstbotentätigkeiten seien.103 Um nicht in die Nähe der Dienstboten gerückt zu werden, schrieb zum Beispiel die Pflegeordnung des Dritten Ordens in München vor, die Schwester solle entweder mit der Familie oder alleine speisen, jedoch nicht mit dem Dienstpersonal.104 Allerdings konnte Hausarbeit auch ein Thema in der Hospitalpflege sein. Eine Reihe christlich gesinnter Autoren, wie der Gründer des Diakonissenvereins Zehlendorf, Friedrich Zimmer, ging von der Untrennbarkeit von 100 Seiffert (1898), S. 185. 101 Seiffert (1898), S. 185f. 102 Jacobsohn (1902), S. 244. 103 Trapp (1908), S. 128. 104 Böhringer (1995), S. 86.

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Hausarbeit und − weiblicher − Krankenpflege aus.105 »Verklammert« wurden beide Tätigkeiten durch Hingabe und Liebe. Zudem war Zimmer der Ansicht, dass die Schwestern durch die immer wiederkehrende unliebsame Arbeit einerseits zu »Demut, Treue, Geduld, Zufriedenheit« erzogen würden, andererseits versprach er sich von der Hausarbeit eine Förderung ihrer Gesundheit. Hin und wieder beklagten die Schwestern auch, dass ihre berufliche Weiterbildung nicht ausreichend gefördert würde. Jüngere, gut ausgebildete Schwestern fühlten sich älteren Ärzten gelegentlich überlegen; so beklagte eine auf dem Land tätige Schwester, dass eine Reihe von Ärzten veralteten Lehren anhinge und ihnen die neuen Verbandstechniken noch unbekannt seien. Mitunter wurde auch das Fehlen beruflicher Herausforderungen bedauert, denn oft wurden chirurgische Eingriffe in die nächste, mit einem Krankenhaus versehene Stadt geschickt, da, wie Schwester Auguste Krüger bedauernd darlegte, »in den Hütten, die man auch als Ställe bezeichnen könne, keine hygienischen Standards« gewahrt werden könnten. Versorgte eine Schwester eine Gemeindestation alleine, war die Anbindung an die Schwesternschaft nicht so eng wie im Mutterhaus. Beispiele belegen, dass allein arbeitende und lebende Schwestern manchmal unter Einsamkeit litten.106 Vorträge, Konzerte oder andere Kunstgenüsse gab es auf dem Land nur selten oder gar nicht. Schwester Auguste Krüger beklagte z. B., dass sie durch den Besuch eines Konzerts Anstoß erregen würde, da zumindest an den Orten, wo sich auch katholische Ordensschwestern niedergelassen hatten, von den evangelischen Schwestern dasselbe Entsagen gefordert wurde, die Diakonisse aber im Gegensatz zu den katholischen Schwestern vielfach alleine lebe. Auch nahmen die Schwestern nicht zwangsläufig am »gesellschaftlichen Leben« der ländlichen Bevölkerung teil; so konnten Einladungen mitunter sehr rar sein, da die Schwestern nur selten Gegeneinladungen aussprechen konnten. Erfolgte einmal eine Einladung, gab man sich alle erdenkliche Mühe, der Schwester die ganzen Krankengeschichten des Hauses aufzutischen, so dass sie keine Ablenkung von ihrer täglichen Arbeit erfuhr. Wie das reichhaltige Quellenmaterial zu den Regensburger Diakonissen zeigt, konnte aber auch das Zusammenwohnen mehrerer Schwestern zu Konflikten führen und ihr Leben erheblich beeinträchtigen.107 Fazit Die immense Zunahme sozialer Probleme sowie der medizinische Fortschritt führten im 19. Jahrhundert zu einem Bewusstseinswandel. Die Ge105 Rübenstahl (1994), S. 60f. 106 Krüger (1899), S. 305f. 107 Grundsätzlich hierzu ZADN, Bestand Hospital Regensburg I, II, III, IV.

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meindepflege war ein Instrumentarium, um vor allem die Versorgung unbemittelter Schichten zu verbessern. Ihr lag ein umfassendes Betreuungskonzept zugrunde. Die Arbeit der in der Gemeindepflege tätigen Schwestern erstreckte sich auf die Krankenpflege, die Seelsorge, die Fürsorge und auf vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen: Die Gemeindeschwester war »Helferin in allen Nöten«.108 Das Aufkommen dieser besonderen Form der Krankenpflege lässt zugleich deutlich werden, dass der medizinische, wissenschaftliche Fortschritt, wenn auch langsam, zumindest einen Teil der ländlichen Gesellschaft erreichte. Mit Hilfe der Gemeindekrankenpflege wurde ein erster Schritt getan, rudimentäre sozialstaatliche Strukturen auch in bisher vernachlässigten Gebieten einzuführen. Umgekehrt zeigt diese Entwicklung in einem sich immer stärker entwickelnden Sozialstaat aber auch die Grenzen des Konzepts: Die Verpflichtung der Gemeindeschwestern macht deutlich, dass die Mittel beschränkt waren und sie häufig nur deshalb zum Einsatz kamen, weil die Beschäftigung akademisch ausgebildeter Ärzte nicht finanzierbar war. Obwohl die Gemeindekrankenpflege vielfach von kirchlichen und konfessionell gebundenen Institutionen getragen wurde, zeigt sich, dass sich säkulare Tendenzen abzeichneten und auch nichtkirchliche Organisationen ein neues Betätigungsfeld fanden. Inwiefern es unter den verschiedenen Trägern zu einem Verdrängungswettbewerb kam oder ob sie sich gegenseitig ergänzten und miteinander kooperierten, werden künftige Forschungen zeigen.

108 Krüger (1907), S. 259.

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»Die praktische Außenarbeit in der Tuberkulosefürsorge steht und fällt mit der Tuberkulosefürsorgeschwester«. Anforderungen in der ambulanten Versorgung: Das Beispiel der Tuberkulosefürsorgerinnen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts1 Sylvelyn Hähner-Rombach Summary “Practical tuberculosis care outside the hospital stands and falls with the tuberculosis nurse”. Challenges in out-patient care, using the example of tuberculosis nurses in the first third of the 20th century Once it had become apparent that tuberculosis sanatoriums were unable to stop this widespread disease, out-patient tuberculosis clinics were established for patients and their relatives in the German Reich. These clinics, which started in the late nineteenth century, employed physicians and tuberculosis nurses. The nurses were generally community or parish nurses, specialized carers not being trained until later. On the one hand, their tasks included the work at these clinics, where they assisted the physician, admitted patients and carried out x-rays and lab tests. On the other hand – and this was their main task – they visited the sick and their families at home, informed them about tuberculosis, instructed them on questions of hygiene and the appropriate behaviour and made sure these instructions were adhered to. If they were able to offer material help as well, they were received more willingly – and they could only make their visits with a patient’s consent. Due to the lack of tuberculosis medicines, the work of the tuberculosis nurses was a mainstay in the fight against this highly infectious disease. They often had to overcome the resistance of general practitioners and also of some patients and their families. But they loved doing their job because they were appreciated by the tuberculosis doctors, had a relatively high degree of freedom, authority and responsibility as health visitors and achieved visible results through personal commitment.

Einführung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte die Tuberkulose vor allem in den westlichen Industriestaaten zu den gefürchtetsten Infektionskrankheiten. Als einzelne Ursache stand sie nicht nur in den Mortalitätsstatistiken des Deutschen Reiches über Jahre hinweg an oberster Stelle.2 Sie führte zudem bei Hunderttausenden zur Arbeitsunfähigkeit bzw. zur Invalidität.3 Letzteres bedeutete einerseits ein existentielles Problem für die Erkrankten und ihre Familien, andererseits litt die Volkswirtschaft darunter, 1

Die Ausführungen gehen zurück auf einen Vortrag, der im Mai 2013 auf der Tagung »Geschichtswelten 2013 – Geschichte der Pflege- und Gesundheitsberufe lehren und lernen: Ambulante Versorgung« im Deutschen Hygiene-Museum Dresden gehalten wurde.

2

Dazu Dietrich-Daum (2007), S. 103-114.

3

Zu den Invalidenrenten wegen Lungentuberkulose zwischen 1897 und 1941 in Württemberg siehe Hähner-Rombach (2000), S. 196-199.

MedGG 32  2014, S. 93-110  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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stand doch das Gros der Erkrankten im erwerbstätigen Alter.4 Die Übertragungswege der Tuberkulose und damit ihre Infektiosität hatte Robert Koch bereits 1882 nachgewiesen. Das war ein großer Triumph der noch jungen Bakteriologie im Deutschen Reich. Die erfolgreiche Suche nach einem Heilmittel nahm allerdings weitere 60 Jahre in Anspruch. Den Amerikanern Selman Abraham Waksman (1888-1973) und Albert Schatz (1920-2005) gelang es erst 1943/44, ein Antibiotikum, das Wirkung gegen den Tuberkuloseerreger zeigte, zu entwickeln.5 Bis dahin wurde mit verschiedenen Mitteln versucht, den individuellen Krankheitsverlauf zu beeinflussen. Neben dafür nur in geringer Zahl in Betracht kommenden chirurgischen Maßnahmen waren es vor allem mehrmonatige Aufenthalte in eigens errichteten Lungensanatorien, die unterschiedliche Bezeichnungen erhielten: Heilstätten, Heilanstalten und Volksheilstätten waren die gebräuchlichsten. Diese Sanatorien gab es im deutschsprachigen Raum seit 1854.6 Zunächst war der Aufenthalt nur vermögenden Privatpatienten vorbehalten, später kamen auch Mitglieder der Landesversicherungsanstalten in bescheidener ausgestattete Heilstätten.7 Ein geringer Teil der nicht pflichtversicherten und unvermögenden Tuberkulösen vor allem des Mittelstandes fand in sog. Volksheilstätten ein zeitweiliges Unterkommen.8 Die Kranken, 4

So berechnete Ickert noch für das Jahr 1926 einen »Verlust an Nationalvermögen« im Deutschen Reich in Höhe von 942.280.000 Reichsmark (RM), indem er von 61.408 Personen ausging, die der Tuberkulose »zum Opfer gefallen« waren, davon 47.114 im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 60 Jahren. Die genannte Summe kam dadurch zustande, dass er den Tod eines Menschen im erwerbsfähigen Alter volkswirtschaftlich mit 20.000 RM ansetzte. Vgl. Ickert (1930), S. 3.

5

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis das Mittel nach dem Zweiten Weltkrieg in ausreichender Menge zur Verfügung stand. Für diese Entdeckung bekam Waksman 1952 den Nobelpreis für Medizin verliehen. Zur Entwicklung sog. Tuberkulostatika siehe Lindner (2004), S. 134f.

6

Hermann Brehmer (1826-1889) begründete im schlesischen Görbersdorf die sog. Freiluft-Liegekur, die bald Nachahmer fand. Dazu immer noch Langerbeins (1979). Zu Württemberg siehe Hähner-Rombach (2000), Kap. 4; zur Schweiz Ritzmann (1998); zu Österreich Dietrich-Daum (2007). Ein Vergleich zwischen den deutschen und englischen Heilanstalten findet sich bei Condrau (2000).

7

Bevor die Landesversicherungsanstalten ab 1896 eigene Heilstätten bauten, schickten sie ihre für eine Heilstättenkur in Betracht kommenden Mitglieder in private Lungensanatorien und Volksheilstätten und übernahmen die Kosten. Grundlage dafür war § 18 des Gesetzes betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889. Durch die Paragraphen 18 und 47 des genannten Invalidenversicherungsgesetzes wurden die Landesversicherungsanstalten zu den »Hauptträgerinnen der Bekämpfung der Schwindsucht durch Entsendung geeigneter Tuberkulöser in Heilstätten«. Pütter (1901), S. 400. In manchen Städten übernahm auch die öffentliche Armenpflege die Versorgung Tuberkulöser. Da aber die Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung den Verlust des Wahlrechts nach sich zog, vermieden viele Tuberkulosekranke den Gang zum Armenamt. Vgl. Pütter (1901), S. 405.

8

Zu den Volksheilstätten siehe Seeliger (1988).

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die aufgrund fehlender finanzieller Mittel, zu langer Wartelisten, nicht ausreichender Versicherungszeiten oder wegen zu weit fortgeschrittener Erkrankung nicht in die Heilstätten der Versicherungsanstalten oder Volksheilstätten aufgenommen oder nach drei Monaten als ungeheilt entlassen wurden, mussten zu Hause verpflegt werden. Sie machten die absolute Mehrheit der Tuberkulosekranken aus.9 Dies und die immer stärker werdenden Zweifel an messbaren Erfolgen der Heilstättenbehandlung, die Sorge um den Gesundheitszustand der Angehörigen, Schlafgänger oder Arbeitskollegen und die Schwierigkeit, Tuberkulosekranke überhaupt ausfindig zu machen, führten zu der Einsicht, dass es neben den Heilanstalten eine weitere nichtstationäre Einrichtung brauchte. Deshalb kam es Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufbau sog. Tuberkulosefürsorgestellen im Deutschen Reich10, die auch als »Untersuchungs- und Auskunftsstelle für Lungenkranke« oder als »Auskunfts- und Fürsorgestelle für Tuberkulöse« bezeichnet wurden. Ihre Obliegenheiten waren vielfältig: Aufklärung, fachärztliche Untersuchung, also Diagnostik, Ermittlung von Kostenträgern für Heilverfahren oder stationäre Unterbringung, Beratung und Betreuung der Familie während der Abwesenheit des Kranken, Desinfektion der Wohnung, Vermittlung von materieller Unterstützung durch öffentliche und private Institutionen sowie Hilfen für die Kinder tuberkulöser Eltern. In diesen Fürsorgestellen waren neben dem ärztlichen Personal Tuberkulosefürsorgerinnen tätig. Auch deren Bezeichnung variierte. So findet sich in zeitgenössischen Darstellungen auch die »Tuberkuloseschwester«, die »Fürsorgeschwester« oder auch nur die »Fürsorgerin«, später mit der Einrichtung der »Wohlfahrtsschulen« auch die »Wohlfahrtspflegerin«. In ländlichen Gebieten war ihr Tätigkeitsfeld nicht so abgegrenzt wie in der Stadt. In den Dörfern und Weilern waren es oft Gemeindepflegerinnen, die auch in die Tuberkulosefürsorge eingebunden wurden, weil es keine eigentlichen Fürsorgerinnen gab. So hieß es noch 1930 in einem Artikel zur Fürsorge von Kindern mit Knochengelenktuberkulose: Den Schwestern der Gemeindekrankenpflegestationen auf dem Land fällt unter Umständen die wichtige Aufgabe zu, in abgelegenen Dörfern die versteckten Fälle, die dort oft lange herumliegenden und verkommenden Kinder mit Gelenktuberkulose zu erfassen. Ihre Mitarbeit und Schulung ist von Bedeutung, zumal dann, wenn das vielfach noch knappe eigentliche Fürsorgepersonal diese Winkel nicht genügend sorgfältig 9

Nicht nur wurden die meisten Tuberkulosekranken zu Hause verpflegt, sie starben in der Regel auch zu Hause. In Halle an der Saale starben 1918 nicht einmal 20 Prozent der Tuberkulösen in Krankenhäusern. Vgl. Blümel (1919), S. 75.

10 Den Anfang machte Berlin 1895, in den folgenden Jahrzehnten errichtete fast jede größere Stadt eigene Fürsorgestellen mit unterschiedlichen Trägern, bis sie 1933 im Zuge der Vereinheitlichung des Gesundheitswesens durch die Nationalsozialisten an die Gesundheitsämter angegliedert wurden. Zu den Fürsorgestellen immer noch Reinicke (1988).

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absuchen kann. Es kommt hinzu, dass aus Vorurteil, Aberglaube u. a. solche Kinder bewusst vor der Erfassung versteckt werden! Für die Gemeindeschwester ist die »Entdeckung« gelegentlich der Erfüllung anderer Pflichten oft wohl einfacher, weil sie als »alte Bekannte« des öfteren mehr Zutrauen genießen wird als die fremdere Fürsorgerin.11

Damit sind auch gleich die »subtileren« Aufgaben der Frauen in der Tuberkulosefürsorge angeschnitten. Da es noch bis zum Jahr 1918 dauern sollte, bis der preußische Staat die Ausbildung von Fürsorgerinnen erstmals regelte12, wurden also vor allem Kranken- und Gemeindeschwestern mit einer mehr oder weniger umfassenden Weiterbildung für diese Aufgabe in Betracht gezogen13. Später kamen die Absolventinnen der neugegründeten Wohlfahrts- und Sozialen Frauenschulen hinzu, deren Zahl allerdings bei weitem nicht ausreichte.14 Noch 1921 hieß es deshalb in den Richtlinien, die die Fürsorgestellenkommission des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose über die Ausbildung von Fürsorgerinnen herausgegeben hatte: Als Vorbildung wird im allgemeinen die durch die staatliche Anerkennung als Kranken- oder Säuglingspflegerin abgeschlossene Ausbildung verlangt, besonders geeignete Persönlichkeiten werden auch ohne solche Vorbildung an einzelnen Orten zur Tätigkeit als Fürsorgerin zugelassen.15

Die Fürsorgestellenkommission hielt es auch in den folgenden Jahren für wünschenswert, dass an der Vorbildung als Kranken- oder Säuglingspflegerin festgehalten und daran eine mindestens zweimonatige »Ausbildung« angeschlossen werde.16 Daran sieht man, dass die Kernkompetenzen für die Tätigkeiten der Tuberkulosefürsorgerin aus ihrer Ausbildung bzw. Berufserfahrung in der Krankenpflege resultierten. Das hatte sich auch 1928 noch nicht geändert. So heißt es in einer Broschüre zur Tuberkulosefürsorge, dass es für die Absolventinnen der zweijährigen Wohlfahrtsschulen, die in die Tuberkulosefürsorge gehen wollen, »als mindestens sehr wünschenswert 11 Wiese (1930), S. 27. 12 Noch während des Krieges kam es 1918 in Preußen zum »Erlass betreffend Vorschriften über die staatliche Prüfung von Fürsorgerinnen«. Vgl. Amthor (2003), S. 270. 13 Nicht selten wurde die Tuberkulosefürsorge auch von nicht ausgebildeten Frauen übernommen, wie das folgende Zitat zeigt: »Die Personen, die sich dem Fürsorgeschwesternberuf widmen, haben ja heutzutage eine sehr verschiedene Vorbildung: z. T. sind es Krankenschwestern, namentlich dort, wo sie mit der TuberkuloseFürsorge nicht voll zu beschäftigen sind, besonders auf dem Lande, wo die Gemeindeschwester nebenamtlich zur Tuberkulose-Fürsorge herangezogen werden muß; zum andern Teil mehr oder weniger gebildete Laien-Damen […].« Bruck (1913/14), S. 15. 14 Die erste Soziale Frauenschule wurde in Berlin von Alice Salomon 1908 gegründet, es folgten vor allem während des Ersten Weltkrieges weitere Gründungen, so 1917 in Hamburg und in Stuttgart. Vgl. Reinicke (2008). 15 Kayser-Petersen (1926), S. 30. 16 Kayser-Petersen (1926), S. 30.

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bezeichnet werden« müsse, dass diese die staatliche Anerkennung als Krankenpflegerin haben.17 Im Folgenden werden zunächst die Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen der Tuberkulosefürsorgerinnen dargestellt. Im Anschluss daran soll es um Erwartungen und Anforderungen gehen, die an diese Berufsgruppe gestellt wurden, aber auch um Konflikte, die sich durch ihre Stellung und Arbeit ergaben. Zum Schluss soll eine kurze Bilanz gezogen sowie ein Forschungsausblick gegeben werden. Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen Die Tätigkeiten der Tuberkulosefürsorgerinnen erstreckten sich unter anderem auf die Arbeiten in der Fürsorgestelle, vor allem während der ärztlichen Sprechstunde. Hier waren die Patientendaten aufzunehmen, die Kranken für die ärztliche Untersuchung vorzubereiten und je nach technischer Ausstattung der Fürsorgestelle auch Röntgenaufnahmen und Laboruntersuchungen durchzuführen. Bei Bestätigung der Diagnose setzte sich, abhängig vom jeweiligen Einzelfall, eine regelrechte Maschinerie von Antragstellungen in Gang: Es mussten Kostenträger für einen Heilstättenaufenthalt oder eine Walderholungskur ausfindig gemacht werden. Daneben ging es um die Finanzierung eines zusätzlichen Bettes oder die Miete eines weiteren Raumes. Auch die Kosten für Hilfsmittel, wie Spuckflaschen und Desinfektionsmittel, oder Gutscheine zur Ausgabe von Milch mussten aufgebracht werden. Waren Kinder in der Familie, versuchten die Fürsorgerinnen für diese sog. »Kräftigungskuren« in Walderholungsstätten oder Seehospizen, durch Landaufenthalte oder Ferienkolonien zu beschaffen, um sie gegen eine Ansteckung widerstandsfähiger zu machen.18 Die Hauptaufgabe der Fürsorgerinnen lag in den Hausbesuchen der Tuberkulosekranken und ihrer Familien. So heißt es in einer »Dienstanweisung für die Fürsorgeschwester« aus dem Jahr 1918: Den größten und wichtigsten Teil der Tätigkeit macht die häusliche Fürsorge bei den Kranken und ihren Angehörigen aus. Dieselbe ist auf die Tatsache begründet, daß die häuslichen Verhältnisse den unvergleichlich größten, tiefgehendsten Einfluß auf die Entwicklung und den Verlauf der Schwindsucht ausüben.19

Die Arbeit der Fürsorgeschwestern war also nicht zuletzt wegen fehlender Tuberkulose-Heilmittel ein bedeutender Grundpfeiler im Kampf gegen die Ausbreitung dieser Volkskrankheit. Die hauptsächlichen Mittel in diesem »Krieg gegen die Bakterien«20 waren Aufklärung und Anleitung zur indivi17 Schwalm (1928), S. 82. 18 Vgl. Anweisung für Tuberkulose-Fürsorgerinnen (1924). 19 Pischinger (1918), S. 79. 20 Siehe dazu Gradmann (1994).

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duellen Hygiene, die dann auch zu kontrollieren war. Die Fürsorgerinnen waren es also, die seit der Gründung von Tuberkulosefürsorgestellen Ende des 19. Jahrhunderts versuchen mussten, Zugang zu den Wohnungen der Kranken zu bekommen. Dort sollten sie sich ein Bild von den familiären und wohnlichen Verhältnissen machen, um dann vor Ort praktische Ratschläge zur Ansteckungsverhütung erteilen zu können. Die in regelmäßigen Abständen vorgesehenen Hausbesuche wurden je nach Lage, Bedingungen und Ausstattung der Fürsorgestelle zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder, soweit vorhanden, teilweise schon mit dem Fahrrad oder später mit einem Moped unternommen. Die Wege kosteten viel Zeit, und die Besuche wurden selbstverständlich bei jedem Wetter gemacht. Die Inspektion der Wohnungen und der Lebensweise ihrer Bewohner und Bewohnerinnen umfasste ein sehr breites Spektrum: körperlicher Zustand der Tuberkulösen, ihr Umgang mit der Krankheit – das hieß vor allem Handhabung des ansteckungsfähigen Auswurfs –, ihre Körperhygiene und ihre mögliche räumliche Isolierung innerhalb der Familie, um die Angehörigen vor Ansteckung zu bewahren. Dazu traten die Kontrolle des Alkoholkonsums, der Ernährung und der Lebensweise sowie die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit, aber auch der Arbeitswilligkeit der Kranken. Dann galt es, die Wohnung genau zu beschreiben, d. h. Höhe, Größe, Beschaffenheit sowie Lage, Zustand, Ausstattung und Aufteilung der Zimmer und die dort herrschende Sauberkeit. All das hatte die Fürsorgeschwester genauestens zu notieren. Dazu musste natürlich alles in Augenschein genommen werden. Und das bedeutete ein ständiges Aushandeln mit den Betroffenen. Um deren Bereitschaft, die Fürsorgerin in die Wohnung zu lassen, zu steigern und ihre Ratschläge zumindest nicht gleich in den Wind zu schlagen, gab es Mittel. Eine Fürsorgeschwester gab beispielsweise 1913 zu bedenken, »daß Verhaltensmaßregeln und gute Ratschläge auf weit fruchtbareren Boden fallen, wenn irgend eine Unterstützung gereicht werden kann«.21 Daneben mussten die Fürsorgerinnen bedacht sein, sich nicht selbst bei den Kranken anzustecken. Deshalb sollten sie körperliche Distanz zu ihnen halten, sich nicht in deren Hustenstoß setzen und natürlich an sich selbst äußerste Hygiene walten lassen.22

21 Über die Tätigkeit der Fürsorgestelle (1914), S. 67. 22 So heißt es in einer Anleitung für die Schwestern: »Muß die Fürsorgeschwester im einzelnen Falle im Krankenzimmer sich setzen, so soll sie nicht dem Kranken gegenüber, sondern neben ihm Platz nehmen, da dann die Richtung des Hustenstoßes sie nicht trifft. Hierbei ist der Kranke immer wieder zu ermahnen, bei Hustenanfällen das Taschentuch vorzuhalten. Unnötige Berührung des Kranken und der von ihm gebrauchten Gegenstände sind zu vermeiden.« Anleitung für die Fürsorgeschwestern der Chemnitzer Auskunfts- und Fürsorgestelle (1914), S. 132.

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Ein Teil der Tuberkuloseärzte war der Meinung, dass die Zahl der Fürsorgerinnen, die sich durch ihre Tätigkeit ansteckten, sehr hoch sei. Das wurde mit deren aufreibender Tätigkeit und Lebensweise begründet: Die Ansteckungsgefahr ist um so grösser, als die Fürsorgerin besonders auf dem Lande eine erhöhte Krankheitsbereitschaft hat. Das dauernde Radfahren bei Wind und Wetter, die unregelmässige Ernährung, die vielfach ungünstigen Wohnungsverhältnisse, die seelischen Erschütterungen, die häufigen Erkältungskrankheiten setzen die Widerstandskraft der Fürsorgerin sehr stark herab. […] Dazu kommt vielfach eine recht ungünstige Lebensführung. Viele Fürsorgerinnen, welche tagsüber unterwegs sind, bekommen erst abends etwas Warmes zu essen oder verzichten auch gelegentlich darauf, weil sie zu müde sind, sich ein Essen selbst zu bereiten.23

Diese Ausführungen zeigen auch, dass und wie manche Ärzte die Belastungen bzw. die Arbeitsbedingungen der Tuberkulosefürsorgerinnen wahrnahmen. Anforderungen, Erwartungen, Konflikte Die Haltung der Mediziner Bei den Medizinern muss unterschieden werden zwischen denen, die in der Fürsorgestelle arbeiteten, und den niedergelassenen Ärzten. Ein Teil der zuletzt genannten Gruppe beäugte die Arbeit der Fürsorgestelle von Anfang an misstrauisch, weil sie vermuteten, dass dort auch eine Therapie der Kranken durchgeführt werde, was für sie Einkommenseinbußen bedeutet hätte.24 Die Ärzte argwöhnten außerdem, dass die Schwestern während ihrer Krankenbesuche nicht nur hygienische Ratschläge erteilten, sondern die Kranken auch berieten oder sogar behandelten, statt sie zu ihrem Hausarzt zu schicken. Das trieb solche Blüten, dass ein Beschwerde führender Arzt einer Fürsorgerin den Vorwurf machte, »sie habe ärztlich beraten, weil sie einer Frau gelegentlich sagte, sie solle ihren Kropf operieren lassen«.25 Die Fürsorgeärzte ließen deshalb nie nach, den Schwestern in Erinnerung zu rufen, dass deren Besuche nicht als Krankenbesuche im üblichen Sinn aufgefaßt werden dürfen. Es darf also den Kranken und Angehörigen keinesfalls eine ärztliche oder Krankenpflege-Maßnahme zur Behandlung des Lungenleidens des Kranken oder anderer etwa nebenbei bei der Familie bestehender Krankheiten empfohlen oder durchgeführt werden.26

Das bedeutet, die Fürsorgerin hatte mit den gegensätzlichen Erwartungen zweier Parteien umzugehen: den Kranken und ihren Angehörigen, die tat23 Dohrn (1928), S. 51. 24 Siehe dazu das Kap. 4.3.3. (»Widerstand der Ärzte gegen die Fürsorgestellen«) in Hähner-Rombach (2000). 25 Schreiben des Stadtarztes Sing an das Stadtschultheißenamt Ulm von August 1909. Stadtarchiv Ulm, Bestand 500/11 Nr. 2. 26 Pischinger (1918), S. 79.

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kräftige Hilfe einforderten, und den niedergelassenen Medizinern, die genau das auf keinen Fall wollten. Um den ärztlichen Erwartungen an das Verhalten der Schwestern bei Besuchen Nachdruck zu verleihen, wurde ihnen Folgendes mit auf den Weg gegeben: Die Schwester bedenke auch, daß es immer und überall Leute gibt, die gerne der Schwester Schwierigkeiten bereiten möchten, sie ausfragen und ihre Reden dann wieder womöglich mit den verschiedensten Übertreibungen und Verdrehungen weiter verbreiten, so daß zu Empfindlichkeiten und Streitigkeiten Anlaß gegeben wird.27

Es wurde ihr also geraten, grundsätzlich misstrauisch, zumindest aber vorsichtig zu sein. Das machte die Kommunikation bei ihren Besuchen sicher nicht einfacher. Den Verdacht, dass Tuberkulosefürsorgerinnen ihre Kompetenzen überschreiten könnten, hegten allerdings nicht nur die niedergelassenen Ärzte, sondern auch manch ein Tuberkulose-Fürsorgearzt. So heißt es in einem Aufsatz aus dem Jahr 1922: Diese mangelnde Verbindung [der Fürsorgerin – S. H.-R.] mit dem Fürsorgearzt führt nun, wie die Erfahrung lehrt, zum Kurpfuschertum. In allen Aerzteversammlungen und -vereinen werden seit geraumer Zeit immer wieder und mehr Klagen über Uebergriffe der Fürsorgerinnen laut.28

Dennoch war das Verhältnis zwischen Arzt und Schwester der Fürsorgestelle im Vergleich zu dem sonst im klinischen Alltag herrschenden etwas ausgewogener. Da die Fürsorgerinnen die Kranken und ihre Familien in der Regel weit besser kannten als der Leiter der Fürsorgestelle, dem dieser Sachverhalt bewusst war, war er auf ihre Hilfe angewiesen. Außerdem sahen die Ärzte, dass die Schwestern noch am ehesten in der Lage waren, den Kranken und ihren Angehörigen Praktiken der Ansteckungsverhütung nahezubringen.29 Auch dieses Wissen führte zu einem stärkeren beruflichen Selbstbewusstsein der Fürsorgerinnen und zu einer höheren Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Fürsorgeärzte. Die Hygiene-Bewegung, zu der die Tuberkulosefürsorge gerechnet werden muss, war bestrebt, bürgerliche Vorstellungen von Sauberkeit – und diese auch im übertragenen Sinn hinsichtlich des richtigen Lebenswandels – in den Arbeiterschichten zu verankern. Das geschah am ehesten durch den Kontakt zwischen Fürsorgerin und Arbeiterfrau.30 Die Wohnungsbesuche 27 Pischinger (1918), S. 79. 28 Berghaus (1922), S. 18. 29 Zur Weitergabe von Gesundheitswissen durch verschiedene »Mittler« (Krankenschwestern, Mütter, Fürsorgerinnen, Priester) siehe Jütte/Dinges (2011). 30 Siehe dazu Frevert (1985). Zu Beginn der Tuberkulosebekämpfung hatten manche Staaten – wie das Königreich Württemberg – die Privatwohltätigkeit oder, sofern vorhanden, die Vaterländischen Frauenvereine bzw. die sog. »Provinzialvereine zur Bekämpfung der Schwindsuchtsgefahr« mit dieser Aufgabe betraut. Dann waren es bür-

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erforderten auch in den Augen der Fürsorgeärzte großes Feingefühl auf Seiten der Schwester: Ein zuviel [sic!] von Besuchen, ein Sichaufdrängen ist ebenso zu vermeiden, wie ein zuwenig [sic!], das etwa als eine Vernachlässigung gedeutet werden könnte. Die Besuche sind in einer Weise zu gestalten, daß die Schwester wirklich in die Lage kommt, sich einen klaren Einblick in die Verhältnisse zu verschaffen: doch muß selbstverständlich bei der Prüfung und bei den Ermahnungen alles den Eindruck der Neugier Erweckende, alles Polizeimäßige peinlichst vermieden werden. Es ist eben viel Takt, Menschenkenntnis, wahre Nächstenliebe und Geduld dazu notwendig, das Vertrauen des Kranken und seiner Angehörigen zu gewinnen und die Leute für die Bestrebungen der Schwester willfährig zu machen.31

Wie das alles bewerkstelligt werden sollte, war eines der Probleme, mit denen sich die Fürsorgeschwestern ständig auseinandersetzen mussten. Die Ärzte waren dabei mit guten Ratschlägen und Erklärungen über das »Wesen der Kranken« behilflich, denn sie wussten, wie wichtig es war, dass die Fürsorgerin Zugang zu den Wohnungen, aber auch zu den Kranken und ihren Angehörigen selbst fand. So schrieb ein Fürsorgearzt, es sei verständlich, dass es die meisten Menschen »als einen Eingriff in ihre persönliche Freiheit betrachten, wenn man ihnen zumutet, ihr Bett anders zu stellen als sie es gewohnt sind«.32 Denn die Menschen hingen an nichts mehr als an ihren Gewohnheiten, auch wenn deren Schädlichkeit bekannt sei. Wenn die Fürsorgerin nicht locker lasse, »entspinnt sich da oft ein stummer Kampf, der mit großer Hartnäckigkeit und mit Anwendung aller möglichen Listen und Täuschungsmanöver seitens der Kranken und ihrer Angehörigen geführt« werde. Daraus ergebe sich die Gefahr, dass die Fürsorgerin »nicht als Wohltäterin, sondern als Feindin, als Störerin der häuslichen Ruhe« betrachtet werde. Das gelte es unbedingt zu verhindern, denn: Es kann vorkommen – und es ist vorgekommen! – daß die Kunde von dem Nahen der Fürsorgerin, gerade in Vierteln, wo die nachgehende Fürsorge am meisten not tut, sich mit großer Geschwindigkeit vor ihr her verbreitet, und daß die Mehrzahl der Familien, denen ihr Besuch gilt, »nicht zu Hause« sind – jedenfalls die Wohnungen verschlossen.33

Die Fürsorgerin müsse wissen, mit welchem Ton sie jeweils am weitesten komme, die Erfahrung werde ihr da weiterhelfen, und auch von daher sei es gut, wenn sie über eine Krankenpflegetätigkeit verfüge, denn: »Besonders

gerliche Frauen, die in die Unterschichten-Haushalte gehen und dort die Hygienemaßnahmen propagieren sollten. Dieses Konzept war allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Eine professionelle Krankenschwester hatte es etwas einfacher. 31 Pischinger (1918), S. 80. Ein weiteres Beispiel für detaillierte Forderungen eines Arztes an die Fürsorgerin findet sich bei Aufrecht (1918). 32 Schwalm (1928), S. 86. 33 Schwalm (1928), S. 86.

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Krankenpflegerinnen mit einiger Erfahrung verstehen es oft überraschend gut, auch mit wenig einsichtsvollen Leuten fertig zu werden.«34 Erwartungen seitens der Kranken Die Tuberkulose war nicht irgendeine Krankheit, sondern eine, wie eingangs erwähnt, die Angst und Schrecken verbreitete. Die Kranken hatten außerdem mit den sozialen Zuschreibungen der Tuberkulose als Proletarier-, Schmutz- oder Krankheit der Ausschweifungen zu kämpfen.35 Sie waren deshalb nicht immer an den Besuchen der weithin als Tuberkulosefürsorgerin erkennbaren Frauen interessiert. So heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 1920: »Unseren Leuten paßt es großenteils nicht, besonders auch auf dem Lande, wenn eine Schwester, die als besondere Tuberkuloseschwester bekannt ist, kommt. […] Den Leuten ist es unangenehm, wenn es heißt, hier ist die Schwindsucht im Haus.«36 Denn das brachte immer die Gefahr mit sich, Arbeit und/oder Wohnung zu verlieren, wenn sich die Krankheit bis zum Arbeitgeber bzw. Vermieter herumgesprochen hatte, was in der Regel nicht lange dauerte. Auch zehn Jahre später hatte sich die Situation nicht grundlegend geändert, wie ein Bericht aus Biberach zeigt: Es sind schon zahlreiche Fälle vorgekommen, wo die Patienten auf die Einladungen [der Fürsorgestelle – S. H.-R.] pfeifen und bekannt ist, dass die Besuche der Fürsorgerin wütend erwidert werden! So sieht in Wirklichkeit die Tub[erkulose-]Fürsorge aus.37

Der erste Besuch der Kranken und ihrer Familienangehörigen war für die Gestaltung der weiteren »Beziehung« zwischen der Schwester und ihren Klienten besonders wichtig. Dafür gab es eine Strategie, die eine Fürsorgeschwester folgendermaßen skizzierte: Bei erstmaligen Besuchen in der Wohnung der Patienten gehen wir mit der Erteilung von Verhaltensmaßregeln langsam vor, von allergrößter Wichtigkeit ist es für die Fürsorgeschwester, sich erst das Vertrauen der Patienten und ihrer Familienangehörigen zu erwerben, und dies erreicht man eher, wenn der erste Besuch mehr den Charakter eines teilnehmenden Besuches trägt. Bei späteren Besuchen bietet sich immer noch reichlich Gelegenheit, auf die Patienten und ihre Angehörigen einzuwirken.38

Wenn man sich vor Augen führt, welches Verhalten die Fürsorgeschwester von den Kranken verlangte und was sie von den Familienangehörigen erwartete, wird vorstellbar, wie schwierig es sein konnte, Einlass zu finden 34 Schwalm (1928), S. 87. 35 Zur sozialen Konstruktion der Krankheit Tuberkulose: Nolte (2010) sowie immer noch Herzlich/Pierret (1991) und Sontag (2005). 36 Heuß: Die Tuberkulosefürsorgestellen. Zit. n. Hähner-Rombach (2000), S. 313. 37 Oberamtspflege Biberach vom 30. Oktober 1930 an das Oberamt Biberach. Staatsarchiv Sigmaringen, Bestand Wü 65/5 Bd. 4 Büschel 554. 38 Über die Tätigkeit der Fürsorgestelle (1914), S. 67.

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und mit den Anforderungen durchzudringen: Schlafgänger, sofern vorhanden, sollten ausquartiert werden, was den Verlust eines kleinen zusätzlichen Einkommens bedeutete. Die Kranken sollten körperliche Distanz zu den Angehörigen halten – dies umso mehr, wenn Kinder in der Wohnung lebten. Letztere durften beispielsweise nicht umarmt oder sogar geküsst werden. Ziel war es, auch innerhalb der Wohnung für eine möglichst weitgehende Isolierung des Kranken zu sorgen. Dies war am einfachsten durchzuführen, wenn man ihn bzw. sie in einem eigenen Zimmer unterbringen konnte. Wenn es gemeinsame Mahlzeiten gab, sollte der Kranke unbedingt eigenes Besteck haben, das – wie seine Wäsche auch – gesondert zu waschen war. Die Spuckdisziplin und fachgerechte Entsorgung des Auswurfes standen neben einer Hustendisziplin an oberster Stelle. Litt der Kranke an offener Tuberkulose, sollte versucht werden, ihn einer Heilstättenbehandlung zuzuführen bzw. bei zu weit fortgeschrittener Erkrankung ein Kranken- oder Siechenheim aufzusuchen. Letzteres war den Kranken außerordentlich schwer zu vermitteln. Die Lage war besonders schwierig, wenn es sich bei der Kranken um eine Mutter handelte. Sie zu einem Heilstättenaufenthalt zu bewegen, bedeutete große Überredungskunst und Organisationsgeschick auf Seiten der Schwester. Kinder sollten bei ansteckender Tuberkulose möglichst außerhalb der Familie untergebracht werden. Wenn sich keine Pflegefamilie fand, dann kam ein Kinderheim in Betracht. Davon eine Mutter zu überzeugen, erforderte viel Geschick. War der Kranke noch arbeitsfähig, aber in einem »falschen« Beruf oder Bereich tätig, also in einem, in dem er andere anstecken konnte, sollte er sich mit einem Wechsel einverstanden erklären, der unter Umständen mit einem geringeren Einkommen einherging. Dazu kommt, dass der Tuberkulöse an einer chronischen Erkrankung litt, in deren Verlauf es durchaus Phasen gab, in denen es ihm gut ging. Diese langwierige, schwere Krankheit mit ihren häufigen Schwankungen und wechselnden Stimmungen bedingt bald Trost und Zuspruch, bald ist wieder ein Zurückhalten des über seine Kräfte hinaus unternehmungslustigen Patienten nötig.39

Das Auf und Ab des Krankheitsverlaufs und die generell schlechte Prognose führten bei einigen Kranken zu Ungeduld, Hadern, Verzweiflung oder aber zu dem Versuch, das Bestehen der Erkrankung auch für sich selbst in Abrede zu stellen. Manche litten unter der räumlichen Absonderung, manche darunter, dass sie Körperkontakt mit Familienmitgliedern meiden sollten, viele unter Schuldgefühlen, dass ihre Kräfte nicht ausreichten, die Familie zu unterhalten.40 Das alles führte dazu, dass sie keine leichte Krankenklientel waren. Bei der Kommunikation mit ihnen kam noch ein Weiteres hinzu: 39 Jooß (1903), S. 241. Dieser Artikel wurde übrigens in derselben Zeitung drei Jahre später noch einmal abgedruckt. Vgl. Deutsche Krankenpflege-Zeitung 9 (1906), H. 5, S. 61-63. 40 Siehe dazu die Ausführungen in Bromme (1905/1971).

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In der Unterhaltung mit einem Lungenkranken richte man nicht zu oft Fragen an denselben, da die Beantwortung derselben ihm wegen Atemnot oft schwer fällt und auch die unbedeutendste Denkarbeit ihn schon ungeduldig machen kann. Das Gespräch soll nicht auf Dinge kommen, die geeignet sind, den Kranken aufzuregen, man soll nicht mit lauter Stimme und nicht ununterbrochen, wie ein Wasserfall fortreden, das kann schon Gesunden auf die Nerven gehen, den Kranken kann es zur Verzweiflung bringen. Fieber ist eine gewöhnliche Folge.41

Ein Arzt ging mit seinen Empfehlungen für die Fürsorgerin im Umgang mit Tuberkulösen so weit, ihr zu raten, sich auf die notwendigste Unterhaltung zu beschränken.42 Eine Tuberkulosefürsorgerin kam nicht, wie die Gemeindeschwester, zur Pflege der Kranken, sondern hauptsächlich zur Überwachung. Dieser Kontrollcharakter sollte durch »Mitbringsel« in Form von Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Gutscheinen etc. wenn nicht verdeckt, so doch gemildert werden. Eine Fürsorgeschwester formulierte ihre Erfahrungen folgendermaßen: Bei den Besuchen sei zu beobachten, daß Verhaltensmaßregeln und gute Ratschläge auf weit fruchtbareren Boden fallen, wenn irgend eine Unterstützung gereicht werden kann. Es empfiehlt sich deshalb, nicht nur den besserungsfähigen Patienten, sondern auch den Rentnern, sowie den an vorgeschrittener Tuberkulose erkrankten Frauen von Versicherten Unterstützung, insbesondere in Form von Milch und Lebensmitteln, zukommen zu lassen.43

Man könne zwar bei diesem Personenkreis nicht mit einer Besserung des Krankheitszustandes rechnen, aber abgesehen davon, dass bei den Rentnern jede Unterstützung, sei sie auch noch so klein, angesichts ihrer geringen Invalidenrenten dankbar angenommen werde, »sind die Leute dadurch auch viel gefügiger und williger, die von der Fürsorgeschwester gegebenen Ratschläge zu befolgen«44, als wenn man sich nur auf Unterweisungen beschränke. Darüber hinaus biete die Aushändigung von Gutscheinen Grund und Gelegenheit für einen Besuch. Und sollte man auch einmal keine Gaben mitbringen können, so werde man doch eher in die Wohnung gelassen. Die Schwester brauche Ausdauer, um belehren, beraten und kontrollieren zu können. Zur Ausdauer komme aber noch Folgendes: Ist sie nun in der angenehmen Lage, auch mit materiellen Gaben eingreifen zu können, so ist sie kein unwillkommener Gast, und energischer kann sie auftreten, wenn durch Unsauberkeit und Unordnung hervorgerufene Mißstände zu beseitigen sind.45

Deutlich wird, dass es trotz persönlichen Geschicks und Feingefühls der Fürsorgeschwester auch greifbarer Vorteile bedurfte, um die Kranken und ihre Familie zur Kooperation zu motivieren. Diese Zusammenarbeit war für 41 Jooß (1903), S. 241. 42 Dietrich (1900), S. 39. 43 Über die Tätigkeit der Fürsorgestelle (1914), S. 67. 44 Über die Tätigkeit der Fürsorgestelle (1914), S. 67. 45 Über die Tätigkeit der Fürsorgestelle (1914), S. 67.

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die Fürsorgeschwester wichtiger als für ihre Kollegin in der Klinik. Denn die Fürsorgeschwestern hatten keine rechtliche Handhabe, um in die Wohnung gelassen zu werden.46 Sie waren tatsächlich darauf angewiesen, dass sie die Türschwelle passieren durften; es lag also im Ermessen der Kranken, ob den Schwestern Zugang gewährt wurde oder nicht. Letztere waren aber dennoch nicht ganz »machtlos«, da sie außer durch materielle Unterstützung auch anderweitig Hilfe leisten konnten, und das wusste die Mehrheit der Besuchten. Die Fürsorgeschwestern waren im Gegensatz zu den Damen der Wohltätigkeitsvereine, die in manchen deutschen Staaten die Tuberkulösen zu Hause aufsuchen sollten, fachlich ausgebildete Frauen. Von ihnen konnte man mehr als Kontrolle und schöne Worte erwarten, deshalb öffnete man ihnen auch eher die Türen als den Ehefrauen des örtlichen Bürgertums. Dass selbst Wohlfahrtspflegerinnen47, also fachlich gebildete Frauen, Probleme mit den Kranken haben konnten, wenn ihnen eine Ausbildung als Krankenschwester fehlte, beschrieb ein Fürsorgearzt 1928 folgendermaßen: Fehlt also die Ausbildung als Krankenpflegerin, so wird das Endergebnis eine höchstens theoretisch genügende Vorbereitung für die eigentliche Berufsarbeit als Tuberkulosefürsorgerin sein. Daraus werden sich in der praktischen Tätigkeit unter Umständen nicht unerhebliche Schwierigkeiten für die »ausgebildete« Wohlfahrtspflegerin ergeben, welche ihr bei geeigneter Vorbildung erspart bleiben würden. Wenn die Tuberkulosefürsorgerin bei ihrer wichtigsten Tätigkeit im Hause der Tuberkulösen Erfolg haben und das Vertrauen ihrer Pfleglinge erwerben soll, dann muß sie von diesen voll als »Schwester« anerkannt werden. Fürsorge-»Damen« werden nur zu oft auf Mißtrauen stoßen oder gar vor verschlossenen Türen stehen.48

Die Fürsorgerinnen hatten in der Regel lange Zeit mit ihren Kranken zu tun. Das heißt, die Verbindung mit ihnen und ihren Angehörigen war eng. Die Schwestern wussten zumeist sehr viel über das Leben dieser Familien, versuchten zu helfen, wo es ging, vor allem, wenn die Fürsorgestelle materiell gut ausgestattet war. Im Falle von Renitenz der Kranken und/oder ihrer Familie war die Fürsorgerin aber auch durchaus in der Lage, Druck auszuüben, indem die Gewährung von Hilfs- und Nahrungsmitteln ausgesetzt wurde. Schluss Dass die Tätigkeit der Fürsorgerin trotz der vielfältigen und hohen Anforderungen gerne ausgeübt wurde, hing außer mit der Wertschätzung durch 46 So beklagte der bekannte Facharzt Blümel 1919, dass die Fürsorgeärzte »keine gesetzliche Handhabe haben. Die Tuberkulosebekämpfung ist ganz auf den guten Willen der Mitmenschen angewiesen.« Blümel (1919), S. 74. 47 Wohlfahrtspflegerinnen hatten eine zweijährige Ausbildung an einer Wohlfahrtsschule absolviert, für die man wiederum einen höheren Schulabschluss brauchte. Vgl. Schwalm (1928), S. 82. 48 Schwalm (1928), S. 82f.

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den Fürsorgearzt wohl auch mit dem Freiraum im Außendienst, einer relativen Entscheidungsbefugnis – zum Beispiel bei der Zuteilung von Hilfsmitteln –, dem Verantwortungsgefühl und dem Früchte tragenden persönlichen Einsatz zusammen. Das konnte dann in einer Wahrnehmung wie der folgenden seinen Ausdruck finden: Es gehört zu den schönsten Erfahrungen der Fürsorgetätigkeit, wenn man – anfangs mißtrauisch begrüßt – es nach und nach dahin bringt[,] der Familie als treue Freundin und Beraterin zur Seite zu stehen, wenn man merkt, wie durch frühzeitiges Eingreifen eine ganze Familie vor sonst unausbleiblicher Not bewahrt wurde.49

Die Attraktivität der Tätigkeit einer Fürsorgeschwester könnte auch mit der Möglichkeit einer Teilzeitbeschäftigung zusammenhängen. Das gab es damals in der Krankenpflege sonst nicht. Dass Halbtagsbeschäftigung innerhalb der Tuberkulosefürsorge gar nicht so selten anzutreffen war, zeigt das folgende Zitat: In unserer Chemnitzer Fürsorgestelle sind von den neun Fürsorgekräften die Vorsteherin und die Gehilfin ganztägig, die übrigen halbtägig tätig. Die Einrichtung hat sich bewährt. Es erschien uns mit Rücksicht auf die anstrengende Tätigkeit, die die Fürsorgeschwestern einer Großstadt zu entfalten haben, erwünscht, sie nicht den ganzen Tag in Anspruch zu nehmen und lieber mehrere Kräfte einzustellen.50

Im weiteren Text wird deutlich, dass es sich bei den teilzeitbeschäftigten Fürsorgerinnen um Frauen mit Familie handelte. Worauf nicht eingegangen werden konnte, was jedoch nicht unterschlagen werden soll, ist die »Frage, ob an Stelle der Fürsorgeschwestern männliche Kräfte mit ihrer Arbeit beauftragt werden können«51, wie es 1914 in einem Artikel des Tuberkulose-Fürsorge-Blatts hieß. In eben diesem Artikel schrieb der Autor, dass im Deutschen Reich lediglich in der Auskunfts- und Fürsorgestelle in Bayreuth ein Fürsorger tätig war, ansonsten seines Wissens nur Frauen. Während in Belgien und Frankreich die Fürsorge für Tuberkulöse durchaus auch Männern übertragen wurde – und wichtig war hierbei zudem, dass es Personen derselben Schicht waren –, fiel im Deutschen Reich die Wahl nahezu ausschließlich auf Frauen.52 Das wundert angesichts der Feminisierung der Krankenpflege seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht. Dennoch verdiente dieser Aspekt eine eigene Untersuchung, wie überhaupt die Forschung zu Männern in der Krankenpflege noch einige weiße Flecken aufweist. Ich möchte meine Ausführungen mit einer Beobachtung schließen, obwohl sie vom eigentlichen Thema wegführt: Die Tuberkulosefürsorge wurde – wie auch die Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge sowie das neugeschaf49 Anleitung für die Wohnungsbesuche (1911), S. 13. 50 Oertel (1914), S. 82. 51 Oertel (1914), S. 81. 52 Vgl. Gredig (2000), S. 165ff.

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fene Amt der Polizeifürsorgerin53 – lange Zeit mit Krankenschwestern besetzt. Es ist auffallend, dass heute oft vergessen wird, dass neben der Sozialarbeit noch eine Reihe anderer Berufe zumindest in ihrer Anfangs- und Konstituierungsphase von Krankenschwestern ausgeübt wurde. Noch auffälliger ist die Tatsache, dass diese Berufe nach ihrer »Emanzipation« von der Krankenpflege eine erfolgreichere Professionalisierung durchliefen als diese selbst.

53 Zur ersten Polizeiassistentin im Deutschen Reich siehe Hähner-Rombach (2008).

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Bibliographie Archivalien Staatsarchiv Sigmaringen Bestand Wü 65/5 Bd. 4 Büschel 554: Oberamtspflege Biberach vom 30. Oktober 1930 an das Oberamt Biberach Stadtarchiv Ulm Bestand 500/11 Nr. 2: Schreiben des Stadtarztes Sing an das Stadtschultheißenamt Ulm von August 1909

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Anforderungen in der ambulanten Versorgung

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»Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens«1 – Entwicklung der offenen Altenhilfe von der Nachkriegszeit bis zum Beginn der 1970er Jahre Kristina Matron Summary “They are enjoying their first holiday ever” – Working with the elderly, from the post-war years up to the early 1970s While, in the post-war years and into the 1950s, the building of old people’s and care homes and the allocation of home places in those homes was seen as the main task of municipal care institutions for the elderly in Frankfurt am Main, in the decade that followed their main task shifted towards increasing the possibilities of providing care in people’s own homes, delaying the move into old people’s homes and breaking through the loneliness that elderly people were presumed to experience. Supported by the state, community housing was provided with flats for elderly people and with carers to look after their needs. The “warm rooms” of the post-war period changed into clubs, where members met and received guidance. In the late 1960s the clubs were extended into day-care centres, offering a range of consultation services, organized day trips and recreational holidays for the elderly. It was hoped that “meals-on-wheels” in combination with age-appropriate living conditions would delay the move into a home. But these plans were not adequately developed in the 1960s and often it was not clear who would pay the bills. The same was true of outpatient medical care which had traditionally been the task of community nurses, but was now increasingly carried out by local authority carers, who also provided household assistance. This kind of care could only ever be given for a limited period of time and, while it was able to delay the move into an old people’s home, it could not replace it.

Einleitung Gegenstand dieses Beitrags ist die Entwicklung der ambulanten Altenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der 1970er Jahre.2 Dabei wird hier das Beispiel der Stadt Frankfurt am Main gewählt, eine Stadt, die relativ führend in ihren Angeboten war, deren Entwicklung aber durchaus mit anderen Städten vergleichbar ist und die durch Hinzuziehen von Berichten und Umfragen aus weiteren Orten, die zum Beispiel im Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche Fürsorge veröffentlicht wurden, mit diesen verglichen wird.

1

ISG, Fürsorgeamt 4162, Presseausschnitt Frankfurter Rundschau, 13. Juni 1962: Margot Flesch, »Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens. Erholungshilfe für alte Bürger/FR-Besuch in den Ferienorten«.

2

Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, der am 24. Mai 2013 in Dresden auf der Tagung »Geschichtswelten 2013 – Geschichte der Pflege- und Gesundheitsberufe lehren und lernen: Ambulante Versorgung« des hpsmedia-Verlages gehalten wurde.

MedGG 32  2014, S. 111-135  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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In der frühen Bundesrepublik war die Versorgung mit Heimplätzen ein Schwerpunkt der Altenhilfe. Erst in den späten 1950er Jahren und dann massiv in den 1960er Jahren rückten in der kommunalen und staatlichen Altenhilfeplanung offene Angebote in den Fokus. Träger waren die Kommunen selbst und die freien Wohlfahrtsverbände wie Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Diakonisches Werk, Deutsches Rotes Kreuz, Paritätischer Wohlfahrtsverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Dies geschah einerseits, um älteren Menschen länger den Verbleib in ihren Wohnungen zu ermöglichen und damit die stationäre Altenhilfe zu entlasten, andererseits, um die vermutete Einsamkeit der alten Menschen zu durchbrechen. Bundesweit dokumentierte die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 einen Paradigmenwechsel in der Altenhilfe: § 75 regelte die Altenhilfe, war ausschließlich an alte Menschen adressiert und sollte persönliche Hilfen gegen Vereinsamung und altersbedingte Daseinsschwierigkeiten umfassen. Die Altenhilfe konnte ohne Berücksichtigung von Einkommensgrenzen und Vermögen gewährt werden. Konkret sollten die Sozialhilfeträger eine Tätigkeit vermitteln, wenn sie von den alten Menschen gewünscht werde, bei der Beschaffung einer altersgerechten Wohnung helfen sowie beim Besuch von kulturellen und unterhaltsamen Veranstaltungen und Einrichtungen, die der Geselligkeit dienten.3 Hilfe sollte es auch bei der Kontaktpflege geben. Es waren nur Soll-Bestimmungen, diese hatten aber einen »Appellcharakter«4 und förderten insgesamt in der Bundesrepublik den Ausbau der offenen Hilfsformen5. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich auf einige zentrale Themenfelder, die zusammenhängen: Zunächst steht das Altenwohnen im Fokus, das auch die Betreuungsfrage umfasst. Jeweils ein Abschnitt zu Altenclubs und -tagesstätten, zu den Mahlzeitendiensten und den Erholungsaufenthalten soll einen Einblick in die darüber hinausgehenden Angebote geben. Schließlich wird die Situation der häuslichen Pflege in den 1950er und 1960er Jahren dargestellt. Kleinwohnungen für alte Menschen und Betreuungsdienst Die Ausgangslage in der Nachkriegszeit war auch für die alten Menschen in der Großstadt verheerend.6 Viele lebten notdürftig in kaum bewohnbaren Zimmern oder in Obdachlosenbunkern; der letzte Wohnbunker in Frank3

Bundesgesetzblatt Teil I (1961), S. 827.

4

Ruck/Boldorf (2007), S. 607.

5

Föcking (2007), S. 336f.

6

In Frankfurt lebten im Oktober 1946 43.212 Menschen über 65 Jahre bei 424.065 Bewohnern insgesamt, im September 1950 55.690 ältere Menschen von 532.037 Bewohnern insgesamt (siehe Statistisches Amt (1953), S. 11, Tabelle 14). Am 6. Juni 1961 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 683.081 Einwohnern 81.291 Menschen über 65 Jahre (siehe Statistisches Amt (1964), S. 19, Tabelle 22).

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furt wurde erst Mitte der 1960er Jahre aufgelöst.7 Manche wohnten unter beengten Verhältnissen bei ihren Familien. Viele alte Menschen waren während des Krieges evakuiert worden und lebten noch außerhalb der Stadt unter den allernotdürftigsten Bedingungen in Behelfsheimen.8 Viele der Evakuierten warteten auf Rückkehrmöglichkeiten in die Stadt – bis weit in die 1960er Jahre hinein.9 Die Abteilung Altersfürsorge des Frankfurter Fürsorgeamtes (seit 1962: Abteilung Altenhilfe des Frankfurter Sozialamtes)10 kümmerte sich in den ersten Nachkriegsjahren, aber auch in den 1950er Jahren beinahe ausschließlich um die Vermittlung von Plätzen in Alten- und Pflegeheimen; Plätze, die nie ausreichten, um alle Voranmeldungen zu befriedigen11. Dabei waren die Verantwortlichen der Meinung, dass der ungeheure Bedarf an Plätzen nur aus der Not heraus entstanden war und nicht dem eigentlichen Wunsch der alten Leute entsprach. Denn als Nachteile des Altersheims wurden die Aufgabe der Selbständigkeit und der Privatsphäre gesehen, die den alten Menschen oft nur noch ein »Warten auf den Tod«12 ermöglichten. Dennoch war man dem Ausbau umfassender ambulanter Dienste gegenüber skeptisch: 1960 wurde vom Frankfurter Hauspflegeverein vorgeschlagen, einen Altenhilfsdienst einzurichten. Eine Haus- oder Altenpflegerin sollte alte Menschen, die noch nicht pflegebedürftig waren, aber den Haushalt nicht mehr ohne Hilfe versehen konnten, alle zwei Tage stundenweise besuchen und im Haushalt unterstützen. Angeregt wurde, weitere Dienste einzurichten, so die Anlieferung fertiger Mahlzeiten in die Wohnungen der alten Menschen, einen Fußpflegedienst, der ins Haus komme, einen Haarpflegedienst, der ebenfalls ins Haus komme, und einen Wäschedienst, der die schmutzige Wäsche abhole, reinige und flicke. Weiterhin könnten sich Dienste wie Kohlen- und Aschetragen, Buch- und Zeitungsverleih anschlie-

7

ISG, Rechneiamt IV 61, Magistratsvortrag Dezember 1964, Wohnheim für ältere Bürger.

8

Siehe ISG, Magistratsakten 8966, Hospital zum heiligen Geist, an den Magistrat der Stadt Frankfurt/Main, 10. Juli 1950, betr. Unterbringung von Pfleglingen der Pflegeanstalt Hohenwald im Krankenhaus Köppern.

9

Siehe ISG, Fürsorgeamt 3991, Belegung und Vergabe der Wohnungen: darin die Besuche des Evakuiertenausschusses bei evakuierten älteren Menschen 1964, um ein neues Altenwohnhaus zu belegen.

10 ISG, Fürsorgeamt 5, Sozialverwaltungsamt, Vermerk: Betr. Umbenennung von Dienststellen der Sozialverwaltung durch das Inkrafttreten des BSHG, Frankfurt am Main, 24.10.1962. 11 Siehe ISG, Fürsorgeamt 859-863 (Altersfürsorge 1947-1956); diese Akten der Abteilung Altersfürsorge des Fürsorgeamtes wurden auf Hinweise bzgl. offener Angebote durchgesehen, ebenso die Sitzungen der Wohlfahrtsdeputation (ISG, Fürsorgeamt 1619). 12 Gerfeldt (1961), S. 378ff.

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ßen.13 Die Stadt Frankfurt lehnte solche Dienste ab und ließ sich eine ähnliche Haltung von anderen Großstädten bestätigen: Die in dem anliegenden Brief [des Hauspflegevereins] der Altenhelferin zugeteilten Aufgaben sind so vielseitig, daß sie mit einem nur an 2 Tagen und nur für 2 Stunden eingerichteten Altershilfsdienst kaum zu schaffen sein werden. Es entsteht vermutlich sehr bald im Einzelfall die Frage, welche Art der Versorgung des alten Menschen sowohl zweckmäßiger als auch billiger ist und ob man nicht, wenn so viel Dienste geleistet werden müssen, dann doch die Unterbringung im Vollinternat vorziehen soll. Andererseits aber kann ja kein Zweifel daran bestehen, daß nun das Altenwohnheim doch über die Bereitstellung der Wohnung hinaus auch eines ergänzenden Sozialdienstes bedarf.14

Etwa zehn Jahre später wurde ein Großteil der hier vorgeschlagenen Dienste angeboten, die geforderte stundenweise Haushaltshilfe hatte sich jedoch nicht etabliert, und Abrechnungsfragen waren teilweise ungeklärt. 1960 wurde in Frankfurt auf Anregung mehrerer politischer Parteien ein Altenplan verabschiedet, der nicht nur einen starken Heimausbau vorsah, sondern erstmals auch offenere Hilfsangebote. Unter anderem war darin ein massives Bauprogramm von Altenwohnungen geplant: Während in manch anderer Stadt schon in den späteren 1950er Jahren sogenannte Altenwohnungen gebaut wurden15 oder es die Tradition der häufig recht einfach ausgestatteten »Stiftswohnungen« gab16, entstand in Frankfurt das erste Haus speziell für alte Leute erst 1961. Gebaut wurden 28 Wohnungen für Ehepaare und 44 für Alleinstehende.17 Zunächst wurden kleinere Wohnanlagen mit ca. 60-70 Wohneinheiten geplant, ab Ende der 1960er Jahre Altenwohnhochhäuser mit mehreren Hundert Wohnungen.18 In den Altenwohnhäusern wurden Gemeinschaftsräume eingeplant, in denen ein Altenclub eingerichtet oder ein Mittagessen ausgegeben werden konnte. Sie entsprachen damit dem Typus »Altenwohnheim« des Hessischen Sozialplanes

13 ISG, Fürsorgeamt 3042, Hauspflegeverein an das Sozialverwaltungsamt der Stadt Frankfurt, Fürsorgeamtsleitung, z. Hd. Herrn Obermagistratsrat Baldes, 13. April 1960. 14 ISG, Fürsorgeamt 3042, Sozialverwaltungsamt Frankfurt in einer Anfrage über Altenbetreuungsdienste an die Städte Stuttgart, Nürnberg, Hamburg, Bremen (20.-22. April). Auch die angefragten Städte lehnten die aufgeführten Dienste zu diesem Zeitpunkt ab. 15 Deutscher Fürsorgetag 1953 (1954). 16 ISG, Fürsorgeamt 873, Bl. 88, Bericht über die Informationsreise nach Hamburg, Bremen, Dortmund, Duisburg und Köln vom 11. bis 15. August 1959 zur Besichtigung von Wohnstätten. 17 ISG, Magistratsakten 2648, Mitteilungen der Stadtverwaltung Frankfurt am Main, Nr. 48, 28. November 1959, »Das erste Altenwohnheim für die Evakuierten«, über den Spatenstich am 19. November 1959. 18 ISG, Fürsorgeamt 4035, Pläne Eduard-Bernstein-Weg 2, 15. Januar 1968; ISG, Fürsorgeamt 4065, Pläne Im Mainfeld, 1. Mai 1971.

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für alte Menschen und waren förderwürdig durch Landesmittel.19 Daneben gab es einige wenige »eingestreute« Altenwohnungen in den Erdgeschossen von sozialen Wohnungsbauprojekten.20 Von den künftigen Bewohnern der Altenwohnungen wurden in der Mehrheit solche »eingestreuten« und im Stadtteil verstreuten Altenwohnungen gewünscht, wie eine Umfrage in Hamburg ergab.21 Große Altenwohnhäuser, auch Altenwohnheime genannt, die ggf. sogar räumlich an Alten- und Pflegeheime angeschlossen wurden, erleichterten hingegen die Organisation eines Betreuungs- und Mahlzeitendienstes.22 Die Konzeption der Altenwohnung ging von einer abgeschlossenen Wohneinheit aus, in der alle Funktionen zum Bereiten von Mahlzeiten und zur Körperpflege auf kleinem Raum untergebracht waren, eine verkleinerte Variante der abgeschlossenen Familienwohnung.23 Die Wohnungen für Alleinstehende bestanden aus einem Raum mit Küchenzeile und kleinem Bad, diejenigen für Ehepaare aus anderthalb Zimmern mit Küchennische und Bad. Sie waren zwischen 25 und 40 qm groß. Im Laufe der 1960er und vor allem der 1970er Jahre vergrößerten sich die Grundrisse der geplanten Altenwohnungen um etwa fünf Quadratmeter.24 Die Trennung von Wohnen und Schlafen wurde auch für die Einzimmerwohnungen als Ideal angesehen25, in den Einzimmerwohnungen für Einzelpersonen jedoch bis in die 1970er Jahre hinein nur durch eine Schlafnische, nicht durch ein eigenes Schlafzimmer verwirklicht. Die Vergabe der Altenwohnungen erfolgte durch das Wohnungsamt in Zusammenarbeit mit dem Sozialamt. Die Wohnungen wurden an Menschen über 65 Jahre vergeben, darunter Evakuierte und ältere, in Wohnungsnotständen lebende Menschen.26 Sozialamt und Wohnungsamt lehnten es grundsätzlich ab, ältere Bürger aus einer ihnen zu groß gewordenen Wohnung in Altenwohnhäuser umziehen zu lassen. Ausnahmen wurden den19 Staatsanzeiger (1960), S. 652. 20 ISG, Fürsorgeamt 3991, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, Vermerk, 6. November 1964, und Abt. Altenhilfe, an den Oberstadtdirektor der Stadt Wuppertal – Sozialamt –, 19. Juli 1968, Antwort auf eine Anfrage. 21 Runde (1972), S. 126. 22 ISG, Fürsorgeamt 3994, Sozialamt Abt. Altenhilfe, Niederschrift über die Besprechung mit der Gemeinnützigen Gesellschaft für Altenheime und Arbeiterwohnungen mbH am 1. Juli 1968, Frankfurt/M., den 4. Juli 1968. 23 Vgl. Schnieder (1991), S. 159. 24 Vgl. ISG, Fürsorgeamt 4035, Pläne Eduard-Bernstein-Weg 2, 15. Januar 1968; ISG, Fürsorgeamt 4065, Pläne Im Mainfeld, 1. Mai 1971; ISG, Fürsorgeamt 4084, Pläne Altenwohnanlage Huthmacherstraße, Januar 1975. 25 Thiel (1967). 26 ISG, Magistratsakten 2648, Begründung zur Magistratsvorlage M 354, Betr. Kommunaler Altenplan, hier: Altenwohnhaus Sossenheim, 19. Mai 1964.

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noch befürwortet, wenn der Vermieter sich bereit erklärte, Dringlichkeitsfälle des Wohnungsamtes als Nachmieter aufzunehmen.27 Grundlage für den Erhalt einer Altenwohnung war demnach ein sozialer und gesundheitlicher Notstand, aber pflegebedürftig durften die Bewohner noch nicht sein.28 Bei den Vorschlägen des Sozialamtes wurde deutlich, wie groß die Not mancher alter Menschen auch in den 1960er Jahren noch war: 1963 wurde für ein neuerrichtetes Altenwohnheim unter anderem Martha D. vorgeschlagen.29 Sie war leicht gehbehindert, wohnte aber in einer kleinen Mansarde unter dem Dach ohne fließendes Wasser, Heizung und eigene Toilette. Andere der vorgeschlagenen alten Frauen, die zur Untermiete lebten, mussten die Schikanen ihrer Vermieter ertragen. Zwar wurde angenommen, dass die Altenwohnungen insbesondere für alleinstehende Männer, die mit der Haushaltsführung in einer großen Wohnung überfordert seien, interessant wären, wenn sie zusätzlich eine Putzhilfe bekommen würden30, tatsächlich wurde jedoch die ganz überwiegende Mehrzahl von Altenwohnungen in Frankfurt an alleinstehende ältere Frauen vergeben31. Ihr Anteil an den Bewohnern von Altenwohnungen war höher als an der Gesamtbevölkerung der Menschen über 65 Jahre.32 27 Siehe ISG, Fürsorgeamt 3991, Briefwechsel April-Mai 1964 des Sozialamtes mit dem Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, der sich für die Aufnahme einer älteren Bürgerin in ein Altenwohnheim ausgesprochen hatte, da ihr ihre Dreizimmerwohnung zu groß zur Bewirtschaftung werde. Damit gilt hier die Annahme von Irmak nicht oder nur eingeschränkt, der den Bau von Altenheimen und später von Altenwohnungen mit dem Ziel verknüpft sah, dass alte Menschen Platz machten für Familien. Vgl. Irmak (2002), S. 106ff. 28 Die Johanna-Kirchner-Stiftung der Arbeiterwohlfahrt schlug vor, vor der Einweisung in ein Altenwohnheim ein amtsärztliches Gutachten anzufertigen, da schon häufiger Mieter untergebracht wurden, die besser in ein Alten- oder Pflegeheim gekommen wären. Von den 56 Mietern bräuchten heute schon fünf eine ständige Betreuung durch die Schwester, und zwei wurden in ein Krankenhaus eingewiesen. ISG, Fürsorgeamt 3991, Johanna-Kirchner-Stiftung, an die Sozialverwaltung, Herrn OMR Scheid, 1. Februar 1963, betr. Altenwohnheim Sossenheim; handschriftlich wurde »weitere Entwicklung abwarten« vermerkt. 29 ISG, Fürsorgeamt 3991, Vorschläge für die Neubelegung des Altenwohnhauses Preungesheim, Jaspertstraße 7 (o. D., 1963). 30 Gerfeldt (1961), S. 380. 31 Siehe ISG, Fürsorgeamt 3991, Vorschlagliste für die Altenwohnungen in der Jaspertstraße 7, 1963. Es gab 33 Vorschläge und Ersatzvorschläge vom Sozialamt für die Einzimmerappartements, nur zwei der Vorgeschlagenen waren Männer. Bei einem der vorgeschlagenen Männer wurde zudem erwähnt, dass er sich noch selbst versorgen könne, wenn er eine Putzfrau finde. Vorschlaglisten für andere Altenwohnhäuser geben ein ähnliches Bild. 32 Statistisches Amt (1960), S. 10, Tabelle 13; ISG, Magistratsakten 2648, Magistrat an die Stadtverordneten-Versammlung, Betr. Kommunaler Altenplan, Frankfurt, 21. März 1960, Anlage Wohnbevölkerung mit der Aufgliederung von verheirateten Personen im Alter von mehr als 65 Jahren; Statistisches Amt (1964), S. 19, Tabelle 22;

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Viele alte Menschen waren zwar grundsätzlich noch in der Lage, sich allein zu versorgen, aber nicht in Wohnungen, in denen sie etwa Kohle für die Heizung in den 4. Stock tragen mussten. Die relativ bescheidenen Altenwohnungen mussten vor diesem Hintergrund komfortabel erscheinen. So schrieb Pauline R., der gekündigt worden war, da ihr Haus einem Parkhochhaus weichen sollte: Sie sei 77 Jahre alt und »noch sehr rüstig. Ich versorge meinen Haushalt noch selbst und bewirtschafte sogar noch einen Kleingarten.«33 Es sei ihr Wunsch, wenn sie ihre langjährige Wohnung aufgeben müsse, »meinen Lebensabend in einer jener hübschen Altenwohnungen zu verbringen, in der ich mich selbst versorgen kann«.34 Der Bedarf an Altenwohnungen konnte nicht gedeckt werden. 1969 lagen in der Abteilung Altenhilfe des Frankfurter Sozialamtes über 2000 Voranmeldungen für eine Altenwohnung vor, wegen der relativ geringen Fluktuation in den etwa 1460 Wohnungen35 (Altenwohnungen wurden nur bei Tod des Bewohners oder Umzug in ein Altenheim frei) rechnete man mit jahrelangen Wartezeiten36. Mit den ersten Altenwohnungen, die gebaut wurden, erörterte man die Frage der Betreuung in den Wohnungen. Klar war, dass es eine Betreuung geben musste, dies war auch Bedingung für die Zuschüsse des Landes Hessen.37 So waren für die Altenwohnungen in der ersten Wohnanlage in RöStatistisches Amt (1970), S. 8, Tabelle 11. 33 ISG, Fürsorgeamt 3991, Pauline R., an Obermagistratsrat Scheid, Sozialverwaltungsamt, 15. Oktober 1963. 34 ISG, Fürsorgeamt 3991, Pauline R., an Obermagistratsrat Scheid, Sozialverwaltungsamt, 15. Oktober 1963. 35 ISG, Stadtgesundheitsamt Sachakten 195, Vortrag des Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung, 5. Oktober 1970, M 432, Betr. Zweiter Kommunaler Altenplan. 36 ISG, Fürsorgeamt 3991, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, an das Amt für Wohnungswesen, 31. Juli 1969, Blösinger, Magistratsdirektor. Dies war so, obwohl Frankfurt im bundesweiten Vergleich relativ viele Altenwohnungen bereitstellte: Auf die 1460 Altenwohnungen mit zusammen 1794 Plätzen kamen in Frankfurt etwa 2100 Altenheimplätze und 1700 Pflegeheimplätze (auf gut 93.000 Frankfurter über 65 Jahre); siehe ISG, Stadtgesundheitsamt Sachakten 195, Vortrag des Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung, 5. Oktober 1970, M 432, Betr. Zweiter Kommunaler Altenplan der Stadt Frankfurt am Main. Insgesamt gab es jedoch 1970 in der BRD und Westberlin nach einer Erhebung des Deutschen Städtetages nur 718 Altenwohnheime oder »Mehrzweckeinrichtungen« mit 35.020 Wohnungen für 41.045 Bewohner, jedoch 181.792 Altenheim- und 65.958 Pflegeheimplätze; siehe - rg- (1970). 37 HStAW, Abt. 508, Nr. 3160, Sonderdruck aus dem Staats-Anzeiger für das Land Hessen Nr. 34 vom 27. August 1962, S. 1141ff.: Richtlinien für die Gewährung von Zuschüssen zum Neubau und zur Modernisierung von Heimen für alte Menschen sowie zur Schaffung von Altentagesstätten und ähnlichen Einrichtungen. Siehe dazu auch ISG, Fürsorgeamt 3997, Hessischer Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen an den Magistrat der Stadt Frankfurt, Sozialverwaltung-Sozialamt, März 1967: »Wie ich erfahren habe, soll vorgesehen sein, aus Ersparnisgründen die in Ihren Altenwohnheimen tätigen Betreuungskräfte abzuziehen. Ich darf hierzu darauf hinwei-

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delheim ein Hausmeisterehepaar und eine Altenpflegerin vorgesehen. Die Altenpflegerin sollte alle Alten der Siedlung »erfassen« und Nachbarschaftshilfe einleiten. Sie sollte auch für diese Alten und für die Bewohner der Altenwohnungen Hilfestellung im Umgang mit Behörden geben. Im Haus sei es ihre Aufgabe, die Treppen- und Flurreinigung zu organisieren; den alten Leuten sollte sie jedoch nur Hilfestellung bei der Wäsche und der Wohnungseinrichtung geben. Ihr oblag die »Überwachung« der einzelnen Räume und Bewohner, ohne zunächst auszuführen, wie der Zutritt geregelt werden sollte.38 Die Kosten der Betreuung wurden nicht auf die Monatsmieten in den Wohnungen umgelegt, sondern im Sozialetat der Stadt veranschlagt.39 Dafür wurden 1963 fast 100.000 DM im Haushaltsetat eingesetzt40 und bald mehr ausgegeben41. Diese Summe stieg in den kommenden Jahren stark an. 1963 wurde erstmals der Begriff »Altenpflegerin« für den Betreuungsdienst in den Altenwohnanlagen in Frage gestellt und darauf hingewiesen, dass »Altenpflegerin« die (noch neue) Bezeichnung für die Pflegerinnen in den Pflegeheimen sei.42 Vorgeschlagen wurde stattdessen der Begriff »Altenbetreuerin« oder »Altenhelferin«. Ein Schwerpunkt der Betreuung wurde zwar in der gesundheitlichen Fürsorge gesehen. Dennoch sollte der Begriff »Schwester« vermieden werden, um den »zivilen Charakter«43 der Altenwohnung zu wahren und Assoziationen mit Altenheimen oder Krankenhäusern zu vermeiden44. Die Altenbetreuerin sollte ausgebildete Krankensen, daß die angemessene Betreuung der Bewohner von Altenwohnheimen eine der Voraussetzungen für die Förderung dieser Einrichtungen im Rahmen des Hessischen Altenplanes ist. Hierüber bestand auch bei den Verhandlungen über die Zuschußgewährung für die Altenwohnheime in Frankfurt/M. niemals ein Zweifel.« 38 ISG, Fürsorgeamt 3992, Bl. 3. 39 ISG, Fürsorgeamt 3992, Bl. 3, Niederschrift über die Besprechung am 2. April 1963 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung über die Betreuungsmaßnahmen in Altenwohnungen. 40 ISG, Fürsorgeamt 3992, Bl. 3, Sozialverwaltung – Sozialamt –, an das RechneiamtFinanzverwaltung, Frankfurt am Main, 13. Dezember 1963. 41 ISG, Stadtverordnetenversammlung 2350, Vortrag des Magistrats an die Stadtverordnetenversammlung, M 19, 9. Januar 1967; bewilligt am 26. Januar 1967 (ProtokollAuszug der Stadtverordneten-Versammlung, VI. Wahlperiode, § 2309). 42 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung am 2. April 1963 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung über die Betreuungsmaßnahmen in Altenwohnungen. 43 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung am 2. April 1963 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung über die Betreuungsmaßnahmen in Altenwohnungen. 44 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung am 2. April 1963 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung über die Betreuungsmaßnahmen in Altenwohnungen.

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schwester sein.45 In der Praxis wurde dies jedoch nicht immer erfüllt: So übernahm zum Beispiel in einem Fall die Frau des Hausmeisters die Betreuung, ohne dass nähere Angaben zu ihrer Ausbildung gemacht wurden.46 Die erste Betreuerin eines Altenwohnhauses in Frankfurt berichtete in einer Besprechung 1963 über die Erfahrungen mit der Betreuung.47 Zentraler Aspekt ihrer Ausführungen war, dass die alten Menschen große Angst davor hätten, ihre Wohnungen eines Tages verlassen zu müssen. Während städtische Beamte dafür waren, Altenwohnhäuser in unmittelbarer Nähe zu Heimen zu errichten und die Gemeinschaftseinrichtungen der Heime mit zu nutzen, sprach sie davon, dass gerade dies den alten Menschen Angst mache, immer vor Augen zu haben, wie die Zukunft für sie aussehen werde. Die neugebauten Altenwohnungen mit dem Alten- und Pflegeheim räumlich zu kombinieren, hatte sich nach den Erfahrungen der Altenbetreuerin also nicht bewährt. Die Bewohner lehnten es sogar ab, den Mittagstisch des Alten- und Pflegeheims aufzusuchen. Etwa ein Drittel der Bewohner brauche schon zusätzliche Betreuung durch Kinder und Angehörige und auch gesundheitliche Betreuung. Der alte Mensch, so die Altenbetreuerin, sei aber grundsätzlich auch unter ganz normalen Umständen der Hilfe bedürftig. Unterstützung benötigten sie ihrer Ansicht nach unter anderem beim Schreiben von Briefen, Umgang mit Behörden, aber auch bei der Beratung über Kleidung und Hygiene. Für die Betreuerin war ein Raum in dem Altenwohnhaus vorgesehen, in dem sie tägliche Sprechstunden abhielt; sie sollte darüber hinaus jedoch jederzeit erreichbar sein, eine Rufbereitschaft, die zunächst nur unzureichend entgolten wurde. Die Kontrolle der Wohnungen, der Zutritt zu den Wohnungen durch die Altenbetreuerin, wurde weiterhin als wichtig betont.48 Es wurde jedoch berichtet, dass Altenbetreuerinnen beschimpft wurden, wenn sie ungefragt die Wohnungen betraten.49 Der ständig mögliche Zugang zu den Wohnungen blieb ein Konfliktpunkt: Alte Menschen fühlten sich überwacht und hatten Angst vor einer Heimeinweisung, die 45 Siehe ISG, Fürsorgeamt 3982, Briefwechsel der Stadt Frankfurt mit Schwester Ilse, 1962. 46 ISG, Fürsorgeamt 3993, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, Vermerk Altenbetreuung Lettigkaut-/Wendelsweg, 24. April 1973. 47 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung am 2. April 1963 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung über die Betreuungsmaßnahmen in Altenwohnungen. 48 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung des Sozialamtes mit den Altenbetreuerinnen und Familienberaterinnen im Bürgermeister-Gräf-Haus in Sachsenhausen, 17. Mai 1965. 49 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung des Sozialamtes mit den Altenbetreuerinnen und Familienberaterinnen im Bürgermeister-Gräf-Haus in Sachsenhausen, 17. Mai 1965.

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Altenbetreuerinnen mussten sich zuweilen mit dem Vorwurf der Behörden auseinandersetzen, dass alte Menschen unbemerkt in ihren Wohnungen verstarben.50 Das Altenbetreuungssystem wurde in den 1960er Jahren erheblich ausgeweitet. Im Juli 1972 gab es 16 Altenwohnhäuser und -wohnanlagen mit über 2000 Betten, die von Altenbetreuerinnen versorgt wurden. Es waren nun überwiegend Ganztageskräfte, die nach Bundesangestelltentarif bezahlt wurden.51 In kleineren Wohnanlagen war nur eine Altenbetreuerin tätig und es gab eine stundenweise Vertretung, in größeren Anlagen waren zwei Betreuerinnen beschäftigt; 1973 wurde jedoch vom Verband für Altersfürsorge noch ein Personalschlüssel von 1:100 angemahnt.52 Ungelöst war aus Sicht der Betreuerinnen die Frage der ständigen Verfügbarkeit durch die Rufbereitschaft. Diese wurde erst ab März 1973 gesondert vergütet, und es wurden nun auch Vertretungen eingestellt.53 Im Haushaltsplan war für 1973 ein Betrag von 570.000 DM für die Altenbetreuung vorgesehen, eine Summe, die sich in den kommenden vier Jahren fast verdreifachen sollte.54 1973 resümierte der Frankfurter Verband für Altersfürsorge, stadtnaher Träger von Einrichtungen, dass die »Abkehr vom Altenheim herkömmlicher Prägung« eingeleitet worden sei.55 Die alten Menschen würden länger selbständig bleiben und länger in den Altenwohnanlagen wohnen, als vorher angenommen wurde. Vor fünf Jahren sei noch eine Altersschicht zwischen 65 und maximal 75 Jahren realistisch als Bewohner angesehen worden, nun seien einige schon bei der Einweisung älter als 75 Jahre. Das hatte auch Einfluss auf die Betreuung. Es sollten verstärkt qualifizierte Krankenschwestern für die Betreuung gewonnen und alle neuen Wohnanlagen auch mit Krankenpflegestationen für Kurzzeitbehandlungen ausgestattet werden. Daneben sollten auch Sozialarbeiterinnen gewonnen werden, denn »Betreuen« sei mehr als Hilfe beim Putzen oder Verabreichen der Medikamente, kulturelle Veranstaltungen seien mehr als Dia-Vorträge. Zum Erreichen dieses Zieles sei die »Hausfrau mit Herz«56 überfordert. Tatsächlich musste 50 ISG, Fürsorgeamt 3992, Niederschrift über die Besprechung des Sozialamtes mit den Altenbetreuerinnen und Familienberaterinnen im Bürgermeister-Gräf-Haus in Sachsenhausen, 17. Mai 1965. 51 ISG, Fürsorgeamt 3992, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, 4. Juli 1972. 52 ISG, Fürsorgeamt 3992, Frankfurter Verband, 6. August 1973, an das Sozialamt Abt. Altenhilfe. 53 ISG, Fürsorgeamt 3992, Personalamt an das Sozialamt, Betr. Rufbereitschaft, 16. März 1973. 54 ISG, Fürsorgeamt 3992, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, Vermerk, 29. Oktober 1975. 55 ISG, Fürsorgeamt 3992, Frankfurter Verband, 6. August 1973, an das Sozialamt Abt. Altenhilfe. 56 ISG, Fürsorgeamt 3992, Frankfurter Verband, 6. August 1973, an das Sozialamt Abt. Altenhilfe.

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aber wegen des Personalmangels eigentlich jede Bewerberin eingestellt werden57 – ein Dilemma, in dem sich die Altenhilfe in dieser Zeit bewegte: Wurde einerseits von Fachleuten aus den Sozialämtern oder Ministerien stets die Bedeutung der Ausbildung in der Altenhilfe betont, so forderte man andererseits nicht selten im gleichen Zusammenhang doch die Gewinnung von Ehrenamtlichen oder die Rekrutierung von älteren Frauen mit Kurzausbildung58. Von den »Wärmestuben« der Nachkriegszeit zu den Altentagesstätten Ein weiteres räumliches Angebot, das auch Betreuung umfasste, waren die Altenclubs in den 1960er Jahren. Ihre räumlichen Vorläufer waren die sogenannten Wärmestuben. In der Situation der Wohnungsnot und Obdachlosigkeit wurde im Oktober 1946 die Errichtung von Wärmestuben in sämtlichen Frankfurter Stadtteilen beschlossen. Die Stadt plante die Errichtung von Wärmestuben zusammen mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege als Räume, von denen eine »gewisse menschliche und wohnliche Wärme«59 ausgehe. Es sollten Zeitungen, Spiele und Zeitschriften ausliegen. Auch die Essensausgaben der Volksküchen dienten gleichzeitig als Wärmehallen, zudem richteten die Kirchen in einigen Gemeinde- und Pfarrhäusern Wärmestuben ein. Die Räume sollten von 9 bis 17 Uhr geöffnet haben, da »insbesondere ältere Personen es vorziehen, mit einbrechender Dunkelheit sich in ihre Wohnungen zurückzubegeben«.60 Die Wärmestuben öffneten stets erst im Winter, und in den ersten Nachkriegsjahren blieb das Angebot unzureichend. Am Beispiel einer Wärmestube in Sachsenhausen wird deutlich, wie sich diese entwickelten: Im November 1953 wurde in Frankfurt-Sachsenhausen eine neue Wärmestube eingerichtet, die eine Mahlzeitenausgabe der Städtischen Küchenbetriebe integrierte. Rentner aus Sachsenhausen schrieben daraufhin an den Magistrat: Die Rentner Sachsenhausens sind hocherfreut über die Errichtung der schönen Wärmehalle am Affentorplatz. Darin finden sie, besonders die Alleinstehenden, ein Haus in den Tagesstunden der Winterzeit, wo sie nicht mehr auf die Straße angewiesen sind,

57 ISG, Fürsorgeamt 3992, Frankfurter Verband, 6. August 1973, an das Sozialamt Abt. Altenhilfe. 58 Deutscher Fürsorgetag 1973 (1973), S. 349. 59 ISG, Rechneiamt IV 60, Abschrift des Vortrages des Magistrats an die Stadtverordneten-Versammlung, die Einrichtung von Wärmehallen und Eßküchen in sämtlichen Stadtteilen betreffend, Frankfurt, 19. November 1946. 60 ISG, Rechneiamt IV 60, Abschrift des Vortrages des Magistrats an die Stadtverordneten-Versammlung, die Einrichtung von Wärmehallen und Eßküchen in sämtlichen Stadtteilen betreffend, Frankfurt, 19. November 1946.

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um Zerstreuung zu suchen. Die Eröffnung der Wärmehalle wurde durch Gesangsvorträge hoch erfreut, und die Rentner wurden gastlich bewirtet.61

Es kam jedoch bald zu Konflikten, die sich auch aus der Lage der Wärmestube direkt neben einem Wohnbunker ergaben. Rentner beschwerten sich über »asoziale Elemente aus dem Schifferbunker, zweifelhafte Jugendliche und dirnenhaft aussehende weibliche Personen«62: Wie diese verwahrlosten Gestalten aussehen, so benehmen sie sich auch in asozialer Weise. Sie spucken auf den Fussboden, werfen Papier und andere Gegenstände auf die Erde und sind jeder Mahnung zur Ordnung und Sauberkeit unzugänglich. Auf Grund dieser Zustände wird die Wärmestube von bedürftigen eingesessenen Sachsenhäusern, die Rente, Fürsorge- oder Arbeitslosen-Unterstützung beziehen und für die diese schöne Einrichtung geschaffen wurde, überhaupt nicht besucht.63

Der Vorschlag der Fürsorgerin nach ihrem Besuch war daher, im Anbau des Bunkers einen Aufenthaltsraum für die Bewohner einzurichten. Denn irgendwo müssten diese auch bleiben, wenn ihnen tagsüber die Schlafräume verschlossen seien.64 Insgesamt wurden die Wärmestuben in der Stadt im Winter von etwa 200 Menschen täglich besucht, an kalten Tagen von deutlich mehr. Die Stammgäste waren überwiegend Rentner.65 1960 wurde geplant, die Wärmestube in Sachsenhausen in ein »Haus der offenen Tür für alte Leute« umzuwandeln.66 Damit sollten es nicht mehr Aufenthaltsräume für Bewohner der Stadt sein, die unzureichend wohnten und lebten, sondern es sollte gezielt ein Angebot nur für alte Menschen werden. Ausschlaggebend war nicht mehr die rein räumliche Not dieser Menschen, sondern vor allem die ihnen unterstellte Einsamkeit, Isolation und Untätigkeit. Bisher wurde die Wärmestube von der im gleichen Haus lebenden Hausmeisterin betreut. Das galt nun als nicht mehr ausreichend. Die Stadt wollte einen pensionierten, zuverlässigen städtischen Beamten für die Betreuung gewinnen: Mit dieser Persönlichkeit wird der Gedanke, von den Wärmestuben alter Art wegzukommen, stehen oder fallen. Vor allem müssen die »Penner« vom Schifferbunker ferngehalten werden (natürlich kann man die Alten, die im Schifferbunker wohnen, nicht ausschliessen!).67 61 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 9, am 24. November 1953. 62 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 11-12, 15.1.1954, Unterschrift: Gehb. 63 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 11-12, 15.1.1954, Unterschrift: Gehb. 64 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 12, Fürsorgeamt – Kreisstelle 6, Bericht vom 8. Februar 1954. 65 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 12, Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Vereinigten Frankfurter Wohlfahrtspflege am 16. Februar 1960. 66 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 40, Fürsorgeleitung, i. A. Stein, Herrn OMR. Baldes vorgelegt, Betr. Haus der offenen Tür für alte Menschen, 19. August 1960. 67 ISG, Fürsorgeamt 213, Bl. 40, Fürsorgeleitung, i. A. Stein, Herrn OMR. Baldes vorgelegt, Betr. Haus der offenen Tür für alte Menschen, 19. August 1960.

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Damit wurde das generationenübergreifende Zusammentreffen der Menschen des Stadtteiles beendet, die ehemalige Wärmestube wurde nun ein reiner Altenclub mit Betreuung und Programm. Der Frankfurter Bund für Volksbildung führte künftig ein- bis zweimal im Monat Lichtbildervorträge oder andere »belehrende Veranstaltungen« durch. Es gab Freikarten für die besuchenden Rentner bei Führungen durch städtische Gebäude und beim organisierten Besuch des Zoos und des Palmengartens. Im Haushalt für 1960 waren erstmals 100.000 DM für die »Offene kulturelle und wirtschaftliche Altersfürsorge« eingestellt worden.68 Im kommunalen Altenplan vom Mai 1960 wurde die Bedeutung der offenen Angebote herausgestellt: In bestehenden und neu zu bauenden Altersheimen und Altenwohnhäusern sollten Räume für Altenclubs errichtet werden, in den gerade im Bau befindlichen Außenstellen des Fürsorgeamtes ebenfalls.69 1964 gab es zehn Altenclubs, drei weitere standen vor der Eröffnung. Jeder Bürger über 65 hatte dort Zutritt. Die Teilnahme am Club war nicht ganz unverbindlich. Die Stadt begründete einen Mitgliedsbeitrag wie folgt: Ein minimaler Mitgliedsbeitrag, der gern bezahlt wird, und eine Mitgliedskarte fördern bei den Besuchern ein Zusammengehörigkeitsgefühl und lassen sie stolz von »ihrem Club« sprechen. Viele fühlen sich zur Mitarbeit aufgerufen, so daß man beim Besuch eines dieser Clubs den Eindruck hat, bei einer großen Familie zu sein.70

Die Nachfrage sei so groß, dass Clublokale mit zwei Clubs besetzt würden, also eine Zusammenkunft je Club nur jeden zweiten Tag zustande komme. Dies war auch später üblich: Die Clubs trafen sich im Durchschnitt zweibis dreimal in der Woche für etwa drei Stunden, die Räume konnten also mit jeweils mehreren Clubs belegt werden.71 Deutlich wird, dass es sich nicht nur um einen Raum zum Zusammenkommen handelte, sondern klare Vorgaben zur Beschäftigung gemacht wurden. Neben den Tagen, an denen nur geselliges Beisammensein bei Kaffee angeboten wurde, gab es an anderen Tagen ein Programm aus Filmen, Diashows und Vorträgen. An programmfreien Tagen standen den Gästen Lesematerial, Unterhaltungsspiele und Schallplatten zur Verfügung, aber auch hier wurden Vorgaben gemacht: So sollte in einem täglich geöffneten Club montags und donnerstags Karten gespielt, dienstags gesungen, mittwochs gewandert werden und freitags wurden Vorträge gehalten.72 Der An68 ISG, Fürsorgeamt 213, Auszug Magistratsbeschluss Nr. 2a vom 4. April 1960, Betr. Etat 1960. 69 ISG, Stadtverordnetenversammlung 2369, Kommunaler Altenplan, Teil C, Vorlage des Magistrats vom 9. Mai 1960. 70 ISG, Fürsorgeamt 3983, Magistrat an die Stadtverordnetenversammlung, betr. Kommunaler Altenplan der Stadt Frankfurt am Main, hier Situationsbericht nach dem Stand vom 1. Januar 1963. 71 Übersicht (1971). 72 ISG, Fürsorgeamt 4138, Zeitungsausschnitt, Frankfurter Rundschau, 20. November

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spruch war also, die Zeit der Clubmitglieder zu organisieren und strukturieren, damit die alten Menschen nicht Einsamkeit und Lethargie anheimfielen: Gegen die Einsamkeit, den schlimmsten Feind alter Menschen, hat man hier eine Zuflucht errichtet. Reibungen untereinander bleiben nicht aus. Aber wo so viele Talente zusammenkommen, behält der Alltag Schwung und verläuft nicht in lethargischer Dämmerung.73

Erst in den 1970er Jahren wurde dagegen die Eigenaktivität der Altenclubmitglieder stärker betont.74 Der Altenclub wurde in seltenen Fällen von einem männlichen Clubleiter betreut, meist waren es Frauen, die vorher schon ehrenamtlich in der Altenbetreuung aktiv waren und zum Beispiel die Weihnachtsfeiern der Wohlfahrtsverbände für ältere Menschen betreuten.75 Die Frauen hatten häufig ältere Kinder, waren Hausfrauen und wollten nun wieder in Teilzeit berufstätig sein.76 In zweitägigen Lehrgängen über die »offene Altenhilfe« wurden sie auf ihre Tätigkeit vorbereitet, eine besondere Ausbildung im pflegerischen oder sozialpädagogischen Bereich wurde nicht gefordert.77 Sie erhielten für die Leitung des Clubs ein Honorar. Es war üblich, dass Clubleiterinnen mehrere Altenclubs betreuten.78 1971 gab es in Frankfurt 47 Altenclubräume und Altentagesstätten, die vom stadtnahen Frankfurter Verband für Altersfürsorge betrieben wurden.79 Altentagesstätten unterschieden sich von den Clubs darin, dass sie längere Öffnungszeiten boten und es dort auch ein Beratungsangebot gab. Alte Menschen sollten hier etwas über die stadtweiten Programme und Hilfen verschiedener Träger erfahren, unter denen sie dann auswählen konnten.80 1969, N. N, »Mit anderen lebt es sich leichter«. Der Altenclub am Rothschildpark lud zu einem Tag der offenen Tür ein. 73 ISG, Fürsorgeamt 4138, Zeitungsausschnitt, Frankfurter Rundschau, 20. November 1969, N. N, »Mit anderen lebt es sich leichter«. 74 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1979), S. 18: Die Aktivitäten des Clubs sollten von den Mitgliedern selbst entwickelt und durchgeführt werden, begleitet von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen. In der ersten »Nomenklatur« des Deutschen Vereins von 1970 wurden die Einrichtungen Altenclub und -tagesstätte noch gar nicht bestimmt, sondern nur Wohn(heim)formen; siehe Nomenklatur (1970). 75 ISG, Fürsorgeamt 4138, Rosel Ost an das Sozialamt, Frankfurt-Hausen, 25. Mai 1963. 76 ISG, Fürsorgeamt 4138, Sozialamt Abg. Altenhilfe an den Frankfurter Verband für Altersfürsorge e. V., Frankfurt, 19. Oktober 1970. 77 ISG, Fürsorgeamt 4138, Sozialamt Abg. Altenhilfe an den Frankfurter Verband für Altersfürsorge e. V., Frankfurt, 19. Oktober 1970. 78 Übersicht (1971), S. 197. 79 Übersicht (1971), S. 197. 80 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1979), S. 18f. Die Altentages-

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Der Beratungsaspekt nahm Anfang der 1970er Jahre stark an Bedeutung zu und sollte die Selbständigkeit der alten Menschen fördern.81 Mahlzeitendienste – kein »Essen auf Rädern« in Frankfurt In vielen Clubräumen wurde unabhängig vom Clubgeschehen auch ein Mittagessen der Frankfurter Städtischen Küchenbetriebe ausgegeben, das vor allem ältere Menschen nutzten. 1967 waren bei diesem Mittagstisch etwa 600 alte Menschen anwesend, zum Teil sieben Tage in der Woche.82 In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass sich ein »Essen auf Rädern«, wie es in vielen anderen Städten in den 1960er Jahren eingerichtet wurde, in Frankfurt zunächst nicht etablieren konnte. Zwar gab es einige Anläufe, einen Testbezirk einzurichten, dies geschah aber nicht, weil die Stadt die Kosten für die Anschaffung eines Wagens scheute. Auch erklärte sich in Frankfurt keiner der Wohlfahrtsverbände verbindlich zur Durchführung bereit.83 Stattdessen setzte Frankfurt auf den Ausbau der Ausgabestellen des Frankfurter Mittagstisches. Es wurden auch sogenannte Depotstellen eingerichtet. Hier konnten Ehrenamtliche das Mittagessen für alte Menschen, die dazu selbst körperlich nicht in der Lage waren, abholen. Die Stadt argumentierte sogar damit, dass diese Form für die alten Menschen besser sei, würde doch der Mittagstisch deren Vereinsamung verhindern.84 Womöglich beschönigte sie aber damit den Mangel des »Essens auf Rädern«, denn in der ersten Erhebung wurde unzweifelhaft ermittelt, dass es einige alte Menschen in stätte sei ein Treffpunkt, der Kontakte zwischen alten Menschen und auch anderen Gruppen fördere, verfüge über Fachkräfte, biete Information, Beratung, Bildung und Freizeitgestaltung an und vermittle Hilfen. Altentagesstätten/Altenbegegnungsstätten könnten Mahlzeitendienste und Körperpflegedienste angegliedert werden, das Angebot könne auch gesundheitliche Hilfen wie Altengymnastik, Beschäftigungstherapie (Ergotherapie) und medizinisch-physikalische Therapie umfassen. Der Altenclub (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1979), S. 18) hingegen ermögliche nur die zwanglose Begegnung, fördere Aktivitäten und rege zur gegenseitigen Hilfe an; er sei ein Zusammenschluss alter Menschen mit gleichen Interessen und Neigungen. 81 Grossner (1970). Im Dritten Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes 1974 wurden die Hilfen in § 75 ergänzt um Vermittlung altersgerechter Dienste, eine Hilfe, die vor allem Beratung umfasste, siehe Bundesgesetzblatt Teil I (1974), S. 781. 82 ISG, Fürsorgeamt 4149, Offene Altenhilfe: Essen-Zubringerdienst für alte Menschen, Presseausschnitt: Helga Huth, »Eine warme Mahlzeit – keine Selbstverständlichkeit. Alte Menschen, die nicht im Heim leben, werden oft schlecht versorgt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Mai 1967. 83 ISG, Fürsorgeamt 4149, Magistrat an die Stadtverordnetenversammlung, Betr. Essen auf Rädern, Antrag der FDP-Fraktion vom 13. August 1969, B 386, Erwiderung, Frankfurt am Main, 15. Dezember 1969. 84 ISG, Fürsorgeamt 4149, Magistrat an die Stadtverordnetenversammlung, Betr. Essen auf Rädern, Antrag der FDP-Fraktion vom 13. August 1969, B 386, Erwiderung, Frankfurt am Main, 15. Dezember 1969.

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Frankfurt gab, die kaum noch gehfähig in höhergelegenen Stockwerken lebten, oft ohne richtige Kochgelegenheit.85 Dass es diesen Bedarf auch in Frankfurt gegeben hat, zeigt sich darin, dass der Frankfurter Hauspflegeverein unabhängig von den städtischen Bemühungen sein Angebot der Hauspflege mit einem von einer Firma gestifteten Mittagessen kombinierte. 6350 Essensportionen wurden 1960 an alte und bedürftige Menschen ausgegeben. Das Essen wurde an fünf Tagen in der Woche von einem großen Frankfurter Betrieb gespendet, vom Hauspflegeverein abgeholt und verteilt.86 Erste »Essen auf Rädern«-Dienste gab es in Frankfurt erst in den 1970er Jahren.87 Diese konnten personell vor allem mit Zivildienstleistenden getragen werden. Erholungsfürsorge – Altenurlaube und Tagesfahrten Städte wie Bremen führten schon 1960 Erholungsreisen für alte Menschen durch.88 1962 stellte das Land Hessen Geld zur Verfügung, um Urlaubsreisen von alten Menschen unter einem bestimmten Einkommen zu fördern: Die »heutige erschwerte Situation der alten Menschen« erfordere Erholungsaufenthalte über reine Heil- und Genesungskuren hinaus: Alte Menschen, die sich aus eigenen Mitteln Urlaubsreisen oder einen Erholungsaufenthalt nicht leisten könnten, soll Gelegenheit zur Erholung und zur Aufnahme von neuen Eindrücken und Kontakten geboten werden. Dadurch soll ihnen Auftrieb und das Bewußtsein gegeben werden, daß sich die Allgemeinheit ihnen gegenüber in besonderer Weise verbunden fühlt.89

Die Stadt Frankfurt stockte die Landesmittel auf, so dass 1962 insgesamt 420 Teilnehmer von Mai bis Oktober für jeweils zwei Wochen in umliegende Pensionen fuhren.90 Es sollten dort immer mehrere alte Menschen 85 ISG, Fürsorgeamt 4149, Sozialverwaltung, Niederschrift über die Sitzung mit den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, 30.05.1963. 86 ISG, Magistratsakten 8712, Jahresbericht 1960 des Hauspflegevereins, Dezember 1961. 87 ISG, Fürsorgeamt 4149, Offene Altenhilfe: Essen-Zubringerdienst für alte Menschen; ISG, Sammlung Ortsgeschichte S3/V 16.931. 88 ISG, Fürsorgeamt 3042, Senatsdirektor Heinrich Gotthard, Senat für Wohlfahrt und Jugend, an den Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, Sozialverwaltung – Fürsorgeamt –, 9. Juni 1960. Insgesamt wurde 1960 660 alten Menschen eine 14tägige Reise in das Weserland ermöglicht, die Nachfrage war noch größer. Siehe auch Altenplan (1960). 89 Der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen, Richtlinien über die Gewährung von Landeszuschüssen zur Durchführung von Erholungsmaßnahmen für alte Menschen (Altenerholungshilfe) vom 23. Dezember 1961. Staatsanzeiger (1962), S. 200. 90 ISG, Fürsorgeamt 4162, Sozialverwaltung Fürsorgeamt, Berechnung des Voranschlages für die Hast. 1-4100-5100, Erholungshilfe für ältere Bürger für das RJ 1962, Frankfurt, 25. Mai 1962, genehmigt mit Magistrats-Beschluss Nr. 1642 vom 9. Juli 1962.

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aus Frankfurt untergebracht sein, um Kontakte zu fördern. Die Frankfurter Rundschau schrieb im Juni 1962 unter dem Titel »Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens« eine Reportage über die Altenerholungshilfe, in der besonders das Ziel der Kontaktanbahnung unter den älteren Frankfurtern betont wurde: Sie schauen nicht mehr auf Häuserwände wie daheim. Um sie herum ist das weite grüne Meer des Spessarttals mit seinen bewaldeten Höhen. Und neben ihnen sitzen zwei andere Frankfurter Ehepaare, Urlauber wie sie, die mit ihnen vor einer Woche hier eintrafen. Auf Anhieb hat man sich verstanden, hat Spaziergänge durch Wald und Flur unternommen […]. Abends hat man ein Schöppchen getrunken, hat gelacht und geschwätzt, kurzum, es sich gut sein lassen. Zu einer großen Familie sind die alten, vereinsamten Ehepaare in der einen Woche zusammengewachsen, die künftig auch in Frankfurt weiter zusammenhalten wollen.91

Die Rentner erzählten, dass sie zunächst skeptisch waren, weil ihnen keine Kosten entstanden, aber das habe sich nicht bewahrheitet. »Die Frauen schwärmen davon, wie gut es tut, einmal ohne eigenes Zutun die Füße unter den gedeckten Tisch zu setzen, die Schuhe geputzt zu bekommen und sich verwöhnen zu lassen.« Diese Fahrten waren ausdrücklich an bestimmte Einkommensgrenzen gebunden und wandten sich an Sozialhilfeempfänger und Kleinrentner. Auch durften die Teilnehmer noch nicht pflegebedürftig sein.92 Für Heimbewohner wurden erst später Reisen angeboten. Daneben plante die Stadt seit 1963 Tageserholungen, die allen über 65Jährigen offenstehen sollten. Einkommensgrenzen gab es hier im Gegensatz zu den Altenerholungsurlauben nicht. Vorher existierten bereits erste Tagesfahrten von der Caritas, aber dies waren laut eines Presseartikels in der FAZ die ersten städtisch getragenen Versuche dieser Art in der Bundesrepublik.93 Die freien Wohlfahrtsverbände und die Altenclubs sammelten die Teilnehmeranmeldungen und die freien Wohlfahrtsverbände stellten abwechselnd Begleitpersonen für die Betreuung.94 Diese waren zumeist ehrenamtlich tätige Frauen. 1965 nahmen knapp 2500 Frankfurter über 65 Jahre an den Tagesfahrten teil, die jeweils zwei Wochen lang fünf Tage in Folge durchgeführt wurden.95 Nach der Rezession 1966/67 wurden die Tageserholungen 91 ISG, Fürsorgeamt 4162, Presseausschnitt Frankfurter Rundschau, 13. Juni 1962: Margot Flesch, »Sie genießen den ersten Urlaub ihres Lebens. Erholungshilfe für alte Bürger/FR-Besuch in den Ferienorten«. 92 ISG, Fürsorgeamt 4162, Niederschrift über die Sitzung der Wohlfahrtsdeputation am 9.2.1962 im Sitzungssaal der Sozialverwaltung, Frankfurt am Main, 21. Februar 1962. 93 ISG, Fürsorgeamt 4163, Presseausschnitt Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. August 1963: »Betagte Bürger unternehmen Ausflüge. Erfolgreicher Versuch des Sozialamtes/Starkes Interesse anderer Städte«. 94 ISG, Fürsorgeamt 4164, Briefwechsel Stadt mit den freien Wohlfahrtsverbänden, Frühjahr 1965. 95 ISG, Fürsorgeamt 4164, Sozialamt, Vermerk: Tageserholung für ältere Frankfurter

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ausgesetzt96, 1970 aber wiederaufgenommen; sie werden bis heute durchgeführt. Die zwei- oder dreiwöchigen Erholungsaufenthalte für sozial schwache Rentner hingegen verloren in den 1970er Jahren an Bedeutung. Ambulante Pflege Die ambulante Pflege in den Großstädten veränderte sich in den 1960er und 1970er Jahren angesichts des massiven Personal- und Nachwuchsmangels der kirchlichen Träger. Insgesamt blieb sie jedoch sehr viel länger und beständiger in der Hand von Ordensschwestern und Diakonissen als die Krankenhauspflege. Auch veränderte sich die Art der Arbeit weitaus weniger als die der Krankenschwestern und -pfleger. Es blieb insgesamt eine relativ wenig technisierte, Grund- und Behandlungspflege umfassende Betreuung.97 Doch auch die Gemeindepflege litt unter Nachwuchsmangel und Überalterung der Schwestern. Die Zahl der Gemeindeschwestern in der Bundesrepublik Deutschland sank von 1960 bis Mitte der 1970er Jahre von gut 12.000 auf unter 8000.98 In Frankfurt gab es 1963 180 Gemeindeschwestern in 79 Gemeindekrankenpflegestationen99, 1970 waren es nur noch 150 Schwestern100. Die Mehrzahl der Gemeindeschwestern war in evangelischen Gemeindestationen beschäftigt und nur ein Drittel in katholischen, was die religiöse Zusammensetzung der Stadt widerspiegelte. Zudem hatte die jüdische Gemeinde eine Schwester, und die Arbeiterwohlfahrt beschäftigte drei Gemeindeschwestern, allerdings erst seit Mitte der 1960er Jahre.101 Manchmal teilten sich zwei bis drei Schwestern eine kleine Gemeindestation, viele arbeiteten jedoch auch allein. Die Gemeindestation wurde im Laufe der 1960er Jahre oft ausgebaut, um dort Behandlungen durchzuführen.102 Manchmal war noch ein kleines Altersheim Teil der GemeindestaBürger, Frankfurt am Main, 21. Juni 1965. 96 ISG, Fürsorgeamt 4164, Antwort der Abt. Altenhilfe auf eine Anfrage der Stadt Düsseldorf vom 6. November 1969, Sozialamt, am 14. November 1969. 97 Vgl. Kreutzer (2008), S. 76ff.; Kreutzer (2009). 98 Vgl. Hackmann (2004), S. 405. Allein von 1961 bis 1964 sank die Zahl von 12.506 auf 10.598, siehe Elster (1968). Insgesamt zur rückgehenden Zahl der »Mutterhausschwestern« in der Diakonie siehe Kaminsky (2012), Tabellen S. 32 und S. 33. 99 ISG, Fürsorgeamt 3697, Übersicht Förderung der Arbeit der Gemeindekrankenpflegestationen aus Mitteln des LWV Hessen und der LVA Hessen im Kreise Frankfurt a. M., Stadt, Rechnungsjahr 1963. 100 ISG, Fürsorgeamt 3697, Evangelischer Gemeindeverband Frankfurt am Main, Herrn Stadtrat Gerhard, 16. März 1971, und Caritas-Verband Frankfurt e. V. an die Stadt Frankfurt, Gesundheitshilfe, 3. August 1971. 101 ISG, Fürsorgeamt 3697, Sozialverwaltung, Sozialamt, Vfg., Frankfurt, 18. Dezember 1964. 102 ISG, Fürsorgeamt 3697, Hessischer Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesund-

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tion.103 Die Gemeindeschwestern rechneten ihre Leistungen noch nicht mit den Krankenkassen ab. Dies widersprach sogar dem Prinzip der ganzheitlichen Gemeindepflege, es wurde als unzumutbar empfunden, jede Einzelleistung aufzuschreiben und zu verrechnen. Sie erhielten städtische Zuschüsse, Landesmittel, manchmal Zuschüsse der Krankenkassen und Versicherungsanstalten.104 Insgesamt konnte das System jedoch nur funktionieren, weil es selbst 1970 noch zum überwiegenden Teil Ordensfrauen und Diakonissen waren, deren Lebensunterhalt durch die Kirche gesichert war und die kein Gehalt bekamen. Die Personalsituation wurde zunehmend schwierig, erste »Laien« mussten eingestellt und entsprechend tariflich bezahlt werden.105 Die Kosten für die Gemeindestationen vervielfachten sich damit. Eine einzelne Schwester der evangelischen Kirchengemeinden machte in den 1950er Jahren durchschnittlich fast 3500 Krankenbesuche mit Behandlungen im Jahr, hinzu kamen Nachtwachen. Die katholische Schwester machte gut 2500 Krankenbesuche und 28 Nachtwachen.106 Rechnet man die große Zahl der Krankenbesuche auf die einzelnen Tage um, wird deutlich, dass die Schwestern nur von einem (kurzen) Besuch zum anderen eilen konnten. Dennoch waren sie gleichzeitig auch für die Grundpflege verantwortlich, was ihre Tätigkeit auszeichnete. Nicht nur das: In ihren Berichten schrieben die Gemeindeschwestern, wie sie zuweilen zunächst das Krankenzimmer oder die Wohnung aufräumten oder einem alten Menschen eine Mahlzeit mitbrachten und zubereiteten.107 Bei der dauerhaften Versorgung alter, pflegebedürftiger Menschen mussten sie an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen. Für die grundpflegerische und die hauswirtschaftliche Versorgung ebenfalls zuständig waren in Frankfurt und anderen Städten zunehmend sogenannte Hauspflegerinnen.108 Hauspflegerin war in den 1950er Jahren zunächst kein Ausbildungsberuf. Es waren oft in der Pflege vorgebildete Frauen, manchheitswesen, an den Herrn Regierungspräsidenten Darmstadt, Kassel, Wiesbaden, mit Nebenabdrucken für die Magistrate der kreisfreien Städte und die Kreisausschüsse der Landkreise, an den Landeswohlfahrtsverband Hessen, betr. Förderung der Gemeindekrankenpflegestationen, hier: finanzielle Zuwendungen für das Rechnungsjahr 1963, 21. Juni 1963. 103 Katholische Pfarrgemeinde St. Bartolomäus/St. Stephan (1995), unpag. 104 Scheid (1968). 105 ISG, Fürsorgeamt 3697, Sozialamt, Frankfurt am Main, 1. Dezember 1965, Förderung der Gemeindekrankenpflegestationen. 106 ISG, Stadtgesundheitsamt Sachakten 210, Bl. 170-171: Tätigkeitsbericht der ambulanten Krankenpflegestationen in den Frankfurter evangelischen Kirchengemeinden für die Zeit vom 1. April 1954-31. März 1955, und Bl. 166-167: Tätigkeitsbericht Caritasverband, Tätigkeit vom 1. April 1954-31. März 1955. 107 Unsere Schwestern (1950); Unsere Schwestern (1956). 108 Siehe zum Folgenden ausführlich Matron (2013).

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mal auch Hausfrauen ohne besondere Ausbildung, die in Kursen angelernt wurden. Ein Hauspflegeverein vermittelte sie zunächst vor allem in Familien, um die ausfallende Hausfrau und Mutter zu ersetzen. Doch immer häufiger übernahmen sie die Pflege und die Versorgung von alten Leuten, bis dies den Großteil ihrer Arbeit ausmachte.109 Im Unterschied zu den Gemeindeschwestern blieben sie den halben oder ganzen Tag in einem Haushalt, pflegten den Erkrankten und leisteten dort auch alle anfallenden Arbeiten. Sie machten auch Nachtwachen. Ab Anfang der 1960er Jahre etablierten sich Hauspflegeschulen, die eine zweijährige Ausbildung anboten.110 In Frankfurt wurde im Herbst 1960 eine Hauspflegeschule mit Wohnmöglichkeit eingerichtet.111 Hier wurden pflegerische, aber vor allem auch hauswirtschaftliche Kenntnisse vermittelt. Die Hauspflegerinnen erhoben für die geleisteten Pflegetage Pflegesätze, die die Gepflegten selbst zahlten oder unter bestimmten Voraussetzungen die Krankenkassen oder die Stadt als Sozialhilfeträger.112 Insgesamt war die ambulante Pflege in den 1960er Jahren und auch noch um 1970 also zweigeteilt zwischen Gemeindekrankenpflege und Hauspflege. Während es sich bei den Gemeindeschwestern um ausgebildete Krankenschwestern handelte, trat mit der Hauspflegerin ein neuer Beruf hinzu, der sich zwischen Pflege und Hauswirtschaft bewegte. Die Gemeindeschwestern eilten von Patient zu Patient, um medizinische Tätigkeiten auszuführen, die Hauspflegerinnen hingegen verbrachten ganze Tage bei den zu Pflegenden und übernahmen auch Tätigkeiten im Haushalt. Während die Hauspflegerinnen ihre Leistungen schon längst, ja von Beginn an, mit den Patienten, dem Sozialamt oder aber den Krankenkassen abrechneten113, taten die Gemeindeschwestern um 1970 herum dies gewöhnlich noch nicht114. 109 ISG, Magistratsakten 8712, Jahresberichte des Hauspflegevereins; Jonas (1957). 110 Jonas (1963), S. 176. 111 ISG, Fürsorgeamt 383, Hauspflege-Verein Frankfurt Main, an das Fürsorgeamt, Fürsorgeleitung, z. Hd. von Inspektor Stein, Frankfurt, den 2. November 1960, betr. Durchführung der Hauspflege. 112 Krankenkassen konnten nach § 185 RVO Hauspflege gewähren, wenn die Aufnahme des Kranken in ein Krankenhaus geboten, aber nicht durchführbar war oder ein wichtiger Grund vorlag, den Kranken in seinem Haushalt zu belassen. § 184, Krankenhauspflege, umfasste auch Leistungen, ohne die eine Aufnahme in das Krankenhaus nicht möglich sein würde, also unter Umständen Haushaltshilfe für die Angehörigen. ISG, Fürsorgeamt 495, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Vorlage zu Punkt 2c der Tagesordnung der 6. Vorstandssitzung am 27./28. November 1953 in Frankfurt am Main, S. 5-7. 113 ISG, Fürsorgeamt 495, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Vorlage zu Punkt 2c der Tagesordnung der 6. Vorstandssitzung am 27./28. November 1953 in Frankfurt am Main, S. 5-7. 114 In Frankfurt wurden die Dienste der Gemeindekrankenpflege selbst 1980 noch nicht im Einzelnen mit den Krankenkassen abgerechnet, sondern es gab Pauschalen pro

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Da auch die Hauspflegerinnen nicht dauerhaft ambulante Pflege leisteten, sondern ihre Einsätze auf vier bis sechs Wochen begrenzt blieben und normalerweise keine »Rund um die Uhr«-Pflege bedeuteten, war die ambulante Pflege von alten Menschen weiterhin nicht wirklich zufriedenstellend gelöst. Handelte es sich um dauerhafte Pflegebedürftigkeit und konnten nicht Verwandte die Pflege übernehmen, blieb nur die Übersiedlung ins Pflegeheim. So schilderte die Leiterin des Hauspflegevereins einen in dieser Hinsicht geradezu »ideal« verlaufenden Fall: Auf Veranlassung der Fürsorgerin von Kreisstelle 4 wurde Frau L. in der Zeit vom 31.8. bis 27.9.1956 und vom 7.12.56 bis 7.1.1957 durch eine Hauspflegerin versorgt. Frau L. war herz- und magenkrank und sehr gebrechlich und hinfällig. Sie stand nur stundenweise auf, es musste ausser der Patientin vor allem der kleine Haushalt versorgt werden. Die Wohnung bestand nur aus einer kleinen sehr sauberen Mansarde. Zum Schluss der Pflege hatte sich die Patientin bereit erklärt, in ein Altersheim zu gehen. Die Hauspflegerin wusch die Wäsche und traf alle Vorbereitungen zur Auflösung des Haushaltes.115

In den 1950er und 1960er Jahren ging man davon aus, dass es bei Dauerpflegefällen keine Alternative zum Pflegeheim gab; die ambulante Versorgung durch Gemeindeschwestern und Hauspflegerinnen überbrückte stets nur einige Wochen. Das Hinauszögern des Zeitpunktes, zu dem eine Heimeinweisung unausweichlich wurde, spielte jedoch eine immer größere Rolle. Anfang der 1970er Jahre wurde versucht, die ambulante Pflege auszubauen, wobei weiterhin auf ehrenamtliche und nachbarschaftliche Hilfe gesetzt wurde. Insbesondere sollten »Frauen der dritten Lebensphase«116 gewonnen werden, im nachbarschaftlichen Bereich Pflegen zu übernehmen. Den zu Hause Gepflegten wurde nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes ein Pflegegeld gezahlt, das sich in Frankfurt jetzt an den Heimkosten orientieren

Pflegekraft von der Stadt, den Kirchenorganisationen und den Krankenkassen, während in anderen Städten die Leistungen entweder dem Sozialamt oder den Sozialversicherungen in Rechnung gestellt wurden; siehe ISG, Fürsorgeamt 4152, Sozialamt, Abt. Altenhilfe, Vermerk: Neuordnung der ambulanten und mobilen Dienste, Besprechung am 18. März 1980, Frankfurt a. M., 21. März 1980. 115 ISG, Fürsorgeamt 3183, Dr. Jonas, Geschäftsführung Hauspflege-Verein e. V. Frankfurt/M., an das Fürsorgeamt – Fürsorgeleitung – Frankfurt/Main, Berlinerstr. 33/35, nachrichtlich – Kreisstelle 4 – z. Hd. von Fürsorgerin Frau H., Frankfurt, den 13. Februar 1957, betrifft: Bericht über Hauspflege bei Frau L. 116 ISG, Fürsorgeamt 4152, Magistrat an die Stadtverordneten-Versammlung, Offene Altenhilfe und Familienhilfe, Soziale Haushilfe, Frankfurt, 10. November 1971. Vorangegangen waren Anträge sowohl der CDU- als auch der SPD-Fraktion zum Ausbau häuslicher Hilfe, die auf Ehrenamtliche oder ehemalige Hausfrauen setzen solle. Vorbild der SPD war dabei Schweden, einbezogen werden sollten auch Familien (Sozialausschuss, Abschrift Antrag der SPD-Fraktion 1066, 24. Juni 1971).

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sollte.117 Das Ziel aller angebotenen Hilfen und Dienste wurde die immer längere Hinausschiebung der Heimunterbringung, die längere Selbständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe der alten Menschen in der Stadt, nicht jedoch die gänzliche Umgehung einer Pflegeheimeinweisung.118 Resümee Während sich die kommunale Altersfürsorge in Frankfurt am Main in der Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren noch ausschließlich um den Bau und die Vermittlung von Altenheim- und Pflegeheimplätzen kümmerte, rückte im kommenden Jahrzehnt der Ausbau offener Angebote der Altenhilfe in den Fokus der kommunalen Tätigkeit. Ziel war es, notwendige Heimaufenthalte hinauszuschieben und die vermutete Einsamkeit alter Menschen zu durchbrechen. Es entstanden vom Land geförderte Altenwohnungen in Altenwohnhäusern mit Gemeinschaftseinrichtungen, in denen sich eine Altenbetreuerin um die Belange der alten Menschen kümmerte. Die Wärmestuben der Nachkriegszeit wurden in Altenclubräume umgewandelt, in denen sich die Mitglieder unter Anleitung trafen. Ende der 1960er Jahre wurden die Altenclubs zu Altentagesstätten mit einem Beratungsangebot erweitert. Des Weiteren organisierte die Stadt Tagesausflüge und Erholungsurlaube für ältere Menschen. Mahlzeitendienste und weitere Leistungen sollten in Kombination mit altersgerechtem Wohnen den Einzug ins Heim verzögern, wurden jedoch in den 1960er Jahren nur unzureichend ausgebaut; zudem war die Abrechnung häufig ungeklärt. Dies gilt auch für den Bereich der ambulanten Pflege, die traditionell in der Hand der Gemeindeschwestern lag und zunehmend von Hauspflegerinnen ausgeführt wurde, die auch hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernahmen. Diese Pflegen konnten stets nur einen begrenzten Zeitraum andauern, schoben den Heimaufenthalt hinaus, konnten ihn jedoch nicht ersetzen.

117 ISG, Fürsorgeamt 4152, Magistrat an die Stadtverordneten-Versammlung, Offene Altenhilfe und Familienhilfe, Soziale Haushilfe, Frankfurt, 10. November 1971. Zur Entwicklung der Gesamtzahl der Pflegehilfe-Empfänger außerhalb von Einrichtungen siehe Tesic (1983), S. 8 und S. 288, Tab. 2. Die Zahl der Empfänger verfünffachte sich von 1963 bis 1980 von 41.000 auf 227.000 Personen, besonders hoch war der jährliche Anstieg in den Jahren 1970-1975. 118 Vgl. Hartung (1969), S. 4, und ISG, Fürsorgeamt 4152, Magistrat an die Stadtverordneten-Versammlung, Offene Altenhilfe und Familienhilfe, Soziale Haushilfe, Frankfurt, 10. November 1971.

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Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander: Anonyme Geburten im Göttinger Accouchierhaus 17941819 Jürgen Schlumbohm Summary The “secret book” of Dr Friedrich Benjamin Osiander: Anonymous births in the Göttingen Accouchierhaus, 1794-1819 The problem of anonymous or confidential deliveries, a subject of current controversy, has a long history. Some maternity hospitals offered the possibility for “clandestine” births as early as the 18th and 19th century. A recently emerged source about the maternity clinic of Göttingen University allows insight into the motives that led to keeping a birth secret and the consequences of such a clandestine birth for mother, father and child. The director of the institution, a professor of obstetrics, wrote case reports on the women, who paid a handsome sum for his help and the in-patient care they received. In return, these women could be admitted under a pseudonym, and thus falsify their child’s birth certificate; moreover they were not used as teaching material for medical students and midwife apprentices, whereas “regular” patients had to give their names and, in return for being treated free of charge, be available for teaching purposes. The ten cases that have been painstakingly investigated reveal that the reasons that led the women and men to opt for an anonymous birth were manifold, that they used this offer in different ways and with different consequences. All of these pregnancies were illegitimate, of course. In one case the expectant mother was married. In several cases it would be the father who was married. Most of the women who gave birth secretly seem to have given the professor their actual details and he kept quiet about them – with the exception of one case where he revealed the contents of the case report many years later in an alimony suit. Only one of the men admitted paternity openly, but many revealed their identity implicitly by registering the pregnant woman or by accompanying her to the clinic. If the birth was to be kept secret the child needed to be handed over to foster parents. By paying a lump sum that covered the usual fourteen years of parenting, one mother was able to avoid any later contact with her son. In most cases contact seems to have been limited to the payment of this boarding money. One of the couples married later and took in the twins that had been born clandestinely out of wedlock. One mother kept close contact with her son through intermediaries. All of the women who gave birth in this clandestine fashion received practical as well as financial support, often from the child’s father or from a relative. Few of them came by themselves. In those days, only women who used the maternity hospital free of charge would have been as isolated in the difficult perinatal period as are women today who choose to deliver their babies anonymously.

Einführung Das Problem der ›anonymen Geburt‹ wird seit einigen Jahren heiß und kontrovers debattiert. Es geht dabei einerseits um Hilfe für schwangere Frauen in Not- und Konfliktlagen sowie um den Schutz für das Leben ihres Kindes, andererseits um die Kompetenzen von Behörden wie Jugend- und Standesamt, die Führung der Personenstandsregister und nicht zuletzt um MedGG 32  2014, S. 137-166  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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das Recht des Kindes, seine Herkunft zu kennen. Als Alternative zur vollständigen Anonymität wird die ›vertrauliche Geburt‹ propagiert, bei der die Personaldaten der Frau in einem versiegelten Brief hinterlegt und dem Kind nach 16 Jahren zugänglich sind; im Jahr 2013 ist sie durch ein Bundesgesetz institutionalisiert worden.1 Diese Problematik hat eine lange Vorgeschichte. Findelhäuser existierten in vielen europäischen Städten seit dem Mittelalter oder der Renaissance, im 18. und frühen 19. Jahrhundert nahmen sie an Zahl und Größe stark zu, besonders in katholischen Ländern. Dort konnten Kinder anonym, evtl. aber auch mit einem persönlichen Erkennungszeichen abgegeben werden, oft durch eine Drehlade.2 Viele Entbindungshospitäler, wie sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden, ermöglichten bedürftigen ledigen Frauen eine mehr oder weniger vertrauliche oder sogar gänzlich anonyme Geburt. In der großen Gebärabteilung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (1784 eröffnet) war die Anonymität in der Praxis nach Klassen abgestuft, ebenso wie die Unterbringung. Die zahlenden Patientinnen brauchten ihren Namen gar nicht anzugeben und durften das Gesicht hinter einem Schleier verbergen. In der Gratisabteilung wurde der Name der Frau in die Hospitalregister eingetragen, aber nicht an Dritte mitgeteilt; selbst vor Gericht galt der Aufenthalt im Gebärhaus nicht als Beweis für eine uneheliche Entbindung.3 War das Entbindungshaus mit einer Findelanstalt kombiniert wie in Wien, Paris, Turin, Moskau und St. Petersburg, konnte die Frau ohne sichtbares Zeichen ihres ›Fehltritts‹ in die Heimat zurückkehren. Viele Zeitgenossen hielten solche Einrichtungen für ein wirksames Mittel gegen den Kindsmord. Die Entbindungsanstalt der Universität Göttingen, die 1751 in einem Zimmer des Heilig-Geist-Hospitals eröffnet worden und 1791 in den stattlichen Neubau des ›Accouchierhauses‹ eingezogen war, gewährte ihren normalen Patientinnen nur ein begrenztes Maß an Vertraulichkeit.4 Die Frauen mussten Namen, Herkunftsort, Alter usw. dem Direktor und dem Verwalter nennen. Die Personalangaben wurden in den Registern des Hospitals festgehalten, zur Taufe des Kindes dem zuständigen Geistlichen übermittelt, im Kirchenbuch, dem damaligen Personenstandsregister, dokumentiert, außerdem in jährlichen Listen zur Rechnungslegung der Regierung in Hannover 1

Coutinho/Krell (2011); s. die gegenwartsbezogenen Beiträge in Metz-Becker (2012); für Frankreich: Villeneuve-Gokalp (2011). Zu dem Gesetz von 2013: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=199392.html (letzter Zugriff: 29.1.2014).

2

Enfance abandonnée (1991); MacClure (1981); Taeger (1986); Hunecke (1987); Ransel (1988); zusammenfassend Schlumbohm: Findel- und Gebärhäuser (2012), auch zum Folgenden.

3

Pawlowsky (2001), S. 88ff.

4

Alle Hintergrundinformationen zum Göttinger Entbindungshospital nach Schlumbohm: Phantome (2012).

Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander

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mitgeteilt. Allerdings war die Richtigkeit der Angaben schwerlich zu überprüfen, zumal die Mehrzahl der Patientinnen von auswärts kam. Wenn aber im Einzelfall auffiel, dass eine Frau einen falschen Namen nannte, wurde das als verdächtig eingestuft, und sie konnte abgewiesen werden. Nur vor der »Neugierde« Außenstehender »über die anwesende[n] oder bereits abgegangene[n] Personen« schützte das Hospital die Patientinnen; solchen Fremden waren der Zutritt zum Gebäude und der Einblick in die Register verwehrt. Das galt sogar für die Göttinger Polizei und Justiz; denn solange die Frauen stationär aufgenommen waren, unterstanden sie wie alle Universitätsangehörigen dem Universitätsgericht. Im Fall von Ermittlungen und Prozessen gab jedoch der Direktor den Behörden Auskunft über die Frauen im Hospital: Als 1805 ein etwa sechswöchiges Mädchen 25 km nördlich von Göttingen ausgesetzt gefunden wurde und die Hospitalpatientinnen als die üblichen Verdächtigen in den Blick kamen, reichte er dem Amt bereitwillig eine detaillierte Liste der Frauen ein, die in den fraglichen drei Monaten Kinder weiblichen Geschlechts geboren hatten.5 Dies waren die Regelungen für die normalen Patientinnen, die unentgeltlich behandelt und verpflegt wurden, dafür als Lehrmaterial für Medizinstudenten und Hebammenschülerinnen dienten. Sie waren bedürftig und ganz überwiegend unverheiratet. Zahlenden Patientinnen hingegen gewährte das Göttinger Gebärhaus eine weitreichende Anonymität. Dr. Friedrich Benjamin Osiander, von 1792 bis zu seinem Tod 1822 Direktor der Anstalt und Professor der Geburtshilfe, hieß auch solche Schwangeren willkommen, die »gegen Bezahlung der Miete und Kost usw. […] in der Stille und unbekannt ihr Wochenbett halten« wollten. Wie eine spezielle Einladung klingt es 1794 in seiner gedruckten Beschreibung des Hospitals: Jedes Frauenzimmer, welches […] in der Stille niederkommen will, kann hier aufs heimlichste ihr Wochenbett halten. Sie darf sich nur durch Briefe eines Dritten an mich wenden und zu Bezahlung der Kosten mir eine sichere Person oder ein Handelshaus anweisen, so hat sie weder mir noch irgendeinem Menschen hier ihren Namen und Wohnort anzugeben nötig. […] Ihr Kind wird im Hause getauft, wozu sie ohne weitere Untersuchung einen Vater und Mutternamen angeben kann, welchen sie will.6

Für die Lehre standen die zahlenden Patientinnen nicht zur Verfügung; der Direktor entband sie selbst und schrieb ihre Fallgeschichten nicht in das Hospitaltagebuch – im Unterschied zu denen der Gratispatientinnen. In die Aufnahmebücher trug der Verwalter diese Frauen gewöhnlich als »ungenannte Person« ein, fügte freilich meist den Namen hinzu, unter dem sie auftraten. In der jährlichen Liste für die Landesregierung hingegen fehlen diese Namen; nur die Einnahme, die das Hospital von einer »ungenannten Person« erhielt, ist vermerkt. Aus diesen Dokumenten ergibt sich, dass die 5

AUFK Gö, W 17, fol. 18ff.; in dieser Akte weitere Fälle ähnlicher Art.

6

Osiander (1794-1795), Bd. 1, 1, S. LXXXIIIf.

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Jürgen Schlumbohm

zahlenden Patientinnen im Göttinger Gebärhaus eine sehr kleine Minderheit waren: In den Jahren 1792 bis 1822 sind 16 Fälle dieser Art erkennbar, neben mehr als 2600 gratis Entbundenen.7 Die Quelle Während zu den normalen Patientinnen eine dichte Dokumentation überliefert ist, waren die Informationen zu den zahlenden »ungenannten« Gebärerinnen bisher spärlich. Doch im Sommer 2012 tauchte aus Privatbesitz eine neue Quelle auf, welche von der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen Ende 2012 erworben werden konnte. Der etwa 20 mal 17 cm große und 2 cm dicke Pappband von verblichen violetter Farbe trägt die Aufschrift »Das Lila- oder Geheime-Buch«, und der Innentitel lautet: »Das Geheime Buch, enthaltend die etwan für die Zukunft nöthigen Nachrichten von den seit meiner über das K[önigliche] Entb[indungs-]Hospital geführten Direction heimlich hier entbundenen Personen von Prof. Osiander 1797«.8

7

Schlumbohm: Phantome (2012), S. 309-313.

8

AUFK Gö, W 36 a. Außen- und Innentitel sind hier buchstabengetreu wiedergegeben; im Übrigen wird bei Zitaten nur der Lautstand gewahrt, Orthographie und Interpunktion jedoch dem modernen Gebrauch angeglichen.

Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander

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Abb. 1: Titelblatt des »Geheimen Buches«

Die Handschrift ist unzweifelhaft die von Friedrich Benjamin Osiander, dem langjährigen Direktor der Geburtsklinik. Auf den Seiten 7 bis 65 hat er zehn Fallgeschichten von heimlich Gebärenden eingetragen, die meist mehrere Seiten umfassen. Die Fälle sind bis auf die beiden letzten mit römischen Ziffern durchnummeriert. Fall I, eine Entbindung von 1794, scheint aufgrund älterer Notizen nachgetragen. Nr. II fehlt in dem »Geheimen Buch«. Als solche wird Osiander den Fall der Elisabeth Müllern aus Bishausen im Gericht Hardenberg gezählt haben, die am 3. März 1796 aufgenommen wurde, am 20. Juni niederkam und am 29. Juni, dem Tauftag ihrer Tochter, starb – nach Osianders Diagnose »an Hirnwut«, verursacht durch den »Kummer über die Kaltsinnigkeit ihres Schwängerers«, des Kaufmanns Schöne aus Köln.9 Die Fälle III bis V betreffen Entbindungen von 1797, dem Jahr, in dem der Direktor laut Titelblatt sein »Lila Buch« begann. Die nächste Eintragung machte er 1800/01; es folgen drei aus dem Jahr 1805 und zwei von 1819. Auf den Seiten 67 bis 75 stehen drei Fallgeschichten, 9

Schlumbohm: Phantome (2012), S. 311.

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die Osianders Nachfolger, Prof. Ludwig Mende, während seiner Amtszeit (1823-1832) aufzeichnete. Den Abschluss (S. 77-94) bilden 14 Fallnotizen des nächsten Direktors, Eduard von Siebold (amtierte 1833-1861), die meist nur wenige Zeilen umfassen. Die zweite Hälfte des Bandes besteht aus unbeschriebenen Blättern. Von den zehn Fällen, die Osiander in sein »Geheimes Buch« eintrug, sind sieben auch vom Hospitalverwalter im Aufnahmebuch als »ungenannte Person« oder »auf eigene Kosten« Entbundene gekennzeichnet. Die »heimlich« Gebärende mit der Nr. III erscheint hingegen im Register des Verwalters ohne jeden Hinweis auf ihren besonderen Status10, und die beiden Fälle von 1819 fehlen dort ganz und gar. Umgekehrt finden sich acht »ungenannte Personen«, »auf eigene Kosten« aufgenommene bzw. »zahlende« Patientinnen im Aufnahmebuch, die im »Geheimen Buch« des Direktors nicht erscheinen.11 Einzelne Formulierungen deuten darauf hin, dass es Abstufungen gab, die einen Teil der Abweichungen zwischen den Registern erklären mögen. Wer wie die Leipziger Schneidermeisterstochter Caroline Krahn 1807 lediglich »für das Hospitalbette« einen halben Taler pro Monat zahlte oder nur einen Teil des Aufenthaltes in der Klinik selbst finanzierte wie 1819/20 Margreth Gundermann, hatte keinen Anspruch auf Anonymität.12 In das normale Hospitaltagebuch trug der Direktor keinen der Fälle ein, die er im »Geheimen Buch« aufzeichnete.13 Entgegen dem Anspruch des Titelblatts erfasste die neue Quelle also die »heimlich Entbundenen« nicht vollständig; das Aufnahmebuch des Verwalters wies in dieser Hinsicht sogar weniger Lücken auf. Immerhin erhöht sich durch das »Lila Buch« die Zahl der anonymen bzw. auf eigene Kosten Gebärenden während Osianders Amtszeit von 16 auf 19. Das ist weniger als ein Prozent aller Göttinger Klinikgeburten. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass einzelne Fälle dieser Art in keinem überlieferten Dokument notiert sind, gibt die neue Quelle doch Grund zu der Annahme, dass die Dunkelziffer nicht groß sein kann. Bestätigt wird somit der Befund, dass die zahlenden Patientinnen im Entbindungshospital der Universität Göttingen seltene Ausnahmen waren.

10 S. u. S. 148 mit Anm. 26. Das trifft auch auf die soeben erwähnte Elisabeth Müllern zu; sie ist nur aufgrund der vierteljährlichen Übersicht des Direktors als »auf ihre Kosten heimlich gebärende« Person zu identifizieren. 11 »Ungenannt« und »auf eigene Kosten«: AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 1, 851 (i. J. 1801), 1805 (i. J. 1812); nur »auf eigene Kosten«: Bd. 1, 1480 (1809), 1684 (1811), 1686 (1811); Bd. 2, 1860 (1813); nur »hat bezahlt«: Bd. 1, 1350 (1807); Bd. 2, 2441 (1819/20). 12 AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 1, 1350; Bd. 2, 2441. 13 Überprüfen ließ sich das für die fünf Fälle des »Geheimen Buchs«, die in Jahre fielen, aus denen das Hospitaltagebuch erhalten ist.

Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander

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Anonymität – ein teuer erkauftes Privileg Auf den beiden ersten Blättern des »Lila Buchs« hielt der Direktor einige allgemeine Regeln und die Gebührenordnung für zahlende Patientinnen fest: Das heimliche Gebären auf dem E[ntbindungs-]Hospital zu Göttingen ist von Königl[icher] Regierung erlaubt; und nach dem Reglement der H[ospital-]Rechnung müssen solche Personen in den Registern der Entbundenen unter dem Namen der »unbenannten Personen« aufgeführt werden.

Dieser Vorschrift entsprach der Verwalter bei der Rechnungslegung. Weiter war bemerkenswert: »Die hiesige Polizei darf in nicht-kriminellen Fällen nach solchen Personen hier nicht forschen, auch das Hospital in keinem nicht-kriminellen Fall durchsuchen lassen.« Bei Verdacht krimineller Delikte konnte demnach die Göttinger Polizei Auskunft über »heimliche« Patientinnen verlangen und das Hospital betreten. In dieser Hinsicht erscheinen die normalen Gratis-Patientinnen als besser geschützt, denn sie unterstanden der Universität während der Dauer ihres Aufenthalts auch bei der Kriminalgerichtsbarkeit.14 Möglicherweise lag die Ursache darin, dass die normalen Patientinnen in den offiziellen Registern namentlich erfasst wurden, die zahlenden aber nicht. Detailliert war die Liste der Gebühren, die Osiander für das »Geheimgebären« festgesetzt hatte. Für Unterkunft, Feuerung und Licht wurden pro angefangenen Monat 5 Taler berechnet und an die »Kasse des Hospitals« abgeführt. Die Miete für Bettzeug, »was der Verwalter besorgt«, betrug monatlich 24 Mariengroschen.15 Die Verpflegung kostete pro Woche 1 ½ Taler. Noch höher waren die Zahlungen für die personalintensive Betreuung. Der Direktor liquidierte für seine »Mühe als Vorsteher, Arzt und G[e]b[urts]h[e]lf[e]r« 20 Taler, was fast der Hälfte seines monatlichen Gehalts entsprach. Da das gesamte Personal an der Arbeit für die ›Privatpatientin‹ beteiligt war, partizipierten auch alle an den Einnahmen. »Für d[es] Verwalters Mühe und für d[ie] Hebamme« waren je 2 ½ Taler zu entrichten; die »Hausmagd« bekam monatlich 1 Taler, und zwar »für das Reinmachen des Zimmers« und für Botendienste, wie ein dem »Lila Buch« beigelegtes Blatt spezifizierte. Für die Taufe samt Eintragung in das Kirchenbuch und Taufschein standen dem Pastor 1 Taler 12 mgr., dem Küster (»Opfermann«) 13 mgr. 6 d. zu. »Alles Übrige wird besond[ers] bezahlt«, lautet der 14 AUFK Gö, W 36 a, S. 3; vgl. Schlumbohm: Phantome (2012), S. 87. 15 AUFK Gö, W 36 a, S. 5 und Beilagezettel a, auch zum Folgenden. 1 Taler = 36 Mariengroschen (mgr.), 1 mgr. = 8 Pfennig (d.); 1 Taler = 24 Gute Groschen (ggr.), 1 ggr. = 12 Pfennig. Die Magd des Hospitals erhielt damals pro Jahr einen Barlohn von 10 bis 12 Talern, die Hospitalhebamme 35 Taler, der Verwalter 200 Taler; Professor Osianders Jahresgehalt belief sich auf 500 Taler. – Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Talerwährungen und Münzsorten (s. Gerhard (2002), S. 306ff.) werden in diesem Beitrag ignoriert, da es hier nur um die Größenordnung der Preise und Einkommen geht.

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letzte Satz der Ordnung. Insgesamt kostete ein Hospitalaufenthalt von einem Monat die zahlende Patientin demnach über 40 Taler, wesentlich mehr als aus den verstreuten Notizen in anderen Quellen zu entnehmen ist.16 Die Gebührenordnung vorn im »Geheimen Buch« wird aus dem Jahr 1797 stammen. Als loses Blatt liegt in dem Band eine Aufstellung von 1796, die z. T. noch detaillierter ist und bei einzelnen Posten abweicht. So sollten für Unterkunft und Licht einschließlich des Bettzeugs, aber »ohne Feuerung« 5 Taler je angefangenen Monat fällig werden, »mit Feuerung« jedoch 10 Taler. Die Verpflegung wurde genau beschrieben. Sie bestand aus »Tee mit Milch, Zucker u[nd] Semmel zum Frühstück; Suppe, Gemüs[e] u[nd] Fleisch zum Mittagessen; abends eine Suppe u[nd] zwischen der Zeit Butterbrot und Hausgetränk«. Als Honorar des Direktors waren auch hier 20 Taler vorgesehen mit dem ausdrücklichen Zusatz, dass dies ein Festbetrag war, der nicht davon abhing, ob die Entbindung »natürlich oder künstlich« war. Die ›Privatpatientin‹ hatte also keinen Grund zu der Sorge, dass sie umso mehr – an operativer ›Kunsthilfe‹ – bekam, je mehr sie zahlte.17 Dem Verwalter standen nach der älteren Liste 3 Taler zu18, und zwar »für Besorgung der Kost, Logis u[nd] Schreibgebühren«, der Hebamme hingegen nur 2 Taler »für Aufwartung […] u[nd] Besorgung des Kindes bei der Taufe«, freilich mit dem Zusatz: »Wenn sie bei Nacht wacht«, bekomme sie für »jede Nacht« weitere 12 mgr. Die Gebührenordnung, die der Direktor beschlossen und in zwei Fassungen niedergeschrieben hatte, war für ihn ohnehin nur eine Richtlinie, von der nach oben oder unten abzuweichen er sich vorbehielt. Das zeigen die z. T. detaillierten Abrechnungen, die im »Geheimen Buch« für die ersten sechs Fälle notiert sind. Bei der ersten, 1794 entbundenen Frau kassierte er ein Honorar von 30 Talern, also um 50 Prozent mehr als 1796/97 vorgesehen. Für etwa drei Wochen »Miete, Kost« usw. wurden 45 Taler berechnet; selbst wenn darin die Gelder für Verwalter und Hebamme eingeschlossen sein mochten, war das mehr als das Doppelte der späteren Taxe. Im Fall IV erhielt Osiander zusätzlich zu dem üblichen Honorar von 20 Talern »nachher noch« 5 Taler. Der Verwalter bekam mit 3 Talern etwas mehr, die Hebamme mit 1 ½ Talern weniger, als die Ordnung von 1797 vorsah. Das Kostgeld wurde mit 30 mgr. je Woche deutlich niedriger angesetzt. Beim nächsten Mal begnügte der Direktor sich mit 10 Talern, der Hälfte des normalen Honorars – vermutlich aus Entgegenkommen gegenüber dem Kindsvater, der bei ihm studiert hatte und obendrein Sohn eines Professorenkollegen war. Bei der als Nr. VII eingetragenen Patientin, die sich fast sieben Monate im Hospital aufhielt, liquidierte Osiander gut 52 Taler, etwa 16 Vgl. Schlumbohm: Phantome (2012), S. 313. 17 Nach der Analyse von Loudon (1992), S. 243ff., 251, 392ff., bestand etwa in Großbritannien und den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Grund zu dieser Sorge. 18 Die beanspruchte er auch 1812: Schlumbohm: Phantome (2012), S. 313.

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das 2 ½-Fache des gewöhnlichen Honorarsatzes. Auch die Hebamme bekam mit 14 Talern ein Mehrfaches des Üblichen, zumal sie der Schwangeren ihre Stube abgetreten hatte. Die »Verwalterin« (die hier statt ihres Mannes aufgeführt wurde) musste sich mit dem annähernd normalen Pauschbetrag (2 Taler 24 mgr.) begnügen, wurde aber durch eine erhöhte BettzeugMiete entschädigt (7 Taler für 7 Monate). Die Hausmagd konnte sich über 5 Taler freuen – was freilich nur dem Satz für fünf Monate entsprach. An die Hospitalkasse wurden für »Logis« lediglich 16 Taler abgeführt; das entsprach der Taxe für etwa drei Monate. Von Kostgeld ist in diesem Fall gar nicht die Rede; vielleicht ließ sich diese Frau die Verpflegung von außer Haus kommen. Als Richtschnur galt Osianders Gebührenordnung offenbar mehrere Jahrzehnte lang. Nach seinem Tod sandte der Sohn Johann Friedrich Osiander dem Nachfolger das »Lila Buch« mit dem Hinweis, dass »die Notizen über Verpflegungskosten etc.« für diesen »vielleicht von einigem Wert sein können«. Noch der zweite Nachfolger, Eduard von Siebold, bestätigte 1839 die Taxen für Direktor, Magd und Unterkunft (diese kostete nun allerdings ohne Licht und Feuerung 5 Taler); er verdoppelte jedoch die Sätze für Verwalter und Hebamme gegenüber 1797 auf 5 Taler.19 Da sich zahlende Patientinnen nur hin und wieder einstellten, konnten nicht ständig bestimmte Räumlichkeiten für sie bereitgehalten werden. In der Bekanntmachung von 1794 teilte der Direktor mit, er habe einstweilen in seiner Dienstwohnung im zweiten Obergeschoss des Accouchierhauses »zwei der besten Zimmer« für Geheimgebärende »zurichten« und »mit allen auf ein Wochenbett nötigen und sauberen Möbeln versehen« lassen. Dort wird die Dame logiert haben, die 1794 zur heimlichen Geburt kam; auch die Entbindung geschah in einem Zimmer von Osianders Etage. Da die wachsenden wissenschaftlichen Sammlungen des Direktors immer mehr Platz einnahmen und die Zimmermiete der zahlenden Patientinnen ohnehin an die Hospitalkasse abzuführen war, wurden diese Frauen seit 1797 in der Regel im Erdgeschoss untergebracht. Zunächst richtete man dafür auf der Südseite die »Stube und Kammer« ein, die am Garten des Direktors lagen. So blieb die wohlhabende Klientel deutlich von den Gratispatientinnen im ersten Obergeschoss getrennt und vor den Blicken Außenstehender geschützt. Später nahm gelegentlich der Verwalter oder die Hospitalhebamme eine Privatpatientin in ihrer Stube auf.20

19 AUFK Gö, W 36 a, Beilagezettel b, c zum »Geheimen Buch«. Zu Johann Friedrich Osiander: Schlumbohm: Phantome (2012), S. 140ff. 20 Schlumbohm: Phantome (2012), S. 309f., 313; AUFK Gö, W 36 a, S. 5, 8, 31, 45, 49.

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Abb. 2: Das Erdgeschoss des Göttinger Accouchierhauses. Kupferstich von C. A. Besemann, 1790er Jahre. Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign. gr 2 H Hann V, 34 Rara, fol. 45

Die außerehelich Schwangeren, die die Mittel hatten, scheuten keine Kosten, um ihr Geheimnis zu bewahren und Abstand zu der Masse der bedürftigen Frauen zu halten, die in gleichen Umständen Zuflucht unter demselben Dach gefunden hatten. Für ihr Geld erhielten die Zahlungskräftigen außer der Anonymität auch die Befreiung von der Funktion als Lehrmaterial. Weder in der Schwangerschaft noch unter der Geburt standen sie für Untersuchungsübungen von Studenten und Hebammenschülerinnen zur Verfügung; bei der Entbindung waren grundsätzlich nur Direktor und Hospitalhebamme zugegen, keinesfalls eine Vielzahl von Praktikanten.21 Wie wichtig den Frauen dieser Aspekt war, zeigt ein Fall, den Ludwig Mende 1828 in das »Geheime Buch« eintrug. Als Agnes Reinhard aus Camberg (oder Cramberg) an der Lahn von dem Mühlenmeister Warnecke in Harriehausen (bei Gandersheim) schwanger war, zahlte sie im Göttinger Entbindungshospital täglich 4 Gute Groschen, für die zwei Monate und

21 Wenn gelegentlich auch ein fortgeschrittener Student oder eine Hebammenschülerin anwesend war (AUFK Gö, W 36 a, S. 20, 46, 65), wird die zahlende Patientin dem zugestimmt haben.

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sieben Tage ihres Aufenthalts also 11 Taler 4 ggr., nur um »mit dem Untersuchen verschont« zu bleiben.22 Frauen, Männer, heimliche Geburten Am 6. Februar 1797 traf die 30-jährige Antonia Susanna Giesel aus Eschwege im Göttinger Accouchierhaus ein.23 Anders als die Masse der bedürftigen Schwangeren kam sie weder allein noch unangemeldet. Ein »gewesener Apotheker« namens Jacobi hatte zuvor mit dem Hospitaldirektor gesprochen und die Bedingungen der diskreten Aufnahme ausgehandelt. Nun »brachte« er sie und »deponierte wegen ihr auf d[en] Sterbfall 48 R[eichs]t[a]l[er]«, als Sicherheit für die Bezahlung der Rechnung im Fall ihres Todes. Ob Jacobi der Vater des ungeborenen Kindes war oder in welchem Verhältnis er sonst zu der Frau stand, erfuhr (oder notierte) Osiander nicht. Doch ihre Identität dem Direktor zu offenbaren, trug die Schwangere kein Bedenken; sie brachte sogar einen Taufschein mit, aus dem sich ergab, dass ihr Vater Hauptmann war. Gegenüber Dritten freilich machte sie von dem Recht auf ein Pseudonym Gebrauch. Osiander charakterisierte sie als »mager, kränklich, fast taub« und hielt fest, dass sie »fluorem album [weißen Ausfluss aus den Genitalien], bleiches Aussehen, Husten und öftere Anwandlungen von Schwindel« hatte. Er fand sie »hässlich von Gesicht, blatternnarbig« und »melancholisch«. Ende März setzten die Geburtsschmerzen ein, doch »mehrere Tage« lang wollte »der Kopf […] nicht tief ins Becken eintretten [sic!] noch d[er] M[utter]mund sich gehörig öffnen«. Nach so »vielen vergeblichen Wehen« griff Osiander, seinem geburtshilflichen Ansatz entsprechend, zur Zange und entband die Patientin in der Nacht auf den 2. April um 1 Uhr operativ von einem Knaben. In diesem Fall durfte Simon Joseph Bochard, ein besonders erfahrener Kandidat der Medizin, »zugegen« sein; er hatte bereits bei sechs Geburten im Göttinger Hospital mitgewirkt.24 Im Unterschied zu den Gratis-Patientinnen hat der Professor Frau Giesel offenbar vor der Niederkunft nicht gynäkologisch untersucht. Jedenfalls notierte er erst am Ende des Geburtsberichts: »Die Beschaffenheit ihrer Geburtsteile war so, als ob sie schon einmal geboren hätte.« Die anderen Frauen wurden gleich bei der Aufnahme äußerlich und innerlich untersucht; gaben sie an, erstmals schwanger zu sein, unterzog Osiander sie einem Verhör, wenn er Narben

22 AUFK Gö, W 36 a, S. 75; AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 2, 3467. Im Tagebuch des Entbindungshospitals (AUFK Gö, Tagebuch, Bd. 1828, Nr. 32) sind Name und Wohnort unleserlich gemacht. 23 AUFK Gö, W 36 a, S. 19-21 (Fall III), auch zum Folgenden. 24 Das ergibt sich aus meiner Datenbank, die u. a. auf den Tagebüchern des Hospitals beruht; s. Schlumbohm: Phantome (2012), S. 530.

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am Muttermund ertastete.25 Fragen dieser Art stellte er einer Privatpatientin nicht. Zwei Tage nach der Geburt kam der zuständige Pfarrer in das Accouchierhaus und taufte das Kind auf die Namen Johann Wilhelm. Als Vater gab Frau Giesel an: »Johann Wilhelm Schmidt, ein verstorbener adelicher Beamter«. Sich selbst bezeichnete sie als dessen Witwe, »Frau Schmidtin« aus Kursachsen. So wurde in der Personenstandsurkunde der Makel der unehelichen Geburt getilgt und die wahre Abstammung des Kindes verborgen. Das vom Verwalter geführte Aufnahmebuch des Hospitals hingegen hielt eine Spur zur Identität der Mutter fest; dort hieß sie »Giesel, Fr[au] Schmidtin, eine Beamtenwitwe aus Sachsen«, doch fehlte jeder Hinweis auf Unehelichkeit und ihren Status als zahlende ungenannte Patientin.26 Natürlich wollte und konnte die geheim Gebärende ihren Sohn nicht behalten. Offenbar hatte sie sich selbst um Pflegeeltern gekümmert; diese lebten in der »Gegend von Hedemünden« und holten den Säugling bald nach der Taufe im Hospital ab. Die Mutter kränkelte im Wochenbett, »anfangs« musste ihr »tägl[ich] Medizin gegeben werden. Sie erholte sich jedoch bald und konnte d[en] 14. April 97 schon abreisen.« Nachdem sie das Honorar und die übrige Rechnung beglichen hatte, händigte der Direktor ihr die knapp 33 Taler aus, die von der Sicherheitsleistung des Apothekers übrig waren. Auf unbekanntem Weg hörte Osiander später noch von Sohn und Mutter: »Das Kind soll nachher nach Nörten in die Pflege gekommen sein.« Die »Pfleggelder« wurden von einer Vertrauensperson der Mutter oder des Vaters, Madame Rockmann, ausgezahlt; diese hatte Frau Giesel auch bei ihrer Abreise aus Göttingen begleitet. Im April 1798, ein Jahr nach der heimlichen Entbindung, vernahm der Professor das Gerücht, »dass diese elende Gieseln abermals schwanger sei und bald niederkomme«. Doch in das Göttinger Hospital ging sie dieses Mal nicht. Die nächste heimliche Patientin kam bereits während Antonia Susanna Giesels Wochenbett, am 5. April 1797, im Göttinger Hospital an. Maria Lehmannin, so nannte sie sich, war 24 Jahre alt, »roter Haare« und hatte infolge der kriegerischen Zeitläufte bereits etwas von der Welt gesehen.27 Geboren war sie in Elleringhausen (Twistetal). Dort trat ihr 1796 ein adeliger Offizier näher, »der auf Urlaub im Waldeckschen bei s[einen] Eltern war«. Er gehörte zu den Truppen, die der überschuldete Waldecker Fürst traditionsgemäß an die Niederlande bzw. nun die Batavische Republik

25 Schlumbohm (2002), S. 140ff. 26 KKA, Kirchenbuch St. Crucis Göttingen, Taufen 1797, Nr. 25. AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 1, 438: Als Aufnahmedatum wird dort der 28.1.1797 angegeben, vielleicht der Tag, an dem Jacobi die Aufnahme aushandelte. 27 AUFK Gö, W 36 a, S. 27-30 (Fall IV), auch zum Folgenden; KKA, Kirchenbuch St. Crucis Göttingen, Taufen 1797, Nr. 30; AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 1, 452.

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vermietete.28 »Seinen Namen nannte sie nie«, er blieb ihr Geheimnis; doch handelte es sich nicht um eine flüchtige Beziehung. Als Maria schwanger wurde, sorgte er dafür, dass sie in seiner Nähe bleiben konnte und Köchin in Dordrecht (Südholland) wurde. Sich öffentlich als Paar zu zeigen, wagten sie freilich selbst beim Militär in der Fremde nicht: Als sich »ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen« ließ, wurde sie »hie[r]her gewiesen«. Ob der Offizier das Göttinger Gebärhaus und dessen Angebote kannte oder jemand anderes, bleibt offen. Die hochschwangere Maria Lehmann trat die Reise mit dem »Postwagen« an; für die ca. 450 km brauchte sie 14 Tage. Der Hospitaldirektor stellte bei seiner Patientin »viel Neigung zur Melancholie« fest, doch nannte er »ihre Aufführung […] still und untadelhaft«. Als weniger vorbildlich beurteilte er ihr Betragen bei der Entbindung; und wie in manchen Fallgeschichten von Gratispatientinnen29 äußerte er die Kritik auch in seinem »Geheimen Buch« freimütig. In der Nacht auf den 26. April spürte Maria Lehmann um 1 Uhr »heftige Wehen«. Osiander kam zu ihr, untersuchte und fand den »M[utter]mund […] dünne verstrichen«, erst »2 Finger breit« geöffnet. Doch die junge Frau »tat über den Wehen außerordentlich zaghaft und grämend, klagte über große Schmerzen«. Als um 3:30 Uhr der Muttermund »völlig geöffnet« war und »sie über den Schmerzen um Hülfe schrie«, griff der Geburtshelfer ein und sprengte die Fruchtblase. Wie gewöhnlich führte Osiander für den anschließenden Gebrauch der Zange eine doppelte Begründung an: »da der Kopf […] nicht fortrückte, vielmehr ihr Klagen und Winseln zunahm«. Gegen 4:30 Uhr brachte der Professor »das Kind […] mit 12-15 Trakt[ionen] zur Welt«. Das Hindernis entdeckte er darin, dass die Hand des Kindes neben dem Kopf lag und die »Nabelschnur […] um den Hals geschlungen« war. Das neugeborene Mädchen beurteilte er als »zeitig« und »wohlgebildet«. Von der Zangenoperation hatte es »einen leichten Eindruck […] auf dem rechten Stirnbein«; anfangs war es »etwas schwach, erholte sich doch bald«. Maria Lehmann war entschlossen, »die Milch zu vertreiben« und ihre Tochter einer Amme zu übergeben; zudem hatte sie »Hohlwarzen«, die das Stillen erschwerten. Also »legte« sie das Kind »nicht an die Brust, sondern fütterte es auf«. Der Vater nahm aus der Ferne Anteil, jedenfalls am Ergehen der Mutter. Doch verbarg er seine Identität durch ein System der indirekten Kommunikation; der Geburtshelfer musste »die Nachrichten wegen dem Befinden der Lehmannin […] an Herrn Pfarrer Varnhagen zu NeuWildungen im Waldeckschen senden«, einen der angesehensten Geistlichen des Fürstentums, der auch als landeshistorischer Schriftsteller hervortrat.30

28 Menk (1995), S. 243f. 29 Schlumbohm: Phantome (2012), S. 413ff. 30 Johann Adolph Theodor Ludwig Varnhagen (1753-1829). Zu ihm s. Deutsches Biographisches Archiv (DBA).

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Am 1. Mai wurde das Kind Maria Henrietta Carolina getauft, wie üblich im Betzimmer des Hospitals; die Namen entsprachen dem »Verlangen der Mutter«, so hob Osiander hier hervor. Vater sei »ihr Eh[e]mann Friedrich Lehmann, ein Handelsmann aus Preußen«, sagte die Wöchnerin – und trug der Pfarrer bzw. Küster ins Kirchenbuch ein. Der Verwalter hingegen registrierte die Patientin als »eine ungenannte Person« und bezeichnete den Kindsvater Lehmann nicht als deren Ehemann. Die kleine Maria Henrietta Carolina Lehmann wurde doch keiner ›Säugamme‹, sondern dem kinderlosen Tischler Gottlob Möbius »und s[einer] Frau zur Aliment[ation] u[nd] Pfleg[e] übergeben«. Vermutlich hatte Osiander dieses bewährte Paar in Gladebeck, einem Dorf 12 km nordwestlich von Göttingen, vorgeschlagen, das im Auftrag des Hospitals bereits zwei Kinder erzog: Da deren Mütter nach der Entbindung als Gratispatientinnen gestorben waren, bezahlte das Accouchierhaus die Pflegegelder bis zum 14. Lebensjahr.31 Offenbar fiel Maria Lehmann die Trennung von ihrer Tochter schwerer, als sie gedacht hatte. Jedenfalls ging sie, als sie am 7. Juni das Hospital verließ, »selbst nach Gladebeck und hielt sich dort eine Zeitlang auf«. Doch musste sie bald endgültig Abschied nehmen. »In der Nacht vom 29-30 Jul[i]« starb ihr Kind in Gladebeck.32 Ihre Kommunikation lief anscheinend weiter über Professor Osiander, so dass er von ihren Wegen informiert blieb. »Sie kam darauf nach Hevensen, eine halbe Stunde von Gladebeck, zum Herrn von Pape«, dem Besitzer des örtlichen Rittergutes.33 »Bald darauf aber liefen Briefe von ihrem Schwängerer aus Holland ein, dass sie so bald mögl[ich] dahin zurückkommen möchte.« Osiander erhielt außerdem von einem Bremer Mittelsmann knapp 30 Taler. Da Maria Lehmann die Hospitalrechnung bereits beglichen hatte, waren sie wohl für die Reise bestimmt, abgesehen von 6 Talern, die Osiander als Honorar für seine zusätzliche Mühe zugedacht waren, und er händigte sie ihr am »21. Sept[ember] 1797, dem Tag vor ihrer Abreise«, aus. Auch für die Rückfahrt nahm Maria den Postwagen. Zum Abschluss der Fallgeschichte notierte Osiander ihre Zieladresse: »An H[errn] Feldprediger Foppel vom 2. Reg[iment] Waldeck zu Delfzijl in Provintie Groning[en]. Von diesem war sie an den Kommandanten zu weisen.« In der ersten Septemberhälfte 1797 suchte der Kandidat der Medizin Johann Georg Wilhelm Gatterer den Direktor des Accouchierhauses auf und bat, »ihm doch den Gefallen zu erweisen und gegen honette Belohnung eine von ihm schwangere Person tempore partus [d. i. zur Zeit der Geburt] hier aufzunehmen und in[s]geheim zu entbinden«.34 Professor Osiander kannte 31 Schlumbohm: Phantome (2012), S. 465, 468. 32 Laut Kirchenbuch von Gladebeck (Mikrofiche in KKA) starb es am 30.7.1797 an »Auszehrung«. 33 Stölting/Münchhausen (1912), S. 268ff. 34 AUFK Gö, W 36 a, S. 31-34 (Fall V), auch zum Folgenden.

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den jungen Mann; er hatte bei ihm studiert, und sein Vater war Kollege in der philosophischen Fakultät, der Historiker Johann Christoph Gatterer.35 Osiander »versprach«, die Bitte zu erfüllen, und zwar »unter den gewöhnlichen Bedingungen«. Die Schwangere hielt sich derweil in der Stadt »beim Goldschmied Mühlenpfort dem Jünger[e]n« auf; anscheinend diente sie dort als Magd. Am 16. September kam sie »in vollen Wehen auf das Hospital« und wurde sogleich durch den Direktor »in Beisein der [Hospital-] Hebamme Herrenkindin von einem lebenden Knaben entbunden«. Als Personalien der Gebärerin notierte Osiander: »Henriette Debin, aus Northeim gebürtig, eine große wohlgewachsene Dienstmagd von etl[ichen] u[nd] zwanzig Jahren.« So ließ sie sich auch in das Kirchenbuch eintragen, als ihr Sohn am Tag nach der Geburt auf den Namen Georg getauft wurde. Als Kindsvater benannte sie einen »jur. stud. Friedrich Lindner aus Mesoden«, d. i. Mesothen in Kurland (heute Mežotne in Lettland). So wurde er in die Geburtsurkunde eingesetzt, wenn auch ohne Hinweis auf seinen Status als Student der Rechte. Der Name war nicht erfunden: Im Wintersemester 1796/97 hatte in Göttingen Friedrich Georg Ludwig Lindner aus Mitau in Kurland studiert. Er war allerdings Mediziner; da er inzwischen zwecks Promotion nach Jena weitergezogen war, konnte man seinen Namen benutzen.36 Gleich bei den Personaldaten notierte Osiander im »Geheimen Buch«, dass die Frau »schon ein noch lebendes Kind von einem med. stud. u[nd] Dr. Parlemann haben soll«. Während die Gratispatientinnen nach der Entbindung in der Regel noch zwei Wochen im Hospital blieben, verließ diese »übrigens gesunde« Geheimgebärende das Haus bereits am vierten Tag nach ihrer Niederkunft »und ging wieder zu Mühlenpfort«. Ihr Sohn wurde durch den Hospitalverwalter in eine Pflegefamilie nach Nörten »besorgt«. Der Kindsvater trat noch einmal an den Direktor heran und »ersuchte« ihn, »dass er die Aliment[ations]gelder jedes Mal« ihm, Osiander, »zustellen dürfte, damit es nicht bekannt würde, dass er der Vater sei«. Osiander »versprach ihm solches« unter der Bedingung, dass Gatterer »jedes Mal richtig einhalten würde«; andernfalls könne er sich »auf nichts einlassen«. Überschwänglich versicherte der junge Mann, sogar »auf den Fall, dass er verreisen od[er] sterben sollte, sei dafür gesorgt, dass die Gelder richtig bezahlt würden«. Obwohl die Geheimgebärende ihren Namen falsch angab – in Wirklichkeit hieß sie Johanna Dorothea Amalia Thies(in) –, hatte sie wohl nicht viel zu verbergen. Denn sie wohnte bis zu den Wehen bei einem Bürger in der Stadt Göttingen. Zudem prozessierte sie gerade vor dem Universitätsgericht wegen rückständiger Alimentationsgelder gegen den Vater ihres ersten Kindes, den im Juni 1797 promovierten Karl Friedrich Parlemann (1773-1816); dieser stammte tatsächlich aus Mesothen, wo sein Vater als Pastor amtier35 Zu ihm Gierl (2012). 36 KKA, Kirchenbuch St. Crucis Göttingen, Taufen 1797, Nr. 53; vgl. AUFK Gö, Aufnahmebuch, Bd. 1, 484; Heerde (2006), S. 395.

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te.37 Er hatte ihr zwar anfangs etwa 100 Taler für die verlorene Geschlechtsehre gezahlt, doch war das nur ein Bruchteil des Versprochenen.38 Wichtiger als für die werdende Mutter war die Geheimhaltung offenbar für den Kindsvater. Georg Gatterer (1769-1803) hatte sein Studium immer noch nicht mit der Promotion abgeschlossen, aber bereits zwei uneheliche Kinder mit anderen Frauen gezeugt.39 Zudem hatte sich soeben eine weitere Frau namens Rosine Hoffmann als von ihm geschwängert im Accouchierhaus angemeldet, und zwar, da er für sie nicht zahlen konnte oder wollte, als Gratispatientin. Im Oktober 1797 verklagte sie ihn vor dem Universitätsgericht auf Alimentenzahlung für das Kind, das sie am 28. November 1797 zur Welt brachte. Lange konnte er das Verfahren verzögern, doch als er Ende 1798 endlich im Promotionsverfahren stand, musste er einen gerichtlichen Vergleich akzeptieren, der ihm eine Pauschalzahlung von ca. 58 Talern an Rosine Hoffmann auferlegte, wenn auch ohne ausdrückliche Anerkennung der Vaterschaft. Im Mai 1799 unterzeichnete der Dekan seine Promotionsurkunde; doch wurde sie ihm nie ausgehändigt. Rosine Hoffmann ließ sie wegen des nicht erfüllten Vergleichs und mangels pfändbaren Vermögens mit Arrest belegen. Ihr schloss sich eine weitere Frau an, die von Georg Gatterer ein Kind erwartete. Allen Pflichten und dem erworbenen Ruf entzog sich der Dr. designatus, indem er Göttingen verließ und nach Amerika auswanderte, wo er 1803 gestorben sein soll. Von Dorothea Thies hatte der junge Gatterer sich Ruhe erkauft, indem er für ihre heimliche Entbindung und die Alimente des ersten Lebensjahres aufkam. Im September 1798, als ihr Sohn Georg ›Lindner‹ bei Pflegeeltern ein Jahr alt geworden war, nahm sie ihn in die Lebensgemeinschaft auf, die sie inzwischen mit dem Goldschmied Mühlenpfort bildete: Von diesem erwartete sie damals ein Kind. Im Februar 1800 heirateten die beiden; so wurde das nächste Kind ehelich geboren, sieben weitere folgten. Mühlenpforts Stiefsohn führte zeitlebens den Namen Lindner; der Goldschmied bildete ihn in seinem Handwerk aus. Als der Junge 1818 auf Wanderschaft war, verklagte Mühlenpfort die Gatterer-Erben auf Zahlung der rückständigen Alimente. Das Göttinger Stadtgericht bat die Universitätsjustiz, den Direktor und die Hebamme des Entbindungshospitals als Zeugen zu befragen, ob ihnen bekannt war, »dass der Herr Dr. Gatterer mit der Dorothea Thies, jetzigen Ehefrau« des Klägers, »einen unehelichen Sohn erzeugt und denselben […] unter dem Namen Lindner habe taufen lassen«.40

37 Heerde (2006), S. 481, auch zum Folgenden. 38 Näheres zu diesem Prozess bei Schlumbohm (2013). 39 Im Durchschnitt promovierten die Mediziner in Göttingen damals mit 23 Jahren: Tröhler (2009), S. 259. Näheres zu Georg Gatterer und seinen fünf unehelichen Vaterschaften: Schlumbohm (2013). 40 UA Gö, Ger. D XL 83, auch zum Folgenden. Vgl. AUFK Gö, W 36 a, S. 34.

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Während man der 70-jährigen Hebamme glaubte, dass sie sich an nichts erinnerte, stellte die Vorladung Professor Osiander vor ein Dilemma. Er hatte Georg Gatterer seinerzeit zugesagt, seine Geliebte zur geheimen Entbindung anzunehmen, und die vereinbarten Zahlungen dafür erhalten (freilich unter Verzicht auf die Hälfte seines sonst üblichen Honorars). Doch wurde ihm kein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt, und einen Meineid konnte er nicht auf sich nehmen. Auch wirkte das Anliegen des Klägers berechtigt, und in Göttingen lebte niemand mehr von der Familie Gatterer. Er antwortete also, er erinnere sich, »dass der Dr. Gatterer sich einmal für eine Person interessiert habe, die von demselben schwanger sei«, und ihn »gebeten habe zu erlauben, dass diese Person im Accouchierhause niederkomme«. Weitere Einzelheiten, Namen und dergleichen wisse er nicht mehr, doch »aus seinem Geheimbuche« könne er »genauere Nachricht« geben. Das Universitätsgericht nahm das Angebot an, und Osiander übergab den kleinen Band. Durch Versiegelung verschlossen hatte er zuvor alle Seiten, die sich auf andere heimliche Entbindungsfälle bezogen – das zeigen die roten Lackspuren in dem Buch. Das Gericht ließ eine vollständige und (fast) wortgetreue Abschrift der Fallgeschichte von Henriette Debin, alias Dorothea Thies, anfertigen. So wurde die ›heimliche‹ Geburt nachträglich in eine ›vertrauliche‹ umgewandelt. In der nächsten Fallgeschichte hat Osiander die entscheidenden Personalangaben »aus Diskretion« unleserlich gemacht; offenbar zählten sie zu den »bedeutenderen Namen«.41

41 So erklärte der Sohn, Johann Friedrich Osiander, dem Nachfolger seines Vaters die Streichungen: AUFK Gö, W 36 a, Beilagezettel b. – Fall VI steht auf S. 35-39.

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Abb. 3: »Elisabetha Friederika P…, … musicus Carl … Tochter aus Hannover, 22 Jahr alt, mittl[erer] Statur, brauner Haare u[nd] Augen, gesund[en] Ausseh[ens], hochschwanger, geschwoll[ene] Füße«

Zu lesen ist nur, dass die hochschwangere Elisabetha Friederika P…, Tochter eines »musicus« aus Hannover, 22 Jahre alt, »auf Ersuchen des H[er]rn Pf[a]r[rers] Lindemann in Sudershausen«, einem Dorf 15 km nördlich von Göttingen, »als Geheimgebärerin ins Accouch[ier]hospital aufgenommen« wurde und am 24. Dezember 1800 um 12 Uhr »von Sudershausen« ankam. Sie gab an, »dass sie im Mai […] vom Hofküchenschreiber Johann Michael Schmidt in Hannover geschwängert worden sei; dass dessen Frau kränkl[ich] sei u[nd] dieser ihr die Ehe versprochen habe, auch für das Kind, das sie unter dem Herzen trage, Sorge haben wolle«. Am 27. Dezember bekam sie Besuch von einem »H[e]r[rn]«, zu dem drei Zeilen mit näheren Angaben gestrichen sind – was überrascht, da die Angaben zum Kindsvater ungeschwärzt dastehen. – »Ihr Leib war zum Zerplatzen ausgedehnt«, notierte der Geburtshelfer. Am 20. Januar 1801 meldete sie sich mit Wehen. Um 20:30 Uhr, als der Muttermund drei Finger weit geöffnet war, fühlte der Professor den »Hintern« vorliegend. Er dehnte den Muttermund weiter aus und »zog das Kind bei den Füßen, den K[o]pf mit der Zange hervor«. Aber es war noch ein zweites da. Auch das »holte« er »mit den Füßen u[nd] brachte beide lebendig zur Welt«, wie er stolz festhielt. Um 21:30 Uhr war die »Geburt vollendet«. Am 22. Januar wurden die beiden »blondhaarigen« Knaben auf die Namen Johann Friederich und Theodor Carl getauft. Für die Eintragung im Kirchenbuch nannte sich die Mutter »Frau Elisabetha Friederika, geb. Braun«; Vater sei »ihr Gatte Johann Michael Schmidt aus dem Waldeckschen«. Das eine Kind wurde in Nörten in Pflege gegeben, das andere bei der Tochter der Hospitalhebamme in Göttingen. Am 12. Februar holte ein Herr, dessen Name gestrichen ist, die Patientin ab. Offenbar war der Frau bewusst geworden, dass die Ehebruchsgeschichte, die sie zunächst erzählt hatte, zu heikel war, um sie in die Geburtsurkunde

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zu setzen. Das galt umso mehr, als der angegebene Kindsvater tatsächlich existierte: Der Hofküchenschreiber Johann Michael Schmidt ist im Hannoverschen Staatskalender verzeichnet.42 Doch was hat es mit dem Herrn auf sich, zu dem alle Angaben so sorgfältig getilgt sind? Versuche, diese Stellen mit technischen Mitteln lesbar zu machen, sind bisher gescheitert. Da die Tinte bei der Streichung ganz ähnlich war wie bei der ursprünglichen Eintragung, half die in der Palimpsestforschung bewährte Multispektralaufnahmetechnik ebenso wenig wie eine archivübliche Quarzlampe. So blieb nur der konventionelle Weg, einzelne Buchstaben – besonders solche mit Ober- oder Unterlänge – zu identifizieren und durch Schriftvergleich Wort für Wort zu erraten. So ergab sich schließlich, dass der geheimnisvolle Besucher und Abholer der Patientin niemand anderes war als »H[er]r cand. theol. Lindemann, des Pf[a]r[rers] zu Sudersh[ausen] Sohn, der bei H[er]r[n] Hofgerichtsassessor Meyer zu Hannover Hauslehrer ist«. Das Verzeichnis der Pastoren der Hannoverschen Landeskirche zeigt, dass Johann Gabriel Lindemann (1767-1814), der Sohn des Sudershausener Pastors, im Jahre 1801 zweiter Prediger an der Blasius-Kirche in Hannoversch Münden wurde. Der Nachruf im kirchlichen Nachrichtenblatt von 1814 erwähnt nicht nur, dass er zuvor Hauslehrer beim Hofgerichtsassessor Meyer in Hannover war, sondern auch, dass er sich im August 1802 – also im Jahr nach Erlangung der Pfarrstelle – mit »Elisabeth Friederike Preuß aus Hannover ehelich verbunden« hat. Die nochmalige Inspektion des »Geheimen Buchs« bestätigt, dass sie die Mutter der Anfang 1801 geborenen Zwillinge war und dass der Stand ihres Vaters »Hof- und Kammermusicus« lautete.43 Der Nachruf nennt Lindemann jun. »Vater von nach und nach 8 Kindern«. Doch im Mündener Kirchenbuch finden sich nur sechs Taufen, verteilt auf die Zeit von Juni 1803 bis Februar 1813. Das Register der Konfirmationen zeigt, dass 1815, im Jahr nach dem Tod des Vaters, an der Blasiuskirche die Zwillinge Carl Theodor und Johann Friederich Lindemann, geboren im Januar 1801, eingesegnet wurden.44 Johann Gabriel Lindemann und Elisabeth Friederike Preuß hatten sich offenbar während seiner Hauslehrerzeit in Hannover lieben gelernt – in den vier Jahren, die »er immer die glücklichsten seines Lebens nannte«. Heiraten konnten sie nicht, bevor er ein Amt hatte, das für die Ernährung einer Familie ausreichte. In einer Zeit, da die Kirche sich als Hüterin der Sexualmoral verstand und im Hannoverschen außereheliche Elternschaft noch 42 Königlich Groß-Britannischer Staats-Kalender (1803), S. 40.

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Churfürstlich

Braunschweig-Lüneburgischer

43 Als solcher war er Mitglied des 18-köpfigen Orchesters in Hannover: Königlich GroßBritannischer und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischer Staats-Kalender (1803), S. 44; auf S. 29 ist der Hofgerichtsassessor Johann Heinrich Meyer, Hannover, verzeichnet. – Meyer (1941-1953), Bd. 2, S. 157; Nachrichten von Kirchen- und Schulsachen (1814), S. 122-126, auch zum Folgenden. 44 Kirchenbücher von St. Blasii in Hann. Münden (Mikrofiche in KKA).

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mit öffentlicher Kirchenbuße sanktionierte45, hätte ein offenes Bekenntnis zu der vorehelichen Vaterschaft dem jungen Theologen vermutlich jede Aussicht auf eine Stelle genommen. Im September 1800 war die Vakanz des Mündener Pfarramts ausgeschrieben worden, am 18. Januar 1801 hatte Johann Gabriel Lindemann seine Bewerbung abgeschickt46 – zwei Tage vor der Geburt seiner Zwillinge. Die heimliche Niederkunft im Göttinger Hospital war der Ausweg aus dem Dilemma. Gangbar wurde er durch die Unterstützung der beiden Väter, des Pastors Lindemann sen. und des Hofmusikers Preuß; und das junge Paar dankte es ihnen, indem es sie bei der Taufe des ersten ehelichen Kindes zu Paten bat. Zuvor, während der Zeit, als Lindemann jun. im Februar 1801 seine Probepredigt in Münden hielt, im Juni zum zweiten Prediger gewählt, im Oktober in das Amt eingeführt wurde, mussten Frau und Kinder verborgen bleiben. Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt nach der Eheschließung holten Lindemanns die Zwillinge von den Pflegeeltern in ihren Haushalt. Bisher ist kein Beleg für eine Reaktion der kirchlichen Oberen oder der Gemeinde bekannt. Dass Johann Gabriel Lindemann in seinem Amt mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, wie der Nachruf andeutet, und dass ihm ein beruflicher Aufstieg versagt blieb, muss also seine Ursache nicht darin haben, dass er die Verantwortung für seine vorehelichen Kinder und deren Mutter übernahm. Die Frau, die Ende 1804, mehr als vier Monate vor dem Geburtstermin, aus Konstanz kam, ihren Ehemann als Kindsvater benannte, den Sohn aber mit einer Zahlung von 300 Talern der Göttinger Armenkasse übergab, mochte aufgrund dieser – im Aufnahmebuch des Hospitals überlieferten – Daten als eine verheiratete Dame erscheinen, die die Folgen eines Seitensprungs verbergen wollte.47 In einem anderen Licht stellt sich ihr Fall im »Geheimen Buch« dar. Die 26-jährige Maria Me(h)rerin kam nicht »aus Ko[n]stanz am Bodensee«, sondern »aus St. Gallen in der Schweiz«, und zwar »auf Empfehlung« des dortigen »Herrn Sanitätsrats Dr. Näf«, der auch die Wechsel nach Göttingen schickte. Der 1769 geborene Mediziner war Professor Osiander gut bekannt, hatte er doch nach einem Studium in Straßburg und langjährigen Diensten als Chirurg beim französischen und preußischen Heer sowie beim Grafen zu Stolberg-Wernigerode in Göttingen 1802 promoviert und während des viermonatigen Zweitstudiums drei Geburten im Accouchierhaus betreut.48 Im »Lila Buch« notierte Osiander, dass Maria Mehrer nicht Ehefrau, sondern »Haushälterin eines Kaufmanns« war »und von diesem […] zum ersten Mal schwanger«, und zwar seit Mitte April bzw., wie Osiander später korrigierte, Anfang August. Am 17. Dezember 45 Schlumbohm: Phantome (2012), S. 317ff. 46 Stadtarchiv Hann. Münden, MR 4257, auch zum Folgenden. 47 Vgl. Schlumbohm: Phantome (2012), S. 311. Zum Folgenden: AUFK Gö, W 36 a, Fall VII, S. 40-44, 58. 48 Promotionsakte mit CV: UA Gö, med. Dek. 1802; meine Datenbank (s. o., Anm. 24).

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1804 war sie im Göttinger Hospital eingetroffen; im Januar erkrankte sie und bekam »von Erkältung, Gram und Ärger und Überladung des Magens einen Anfall von St. Veitstanz, febris gastrica cum saltandi cupiditate et studio«, gastrisches Fieber mit Tanzwut. Osiander half mit Aderlass und Brechmittel. Am 25. April setzten die Wehen ein und, da die Geburt nicht voranschritt, entband der Professor sie am 26. morgens um 0:30 Uhr mit der Zange. Nur die Hospitalhebamme Herrenkind war zugegen, wie er im Protokoll hervorhob. Am 29. April wurde das Kind im Betzimmer des Hauses auf den Namen Carl August Mehrer getauft. Die Mutter nannte sich Maria Mehrerin – wie von Anfang an; als Vater ließ sie »Carl Mehrer, Musselinfabrikant in Ko[n]stanz« eintragen. Gleich am folgenden Tag holte die Frau des Tischlers Möbius aus Gladebeck den Säugling ab und nahm 2 ⅓ Taler, das Pflegegeld für den ersten Monat, in Empfang. Doch nach zwei Monaten wurde eine andere dauerhafte Regelung ausgehandelt. Die Göttinger Armenkasse »übernahm« das Kind »auf immer in die Pflege«; dafür war ein Pauschalbetrag von 300 Talern zu erlegen, »die Hälfte jetzt, die andere aufs Neujahr 1806«. Der Professor bürgte für die zweite Rate, und die Armenverwaltung brachte das Kind bei Göttinger Pflegeeltern unter. Nachdem Maria Mehrer so die Verantwortung für ihren Sohn einer angesehenen Institution übertragen hatte, reiste sie am 13. Juli 1805 »nach Kassel – Augsburg« usw. ab. Ungewöhnlicherweise begleitete die Hospitalhebamme sie bis Kassel. Da sich der Name Mehrer in den St. Galler Bürger- und Niederlassungsregistern bisher nicht finden ließ49, muss offenbleiben, warum die Geheimhaltung dieser Schwangerschaft und Geburt so wichtig war, dass die Frau, die sich Maria Mehrer nannte, sieben Monate in der Ferne weilte und jede auch nur finanzielle Verbindung zu dem Kind durch die stattliche Geldsumme ablöste. Immerhin verzichteten die Eltern so auf die Ersparnis beim Pflegegeld, die ein früher Tod ihnen gebracht hätte. Doch Carl August Mehrer überlebte die 14 Jahre der Kindheit. Dann aber starb er am 6. Mai 1819 an einem »Beinschaden« im Göttinger »Werkhaus«, wo neben erwachsenen Freiwilligen und »Zwangsarbeitern« auch Kinder mit Spinnen, Holzhacken und anderen Arbeiten beschäftigt wurden.50 Noch während Maria Mehrer in der »Hebammenstube« des Hospitals »logierte«, trafen zwei weitere Geheimgebärerinnen ein; sie bezogen nacheinander das Zimmer an der Südseite im Erdgeschoss. Die Frau, die nach längerer Reise am 8. Februar 1805 um 20 Uhr – also im Schutz der Dunkelheit – ankam, gehörte zu den Patientinnen, von denen der Direktor zu49 Für diese Auskunft (11./18.3.2013) danke ich Dr. Marcel Mayer, Stadtarchiv St. Gallen. 50 KKA, Kirchenbuch St. Johannis Göttingen, 1819, Nr. 27. Zum Werkhaus: Pütter/Saalfeld/Oesterley (1765-1838), Bd. 2, S. 359, Bd. 3, S. 591f.; Zahn (1972), S. 118ff., 127ff.

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nächst die Personalangaben im »Geheimen Buch« notiert, später aber gestrichen hat. Aufgenommen wurde sie »auf Ansuchen« eines Göttinger Herrn, dessen Stand und Name ebenfalls nachträglich unleserlich gemacht wurden. Sie trat als Madame Moller auf, war »groß[er] schlank[er] Statur, dunk[el]braun[er] Haare, längl[ichen] Gesichts« und – nach Osianders Empfinden – »männlicher Züge«. Sie hatte eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur menschliches Mitgefühl erregte, sondern mit präzisen Daten auch dem Forscherdrang des Geburtshelfers Nahrung bot: Schwanger geworden sei sie am »14. Mai 1804 morgens 1 Uhr am letzten Tag des Monatlichen z[um] 1. Mal, und zwar von einem Hannöv[erschen] Lieut[enant] (August N. N.), mit dem sie seit 2 Jahren versprochen gewesen«; es sei geschehen, als der Verlobte »bei ihr Abschied genommen habe, um nach England unter die Hannöv[ersche] Legion zu gehen.51 Um ihre Schwangerschaft so viel möglich zu verbergen«, hatte sie »ihren Leib sehr gebunden«. Diese Patientin wandte offenbar nichts gegen eine äußere und innere Untersuchung ein. So ermittelte der Professor gleich nach der Aufnahme die Kindslage, fand auch ihre Aussage bestätigt: »Die Bauchhaut straff als einer Erstgebärerin« und »Muttermund […] ohne Narben«. Am 13. Februar entband er sie nach langen und schmerzhaften Wehen mit der Zange, wobei die Hospitalhebamme und eine Schülerin assistierten. Es war ein »Knabe mittelmäßiger Größe« – die Kinder der zahlenden Patientinnen wurden weder gemessen noch gewogen. Wohl aber schlug Osiander den Konzeptionstermin in seinem Kalender nach und fand seine bereits mit empirischer Evidenz untermauerte Hypothese bestätigt, dass bei zunehmendem Mond in der Regel Knaben gezeugt werden.52 Am 17. Februar wurde das Kind auf den Namen Franz August getauft, die Mutter nannte sich Augusta Moller aus Bettmar, Vater sei der Offizier Wilhelm August Osthaus aus Wintzingerode. Am folgenden Tag kam Frau Möbius aus Gladebeck und nahm den Knaben »von der D[e]m[oiselle] Moller selbst in Empfang«, ebenso – wie üblich – den Taufschein, der als Personenstandsurkunde die Pflegeeltern legitimierte. Als Kostgeld wurden 2 Taler pro Monat vereinbart. Osiander erhielt es von einem Herrn Klingsöhr, der dafür die Quittung von Möbius verlangte. Am 2. März reiste Madame Moller ab, bis zum nahen Dorf Weende begleitet von der Hebammenschülerin, die bei der Geburt geholfen hatte. Die genaue Betrachtung der gestrichenen Wörter ergibt, dass die Standesangabe des Göttinger Herrn wohl mit einem »P« beginnt und als dritten und vierten Buchstaben ein »st« enthält. Unter den damaligen Göttinger Pastoren findet sich jedoch keiner, dessen Name zu dem durchstrichenen Schriftbild passt. Die Postbedienten listet der Hannöversche Staatskalender 51 Zu den hannoverschen Truppen, die als Deutsche Legion von England aus den Kampf gegen Napoleon fortsetzten: Schwertfeger (1907). – Dies ist Fall VIII in AUFK Gö, W 36 a, S. 45-48. 52 Dazu Schlumbohm: Phantome (2012), S. 265f.

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auf, für Göttingen neben vier anderen den Postschreiber Georg August Julius Klingsöhr53 – offenbar den Mann, der Osiander das Pflegegeld zustellte. Der Vergleich des gestrichenen und des ungestrichenen Namenszuges zeigt, dass es der Herr »Postschreiber Klingsöhr« war, der den Hospitaldirektor um Aufnahme der Geheimgebärerin ersuchte, und dass Madame Moller für Osiander »sine dubio«, ohne Zweifel, »eine demoiselle Klingsöhr« war, also eine Verwandte des Ansuchenden, die nicht in Göttingen wohnte. Der Professor scheint ihn nicht für den Kindsvater gehalten zu haben, sondern für einen Angehörigen, der der jungen Frau in ihrer Notlage die Möglichkeit der anonymen Geburt vermittelte. Ob es sich so auch bei der nächsten Geheimgebärerin verhielt, bleibt ungewiss, zumal Osiander ihren wirklichen Namen von vornherein nur in abgekürzter Form eintrug. Am 30. März 1805 ab[ends] 6-7 [Uhr] kam D[e]m[oi]s[e]l[le] Cl. unter dem Namen Madame Evel auf dem Hospital an […]. Sie wurde auf Verlangen des Herrn Amtmann[s] Cleve aus Fredelsloh, der den 22. Dezemb[er] 1804 deswegen bei mir hier war und deshalb Verabredung mit mir nahm, Sonnabend nachmittags 3-4 Uhr mit einem Wagen, der von hier aus weggeschickt wurde, zu Angerstein in der Sonne abgeholt.

Ludwig Christian Siegfried Cleve, seit zehn Jahren Pächter des Klosterguts in Fredelsloh54, 30 km nördlich von Göttingen, war also der Mann, der die Dinge diskret regelte und die Schwangere mit ihrem »Koffer« in dem Gasthof 10 km vor Göttingen abholen ließ. Der Professor schätzte ihr Alter auf 30 bis 40 Jahre und notierte als unveränderliches Merkmal »in der oberen Kinnlade vornen Zahnlücken«. Die Patientin traf Vorsorge für alle Eventualitäten. Am 16. April übergab sie Osiander »ein versiegeltes Paket«, das der Aufschrift nach 60 Taler enthielt, sowie einen versiegelten Brief […] mit der Aufschrift: »Im Fall, die Madame Evel wider Verhoffen mit Tode abgehen sollte, solange dieselbe sich in Göttingen aufhält, werden der Herr Professor Osiander ersucht, diesen Brief zu erbrechen, sonst aber unerbrochen derselben bei ihrem Abgange zurückzugeben.«

Er konnte ihr ungeöffnet wieder ausgehändigt werden. Während des Aufenthalts im Hospital achtete sie sorgfältig darauf, nicht gesehen zu werden: Sie »war immer auf ihrem Zimmer«, und es »kam niemand zu ihr« außer Osiander, dem »Hausmädchen«, der Hospitalhebamme und deren verwitweter Tochter, die die Wochenbettpflege übernahm. Erst als am 1. Mai die Wehen einsetzten, untersuchte der Geburtshelfer sie »zum ersten Mal«. Als sie sich nach mehr als fünf Stunden Wehen »nach Entbindung sehnte«, brachte Osiander »mit 8-10 Trakt[ionen]« der Zange einen »ziemlich starken Knaben« zur Welt. Zwei Tage danach wurde das 53 Königlich Groß-Britannischer Staats-Kalender (1803), S. 246.

und

Churfürstlich

Braunschweig-Lüneburgischer

54 Zu ihm: Böhme/Scholz/Wehner (1992), S. 252f. – Dies ist Fall IX in AUFK Gö, W 36 a, S. 49-53.

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Kind auf die Namen Christian August getauft; die Mutter nannte sich nun Eleonora Augusta Maiern aus Hannover, den Vater Christian Evel. Am nächsten Tag holte die Frau des Gladebecker Leinewebers Albrecht das Kind zur Pflege ab und nahm gleich die 2 ⅓ Taler für den ersten Monat sowie den Taufschein in Empfang. Bald darauf reiste Madame Evel ab, und zwar »mit einer Chaise«, einer leichten Kutsche, nach Hann. Münden, also nach Süden. Offenbar kannte Osiander den wirklichen Nachnamen dieser Geheimgebärerin. Die Abkürzung »Cl.« deutet ebenso wie das Pseudonym Evel, wenn man es rückwärts liest, auf Cleve. Man könnte an Sophia Leopoldina Dorothea Cleve denken, die am 3. Oktober 1765 geborene Schwester des Fredelsloher Amtmanns. Half dieser schlicht in brüderlicher Fürsorge oder gab es ein ernsteres Geheimnis hinter dieser Schwangerschaft? Jedenfalls befand der Amtmann sich 1804 in einer schwierigen Familienlage. Seine Frau war im Alter von 30 Jahren am 22. September 1803 »an den Folgen der Entbindung von einem totgeborenen Sohn« gestorben. Hat ihm danach vielleicht die Schwester den Haushalt geführt? Am 30. Dezember 1804 heiratete er wieder – eine Woche, nachdem er »Madame Evel« im Göttinger Hospital angemeldet hatte.55 Obwohl der Professor in diesem Fall anscheinend wenig Mühe auf die Verschlüsselung verwendete, haben die Beteiligten das Geheimnis der Vaterschaft zu bewahren gewusst. Das »Frauenzimmer von c[ir]c[a] 20-21 Jahren«, das am Abend des 5. Februar 1819 zur heimlichen Geburt im Hospital eintraf, hat seine Identität konsequent selbst vor dem Direktor verborgen. Der Herr, der die Schwangere begleitete und für die Kosten geradestand, stellte sich als J. F. Trautmann aus Elxleben in der Gegend von Erfurt vor und gab sich als ihr Onkel aus. Mehrere Wochen zuvor hatte er Osiander in Göttingen aufgesucht und mit ihm und dem Verwalter die Bedingungen ausgehandelt. Da er ihren Namen, Herkunft, Wohnort nicht angeben wollte, so hinterlegte er 1.000 T[a]l[er] in Schuldverschreibungen [des] Kurfürst[entums] Mainz, deren Zinsen in Erfurt bezahlt werden, mit dem Beisatz »Als Unterpfand für einen unerwarteten Todesfall der Friederika Trautmann«

– unter diesem Pseudonym trat sie auf. In der Nacht auf Sonntag, 14. Februar, »verspürte« sie »Wehen, sagte aber niemand etwas davon« – ein merkwürdiges Verhalten, da sie als zahlende Patientin nicht zu befürchten hatte, zum Lehrobjekt für Studenten gemacht zu werden. Nach Mitternacht wurde sie von den Geburtsschmerzen so »ergriffen, dass sie endlich pochen und rufen musste«. Zunächst kamen offenbar die Haushebamme und eine Schülerin, die später die Pflege im Wochenbett übernahm; um 4 Uhr stieg der Professor aus seiner Dienstwohnung im zweiten Obergeschoss hinab, ließ sie aus dem Bett in den Geburtsstuhl bringen und »empfing« bald nach 5 Uhr eigenhändig »ein zart gebautes, ihr viel ähnliches gesundes Mäd55 KKA, Kirchenbuch von Göttingen-Weende, Taufen 1765, Nr. 34; Kirchenbuch von Fredelsloh, Beerdigungen 1803, Nr. 24f., und Heiraten 1804 (Mikrofiches in KKA).

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chen«. Am nächsten Sonntagnachmittag wurde es vor dem Bett der Wöchnerin Franziska Juliana getauft. Als Pate hielt es der Hospitalverwalter; Osiander und seine 23-jährige Tochter waren ebenfalls anwesend. Ins Kirchenbuch ließ die Mutter Adam Moritz Trautmann, Ökonom in Elxleben bei Erfurt, als Vater eintragen, sich selbst als Madam Friederike, geb. Bergen.56 Die letzte Geheimgebärerin aus Osianders Amtszeit, Jeanette Schütte aus dem hessischen Wolfhagen, gab ihre Personalien ebenso an wie der Vater ihres Kindes, der sie zur Entbindung im Hospital anmeldete: der »Kaufm[ann] u[nd] Porzellainfabrikant Martin Völkel zu Großalmerode in Hessen«. Am 30. Juli 1819 eingetroffen, wurde sie am 6. September vom Direktor in Gegenwart der Hospitalhebamme und einer Schülerin »entbunden von einem leb[endigen] Mädchen, das sie nicht stillete«. Am 12. wurde es »in des Verwalters Nebenstube« Lydia Margaretha getauft, und zwar, entsprechend der Konfession der Mutter, von dem reformierten Geistlichen. Auch in das Kirchenbuch wurden die Namen der Eltern korrekt eingetragen und die Geburt als unehelich markiert. Anscheinend hielten beide den Abstand von 40 km und die dazwischenliegende Landesgrenze für einen ausreichenden Schutz vor Indiskretion. »Auf Verlangen der Mutter« gab der Hospitalverwalter das Kind in Gladebeck in Pflege. Jeanette Schütte aber »wurde wahnsinnig, weil sie sich zu bald der Luft exponierte und schon einmal Jahr und Tag wahnsinnig gewesen war«. Sie »musste gebunden« und »durch den H[er]rn Völkel d[en] 19. Sept[ember] in einem Wagen weggebracht« werden. Ihre Tochter starb in Gladebeck am 29. September morgens um 3 Uhr.57 In der ersten Fallgeschichte des Bandes, die eine heimliche Entbindung im Jahr 1794 betrifft und 1797 nachträglich eingetragen wurde, hat Osiander größere Partien unleserlich gemacht.58 Offenbar war sie in mehr als einer Hinsicht delikat. Die Beteiligten gehörten den höheren Ständen an, und die Geheimgebärende war verheiratet, gab für das Kirchenbuch Namen, Wohnort und Stand falsch an. Natürlich wurde das Kind nahe Göttingen in Kost gegeben. Doch suchte die Mutter eine gute und teure Pflegestelle aus und hielt während der 15 ½ Jahre, die ihr Sohn dort lebte, zumindest indirekt Kontakt. Dann vermittelte sie ihn auf ein Gut in der Oberlausitz, wo er die »Ökonomiegeschäfte« lernte, jedoch 1813 starb. Das erfuhr Osiander, offenbar aufgrund andauernder Verbindung zu der Mutter.

56 AUFK Gö, W 36 a, S. 61-63; KKA, Kirchenbuch St. Albani Göttingen, Taufen 1819, Nr. 9. 57 AUFK Gö, W 36 a, S. 65; Kirchenbuch der ref. Gemeinde Göttingen, Taufen 1819, Nr. 27, und Kirchenbuch von Gladebeck, Beerdigungen 1819, Nr. 10, mit Todesdatum 2.10.1819 (Mikrofiches in KKA). Zu der damals bedeutenden Steingutfabrik Rüppel & Völkel in Großalmerode: Borchard (1924), S. 31f. 58 AUFK Gö, W 36 a, S. 7-17.

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Vielfältige Problemlagen – eine Lösung: die heimliche Geburt Obwohl die Zahl der heimlichen Entbindungen im Göttinger Hospital nicht groß war, lassen die Einzelheiten der Fälle erkennen, dass die beteiligten Frauen und Männer aus verschiedenen Gründen, in differenzierter Weise und mit unterschiedlichen Folgen dies Angebot nutzten. Natürlich waren all diese Schwangerschaften außerehelich. In einem Fall war die Mutter des erwarteten Kindes verheiratet, der Vater wahrscheinlich in mehreren – doch wird das in Osianders Fallgeschichten nicht explizit angesprochen. Bei acht der zehn Geheimgebärerinnen war der Professor offenbar überzeugt, dass sie ihm ihre richtigen Personalien mitteilten; in einem Fall notierte er den Namen jedoch nur in abgekürzter Form, bei drei weiteren machte er ihn nachträglich unleserlich. In die Personenstandsurkunde hingegen, das Kirchenbuch, ließ nur eine Mutter alle Informationen über sich, den Vater und die Unehelichkeit des Kindes wahrheitsgetreu einsetzen. Die Frauen bauten also darauf, dass der Hospitaldirektor die teuer bezahlte Vertraulichkeit wahrte. In der Tat scheint er das getan zu haben – abgesehen von der Ausnahme des Gatterer-Sohnes. – Georg Gatterer war der Einzige, der sich gegenüber Osiander ausdrücklich als Kindsvater bekannte. Doch bei mehreren der Männer, die die Schwangeren anmeldeten und/oder in die Klinik begleiteten, war der Professor recht sicher, dass sie Vater des erwarteten Kindes waren. Nicht alle stellten sich namentlich vor, selbst wenn sie persönlich im Hospital erschienen. All das akzeptierte der Direktor, wenn ausreichende Sicherheit für die Bezahlung geleistet wurde, einschließlich des Pflegegelds für das Kind im stets denkbaren Fall, dass die Mutter starb. Da es darum ging, die Schwangerschaft und Geburt zu verheimlichen, musste das Kind anschließend Pflegeeltern übergeben werden. Am deutlichsten ist bei Maria Mehrer und ihrem Liebhaber die Absicht, jeden späteren Kontakt zu dem Sohn zu vermeiden, um das Geheimnis dieser Geburt sicher zu bewahren. Bei den meisten wird sich die Verbindung auf die Bezahlung des Kostgeldes beschränkt haben, und diese lief in der Regel vorsichtshalber über Mittelsleute. Doch Maria Lehmann begab sich nach der Entlassung aus dem Hospital in das Dorf, wo sie ihre Tochter untergebracht hatte, und die verheiratete Frau, die 1794 den außerehelichen Sohn zur Welt brachte, kümmerte sich anscheinend aus der Ferne bis zu seinem Lebensende um ihn. Johann Gabriel Lindemann und Elisabeth Friederike, geb. Preuß, nahmen die vorehelichen Zwillinge in ihren Haushalt auf, nachdem er ein Amt bekommen hatte und sie heiraten konnten. Das Gegenbild liefert Georg Gatterer, der das Alimentationsgeld nur für das erste Jahr zahlte, um sich dann den Pflichten gegenüber seinen Kindern und deren Müttern durch Auswanderung zu entziehen. Wenn Professor Osiander die Geheimgebärenden nicht vollständig anonym annahm, sondern für sich und sein »Geheimes Buch« zumindest von einem der Beteiligten richtige Personalangaben verlangte, so ging es dabei keineswegs um das Recht des Kindes, eines Tages seine Herkunft und Abstam-

Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander

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mung zu erfahren. Vielmehr bestand das elementare Ziel darin, das Überleben des Kindes, konkret die Bezahlung des Pflegegeldes, zu gewährleisten. – Die Frauen, die als zahlende Patientinnen zur heimlichen Entbindung in das Göttinger Hospital kamen, waren nicht auf sich allein gestellt. Durchweg wurden sie vorher angemeldet, vom Kindsvater, einem Verwandten oder einem Mittelsmann; die meisten kamen nicht ohne Begleitung. Alle hatten praktische und finanzielle Unterstützung, oft von dem Vater ihres Kindes, sonst von einem Angehörigen. Auf sich allein gestellt in der schwierigen Zeit vor, während und nach der Geburt – wie es heute typischerweise die Frauen sind, die ihr Kind anonym oder vertraulich zur Welt bringen oder abgeben wollen – waren damals eher die Frauen, die als Gratispatientinnen in die Gebärklinik gingen.59

59 Schlumbohm: Phantome (2012), S. 269-388.

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Bibliographie Archivalien Bibliothek der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen: Archivmaterialien aus dem Bestand der Universitäts-Frauenklinik der Universität Göttingen (AUFK Gö) Aufnahmebuch, Bd. 1, 2 Tagebuch, Bd. 1828 W 17; W 36 a Evangelisch-lutherisches Kirchenkreisarchiv und Kirchenbuchamt Göttingen (KKA) Kirchenbücher St. Albani Göttingen Kirchenbücher St. Crucis Göttingen Kirchenbücher St. Johannis Göttingen Kirchenbücher der ref. Gemeinde Göttingen (Mikrofiches) Kirchenbücher von Göttingen-Weende Kirchenbücher von Fredelsloh (Mikrofiches) Kirchenbücher von Gladebeck (Mikrofiches) Kirchenbücher von St. Blasii in Hann. Münden (Mikrofiches) Universitätsarchiv Göttingen (UA Gö) Ger. D XL 83 med. Dek. 1802 Stadtarchiv Hann. Münden MR 4257

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Das »Geheime Buch« des Dr. Friedrich Benjamin Osiander

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Jürgen Schlumbohm

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Eine »Pflicht der Humanität und Ehre der deutschen Judenheit«: Die »Schwachsinnigenfürsorge«1 am Beispiel der Israelitischen Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder Wilhelm-Auguste-Victoria-Stiftung in Beelitz e. V.* Claudia Prestel Summary A “humanitarian duty and a matter of honour for German Jewry”: “Feeble-minded” Jewish children and the Institution in Beelitz In 1908, in collaboration with the Bnei Briss, the German Association of Israelite Communities founded an institution for intellectually disabled Jewish children in Beelitz with the aim of educating 7-14-year-olds, using therapeutic pedagogy. The institution was part of the philanthropic efforts undertaken by German Jewry in that period. It was set up in the wake of the German Kaiser’s call to found more philanthropic institutions, and its establishment is indicative of the efforts at integration being made by German Jewry. In their fund-raising material, the German Association of Israelite Communities stressed the “loyalty and patriotism” of German Jewry and described the establishment of the institution as “a humanitarian duty” and “a matter of honour for German Jewry”. It was, therefore, demands from the non-Jewish world that led to the foundation of a Jewish institution; however, its establishment was also symbolic of the struggle against anti-Semitism and indicative both of German Jewry’s dissimilation and their efforts at integration. The article investigates the struggle of Jewish parents to have their children admitted to the institution, the philosophy and teaching methods of the director Sally Bein (1881-1942) and his wife Friederike Rebeka Bein (1883-1942), the background of the students, the causes of intellectual disability, as well as the disagreements that occurred between parents, teachers and the director. The article also discusses the successes and failures of therapeutic pedagogy. The article contributes to the wider discourse on the health of German Jewry, their role in social work and their attitude towards eugenics.

Einführung Der 1869 gegründete Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB)2 schuf 1908 in Zusammenarbeit mit der Bne Briss-Großloge für Deutschland3 die *

Dieser Artikel entstand während meines von der University of Leicester gewährten Freisemesters. Ich danke der Monash University, Melbourne (Australien), für die Unterstützung, die es mir ermöglichte, diesen Artikel mit Blick aufs Meer, in Ruhe und intellektueller Atmosphäre zu schreiben. Gedankt sei auch der British Academy, die mir mit einem Stipendium eine Forschungsreise nach Berlin finanzierte. Mein Dank geht auch an Friedrich Voit (University of Auckland) für seine kritischen Anmerkungen.

1

Dieser zeitgenössische Begriff ist nun diskriminierend. Daher verwende ich ihn nur in Anführungszeichen und wenn die Quellennähe dies erfordert.

2

Der DIGB war der Dachverband von ca. 800 jüdischen Gemeinden Deutschlands zur Förderung des sozialen, wissenschaftlichen und ethischen Lebens. Er engagierte sich

MedGG 32  2014, S. 167-206  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Claudia Prestel

Israelitische Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder WilhelmAuguste-Victoria-Stiftung in Beelitz e. V., die bildungsfähige Knaben und Mädchen im Alter von 7 bis 14 Jahren aus ganz Deutschland aufnahm4. Anhand von reichhaltigem Archivmaterial, vor allem der Korrespondenz zwischen dem Direktor der Anstalt, dem DIGB, den Eltern und staatlichen Stellen, sollen im Folgenden die Fürsorge für geistig behinderte Kinder sowie deren Herkunft einer Analyse unterzogen werden. Das Heim in Beelitz war ein Wohlfahrtsprojekt, dessen Errichtung auch Indiz für die Integrationsbestrebungen der deutschen Juden und Jüdinnen war, hatte doch der Kaiser zur Gründung wohltätiger Stiftungen anlässlich seiner silbernen Hochzeit aufgerufen, weshalb das Heim auch den Namen des kaiserlichen Paares trug.5 Trotzdem hatte der DIGB einige Schwierigkeiten, die Mittel aufzubringen, und befürchtete negative Konsequenzen, wenn die jüdische Gemeinschaft sich verweigere, dem »Beherrscher Preussens und des deutschen Reiches bei einer sein Herz so besonders bewegenden Gelegenheit ihre Loyalität und ihren Patriotismus zu bezeugen«.6 Die Gründung der Anstalt wurde nicht nur als eine »Pflicht der Humanität« deklariert, sondern es war auch die Rede von der »Ehre der deutschen Judenheit«.7 Somit waren Erwartungen von nichtjüdischer Seite ein Grund, warum die jüdische Gemeinschaft sich der Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung widmete. Das Recht auf Erziehung auch behinderter Kinder hatten die deutschen Staaten zudem erst einige Jahre vorher gesetzlich verankert.8 Im Gegensatz zur christlichen Mehrheitsgesellschaft, wo die evangelische Innere Mission und später auch die katholische Caritas9 erste Anstalten für geistig behinderte Kinder bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten10, war somit die deutsch-jüdische Gemeinschaft nicht vor allem im Wohlfahrts- und Erziehungswesen. 3

Der Bne Briss (Söhne des Bundes), eine jüdische Freimaurerloge, war ursprünglich 1843 in New York gegründet worden. In Deutschland entstand 1882 der Unabhängige Orden Bne Briss (UOBB) – Großloge für Deutschland, der bis 1932 102 Logen mit ca. 15.000 (männlichen) Mitgliedern des deutsch-jüdischen Bürgertums umfasste.

4

CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984.

5

Paetz (1996), S. 311.

6

CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991.

7

CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991.

8

Möckel (2007), S. 89. Sachsen regelte als erster deutscher Staat 1873 die Unterrichtspflicht für gehörlose, blinde und geistig behinderte Kinder in einem Gesetz. In Preußen überließ der Staat die Gründung von Erziehungsanstalten für geistig Behinderte der Privatwohltätigkeit. Möckel (2007), S. 108f. Erst seit 1893 mussten in Preußen die Provinzen für mittellose »Geisteskranke«, »Idioten« und »Epileptische« sorgen. EllgerRüttgardt (2008), S. 144.

9

Bradl (1991), S. 231.

10 Schrapper/Sengling (1988), S. 61.

Eine »Pflicht der Humanität und Ehre der deutschen Judenheit«

169

führend auf dem Gebiet der »Schwachsinnigenfürsorge«. Der Plan, auch christliche Kinder aufzunehmen, könnte als Indiz für Akkulturationsbestrebungen interpretiert werden, wenn es auch scheint, dass es nie dazu kam.11 Heilpädagogik, d. h. der Versuch helfender Erziehung von blinden, gehörlosen, körperlich und geistig behinderten Kindern und Jugendlichen, stand nicht nur im Zeichen der Integration, sondern diente auch dem Kampf gegen Antisemitismus. Rabbiner Dr. Wilhelm Neumann, Generalsekretär des DIGB, führte aus, dass Fürsorger und Fürsorgerinnen, Psychologen, Psychiater und Kriminalisten die Gesundheit der Nation durch Schwachsinnige gefährdet sahen, da ein hoher Prozentsatz von Prostituierten und Kriminellen geistig behindert sei. Da auch 25 Prozent der jüdischen Fürsorgezöglinge12 »imbecill, debil oder in anderer Beziehung psychopathisch«13 seien und somit den Ruf der jüdischen Gemeinschaft schädigten, unterstützte er die Geistigbehindertenfürsorge. Neumann stempelte geistig behinderte Menschen als »von Natur« aus »antisozial« ab, weswegen sie prädestiniert für Verbrechen seien. Deshalb war er auch skeptisch, was die Versuche der Heilpädagogik anging, aus diesen Kindern und Jugendlichen »wertvolle« Mitglieder der Gemeinschaft zu machen. Aber wenigstens könne man sich bemühen, »in die Tiefen geistigen Kerkers der unglücklichen Kinder einiges 11 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 12 In Preußen kamen Kinder und Jugendliche seit dem Gesetz vom 1. Juli 1900 in Fürsorgeerziehung, wenn entweder die Gefahr der Verwahrlosung bestand oder aber sie bereits eine strafbare Handlung begangen hatten. Dieses Gesetz ordnete auch eine Trennung der Fürsorgeerziehung nach Konfessionen an. Der DIGB hatte daraufhin 1901 bzw. 1902 zwei nach Geschlechtern getrennte jüdische Fürsorgeerziehungsanstalten in Repzin bzw. Köpenick eingerichtet. Siehe dazu Prestel (2003). 13 Der Begriff der Psychopathie wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt und erhielt nie eine klare Definition. Der Psychiater J. L. A. Koch sprach in seiner 18911893 veröffentlichten mehrbändigen Arbeit »Die Psychopathischen Minderwertigkeiten« davon, dass es sich dabei zwar nicht um eine Geisteskrankheit handele, jedoch seien Psychopathen nicht im Vollbesitze ihrer geistigen Normalität und Leistungsfähigkeit. Er argumentierte, dass diese »Minderwertigkeit« entweder angeboren oder aber erworben sei, während spätere Psychiater oft die Ansicht von der Erblichkeit psychopathischer Erkrankungen vertraten, womit die Psychopathen auch in das Zentrum rassenhygienischer Aufmerksamkeit traten. Kremer (2002), S. 29. Der Oberarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité, Franz Kramer, definierte Psychopathie 1921 auf einer Tagung des Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen so: »Es handelt sich um Anomalien auf dem Gebiete des Affektlebens, des Willenlebens, der ethischen Empfindungen, des Trieblebens, um Kinder, bei denen die normale Unterordnung des Trieblebens unter den Intellekt trotz ausreichender intellektueller Entwicklung nicht stattgefunden hat, so dass das Triebleben eine besondere Selbständigkeit bewahrt.« Beddies (2007), S. 102. Zum Begriff siehe auch die Dissertation von Kölch (2002). Psychiater, Sozialarbeiter sowie Erzieher verwendeten diesen Begriff häufig, um Kinder und Jugendliche – vor allem Fürsorgezöglinge – zu kategorisieren und auszugrenzen, die sich den Erziehungsversuchen widersetzten. Dickinson (1996), S. 198. Psychopathen galten als gesellschaftsschädigend, asozial, verwahrlost und delinquent. Möckel (2007), S. 259.

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Licht, sogar einige Freiheit zu tragen« und sie zu »beschränkt brauchbaren Gliedern der menschlichen wie der jüdischen Gemeinschaft« zu erziehen, damit das Ansehen Letzterer keinen Schaden leide.14 Gleichzeitig kann die Gründung einer jüdischen Anstalt auch als Zeichen der Dissimilation interpretiert werden. Jüdische Eltern befürchteten zu Recht, dass die jüdische Identität ihrer Kinder in christlichen Anstalten vernachlässigt wurde, denn dort ginge den Kindern »das Wenige was sie vom Judenthum wissen noch verloren«.15 Sie waren zu finanziellen Opfern bereit, um die jüdische Identität ihrer Kinder sicherzustellen16, und zogen Institutionalisierung der Unterbringung in einer (oft christlichen) Pflegefamilie vor, obwohl Ersteres kostspieliger war17. Auch die (teuren) Privatanstalten zeigten oft wenig Toleranz jüdischen Kindern gegenüber. Eine jüdische Anstalt diente daher dem Schutz der Kinder vor Antisemitismus.18 Durch die Errichtung eines jüdischen Heimes konnten sich Eltern auch der staatlichen Kontrolle entziehen, die sie zwang, ihre Kinder in einer christlichen Anstalt zu institutionalisieren.19 Der Arzt Erich Simons aus Köln, der eine reiche Erfahrung mit geistig zurückgebliebenen Kindern hatte, wies auf den Zusammenhang zwischen Psyche und Gesundheit und die Auswirkungen eines christlichen Milieus auf das Wohlbefinden der Kinder hin. Er argumentierte, dass selbst in »mustergültigen« Anstalten, wo die Leiter mit »rührender Opferfreudigkeit dem Kind alles Notwendige« geben würden, »ihr Herz« trotzdem unfähig sei, die »Rührung des jüdischen Kindes« zu verstehen. Nichtjüdische Anstaltsleiter mussten seiner Überzeugung nach scheitern, da die christliche Religion in einem jüdischen Kinde niemals dieselben Empfindungen hervorrufen könne, wie es in einem jüdischen Milieu möglich sei. Im Gegensatz zu philantropischen Bestrebungen, die lediglich 14 Referat gehalten am 14. März 1907. In: Bericht der Großloge für Deutschland (April 1907), H. 3, S. 28-30. 15 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 16 Der Vater des 16-jährigen Georg Lewy, der das Aufnahmealter bereits überschritten hatte, bot der Anstalt 10.000 Mark, falls das Kuratorium eine Ausnahme machen würde. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 17 So beliefen sich 1905 die Pflegekosten für den achtjährigen Felix Schaye in Bendorf auf neun Mark monatlich, während 1906 die Unterbringungskosten in Beelitz 600 Mark jährlich betrugen. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 18 Schreiben des DIGB an die Großloge, 8. Januar 1907. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. In der 1888 in Idstein von (teilweise konvertierten) Juden und Christen gegründeten Heilerziehungsanstalt Kalmenhof waren jüdische Kinder und Erwachsene wohl am ehesten vor Antisemitismus geschützt, da der Verein, der die Anstalt betrieb, jüdische, evangelische und katholische Mitglieder hatte und »Schwachsinnige, Blödsinnige und Epileptische« jeglicher Konfession aufnahm. Schrapper/Sengling (1988), S. 79. 19 Als 1910 ein neunjähriger Knabe in Baden nach zweijährigem Schulbesuch in eine sogenannte »Idiotenanstalt« verbracht werden sollte, weigerten sich die Eltern, das Kind einer christlichen Anstalt zu übergeben. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

Eine »Pflicht der Humanität und Ehre der deutschen Judenheit«

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eine »Abladestelle für jüdischen Rachmones«20 seien, plädierte er für die Anwendung von »praktisch pädagogischen, naturwissenschaftlichen, experimentell-psychologischen und medizinischen Studien« in einem jüdischen Heim21. Für ihn war also die jüdische Tradition nicht nur eine Voraussetzung im Heilungsprozess, sondern nur diese gewährte zusammen mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen den Erfolg der Heilpädagogik. Trotz des zeitgenössischen Interesses an geistig Behinderten wurde die Anstalt mit nur knappen Mitteln errichtet.22 Beim Heim in Beelitz handelte es sich um ein Wohltätigkeitsinstitut, an dem nur wenige engagierte Juden und Jüdinnen sowie einige Christen als Sponsoren Interesse zeigten. Der Direktor Sally Bein (1881-1942), ein ausgebildeter Volks- und Taubstummenlehrer23, musste um jede wichtige Anschaffung wie Telefon24, Badewannen25, Spielzeug26 oder ein Musikinstrument kämpfen, ebenso um ein angemessenes Gehalt sowie Krankenversorgung und Alterszulagen27. Es gab allerdings eine Warmwasserversorgung und elektrische Beleuchtung, was in den Berichten stolz als moderne Einrichtung gepriesen wurde. Die Arbeit der Ehefrau des Direktors war unerlässlich für das Funktionieren der Anstalt, wenn sie auch in den Quellen wenig sichtbar wird. Friederike Rebeka Bein, geborene Löwenstein (1883-1942)28, war eine ausgebildete Taubstummenlehrerin 20 Rachmones ist das jiddische Wort für Mitleid. Simons verwendet es hier wohl, um die Überlegenheit der professionellen Geistigbehindertenpädagogik gegenüber der gefühlsbetonten Wohltätigkeit zu unterstreichen. 21 Simons plante, in Köln ein heilpädagogisches Kurheim zu errichten. CAHJP, D/Da1/505. 22 Die Kosten für den Bau der Anstalt beliefen sich auf 120.000 Mark, die von den jüdischen Gemeinden und durch Spenden aufgebracht wurden. Paetz (1996), S. 311. 23 Zwischen Taubstummen- und Schwachsinnigenpädagogik bestand eine enge Verbindung. Ellger-Rüttgardt (2008), S. 88. 24 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 25 Es gab nur eine Badewanne. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Gebadet wurde am Freitagnachmittag. Jeden Abend wurde der Oberkörper gewaschen. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 525. 26 Am 26. November 1908 bat daher der DIGB den Erziehungsinspektor in Dalldorf um Vorschläge, da bei »schwachsinnigen Kindern das Spielzeug von besonders pädagogischem Werte« sei. Allerdings fehlte es auch an »unpädagogischem Spielzeug […] noch vollkommen«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 27 Bein verdiente zuvor als Taubstummenlehrer wesentlich mehr (das Anfangsgehalt lag bei jährlich 2400 Mark). Ursprünglich hätte er 150 Mark im Monat erhalten sollen, wozu noch 25 Mark für seine Frau kamen. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Im Vergleich dazu bezog in der 1887 in Volmerdingsen (Westfalen) gegründeten Anstalt der Inneren Mission, dem Wittekindshof, der Hausvater 1907 ein jährliches Grundgehalt von 300 Mark, die Hausmutter eines von 200 Mark jährlich. Der Höchstbetrag für das Hauselternpaar betrug 800 Mark. Schmuhl/Winkler (2012), S. 133. Im Vergleich zum Wittekindshof verdienten Bein und seine Frau also wesentlich mehr. 28 Paetz (1996), S. 312.

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und hatte wie ihr Mann Spezialkurse für den Unterricht geistig behinderter Kinder absolviert29. Die Wahl des Standortes in Beelitz ergab sich dadurch, dass die Stadt Beelitz das Grundstück30 gestiftet hatte. Die Stadt bewies in dieser Geste – zumindest bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten – mehr Toleranz geistig Behinderten gegenüber, als dies der Fall bei Fürsorgezöglingen war.31 Der Bürgermeister ergriff sogar die Initiative, um zwischen dem Heim und den jüdischen Familien des Ortes ein gutes Verhältnis herzustellen, vielleicht auch um weitere potentielle Sponsoren zu gewinnen.32 Dieser Schritt zahlte sich aus, indem ein Beelitzer Gemeindemitglied 1909 eine Thorarolle und ein Schofar stiftete, so dass ein »regelrechter Gottesdienst« stattfinden konnte.33 Die Finanzierung der Anstalt oblag der jüdischen Gemeinschaft allein. Der Wunsch nach Aufnahme in eine jüdische Anstalt und zu den Erwartungen der Betreuung dort Es waren meist familiäre Gründe, die eine Aufnahme notwendig machten. Ärzte plädierten für die Institutionalisierung von Kindern, wenn die Gesundheit eines Elternteils durch die Pflege des geistig behinderten Kindes gefährdet schien.34 Eine Mutter aus Antwerpen erklärte, sie sei nicht mehr in der Lage, einen »Gut Teil meiner Gesundheit« ihrem kranken Kinde zu »opfern«, da sie noch ein Baby hatte.35 Auch alleinerziehende Mütter, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen mussten, erbaten für ihr Kind die Aufnahme in Beelitz.36 Die Anstalt gewährte auch Schutz, wenn – wie in manchen Fällen – Behinderte nicht von den Eltern akzeptiert wurden, diese sie als Idioten be-

29 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 30 In den Quellen gibt es unterschiedliche Angaben über die Größe des gestifteten ehemaligen Stadtforstes. Einmal ist von vier, ein andermal von fünf Morgen die Rede. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 31 Als eine (nichtjüdische) Anstalt für sog. psychopathische Kinder in Beelitz errichtet werden sollte, wehrte die Stadt sich dagegen, denn bei Fürsorgezöglingen befürchtete man »Raub und Mordbrennerei«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 32 Der Bürgermeister hatte vorgeschlagen, die drei bis vier jüdischen Familien des Ortes zur Einweihungsfeier einzuladen, da sie sonst »sehr beleidigt« sein könnten. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 33 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 34 Im Falle des Kindes von Frieda Leiser argumentierte der Arzt, dass dessen Anwesenheit die Gesundheit des Vaters beeinträchtige. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 35 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 36 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

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schimpften.37 Der aus einer Landgemeinde stammende Eric Lucas schildert, wie der Vater seines Cousins Leo »mit aller Gewalt« versuchte, »ihn normal erscheinen zu lassen. Als er keinen Erfolg sah, wurde er mit dem Jungen ungeduldig.« Leos Fähigkeiten – er entwickelte »ein sehr bemerkenswertes Talent für Zeichnen und Malen« – wurden als irrelevant angesehen, denn der Junge musste »unter der Aufsicht seines harten Vaters auf dem Hof arbeiten«. Versuche, den Vater umzustimmen, fruchteten nichts. »Der Junge bleibt zu Hause. Hier kann er nützlich sein, und bis jetzt hat Landarbeit noch keinem geschadet.«38 Andere Eltern wiederum hingen sehr an ihren Kindern, wenn sie »gutmütig und anhänglich« waren, und trennten sich nur von ihnen, wenn Krankheit und Arbeitslosigkeit sie dazu zwangen.39 Institutionalisierung konnte jedoch auch das Eingeständnis des Scheiterns der Erziehung in der Familie bedeuten. Eltern übertrugen ihre Verantwortung auf die Anstalt und erwarteten von dieser eine »straffe« Erziehung und eine »strenge Zucht«.40 So besuchte der neunjährige Sohn von Hermann Sandar aus Breslau erfolgreich die Hilfsschule und machte nur zu Hause Schwierigkeiten. Der Arzt bestätigte die Ansicht des Vaters, dass die Ursache der »Untugenden« des Kindes nicht etwa in der falschen Behandlung des Jungen lag, sondern in dessen »defekter geistiger Veranlagung«. Der Vater gestand sich ein, dass er weder die Zeit noch die Fähigkeit besaß, »ein braves, so doch nicht ganz normales Kind zu erziehen, so dass es später sein Brot verdienen kann«.41 Auch vom hygienischen Standpunkt aus war in manchen Fällen die Institutionalisierung ein Vorteil. Bei Isidor Greinmann z. B. »wimmelte [es] förmlich von Kopf- und Kleiderläusen«.42 In einem anderen Fall schützte die Aufnahme in Beelitz vor Misshandlungen in der Familie. Die Stiefmutter des 1914 geborenen Heinz Süsskind ließ ihn hungern, weshalb Heinz von seinem 83jährigen Großvater erzogen wurde. Die Anstaltserziehung rettete den Jungen, denn bereits im Kinderhort benahm er sich »gut, war hilfsbereit« und 37 Karl Ziegler hatte darauf hingewiesen, dass es für viele Zöglinge von Vorteil sei, »wenn sie den äußeren Verhältnissen und inneren Einflüssen des Elternhauses […] entzogen sind, wo oft soziales Elend oder geistige und sittliche Verwahrlosung sie umgeben, verständnislose Behandlung oder erwerbsmäßige Ausbeutung ihnen drohen oder Spott, Hohn und Verachtung ihrer weiteren Umgebung sie noch tiefer in den Zustand düsterer Verschlossenheit oder stumpfer Lethargie hinabstoßen«. Ziegler (1910), S. 93. 38 Lucas (1991), S. 31f. 39 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979; CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 40 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. Konflikte von Eltern über unterschiedliche Erziehungsmethoden konnten auch zur Anstaltserziehung führen. So wollte der kranke Sally Leiser seinen Sohn »entschieden in strenge Zucht als wie sie hier zu Hause geübt wird« geben. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 41 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 42 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984.

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gehorchte, während der Kontakt zur Familie in den Ferien negative Auswirkungen hatte. Stets kehrte Heinz »unruhig und großsprecherisch und verwildert« zurück.43 Die heilpädagogischen Bemühungen in Beelitz erwiesen sich hier als so erfolgreich, dass der Junge eine Schneiderlehre absolvieren konnte.44 Andere Eltern überforderten in ihrem Bestreben nach sozialem Aufstieg ihre Kinder. Der Vater von Ernst Gaber wollte, dass sein Sohn Arzt werde, und er »liess sich das nicht ausreden«. Deshalb war das Zuhause auch nicht das geeignete Milieu für den Jungen, und Bein wollte ihn im Heim behalten, um Ernst vor den unrealistischen Erwartungen seines Vaters zu schützen.45 Ausschlaggebend für eine Institutionalisierung von Behinderten war auch die Geschlechtszugehörigkeit.46 Mädchen wurden eher in der Familie behalten, wenn sie dort beschäftigt werden konnten, während Jungen eine Ausbildung erhalten sollten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.47 Dies war jedoch ein zweischneidiges Schwert, da geistig behinderte Mädchen besonders gefährdet waren, denn sie galten als leicht verführbar zu einem »unsittlichen« Lebenswandel.48 Die Ausbildung der Mädchen wurde oft vernachlässigt, und Eltern unternahmen erst dann Schritte, wenn der Ruf der Familie auf dem Spiel stand. Der Vater von Helene Wolff etwa gab an, er hätte sie nichts lernen lassen können wegen ihres »schwachen Auffassungsvermögens«. Jedoch versprach er sich von der Unterbringung in Beelitz, dass sie etwas lerne, damit »sie nicht später einmal, wenn ich nicht mehr bin, auf der Landstrasse zu finden ist«.49 Der Widerspruch seiner Angaben schien ihm nicht aufgefallen zu sein oder er hegte die Hoffnung, dass ihr in Beelitz noch geholfen werden konnte. Möglicherweise stand aber in diesem Falle auch die Stiefmutter hinter dem Versuch der Institutionalisierung der jungen Frau. 43 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2467. 44 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2467. 45 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 46 Neumann schrieb 1918, dass die Eltern bei Mädchen weniger geneigt seien, ihnen die »Wohltat der Anstalt zukommen zu lassen«. So befanden sich im Zeitraum von 1908 bis 1918 88 Knaben und 49 Mädchen im Heim. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 47 Der DIGB bedauerte im März 1918, dass »kurzsichtige Eltern« die Ausbildung der Mädchen für »nicht so dringend« hielten und sie auch deshalb nicht weggeben wollten, »weil sie sich im Hause nicht so unnütz machen«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 48 Die 20-jährige Helene Wolff wurde bis zum Tode ihrer Mutter zu Hause mit »wirtschaftlichen Arbeiten« beschäftigt. Danach blieb sie sich selbst überlassen, da auch die zweite Frau des Vaters zu einer Arbeit gehen musste. Der Vater befürchtete nun, dass sie »vollständig verwahrlose« und von »gewissenlosen Leuten wegen ihrer Schwachsinnigkeit zum Umhertreiben und noch gefährlicheren Dingen verführt« werden könnte. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 49 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

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Es war nicht immer leicht, die Aufnahme eines behinderten Kindes zu erreichen. Lehnte die Anstalt die Aufnahme ab, zogen manche Mütter Ärzte zu Hilfe, um sie durchzusetzen. So schrieb im Juni 1917 eine Mutter aus Berlin, dass ihr Sohn Isidor von einem Arzt nicht als »bildungsunfähig befunden worden« sei.50 Jedoch ließ sich der Vorsitzende der Aufnahmekommission des DIGB, der Arzt Nawratzki, nicht umstimmen. Ähnlich berief sich die Mutter von Max Rosettenstein, die ihr Kind unbedingt in Beelitz unterbringen wollte, auf die Meinung von Ärzten, die ihren Sohn kennen würden und deshalb der Ansicht seien, Max könne nur in einer »richtigen jüdischen Anstalt« gerettet werden. Würde die Aufnahme abgelehnt, so »weiss ich nicht ob und wie ich diesen Schmerz überwinden werde, den einzigen Sohn den ich habe, als Christ erziehen lassen zu müssen, und bin noch nicht überzeugt, dass ich den Jungen wirklich als gebrauchbaren Menschen mal herausbekomme«.51 Auch der Vater des 17-jährigen Isidor Rosenberg erhoffte sich ein Wunder von der Aufnahme in Beelitz. Er glaubte, dass sein Sohn »ganz normal werden [würde], wenn ich [ihn] in solcher Anstalt unterbringen könnte«.52 Bei Heinrich Henoch setzte der Kreisarzt die Aufnahme durch. Dessen Vater war 1912 an Tuberkulose verstorben. Die Mutter wird in den Quellen als »schwachsinnig, beinahe idiotisch und sehr gebrechlich« beschrieben. Trotzdem war sie in der Lage, sich energisch gegen den Vorschlag des DIGB, ihren Sohn in einer nichtjüdischen Anstalt unterzubringen, zu wehren, und war um »keinen Preis« umzustimmen.53 Im Falle von Flora Littsinski hingegen, die von ihrem Mann verlassen wurde und die deshalb ihren 6 1/2 Jahre alten Sohn in die nichtjüdische Heilund Pflegeanstalt Potsdam-Wilhelmstift verbringen musste, blieb der DIGB hart. Wiederholt plädierte sie für eine Aufnahme in Beelitz, denn sie wollte ihr Kind »unter Juden aufwachsen« sehen, war ihr verstorbener Vater doch ein »wahrhaft frommer Jude!«. Dieser würde sich im »Grabe umdrehen«, wenn er wüsste, dass sein »Enkelkind bei Christen aufgezogen wird. Meiner Mutter, die hier als Witwe lebt, bricht das Herz darüber.« Das Kuratorium meinte nur lakonisch, dass das Kind vorläufig in Potsdam versorgt sei, und damit könne »sich die Mutter und wohl auch ihr seliger Vater beruhigen«.54 Es war jedoch nicht nur die Sorge um die jüdische Identität der Kinder, die Eltern dazu brachte, um die Aufnahme in Beelitz nachzusuchen. Die Anstalt hatte einen vergleichsweise besseren Ruf als sogenannte »Idiotenanstalten«, in denen bildungsunfähige, geistig schwerstbehinderte Menschen ver50 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 51 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 52 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 53 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 54 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

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wahrt wurden. Eine Unterbringung in Beelitz dagegen versprach eine Förderung und berufliche Ausbildung der Kinder.55 Auch finanzielle Gründe mochten eine Rolle gespielt haben, da die Pflegesätze in christlichen Anstalten durchweg höher lagen als in Beelitz.56 Neben den immer wieder artikulierten Wünschen der Eltern, ihre Kinder in einer jüdischen Anstalt unterzubringen, finden sich jedoch bisweilen Klagen. Einmal wandte sich eine Mutter sogar an das Amtsgericht, weil sie glaubte, ihr Sohn, der an einem chronischen Ausschlag litt, würde in Beelitz nicht ausreichend gepflegt werden.57 Anderen Eltern war der Gewichtsverlust ihres Kindes ein Grund zur Sorge.58 Ein Vater, dessen Sohn so schwer behindert war, dass er sich jede Nacht in »seinem Kot wälzte«, und der deshalb nicht in der Anstalt bleiben konnte, hatte sich an einen Pfleger gewandt, der ihm Informationen über das Kind zukommen lassen sollte.59 Manche Eltern sahen nicht ein, dass die handwerkliche Arbeit der Kinder Teil der heilpädagogischen Maßnahmen war und die »Kinder zu arbeitsamen und handlich geschickten und fleissigen Menschen« erziehen sollte. Der Vater von Emil und Norbert Schönbaum unterminierte sogar die Heimerziehung durch »aufreizende Karten«, in denen er forderte, dass die Kinder »unter keinen Umständen noch etwas arbeiten dürfen«.60 Dem verwitweten, aus Rumänien stammenden Vater ging es dabei gar nicht nur um das Wohl seiner Kinder. Im Juni 1927 wollte er seine Söhne nämlich zu sich nehmen, wenn ihm dafür 100 Mark monatlich Unterhaltsbeitrag gezahlt würden. Er drohte, Nürnberg »auf immer zu verlassen«. Dann könne die Gemeinde sehen, »was sie an meiner Familie angerichtet hat«.61 Das Jugendamt entzog ihm daraufhin im Dezember 1927 das Erziehungsrecht und beließ die beiden Jugendlichen in der Obhut des Heimes. Ähnlich wurde die Behinderte Erna Cohn in der Anstalt vor den unrealistischen 55 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. Allerdings wurde diese Möglichkeit nicht immer genutzt. Noch 1933 schrieb die Leitung des jüdischen Waisenhauses in Fürth im Falle der Grete Weinmann, die 1933 zwar die Volksschule abgeschlossen hatte, jedoch ärztlichem Urteil zufolge »geistig zurückgeblieben« war, da sie wie ein zwei- bis dreijähriges Kind sprach, dass Beelitz nicht in Frage käme, da sie »dann wohl für ihr ganzes Leben abgestempelt würde« und sich zudem ihr Zustand verschlechtern würde, falls sie mit anderen schwachsinnigen Kindern lebte. Allerdings wollte sich die Waisenhausleitung um eine Unterbringung in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bei Idstein im Taunus bemühen, wobei nicht klar ist, wieso eine Anstalt der anderen vorgezogen wurde. Möglicherweise war Beelitz der orthodoxen Waisenhausleitung nicht orthodox genug, und sie zog deswegen eine nichtjüdische Institution vor. CAHJP, D/Fu2/418. 56 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 985. 57 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2437. 58 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 59 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 60 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 61 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2461.

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Anforderungen ihres Vaters geschützt. Sie lernte zwar etwas Lesen und Schreiben, aber »im Rechnen ist bei aller Mühe ein besseres Resultat nicht zu erzielen gewesen«. Der Vater gab Ratschläge, wie die Anstalt bessere Ergebnisse bei seiner Tochter erreichen könne: »Trotzdem müssten die Kinder mit etwas mehr Strenge zum Lernen angehalten und ihr Eigensinn vertrieben werden. Meine Tochter ist geistig ganz geweckt und […] gibt schnippische Antworten.« Der DIGB wies den Vater darauf hin, dass durch »grosse Strenge« letztendlich »der Endzweck unserer Erziehungsanstalt in Frage gestellt« wäre. Hier zeigte sich der DIGB einsichtiger als der Vater und verwies auf neuere pädagogische Erkenntnisse. Dem Vater ging es zudem nicht nur um den mangelnden Erfolg im Rechnen, sondern er versuchte auch, den Pensionspreis zu drücken, denn schließlich würde, wie er hervorhob, die Tochter in der Anstalt arbeiten. Beim DIGB monierte man, dass Herr Cohn die »schwierige Arbeit unserer Anstalt so gering« bewertete. Denn die häuslichen Arbeiten der Tochter, so betonte man, dienten keineswegs nur dazu, dem Anstaltsbetrieb Nutzen zu verschaffen, sondern primär der Ausbildung, damit das Kind »diese Tätigkeit kennen und üben lernt, um später einmal einen Teil zu seinem Lebensunterhalt beitragen zu können«.62 Kosten konnten dadurch durchaus gespart werden.63 So wuschen 1909 acht Mädchen unter Leitung von Frau Bein und einer Pflegerin die Wäsche, so »dass wir die Waschfrau, die sonst 2 Tage hier zur Aushilfe war, nur für 1 Tag nötig hatten«.64 Allerdings ging es in Beelitz im Gegensatz etwa zur Heilerziehungsanstalt Kalmenhof65, zu staatlichen Anstalten oder solchen der Inneren Mission nicht um die Rentabilität der Arbeit66. Es gab in Beelitz eine Lehrwerkstätte für Korbflechterei, in der »kleine Körbchen« hergestellt wurden, die dann »gelegentlich« von Besuchern gekauft wurden, jedoch kam der Gewinn den Behinderten zugute und deckte kaum die Unkosten.67 62 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2410. 63 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 64 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Auch im September 1926 hieß es, dass die Anstalt nur deswegen mit so wenig Personal auskommen würde, »weil wir Hilfe an unseren älteren Kindern haben«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 65 Im Kalmenhof diente der Handfertigkeitsunterricht der Aufrechterhaltung des Betriebes, da viele der hergestellten Materialien im Heim verwendet wurden. Schrapper/Sengling (1988), S. 98. 66 Im Wittekindshof war die unbezahlte Arbeit der Menschen mit geistiger Behinderung in der Landwirtschaft sowie den Handwerksbetrieben die zweitwichtigste Einnahmequelle. Schmuhl/Winkler (2012), S. 114. Droste kommt sogar zum Schluss, dass viele Anstalten für geistig behinderte Erwachsene ein »wirtschaftliches Interesse an der Dauerasylierung einer bestimmten Anzahl von produktiven Schwachsinnigen« hatten, da sie für die Unterhaltung der anstaltseigenen Werkstätten und landwirtschaftlichen Betriebe unerlässlich geworden waren. Droste (1999), S. 48. 67 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

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Klassenzugehörigkeit, Schwachsinns

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Ethnizität

und

Heredität:

Ursachen

des

Im Zusammenhang mit den eugenischen und rassenhygienischen68 Diskussionen seit Ende des 19. Jahrhunderts schrieben Ärzte, vor allem Psychiater und Anthropologen, den Juden (und Jüdinnen) eine überproportionale Tendenz zu Geisteskrankheiten und Schwachsinn zu, eine Ansicht, die von der jüdischen Minderheit kaum in Frage gestellt wurde69. Die Ursache dafür wurde in der als »ungesund« deklarierten Berufsstruktur sowie den Verwandtschaftsehen gesehen. Fragebögen des DIGB dienten dazu, wissenschaftliche Erhebungen zu diesem Thema anzustellen.70 Die statistischen Angaben waren jedoch kaum repräsentativ, da nur kleinere Gemeinden erfasst wurden.71 Aus den erhaltenen Informationen ist jedoch ersichtlich, dass in den meisten Fällen die Eltern weder miteinander verwandt waren noch ein Zusammenhang zwischen geistiger Behinderung und Heredität bestand. Geisteskrankheiten waren nur selten in den Familien vorgekommen. Auch Syphilis, eine Krankheit, die als Folge der Assimilation galt72, war eher die Ausnahme als die Regel73. Was allerdings Trunksucht anging, 68 Die Rassenhygiene war, als »deutsche Spielart der Eugenik«, im ausgehenden 19. Jahrhundert um den Arzt Alfred Ploetz (1860-1940) entstanden, der dann 1905 die Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene ins Leben rief. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Rassenhygieniker nur eine kleine Gruppe von ca. 400 Personen. Erst danach stießen deren Ansichten auf breiteres Interesse. Schmuhl/Winkler (2012), S. 211-214. 69 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. Eine Statistik aus dem Jahre 1925 schien diese Annahme zu bestätigen, da auf je 10.000 Einwohner bei Juden 48,7, bei Evangelischen 35,8 und bei Katholiken 37,6 geistig Gebrechliche kamen. Walk (1996), S. 45. 70 Wie viele geistig Behinderte es tatsächlich gab, lässt sich nicht feststellen, nicht nur weil manche Gemeinden nicht antworteten, sondern weil auch in den Quellen unterschiedliche Angaben gemacht werden. Zehn Jahre nach Gründung der Anstalt sprach Dr. Wilhelm Neumann davon, dass sich 1906 in insgesamt 31 christlichen Anstalten 235 jüdische Insassen befanden. Davon waren 120 minderjährig. Weitere Nachforschungen einer darauf eingesetzten Kommission ergaben, dass zudem weitere 213 geistig Behinderte in Familienpflege in Klein- und Mittelgemeinden untergebracht waren. 70 waren im schulpflichtigen Alter und 35 zwischen 14 und 23 Jahre alt. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. An anderer Stelle wiederum ergaben die Statistiken des Arztes Nawratzki, die dieser bis zum 28. November 1905 geführt hatte, und des DIGB, der sie bis zum 12. Januar 1906 weiterführte, 196 Antworten aus den verschiedenen Gemeinden. Demnach waren 111 geistig Behinderte über 22 Jahre alt, 27 (bzw., einer anderen Quelle zufolge, 28) im Alter zwischen 15 und 22 Jahren und 58 zwischen vier und 15 Jahre alt. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 71 Neumann sprach nicht von 85, wie die oben erwähnte Statistik ergab, sondern sogar von 105 geistig behinderten Kindern und Jugendlichen, die entweder im schulpflichtigen Alter oder aber zwischen 15 und 22 Jahre alt waren. Von diesen 105 kamen 61 aus Gemeinden mit weniger als 200 Mitgliedern. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 72 Gilman (1998), S. 108f. Im antisemitischen Diskurs wurden Juden zudem beschuldigt, an der Verbreitung der Syphilis Schuld zu tragen. Efron (2001), S. 277. 73 So litt der Vater des 1910 in Frankfurt am Main geborenen Arthur Rosenthal an Syphilis und hatte Frau und Kind angesteckt. Arthur wurde im Alter von fünf Jahren mit

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wurde die Auffassung der zeitgenössischen Medizin bestätigt, die davon ausging, dass Juden im Allgemeinen keine Alkoholiker waren.74 Tatsächlich litten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Eltern der geistig Behinderten nicht an Alkoholismus. Eindeutig jedoch zeigt sich der Zusammenhang zwischen geistiger Behinderung und Klassenzugehörigkeit.75 Wohlhabende Familien brachten ihre Kinder entweder in Privatanstalten unter76 oder aber hatten genügend Personal, um diese zu Hause versorgen zu können. So kam ein Großteil der Kinder in Beelitz aus der Unterschicht77, was die Frage aufwirft, ob es nicht die Familienverhältnisse waren, die die Kinder als geistig behindert erscheinen ließen. Im Falle des 1910 geborenen Abel Sperling trugen sicherlich die häuslichen Verhältnisse dazu bei, dass er in der Schule versagte. Über seine verstorbene Mutter heißt es, dass sie »schmutzig und beschränkt« gewesen sei. Das Kind war mit Flohstichen bedeckt, der Vater in Gefangenschaft in Sibirien. Es verwundert also kaum, dass das Kind »unfolgsam und zornmütig« war und Lernschwierigkeiten hatte. Er schwänzte die Schule, zerschlug Fensterscheiben, drehte Gas- und Wasserhähne auf und war ein Bettnässer. Ärztlichem Urteil zufolge würde einer Quecksilber-Einreibungskur »mit gutem Erfolge« behandelt. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. Auch die Mutter der 1898 geborenen Zwillinge Antonie und Salomon Löwenberg litt an Syphilis, und »es scheint als ob die Kinder diese Krankheit geerbt hätten«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2441. 74 Efron (2001), S. 108-117. 75 In der Heilpädagogik allgemein hatte man die Erfahrung gemacht, dass Behinderung und Armut eng miteinander verknüpft waren. »Das Bewusstsein einer engen Verbindung von Behinderung und Armut stand Pate bei der Etablierung von Sonderschulen als Institutionen der Bildung und gesellschaftlichen Integration.« Ellger-Rüttgardt (2008), S. 125f. 76 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. Über diese Privatanstalten findet sich nur sporadisch etwas in den Quellen. S. Rosenbaum eröffnete 1903 in Niederschönhausen ein Heim für geistig behinderte Kinder und solche, deren »Nervensystem und Seelenleben derart mit Fehlern und Schwächen behaftet sind, dass sie den Anforderungen der Schule nicht genügen können, und die daher andauernd oder vorübergehend einer individualisierenden, heilpädagogischen Behandlung« bedürften. CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 307. Im Jahre 1930 gründete die Tochter des sephardischen Oberrabbiners Gaster aus London in Werder, einem Ort in der Nähe von Beelitz, ein privates »Erziehungsheim für Schwachsinnige, Schwererziehbare und Psychopathen«. Sie bat Bein um Zöglinge, was – so Bein – »ja wohl nie geschehen« werde. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 77 Die Umfrage des DIGB aus den Jahren 1905 und 1906 ergab auch, dass die Mehrheit der Eltern schulpflichtiger Kinder (insgesamt 58) bereit war, diese einer Anstalt zu übergeben (36 positive Antworten und sieben Ablehnungen; bei 15 war es zweifelhaft). Was die 27 bzw. 28 Jugendlichen im Alter von 15 bis 22 Jahren anging, so hieß es, dass 16 Eltern die Frage bejaht hätten, sechs verneint und es bei dreien zweifelhaft schien. In einem anderen Schreiben allerdings stimmt die Rechnung eher, wenn ausgeführt wird, dass 17 Eltern von den 28 nicht mehr schulpflichtigen Jugendlichen im Alter von 15 bis 22 Jahren um Aufnahme nachgesucht hätten, in sechs Fällen dies verneint und in fünf Fällen im Zweifel gelassen worden sei. Die meisten Kinder kamen aus bedürftigen Familien. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991.

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bei dem Jungen auch bei »Nachreifung wahrscheinlich eine Debilität übrig bleiben«.78 Die Quellen benennen als weitere Ursachen die Folgen zerrütteter Ehen und von Scheidungen, von Vätern, die sich nicht um ihre Kinder kümmerten, oder unverheirateten Müttern, die nicht in der Lage waren, ihre Kinder selbst zu erziehen. So schrieb der Bezirksrabbiner Dr. Löwenstein aus Mosbach (Baden) im Februar 1909, dass ein 15-jähriger, ganz armer unehelicher Junge aus einer sehr kleinen und unbemittelten Gemeinde, der zudem noch »Halbidiot« sei, der Hilfe bedürfte. »Wir wissen ihn nirgends unterzubringen, da es in ganz Süddeutschland keine für den Jungen geeignete jüdische Anstalt gibt.« Der Rabbiner befürchtete die vollständige Verwahrlosung des Jungen, da seine Mutter sich selbst kaum ernähren könne.79 Auch hier stellt sich die Frage, ob das Kind wirklich geistig behindert war oder die wirtschaftlichen Verhältnisse und das soziale Stigma ihn zum »Halbidioten« gemacht hatten. In anderen aufgeführten Fällen litten die Kinder in der Schule oft jahrelang, bevor Schritte zu ihrem Schutz unternommen wurden. Das zeitgenössische Schulwesen trug ein Übriges dazu bei, dass schwachbegabte Kinder wenig oder gar nicht gefördert werden konnten. Der Lehrer Theodor Stahl etwa berichtete im Mai 1911, dass der zehnjährige Heinrich Henoch drei Jahre lang die einklassige Volksschule erfolglos besucht habe. Die ersten zwei Jahre stammelte das Kind kaum einige verständliche Laute. Es hatte in einer Schule mit 66 Schülern, die von einer Lehrkraft unterrichtet wurden, keine Chance.80 Auch der 1901 geborene Salomon Nussbaum aus Treplow bekam viele Schläge in der Schule, da er nichts verstand und nichts lernte.81 Den Lehrern fehlte im Allgemeinen die Qualifikation wie die Zeit, um sich um solche sozial benachteiligten Kinder zu kümmern, so dass sie in der Regel einfach als faul abgestempelt wurden. Der Vater des 1911 in Hamburg geborenen Karl Presser befand sich in einer Nervenanstalt in Holland. Der Siebenjährige wurde von den anderen Kindern sehr gehänselt. Das Kind reagierte darauf »wütend«, obwohl es sonst »lebhaft und freundlich« war.82 Auch der 1906 in Hannover geborene Moritz Wagner, der bis zum 3. Lebensjahr an Epilepsie gelitten hatte, wurde zum Ziel des Spottes. »Auf der Strasse will sich der Junge nicht sehen lassen, weil die anderen Kinder es [sic!] verhöhnen.« Er quälte daraufhin andere (wohl schwächere) Kinder, 78 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 79 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 80 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 81 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. In anderen Fällen wird berichtet, dass die Kinder das Klassenziel zum wiederholten Male nicht erreichten. Der 1899 geborene Willi Raphael ging bis zur 5. Klasse in die Gemeindeschule und war »jetzt schon das dritte Jahr in derselben Klasse«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 82 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980.

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was als Racheakt an dem ihm angetanen Unrecht interpretiert werden kann. Der Arzt Nawratzki lehnte jedoch die Aufnahme in Beelitz ab.83 Der 17-jährige Sohn von Isidor Rosenberg aus Loosen (Westpreußen) wurde »hier auch bloss verhöhnt und verspottet«. Das letzte Beispiel zeigt, dass Sander Gilmans Ansicht, dass man auf dem Land toleranter gegenüber dem »Dorfidioten« war, in diesem Fall nicht zutraf.84 Als »Halbidioten« wurden bisweilen auch Jugendliche klassifiziert, die beruflich erfolglos waren. So wurde der 20-jährige Frankenstein, Sohn armer Hausierer in Berlin, erst zu verschiedenen Schneidermeistern in die Lehre gegeben, bevor man zum Schluss gelangte, dass »er nicht die Auffassungsgabe besitzt, das geringste zu machen«.85 Der zwölfjährige Sohn des Viehhändlers Simon Lemberger aus Rexingen wurde nach 2 1/2 Jahren Aufenthalt in der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem86 entlassen, da »seine geistigen Fähigkeiten zur Erreichung des dortigen Lernziels nicht ausreichten«. Nun erhoffte sich der Vater von Beelitz, dass »derselbe durch geeignete sachverständige Erziehung tüchtig ausgebildet und erwerbsfähig gemacht würde«. Hier lag der Grund für den schulischen Misserfolg wohl eher an der unzureichenden Erziehung im Elternhaus. Die Familie bestand aus elf Kindern, und die jüdische Gemeinde schilderte 1908 die Mutter als »nervös, kränklich und nicht in der Lage, ihrer Familie so vorzustehen, dass die Kindererziehung eine gedeihliche genannt werden kann«.87 Litten Kinder aus armen Familien unter körperlichen Behinderungen, konnte es ebenfalls geschehen, dass sie auch als geistig behindert abgestempelt wurden. Wo stotternde Kinder zum Gespött ihrer Kameraden wurden, kam es vor, dass ihre Angehörigen sich von einer Erziehung in Beelitz Hilfe versprachen.88 Auch Lehrer und Kantoren ergriffen die Initiative, wenn sie sich von einer Aufnahme in Beelitz eine Förderung für Schüler erhofften, die in ländlicher Abgeschiedenheit lebten und deren Eltern den Bedürfnissen ihrer zahlreichen Nachkommenschaft nicht gerecht werden konnten. So begründete Isidor Gabbe, der im Sommer alle zwei und im Winter alle vier Wochen zum Religionsunterricht nach Wohlau (Oberschlesien), einen im »Walde isolierten« Ort, kam, seinen Antrag, dass es ihm nicht gelungen sei, 83 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 84 Gilman (1998), S. 78. 85 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 86 Die Israelitische Gartenbauschule in Ahlem wurde 1893 von Moritz Simon zum Zweck der Berufsumschichtung jüdischer Knaben gegründet, die im Gartenbau und der Landwirtschaft unterwiesen wurden. Auch in der Bäckerei und Schuhmacherei erhielten manche Lehrlinge ihre Ausbildung. Von 1903 bis 1921 nahm die Anstalt Mädchen auf, die in Hauswirtschaft und Gartenbau ausgebildet wurden. CJA, 1, 75 A Ha 1, Nr. 55. 87 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 88 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979.

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dem 13-jährigen Georg Koplowitz viele Kenntnisse im Lesen des Hebräischen beizubringen. Die neunköpfige Familie lebte in Armut. Gabbe wies ausdrücklich darauf hin, dass der Junge Lust zum Lernen zeige, er müsse jedoch »durchaus aus der Wildnis dort heraus«. Der Junge ging zwar in die Schule in der Kreisstadt Pless, war jedoch bereits dreimal von dort »zu Fuß 8 km nach Hause« gelaufen.89 Ob er einfach Heimweh hatte oder Gabbe eine zu fördernde Begabung erkannte, der diese Schule nicht gerecht werden konnte, oder der Junge sich dem Bildungsbestreben seines Vaters widersetzte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht war Gabbe aber auch einfach zu optimistisch in Bezug auf das Interesse Georgs am Lernen. In zahlreichen Fällen kamen Eltern, Lehrer und Ärzte auch zum Schluss, dass Kinder, die sich langsamer entwickelten, geistig behindert wären. So zeigte sich der Gastwirt Wilhelm Lehmann im Mai 1914 darüber beunruhigt, dass sein dreijähriges Kind nicht sprach.90 Der Vater des 1908 geborenen Aron Czelewitzky führte die Sprachunfähigkeit seines Sohnes darauf zurück, dass dieser keinen Umgang mit anderen Kindern hätte und deshalb das »Sprachorgan« zurückgegangen sei.91 Der Grund für diese Sprechunfähigkeit könnte jedoch durchaus in der Familie gelegen haben. Denn Rahel Straus liefert dazu ein anschauliches Beispiel. Als ihr Vater seine erste Rabbinerstelle in Aurich innehatte, kamen die Gemeindemitglieder zum SabbatBesuch, »setzten sich um den Kamin und – schwiegen. Nach vergeblichen Versuchen, ein Gespräch zustande zu bringen, ergaben sich Vater und Mutter in ihr Schicksal.«92 In einem solchen Umfeld wurde die Sprachentwicklung von Kindern nicht gerade gefördert. In solchen Fällen bot die Institutionalisierung den Kindern eine Chance, da ihre Erziehung bei Bein ihnen zum richtigen Sprechen verhalf.93 Seine Ausbildung als Taubstummenlehrer kam ihm dabei zu Hilfe. Beim 1896 geborenen Simon Benditt waren die Familienverhältnisse nicht unproblematisch. Der Vater, ein Kutscher, wird als »sehr aufgeregt« beschrieben. Er war auch wegen wiederholten Betrugs vorbestraft. Die Mutter wusste nicht, »was sie mit dem Knaben anfangen soll«. Über Simon hieß es, dass er »wütend, eigensinnig, widersprechend und boshaft« sei und zum Diebstahl neige. Bei fremden Leuten dagegen zeigte er »Lust an Spiel und Beschäftigung«, d. h. er reagierte auf die gestörten Familienverhältnisse, indem er sich nur in der Familie auffällig benahm. Er kam zunächst in die Berliner Charité und dann in die Irrenanstalt Dalldorf, da es nach zeitgenössischer Ansicht zwischen psychischer Krankheit und geistiger Behinde89 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 90 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 91 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 92 Straus (1961), S. 25. 93 Paetz (1996), S. 313.

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rung fließende Übergänge gab. Die Quellen berichten, dass der Anstaltsarzt sich »sehr für ihn interessierte«, möglicherweise weil die Irrenanstalt mit einem fortschrittlichen Heim für geistig Behinderte verbunden war.94 Wohl nicht zuletzt aufgrund der Familienverhältnisse diagnostizierte der Arzt eine »krankhafte nervöse Veranlagung, die sich in Kopfschmerzen, überlebhaften Träumen, nächtlichem Aufschrecken« äußerte. Der Arzt hielt den Jungen nicht für »bösartig«, sondern durchaus für »sanft, willig und gutmütig«, weswegen er für die Aufnahme in ein Waisenhaus plädierte, da er sich für die »Irrenanstalt nicht recht eignen und zu Hause nicht gedeihen« könne. Da jedoch nach den Aussagen von Rabbiner Blumenthal ein Waisenhaus nicht in Frage kam, blieb nur Beelitz übrig, um der »sehr möglichen Verwahrlosung« vorzubeugen.95 Bei dem 1902 in Plonsk (Russland) geborenen Samuel Krieger, der in Altona lebte, wurde seine Zerstörungswut und Widerspenstigkeit als Zeichen der geistigen Schwäche gesehen, obwohl der Junge bereits mit einem Jahr gehen und sprechen konnte. Das Kind stahl, wurde als »eigensinnig, boshaft und unfolgsam« stigmatisiert und der versuchten Brandstiftung beschuldigt, weshalb er 1914 die Talmud Tora Schule in Hamburg verlassen musste. Aus dem Fragebogen geht nicht hervor, wieso das Kind geistig behindert sein sollte. Wahrscheinlicher ist, dass er auf seine Probleme aufmerksam machen wollte.96 Armut und Unfähigkeit, den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden, das Streben nach sozialem Aufstieg, das Kinder überforderte, Misshandlungen sowie körperliche Behinderungen ließen Kinder entweder als schwachbefähigt erscheinen oder waren in manchen Fällen die Ursache der geistigen Behinderung, worauf bereits im zeitgenössischen Diskurs hingewiesen wurde. So schrieb Nawratzki in der Zeitschrift für das Idiotenwesen, dass ein Zusammenhang zwischen Schwachsinn und der »Ungunst äusserer Verhältnisse« bestünde. Diese Art der geistigen Behinderung sei im Gegensatz zur angeborenen durch »Beseitigung sozialer Mißstände« heilbar.97 Wenn auch die Anstalt die sozialen Ursachen nicht beseitigen konnte, so versuchte sie doch, durch die Erziehung der Kinder die Schäden in Grenzen zu halten. Das Heim in Beelitz zwischen Heilpädagogik und Eugenik während des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war eugenisches Denken, in welchem es um die Erhaltung oder Verbesserung der Erbanlagen einer bestimmten Fortpflanzungsgemeinschaft ging, in breiten Schichten der Gesellschaft ak94 Dalldorf wurde sogar unter Leitung von Hermann Piper (1846-1943) zum »Mekka der Schwachsinnigenerzieher«. Ellger-Rüttgardt (2008), S. 150. 95 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 96 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. 97 Geiger (1977), S. 87.

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zeptiert und gehörte zu den »Träumen technischer Machbarkeit gesellschaftlicher Ideale der Moderne«.98 Es überrascht keineswegs, dass auch manche in der Heilpädagogik engagierten Kreise im Interesse der Volksgesundheit99 und der angeblichen Gefahr, die die »Minderwertigen« wegen der ihnen zugeschriebenen sexuellen Triebhaftigkeit darstellten, der Eugenik aufgeschlossen gegenüberstanden100. Heilpädagogen, die die Fortpflanzung von Menschen mit geistiger Behinderung verhindern wollten, sahen sich sogar als »Retter des Volkes«.101 Was Beelitz anging, so wurden alle Möglichkeiten zur sexuellen Aktivität unterbunden. Selbst Kinder sollten auf ärztliche Anweisung hin nach Geschlechtern getrennt werden. Nur am Freitagabend und am Sabbat war die Geschlechtertrennung beim gemeinsamen Gottesdienst und im Speisesaal aufgehoben.102 Pubertierende Jugendliche, die Interesse für das andere Geschlecht zeigten, wurden aus der Anstalt entfernt.103 Während des Ersten Weltkriegs und der Krisenjahre der Weimarer Republik blieb das Heim weiterhin der Heilpädagogik verpflichtet. Dies zeigte sich besonders darin, dass die Kinder des Heimes nicht in demselben Maße wie Patienten und Patientinnen in vielen psychiatrischen Anstalten litten, wo Ärzte sogar manchmal so weit gingen, sozialdarwinistische Maßnahmen durchzuführen, und die Geisteskranken mehr oder weniger verhungern ließen.104 Die unterschiedliche Einstellung, wie sie auch von manchen Leitern der Anstalten für geistig Behinderte der Inneren Mission überliefert ist105, wird besonders deutlich in dem Faktum, dass der DIGB es als selbstverständlich ansah, den Kindern in Beelitz eine den Umständen entsprechende »gute Verpflegung« auch während des Krieges zukommen zu lassen106. Im 98 Ellger-Rüttgardt (2008), S. 137. 99 Brill (1994), S. 177. 100 Allerdings war die eugenische Bewegung national und international äußerst heterogen, so dass von »der« Eugenik – wie Ellger-Rüttgardt argumentiert – nicht gesprochen werden könne. Ellger-Rüttgardt (2008), S. 134, 137. 101 Brill (1994), S. 187. 102 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 103 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 104 So kommt Heinz Faulstich zum Schluss, dass während des Ersten Weltkrieges in den psychiatrischen Anstalten ungefähr 70.000 Menschen an Hunger und Mangelversorgung starben. Faulstich (1998), S. 25, 82. Die Verschlechterung in Verpflegung und Unterbringung im Falle des Psychopathinnenheims in Hadamar führte ebenso zu einem deutlichen Anstieg der Sterberate. Kremer (2002), S. 22. 105 Im Wittekindshof nahm der Leiter 1917 den Kampf mit den Behörden auf, als es zu einer ernsthaften Ernährungskrise kam, und war teilweise erfolgreich. Auch intervenierten Pastoren zugunsten der Insassen und Insassinnen von »Idiotenanstalten«. Schmuhl/Winkler (2012), S. 200. 106 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984.

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März 1917 berichtete Bein sogar, dass die Anstalt mit Butter »ganz besonders gut versorgt sei«, so dass die Kinder fast täglich Butter aufs Brot erhielten und zudem noch genügend Butter für die Suppe übrig blieb.107 1916 hatte die Gefahr bestanden, dass die Anstalt kein Fleisch mehr erhielt, da die früher aus Berlin bezogenen Fleisch- und Wurstwaren nicht mehr geliefert werden durften. Auch hier ging die jüdische Institution einen anderen Weg als manche Ärzte in psychiatrischen Anstalten. Bein führte einen längeren Kampf mit staatlichen Stellen (Landrat, Regierungspräsident, Landesfleischstelle etc.), der sich fast ein Jahr lang hinzog, damit Beelitz auch weiterhin mit Fleisch versorgt wurde. Es gelang ihm schließlich im März 1917, Fleisch zu erhalten. Die Anstalt durfte wöchentlich 25 Pfund für die ca. 60 Personen einkaufen.108 Da im April 1917 der Magistrat für Lebensmittelabteilung die Brotmenge auf wöchentlich 1600 Gramm reduziert hatte, erlaubte er der Anstalt nun die doppelte Menge an Fleisch, wenn der Kreis die Verpflichtung übernehme, alle 14 Tage zwei Kälber zu liefern.109 Auch gelang es dem Direktor im Juli 1917, fünf Liter Vollmilch für jedes schwächliche Kind zu erhalten. Da die Anstalt über einen großen Garten verfügte, konnte sie sich zum Teil selbst versorgen, wenn auch die wilden Kaninchen oft die Erträge auffraßen und die aufgestellten Fallen wenig nutzten, ging doch »unser Hund« in die erste Falle.110 Da Kaninchen nicht koscher waren, konnten sie auch nicht im Kochtopf enden – selbst wenn man sie gefangen hätte. Eine jüdische Anstalt hatte also mehr Schwierigkeiten, was die Selbstversorgung in Krisenzeiten anging, wenn sie die Gebote der Religion beachtete. Auch die Hühnerzucht scheiterte, da die Hühner zwar Eier legten, jedoch nicht brüteten.111 Im Gegensatz zu manchen Anstalten der Inneren Mission, wo es eine umfangreiche Landwirtschaft gab, war Beelitz jedoch nicht sonderlich erfolgreich bei der Selbstversorgung.112 Während des bitterkalten sog. Steckrübenwinters von 1916/17 kam es zu Engpässen beim Heizungsmaterial, so dass die Heizung im Neubau eingestellt werden musste.113 Es kam jedoch nie zu der Forderung, überhaupt nicht mehr zu heizen. Auch hier ließ der Direktor nichts unversucht, damit seine Zöglinge so wenig wie möglich unter den wirtschaftlichen Verhältnissen des Weltkrieges 107 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Im Mai 1916 war von 1/4 Liter Milch pro Tag und Kopf und 1/4 Pfund Butter pro Woche die Rede. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Im Wittekindshof dagegen wurden nur 60 Gramm Butter pro Person und Woche zugestanden, jedoch wurde die zuständige Stelle nicht ausreichend beliefert, so dass selbst diese Menge nicht abgeliefert werden konnte. Schmuhl/Winkler (2012), S. 199. 108 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 109 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 983. 110 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 111 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 112 Deshalb konnten z. B. in Neuerkerode die Pflegesätze auch während des Krieges gering gehalten werden. Schmuhl/Winkler (2012), S. 200. 113 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982.

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litten. Selbst im Januar 1917 konnte Bein noch berichten, dass die Kinder wertvolle Chanukkageschenke erhalten hätten in Form von Kleidung, Schuhen, Büchern, Bleistiften, Pfefferkuchen und Bonbons, wobei es sich noch um »Friedensqualität« handele.114 Gegen Ende des Krieges allerdings wurden Spenden115 nicht mehr für Spielsachen und Naschereien verwendet, sondern vor allem für Bekleidung116, da die Ausstattung der Kinder hier aufgrund der gestiegenen Preise Schwierigkeiten bereitete117. Die Eltern waren meist nicht mehr in der Lage, »auch nur die notwendigste Kleiderausstattung zu gewähren«. Es sei zwar für die Anstalt »nicht rühmlich, dass die Kinder in solcher unzulänglicher Bekleidung herumlaufen« würden, jedoch fehlten dem DIGB die Geldmittel, um daran etwas zu ändern.118 Deswegen wandte sich Bein im Dezember 1919, als die Kleidung der Zöglinge »vollständig abgerissen« war, an die Textil-Notstandsversorgung und bat um »Zuweisung des von uns benötigten geringen Quantums«.119 Während des Krieges war der DIGB auch flexibler, was die Aufnahme der Kinder anging, und ließ »mit Rücksicht auf die Lage der Angehörigen […] weitgehende Milde walten«. So konnte wenigstens kurzfristig einer größeren Zahl von Familien geholfen werden. Das Niveau der Anstalt litt darunter120, auch weil Eltern begabterer Kinder diese aus Beelitz nahmen, um den »Arbeitsverdienst der Familie zugutekommen« zu lassen121. Während des Krieges wurde der Erweiterungsbau fertiggestellt, so dass die Anstalt seit Juli 1915 Platz für 60 Kinder bot.122 Ursprünglich war geplant gewesen, die älteren Zöglinge in einem Handwerksberuf auszubilden. Da es jedoch keinen Lehrmeister gab, wurden die Räume zunächst mit jüngeren Zöglingen belegt.123 Die Hingabe von Bein und seiner Frau, die während des Ersten Weltkrieges den gesamten Unterricht alleine erteilten, da die Lehrer im Kriegsdienst standen, führte dazu, dass Bein im Dezember 1918 vor »Überanstrengung völlig« zusammenbrach. Seine Frau musste nun alle Arbeit alleine bewältigen.124

114 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 115 1918 beliefen sich die Chanukka-Spenden auf 1900 Mark. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 116 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 117 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 118 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 119 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 120 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 121 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 122 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 123 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 124 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984.

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Während die Anstalt also zur Zeit des Krieges einigermaßen über die Runden gekommen war, wenn auch der Heeresdienst der Lehrer und Handwerker den Betrieb erschwerte125, trafen die Inflationsjahre diese hart. Wie die meisten jüdischen Wohltätigkeitsvereine verlor auch der DIGB sein Stiftungsvermögen.126 Daher wurde die Versorgung in Beelitz knapp. Bein konnte nicht einmal mehr Kartoffeln bezahlen, und während der Inflation im September 1923 sah er sich gezwungen, bei der Sparkasse in Beelitz einen Kredit von 300 Millionen Mark aufzunehmen.127 In dieser Not kam der Rittergutsbesitzer Mosse in Stangenhagen zu Hilfe.128 Er lieferte ab Oktober 1923 einen großen Teil des Kartoffelbedarfes. Anlässlich der Chanukkafeier im selben Jahr brachten Mosse und seine Frau auch ein »recht originelles« und nützliches Geschenk mit, nämlich einen lebenden Hammel, der das Menü bereicherte. Was andere Spenden anging, berichtete Bein, dass er »überall eine offene Hand und ein offenes Herz« gefunden habe, so dass er Kleidung, Schuhe, Pfefferkuchen und Äpfel an die Kinder verteilen konnte.129 Trotzdem war das Budget knapp, auch weil die Angehörigen Bein zufolge nicht immer ein richtiges Verständnis zeigten. Sie brächten ihren Kindern »so viel unnütze Sachen« mit anstelle von dringend notwendigen Gegenständen wie z. B. Taschentüchern. Daran herrsche großer Mangel, da die Kinder diese zerrissen, fortwarfen oder verloren. Die Angehörigen hätten kaum ein Ohr für die Vorschläge des Direktors.130 An eine Erhöhung der Pflegegelder131 war nicht zu denken, da die Angehörigen ohnedies oft nicht zahlen konnten. Zwar drohte der DIGB häufig damit, die Kinder zu entlassen, jedoch geschah dies nur selten. Eltern und Anstalt konnten immer noch auf die Hilfe jüdischer Organisationen oder Privatpersonen rechnen. So gelang es den vereinten Kräften von verschiedenen Firmen und Bne Briss-Logen im Falle des zehnjährigen Lehrersohnes Hermann Scher, der sich seit 1921 in Beelitz befand, dessen Aufenthalt zu finanzieren. Auch hier hatte sich Bein sehr dafür eingesetzt, dass der Junge, obwohl er nur sehr langsam Fortschritte machte, in der Anstalt bleiben 125 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 905. 126 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. 127 Ende Dezember 1923 betrug die Schuld bei der Sparkasse über 90 Billionen Mark – und zwar ohne die Zinsen. Am 10. September 1923 hätte Bein noch acht Zentner Kartoffeln für 15 Millionen Mark je Zentner kaufen können, während am 21. September der Zentner bereits 40 Millionen Mark kostete. 1923 gab die Anstalt acht Milliarden Mark täglich für Brot aus. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 986. 128 Bein zufolge waren Mosse und seine Frau »äusserst liebenswerte prächtige Menschen und gute Juden«. Schreiben an DIGB, 11. Oktober 1923. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 986. 129 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 986. 130 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 131 Bei Eröffnung der Anstalt hatten die Pflegegelder 300 Mark im Jahr betragen. Zu Anfang des Krieges waren sie auf 600 Mark erhöht worden. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 994.

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konnte, da der Vater in »sehr bescheidenen Verhältnissen« lebte und durch die »Rückführung des Kindes wirtschaftlich stark belastet« würde.132 Es kam sogar vor, dass Ausländer doppelt marginalisiert wurden, da bei ihnen die Gefahr der Ausweisung bestand. Als etwa die Unterhaltszahlungen des Vaters von Manoach Kleinmann aus Tel Aviv teilweise unterblieben, versuchte Bein, das städtische Wohlfahrtsamt zur Übernahme der Pflegekosten zu bewegen, das sich zwar zur Zahlung bereit erklärte, jedoch gleichzeitig die Ausweisung beantragte, da die »Einwohnerschaft […] nicht verstehen [würde], wenn neben den Lasten für die Inländer auch solche noch für Ausländer hinzu kämen«. Der Hinweis Beins, dass gerade die Erziehungsstätten in Deutschland als die »Besten der Welt« gelten würden und daher der Erfolg der Erziehung von Kleinmann nur zur »weiteren Geltung und Anerkennung Deutschlands im Auslande« führen würde, fruchtete nichts. Es kam sogar zu innerjüdischen Kompetenzstreitigkeiten bezüglich einer Lösung. Eugen Caspary (1853-1931), Leiter des Berliner Jugend- und Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde Berlin und Gründer der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, argumentierte, dass das »beste und zweckmässigste für den Jungen die Reise zu seinen Eltern nach Palästina« sei. Die »Fahrt nach der Heimat wird ihm gut tun, die Kosten des Beelitzer Aufenthalts könnten gespart oder anders verwendet werden, die Fürsorge einer liebenden Mutter ist die beste Medizin«. Caspary, nie um Worte verlegen, wenn es darum ging, die seiner Ansicht nach veralteten Methoden des DIGB zu kritisieren, zeigte hier wenig Verständnis für die heilpädagogischen Bestrebungen von Beelitz und glorifizierte stattdessen Mütterlichkeit. Die Drohung der Ausweisung bezeichnete er schlichtweg als »Quatsch«133, da bisher nur kriminelle Personen ausgewiesen worden seien. Das Problem löste sich schließlich von selbst, denn im November 1927 holte die Mutter den Jungen aus der Anstalt ab, und beide kehrten nach Tel Aviv zurück.134 »Es ist immer das alte Lied: nicht nach Beelitz und nicht zu schwachsinnigen Kindern«: Erfolg und Misserfolg der Heilpädagogik Die bürgerlichen Nützlichkeits- und Brauchbarkeitsideale waren in europäischen Ländern die Ziele der Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung.135 Auch in Beelitz war der Zweck der Anstalt, die Kinder zu Menschen zu erziehen, und deshalb müssen sie arbeitssam und strebsam, tüchtig und fleissig werden. Erst wenn sie arbeiten gelernt haben, dann sind sie brauchbare Men-

132 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 981. 133 Schreiben Casparys an den Arzt Dr. Sandler vom 9. Mai 1927. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2435. 134 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2435. 135 Barow (2009), S. 114.

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schen, und dadurch sind sie auch für andere Menschen brauchbar und dadurch in der menschlichen Gesellschaft nützlich.136

Aber auch der Charakter sollte nicht zu kurz kommen, und daher galt es, das »Rechtsgefühl zu wecken, Folgsamkeit auf der einen Seite, Hebung des Selbstgefühls und Widerstandsfähigkeit gegen […] fremde Einflüsse, denen Schwachsinnige so leicht zugänglich sind, zu erzeugen«, damit sie weder eine »unerträgliche Last der ihrigen« noch zum »Gespött der Mitmenschen« würden.137 Dieses Ziel sollte erreicht werden, indem Jungen in einem Handwerk138 und Mädchen für die Hausarbeit ausgebildet wurden. Auch der »Dienstbotennot«, oft in der Presse beklagt, sollte so abgeholfen werden, obwohl seit der Jahrhundertwende Dienstmädchen als besonders gefährdet galten, was das sogenannte »Abgleiten in Unzucht« betraf.139 Wilhelm Neumann hatte bereits 1907 in einem Vortrag ausgeführt, dass Schwachsinnige für gewisse Tätigkeiten geradezu prädestiniert seien. Es sei »erfreulich, dass für gewisse mechanische Handgriffe, wie sie der moderne Betrieb mit sich bringt, Imbecille und Debile sich williger verwenden lassen, als die intelligenten Arbeiter«.140 Diese Ansicht wurde ebenso von manchen in der Heilpädagogik tätigen Erziehern vertreten mit dem Argument, dass Menschen mit geistiger Behinderung sich für schwere körperliche Arbeit eigneten, die sie »dauernd, willig und ordentlich« verrichteten.141 Der von Bein ausgearbeitete Lehrplan lehnte sich an den anderer Hilfsschulen an. Freilich und durchaus gegen die Bedenken des Schulinspektors142 wurden die Kinder auch in Hebräisch unterrichtet, da »wir [es] ja wohl nicht ausschalten dürfen«, allerdings wurde dem Fach »nicht viel Zeit zugewendet, so dass die Kinder dadurch nicht zu sehr belastet werden«. Einige Monate nach Eröffnung der Anstalt besuchte der Ortsschulinspektor Trieloff das Heim und verbrachte fast den ganzen Vormittag dort. Er zeigte 136 Brücker Wochenblatt 26 (182) vom 19. Dezember 1909, o. S. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 137 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 138 Je nach Begabung und Geschicklichkeit kamen nach Ansicht des DIGB folgende Tätigkeiten in Frage: Korbflechterei, Bürstenbinderei sowie Gärtnerei. Zöglinge, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügten, versuchte man als Schneider, Schuhmacher oder Buchbinder auszubilden. Geistig höherstehende Jugendliche sollten einen Beruf als Tischler, Schlosser, Klempner oder Bäcker ergreifen. Wer sich für keinen dieser Berufe eignete, sollte Arbeiter oder Laufbursche werden. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 139 Angeblich war etwa ein Drittel bis fast die Hälfte der Prostituierten als Dienstmädchen tätig gewesen. Kremer (2002), S. 54. 140 Referat für die Großloge, 14. März 1907. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 141 Brill (1994), S. 32. 142 Der Staat hatte seit der Emanzipation massiv in das jüdische Schulwesen eingegriffen, worunter der Hebräischunterricht besonders litt. Breuer (1986), S. 91-93, sowie Prestel (1989), S. 88-91, 162.

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sich »entzückt und angenehm überrascht über all das was er sah und hörte« und äußerte sich »sehr lobend und anerkennend« über den Unterricht. Wiederholt gab »er seiner Freude Ausdruck über die geistigen Kenntnisse und handlichen Fertigkeiten der Kinder. Er hat das alles hier gar nicht erwartet.« Die Klassen waren klein, und so konnte Bein berechtigterweise von einem Individualunterricht sprechen. Jedenfalls interessierte sich Trieloff für die angewandten Methoden, um sie auch in anderen Institutionen einzuführen143, da die Kinder in Beelitz eine »der Mittelstufe einer guten Volksschule entsprechende Bildung« erhielten144. Aus den offiziellen Berichten sowie der Korrespondenz von Eltern und Bein lässt sich ein ungefähres Bild über den Erfolg der Anstalt gewinnen. Einer Angabe des DIGB zufolge waren von den bis zum Frühjahr 1919 in der Anstalt gewesenen 92 Knaben und 51 Mädchen 25 Prozent voll sowie weitere 25 Prozent teilweise erwerbsfähig. 25 Prozent zeigten Fortschritte in ihrer Entwicklung, konnten jedoch keinem Erwerb nachgehen. Die restlichen 25 Prozent mussten aus dem Heim wieder entfernt werden, da die heilpädagogische Behandlung ohne ausreichenden Erfolg blieb, was zeigt, dass die Ärzte, die die Aufnahme ins Heim empfahlen, entweder unrealistische Erwartungen hatten oder den Grad der Behinderung nicht richtig diagnostizieren konnten.145 Zu den erfolgreichen Fällen zählte Rudi Schendel, der in einer Druckerei arbeitete. Von Flora Silberstein, die fünf Jahre in Beelitz gelebt hatte, hieß es im März 1926, dass sie eine Stelle in einem jüdischen Haushalt in Berlin erhalten habe. Sie schrieb »ganz beglückt«, da sie als »Kind des Hauses angesehen und auch so behandelt« wurde. Dementsprechend fühlte sie sich recht wohl.146 Sie war also dank der heilpädagogischen Erziehung in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Im Fall der Erna Scharlinski war Bein noch 1928 der Ansicht gewesen, sie eigne sich dafür, in einer jüdischen Familie oder einem jüdischen Heim als Helferin zu arbeiten. Es zeigte sich jedoch, dass die Skepsis des Jüdischen Wohlfahrtsamtes Berlin berechtigt gewesen war, denn im März 1930 berichtete Bein, dass Erna, die »augenblicklich« an ihren »Memoiren« schrieb, zur Bühne wolle. Sie ließe sich auch durch den Hinweis, dass viele Schauspieler Hunger litten, nicht davon abbringen, sondern meinte vielmehr, dass sie so viel Unsinn machen würde, »dass alle lachen werden und da wird sie schon sehr schön verdienen«.147 Dieser Berufswunsch entsprach keineswegs den 143 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 144 Paetz (1996), S. 314f. 145 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 992. Damit entsprach die Erfolgsquote in Beelitz derjenigen der Provinzial-Kinderanstalt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn, wo einer Statistik aus dem Jahre 1928/29 zufolge ungefähr 75 Prozent der Kinder eine »deutliche intellektuelle Förderung« erkennen ließen. Waibel (2000), S. 143. 146 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 147 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988.

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Erwartungen des Heims. Die heilpädagogische Erziehung scheiterte an der Phantasiewelt mancher Kinder, die im Widerspruch mit den Anforderungen der bürgerlichen Welt stand.148 Im Hinblick auf die Nützlichkeitsdebatte drückten Heilpädagogen ihren Stolz aus, wenn Männer mit geistiger Behinderung aufgrund der erhaltenen Erziehung dazu imstande waren, »das Vaterland zu verteidigen«.149 Auch für Bein war daher ein Indiz für den Erfolg die Einberufung zum Militär und die Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Aron Hess war vor Verdun verwundet worden.150 Nach Kriegsende war er in Cottbus in einer Schneiderwerkstatt tätig. Auch Martin Friedland konnte dem »Heeresdienst genügen«.151 Die beiden hatten offensichtlich gute Erinnerungen an das Heim, denn sie verbrachten im Januar 1919 einige Tage ihres Urlaubs dort. Bein war überrascht, »welches ungewöhnlich reiche politische Wissen diese Burschen besitzen«. Martin Friedland, der Berufssoldat werden wollte, war über »alle politischen Vorgänge« in einer »solch hervorragenden Weise informiert wie man es von einem unserer früheren Zöglinge nicht für möglich gehalten hätte«. Ob der DIGB so ganz glücklich darüber war, dass Friedland ein »wahrhafter Sozialdemokrat« geworden war, der am »liebsten in die republikanische Volksarmee eintreten« wollte, entzieht sich der Kenntnis, ist aber aus der Perspektive des Heimes wohl als Erfolg anzusehen.152 Bein hatte teilweise hohe Ansprüche an die Kinder gehabt. So wollte er der Öffentlichkeit beweisen, dass »auch unsere schwachsinnigen Kinder dahin zu bringen sind, Denkspiele zu spielen«. Deshalb gab es einen Schachverein, der mit ausdrücklicher Genehmigung von Emanuel Lasker dessen Namen führte. Der Verein war ziemlich erfolgreich, da einige der Zöglinge durchaus gute Schachspieler waren. Als im April 1926 taubstumme Kinder und Jugendliche in Beelitz übernachteten, konnte Bein voller Stolz berichten, dass »unsere Kinder bei weitem besser Schach spielen, als die normal begabten taubstummen Kinder«.153 Auch der Sportklub »Makkabi« siegte

148 In anderen heilpädagogischen Heimen wurden Jugendliche dann entfernt, wenn sie den Erwartungen nicht entsprachen. Im Oskar-Helene-Heim, in dem körperbehinderte Jugendliche eine Berufsausbildung erhielten, war »deviantes Verhalten der Grund für ein Ausscheiden aus dem Lehrvertrag«. Dort mussten die Jugendlichen ihre Ausbildung abbrechen, wenn sie zu wenig »Lust« oder »Neigung« zeigten – etwa wenn sie sich unerlaubt aus der Anstalt entfernten oder wegen »schlechten Betragens«. Zwei Jugendliche begingen sogar Selbstmord. Osten (2004), S. 163. 149 Brill (1994), S. 31, sowie Droste (1999), S. 53. 150 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 151 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 152 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 153 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987.

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in einem Wettkampf gegen den Sportklub einer nicht näher genannten Schule.154 Da viele Eltern ihre Kinder in eine jüdische Anstalt gaben, damit sie als Juden und Jüdinnen aufwuchsen, stellt sich die Frage nach Vermittlung jüdischer religiöser Identität. Für koscheres Essen war gesorgt, und es fand ein Gottesdienst am Sabbat und an den jüdischen Feiertagen statt. Religiöse Feste dienten darüber hinaus dazu, Spenden zu erbitten. Vor allem anlässlich des Chanukkafestes sollten die Zöglinge Dankbarkeit zeigen, um die Gönner der Anstalt bei guter Laune zu halten.155 Manche Kinder überforderte dies, und sie standen bei »all dem Jubel […] der ganzen Sache apathisch gegenüber«.156 Andere Feiertage wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert, um die Kinder »in das religiöse Leben eines jüdischen Hauses« einzuführen.157 Einigen Kindern gelang es sogar, an Jom Kippur »gut« zu fasten.158 Bein zufolge hatten die geistig höherstehenden Kinder »manchen Gewinn in sittlich-religiöser Beziehung«, da der Gottesdienst auf die Kinder zugeschnitten war, wenn auch nicht alle von ihnen aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten in der Lage waren, am Gottesdienst teilzunehmen. Manche Kinder hielten sogar die »Kinderpredigt«, deren Ziel es war, sie zu selbständigem Denken anzuregen. Dieser Versuch kam gut an, denn daran beteiligten sich sogar Kinder, »die sonst kein Wort reden«.159 Bei BarMizwa-Feiern gelang es sogar, »religiöse Gefühle in dem Grade zu wecken, dass ohne Befürchtung einer blossen äusserlichen Zurschaustellung bei den […] Zöglingen die Zeremonie der Einsegnung vorgenommen werden« konnte.160 Es kam vor, dass Kinder, die früher bei nichtjüdischen Pflegemüttern untergebracht gewesen waren, weiter Kontakt miteinander hielten. So lud die Pflegemutter der Liselotte Benda, »die das Kind sehr lieb und gern hat«, Liselotte zu Ostern ein. Bein hatte keine Bedenken, wollte jedoch, 154 Zedakah. Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege (Juli 1928), S. 32. 155 1916 betrugen die Chanukka-Spenden 1615 Mark. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 156 So forderte Bein die Zöglinge »zur Dankbarkeit gegen ihre Freunde und Wohltäter, gegen alle diejenigen, die ihnen helfend und ratend zur Seite stehen, vor allem aber gegen Gott, der ihnen Gesundheit geschenkt und in den Herzen vieler Frauen und Männer das Gefühl der Liebe und des Wohltuns für sie erweckt hat«, auf. Brücker Wochenblatt 26 (182) vom 19. Dezember 1909, o. S. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 157 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 158 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 159 Drovs (2000), S. 58. 160 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. Auch andere in der Heilpädagogik tätige Personen sahen in der religiösen Erziehung ein wirksames Mittel für die sonstigen Erziehungsziele. So argumentierte z. B. Linus Bopp (1887-1971), Ordinarius für Pastoraltheologie und Pädagogik an der Universität Freiburg/Brsg., dass auch für die »Erziehung der Schwererziehbaren sehr viel gewonnen [sei], wenn sie religions- und sakramentsreif geworden sind«. Weinmann (2003), S. 179.

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dass sie an Pessach im Heim verblieb: »Das Kind ist ein jüdisches Kind und muss Pessach im jüdischen Heim verbleiben.«161 Ein weiteres Problem war die Unterbringung von Zöglingen in Lehrstellen, in denen am Sabbat nicht gearbeitet wurde. Bein war hier durchaus zu Kompromissen bereit, wenn es darum ging, Jugendlichen eine Lehrstelle zu verschaffen.162 Manche Insassen und Insassinnen waren dem Heim sehr nützlich, indem sie Arbeiten erledigten, für die es kein Personal gab. Deshalb wollte Bein sich auch nur ungern von ihnen trennen. So schrieb er im September 1926 über Erich Gebhardt, dass »wir ihn für alle vorkommenden Hausarbeiten brauchen« könnten.163 Leo Lauterstein eignete sich für Botengänge. Gasten Cerf war geschickt im Nähen, Flicken und Ausbessern, hatte allerdings eine »reiche Phantasie« und konnte sich nur schwer unterordnen. Er widersprach immer, »führte ein grosses Wort« und erkannte keine Autorität an. War er allerdings »bei Laune und guter Stimmung«, half er beim Säubern der Schlafsäle und Schulklassen und nähte für die Kinder. Überaus begeistert zeigte sich Bein von der 1902 geborenen Klara Edel, die »eine grosse Stütze« seiner Frau war und bei der er befürchtete, dass sie außerhalb des Heimes nicht so gut arbeiten würde, weswegen er sie in Beelitz behalten wollte. Damit stieß er jedoch beim DIGB auf wenig Verständnis. Bein solle aus den Reihen der jüngeren Zöglinge einen Ersatz suchen, denn Jugendliche wie Gebhardt und Edel könnten leichter als andere in einer Stelle untergebracht werden und bewiesen den Erfolg der Heilpädagogik.164 Bein hatte im Falle von Klara Edel recht gehabt, die nur innerhalb der Anstalt wirklich zurechtkam, wo sie »willig und arbeitsam war«, jedoch auch manchmal nicht in der Lage, »die ihr zugewiesenen Arbeiten zu erledigen«, und daher Schaden anrichtete. So war es kein Wunder, dass sie in anderen Arbeitsverhältnissen versagte. Vom Elternhaus konnte sie keine Hilfe erwarten, da die Eltern kein Verständnis für die »Eigenart des Kindes« zeigten. Ihr Vater interessierte sich nur dafür, dass seine Tochter etwas verdiente.165 Als Klara nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen auf eine landwirtschaftliche Stelle vermittelt wurde, »drohte ihr die Mutter, sie zu Hause nicht mehr aufzunehmen«, falls sie auch aus dieser Stelle weglaufen würde. Klara tat genau das und traute sich deshalb nicht nach Hause, »irrte einen Tag und eine Nacht in Berlin herum, folgte auch einem Herrn in die Woh161 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 162 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 163 »Er fegt die Häuser, hilft bei der Heizung, schaltet das Wasser ein, macht Arbeiten, die wir vom Personal nicht gut verlangen können, wir haben ja auch für die Hausreinigung gar kein Personal, wir machen doch alles nur mit unseren Kindern, und da hilft Erich ganz gut mit.« CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 164 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 987. 165 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2415.

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nung« und kehrte dann nach Beelitz zurück, da sie »keinen Ausweg mehr wußte«.166 In einem Schreiben des DIGB vom 16. Juni 1921 war die Rede davon, dass Klara in Gefahr sei, sittlich zu verwahrlosen, und in einem Bericht vom 18. Juli 1923 erscheint sie dann auch als Fürsorgezögling. Da Klara nicht auf Dauer in Beelitz bleiben konnte und nicht in der Lage war, selbständig einem Erwerb nachzugehen, wurde im Januar 1928 der Antrag gestellt, sie in das Dauerheim für Jüdische Schwachsinnige nach Weißensee zu geben.167 Bein, der sich durchaus für seine Zöglinge aufopferte, zeigte bisweilen auch seine Frustration. So beklagte er im September 1929, dass die »tiefstehenden« Zöglinge Schäden verursachten und »viel Unruhe und Ärger und Verdriesslichkeiten« bereiteten. Sie rissen die Spülungsketten an den Toiletten ab, verstopften diese, zertrümmerten Fensterscheiben, nahmen Türklinken ab und beschmierten die frisch getünchten Wände.168 Mindestens einer der Insassen litt wahrscheinlich an manischer Depression, die nicht erfolgreich mit Medikamenten behandelt werden konnte169, und wurde deshalb als Psychopath kategorisiert170. So hieß es 1928 über den elternlosen Kurt Blumenthal, dass er »unruhig, geschwätzig, unflätig in seinen Ausdrücken, unbeherrscht in seinem Verhalten« sei. Er lehne sich gegen jede Autorität auf. Er äußerte Selbstmordgedanken und wollte »alle totschlagen«.171 Während depressiver Phasen war der Junge weder an Sport noch an Geselligkeit interessiert, deswegen konnten auch keine »besonderen Fortschritte« erreicht werden.172 Auf wiederholtes Drängen von Bein kam der Junge am 13. Juni 1930 in die Landesanstalt Potsdam, wo der Direktor ihn im April 1933 als »schwachsinnigen Psychopathen«, der dauernder Pflege bedurfte, einstufte. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt.173 Diese nicht ungewöhnliche Kategorisierung von geistig behinderten Jugendlichen lag wiederum im zeitgenössischen Diskurs begründet, da auch renommierte Psychiater bei »leichteren Schwachsinnszuständen den ethischen Defekt für weitaus auffälliger hielten als die intellektuelle Minderbegabung«. Somit wurde »die Grenze 166 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2416. 167 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2415. 168 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 1006. 169 Der Junge wurde mit Brom und Adalin behandelt. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2399. 170 Bein sprach von zwei Kategorien von Psychopathen, den aktiven und den passiven. Die passiven würden zu Selbstmordversuchen neigen und keine Lust zur Arbeit zeigen, während der aktive Typus »Lügenhaftigkeit, Schadenfreude, Verstocktheit und Hinterlist« aufweise. CAHJP, Inv. 78/2. 171 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 172 Bericht über Kurt Blumenthal vom 1. Oktober 1926 bis 1. April 1927. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2399. 173 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2399.

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zwischen Psychopathie und Schwachsinn tendenziell aufgehoben«.174 Im Fall der 1916 geborenen Ruth Holzheim vermutete Bein eine Psychose, als sie im Februar 1933 schrie und tobte. Sie sah einen toten Vogel in ihrem Bett und hatte Angstzustände. Sie kam am 10. Februar 1933 in die Berliner Charité. Dort wurde die Diagnose gestellt, dass die Erregungszustände nur vorübergehend seien und sie deshalb wieder in die Anstalt zurückkehren könne.175 Dies war jedoch eine Fehldiagnose, denn kurze Zeit später sah sie wieder Vögel – ihre Wahnvorstellungen hielten an. Nun wurde sie am 2. Mai nach Hause geschickt und damit ihrem Schicksal überlassen. Manche Jugendliche entliefen aus der Anstalt. David Plelis, der im Januar 1930 weggelaufen war, weil er nicht genügend Futter für seine Hühner erhalten hatte, zeigte noch andere Verhaltensstörungen. Er deklamierte im Wald biblische Geschichten und hielt »aufwieglerische Reden an die Kinder«. Deswegen konnte er nicht wie ursprünglich geplant bei einem Gutspächter in Priedel bei Trebbin untergebracht werden.176 Probleme machten bisweilen pubertierende Jugendliche. Herman Österreich und Bernhard Blumann wurden im Mai 1930 aus Beelitz entfernt, da »wir hier Mädchen haben, die den Jungen entgegenkommen zu scheinen«.177 Da die schwierigsten Fälle ausgegrenzt wurden178, erschien die Erfolgsbilanz insgesamt größer. Der Arzt Nawratzki, Vorsitzender der Aufnahmekommission, seine Stellvertreter und Nachfolger hatten weitgehende Befugnisse. Auf deren Anordnung hin wurden Zöglinge entfernt.179 Es kam allerdings durchaus zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Bein und dem jeweiligen Arzt in der Aufnahmekommission, wobei hervorgehoben werden muss, dass in der Heilpädagogik generell das Verhältnis der Ärzte zu den Pädagogen nicht ohne Spannung war, da Erstere nach medizinischen Lösungen suchten, während für Letztere erzieherische Maßnahmen ausschlaggebend waren.180 Bein plädierte im Juni 1910 für die Entfernung von Markus Baruch, den er als »raffinierten Dieb« bezeichnete und von dem er befürchtete, dass seine »Putzsucht und Hinneigen zum anderen Geschlecht« sich negativ 174 Kremer (2002), S. 28. 175 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2428. 176 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 177 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 178 Allerdings kamen auch Ausnahmen vor. So schrieb der DIGB im April 1917, dass ein 14-jähriges Mädchen in der Anstalt eintreffen werde, »das Sie unter allen Umständen aufnehmen müssen, da wir Herrn Abraham, der uns so vielseitig gefällig ist, die Aufnahme des Mädchens, falls Dr. Nawratzki nichts einzuwenden hat, bestimmt zugesagt haben«. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 983. 179 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 180 Möckel (2007), S. 147, 114.

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auswirken würden. Dagegen wies D. Wolff, der Arzt, der Nawratzki vertrat, Bein darauf hin, dass er nicht so schnell aufgeben solle, denn schließlich seien die Kinder eben nicht normal. Er empörte sich auch über die Ansicht Beins zur Sexualität des Knaben. »Ganz ungeheuerlich erscheint mir dasjenige, was Herr Bein von der sexuellen Veranlagung des Knaben berichtet, wo der Junge doch erst 14 Jahre alt ist.«181 Da Markus jedoch auch in der Nacht in die Küche schlich, um nach Esswaren zu suchen, und ferner die Überbleibsel aus dem Hundenapf aß, empfahl man der Mutter, ihn in eine Anstalt für Geisteskranke zu verbringen.182 Was übrigens die Sexualität der Zöglinge anging, so verlangte der DIGB bei der Aufnahme Auskunft über die »geschlechtlichen Unarten« der Kinder183, womit man offenbar auf die als schädlich betrachtete Masturbation zielte184. Indikativ waren auch die zahlreichen Personalprobleme, die besonders in den Anfangsjahren auftraten. Bein wie der DIGB bevorzugten jüdisches Personal185, was einerseits praktische Gründe hatte, da eine jüdische Köchin »wohl am besten mit der rituellen Küche vertraut«186 war, aber ebenso als Zeichen von Dissimilation und Ausdruck der Wahrung von Ethnizität interpretiert werden kann. Allerdings zeigten nur die wenigsten Juden und Jüdinnen ein Interesse an einer Anstellung in Beelitz.187 Als es Bein im Mai 1928 gelungen war, zwei jüdische Kindergärtnerinnen zu gewinnen, überlegte es sich eine anders, weil ihre Mutter »befürchtete, die Arbeit würde ihr zu schwer sein«. Die andere trat zwar ihre Stelle an, kündigte jedoch bereits nach zwei Monaten.188 Ein Problem lag sicherlich darin, dass die Kindergärtnerinnen auch Hausarbeiten übernehmen mussten, wozu Bein zufolge die meisten nicht bereit waren.189 Ein weiterer Grund lag in den geringen 181 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2400. 182 Schreiben vom 7. Dezember 1911. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2400. 183 Um Onanie zu verhindern, hatten die Kinder die Hände »auf das Deckbett« zu legen. Schul- und Hausordnung in Beelitz. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 525. 184 Siehe dazu u. a. Stengers/Van Neck (2001). 185 So schrieb Bein am 27. September 1909, dass die Anstalt »nur im äussersten Falle« eine Christin engagieren würde. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Im Jahre 1930 befürchtete Bein, dass der Schulrat darauf bestehen würde, nichtjüdische Junglehrer, die keine Stelle hätten, in Beelitz einzustellen. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 186 Schreiben Beins an DIGB vom 21. April 1909. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 187 Im März 1910 wird allerdings von einer jüdischen Köchin namens Hedwig Friedmann berichtet. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 188 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 189 Schreiben vom 27. September 1909. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Auch Gertrud Benzian beklagte noch 1921, dass das jüdische Mädchen »den Intellekt« überschätzen würde »und die wahren Aufgaben einer Wirtschafterin nicht durchschaut und sich infolgedessen geistig zu hoch hält, um sich einem solchen Beruf zuzuwenden. Ihr fehlt sowohl das Verständnis für die volkswirtschaftliche Notwendigkeit dieser Arbeit als auch der Sinn für das ›Ich diene‹ der Diakonissin.« Benzian, Gertrud: Der Mangel an

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Gehältern, die Beelitz zahlte190, und der mangelnden Bereitschaft der Bewerber/Bewerberinnen und neuen Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen, mit geistig behinderten Kindern zu arbeiten. »In jedes andere Kinderheim wollen die Damen gehen, nur nicht zu schwachsinnigen Kindern. […] Es ist immer das alte Lied: nicht nach Beelitz und nicht zu schwachsinnigen Kindern.«191 Aber auch jüdische Lehrer blieben nicht immer lange und arbeiteten oft nur unwillig in der Anstalt – sehr zum Missfallen des Direktors.192 Er zeigte wenig Verständnis für Angestellte, die nicht wie er selbst ein wirkliches Engagement aufbrachten und die lediglich deshalb eine Stelle in Beelitz annahmen, damit sie in der Nähe von Berlin sein konnten.193 Bein, der sich nicht nur für die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiete der Psychologie und Medizin interessierte, um sie in seine heilpädagogischen Maßnahmen zu integrieren, sondern auch mit eigenen Ideen in die Debatte um die Psychopathen eingriff194, wollte auch die bei ihm angestellten Lehrer für den neuesten Stand der Wissenschaft begeistern. Deshalb gründete er 1928 eine Arbeitsgemeinschaft und fand es frustrierend, wenn Lehrer sich vor der Teilnahme drückten.195 Auch der Lebenswandel mancher Lehrer war Bein ein Dorn im Auge. Ein Lehrer hatte sich mit den Pflegerinnen »eingelassen« und war auch unzuverlässig im Aufsichtsdienst.196 Wie berechtigt seine Kritik auch gewesen sein mochte, so zeigt dies doch, dass der DIGB kein be-

jüdischem Erziehungspersonal. In: Zedakah. Mitteilungen der ZWSt 4 (August-Dezember 1921), S. 61. 190 So verlangte im August 1928 Gertrud Fröhlich 100-120 Mark, während Beelitz nur 60 Mark zahlen wollte. Die 28-jährige Frida Gross, die im Oktober 1928 die Stelle als Kindergärtnerin angenommen hatte, erhielt sogar nur 50 Mark im Monat. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 191 Schreiben vom 4. Dezember 1928. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 192 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 996. 193 Als 1930 alle drei Lehrer (Apt, Katzmann und Jonas) zum gleichen Zeitpunkt kündigten, schloss Bein, dass es der »Zug nach der Großstadt« sei. »Beelitz liegt eben zu nah der Großstadt, und das ist eher ein Unglück als ein Vorzug für das Heim.« CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 194 CAHJP, Inv. 78/2. 195 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. Damit befand sich Bein im Einklang mit den Ansprüchen des Kalmenhofs, wo ebenso die Anforderungen an das Lehrpersonal ausgesprochen hoch waren. Vor allem psychologische Kenntnisse wurden neben der fachlichen Ausbildung verlangt. Erwartet wurden: »Arbeitsfreudigkeit, Idealismus, Geduld und Liebe, um trotz ›mancher Enttäuschungen‹ angesichts der oftmals unbefriedigenden Unterrichtsresultate engagiert weiterarbeiten zu können; permanente Selbstreflexion und Selbstbeherrschung, um die Kinder angemessen behandeln zu können und Überforderungen auszuschließen […], Selbstbewußtsein, Integrität und Autorität, damit sich die Kinder an der Persönlichkeit des Lehrers orientieren und ihr eigenes Handeln an seinen Maßstäben messen können«. Schrapper/Sengling (1988), S. 102. 196 Protokoll vom 20. September 1926. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 525.

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sonders gutes Gespür für die Anstellung von Personal hatte197 und kaum jemand den hohen Ansprüchen von Bein gerecht werden konnte. Der Altersunterschied spielte sicherlich auch eine Rolle, denn die Lehrer waren alle jung, und teilweise war dies ihre erste Stelle.198 Diskriminierung Frauen gegenüber in den ersten Jahren des Bestehens der Anstalt war ein weiterer Grund für Probleme. Bein bevorzugte die Anstellung von männlichem Lehrpersonal, da »der ganze Stunden- und Arbeitsplan […] durch einen Lehrer viel vorteilhafter eingerichtet« werden könne als durch eine Lehrerin.199 Warum dies so sein sollte, erklärte Bein zwar nicht; für die jüdischen Lehrerinnen, die aufgrund ihres Geschlechts und ihrer ethnischen Zugehörigkeit große Schwierigkeiten hatten, eine Anstellung zu finden, bedeutete dies, dass sie selbst in einer jüdischen Anstalt nicht unbedingt willkommen waren. Bein befand sich mit dieser Anschauung jedoch im Einklang mit zeitgenössischen Vorstellungen, die die Heilpädagogik aufgrund der Betonung wissenschaftlichen und vor allem medizinischen Wissens in die Nähe von Berufen rückten, die ausschließlich Männerberufe waren.200 Nachdem in den Anfangsjahren die Angestellten häufig wechselten, wurde es sogar dem DIGB zu viel, und man warf Bein vor, dass der »stete schnelle Wechsel des Personals« der Beweis dafür sei, dass er mit den Angestellten nicht richtig umgehe. Das Personal sei mit »Freundlichkeit« zu behandeln und kleine Wünsche seien zu erfüllen, »damit sie ihre Arbeit mit Lust und Liebe ausführen«.201 Der Arbeitstag in der Anstalt war lang202, und viel Freizeit gab es nicht. So hatten Bein und seine Frau zwar Anspruch auf einen Urlaub von 14 Tagen jährlich, jedoch konnten sie diesen nicht gleichzeitig antreten, da auch in den Ferien Zöglinge in der Anstalt waren.203 Da Bein und seine Frau mit unermüdlichem Einsatz arbeiteten, verwundert es wenig, wenn der Direktor 197 Im Dauerheim in Weißensee war 1929 ein Alkoholiker als Lehrer angestellt gewesen, der, »nachdem er von Sonntag bis Donnerstag in einer Tour sein Sauflaster fortgesetzt hat«, entlassen wurde. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 1018. 198 1928 war Bein 47 Jahre alt, während Theodor Apt 24 Jahre zählte, Hermann Levy 28 Jahre und Nathan Lischner 22 Jahre. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 988. 199 Schreiben vom 2. September 1909. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 200 Wolfisberg (2002), S. 74. 201 So war der DIGB der Ansicht, es sei einem erwachsenen Mann nicht zuzumuten, Brot mit Pflaumenmus zum Frühstück zu essen. Schreiben vom 20. Juli 1909. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 202 Im Sommer wurde um 6 Uhr und im Winter um 6:30 Uhr aufgestanden. Die Zöglinge wurden eine halbe Stunde später geweckt. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 525. 203 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. Im September 1926 hieß es, dass Frau Bein in den 18 Jahren ihrer Tätigkeit »noch nicht einmal einen Urlaub genommen« habe. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 525.

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nicht einsah, warum das Personal oft wenig Initiative zeigte und sich über die »Knochenarbeit« beschwerte. Bein lobte aber auch sein Personal, wenn es, »ohne zu murren und zu schimpfen«, unangenehme Tätigkeiten wie das Reinigen eines Knaben, der sich jede Nacht beschmutzte, erledigte.204 Waren die Angestellten zudem Juden, befürwortete Bein auch Gehaltserhöhungen wie im Falle des Pflegers Nothenberg, unter dessen Anleitung die Kinder eine »Reihe schöner Gegenstände« geschaffen hätten, damit er an der Anstalt bleibe.205 Auch einer an Gelenkrheumatismus leidenden Pflegerin wurde die Arbeit erleichtert, so gut es ging. Da der 1910 angestellte Lehrer Amschel »ganz begeistert für die Sache« war und zudem »auch in den Fächern bewandert, worauf ich besonderen Wert lege«, zeigte sich Bein mit ihm zufrieden.206 Schlussbemerkung: Deutschland und seine Erziehungsstätten – die »Besten der Welt«? Die im Rahmen der bürgerlichen Wohltätigkeit unternommenen heilpädagogischen Versuche dienten dazu, diese Randgruppe, die die Gesundheit der Nation zu gefährden schien207, soweit möglich, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Die heilpädagogischen Maßnahmen wurden jedoch beeinträchtigt, wenn die Eltern mit ihren Unterhaltszahlungen im Rückstand blieben und die Kinder aus der Anstalt entfernt wurden. Bei ausländischen Kindern drohte zudem die Ausweisung.208 Zudem kamen nur solche Kinder in den Genuss philantropischer Bestrebungen, die man mit zeitgenössischen heilpädagogischen Methoden und Medikamenten209 fördern zu können glaubte. Epileptiker und Epileptikerinnen blieben weiterhin ausgegrenzt, da sie der Meinung des Arztes Nawratzki zufolge »für die anderen Kinder störend und auf sie von ungünstigem Einfluss« seien.210 204 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 205 Da Nothenberg sich »hier ganz gut eingearbeitet« habe, wollten »wir ihn insofern noch behalten […], weil er Jude ist«. Schreiben vom 10. Juni 1909. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 206 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 207 In den Jahren 1908 bis 1938 waren insgesamt 240 Jungen und 140 Mädchen im Beelitzer Heim gewesen. Paetz (1996), S. 316. 208 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 981. 209 In Beelitz wurden hauptsächlich Brom und Adalin verabreicht. Im Falle von Epileptikern hatte vor allem eine Brombehandlung zahlreiche Nebenwirkungen. Möller (2010), S. 135f. 210 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 980. Was nichtjüdische Anstalten anging, so teilten manche wie der Wittekindshof diese Ansicht und argumentierten, dass Epileptiker zu viel Unruhe unter Menschen mit geistiger Behinderung brächten, während in Stetten im Remstal die geistig behinderten und die epileptischen Kinder die gleiche Schule besuchten, da man sich positive Einflüsse auf die geistig behinderten Kinder versprach. Schmuhl/Winkler (2012), S. 154f.; Möckel (2007), S. 131.

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Ein Grund mag auch darin gelegen haben, dass noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft die Auffassung vertrat, Epilepsie sei eine Geistes- und Erbkrankheit.211 Für die nicht bildungsfähigen Kinder und Jugendlichen blieben nur Anstalten für Geisteskranke übrig, während Epileptiker und Epileptikerinnen in christlichen Anstalten leben mussten212, wo man zudem bisweilen versuchte, sie zur Taufe zu bewegen213. Eine jüdische Anstalt für Epileptiker wäre ein dringendes Bedürfnis gewesen, jedoch scheinen nie Anstrengungen unternommen worden zu sein, eine solche zu gründen.214 Der Schulbehörde zufolge galt Beelitz vor allem in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als beispielhafte Einrichtung, an der andere Institutionen sich orientieren sollten, so dass die jüdische Gemeinschaft eine führende Rolle in der Heilpädagogik innehatte. Bein und seine Frau waren eingeladen, an Lehrerkonferenzen teilzunehmen, um ihre Ideen vorzustellen.215 Leider geht aus den Quellen nicht hervor, inwieweit dies durchgeführt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigten darüber hinaus Pädagogen, Ärzte und Sozialarbeiter wie auch die zionistische Exekutive in Palästina Interesse am Heim, so dass Bein auf den ausgezeichneten Ruf von Beelitz selbst im Ausland hinweisen konnte.216 Als fortschrittlich muss auch hervorgehoben werden, dass uneheliche Kinder zu einer Zeit in Beelitz Aufnahme fanden, als die meisten jüdischen Waisenhäuser ihnen ihre Tore verschlossen hatten.217 Mit dem Kalmenhof allerdings konnte sich Beelitz nicht messen, da man dort über qualifiziertere Fachkräfte verfügte, das Personal auch zu Fortbildungskursen freigestellt wurde, eine Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Instituten stattfand, man anstatt Kindergärtnerinnen Lehrerinnen anstellte und 1929 ein Neurologe und Psychiater sowie eine Psychologin in Dienst genommen wurden.218 211 Möller (2010), S. 11. 212 1907 waren 25 jüdische Epileptiker in christlichen Anstalten. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 991. 213 Im Falle der 18-jährigen Pauline Rosenbaum, die in der Bodelschwinghschen Anstalt Bethel bei Bielefeld war, versuchte diese seit Jahren, »die Kranke durch die Taufe in den Schoss der evangelischen Kirche aufzunehmen«. Schreiben vom 7. August 1908. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 772. 214 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 772. 215 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982. 216 Schreiben Beins an DIGB, 29. März 1927. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2435. Bereits im August 1913 besuchte Sanitätsrat Dr. Minor, Professor an der Nervenklinik in Moskau, das Heim, das »ihm so wohl gefallen hat, dass er sich Abschriften der Lehr- und Beschäftigungspläne für einen grösseren von ihm zu veröffentlichenden Aufsatz ausbat«. 6. Rechenschaftsbericht Beelitz 1913. CAHJP, D/Ko1/501. 217 Prestel (1994), S. 95. 218 Schrapper/Sengling (1988), S. 113.

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Die unterschiedliche Einstellung bei der Behandlung von Randgruppen kam besonders in den Kriegsjahren zum Tragen. In Anstalten für Geisteskranke traten erstmals ärztliche Maßnahmen in Erscheinung, die Formen der späteren Euthanasie vorwegnahmen. Zwei Jahre nach Kriegsende etwa wiesen der Strafrechtswissenschaftler Karl Binding (1841-1920) und der Professor für Neuropathologie an der Universität Freiburg, Alfred E. Hoche (1865-1943), in ihrer Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form« darauf hin, dass die Versorgung von »Vollidioten« schwer auf der Allgemeinheit laste.219 Auf evangelischer Seite wurde im Gegensatz zu katholischen Kreisen die Forderung der Eugenik nach Sterilisierung von geistig behinderten Menschen220 mehr und mehr befürwortet. Da das protestantische Deutschland keinen Widerspruch zwischen Moderne und Christentum sah, stieß die Rassenhygiene auf rege Zustimmung, während die Katholiken von der überzeitlichen Wahrheit der Religion und kirchlicher Dogmen ausgingen und solches Gedankengut ablehnten.221 Weder der DIGB noch Bein plädierten für die Sterilisierung von geistig behinderten Menschen oder für Eheverbote.222 Vielmehr schien man sich der Ansicht von Wladimir Eliasberg, dem leitenden Arzt der Klinik für Nervenleiden, Heilpädagogik und Sprachstörungen in München, angeschlossen zu haben, der als einer der wenigen Ärzte die Ansicht vertrat, die Wissenschaft hätte die Verpflichtung, nicht aufzugeben, sondern »unermüdlich an ihnen [den geistig Behinderten] weiterzuforschen, bis wir einst in der Lage sind, ihnen und ihresgleichen wirklich zu helfen«.223 Drovs führt diese unterschiedliche Einstellung auf die soziale Gesetzgebung der Bibel sowie der jüdischen Tradition zurück.224 Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass auch in jüdischen Kreisen – u. a. bei den in der Frauen219 Schmuhl/Winkler (2012), S. 214. 220 Der leitende Arzt der Landesheilanstalt Katharinenhof in Großhennersdorf/Sachsen, Dr. Ewald Meltzer (1869-1940), war nicht nur ein Verfechter der rassenhygienischen Sterilisierung, sondern nahm auch illegale Sterilisierungen vor. Schmuhl/Winkler (2012), S. 217. Der Zwickauer Arzt Gustav Boeters veranlasste aus »rassenhygienischen« Gründen 63 Sterilisierungen in den Jahren 1921 bis 1925, obwohl dies eine strafbare Handlung darstellte. Möller (2010), S. 156. Auch in Schweden befürworteten in der »Schwachsinnigenfürsorge« engagierte Personen die Sterilisierung von geistig behinderten Frauen, bevor sie aus der Anstalt entlassen wurden. Barow (2009), S. 134. 221 Die päpstliche Enzyklika »Casti conubii« hatte sich eindeutig gegen Sterilisierung ausgesprochen. Schmuhl/Winkler (2012), S. 217. 222 Einer der Anstaltsinsassen war jedoch 1932 sterilisiert worden. Aus dem Gutachten der neurologischen Abteilung des Krankenhauses Moabit geht nicht hervor, auf wessen Initiative dies geschah. Es heißt lediglich, dass man an dem 1904 geborenen Max Kaufmann »aus therapeutischen Zwecken« eine »Unterbindung der Samenleiter« vorgenommen habe. Gutachten vom 6. Juni 1932. CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 2433. 223 Brill (1994), S. 182. 224 Drovs (2000), S. 26-30.

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bewegung tätigen Jüdinnen – das Thema Rassenhygiene debattiert und teilweise befürwortet wurde225, so dass die Zugehörigkeit zum Judentum als Erklärungsversuch nicht genügt. Ferner sprachen auch nichtjüdische Pädagogen und Ärzte, die sich der Geistesschwachen annahmen, diesen nicht das Lebensrecht ab.226 Vielmehr setzten sich manche Pastoren und Leiter christlicher Anstalten für geistig behinderte Menschen ein, als sich während des Ersten Weltkrieges infolge der Unterversorgung die Sterberate drastisch erhöht hatte.227 Zudem waren die wenigsten Vorsitzenden des DIGB religiöse Juden.228 Vielmehr drückten sie ihre jüdische Identität in ihrer Philantropie aus229, bei der die Religion eher eine äußerliche Rolle spielte. Das soziale Engagement war an die Stelle religiöser Traditionen getreten. Der Hauptgrund für die Verpflichtung zur Heilpädagogik lag in der Person Beins und seiner Frau begründet, die nichts unversucht ließen, damit die ihnen anvertrauten Kinder zu essen hatten und nicht froren, wobei das Ehepaar auf die Unterstützung des DIGB rechnen konnte. Wenn dazu auch längere Verhandlungen mit staatlichen Stellen notwendig waren, da vor allem der Landrat Schwierigkeiten machte230, gelang es Bein trotzdem, die erforderlichen Nahrungsmittel zu erhalten. Aus humanitären Gründen nahm das Heim während des Krieges Kinder auf, von denen keine besondere Förderung zu erwarten war und die sogar unter Umständen einen negativen Einfluss auf die anderen Zöglinge ausüben konnten.231 Das Heim in Beelitz beachtete sehr das Bedürfnis von Eltern geistig behinderter Kinder nach Dissimilation, Vermittlung einer religiösen jüdischen Identität232, Schutz vor Antisemitismus und nach beruflicher Ausbildung oder zumindest Förderung ihrer Kinder. Es gab auch finanzielle Vorteile, da die Pflegesätze in den christlichen Anstalten bei weitem höher lagen als in Beelitz.233 Auch das Beispiel der »Schwachsinnigenfürsorge« zeigt deutlich, dass Eltern nicht nur »ethnic self-awareness« demonstrierten, sondern 225 So forderte z. B. Henriette Fürth in ihrer Schrift »Die Regelung der Nachkommenschaft als eugenisches Problem« auch die Sterilisierung im Dienste der Eugenik. Brill (1994), S. 170. Alfred Adler dagegen hatte sich gegen die Sterilisierung von Menschen mit geistiger Behinderung ausgesprochen und plädierte für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse. Barow (2009), S. 234. 226 Geiger (1977), S. 190. 227 Im Wittekindshof z. B. lag die Sterberate vor dem Krieg bei 2,5 Prozent. Sie stieg während des Krieges kontinuierlich an und erreichte im Jahre 1918 den höchsten Stand von 10,91 Prozent. Schmuhl/Winkler (2012), S. 208. 228 Penslar (1993), S. 63. 229 Penslar (1993), S. 73. 230 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 982; CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 983. 231 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 984. 232 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 979. 233 CJA, 1, 75 C Ge 1, Nr. 985.

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auch für die Bewahrung dieser Ethnizität kämpften und sich durchaus mit Ärzten anlegten, falls diese den Bestrebungen im Wege standen, oder sie gegebenenfalls in diesem Kampf für ihre Interessen engagierten.234 Obwohl jüdische Behinderte bereits vor dem Beginn des Massenmordes Opfer der Euthanasieaktionen wurden235, konnte das Heim in Beelitz sich noch bis 1942 halten236. Am 2. Juni 1942 wurden Sally Bein, seine Frau und eine seiner Töchter237 sowie 23 Kinder deportiert und ermordet238. Bein und seine Frau opferten ihr Leben für ihre Schützlinge. Konnte EllgerRüttgardt 1996 noch konstatieren, dass die Forschungsdefizite zum Thema jüdische Heilpädagogik enorm seien239, so hofft die Autorin, mit dieser Arbeit eine Lücke wenigstens teilweise erhellt zu haben.

234 Zu den Diskussionen über dieses Konzept siehe u. a. Albert (1982); Volkov (1983). 235 Friedländer hat darauf hingewiesen, dass die ersten jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik die Behinderten waren. Friedländer (1997), S. 94. 236 Seit 1937 versuchte der Ortsgruppenleiter jedoch, in den Besitz des Heimes zu gelangen, wogegen sich die jüdische Gemeinde Berlin zunächst erfolgreich und mit Würde wehren konnte. Brandenburgisches Staatsarchiv Potsdam, 2152. 237 Das Paar hatte zwei Töchter, Hanna Lotte und Lisa Karola. Hanna war emigriert, während Lisa ermordet wurde. Hinz-Wessels (2008), S. 484, 487. 238 Paetz (1996), S. 326. 239 Drovs (2000), S. 23.

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Bibliographie Archivalien Neue Synagoge Berlin, Centrum Judaicum Archiv (CJA) 1 (Gesamtarchiv der deutschen Juden), 75 A Ha 1 1, 75 A Be 2 1, 75 C Ge 1 Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP) D/Da1/505 D/Fu2/418 D/Ko1/501 Inv. 78/2 Brandenburgisches Staatsarchiv Potsdam 2152

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Jüdische Gehörlose in Deutschland 1800-1933. Blicke in die Geschichte einer doppelten Minderheit Ylva Söderfeldt Summary Deaf Jews in Germany, 1800-1933. A look at the history of a dual minority This study examines the importance of religious denomination in the German community of deaf people in the 19th century and up until 1933, focusing on the dual minority status of deaf Jews. It shows that the educational system for the deaf and the deaf movement as such were, in structure and content, informed by the Christian, primarily the Protestant, faith. This meant that deaf Jewish people were in danger of facing a conflict between their identity as Jews and their identity as deaf people. In order to resolve this dilemma, Jewish philanthropists and deaf people created a range of complementary structures: schools where deaf Jewish children received tuition tailored to their needs, religious services in sign language and a Jewish deaf association for mutual support and companionship. But being members of two stigmatized and marginalized groups made the Jewish deaf vulnerable from several sides. The discursive association of deafness, Judaism and heredity played a particular part in this. This study comes to the conclusion that deaf Jews did not want to choose between their deaf and Jewish identities but they wanted to belong to both. As a result they suffered from the negative views that some deaf people had of Jews and some Jews of deaf people – as well as from the double discrimination by the mainstream society.

Einleitung Minderheiten, Randgruppen und benachteiligte Menschen historisch zu betrachten, führt nicht nur zu einer neuen Sicht auf die Gesellschafts- und Ideengeschichte, es bringt auch häufig den Wissenschaftler in eine Welt der Verstrickungen und Widersprüche. Aus der scheinbar banalen Erkenntnis, dass die Stellung des Einzelnen nicht nur aus Klasse oder Geschlecht oder Religion oder (Nicht-)Behinderung besteht, folgt, dass klare, eindeutige Schlüsse über Machtverhältnisse und Gruppenzugehörigkeit schnell zu Generalisierungen und neuer Unsichtbarmachung führen. Aus diesem Grund ist der intersektionale Blick notwendig, um die Überschneidungen von mehreren Strukturen der Macht gleichzeitig betrachten zu können. In diesem Beitrag soll eine Gruppe behandelt werden, die besonders stark von diesen multiplen Konflikten und Prozessen der Macht geprägt gewesen ist: gehörlose Juden. Gehörlose sind zugleich eine Behindertengruppe und eine kulturelle und sprachliche Minderheit. Das fehlende Gehör und die dadurch nicht erlernte Lautsprache führten zu der bis in die Neuzeit bestehenden Vorstellung, ›Taubstumme‹ seien nicht ›bildbar‹. Als dies widerlegt wurde und ab dem 18. Jahrhundert an immer mehr Orten in Europa und Amerika Gehörlosenschulen gegründet wurden, entstand eine auf Gebärdensprache begründete Minderheitskultur. Das Anliegen der hörenden Lehrer war keineswegs, eine solche Gruppe zu fördern – befürworteten sie doch besonders in MedGG 32  2014, S. 207-230  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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Deutschland die ›orale Methode‹, die die Gebärdensprache ersetzen und zur Assimilation führen sollte. Trotzdem entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten ›Taubstummenvereine‹, wo die Gebärdensprache und Gemeinschaft unter Gleichgesinnten gepflegt werden konnten. Die organisierten Gehörlosen wollten Teil der Mehrheitsgesellschaft und gleichzeitig der Gehörlosengemeinschaft sein, was aber zu einem tiefgehenden Konflikt mit dem Bildungswesen führte. Es gab in diesem Zeitalter des Nationalismus wenig Platz für kulturelle und sprachliche Minderheiten in Deutschland, genauso wenig in Frankreich und den USA.1 Selbstverständlich war die Gehörlosengemeinschaft ebenso wenig wie die Gesellschaft im Ganzen eine homogene Gruppe. Strukturen der Ausgrenzung aufgrund von Klasse, Geschlecht, Wohnort und Bildung durchfurchten auch die Gehörlosenbewegung, so dass viele Gehörlose auch innerhalb der ›eigenen‹ Gruppe als ›andere‹ betrachtet wurden. In diesem Aufsatz soll die Rolle der Konfession, unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Gehörlosen, in der ›Taubstummenwelt‹ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts untersucht werden.2 Sarah Abrevaya Stein hat vor wenigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass gehörlose Juden eine distinkte Gruppe bilden, deren Situation im frühen 20. Jahrhundert bis jetzt wenig Beachtung gefunden hat. Sie kritisiert, dass die Forschung zur Gehörlosengeschichte das Gehörlose auf Kosten des Jüdischen betone und so wichtige Aspekte der Geschichte dieser doppelten Minderheit nicht erkenne.3 In Deutschland ist die Geschichte der Gehörlosen im Allgemeinen weniger erforscht als in Amerika. Die Verfolgung von gehörlosen Juden im Nationalsozialismus gehört daher zu den vergleichsweise häufig untersuchten, aber keineswegs ausgeschöpften Themen. Die Zeit vor 1933 wird dabei aber meistens nur als eine Vorgeschichte der Verfolgung behandelt.4 Dabei sind das 19. und frühe 20. Jahrhundert eine besonders interessante Zeit, da unter dem schon erwähnten aufstrebenden Nationalismus sowohl Juden als Gehörlose unter massiven Druck gesetzt wurden. Beide Gruppen beschäftigten sich, wie Stein vermerkt, intensiv mit der Frage der Assimilation oder kulturellen Selbstbehauptung.5 Mark Zaurov hat die theologischen und soziologischen Grundlagen der gehörlosen Juden erforscht und sie als eine doppelte kulturelle Minderheit 1

List (2004); List (2000); Prillwitz (1990); Quartararo (1993); Baynton (1996), S. 26-34.

2

Die Verfasserin möchte Professor Robert Jütte herzlich für die Ermunterung danken, diesen Aufsatz zu schreiben, und für seine kritische Beratung und viele wichtige Hinweise zum Inhalt. Tim Ohnhäuser war mit Ratschlägen zur Behandlung des Themas und sprachlichen Korrekturen sehr behilflich.

3

Stein (2009).

4

Vgl. u. a. Biesold (1988); Ryan/Schumann (2002); Greenberg/Alpert (2003); Dunai (2002); Biesold (1993).

5

Stein (2009), S. 278.

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bezeichnet. Nach Zaurov sind Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Gruppe sowohl unter Gehörlosen als auch Juden zu finden. Damit laufen jüdische Gehörlose Gefahr, in der Gehörlosengemeinschaft als Juden und in der jüdischen Gemeinschaft als Gehörlose stigmatisiert zu werden. Weiter sind die Erwartungen und Normen auf beiden Seiten teilweise widersprüchlich, so dass der jüdische Gehörlose in den Konflikt geraten kann, zwischen beiden Zugehörigkeiten wählen zu müssen.6 Im Talmud werden Gehörlose mit ›Irren‹ und Minderjährigen gleichgestellt, es sei denn, sie können reden. Wo andere Behindertenkategorien nur teilweise von der Einhaltung der Gebote ausgenommen sind, wird für die nicht sprechenden Gehörlosen eine pauschale Ausnahme gemacht. Ihnen wird ein Status als Menschen zugesprochen, aber der Ausschluss von fast jeder religiösen Handlung sieht eine Existenz am Rande der Gemeinschaft vor. Spätere Interpretationen nehmen dagegen Rücksicht auf die inzwischen vorhandene Gehörlosenbildung und erkennen die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel an, wobei in der Frage kein Konsens herrscht.7 Es soll im Folgenden geprüft werden, ob die Situation für jüdische Gehörlose im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik ähnlich konfliktreich war, wie Zaurov sie für die Gegenwart zeichnet. Die Problemstellung lautet: Was bedeutete es zu dieser Zeit, in der Gehörlosengemeinschaft jüdisch bzw. in der jüdischen Gemeinschaft gehörlos zu sein? Weiter soll die Funktion der Vorstellungen über ›die Juden‹ bzw. ›die Taubstummen‹ in der Debatte und Selbstdarstellung der entsprechenden Gruppen gezeigt werden. Eine Vorgeschichte bis ins frühe 19. Jahrhundert und ein Ausblick auf die NS-Zeit sollen die Analyse chronologisch einordnen. Die wichtigsten Quellen sind Fachliteratur über ›Taubstumme‹ und ›Taubstummenbildung‹ und die Vereinspresse der Gehörlosenbewegung. Als jüdisch bzw. gehörlos betrachte ich in diesem Zusammenhang diejenigen, die in den Quellen so oder mit verwandten Begriffen bezeichnet wurden.8 ›Taubstummenwesen‹ und Konfession im 19. Jahrhundert Als im 18. Jahrhundert die ersten systematischen Unternehmungen im Bereich der Gehörlosenbildung entstanden, spielte der religiöse Aspekt eine

6

Zaurov (2003), S. 73-101. Beispielsweise erwähnt er, dass Treffen im Gehörlosenverein häufig an Samstagen stattfinden und dass die Erwartung, innerhalb der jüdischen Gruppe zu heiraten, mit dem Wunsch nach einem ebenfalls gehörlosen Partner schwer zu vereinbaren sein kann. Weiter ist das Angebot an gebärdeten oder gedolmetschten Gottesdiensten unzureichend, so dass eine Barriere in der Ausübung der Religion entsteht.

7

Steinberg (2003), s. v. ›deafness‹.

8

›Taubstumme‹ war damals das gängige Wort für Gehörlose. In manchen Quellen kommen die Wörter ›israelitisch‹ oder ›mosaisch‹ vor.

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entscheidende Rolle. Gehörlose »zu vernünftigen Erdnern bilden«9, bedeutete unter anderem, ihnen die Heilsbotschaft zu übermitteln. Der Gründer der ersten Gehörlosenschule, der Abbé de l’Epée, war ein katholischer Geistlicher, und es folgten in der ganzen westlichen Welt zahlreiche ähnliche, konfessionelle ›Taubstummeninstitute‹. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als soziale und ökonomische Integration und ›Nützlichkeit‹ an Bedeutung gewannen, war die religiöse Erziehung ein Hauptziel des ›Taubstummenwesens‹. Auch an nichtkonfessionellen Schulen war der Religionsunterricht ein wesentlicher Bestandteil und in der Literatur das Thema, wie man ›Taubstumme‹ zur Religiosität erziehen könne, zentral.10 Hier ging es in erster Linie um das Christentum. Die Pioniere und führenden Persönlichkeiten der ›Taubstummenbildung‹ waren fast ausschließlich Christen, und ihr Glauben prägte das von ihnen entwickelte Curriculum. Jüdische Schüler nahmen bis Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt am allgemeinen Unterricht der deutschen Institute teil und mussten ihren Religionsunterricht, wenn überhaupt möglich, anders organisieren. In der Königlichen Taubstummenanstalt in Berlin waren zum Beispiel in den Jahren 1810 bis 1826 sechs jüdische Schüler bzw. Schülerinnen verzeichnet. Sie waren damit die größte religiöse Minderheit in dieser nichtkonfessionellen, aber überwiegend von Protestanten besuchten Einrichtung.11 Zwischen 1845 und 1868 wurde dort von einem Rabbiner jüdischer Religionsunterricht erteilt.12 Auch in katholischen Gegenden gab es Initiativen für Gehörlose. Hauptsächlich handelte es sich dort um kirchliche Schulen und Heime wie die großen Einrichtungen in Ursberg und die Wagner’schen Anstalten in Bayern. Gehörlose Kinder wurden dort unterrichtet und konnten nach Schulabschluss in der Anstalt bleiben. Besondere Bedeutung hatten diese Einrichtungen für lernbehinderte Kinder, erwerbsunfähige erwachsene Gehörlose und für gehörlose Frauen.13 Obwohl Zugehörige anderer Religionen nicht von der Aufnahme ausgeschlossen waren, prägten die kirchlichen Träger den Heimalltag in starkem Maße. Angesichts dieser Situation zögerten jüdische Eltern häufig, ihre gehörlosen Kinder zur Schule zu bringen. Auch wenn sie bereit waren, ihre Kinder in 9

Eschke (1803), S. 5. Eschke war Direktor der Königlichen Taubstummenanstalt in Berlin und spricht hier von seinen Beweggründen für die Berufswahl.

10 Vgl. Rée (1999), S. 151, 156, 162; Sylvia Wolff (2000); Branson/Miller (2002), S. 40; Baynton (1996), S. 15-21. 11 Jahres-Listen der Königlichen Taubstummenanstalt. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Provinzialschulkollegium, Bestand Pr. Br. Rep. 34, Nr. 1304, 1305, 1307, 1310. 12 Walther (1888), S. 188; weitere Angaben dazu haben sich nicht ermitteln lassen. 13 Söderfeldt (2013), S. 79-84.

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einer christlich geprägten Schule unterrichten zu lassen, scheiterte die Aufnahme an manchen Orten an Diskriminierung.14 Als Reaktion auf diesen Zustand wurden 1844 in Wien und 1873 in Berlin jüdische ›Taubstummenanstalten‹ gegründet, wo gehörlose jüdische Kinder einen auf ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse zugeschnittenen Unterricht genießen konnten. Wie viele andere Gehörlosenschulen auch waren diese Einrichtungen Internate. Während des Schuljahres musste die familiäre Atmosphäre der Schule die ursprüngliche Familie ersetzen. An einem jüdischen Institut konnte aber trotz der geographischen Entfernung eine Verbindung zur Kultur und Religion des Elternhauses aufrechterhalten werden – z. B. durch Einhaltung des Sabbats und der jüdischen Feiertage, Gottesdienste und Unterricht in Religion und Hebräisch.15 Die Anstalten in Berlin und Wien waren bis ins 20. Jahrhundert eher gebärdensprachig geprägt. Beide zeichneten sich durch ein interkulturelles Profil aus. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu gleich drei kulturellen Gruppen kommt in einer Biographie des (hörenden) Gründers der Berliner Anstalt, Markus Reich, zum Ausdruck. Laut seinem Sohn Felix hatte Reich ein spezifisches Ziel: jüdischer Taubstummenlehrer in Deutschland zu sein. Er habe Angebote von jüdischen Handwerksschulen und einer jüdischen Taubstummenschule in England gehabt, ebenso die Möglichkeit, sich taufen zu lassen und in einer deutschen Taubstummenschule zu arbeiten. Reich konnte sich aber nicht vorstellen, Kompromisse mit einem der drei Bestandteile seines Vorhabens einzugehen.16 In der von ihm gegründeten Israelitischen Taubstummen-Anstalt (ITA) in Berlin-Weißensee wurden so das Deutsche, das Jüdische und das Gehörlose vereint. Die Pflege jüdischer Identität fand neben Erziehung zum deutschen Patriotismus statt, die Gebärdensprache hatte ebenso wie die Lautsprache ihren Platz.17 Das Resultat war erfolgreich, wie eine Übersicht aus Berlin zeigt: Mindestens 80 Prozent der Schulabgänger konnten einen Beruf ergreifen. Auffallend viele unter ihnen bildeten sich in feineren Handwerksarten oder Künsten aus, wie z. B. Schriftsetzen, Zahntechnik, Bildhauerei oder Uhrmacherei.18 Ein Studium war für sie zu dieser Zeit nicht möglich, weshalb angesehenere Handwerksberufe und Künste eine große Bedeutung für die ambitionierten und begabten Gehörlosen hatten.19

14 Sonke (1993), S. 43; Sachs (2000), S. 36f. 15 Vgl. Sachs (2000), S. 39. 16 Reich (1923), S. 6f. 17 Sonke (1993), S. 49-51. 18 Reich (1923), S. 21f.; vgl. Sachs (2000), S. 47. 19 Söderfeldt (2013), S. 34-45, 195-206.

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Mit der ITA hatte sich in anderen Worten eine Gruppe gebildet, die eine Reihe von Eigenschaften gemeinsam hatte: Die Absolventen waren gehörlos, jüdisch, hatten eine gute Schulbildung und typischerweise einen Beruf im oberen Segment des Handwerkssektors. Außerdem teilten sie die Erfahrung, in der ITA erzogen worden zu sein, in einer Anstalt also, wo die drei Bestandteile ihrer kulturellen Identität (deutsch, jüdisch und gehörlos) aktiv gefördert wurden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft diese dreifache Zugehörigkeit besonders viel Angriffsfläche bot. Seelsorge und Gemeinschaft: Die Bedeutung religiöser Angebote für die Gehörlosenkultur Die Schulen waren, wie schon erwähnt, die bedeutendsten Begegnungsstätten für Gehörlose und spielten eine entscheidende Rolle in der Entwicklung von Sprache, Kultur und Gemeinschaft. Es existierten aber auch nach beendeter Schulzeit Orte, wo Gehörlose sich versammelten. Es gibt aus dem 19. Jahrhundert Hinweise auf bestimmte Kneipen und Privatwohnungen, wo man sich regelmäßig getroffen hat.20 Dazu kommen die Gotteshäuser: Häufig wurde in der Religionsausübung eine Ausnahme vom Zwang zur Lautsprache gemacht. Dort, wo es religiöse Angebote für Gehörlose gab, hatten sie also neben der religiösen Aufgabe auch eine Funktion als Treffpunkte.21 Wo die Gehörlosengemeinschaft eher mit Misstrauen betrachtet wurde, waren die von den Glaubensgemeinschaften geschaffenen Treffen sanktionierte gebärdensprachige Räume. Die Möglichkeit, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, variierte aber stark je nach Religionszugehörigkeit und Wohnort. Die Evangelische Kirche war der größte Anbieter von Seelsorge und Gottesdiensten für Gehörlose. In Berlin hat es ab 1866 regelmäßige evangelische Gottesdienste für Gehörlose gegeben. Der Prediger Reinhold Schönberner war auch Taubstummenlehrer und beherrschte die Gebärdensprache.22 Ende des 19. Jahrhunderts konnte der Evangelische Oberkirchenrat feststellen, dass Geistliche mit einer Grundausbildung in der »Methode des Verkehrs mit den Taubstummen«23 an mehreren Orten tätig waren. Regelmäßige Gottesdienste wurden in größeren Städten gehalten und ein reisender Geistlicher bot den Gehörlosen Seelsorge an.24 20 Söderfeldt (2013), S. 109-124. 21 Winzer (1993). 22 Schorsch (1925), S. 61. 23 Braun, Mittheilung des Evangelischen Ober-Kirchenraths betr. die kirchliche Versorgung der Taubstummen, 1891. GStA Pk, Bestand 1 HA Rep. 89 22575. 24 Braun, Mittheilung des Evangelischen Ober-Kirchenraths betr. die kirchliche Versorgung der Taubstummen, 1891. GStA Pk, Bestand 1 HA Rep. 89 22575.

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Eine Übersicht der religiösen ›Versorgung‹ der Gehörlosen im gesamten Kaiserreich kann anhand des Taubstummenkalenders gemacht werden. In diesem jährlich erscheinenden Heft wurden Vereine, Schulen und andere Einrichtungen zusammengestellt und so eine Orientierung in der deutschen ›Gehörlosenwelt‹ angeboten. In der Ausgabe von 1913 waren 139 Orte mit regelmäßigen evangelischen Gottesdiensten eingetragen, katholische Gottesdienste jedoch nur 20; jüdische Gottesdienste waren überhaupt nicht mit aufgenommen.25 Allerdings muss dieses Bild in Frage gestellt werden, da wir wissen, dass es z. B. in der ITA regelmäßig Gottesdienste gab.26 Ähnliche, aber nicht erfasste Veranstaltungen an anderen Orten sind daher nicht auszuschließen. Im Jahre 1922 waren im Taubstummenkalender sogar 244 Orte mit evangelischen und 72 mit katholischen Gottesdiensten gelistet, aber die jüdische Seelsorge war immer noch nicht erfasst. Der aufmerksame Leser konnte jedoch in dem Vereinsregister Angaben wie die in Zusammenarbeit mit dem Israelitischen Taubstummen-Zweigverein Schlesien zu Breslau gehaltenen Gottesdienste finden.27 Eine Bewegung für den evangelischen Kleinbürger: Die Rolle der Konfession in der Gehörlosenbewegung Aus eigener Initiative der Gehörlosen entstanden in Europa und Nordamerika ab den 1830er Jahren Vereinigungen, die in Umfang und Anzahl stetig wuchsen und am Ende des Jahrhunderts eine internationale und lebhafte Bewegung ausmachten. In Deutschland wurde der erste ›Taubstummenverein‹ 1848 in Berlin gegründet; im Jahre 1913 gab es im ganzen Kaiserreich fast 300 solcher Vereine.28 Die deutsche Gehörlosenbewegung ging von Berlin aus und hatte eine enge Verbindung zur evangelischen Kirche. Es gab zwar im Allgemeinen keine formalen Hürden für Zugehörige anderen Glaubens, aber durch die Inhalte und Strukturen der Vereine und Veranstaltungen wurde nicht nur der Kleinbürger, sondern speziell der evangelische Kleinbürger zum Prototyp des Vertreters der Gehörlosenbewegung. Der jährliche Höhepunkt der organisierten Gehörlosen war das Kirchenfest in Berlin. Diese Veranstaltung versammelte ab 1866 eine große Anzahl von angereisten Gehörlosen. Für viele war das Kirchenfest die einzige Gelegenheit, andere Gehörlose zu treffen. In Verbindung mit dem evangelischen Gottesdienst wurden Gesellschaftsabende und andere Vergnügen angeboten. Die große Versammlung wirkte aber dem Ziel der Assimilation der Gehörlosen in die hörende Gesellschaft entgegen. Aus diesem Grund wur25 Dude (1912), S. 114-120. 26 Sonke (1993), S. 70. 27 Härdtner (1921), S. 43-54, 98. 28 Vgl. Söderfeldt (2013); Quartararo (2008); Murray (2007).

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den die Kirchenfeste ab 1882 von staatlicher Seite nicht mehr unterstützt. Auf Verlangen von führenden Taubstummenlehrern wurde die ermäßigte Bahnfahrt nur noch zum Besuch von auf lokaler Ebene gehaltenen Gottesdiensten gewährt. So konnte man sich fortan nur in kleineren Gruppen und nicht mehr in eigener Regie zum Gottesdienst treffen.29 Laut späteren Angaben waren solche Ermäßigungen auch für den Besuch der gebärdeten Gottesdienste an der ITA erhältlich.30 Dies hatte sicherlich eine große Bedeutung für jüdische Gehörlose aus Orten, wo solche Angebote fehlten. Jedoch waren sie, wie auch die kleineren christlichen Gottesdienste, nicht mit den großen Kirchenfesten zu vergleichen. Als Verbindung zwischen den vereinzelt lebenden Gehörlosen im deutschsprachigen Raum hatte die Presse eine besondere Bedeutung. Die erste Zeitschrift für Gehörlose in deutscher Sprache waren die Blätter für Taubstumme, die ab 1852 in Württemberg erschienen. Die Herausgeber waren hörende ›Taubstummenlehrer‹ und die Inhalte von stark christlich-evangelischer, moralischer und erzieherischer Natur. Als im Jahre 1872 die erste von Gehörlosen gemachte Zeitschrift, der Taubstummenfreund, erschien, änderte sich in dieser Hinsicht nicht sehr viel. Predigten und andere christliche Texte, vornehmlich des vorgenannten Reinhold Schönberner, nahmen neben Nachrichten aus den Vereinen und dem Schulwesen eine zentrale Stellung ein. Die Predigten wurden in beinahe jeder Ausgabe abgedruckt oder erschienen als relativ umfangreiche Beilagen. Damit waren sie häufig die einzigen längeren Textabschnitte in der Zeitschrift – Unterhaltsames und Interessantes ohne christliche Prägung war nur ab und zu im Taubstummenfreund zu finden. Im Taubstummenfreund wurden jedoch von Seiten der deutschen Gehörlosengemeinschaft jüdische Gehörlose erstmals thematisiert. »Jetti, die taubstumme Jüdin« war der Titel einer Geschichte, die 1875/76 als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde.31 Es ging hier um die unglückliche Ehe zwischen einer gehörlosen Frau und einem hörenden Mann. Dass beide jüdisch waren, wurde anfangs angegeben, aber war für die Handlung von keiner besonderen Bedeutung. Jetti war an erster Stelle gehörlos und Joseph, ihr Mann, hörend. Daraus ergab sich ihr Konflikt. Die Moral der Geschichte war wohl, dass es von untergeordneter Bedeutung war, die Religionsgemeinschaft zu teilen, und die Gehörlosigkeit ein wichtigeres Merkmal darstellte. Auch strukturell hatten die Gehörlosenbewegung und das ›Taubstummenwesen‹ eine deutlich christliche Prägung. Es war beispielsweise üblich, in den Vorstand eines ›Taubstummenvereines‹ einen Pfarrer oder Priester zu berufen. Auch auf Kongressen war der gemeinsame – immer christliche – 29 Söderfeldt (2013), S. 183-186. 30 Vgl. Anzeige in Das Band 5 (1930), H. 8, S. 62. 31 Reutemann (1875/76).

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Gottesdienst ein wiederkehrender Programmpunkt.32 Zusammen betrachtet ergibt sich also das Bild, dass ein ›Taubstummer‹ christlichen, besonders protestantischen Glaubens im Vergleich zu einem katholischen oder jüdischen ›Taubstummen‹ deutlich bessere Möglichkeiten hatte, sich in dieser Landschaft zurechtzufinden, und weniger Risiko lief, in Loyalitätskonflikte zwischen seiner religiösen Gemeinschaft und der Gehörlosengemeinschaft zu geraten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Tendenz jedoch abgeschwächt. Dies geschah einerseits in Form einer wenigstens teilweisen Abkoppelung der Gehörlosenwelt von der Kirche, andererseits durch die Gründung jüdischer ›Taubstummenvereine‹. Die Presse und die Kongresse wurden politisiert und die Belehrung, auch religiöser Art, verlor an Bedeutung. Bernhard Brill, Sohn eines Rabbiners und in der Wiener Israelitischen Taubstummenanstalt ausgebildet, hatte hier eine besondere Bedeutung.33 Er gründete 1885 den Taubstummencourier, der mit seinem radikalen und anspruchsvollen Inhalt eine neue Phase der Gehörlosenpresse einleitete. Im Taubstummencourier äußerten sich die deutschsprachigen Gehörlosen zum ersten Mal kritisch zum Bildungssystem. Im deutlichen Kontrast zum erzieherisch-religiösen und unterhaltsamen Taubstummenfreund war der Taubstummencourier in erster Linie eine Zeitschrift im Sinne einer Interessensvertretung. Dort wurden die Gehörlosen betreffende Fragen intensiv debattiert, statt die Leser zu belehren; religiöse Fragen wurden kaum thematisiert. Die Gehörlosenbewegung vom Einfluss der Kirche zu befreien, scheint ein Hauptanliegen Bernhard Brills gewesen zu sein. Schon auf dem ›Taubstummenkongress‹ in Wien 1874 wehrte er sich gegen den Beschluss, »Gottesdienste in allen Vereinen einzuführen«. Seine Begründung war, dass Religionsausübung keine Sache des Vereinswesens sei.34 Obwohl keine Konfession konkret erwähnt wurde, liegt es nahe, dass solche Gottesdienste sich an der jeweiligen Mehrheit vor Ort ausgerichtet hätten, also katholisch oder evangelisch gewesen wären. Die Folge wäre damit wiederum eine verstärkte Konfessionalisierung der Gehörlosenvereine gewesen, was Brill offensichtlich vermeiden wollte. Sein Antrag wurde jedoch abgelehnt, und der Kongress sprach sich für Gottesdienste in den Vereinen aus. Koordiniert durchgeführt wurde dieser Beschluss in der Folge allerdings nie. Neben der von Brill erstrebten Dekonfessionalisierung der Gehörlosenbewegung organisierten sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts jüdische Gehörlose in eigenen Vereinen. Ihr Wunsch war es, parallel in religiös neutralen, allgemeinen Gehörlosenvereinen und in spezifisch jüdischen aktiv zu sein. Diese Doppel-Mitgliedschaft wurde aber mit Misstrauen betrachtet. Als im April 1896 die Gründung eines israelitischen Taubstummenvereins 32 Söderfeldt (2013), S. 160, 190. 33 Schott (1999), S. 146. 34

Protokoll in Der Taubstummenfreund 3 (1874), H. 7-8-9, S. 57.

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in Berlin angekündigt wurde, traf ein Protest aus Wien ein. Julius Wolffreim schrieb von dort aus dem Taubstummenfreund, es hätte früher unter den Wiener Taubstummen Einigkeit geherrscht – bis zu dem Zeitpunkt, als sich ein jüdischer Verein bildete. Wolffreim wollte jetzt die Berliner warnen, denn seiner Meinung nach war der neue Verein ein »kleiner, aber folgenschwerer Keil« in der Gemeinschaft. Stattdessen forderte er die deutschen Gehörlosen dazu auf, sich im Sinne des »nationalen und religiösen Freisinns« zu organisieren.35 Wolffreims Reaktion beruhte einerseits auf der Überzeugung, dass die Identität als gehörlose ›Schicksalsgenossen‹ der Religion und Nationalität übergeordnet sein sollte. Gleichzeitig legte sie aber auch eine Einstellung offen, nach welcher die jüdische Religion eine besondere Bedrohung darstellte. Dass in Berlin bereits mindestens ein katholischer Gehörlosenverein existierte, wurde von Wolffreim nicht als Spaltung angesehen. Angesichts der schon festgestellten christlichen Prägung der vermeintlich ›allgemeinen‹ Gehörlosenbewegung ging die Ablehnung des jüdischen Vereins von einem Standpunkt aus, nach welchem der jüdische Gehörlose seine Identität in gehörlos und jüdisch zu trennen hatte. Wolffreims Protest veranlasste den Vereinsvorstand zu einer Stellungnahme, in der der Zweck des Vereines dargelegt wurde. Es handele sich, so erklärte er, um ein Komplement zu den bestehenden Vereinen, nicht um eine Alternative. Die Mitglieder wollten weiterhin den ›alten‹ Vereinen zugehören, zusätzlich aber durch den neuen Verein sich gegenseitig unterstützen und unter den hörenden Glaubensgenossen Vorurteilen entgegenwirken. Dies, unterstrich der Vorstand, war nicht anders als bei dem bereits bestehenden katholischen Verein.36 Unter den Unterzeichnern dieses Schreibens befanden sich Max Löwenthal und Alfred Steinthal. Beide waren schon vor der Gründung des jüdischen Gehörlosenvereins prominente Mitglieder der Bewegung, und sie blieben weiterhin auch außerhalb des neuen Vereins engagiert.37 Interessant ist auch die Tatsache, dass sowohl der Privatier Steinthal, der Bildhauer Löwenthal als auch der Publizist Brill, was ihre Klasse anging, zur Elite der Gehörlosen gehörten. Stein vermutet, dass solche Personen sich leichter in der ›allgemeinen‹ Gehörlosenbewegung zurechtfanden, während sozial schwächere und marginalisierte gehörlose Juden einen größeren Bedarf an besonderen Angeboten hatten.38 Dass mit dem jüdischen Verein also eine Spaltung eintreten würde, bestätigte sich aber nicht. Wie beabsichtigt war der Verein zur Förderung der Interessen der israelitischen Taubstummen

35 Wolffreim (1896), S. 47. Hervorhebungen im Original. 36 Oppenheimer u. a. (1896). 37 Vgl. Der Taubstummenfreund 30 (1901), H. 12, S. 53f.; Taubstummencourier 17 (1901), H. 7, S. 73f.; Der Taubstummenfreund 31 (1902), H. 1, S. 2. 38 Stein (2009); zu den Biographien vgl. Anmerkungen 32 und 36.

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Deutschlands (VFIITD), wie sich die Organisation später nannte, ein Komplement, nicht eine Alternative zu den anderen Vereinen. Analog zum Bildungswesen setzte sich der Bedarf an Institutionen im weiteren Sinn, die Menschen sowohl als Juden als auch als Gehörlose ansprachen, auch im Vereinsleben durch. Neben dem VFIITD entstand 1908 der Verein ehemaliger Zöglinge der ITA (VeZITA).39 Solche Alumnigruppen gab es bereits für andere Bildungsinstitute, wie z. B. die Königliche Taubstummenanstalt in Berlin.40 Während der VFIITD sich eher unterstützenden Zwecken widmete, war der VeZITA ein geselliger Verein. Nach eigenen Angaben waren 1928 von den 250 in der ITA Ausgebildeten 70 Vereinsmitglieder.41 Auch außerhalb Berlins wurden im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts Vereine für jüdische Gehörlose gegründet: in Breslau, als regionaler Verein in Westfalen-Rheinland und, wie bereits erwähnt, auch in den Nachbarstaaten Deutschlands sowie in den USA.42 Nach und nach stellte sich aber heraus, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll, dass mit der Gründung besonderer Vereine und der mittlerweile erreichten Akzeptanz solcher Gruppen die Konflikte nicht endgültig gelöst waren. Sowohl mit nichtjüdischen Gehörlosen als auch unter gehörlosen Juden selbst wurden die Spannungen in den 1920er und 1930er Jahren immer deutlicher. Förderung der Interessen: Die jüdischen Gehörlosenvereine Die Vereinslandschaft für jüdische Gehörlose und von jüdischen Gehörlosen zeichnet ein Bild dieser mannigfaltigen und von Konflikten umgebenen Identität. Um diese kleine Gruppe43 herum entstand im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Reihe von Vereinen, die sich mit verschiedenen Aspekten des Lebens als gehörlos und jüdisch befassten. Hier muss zuerst zwischen jüdischen Gehörlosenvereinen und jüdischen Gehörlosenfürsorgevereinen unterschieden werden. Letztere waren wohltätige Initiativen von Hörenden, die gegründet wurden, um für die ›eigenen‹ Gehörlosen zu sorgen. Solche Vereine sind von Rainer Liedtke und David Sorkin als Bestandteile der jüdischen Emanzipation beschrieben worden. Durch den Aufbau eines konfessionellen Wohlfahrtswesens wurden Werte und Handlungsmuster des Bürgertums übernommen. So konnte man sowohl nach außen als 39 Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 3, S. 24; Kurze Nachrichten. In: Das Band 5 (1930), H. 4, S. 28. 40 Vgl. Söderfeldt (2014). 41 Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 3, S. 32. 42 Vgl. Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 1, S. 4f.; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 5, S. 40f.; Stein (2009). 43 Laut der Volkszählung von 1900 gab es in ganz Deutschland 796 ›Taubstumme‹ jüdischer Konfession. Engelmann (1905), S. 21.

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auch innerhalb der Gruppe das (Selbst-)Bild als respektable und jüdische Bürger stärken.44 »Jedide Ilmim«, Freunde der Taubstummen, hieß ein 1884 in Berlin gegründeter Verein, dessen Zweck es war, für die Schul- und Berufsausbildung armer jüdischer gehörloser Kinder aufzukommen. Dies war ein typisches Beispiel für die von Sorkin und Liedtke beschriebenen Wohlfahrtsvereine. Es schlossen sich diesem Verein mehrere bekannte Philanthropen an, die ihre Kompetenz aus dem Wohlfahrtswesen und gute Verbindungen erfolgreich einsetzten. Der Verein konnte damit der ITA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Existenz und Ausbau sichern.45 Der schon erwähnte VFIITD gehört auch zu dieser Kategorie, mit der Einschränkung, dass er eine Initiative von und für ›Betroffene‹ war. Die Mitglieder waren jüdische Gehörlose, die sich gegenseitig unterstützen wollten. Auffallend ist dabei der hohe Organisationsgrad: Im Jahre 1925 wurden im Rahmen der Reichsgebrechlichenzählung in Deutschland 440 ›Taubstumme‹ jüdischer Konfession aufgeführt.46 In einer solchen Untersuchung kategorisiert zu werden, ist zugegebenermaßen nicht das Gleiche, wie sich zu einer bestimmten kulturellen Identität zu bekennen.47 Trotzdem gibt sie einen Hinweis darauf, in etwa wie viele Personen die Voraussetzungen für die doppelte Zugehörigkeit als jüdisch und gehörlos erfüllten. Näher an der kulturellen Ebene liegt außerdem die Angabe von 1928, es gebe aktuell 250 ehemalige Zöglinge der ITA. Eine Zahl etwa zwischen 300 und 500 Personen, die sich als jüdisch und ›taubstumm‹ verstanden haben, scheint somit plausibel. Im Jahre 1928 hatte allein der VFIITD 148 Mitglieder, was im Spiegel dieser Zahlen als sehr hoch betrachtet werden muss.48 Neben einer Unterstützungskasse verfolgte der Verein das Ziel, ein Altersheim für jüdische Gehörlose zu gründen – ein zu dieser Zeit typisches Unternehmen der Gehörlosenbewegung. Eigene Heime hatten mehrere wichtige Funktionen: Sie manifestierten die Tatkraft der Vereine und damit der Gehörlosen.49 Statt als Empfänger von fremder Hilfe in Erscheinung zu treten, zeigten sie, ähnlich wie das übrige jüdische Wohlfahrtswesen, dass sie für ›die Ihren‹ sorgen konnten. Weiter stellten sie eine Antwort auf die besonderen Bedürfnisse der Gehörlosen dar, die in anderen Heimen kommunikativ isoliert worden wären. Dass die jüdische Gehörlosenbewegung ein eigenes Heim bauen wollte, obwohl zu der Zeit in Berlin ein anderes 44 Sorkin (1987), S. 112; vgl. Adunka/Lamprecht/Traska (2011), S. 7-13. 45 Sonke (1993), S. 45-48. 46 Hauptergebnisse der Reichsgebrechlichenzählung. In: Wirtschaft und Statistik 10 (1930), H. 4, S. 118. 47 Vgl. Söderfeldt (2013), S. 27-36, 191-216. 48 Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 4, S. 31f. 49 Söderfeldt (2013), S. 246-252.

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Projekt zur Gründung eines vereinseigenen Gehörlosenheimes schon existierte, ist ein weiterer Beleg dafür, dass man sich als eine distinkte Gruppe verstand. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand, denn so ließ die Kombination aus kommunikativen und religiösen Bedürfnissen die Trennung in Heime für Gehörlose und jüdische Heime zunehmend ungeeignet erscheinen. Der VFIITD war mit diesem Unternehmen erfolgreich; schon 1912 konnte das Heim seine Tore öffnen.50 Entscheidend für den Erfolg war aber, dass sich 1902 ein aus hörenden Glaubensgenossen bestehender Hilfsverein gegründet hatte, der dazu beitrug, Mittel einzuwerben.51 Charakteristisch für die Gehörlosenbewegung war auch die eigene Presse. Zeitschriften erfüllten, wie erwähnt, die Funktion, die Gemeinschaft trotz geographischer Entfernung zu erhalten und zu stärken. 1926 erschien zum ersten Mal die Zeitschrift für jüdische Gehörlose Das Band. Herausgeber war der Direktor der ITA, Felix Reich. Obwohl der Redakteur also hörend war, unterschied sich der Inhalt nicht grundlegend von dem der anderen Gehörlosenzeitschriften: Es gab Nachrichten aus dem Vereinswesen, Veranstaltungstermine und -berichte, belehrende sowie unterhaltsame Texte und Anzeigen. Das jüdische Profil wurde hier konsequent durchgeführt: Die Texte waren oft solche, die das Selbstwertgefühl und die Identität als jüdisch zu stärken versuchten. Vertiefungen religiöser Fragen fanden vor allem zu Feiertagen statt, andere Beiträge befassten sich mit der Geschichte und gegenwärtigen Situation der Juden. Positive Vorbilder wurden hervorgehoben und die Gleichwertigkeit mit anderen Konfessionen betont.52

50 Sonke (1993), S. 74f. 51 Zwei Berichte. In: Das Band 3 (1928), H. 3, S. 23. 52 Einige Beispiele: Höxter (1928); I. Wolff (1928); Hamburger (1929); Auerbach/Höxter (1930).

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Abb. 1: Anzeigenseite aus Das Band 5 (1930), H. 9, S. 68

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Auf der hier abgebildeten Anzeigenseite finden sich einige Beispiele, wie die Zeitschrift den Austausch gehörloser Juden erleichtern konnte: Kontaktanzeigen sind Ausdruck des Wunsches, innerhalb beider Gemeinschaften zu heiraten. Bei einem Treffen im Restaurant »Weißbrot« musste man weder auf koscheres Essen noch auf die Unterhaltung in Gebärdensprache verzichten.53 Die internationale Zusammenarbeit spielte, auch im Vergleich zu anderen Teilen der Gehörlosenbewegung, eine besonders wichtige Rolle. So hatten die deutschen jüdischen Gehörlosen regen Kontakt mit Schwestervereinen in Polen, Großbritannien, den USA, Israel und der Tschechoslowakei.54 Die Zeitschrift hatte in zehn Ländern, auch außerhalb Europas, Abonnenten.55 Hier mag der Umstand, dass die jüdischen Gehörlosen eine kleine und klar abgegrenzte Gruppe waren, die auch auf gleich zwei kulturelle Gemeinschaften zurückgreifen konnte, hilfreich gewesen sein. Schließlich konnte 1930 eine internationale Organisation, der Weltbund der jüdischen Gehörlosen, gegründet werden.56 Gleichzeitig führte die mehrfache Gruppenzugehörigkeit zu Konflikten. Neben den üblichen Vereinsstreitigkeiten über die Tätigkeit und Formen der Vereine57 beeinflussten die Trennungslinien innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften das Vereinsleben der gehörlosen Juden. Der Zionismus und verschiedene Interpretationen des Glaubens führten zu Debatten im Band.58 Die hauptsächliche Streitfrage der Gehörlosen, nämlich der Konflikt mit der Lehrerschaft über das Recht auf Gebärdensprache und die damit verbundene Selbstbestimmung, wurde im Band aber kaum thematisiert.59 Es gibt hierfür mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Angeblich war der Unterricht an der ITA zu Gebärden außergewöhnlich aufgeschlossen.60 Sowohl 53 Das Band 5 (1930), H. 9, S. 68. 54 Besprechung. In: Das Band 7 (1932), H. 2, S. 16f.; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 5, S. 40f.; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 1, S. 4f.; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 5 (1930), H. 1, S. 3. 55 Zum Jahresbeginn. In: Das Band 6 (1931), H. 1, S. 1. 56 Erst als europäische, später als weltweite Organisation. Vgl. Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 5 (1930), H. 1, S. 3; Die Besprechung über den Weltbund am 29.3.32 in Wien. In: Das Band 6 (1932), H. 6, S. 50f. 57 Vgl. z. B. Kurze Nachrichten. In: Das Band 5 (1930), H. 4, S. 28; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 7 (1932), H. 3, S. 24; Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 2, S. 13. 58 Traub (1932); Hamburger (1932); Reich (1932). 59 Die einzige Ausnahme bildet ein Rückblick auf die Gründung des ›Taubstummenheimes‹, wo die Unterstützung durch einen von hörenden Personen getragenen Verein als Verlust der Selbstbestimmung bezeichnet wurde – dies sah man andererseits als notwendig für die Erreichung des Zweckes an. Vgl. Zwei Berichte. In: Das Band 3 (1928), H. 3, S. 23. 60 Heß (1929); Reich (1923), S. 13.

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Markus als auch Felix Reich hatten gute Gebärdensprachkenntnisse und setzten sie auch ein zu einer Zeit, als dies an vielen Gehörlosenschulen undenkbar war. Diese Angaben stammen allerdings von Felix Reich selbst bzw. aus der von ihm herausgegebenen Zeitschrift. Wie dies von ihren Schülern in einem unabhängigen Zusammenhang beschrieben worden wäre, ist also nicht bekannt. In den ›allgemeinen‹ Gehörlosenzeitschriften, auch im Taubstummencourier, lässt sich jedenfalls keine spezifische Kritik an diesen Lehrern finden. In den 1920er Jahren zeigte sich in der Gehörlosengemeinschaft zum ersten Mal expliziter Antisemitismus. In einem Artikel über die Silvesterfeier des Berliner Theatervereins »Frohsinn« spottete der Verfasser über die »Judenkaste«, die in diesem Verein besonders stark vertreten sei. Sie hätte mit hohem Eintritt und unzureichender Verpflegung die nichtjüdischen Besucher ausgebeutet.61 Der Beitrag führte zu einem Aufschrei in anderen Teilen der Bewegung. In der Allgemeinen Deutschen Taubstummen-Zeitschrift setzte E. Adermann dies in den Kontext aktueller »widerliche[r] Hetze« der Antisemiten in Berlin.62 Er betonte, wie wichtig die jüdischen Mitglieder für die Gehörlosenbewegung und für die Arbeiterbewegung63 seien. Der Redakteur der Zeitschrift, in der der antisemitische Text erschienen war, wurde darauf vom Vorstand des Gehörlosenreichsverbandes ausgeschlossen, was er wiederum als eine Verschwörung der jüdischen Mitglieder auffasste.64 Abgesehen von diesem Skandal herrschte in den 1920er Jahren zwischen den nichtkonfessionellen und den jüdischen Gehörlosenvereinen sowie den Publikationsorganen meist ein freundschaftlicher Ton. Die Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift berichtete erfreut über das Erscheinen des Bandes und beglückwünschte den VFIITD zum Stiftungsfest.65 Als der genannte Verein Beiträge für die Gründung eines Kindergartens sammelte, war der Central-Verein für das Wohl der Taubstummen Deutschlands, ein altehrwürdiger, von Gehörlosen getragener Hilfsverein, der größte Spender.66 Die anderen: jüdische Gehörlose, Vererbung und ›Rasse‹ Ein höherer Anteil von Gehörlosen unter Juden im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wurde in den ›Taubstummenstatistiken‹ des 19. Jahrhunderts wiederholt vermerkt.67 Die häufige Annahme, dass Ehen unter Blutsver61 Satan (1920). 62 Adermann (1920). 63 Der Bericht über »Frohsinn« war in der Zeitschrift des sozialistischen Gehörlosenverbandes erschienen. 64 Brachmann (1920). 65 Allgemeine Deutsche Taubstummen-Zeitschrift 55/22 (1926), H. 7, S. 30; H. 9, S. 38. 66 Spenden für Kindergarten und Wohltätigkeitsfest. In: Das Band 4 (1929), H. 3, S. 23. 67 Der verzeichnete Unterschied war nicht sehr groß. Es ist jedoch nicht Gegenstand

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wandten dafür verantwortlich waren, wurde aufgrund des begrenzten Wissens über Vererbung und des geringen statistischen Materials von manchen Wissenschaftlern angezweifelt.68 Gleichzeitig wurde ›Taubstummheit‹ immer mehr als rassenbiologisches Problem aufgefasst. In den USA hatte Alexander Graham Bell 1883 großes Aufsehen erregt mit seiner Befürchtung, es könne durch Ehen zwischen Gehörlosen eine »taube Variante der menschlichen Rasse«69 entstehen. Bell machte die Gebärdensprache und die Gemeinschaft unter Gehörlosen für die angebliche Vererbung verantwortlich und schlug eine strikte, auf vollständige Assimilation abzielende, lautsprachige Erziehung vor. Mit dieser Haltung griff er den Kern der Gehörlosenbewegung an, denn die gebärdensprachige Gemeinschaft zu pflegen und bewahren, war ihre hauptsächliche Funktion. Dazu gehörten Eheschließungen unter Gehörlosen, die auch durch die vereinseigene Presse und auf Veranstaltungen vermittelt und gefeiert wurden.70 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Taubstummenfreund im Jahre 1898 erfreut über eine neue Studie berichtete, in der das Auftreten von Gehörlosigkeit bei Kindern gehörloser Eltern als sehr selten bezeichnet wurde. Gehörlose Kinder kamen demnach bei anderen Gruppen vermehrt vor – in Ehen zwischen Blutsverwandten und bei Juden.71 Demnach musste das Heiratsmuster in der Gehörlosengemeinschaft nicht wie von Bell gefordert in Frage gestellt werden, sondern vor allem das der Juden. Die Erleichterung über diesen Zustand deutet eine Einstellung gegenüber den gehörlosen Juden als ›anders‹ an. Anfang des 20. Jahrhunderts tauchte das Thema wieder auf, aber diesmal in der Debatte über die jüdische ›Rasse‹: Der jüdische Mediziner Alfred Waldenburg bezeichnete gehörlose Juden in Berlin und ihre Familien als »degenerative Elemente« innerhalb des Judentums. Nach Waldenburg beträfe dies aber nur bestimmte Familien und bedrohe nicht die Gesundheit der Juden im Allgemeinen. Obwohl der Zusammenhang sich stark unterscheidet, tritt dieses Argument als eine Spiegelung der oben genannten Zeitschriftennotiz hervor: Die Gehörlosengemeinschaft schob das vermutet dieses Aufsatzes, die Aussagekraft dieser Angaben zu prüfen. Da die statistischen Methoden, die Kategorien und die Kenntnisse über Vererbung zu dieser Zeit von Ungenauigkeit geprägt waren, lässt es sich auch kaum noch nachvollziehen, inwieweit Gehörlose unter den Juden überrepräsentiert waren oder nicht. 68 Einige Beispiele: Liebreich (1861); Franque (1865); Engelmann (1905), S. 21; Martius (1863); Tschoetschel (1990), S. 224-229. 69 Bell [1883]; dies geschah jedoch vor der Wiederentdeckung der Mendelschen Genetik und basierte somit auf unzureichender Kenntnis über die Vererbung. Vgl. Baynton (1996), S. 29-31, 221-224. 70 Söderfeldt (2013), S. 120f., 211-213. 71 Dies wurde erklärt mit »den gerade unter den Juden häufigen Ehen zwischen Blutsverwandten«. Vgl. Dürfen Taubstumme heirathen? In: Der Taubstummenfreund 27 (1898), H. 19, S. 92.

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schädliche Heiratsverhalten auf die Juden, um die eigene Gruppe nach zeitgenössischen Maßstäben im besseren Licht darzustellen. Waldenburg seinerseits machte das Umgekehrte und erklärte das höhere Vorkommen von ›Taubstummen‹ unter der jüdischen Bevölkerung mit der Degeneration einiger bestimmter ›Taubstummenfamilien‹.72 Maurice Fishberg, ein jüdischer Arzt und Anthropologe russischer Herkunft, erkannte auch in der ›Taubstummenstatistik‹ einen rassistischen Angriff auf die Juden. Statt Heiratsmustern oder gar einer Minderwertigkeit der ›Rasse‹ war seine Erklärung eine sozio-kulturelle: Juden nähmen eher medizinische Versorgung für ihre Kinder in Anspruch, was zu erhöhten Überlebenschancen bei Taubheit verursachenden Kinderkrankheiten führe.73 Auch in der Gehörlosenwelt interessierte man sich für Erbgesundheit, was eine Veranstaltung des VeZITA im Jahre 1928 zeigt: Der Direktor Reich hielt dort einen Vortrag zum Thema »Vererbung und Rassenhygiene«.74 Im Band belehrte er auch eine Leserin über die erbgesundheitlichen Gefahren einer Cousinenehe.75 Der Umgang mit rassenbiologischen Ideen fügt sich in die allgemeine Struktur des Diskurses in der Gehörlosenbewegung ein. Die führenden Persönlichkeiten der Bewegung gehörten einer Elite unter den Gehörlosen an. Sie waren männlich, urban, gebildet und beruflich relativ erfolgreich, kurz gesagt, sie waren ›respektable Kleinbürger‹. Als Gehörlose wurde ihnen aber von der Umgebung nicht der dazugehörende Status zuerkannt. Dieser Umstand wurde jedes Mal deutlich, wenn sich Vertreter der Gehörlosenbewegung an Staatsbehörden oder ans Bildungswesen wandten. Aufgrund der Stigmatisierung als ›Taubstumme‹ wurden ihre Forderungen, z. B. nach Gebärdensprache in der Schule, zurückgewiesen. Obwohl sie erwachsene, selbständige Männer waren, wurden sie von Seiten des Staates und der Lehrer immerfort als ›Zöglinge‹ betrachtet und behandelt. Um diese Barriere zu umgehen und den eigenen Status zu erhöhen, grenzte sich die Elite von den anderen Gehörlosen ab. Dies geschah in manchen Fällen auf streitbare Weise, wie die Agitation gegen Bettler, Hausierer und Vagabunden zeigt, an manchen Stellen wurden sie ignoriert oder bemitleidet. Frauen und Ungebildete wurden zudem nur selten erwähnt und hatten noch seltener selbst die Gelegenheit, sich zu äußern. Mehrfach behinderte Gehörlose, Alte und Erwerbsunfähige wurden zu Objekten der eigenen Wohltätigkeit. Mit der Geber- und Subjektrolle vermochten die Mitglieder der Elite also das Gegenteil der Empfänger- und Objektrolle einzunehmen.76 Wie die Beispiele zeigen, konnte also auch jüdischen Gehörlosen 72 Waldenburg (1902); vgl. Lipphardt (2008), S. 109f. 73 Fishberg (1911), S. 335-337; vgl. Rosen (2004), S. 105. 74 Aus dem Vereinsleben. In: Das Band 3 (1928), H. 3, S. 24. 75 Briefkasten. In: Das Band 3 (1928), H. 2, S. 16. 76 Vgl. Söderfeldt (2013), S. 215-266.

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diese Rolle des ›anderen‹ zugeschrieben und so eine unerwünschte Eigenschaft von der gehörlosen Elite ferngehalten werden. Ausblick und Schlussdiskussion Anfang der 1930er Jahre wurde die Stimmung im Band immer verzweifelter. Die Weltwirtschaftskrise traf die Gehörlosen und ihr Vereinswesen besonders hart. Dazu traten der aufkommende und sich später auswirkende Nationalsozialismus und schließlich Hitlers Machtübernahme. Die Verfolgung der gehörlosen Juden ab 1933 ist nicht Thema dieser Untersuchung. Neben den bereits existierenden Arbeiten dazu wäre noch weitere Forschung wünschenswert.77 Im Folgenden soll lediglich ein Ausblick unter besonderer Berücksichtigung der bereits festgestellten Tendenzen angeboten werden. Damit verbunden ist die Hoffnung, die nach 1933 entfalteten Dynamiken in den Kontext ihrer Vorgeschichte setzen zu können, was vielleicht für weiterführende Forschung nützlich sein könnte. Wie sämtliche zivilen Organisationen wurde die Gehörlosenbewegung 1933 ›gleichgeschaltet‹. Der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (REGEDE) wurde als Unterorganisation der NSDAP eingegliedert. Zu diesem Prozess gehörte der Ausschluss von allen jüdischen Mitgliedern.78 Das jüdische Gehörlosenvereinswesen blieb vorerst bestehen, wurde aber von den anderen Vereinen abgekoppelt. So durften z. B. in der vom VFIITD betriebenen Wärmestube in Berlin ›nichtarische‹ Gehörlose nicht mehr empfangen werden.79 Der Verfolgung durch Emigration zu entkommen, wie es offensichtlich viele jüdische Gehörlose versuchen wollten, war aufgrund von eugenisch motivierten Einwanderungsregeln z. B. in Palästina und den USA für sie noch schwerer als für hörende Juden.80 Wenn eine Gruppe doppelt oder mehrfach diskriminiert ist, läuft sie Gefahr, auch in den jeweiligen ›Communities‹ benachteiligt zu werden. Für gehörlose Juden in Deutschland zu dieser Zeit konnten die Umstände kaum schwieriger sein: Sie gehörten nicht nur zu einer, sondern zu zwei der im Nationalsozialismus verfolgten Gruppen. Jede der Gruppen, Juden und Gehörlose, hatte zudem eine lange Geschichte der Ausgrenzung hinter sich. Gegen diese Stimmungen waren weder Gehörlose noch Juden immun: Negative Auffassungen über die ›erbkranken‹ Gehörlosen fanden sich auch bei Juden, Antisemitismus wiederum auch unter Gehörlosen. Das Ergebnis war nicht unbedingt, dass für die ›eigenen‹ Gehörlosen unter den Juden und die Juden unter den Gehörlosen Ausnahmen gemacht wurden. Zu genau diesen beiden Gruppen zu gehören, bedeutete nicht zwangsläufig, Zugang zu zwei 77 Vgl. Anmerkung 4. 78 Muhs (2002). 79 Sonke (1993), S. 75. 80 Vgl. Reich: Auswanderung (1933); Baynton (2006); Sachs (2000), S. 49.

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Minderheitskulturen zu haben, sondern häufig, in der Mehrheitsgesellschaft und in den zwei Minderheiten unerwünscht zu sein. Wenn es auch genügend Beispiele gibt für Solidarität mit und Inklusion der jeweiligen Gruppe, so gab es auch die Tendenz, dass man die doppelt Diskriminierten opferte in der Hoffnung, selbst der Benachteiligung und Verfolgung ganz oder teilweise entfliehen zu können. Diese Strategie wurde gestützt durch die diskursive Verbindung zwischen ›Rasse‹ und ›Erbgesundheit‹. Dass es unter den Juden angeblich besonders viele Gehörlose gab, wurde als Beweis für die Minderwertigkeit dieser ›Rasse‹ benutzt.81 Daher war die Motivation gegeben, sich von den Gehörlosen abzugrenzen, um dieses Argument zu entkräften. Für die nichtjüdischen Gehörlosen erfüllten spätestens ab 1933 der Antisemitismus und die Ausgrenzung der jüdischen Mitglieder die Funktion, dem nationalsozialistischen Regime entgegenzukommen. So konnte die gleichgeschaltete Gehörlosenbewegung weiter existieren, und man zeigte sich als gute Mitglieder der ›Volksgemeinschaft‹. Für eine Gruppe wie die Gehörlosen war das besonders wichtig, da ja viele von ihnen dem Risiko ausgesetzt waren, als ›Erbkranke‹ verfolgt zu werden. Felix Reich versuchte seinerseits auch, soweit es ihm möglich war, Konzessionen gegenüber dem nationalsozialistischen System zu machen, indem er die Gehörlosengemeinschaft kritisierte. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« unterstützte er und erklärte im Band, Sterilisationen seien jetzt notwendig, weil die Gehörlosen sich nicht genug assimiliert hätten.82 Solche persönlichen Assimilierungs-Versuche waren aber in seinem Fall vergebens – wo die nichtjüdischen Gehörlosen ihr Vereinsleben durch Abkoppelung von ihren jüdischen Schicksalsgenossen retten konnten, blieb für Reich nichts anderes übrig als die Emigration. 1939 flüchtete er nach England und konnte zehn Kleinkinder aus der ITA mitnehmen. Sein Plan, auch die restlichen Schüler und Lehrer zu retten, scheiterte, und sie wurden, wie auch die anderen gehörlosen Juden in Deutschland, fast ausnahmslos ermordet.83

81 Vgl. Gruner (2008), S. 24. 82 Reich: Sterilisation (1933). 83 Jochen Muhs schätzt, dass etwa 20 gehörlose Juden den Holocaust überlebt haben, wobei unklar ist, auf welcher Grundlage er diese Angabe macht. Monika Sonke hat 89 Opfer identifiziert. Sonke (1993), S. 76; Muhs (2002).

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II.

Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

Die Grippe-Pandemie nach dem Ersten Weltkrieg und die Homöopathie im internationalen Vergleich1 Stefanie Jahn Summary The flu epidemic after World War I and homeopathy – an international comparison The “Spanish Flu” began in 1918 and was the most devastating pandemic in human history that had ever been, claiming more lives than World War I. The flu virus had not yet been discovered, and the usual therapy measures were merely symptomatic. In many parts of the world the pandemic was treated by homeopaths. At the time, homeopathic medical practices, out-patient clinics and hospitals existed in various countries. To this day homeopaths refer to the successful homeopathic treatment of the “Spanish Flu”. The following paper looks at what this treatment consisted in and whether it was based on a particular concept. It also examines contemporary evaluations and figures, as well as the question as to whether homeopathy experienced a rise in demand as a consequence of its success during the pandemic.

Die »Spanische Grippe« Die Grippe-Pandemie begann im Jahr 1918; ihre Ausläufer erstreckten sich bis in die 1920er Jahre. Sie war die bislang verheerendste Pandemie mit geschätzten 27 bis 50 Millionen Todesopfern. Die Diskrepanz der Zahlen resultiert größtenteils aus fehlenden Gesundheitsstatistiken für weite Teile Asiens, Afrikas und Russlands.2 Die Grippe zog, mit lokalen Abweichungen und mit einzelnen Ausläufern, bis Mitte der 1920er Jahre in drei Wellen um die Erde. Die erste Welle, im Frühjahr und Sommer 1918, zeigte eine hohe Morbidität und eine vergleichsweise niedrige Mortalität. Die oftmals als verheerend bezeichnete zweite Grippewelle kam Ende August 1918 und wütete insbesondere im Herbst und Winter jenes Jahres. Sie begründete den Ruf dieser Pandemie als rasant auftretende, äußerst tödliche Seuche und zeichnete sich durch foudroyante, häufig letal verlaufende Pneumonien aus. Insgesamt starben im Oktober 1918 an vielen Orten weltweit die meisten Menschen an der Seuche. Überall stapelten sich Tote; Leichenhallen waren restlos überfüllt,

1

Der vorliegende Beitrag beruht auf den Ergebnissen meiner gleichlautenden Dissertation, in der die Thematik ausführlicher behandelt und belegt wird.

2

Vasold (2009).

MedGG 32  2014, S. 231-272  Franz Steiner Verlag Stuttgart

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es fehlte an Särgen und Totengräbern.3 Die Pandemie trat in verschiedenen Städten und Gegenden unterschiedlich zerstörerisch auf. Die dritte Grippewelle formte sich zu Beginn des Jahres 1919, in einigen Ländern erst 1920. Gelegentlich gab es einige kleinere Epidemien bis 1923 und darüber hinaus. Es kam zu einem vermehrten Auftreten der sogenannten Encephalitis lethargica, die von einigen als Nervengrippe bezeichnet wurde.4 Das Auffällige an der »Spanischen Grippe« war, dass in ihrem Verlauf viele junge und kräftige Menschen im Alter von 20 bis 40 Jahren starben. Schwer betroffen waren ebenfalls Schwangere und Wöchnerinnen. Man ging, wenn auch mit zunehmendem Zweifel, von einer Urheberschaft des Pfeiffer-Bazillus aus.5 Nachdem Pfeiffer im Jahr 1892 seine Influenzabazillen entdeckt hatte, konnten diese während der Pandemie 1918/19 jedoch weder mikroskopisch noch bakteriell nachgewiesen werden. Kochs Postulate griffen nicht.6 Auf der ganzen Welt versuchten Forscher, die Ursache für die »Spanische Grippe« ausfindig zu machen. Die Ergebnisse waren verwirrend, die Uneinigkeit kam in sich teils widersprechenden Ansichten zum Ausdruck. Das Grippevirus wurde erst im Jahr 1933 entdeckt. Da die Erregerfrage ungeklärt blieb, war die Behandlung vor allem »symptomatisch und polypragmatisch«.7 In der Verzweiflung wurde auf vieles zurückgegriffen, was bereits zuvor – ohne großen Nutzen – angewendet worden war. Bei Betrachtung der eingesetzten Therapeutika zeigt sich die Hilflosigkeit, mit der die Mediziner der Seuche begegneten. Insbesondere nach heutigem Wissensstand werden die Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der verabreichten Medikamente deutlich. So wandten Ärzte Injektionen mit flüssigem Silber, Platin, Farbstoffen8 und Terpentinöl an. Um spezifisch gegen Bakterien vorzugehen, wurden die Chininabkömmlinge Optochin (Ethylhydrokuprein), Eucupin (Isoamylhydrokuprein) und Vuzin (Isooktylhydrokuprein) verwendet. Zur Belebung der Herzarbeit kamen Aufputschmittel wie Alkohol, Koffein, Kampferöl, Digitalis und Strophantus zur Anwendung. Um das Immunsystem zu stimulieren, boten manche Ärzte eine Proteinkörpertherapie an, bei der Reizkörper parenteral eingebracht wurden.9 Militärärzte impften mit Stoffen aus den Körpersekreten Grippekranker.10 Zu beobachten ist, dass auch schulmedizinische Ärzte gelegentlich naturheilkundliche Verfahren anwandten oder zur Vorsicht bei der Einnahme 3

Stearns/Schlegel/Hubbard (1925), S. 4; Wietfeldt (1954).

4

Vasold (2009); Michels (2010).

5

Haas (2009).

6

Winkle (2005).

7

Haas (2009), S. 11.

8

Ortner (1924).

9

Haas (2009).

10 Jütte: Kampf (2006).

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233

der üblichen schulmedizinischen Medikamente rieten. Insbesondere in Ländern, in denen ohnehin kaum Ärzte für den Großteil der Bevölkerung zur Verfügung standen, wurde auf traditionelle Mittel zurückgegriffen.11 Im Zusammenhang mit rezenten (Grippe-)Epidemien wurde und wird bisweilen von homöopathischer Seite auf die erfolgreiche homöopathische Behandlung der »Spanischen Grippe« und weiterer Seuchen hingewiesen und mitunter die Überlegenheit der Homöopathie gegenüber der Schulmedizin hervorgehoben. Hierbei beruft man sich zumeist auf die zeitgenössischen Zahlen. Die Mortalität unter der schulmedizinischen Behandlungsmethode während der Pandemie wurde von Homöopathen oftmals mit etwa 30 Prozent angegeben, während die Schulmediziner sich zumeist nicht konkret äußerten. Demgegenüber stehen Angaben zur Mortalität unter homöopathischer Behandlung, die des Öfteren auf ein bis fünf Prozent beziffert werden. Die »Spanische Grippe« wurde weltweit von Homöopathen behandelt. Wie die Behandlung aussah, ob ihr ein Konzept zugrunde lag, soll im Folgenden analysiert werden. Ebenso soll untersucht werden, ob die Homöopathie von der Therapie der Pandemie profitierte. Behandlung durch Homöopathen in Deutschland Die homöopathische Bewegung war in Deutschland zur Zeit der »Spanischen Grippe« vergleichsweise groß.12 Foren, vor allem Fachzeitschriften, wurden vielfach genutzt und dienten der fachlichen Auseinandersetzung mit der Seuche. Auch auf den Sitzungen der diversen homöopathischen Vereine wurde die Grippepandemie thematisiert.13 Von einer nicht zu unterschätzenden Anzahl homöopathischer Laienbehandlungen während der Pandemie ist daher auszugehen. Unter den homöopathischen Ärzten gab es insbesondere zu Beginn der »Spanischen Grippe«, wie bei Medizinern insgesamt, unterschiedliche Ansichten über Definition und Ausmaß der Krankheit. Die Sichtweisen und Einschätzungen wurden in den homöopathischen Zeitschriften dargestellt und mitunter kontrovers diskutiert. Die allgemeine Unsicherheit darüber, mit welcher Art von Seuche man es zu tun hatte, wird anhand verschiedener Begrifflichkeiten und Interpretationsversuche deutlich.14 Ferner zeigt sich die Schwierigkeit, die Entitäten Grippe und Influenza zu benennen, zu charakterisieren und zu differenzieren. Deutlich wird zudem der mitunter inflationäre Gebrauch der beiden Krankheitsbegriffe. Aufgrund bestimmter Symptome wie Zyanose oder des Fieberver11 Bristow (2003); Ramanna (2003); Rice (2003); Quinn (2008); Witte (2008); Vasold (2009). 12 Eppenich (1995); Jütte: Deutschland (1996); Schlich/Schüppel (1996); Lucae (1998); Faltin (2002). 13 F. K. (1919); Fichtner (1920); Hertzog (1920); Nitsche (1920); Thiemann/Pudicke (1920); Schlöter (1920); Schumann (1920); Freitag (1922). 14 Werner (1918); Steurer (1918); Sachsenweger (1922).

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laufs wurden (deskriptive) Vergleiche mit Pest, Malaria und Typhus gezogen.15 Deutsche homöopathische Ärzte bezogen sich in der Regel auf die von Schulmedizinern vergebenen Krankheitsnamen und Forschungsergebnisse. Eigene Forschungen oder Begriffsfindungen16 wurden offenbar selten durchgeführt; zumindest in Berlin gab es jedoch ein eigenes Labor17. Letztlich herrschte auf allen Seiten die gleiche Unsicherheit, mit was für einer Erkrankung man es zu tun hatte; auch die Ätiologie betreffend gab es verschiedene Ansichten. Als mögliche Ursache für die Pandemie wurde auch von Homöopathen der bekannte Pfeifferbazillus oder ein noch unbekanntes Agens verantwortlich gemacht. Ferner wurden miasmatische Einflüsse sowie individuelle und ernährungsbedingte Gründe für das Ausmaß der Seuche in Betracht gezogen. Die in Deutschland am häufigsten erwähnte homöopathische Arznei im Zusammenhang mit der »Spanischen Grippe« war Bryonia, gefolgt von Gelsemium, Aconitum, Phosphorus und Belladonna. Bryonia und Gelsemium wurden mitunter als epidemische Arzneien bezeichnet. Potenzangaben existieren nur unregelmäßig. Deutsche Homöopathen verwendeten zumeist D-Potenzen. Meistens wurden die Arzneien als Verreibung verordnet, seltener als Verdünnung. Bisweilen kamen Urtinkturen zum Einsatz.18 Wenige Male wurden die homöopathischen Arzneien und Urtinkturen injiziert.19 Gelegentlich wurden verschiedene Homöopathika abwechselnd oder als standardisierte Arzneimittelabfolge verordnet.20 Allgemein legten die deutschen Homöopathen Wert auf weitere therapeutische Interventionen. Diese erstreckten sich im Wesentlichen auf Hygiene, Bettruhe, phytotherapeutische, diätetische sowie Wärme- und Kälteanwendungen. Auch die Anhänger der Komplexhomöopathie wandten neben ihrer eigentlichen Therapie zusätzliche Verfahren an.21 Als präventiv zu verordnende Homöopathika wurden u. a. Kampfer, Aconitum und Rhus toxicodendron erwähnt. Eine zentrale Referenz, an der sich die Mehrheit der deutschen Homöopathen orientierte, hat es nicht gegeben. Vielmehr scheint, trotz theoretischer 15 Steurer (1918); Werner (1918); Erdmann (1918); Stearns/Schlegel/Hubbard (1925), S. 43. 16 Allerdings gab es einige Autoren, die sich mit der alleinigen Diagnose nicht zufriedengaben und eine Disposition thematisierten. Vgl. Kümmerl (1920), S. 91. 17 Gisevius (1926). 18 Layer: Nochmals (1918); Layer: Zur Behandlung (1918); Layer (1919). 19 Schlegel (1923); Schäfer (1922). 20 Werner (1918); M. (1919); Layer: Nochmals (1918); Layer: Zur Behandlung (1918); Thiemann/Pudicke (1920); Schlegel (1923). 21 Liertz (1919); Wolf (1919); Zippel (1919); Hewser (1920); Kümmerl (1920); Anonym: Therapeutische Notizen (1921); Krauß (1923); Schlaffer (1923).

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Grundlagen, jeder getan zu haben, was er wollte und für richtig hielt. Oftmals wurde eine individuelle Behandlung nach dem Ähnlichkeitsgesetz propagiert. Auch organbezogene Arzneien kamen zur Anwendung. Zudem spielte der Genius epidemicus bei der Behandlung der Grippepandemie eine Rolle. Schwierig dabei war, dass dieser sich innerhalb der Pandemie offenbar änderte. Somit wechselte auch die epidemische Arznei teils innerhalb weniger Wochen.22 Vergleichsweise wenige Homöopathen in Deutschland benannten einen Genius epidemicus, dementsprechend wurden nur verhältnismäßig wenige Arzneien als epidemische Heilmittel bezeichnet. Der offenbar kaum vorhandene Austausch über einen Genius epidemicus lässt ihn in Deutschland eher als theoretisches Konstrukt erscheinen. Die Homöopathen, die nach ihm behandelten, lassen zudem eine Enttäuschung über dessen eher unbefriedigende Wirkung anklingen.23 Während der Pandemie behandelten deutsche homöopathische Ärzte Patienten sowohl ambulant als auch im Krankenhaus.24 Die raren Zahlenangaben zeigen, dass es sich im Verhältnis zur Gesamtmorbidität um eine vergleichsweise geringe Anzahl von Patienten handelte. Statistische Auswertungen wurden nicht veröffentlicht. Es existieren lediglich vereinzelte Angaben über Behandlungszahlen sowie eher unpräzise Aussagen über Modalitäten und Erfolge der Behandlung. Generell waren schulmedizinische Verfahren und Interventionen in homöopathischen Kliniken nicht selten. Die schulmedizinische Therapie zur Behandlung der »Spanischen Grippe« wurde jedoch zumeist kritisiert. Im Vordergrund standen hierbei, neben der (angeblichen) Erfolglosigkeit, die unerwünschten und schädlichen Wirkungen der Medikamente. Mehrmals wurde die reguläre Therapie für gefährlicher als die Krankheit an sich erklärt.25 Insgesamt konnten durch die homöopathische Behandlung der »Spanischen Grippe« auf offizieller Ebene offenbar nur marginale und lokale26 Erfolge erreicht werden. Dennoch scheint das Interesse an und der Einsatz für Homöopathie und Naturheilverfahren anhaltend stark gewesen zu sein, was insbesondere die stetige Expansion homöopathischer Literatur- und Arzneivertriebe in den 1920er Jahren nahelegt.27

22 Layer: Zur Behandlung (1918); Layer: Nochmals (1918); Layer (1919). 23 Schlegel (1923), S. 268; Stearns/Schlegel/Hubbard (1925), S. 46f. 24 Schäfer (1922). 25 Werner (1918); Dingfelder (1919); Hewser (1920), S. 455; K. (1922). 26 Witte (2006), S. 195. 27 Willfahrt (1996).

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Behandlung durch Homöopathen in der Schweiz In der Schweiz existierte zur Zeit des Ersten Weltkriegs ein homöopathisches Krankenhaus. Dieses war in den 1870er Jahren in Basel mit zwölf Betten eröffnet und 1918 mit Unterstützung der Stifterin Adèle MerianIselin durch ein größeres Haus ersetzt worden.28 Es ist davon auszugehen, dass hier Grippepatienten behandelt wurden. Ferner gab es den Schweizerischen Verein homöopathischer Ärzte, der im Jahr 1911 26 Mitglieder, im Jahr 1921 13 und sechs Jahre später 23 Mitglieder zählte.29 Die Mitgliederzahl blieb somit in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg relativ konstant. Das einzige Schweizer Journal zur Zeit der »Spanischen Grippe«, das sich mit Homöopathie und naturheilkundlichen Verfahren beschäftigte, waren die von Imfeld in Genf herausgegebenen Sauters Annalen für Gesundheitspflege, in denen auch die Pandemie thematisiert wurde. Anhand von Imfelds Aussagen lässt sich seine Unsicherheit über Herkunft und Art der Krankheit erkennen. Er zog miasmatische Ursachen in Betracht; ebenso wurde eine Verbindung zur Malaria gezogen. Auch der Baseler Vikar Johannes Müller meldete sich zu Wort. Dieser veröffentlichte eine Flugschrift, in der er Witte zufolge »nach eigenen Aussagen im Einverständnis mit dem Gesundheitsamt ›Baselstadt‹« die Anwendung dreier homöopathischer Arzneien (Aconitum D3, Tartarus emeticus D3, Phosphorus D3) empfahl, die sich »›in langjähriger Praxis in Ostindien‹ als unschlagbar bei Grippe und Lungenentzündung erwiesen« hatten.30 Demnach wurden homöopathische Arzneien als »bewährte Indikation« von einer nichtärztlichen Autoritätsperson empfohlen, was offenbar sogar vom Gesundheitsamt Basel toleriert und unterstützt wurde. Aus der Schweiz kam des Weiteren ein relevanter Impuls zur homöopathischen Behandlung der »Spanischen Grippe«. Der Homöopath und Bakteriologe Antoine Nebel entwickelte aus der Kombination verschiedener Substanzen die homöopathische Arznei Influenzinum hispanicum. Diese Arznei wurde insbesondere im französischen Sprachraum häufig angewendet und sollte präventiv und kurativ wirken.31 Zu Beginn der »Spanischen Grippe« hatte Nebel ungefähr 15 Tage lang allerdings Eupatorium purpureum als Heilmittel angewandt, anschließend für einige Zeit Eupatorium perfoliatum. Als der Winter begann, manifestierten sich laut Nebel Indikationen für Tartarus stibiatus. Gegen Ende des Winters 1918 und im Frühjahr 1919 war Nebel zufolge Rhus toxicodendron die angezeigte Arznei zur Bekämpfung der Seuche.32 28 Fäh (1996). 29 Erlach (2009). 30 Witte (2006), S. 195. 31 Nebel/Morales Prado (2006). 32 Nebel (1934).

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Während im deutschen Teil der Schweiz eher »klassische« homöopathische Fieber- und Hustenmedikamente wie Aconitum, Tartaricus emeticus und Phosphorus zum Einsatz kamen, wurde der Quellenlage nach im frankophonen Landesteil vor allem das Isopathikum Influenzinum verwendet. Eupatorium perfoliatum wurde wie auch in anderen Ländern aufgrund der für die Grippe charakteristischen Gliederschmerzen eingesetzt. Sowohl Imfeld als auch Nebel wendeten zusätzliche naturheilkundliche und hygienische Maßnahmen an. Nach Ansicht Imfelds gab es keine Prophylaxe gegen die Seuche. Im Sinne einer primären Prävention erteilte er dennoch Ratschläge zu desinfizierenden Mundspülungen, allgemeiner Hygiene, Ernährung und sonstiger Lebensführung.33 Nebels Arznei Influenzinum hispanicum wurde hingegen sowohl präventiv als auch kurativ angewandt. Es entsprach einer Arznei für die primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Nebels naturheilkundliche Empfehlungen deckten sich zumeist mit denen einer sekundären Prävention. Bei Koliken verordnete er Kampfergeist, bei Halsentzündung Phytolacca, Holunder- und Mädesüßtee. Wie andere Homöopathen war auch Nebel der Ansicht, dass jede Krankheit und jede Epidemie als etwas Neues begriffen und individuell behandelt werden müsse. Er warnte davor, eine Epidemie auf die immer gleiche Weise bekämpfen zu wollen. Ein Heilmittel könne bei einer Epidemie wirksam sein, bei einer anderen dagegen nicht. Je nach Land, Klima und Jahreszeit könne eine Epidemie gänzlich andere Aspekte aufweisen. Das ausgewählte Medikament sollte eine Ähnlichkeit mit dem jeweiligen Krankheitsprozess aufweisen. Festzuhalten bleibt, dass Nebel seine bakteriologischen Entdeckungen in die Herstellung eines spezifischen epidemischen Heilmittels einfließen ließ, das er jedoch keinesfalls als einzige Arznei anwendete. Nebel kritisierte die pauschale Anwendung von Laxantien, Diuretika und schweißtreibenden Medikamenten und riet, keine Arzneien zu verwenden, die den Organismus schädigten.34 Den Aussagen in Sauters Annalen für Gesundheitspflege zufolge wurden schulmedizinische Medikamente hingegen nicht nur nicht kritisiert, sondern auch erfolgreich angewandt.35 Imfeld empfahl neben homöopathischen Arzneien die damals üblichen schulmedizinischen Medikamente Aspirin, Antipyrin, Pyramidon und Chinin, zudem Abführmittel zu Beginn und am Ende der Krankheit.36 Eine Schweizer Debatte über die »Spanische Grippe« und ihre homöopathische Behandlung lässt sich anhand der gesichteten Literatur nicht nachvollziehen. Kontakte bestanden in jener Zeit offenbar vor allem zur französischen Homöopathie-Szene und nach Süddeutschland. Internationale Ver33 Imfeld: Die spanische Grippe (1918). 34 Nebel/Morales Prado (2006). 35 Imfeld: Noch ein Wort (1918). 36 Imfeld: Die spanische Grippe (1918).

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bindungen wurden gepflegt und Veranstaltungen ausgerichtet. Wie ihren Kollegen in anderen Ländern war auch den Schweizer homöopathischen Ärzten daran gelegen, sich über Ländergrenzen hinweg auszutauschen und an internationalen Netzwerken zu beteiligen.37 Behandlung durch Homöopathen in Frankreich Zur Zeit der »Spanischen Grippe« wurden in Frankreich mehrere homöopathische Journale publiziert, zudem existierten verschiedene Hospitäler, Ambulanzen, Ausbildungsstätten sowie Labore und Pharmaunternehmen, die homöopathische Erzeugnisse herstellten.38 Sowohl im 1867 gegründeten Pariser Saint-Jacques-Hospital als auch in dem seit dem Jahr 1871 bestehenden Pariser Hahnemann-Hospital wurden Grippepatienten mitsamt ihren Komplikationen behandelt. Von den untersuchten Autoren wurde der Pfeifferbazillus als alleinige Ursache der Krankheit angezweifelt.39 Als homöopathische Arzneien, die während der Pandemie je nach spezieller Indikation und Symptom Anwendung fanden, wurden insbesondere Baptisia, Aconitum, Bryonia, Eupatorium perfoliatum, Phosphorus, Gelsemium, Spongia, Calcium carbonicum, Arsenicum album, Rhus toxicodendron und Influenzinum genannt.40 Im Jahr 1934 erklärte Fortier-Bernoville, dass Eupatorium perfoliatum der Genius epidemicus für Europa gewesen sei. Dano äußerte sich positiv über die miasmatisch wirkenden Arzneien Psorinum und Tuberculinum. Um die passende homöopathische Arznei zu finden, wurde folglich nach verschiedenen Theorien vorgegangen. Zur Anwendung kamen das Ähnlichkeitsgesetz, eine miasmatische Behandlung und die Anwendung einer Arzneimittelkombination.41 Ein Vorgehen nach dem Genius epidemicus wird erst im Nachhinein deutlich.42 Letztlich handelte offenbar jeder Autor nach einem eigenen Schema oder Ansatz. Als französische Besonderheit kann die Anwendung von isopathischen Arzneien angesehen werden. Hier ist die Nosode Influenzinum zu nennen. Auch französische homöopathische Ärzte wendeten begleitend zur homöopathischen Therapie weitere therapeutische Maßnahmen an. Zum Einsatz kamen verschiedene naturheilkundliche und hygienische Maßnahmen. Ebenso wurde eine Autoserumtherapie angeraten, bei der Eigenblut in die Unterhaut injiziert werden sollte. Die isopathische Einnahme verdünnter 37 Leeser (1922). 38 Faure (1996). 39 Chiron (1920); Chiron (1924); Planton (1924); Dano (1934); Fortier-Bernoville (1934/1981). 40 Chiron (1920); Allendy (1923); Chiron (1924); Planton (1924); Dano (1934); FortierBernoville (1934/1981). 41 Planton (1924). 42 Fortier-Bernoville (1934/1981).

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Expektorationen wurde ebenfalls empfohlen. Als homöopathische Arznei im Sinne einer primären Prävention verwendete Planton Baptisia. Es liegt kein präzises Zahlenmaterial zur homöopathischen Behandlung von Pandemiepatienten in Frankreich vor, jedoch existieren Behandlungsberichte. So versorgte Planton eigenen Angaben zufolge von Dezember 1923 bis Januar 1924 Grippepatienten im Alter von 25 bis 60 Jahren im Pariser Saint-Jacques-Hospital. Alle Patienten seien gesund entlassen worden. Komplikationen seien nicht aufgetreten. Auch Dano berichtete von guten Effekten unter seiner Therapie. Insgesamt legen die Aussagen französischer homöopathischer Ärzte nahe, dass die Inanspruchnahme von (Labor-)Diagnostik Teil ihrer Arbeit war. Relevant waren neben Urin-Analysen und dem Widaltest körperliche Untersuchungen sowie die Interpretation von Auswurf und Fieberkurven. Die Bewertung der diagnostischen Ergebnisse, insbesondere der Anstieg oder Fall der Temperatur, korrelierte hierbei mit der der homöopathischen Therapie. Die Anwendung schulmedizinischer Präparate wurde eher abgelehnt. Eine vehement geäußerte Kritik findet sich in den gesichteten Quellen jedoch nicht. In einem von Chiron beschriebenen Fall wurde ein augenärztliches Konsil durchgeführt, dessen Ergebnis die Mittelwahl nach dem homöopathischen Ähnlichkeitsprinzip bestimmte. Trotz unterschiedlicher Ansichten und Herangehensweisen der homöopathischen Ärzte konnte die Homöopathie in Frankreich nach dem Krieg ihre zahlreichen Strukturen, die sich insbesondere auf Paris konzentrierten, weiter ausbauen und etablieren. Forschungsdrang und die daraus resultierende Nähe zu Schulmedizin und Wissenschaft schufen für die dortige Homöopathie eine besondere Situation, die sich auch in der erfolgreichen Etablierung zweier eigentlich in Konkurrenz zueinander stehender homöopathischer Labore erkennen lässt.43 Behandlung durch Homöopathen in Spanien Zur Zeit der »Spanischen Grippe« existierten vor allem in Madrid und Barcelona homöopathische Institute, Krankenhäuser, Polikliniken und Ambulanzen. In Madrid war zudem bis zum Jahr 1920 die 1845 gegründete Hahnemann-Gesellschaft ansässig. Die Homöopathie wurde in Spanien hauptsächlich von Ärzten ausgeübt. Offenbar gab es auch Laienbehandlungen und Laienliteratur, die die Ärzte zumeist nicht akzeptierten. Es wurden mehrere homöopathische Fachzeitschriften publiziert. Zudem gab es Apotheken, die homöopathische Arzneimittel herstellten.44 Trotz Vielfältigkeit der Symptome und Verschiedenartigkeit des Auftretens der Pandemie und obwohl kein Erregernachweis existierte, gab es unter den 43 Faure (1996). 44 Alfonso Galán (1996).

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spanischen Homöopathen anscheinend keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Seuche um eine Grippe handelte. Vielmehr wurde ihre Mannigfaltigkeit als exemplarisch für diese Krankheit dargestellt und dezidiert beschrieben, um bei der Diagnosestellung und Arzneiauswahl zu unterstützen. Entsprechend kamen diverse Homöopathika zur Anwendung, wobei einige wenige besonders häufig eingesetzt wurden. Dieses Prinzip entspricht dem Genius epidemicus. Am häufigsten im Zusammenhang mit der »Spanischen Grippe« erwähnt wurde Bryonia, gefolgt von Eupatorium und Arsenicum, Gelsemium, Belladonna und Rhus toxicodendron sowie Nux vomica, Aconitum und Phosphorus. Als Potenzen wurden insbesondere die C1, C3, C6, C12 und C30 eingesetzt. Vereinzelt wurde die Verwendung eines Extraktes oder einer Urtinktur empfohlen. Aufgrund der Vielzahl der eingesetzten Homöopathika ist davon auszugehen, dass diese neben einer epidemischen Anwendung symptombezogen verschrieben wurden. Gelegentlich verordneten Homöopathen die Arzneien im Wechsel oder als Kombination. Insgesamt wurden mehrere Herangehensweisen zum Finden der passenden Arznei(en) aufgezeigt; eine einheitliche Verordnung ist nicht zu erkennen. Ricart de Sarriá nannte explizit den Genius epidemicus. Ihm zufolge sollte die Arznei gefunden werden, die der epidemischen Krankheit am ähnlichsten sei und den Symptomen der Allgemeinheit am meisten entspreche. Hierzu seien mehrere Fälle auszuwerten und die Arznei bei allen eindeutigen Fällen zu verabreichen.45 Auch Savall sprach von einer kleinen Gruppe von zur Seuche passenden homöopathischen Heilmitteln, aus denen das jeweils individuell geeignetste ausgewählt werden sollte.46 Ebenso wie in anderen Ländern empfahlen die homöopathischen Ärzte in Spanien zusätzliche Therapiemaßnahmen, die sich insbesondere auf Diät und Hygiene bezogen. Savall nannte zudem zwei homöopathische Arzneimittel zur präventiven Einnahme, Bryonia und Eupatorium perfoliatum. Selbst wenn durch die Einnahme eine Ansteckung nicht verhindert werden könne, würden Verlauf und Intensität stark abgeschwächt. Wie auch in einigen anderen Ländern gab es in einer spanischen HomöopathieZeitschrift Therapieempfehlungen für die Leser.47 Schulmedizinische Medikamente und die Anwendung von Seren wurden abgelehnt und aufgrund ihrer Nebenwirkungen kritisiert. Trotz dieser Kritik an der regulären Therapie, die, teils direkt, teils indirekt, für Ausmaß und Komplikationen der Seuche verantwortlich gemacht wurde, suchten die spanischen Homöopathen eine Allianz mit anderen Medizinrichtungen. Es ist davon auszugehen, dass das Interesse an einer derartigen Kooperation in dem Wunsch nach einer Stärkung der eigenen Stellung begründet lag. Aufgrund von Erfolgen der Homöopathie während der »Spanischen Grippe« 45 Ricart de Sarriá (1918). 46 Savall (1918); vgl. Olivé (1918). 47 Olivé (1918); Savall (1918); Vannier (1919).

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wurde davon ausgegangen, eine stärkere Position entwickeln zu können. Im November 1918 erklärte Savall, seit »drei Wochen hundert bis einhundertfünfzig Kranke täglich« gesehen zu haben. Bei der Mehrzahl der Kranken habe die Grippe einen komplikationslosen Verlauf bis zu einer »schnellen Rekonvaleszenz und einer kompletten Heilung« genommen.48 In diesem Zeitraum habe er 46 Bronchopneumonien mit lediglich einem Todesfall behandelt. Diese erfolgreiche Bilanz wurde, wenngleich sie keiner korrekten statistischen Erhebung gerecht wird, ergänzt und indirekt bestätigt durch die Äußerungen Moragas’ zwei Jahre später. Moragas zufolge wurde u. a. aufgrund der positiven Behandlungsresultate während der Pandemie versucht, neue Bündnisse mit der regulären Medizin einzugehen. Ziel war die Gründung einer Vereinigung, in der alle medizinischen Richtungen vertreten und in der die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen aufgehoben seien. Zudem wurde die Einrichtung eines entsprechenden Lehrstuhls vorgeschlagen.49 Eine derartige Zusammenarbeit hat es in den Jahren nach der Pandemie jedoch nicht gegeben. Auch reichte der Einfluss für die Errichtung eines Lehrstuhls an einer spanischen Universität nicht aus. Zudem scheint es Probleme gegeben zu haben, systemtreuen homöopathischen Nachwuchs zu rekrutieren.50 Benavent stellte die Frage, wie es in einem Moment der »Überlegenheit« zu dieser Entwicklung und diesem Verhalten der jungen homöopathischen Ärzte komme. »Warum verlieren sie ausgerechnet den Mut, wenn unsere Gegner, unsere Gültigkeit anerkennend, sie in Praxen, […] in ihre Akademien aufnehmen […]?«51 Der letzte Satz deutet an, dass die Behandlung der Pandemie durch homöopathische Ärzte in Spanien zumindest temporär zu einer Anerkennung durch Schulmediziner geführt hat. Impulse aus dem Ausland übten großen Einfluss auf spanische Homöopathen in der Auseinandersetzung mit der Seuche aus. Verwiesen wurde auf Aussagen und Artikel ausländischer Kollegen, die die Behandlung der Pandemie zum Thema hatten. Auch aufgrund der Teilnahme an Kongressen wird deutlich, dass spanischen homöopathischen Ärzten ein nationaler und internationaler Austausch wichtig war. Behandlung durch Homöopathen in den Niederlanden Im Jahr 1914 gab es in den Niederlanden 31 homöopathische Ärzte.52 Ab 1890 wurde die Monatszeitschrift Homoeopathisch Maandblatt von der in den 48 Savall (1918), S. 353. 49 Moragas y Gracia (1920). 50 Benavent (1920). 51 Benavent (1920), S. 82. 52 Im Jahr 1900 waren es noch 14 homöopathische Ärzte, im Jahr 1942 bereits 51. Gijswijt-Hofstra (1996).

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1880er Jahren entstandenen Gesellschaft zur Förderung der Homöopathie herausgegeben. Zudem erschienen zahlreiche homöopathische Publikationen, die meisten in dem seit 1890 führenden niederländischen Verlagshaus für Homöopathie »La Rivière & Voorhoeve« in Zwolle. In Utrecht und Amsterdam entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Polikliniken, des Weiteren wurde im Jahr 1907 im Utrechter Diakonissenhaus eine homöopathische Station für 25 Patienten eröffnet. Ein Erfolg war die Inbetriebnahme des homöopathischen Krankenhauses in Oudenrijn im Jahr 1914 mit 30 Betten, in dem auch die praktische Homöopathieausbildung gelehrt wurde. Da Versuche, einen Lehrstuhl für Homöopathie an einer niederländischen Universität einzurichten, scheiterten, musste die theoretische Ausbildung im Ausland absolviert werden. Niederländische Homöopathen waren auch international aktiv und engagierten sich u. a. im 1911 gegründeten Internationalen Rat für Homöopathie.53 Die niederländische Homöopathie verfügte zur Zeit der »Spanischen Grippe« somit über Krankenhäuser und Ambulanzen, einen Förderverein und Zeitschriften, wodurch eine Berichterstattung und ein Austausch über die Pandemie möglich waren. Zu Beginn der Pandemie im Jahr 1918 wurde ihre Definition von den homöopathischen Ärzten diskutiert und hinterfragt, ob es sich bei der Seuche tatsächlich um eine Grippe handelte. Zwar wurde sie zumeist als »Spanische Grippe« bezeichnet, jedoch war man sich nicht sicher, ob es sich um die bereits bekannte Influenza, etwa in malignerer Ausprägung, oder um eine neue Krankheit handelte. Offizielle Meinungen zur Diagnose wurden eher angezweifelt, ein fehlender Erregernachweis trug zur Skepsis bei. Vermutet wurde jedoch mindestens eine Nähe zur Influenza; Diagnosen wie Pest oder Malaria lehnte man ab. In der homöopathischen Fachliteratur wurden sowohl Verlauf und Ausmaß als auch Symptome der Seuche beschrieben und Behandlungsmöglichkeiten aufgeführt. Es gab Darstellungen zu Komplikationen wie der Pneumonie, zu einem pathologischen Schlafen und späteren Wellen der Pandemie.54 Angst als aggravierender Faktor wurde thematisiert, die zur Pest hergestellte Verbindung u. a. als angsteinflößend kritisiert. Zur Anwendung gegen die »Spanische Grippe« kamen verschiedene homöopathische Arzneimittel. Am häufigsten wurde Bryonia erwähnt, gefolgt von Arsenicum, Phosphorus, Gelsemium, Rhus toxicodendron, Aconitum, Belladonna, Baptisia und Ipecacuanha. Gelsemium, Phosphorus und Natrium nitricum wurden von J. Voorhoeve als epidemische Heilmittel bezeichnet.55 Zudem kamen insbesondere Arsenicum, Bryonia und Rhus toxicodendron als »generelle« Arzneien bei mehreren Indikationen in Frage, so dass sie der Gruppe der epidemischen Arzneien zugeordnet werden können. Etwa ein Viertel der 53 Gijswijt-Hofstra (1996). 54 J. Voorhoeve (1920); D. K. M. (1920); J. Voorhoeve (1922); Tuinzing (o. J.). 55 J. Voorhoeve (1920).

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Heilmittel wurde lediglich ein- oder zweimal erwähnt. Bei ihnen ist daher am ehesten von einer Auswahl nach dem Ähnlichkeitsprinzip aufgrund einer bestimmten Indikation auszugehen. Mitunter kamen einige Homöopathika per se abwechselnd oder nacheinander zur Anwendung. Verwendet wurden verschiedene D-Potenzen, von der D1, D3, D4, D5, D6 bis zur D12. Zudem wurde eine Tinktur, Avena sativa, genannt. Wie die Homöopathen anderer Nationen wendeten auch die niederländischen begleitende therapeutische Maßnahmen an. Diese fokussierten sich auf ernährungs-, naturheilkundliche und hygienebezogene Ratschläge; ein Autor empfahl zudem das Tragen von Gazemasken.56 Ein gesunder Lebensstil wurde angeraten. Die homöopathischen Arzneien Aconitum sowie Phosphorus bei drohender Pneumonie sollten prophylaktisch wirken.57 Im Sinne einer tertiären Prävention während der Rekonvaleszenz rieten die niederländischen homöopathischen Ärzte zu verschiedenen naturheilkundlichen, diätetischen und homöopathischen Anwendungen.58 Bei der Auswahl der homöopathischen Arznei gingen die Homöopathen nach verschiedenen Theorien vor. Einerseits kamen epidemische Heilmittel nach dem Genius epidemicus zur Anwendung, andererseits, falls diese nicht bekannt waren oder nicht entsprechend wirkten, wurde nach dem Ähnlichkeitsprinzip verfahren. Demgegenüber stand die Auffassung Wouters, dass die Verwendung epidemischer/spezifischer Heilmittel, anwendbar bei allen oder den meisten an der Seuche Erkrankten, dem Prinzip der Allopathie entspräche. Hierdurch würde die Krankheit und nicht der Mensch behandelt, was zu verwerfen sei. Stattdessen solle nach dem der Homöopathie eigenen Prinzip, individuell zu behandeln, verfahren werden. Dennoch riet Wouters zur Anwendung von Sublimat. Diese Therapieempfehlung bezog sich auf die von Sublimat bei Experimenten hervorgerufenen Symptome, die denen von an »Spanischer Grippe« Erkrankten teils deutlich ähnelten. Eine Sublimatvergiftung ließe sich in einigen Fällen nicht von der Seuche unterscheiden.59 Wouters bezog sich hier auf das Prinzip der homöopathischen Arzneimittelprüfung. Eine der insgesamt seltenen Statistiken zur homöopathischen Behandlung der »Spanischen Grippe« und der diesbezüglichen Ergebnisse erschien im Frühjahr 1919 in der Tijdschrift van de »Vereeniging van Homoeopathische Geneesheeren in Nederland« (Zeitschrift der Vereinigung homöopathischer Ärzte in den Niederlanden), erstellt von den homöopathischen Ärzten J. N. Voorhoeve und Munting.60 Um die in den Niederlanden durchgeführte 56 N. A. J. Voorhoeve (1918); N. A. J. Voorhoeve (1919); J. Voorhoeve (1920); D. K. M. (1920); J. Voorhoeve (1922); Sieburgh (1923). 57 J. Voorhoeve (1922). 58 J. Voorhoeve (1920); Sartorius (1920); C. (1923). 59 Wouters (1918). 60 J. N. Voorhoeve (1919).

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homöopathische Behandlung der »Spanischen Grippe« auszuwerten, wurde ein Fragebogen erstellt und an alle 31 praktizierenden homöopathischen Ärzte im Land verschickt. Abgefragt wurden die Gesamtanzahl der behandelten Grippepatienten und die der an der Grippe Verstorbenen, die Anzahl der grippebedingten Pneumonien, der an Pneumonie Verstorbenen, der Sepsisfälle sowie die Anzahl der Empyeme und die der sonstigen Komplikationen. Voorhoeve und Munting wollten anhand der Daten die Gesamtanzahl der Grippe-Sterblichkeit, die Sterblichkeit bei grippebedingten Pneumonien und bei Sepsis und dadurch das Verhältnis dieser drei Sterblichkeitsziffern zueinander ermitteln. Zudem sollte der Schweregrad der behandelten Fälle errechnet werden, der aus dem Anteil der schwerwiegenden Komplikationen wie Pneumonie, Empyeme, Sepsis und Nephritis resultierte. Außerdem planten Voorhoeve und Munting einen Vergleich mit anderen Behandlungsmethoden, jedoch lagen zum Zeitpunkt ihrer Auswertung weder die Statistiken der niederländischen Regierung noch andere Beiträge vor. Insgesamt antworteten von 31 Angeschriebenen 19 Ärzte, jedoch nicht alle vollständig. Kritisiert wurde von einigen die Anzahl und Art der Fragen. Moniert wurde zudem, dass aufgrund der Arbeitsbelastung während der Pandemie keine korrekte Falldokumentation möglich war und man aus der Erinnerung heraus antworten musste. Jeder homöopathische Arzt hatte den Angaben zufolge durchschnittlich 700 Patienten behandelt und 3,5 Todesfälle, was einer Sterblichkeit von etwa 0,5 Prozent entspricht. Bei demselben Schweregrad der Erkrankung und den gleichen therapeutischen Ergebnissen wären das Voorhoeve zufolge für die Niederlande insgesamt etwa 14.000 Opfer der »Spanischen Grippe« gewesen. Er vermutete jedoch, dass das Statistikamt eine höhere Zahl nennen würde, die allgemeine Sterblichkeit also höher läge. Seine Annahme war daher, dass die Behandlung der Pandemie durch die niederländischen homöopathischen Ärzte ein besseres Resultat erbracht hatte als die Therapie durch die regulären Ärzte. Die von Voorhoeve und Munting auf Grundlage des Fragebogens errechnete Pneumonie-Sterblichkeit war jedoch mit 38 bis 39 Fällen ausgesprochen hoch und entsprach nach Angaben der Autoren 8,75 bis 9,31 Prozent der gesamten Todesfälle der Befragten. Die Anzahl der Sepsisfälle wurde mit 0,27 bis 0,28 Prozent der Gesamtgrippefälle angegeben. Von insgesamt 29 Fällen verstarben etwa zwölf Patienten, was einer Sterbeziffer von ca. 45 Prozent entsprach. Diesbezüglich stellte Voorhoeve die Frage, ob diese Zahl nicht geschönt sei und ob alle Kollegen tatsächlich dasselbe unter der Diagnose »septische Grippe« verstanden hätten. Auffällig sei laut Voorhoeve gewesen, dass die meisten Kollegen nur ein oder zwei Sepsisfälle mit einer Sterblichkeit von 87 Prozent angaben, während drei Kollegen von einer großen Anzahl von Sepsisfällen mit einem eher niedrigen Sterblichkeitsanteil von 22 Prozent berichteten. Der seiner Einschätzung nach einzige Fall von echter septischer Grippe sei hingegen so heftig verlaufen, dass es Voorhoeve kaum vorstellbar erschien, wie man diesen Verlauf medikamentös hätte bekämpfen können.

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Die Auswertung zeigt, dass die Pneumonie-Sterblichkeit von etwa 100 Pneumoniepatienten unter homöopathischer Behandlung mit knapp 40 Prozent sehr hoch war. Somit unterschied sich die Statistik nicht wesentlich von der bei schulmedizinischer Behandlung, deren Zahlen häufig mit 30 bis 60 Prozent angegeben wurden. Ähnliche Angaben liegen für die Sterblichkeit bei Sepsis vor. Ein außerordentlicher Erfolg homöopathischer Behandlung gegenüber der schulmedizinischen bei schwerwiegendem und kompliziertem Verlauf der »Spanischen Grippe« lässt sich demnach nicht bestätigen. Bei unkomplizierterem Verlauf kann hingegen von einer erfolgreicheren Behandlung ausgegangen werden.61 Die niederländischen homöopathischen Ärzte kritisierten schulmedizinische Arzneien, feindeten sie jedoch kaum an. Vielmehr wurden schulmedizinische Befunde und Laborergebnisse genutzt. Vereinzelt gab es Überweisungen von homöopathischen Ärzten an schulmedizinische Kollegen bei bestimmten Komplikationen.62 Insgesamt war der Umgang vorrangig ein fachlicher. Neben der objektiven Darstellung einiger schulmedizinischer Präparate63 wurden jedoch fiebersenkende und andere Medikamente direkt kritisiert. Mittels Sublimat versuchte man schulmedizinische Erkenntnisse für sich zu nutzen.64 Von einzelnen Ausnahmen abgesehen wurden Laien oftmals unterstützt und angeleitet. Deren Eigenbehandlung fand unter bestimmten Voraussetzungen Zuspruch. Laien konnten aufgrund der in den Fachzeitschriften deklarierten Therapieempfehlungen von diesen Gebrauch machen. Eine direkte Möglichkeit für sie, Fragen zu stellen oder sich Gehör zu verschaffen, bot die Rubrik »Medizinischer Briefkasten« der Zeitschrift De Dokter in Huis (Der Hausarzt). Laien engagierten sich zudem neben homöopathischen Ärzten in einem Verein zur Unterstützung der Homöopathie.65 Eine Sonderposition scheint der Homöopath Wouters gehabt zu haben. Bemühungen seiner Kollegen, die eine offizielle Anerkennung und Förderung der Homöopathie anstrebten, trat er mit teils dubiosen Ansichten und der Sorge vor Vereinnahmung entgegen. Während er einerseits verurteilte, dass der Homöopathie nicht die Aufmerksamkeit zuteilwurde, die ihr gebühre, lehnte er andererseits die Ernennung eines Hochschuldozenten für Homöopathie ab.

61 Siehe Voorhoeves Rechenbeispiel, wonach es, würden die ausgewerteten Zahlen der Homöopathen zugrunde gelegt, in den Niederlanden etwa 14.000 Opfer der »Spanischen Grippe« gegegen hätte, die Realität aber eine höhere Zahl aufwies. Impliziert wird hier, dass unter homöopathischer Behandlung weniger Menschen verstarben als unter regulärer Therapie. 62 Tuinzing (o. J.). 63 J. Voorhoeve (1920). 64 Wouters (1918). 65 Wouters (1918), S. 6.

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Ausländische Meinungen und Therapieempfehlungen zur »Spanischen Krankheit« wurden in den niederländischen Fachzeitschriften vereinzelt dargestellt. Kontakte ins Ausland pflegte man, wie das Engagement niederländischer Homöopathen im Internationalen Rat für Homöopathie zeigt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es in den Niederlanden zu einer Schwächung der Homöopathie. Eine nicht vorhandene Einigkeit unter den homöopathischen Ärzten könnte hierbei eine Rolle gespielt haben. Versuche, die Homöopathie zu etablieren und ihre Strukturen weiter auszubauen, scheiterten in der Zeit nach der »Spanischen Grippe«. Die Behandlung der Pandemie sowie die diesbezüglichen, gut dokumentierten Auseinandersetzungen und Berichte trugen nicht spürbar zu einer Steigerung der Anzahl homöopathischer Behandler bei. Behandlung durch Homöopathen in Schweden Die schwedische Homöopathie erfuhr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt und unterschied sich Eklöf zufolge somit von einem allgemeinen Trend. Zu jener Zeit gab es in Schweden die meisten homöopathischen Vereinigungen, öffentlichen Tätigkeiten und Zeitschriften. Die Homöopathie wurde in Schweden sowohl von Ärzten als auch von Laien ausgeübt. Insgesamt gab es im Land nur wenige homöopathische Ärzte; ihre Zahl wird auf etwa zehn unter den insgesamt 1500 Medizinern Mitte der 1920er Jahre geschätzt. Generell wurden die homöopathischen Ärzte von ihren schulmedizinischen Kollegen diskriminiert. Zu Beginn der 1920er Jahre bemühte man sich allerdings um mehr Kollegialität. Da es bis ins 20. Jahrhundert hinein insgesamt verhältnismäßig wenige Ärzte gab, die noch dazu vor allem in Städten tätig waren, nahm die Bevölkerung medizinische Hilfe von Vertretern anderer Berufe – Apotheker, Pastoren, Hebammen, Naturheilpraktiker, Homöopathen u. a. – in Anspruch. Im Jahr 1915 wurde im schwedischen Reichstag ein Zulassungsgesetz neu geregelt, das ein Jahr später in Kraft trat. Es erlaubte, mit gewissen Einschränkungen, eine medizinische Behandlung durch Laien. Während homöopathische Ärzte und homöopathische Laienbehandler zunächst zusammen für die Integration der Homöopathie in die reguläre Medizin kämpften, nahmen Ärzte im Verlauf zunehmend von der Homöopathie Abstand, um sich gegen die als Quacksalber bezeichneten Laien abzugrenzen.66 Zur Zeit des Ersten Weltkriegs existierte in Schweden eine nicht unbedeutende homöopathische Bewegung. Ebenfalls gab es eine gut dokumentierte Behandlung der »Spanischen Grippe« durch schwedische Homöopathen. Auch zwei als Laien tätige Homöopathinnen, Klara Fransén und Jenny Lindhagen, kamen zu Wort. Die Seuche wurde gemeinhin als »Spanische Krankheit« bezeichnet. Zu Beginn des Ausbruchs herrschte unter den Homöopathen keine Einigkeit darüber, ob es sich bei ihr um eine neue Krank66 Eklöf (2004). Dazu auch Jütte: Hidden Roots (2006).

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heit handelte oder um eine alte in neuem Gewand. Im weiteren Verlauf gingen sie davon aus, dass es sich bei der »Spanischen Krankheit« am ehesten um eine epidemisch auftretende Influenza handelte. Die offizielle Meinung, dass der Pfeifferbazillus diese verursachte, wurde angezweifelt; man vermutete einen noch unbekannten Erreger. Symptome, Ausbreitung und Folgen wurden beschrieben67 und über Ausläufer der Pandemie bis ins Jahr 192268 berichtet. Der Genius epidemicus besaß in der schwedischen Homöopathie einen hohen Stellenwert. Er erfuhr dort im Gegensatz zu einigen anderen Ländern eine praktische Umsetzung. Genannt wurden mit Rhus toxicodendron, Bryonia, Belladonna, Aconitum, Ipecacuanha und Eupatorium perfoliatum sechs epidemische Arzneien. Für das Jahr 1922 bezeichneten Homöopathen Eupatorium perfoliatum als epidemisches Heilmittel. Häufig eingesetzt wurden zudem Phosphorus und Arsenicum album, China, Arsenicum iodatum, Tartarus emeticus und Nux vomica. Andere Homöopathika wurden nur ein- oder zweimal aufgeführt. Nicht selten setzte man die homöopathischen Arzneien abwechselnd ein. Sjögren bevorzugte verschiedene D-Potenzen, erwähnt wurden die D3, D6 und D12. Klara Fransén wandte die C200 an, Laien empfahl sie für deren Hausapotheke die C6, C12 und C30.69 Verschiedene Einzelsymptome wurden häufig mit Arzneien aus der Gruppe der epidemischen Arzneien behandelt. Das Ähnlichkeitsgesetz kam nicht ausdrücklich zur Erwähnung, sondern wurde indirekt im Zusammenhang mit dem der Pandemie ähnlichsten Heilmittel genannt. Einige Homöopathen beschränkten sich primär auf eine einzige homöopathische Arznei. Hier wurde insbesondere Rhus toxicodendron erwähnt. Therapievorschläge richteten sich nicht nur an homöopathische Ärzte, sondern explizit auch an Laien. Diese konnten sich u. a. mittels öffentlich geschalteter Anzeigen über anzuwendende homöopathische Arzneien informieren. Je nach Symptom wurden unterschiedliche Homöopathika empfohlen. Interessierte holten sich homöopathischen Rat auch per Post oder Telefon und ließen sich die Arzneien per Boten und Päckchen schicken.70 Wiederholt wiesen die Homöopathen jedoch darauf hin, dass sicherheitshalber ein erfahrener Arzt hinzuzuziehen sei. Gegen Ende der Pandemie wurde vor einer missbräuchlichen Anwendung der homöopathischen Arzneien gewarnt.71 67 Caguem (1918); Av Utgivaren (1918); Lindhagen (1918); Grundal (1919); Selldén: Nagra iakttagelser (1919); Selldén: Nagra ord (1919); Sjögren: Om »Spanska sjukan« (1919); Sjögren: Allmänna behandlingsgrunder (1919); Sjögren: Dr. V. Valde (1919). 68 Selldén (1922); Sjögren (1922); Styrelsen för Sv. Föreningen för Vetenskaplig Homeopati (1922). 69 Fern. (1920). 70 Fransén (1919); Selldén: Nagra ord (1919). 71 Fern. (1920).

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Wie ihre Kollegen in anderen Ländern setzten auch schwedische Homöopathen zusätzliche Therapiemaßnahmen zur Behandlung ein, deren Spektrum von hygienischen und naturheilkundlichen Maßnahmen über spezielle Diät und Bettruhe reichte. Ebenso wie hygienische Vorbeugemaßnahmen besaß die homöopathische Prävention zur Vermeidung einer Ansteckung einen hohen Stellenwert. Als homöopathische Prophylaxearznei wurde am häufigsten Rhus toxicodendron erwähnt, gefolgt von Aconitum. Auch elektrohomöopathische und biochemische Medikamente nach Schüssler wurden empfohlen.72 In Schweden führte man vergleichsweise viele die »Spanische Grippe« betreffende statistische Auswertungen durch. Die Ergebnisse waren den Angaben zufolge ausnahmslos positiv und führten der Homöopathie zahlreiche neue Anhänger zu.73 Viele Berichte waren unpräzise, allerdings gab es auch konkrete Zahlenangaben, die zum Teil statistisch aufgearbeitet wurden.74 Die Behandlungsresultate während der Grippepandemie wurden für die Reputation der Homöopathie angeführt. Die negative Haltung von regulären Ärzten und Presse kann ein Grund für den hohen Stellenwert des wissenschaftlichen Ansatzes auf Seiten der Homöopathie gewesen sein, der sich im Erstellen der Statistiken zeigte. Treibend war vermutlich die Hoffnung, dass den als Fakten und Tatsachen dargestellten Informationen und Zahlen weniger Kritik und Vorbehalte entgegengesetzt werden konnten. Die Auswertung von Sjögren deutet darauf hin, dass die homöopathische Behandlung an »Spanischer Grippe« Erkrankter sehr effektiv gewesen sein könnte. Jedoch lassen sich die homöopathische und die schulmedizinische Behandlung unter den verwendeten Kriterien und Parametern nicht korrekt miteinander vergleichen. Zu beachten ist vor allem, dass homöopathische Hausärzte vermutlich oftmals ein weniger schwer erkranktes Patientenklientel therapierten, während davon auszugehen ist, dass in regulären Krankenhäusern schwere und schwerste Fälle behandelt wurden. Anhand der ausgewerteten Aussagen in den homöopathischen Zeitschriften wird ein angespanntes Verhältnis zwischen Homöopathie und Schulmedizin in Schweden deutlich. Es war vor allem von gegenseitiger Kritik, Konfrontation und wechselseitigen Vorwürfen geprägt. Homöopathen thematisierten die Nebenwirkungen der schulmedizinischen Medikamente und machten die reguläre Medizin für Todesfälle während der »Spanischen Grippe« verantwortlich. Wie in einigen anderen Ländern wurden insbesondere die Acetylsalicylsäure und weitere Medikamente kritisiert. Die Präparate wurden bisweilen für das Versagen oder zumindest das schlechtere Wirken der homöopathischen Behandlung verantwortlich gemacht. Man zeigte 72 Hörle (1919). 73 Sjögren: Huldigung (1919). 74 Selldén: Nagra iakttagelser (1919); Sjögren: Om »Spanska sjukan« (1919); Vallberg (1919); Helleday (1920).

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das Versagen der regulären Therapie auf und verglich es mit homöopathischen Ergebnissen. Gleichwohl wünschten sich schwedische Homöopathen eine Akzeptanz und Anerkennung durch Schulmediziner. Kritikern wurde mit dem Argument »Wer heilt, hat recht« begegnet. Dem Vorwurf, dass keinerlei Beweise für die Wirksamkeit homöopathischer Heilmittel bestünden oder erbracht würden, entgegnete man, dass (auch) ein Effizienznachweis der gängigen schulmedizinischen Grippetherapeutika nicht existiere.75 Das Verhältnis der schwedischen Homöopathen und Homöopathinnen untereinander kann als kollegial bezeichnet werden; man unterstützte sich, Differenzen sind kaum ersichtlich – zumindest nach außen. Anfeindungen wurde gemeinsam begegnet. Neben der Homöopathie gab es zur Zeit der »Spanischen Krankheit« in Schweden verschiedene Therapierichtungen, die sich als alternativ zur Schulmedizin verstanden. Hier waren nicht nur Ärzte involviert. Der Ausbildung von Laien kam eine wichtige Bedeutung zu. Ferner wurden Allianzen gebildet mit dem Ziel, gemeinsame Interessen zu vertreten. Bezüglich der Homöopathie fand allerdings eine Verwässerung der Definition statt. Insgesamt bestand in der schwedischen Homöopathenschaft ein Interesse an der internationalen Homöopathie und einem entsprechenden Austausch. Vermutlich haben die nationalen Auseinandersetzungen mit schulmedizinischen Ärzten, Presse und Politik, der Kampf um eine offizielle Anerkennung sowie der Ausbau eigener Strukturen einen Großteil der Zeit in Anspruch genommen. Behandlung durch Homöopathen in Großbritannien Großbritannien nahm in puncto Homöopathie in der damaligen Zeit eine der führenden Positionen ein. Es existierten allerdings Spannungen zwischen homöopathischen Ärzten und Laien. Zudem versuchte die reguläre Ärzteschaft, Homöopathen aus ihren Reihen auszuschließen, je mehr die Homöopathie an Bedeutung gewann. Gleichzeitig gab es viele Eklektiker, die homöopathische Tiefpotenzen anwandten und verschiedene Methoden kombinierten, so dass die Grenzen zwischen regulärer und homöopathischer Therapie immer mehr verschwammen und die Anzahl der reinen Homöopathen zurückging. Im Jahr 1909 gab es knapp 200 homöopathische Ärzte im Land.76 Zur Zeit der »Spanischen Grippe« existierten in Großbritannien mehrere homöopathische Krankenhäuser. Sowohl im London Homoeopathic Hospital (LHH) als auch im Southport Homoeopathic Hospital sowie vermutlich im Turnbridge Wells Homoeopathic Hospital, im Hahnemann Hospital in Liverpool, im Phillips Memorial Hospital in Bromley und im Ho75 Lindhagen (1918). 76 Nicholls/Morell (1996).

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moeopathic Hospital in Glasgow wurden Pandemiepatienten behandelt. Einzelne dort tätige homöopathische Ärzte meldeten sich in Diskussionsrunden zur »Spanischen Grippe« zu Wort, so dass von einer entsprechenden Behandlung auszugehen ist.77 Im LHH wurde wie in anderen homöopathischen Hospitälern jener Zeit ein Lazarett zur Behandlung Kriegsverletzter eingerichtet, ebenso unterhielt es verschiedene Fachabteilungen.78 Während der Pandemie fanden zahlreiche Veranstaltungen und Treffen statt, bei denen man sich mit der Seuche auseinandersetzte und von Erfahrungen berichtete. Die Teilnehmenden waren zumeist homöopathische Ärzte, vereinzelt auch homöopathische Ärztinnen. Anhand der ausgewerteten Aussagen lässt sich feststellen, dass die britische homöopathische Ärzteschaft, ebenso wie ihre schulmedizinischen Kollegen, verunsichert über die Ursache und entsetzt über das Ausmaß der Seuche war. In Diskussionen wurden Erfahrungen mit der Pandemie und ihrer Behandlung dargestellt und erläutert, Ergebnisse und Anschauungen zudem teils kritisch debattiert. Ein Konsens darüber, was die Krankheit auslöste, existierte nicht. Verschiedene mögliche Ursachen wurden diskutiert. Insgesamt nahm die Darstellung der Symptome – als greifbares Kriterium – einen großen Raum ein. Behandelt wurde primär nach dem Grundsatz »Similibus similia curantur«, individuell nach den jeweiligen Symptomen. Einige Arzneien verordnete man jedoch besonders häufig, auch bei verschiedenen Indikationen. Obwohl die Theorie des Genius epidemicus nicht ausdrücklich erwähnt wurde, entspricht das genannte Vorgehen jenem Konzept. Am häufigsten wurde Baptisia genannt, gefolgt von Arsenicum, Phosphorus, Gelsemium und Bryonia. Da Baptisia während der Grippepandemie 1889/90 in vielen Ländern als epidemisches Heilmittel fungiert hatte, wurde es zu Beginn der Pandemie 1918/19 in verschiedenen Ländern eingesetzt. Vermutlich aufgrund der geringen Effektivität wurde es jedoch bald durch andere Homöopathika ersetzt. Britische homöopathische Ärzte wendeten Baptisia vor allem bei schwerem Verlauf an. Bei septischer Komponente wurden zudem Pyrogenium, Mercurius und Lachesis erwähnt. Als Potenzen fanden zumeist C-Potenzen, insbesondere die C30 und C200, Anwendung, bisweilen die C6 und C12, selten eine D-Potenz (3, 4, 12), gelegentlich die C1000 (1M) und C10.000 (10M). Die britischen homöopathischen Ärzte verfolgten neben der Anwendung homöopathischer Arzneien weitere Therapieansätze, die regelmäßig durchgeführt wurden. Neben Anweisungen zur Ernährung und Lebensführung gab es Entwicklungsversuche (homöopathisch) aufbereiteter Impfstoffe und anderer Medikamente zur Vorbeugung und Immunsteigerung. Genannt seien Anwendungen mit Meerwasser oder Sputumlösungen. Die Vakzine wurden sowohl präventiv als auch bei bereits erfolgter Infektion eingesetzt. 77 Wheeler (1918); Day (1920); Hall-Smith (1920); Rorke (1922); Wright (1920); Anonym: A discussion (1919). 78 Leary/Lorentzon/Bosanquet (1998).

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Sonderlich erfolgreich scheinen die Produkte indes nicht gewesen zu sein, da sie im Verlauf keine Erwähnung mehr fanden. Experimentiert wurde überdies mit verschiedenen Potenzen und mit Nosoden. Auch homöopathische Arzneien wurden zur Vorbeugung einer Infektion angewendet. Die Empfehlungen waren unterschiedlich und reichten von Baptisia C200, Arsenicum 3, Influenzinum 30 zu Ferrum phosphoricum, Natrium sulphuricum und Iris vesicolor. Wie in der Forschung waren britische Homöopathen auch bei der statistischen Auswertung homöopathischer Behandlungen der Grippepandemie neben den USA und Schweden führend. Insbesondere bei schwerem Krankheitsverlauf konnten offenbar weniger überzeugende Behandlungsergebnisse erbracht werden, während eine Therapie durch Homöopathen vor allem bei leichterer Krankheitsausprägung mit frühem Behandlungsbeginn gute Ergebnisse zu zeigen schien. Diese Beobachtungen ließen sich freilich nur machen, weil britische homöopathische Ärzte in homöopathischen Krankenhäusern arbeiten und entsprechend foudroyante und infauste Fälle behandeln konnten. Zudem wurde Wert auf eine Analyse dieser Behandlungen gelegt, die vermutlich nicht gern, aber vergleichsweise ehrlich diskutiert wurde. So hatte Hall-Smith, Assistenzarzt im LHH, fast 60 Krankenakten von Pneumoniepatienten im Zuge der Pandemie der Jahre 1918/19 ausgewertet und referierte die Ergebnisse im Februar 1920 auf einer Sondersitzung der Britischen Homöopathischen Gesellschaft. 22 jener Patienten verstarben, was einem Anteil von 38 Prozent an der Gesamtzahl der Pneumoniepatienten entspricht. 26 Fälle zeigten laut Hall-Smith deutliche septische Symptome wie Zyanose, Delir und Koma. Neben vielen Beispielen, die eine Zustandsverbesserung nach homöopathischer Arzneimittelgabe aufwiesen, kam Hall-Smith zu dem Ergebnis, dass die Behandlung der schweren Fälle en gros nicht erfolgreich gewesen war.79 Von positiven Behandlungsergebnissen wurde hingegen in der folgenden Diskussion und in weiteren Artikeln berichtet.80 Erwähnung fand des Weiteren ein Versuch, bei dem an Gruppen mit je 15 Personen die – teils homöopathischen – Medikamente Aconitum, Arsenicum, Belladonna, Gelsemium sowie Aspirin, Sodium salicyl, Quinin und Dovers Puder getestet und verglichen wurden. Demnach wirkte Gelsemium am besten, gefolgt von Belladonna.81 In Großbritannien scheint das Verhältnis der homöopathischen Ärzte zu den Schulmedizinern im Land insgesamt weniger von Konkurrenz oder Missfallen als von Akzeptanz geprägt gewesen zu sein. Im Großen und Ganzen wurden die Schulmediziner bzw. ihre Medikamente selten für die Mortalität der Seuche, wie in anderen Ländern geschehen, verantwortlich 79 Hall-Smith (1920). 80 Anonym: A discussion (1918); Anonym: A discussion (1919); Anonym: Influenzin as Prophylactic (1919). 81 Anonym: Gelsemium (1919); Editorial Notes (1920).

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gemacht. In der britischen Homöopathenschaft besaß die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit der Seuche als auch mit der Homöopathie an sich eine hohe Relevanz. Entsprechend wurde medizinische Fachlektüre regelmäßig in den beiden damals existenten Homöopathiejournalen rezipiert und mitunter reflektiert. Die Nähe britischer Homöopathen zu Wissenschaft und Forschung ist auch an ihren Experimenten mit Vakzinen zu erkennen. Die homöopathischen Ärzte legten zudem Wert auf Laborparameter. Ebenso wurden postmortale Untersuchungen und weitere Forschungen berücksichtigt. Dennoch gab es vereinzelt auch Kritik an der schulmedizinischen Sichtweise und den entsprechenden Therapieansätzen. So befürworteten und unterstützten die meisten Homöopathen das Auftreten von Fieber mit der Begründung, dass Fieber die Krankheit bekämpfe und es ein gutes Zeichen sei, wenn der Körper die Kraft aufbringe, höhere Temperaturen zu entwickeln. Deutlich kritisiert wurde die schulmedizinische Auffassung und Vorgehensweise, Fieber mit Medikamenten zu bekämpfen. Ein Hinweis auf die Behandlung durch Laien und Apotheker findet sich bei Tutt. Dieser war ein auf Homöopathie spezialisierter Apotheker, der während der Pandemie seinen Angaben zufolge vielen Menschen Aconitum und, etwas seltener, Bryonia verkauft hatte.82 Über internationale homöopathische Aktivitäten wurde in der homöopathischen Fachliteratur regelmäßig berichtet, und es fanden entsprechende Veranstaltungen statt. Behandlung durch Homöopathen in Indien Obwohl Indien von der Grippepandemie schwer betroffen war und es zu jener Zeit homöopathische Kliniken und Zeitschriften gab, finden sich nicht sehr viele Artikel über die Seuche und ihre homöopathische Behandlung. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass interne Netzwerke eher rudimentär waren. Oftmals waren es einzelne Homöopathen, die Kliniken leiteten und in ihnen behandelten oder die Zeitschriften publizierten.83 Dementsprechend wird wenig Gelegenheit und Zeit für einen Austausch untereinander sowie für Veröffentlichungen geblieben sein. Zu berücksichtigen ist auch die Größe Indiens mit vielen abgeschiedenen Regionen und unterschiedlichen Sprachen. In den Zentren der Homöopathie, die teils sehr weit auseinanderlagen, ballten sich hingegen die homöopathischen Angebote. Ein konkurrierender Kampf um Schüler und Patienten ist wahrscheinlich. Vermutlich war es bisweilen einfacher, eine Nähe zur und einen Austausch mit der britischen Homöopathiebewegung zu gestalten, als es für indische Homöopathen untereinander möglich war. Dennoch gab es einen Autor, den Homöopathen Chatterjee, der sich zur Zeit der »Spanischen 82 Tutt (1920). 83 Jütte: Indien (1996); Poldas (2010).

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Grippe« äußerte und die Pandemie beschrieb. Er war während der Pandemie für sieben Monate als Amtsarzt in Kalkutta tätig gewesen und hatte mehr als 1000 Patienten begutachtet. Wie in anderen Ländern weltweit zeigte sich die Pandemie in Indien mit vielfältigen Symptomen und Komplikationen, insbesondere mit Pneumonien. Auch in Indien rätselten Experten wie Laien über die Ursache der Krankheit. Parallelen zu Typhus und Malaria wurden gezogen.84 Deutlich werden die Verunsicherung der Bevölkerung und das erschreckende Ausmaß der Erkrankung. Aussagen indischer Homöopathen zur Therapie der »Spanischen Grippe« liegen kaum vor. Die wenigen vorhandenen Quellen legen eine Behandlung mit Nosoden wie Tuberkulinum und Influenzinum nahe.85 Viele Homöopathika wurden lediglich einmal genannt und vermutlich anhand der entsprechenden Symptome ausgewählt. Es lässt sich daher auch aufgrund einer wahrscheinlich selten vorgenommenen fachimmanenten Auseinandersetzung eine Behandlung nach dem Ähnlichkeitsgesetz vermuten. Potenzangaben existieren nicht. Zu berücksichtigen ist, dass einer Behandlung nach dem Genius epidemicus in Indien Jahre und Jahrzehnte später eine wichtige Rolle zukam.86 Angaben zu einer primären und sekundären Prävention machte Chatterjee. Einige Maßnahmen wie das Gurgeln kamen sowohl als Prophylaxe als auch als Therapie in Frage. Zusätzliche therapeutische Maßnahmen waren in Indien, soweit beurteilbar, hygienische und desinfizierende Verfahren. Menschenansammlungen und »Ärger« sollten möglichst vermieden werden. Generell pflegten insbesondere Homöopathen aus Indien und Großbritannien Kontakte untereinander. So ist überliefert, dass indische Homöopathen im LHH hospitierten.87 Ferner schrieb der Homöopath Majumdar aus Kalkutta im November 1918 einen Brief an seinen Kollegen Burford in Großbritannien. Burford war zugleich Schriftführer der Homoeopathic World. Majumdar berichtete von der Influenzapandemie und einer erfolgreichen homöopathischen Behandlung in seinem Land. Die Aussagen sind jedoch unpräzise und nicht konkret.88 Jütte zufolge gab es neben homöopathischen Ärzten ausgebildete Laienhomöopathen und unqualifizierte homöopathische Heiler, zwischen denen oftmals Spannungen herrschten.89 Eine Aussage, die das Verhältnis indi-

84 Chatterjee (1920/21). 85 Hossain (1920/21); Ghose (1923). 86 Sircar (1964). 87 Anonym (1975). 88 Majumdar (1919). 89 Jütte: Indien (1996).

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scher Homöopathen zur Schulmedizin während der »Spanischen Grippe« näher erläutert, lässt sich aufgrund der dünnen Quellenlage nicht treffen. Behandlung durch Homöopathen in Brasilien In den Jahren 1918 bis 1921 existierte in Brasilien eine breite und vielfältige homöopathische Infrastruktur. So gab es verschiedene Institute und Akademien, in denen die Homöopathie gelehrt und praktiziert wurde. In Krankenhäusern, Ambulanzen und Praxen wurde z. T. unentgeltlich homöopathisch behandelt. Es gab mehrere homöopathische Apotheken, zudem je zwei homöopathische Vereine und Zeitschriften.90 Es ist davon auszugehen, dass an »Spanischer Grippe« Erkrankte aufgrund der vorhandenen Angebote sowohl in den homöopathischen Krankenhäusern und entsprechenden Stationen als auch außerhalb der Kliniken von homöopathischen Ärzten und Laien behandelt wurden. Entsprechende Berichte konnten jedoch nicht gefunden werden. Eine Fallbeschreibung über Grippe stammt aus dem Jahr 1925. Beschrieben wurde somit kein Fall der »Spanischen Grippe«; es findet sich jedoch eine Ähnlichkeit zur mit der Pandemie in Verbindung stehenden Encephalitis lethargica. Generell ging es bei diesem Fall weniger um die Grippe als um das Finden des richtigen Heilmittels. Als Arzneien wurden Eupatorium perfoliatum 1X, Arsenicum album C30 und Hyoscyamus C6 verwendet.91 Zur Anwendung kam das Ähnlichkeitsgesetz. Ein Hinweis auf den Genius epidemicus der »Spanischen Grippe« findet sich in einer Äußerung Fortier-Bernovilles aus dem Jahr 1934. Demnach war Gelsemium das epidemische Hauptmittel für die Behandlung der »Spanischen Grippe« in Brasilien, das am besten geeignete Heilmittel während der Pandemie in Europa hingegen Eupatorium perfoliatum. Fortier-Bernoville erklärte, dass der Genius epidemicus je nach Epidemie variiere und »in heißen Ländern« wie »Brasilien, wo die Epidemie wütete«, ein anderer gewesen sei als im kalten Europa.92 Aufgrund dieser Aussage ist davon auszugehen, dass während der »Spanischen Grippe« der Genius epidemicus in Brasilien angewandt wurde und ein Austausch darüber stattgefunden hat. Behandlung durch Homöopathen in Mexiko Vom 19. Jahrhundert an war die Homöopathie in Mexiko – u. a. wegen der erfolgreichen Behandlung von Epidemien – bis zu den 1920er Jahren staatlich anerkannt. In jener Zeit des Aufschwungs entstanden mehrere Verbände und Schulen.93 Fortes zufolge wurden in den Jahren 1911/12 in

90 Fortes (1996). 91 Galhardo (1925). 92 Fortier-Bernoville (1934/1981), S. 24. 93 Francois Flores (2005).

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Mexiko 99 Homöopathen registriert.94 Bis heute existiert das im Jahr 1893 mit etwa 40 Betten gegründete National Homeopathic Hospital in MexikoStadt. Es ist davon auszugehen, dass dort Grippepatienten während der Pandemie behandelt wurden. Aufgrund der Vernichtung sämtlicher Krankenakten als Folge eines Erdbebens im Jahr 1985 können jedoch keine konkreten Aussagen getroffen werden. Erhalten geblieben ist die medizinische Dissertation des Arztes und Homöopathen Manuel Mazari, die den Ausbruch der »Spanischen Grippe« in Mexiko-Stadt und ihre homöopathische Behandlung thematisiert.95 Zwecks dieser Behandlung wurden neun Ambulanzen eingerichtet, in denen Mazari und seine Kollegen wirkten. Mazari beschrieb die Ausbreitung der Seuche über die Kontinente und in Mexiko. Er plädierte dafür, die »Spanische Influenza« einfach Grippe oder Influenza zu nennen. Wegen der sich zum Teil widersprechenden Ergebnisse war er nicht der Ansicht, dass die Pandemie durch den Pfeifferbazillus verursacht wurde. Die Diagnosestellung war laut Mazari zu Beginn der Krankheit schwierig. Wegen der vielen Symptome, die auch bei anderen Erkrankungen vorkämen, habe es viele Verwechslungsmöglichkeiten, u. a. mit Malaria, Denguefieber, Tuberkulose, Pocken und Rheuma, gegeben. Mazari zählte dezidiert die typischen und häufigen Symptome der Seuche auf, die er und seine Kollegen bei den meisten Betroffenen beobachtet hatten. Typisch waren demnach bei fast allen Patienten Epistaxis, Hämoptysen und Metrorrhagien. Auch gastrointestinale Symptome wie Obstipation oder Diarrhoe traten auf und erinnerten bisweilen an Typhus. Einige Patienten litten an nervöser Depression, ausgeprägter Asthenie oder verfielen dem Wahnsinn. Wegen ihrer Mannigfaltigkeit wurden die Symptome der Pandemie einer katarrhalen, einer intestinalen und einer nervalen Form zugeordnet. Zudem wurden sie je nach Intensität in gut- oder bösartig unterteilt, in eine leichte oder schwere Form sowie in hämorrhagisch und sensorisch. Die Bandbreite der möglichen Komplikationen war Mazari zufolge groß und reichte von Augenproblemen über Herzsymptomatik bis zu Bronchopneumonie. Mazari setzte sich als Mediziner nicht nur ausführlich mit der Seuche und ihrer Ursache auseinander, sondern tauschte sich zudem mit Kollegen aus. Dabei wurden auch Berichte ausländischer Ärzte und Forscher konsultiert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse flossen ein in eine umfangreiche Darstellung der Pandemie, ihrer Formen, Ausbreitung, Prognose und Komplikationen. Ebenso wurden pathologische Ergebnisse beschrieben. Die individuelle Veranlagung durch physische und intellektuelle Anstrengungen, Exzesse, Elend, Alkoholismus, Schlaf- und Nahrungsmangel sowie ein hohes Alter wirkten seiner Ansicht nach prädisponierend; eine Immunität würde nicht erreicht.

94 Fortes (1996). 95 Mazari (1919).

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Mazari zählte verschiedene homöopathische Arzneien auf, die er und seine Kollegen zur Behandlung der »Spanischen Grippe« eingesetzt hatten und deren Indikationen er genauestens beschrieb. Erkennen lässt sich eine homöopathische Behandlung nach dem Ähnlichkeitsgesetz, je nach individuellen Symptomen. Eine kleine Gruppe von Arzneimitteln kam jedoch – entsprechend dem Genius epidemicus – vermehrt zum Einsatz, wenngleich dieser nicht explizit erwähnt wurde. Als besonders wichtige Arzneien bezeichnete Mazari Arsenicum album, Baptisia, Gelsemium, Eupatorium perfoliatum und Influenzinum. Insgesamt kamen, mal häufiger, mal weniger häufig, mehr als 30 Homöopathika zum Einsatz. Eine Potenzangabe, die C30 und die C200, erfolgte an dieser Stelle lediglich für Influenzinum. Bei den erbrachten Fallbeispielen nannte er die C6. Mazari riet überdies zu Hygiene-, Isolations- und Prophylaxemaßnahmen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen aus anderen Ländern unterbreitete er keine Diätvorschläge, auch ein Einhalten von Bettruhe erwähnte er nicht. Er verwies jedoch auf eine individuelle Disposition durch eine unausgewogene und ungesunde Lebensweise. Als homöopathische Arzneien mit prophylaktischer Wirkung nannte Mazari Baptisia tinctorea, Influenzinum und Arsenicum album. Influenzinum war hierbei eine Arznei zur primären, sekundären und tertiären Prävention. In seiner Rolle als Leiter des Statistischen Amtes der Stadt nutzte Mazari die Möglichkeit, die epidemiologischen Daten auszuwerten. Er erstellte eine Statistik über die Sterblichkeit der Pandemie von Januar 1918 bis Januar 1919 in Mexiko-Stadt. Hierbei berücksichtigte Mazari die Relation zu korrespondierenden und anderen Krankheiten wie Bronchopneumonie und Pneumonie sowie Alter und Geschlecht. Des Weiteren wurde bei 22 Fällen die Häufigkeit bezüglich der jeweiligen Form96 und der speziellen Symptome97 sowie der entsprechenden homöopathischen Arzneimittelgaben miteinander verglichen. Am häufigsten traten demnach die thorakale Form und Epistaxis auf. Anhand der Wahl der homöopathischen Arzneimittel lässt sich feststellen, dass ein Homöopathikum in der Regel nicht allein aufgrund einzelner pathognomischer Symptome gewählt wurde. So kamen beispielsweise bei Epistaxis verschiedene Homöopathika zum Einsatz; dabei keines besonders oft, wie es z. B. in anderen Ländern Millefolium bei Nasenbluten war. Eine statistische Auswertung, die die Wirkung und Effizienz der homöopathischen Behandlung betraf, womöglich sogar im Vergleich mit der der schulmedizinischen, führte Mazari nicht durch. Mazari unternahm mit seiner wissenschaftlichen Arbeit den Versuch, zur Anerkennung der Homöopathie in Mexiko beizutragen und eine gleichberechtigte Behandlungsweise neben der regulären aufzuzeigen. Selbst Mediziner, griff er die Schulmedizin weder direkt an noch kritisierte er deren 96 Gemeint sind die nervöse, die gastrointestinale und die thorakale Form. 97 Gemeint sind Hämatoemesis, Epistaxis und Hämoptysen.

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Medikamente. Vielmehr plädierte er für ein sich gegenseitig befruchtendes Miteinander homöopathischer und regulärer Medizin. Behandlung durch Homöopathen in den USA Eine Vorreiterstellung in puncto Homöopathie zur Zeit der »Spanischen Grippe« hatten die USA. Hier gab es quantitativ die meisten homöopathischen Ärzte, Vereinigungen, Krankenhäuser und Colleges. Nach einer Blütezeit der Homöopathie insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zwischen 1911 und 1926 jedoch zu einem sukzessiven Rückgang der Anzahl an homöopathischen Lehrstätten und Hospitälern.98 Ähnlich wie in Großbritannien und Deutschland wurden in homöopathischen Kliniken verschiedene Disziplinen angeboten und praktiziert. Ferner existierten einige Firmen, deren medizinische Leitung homöopathisch orientiert war. Die »Montgomery Ward Company« schickte ihre Verletzten und Kranken ins Hahnemann Hospital in Philadelphia. Homöopathen wurden zudem für Armee, Lazarette und den United States Public Health Service rekrutiert oder meldeten sich als Freiwillige. Mehrmals wurde jedoch beklagt, dass homöopathische Arzneien weder zur Verfügung gestellt noch geliefert wurden. Zudem weigerte sich die Militärführung, die homöopathische Therapie offiziell anzuerkennen.99 Es gab allerdings einige homöopathische Krankenhäuser, in die Angehörige der Armee überwiesen wurden.100 Der Leiter der Gesundheitsbehörde in New York City war von 1918 bis 1923 – zur Zeit der Pandemie – der homöopathische Arzt Royal Samuel Copeland (1868-1938). Wie in Großbritannien und Schweden praktizierten auch in den USA homöopathisch tätige Ärztinnen. Vereinzelt wurde von Behandlungen durch Laien berichtet.101 Aufgrund der landesweit extensiv vorhandenen homöopathischen Strukturen war eine breite und zudem gut dokumentierte Auseinandersetzung USamerikanischer Homöopathen mit der Seuche möglich. Zahlreiche Veranstaltungen, Symposien und Artikel beschäftigten sich mit der Pandemie; es fanden diverse, teils sehr kontrovers geführte Diskussionen statt. Obwohl bisweilen betont wurde, nicht die Diagnose respektive die Krankheit zu behandeln und diese daher nicht so relevant seien, zeigt sich dennoch ein deutliches Interesse und Bemühen um ein Krankheitsverständnis. Versuche, die Ätiologie der Seuche zu verstehen und zu erklären, waren vielfältig. Verschiedene Erklärungsmodelle wurden geliefert, die sich an schulmedizinische, homöopathische oder sonstige Theorien anlehnten. Die Meinungen reichten von einer Erregertheorie über eine miasmatische bis hin zu einer 98 Rogers (1996); Lucae (1998); Winston (1999). 99 Anonym: Present Status (1918); Fisher (1921); W. (1919); Stearns (1919); Murdy (1922); Shepherd (1922), S. 218; Dearborn (1923). 100 Bartlett: A Clinical Lecture (1919); Anonym: Influenza (1919); Clement (1920). 101 Anonym: Editorial Notes (1920).

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religiös geprägten Sichtweise; auch die Bedeutung von Angst als aggravierender Faktor wurde thematisiert. Einige vermuteten einen noch unbekannten Erreger, anderen schien der Pfeifferbazillus oder Abarten weiterer bereits bekannter Bakterien wahrscheinlich. Auch über die Diagnose an sich herrschte Unklarheit. Ebenso gab es Diskrepanzen über das Verhältnis von Influenza und Pneumonie. Strittig war, ob es sich um eine oder zwei Entitäten handelte und in welcher Beziehung diese zueinander standen.102 Unterschiedliche Ansichten gab es auch zur Frage einer möglichen Immunität.103 Umstritten war zudem, ob durch Influenza eine latent vorhandene Tuberkulose exazerbierte oder ob die Influenza eine Immunität gegenüber der Tuberkulose verlieh.104 Vereint waren die Homöopathen lediglich in ihrem Erschrecken über die Dimension der Erkrankung und in ihrem Bemühen um eine angemessene Behandlung. Symptome und Komplikationen sowie Ausmaß wurden beschrieben. Sowohl die körperliche Untersuchung als auch entsprechende Laborparameter spielten oftmals eine große Rolle bei dem Versuch, die Krankheit zu diagnostizieren. Allerdings konnten die Untersuchungen nicht immer zufriedenstellend durchgeführt werden.105 Die angewandten Homöopathika zur Behandlung der Seuche wurden häufig aufgrund von individuellen Symptomen eingesetzt. Einige Arzneien erwähnte man jedoch besonders häufig. Diese decken sich weitgehend mit den als epidemische Heilmittel genannten Gelsemium, Bryonia, Rhus toxicodendron, Veratrum viride, Lachesis, Ferrum phosphoricum, Eupatorium perfoliatum, Arsenicum album, Phosphorus und Aconitum. Einzelne Homöopathen in den USA erklärten Cuprum oder Zinkum zum epidemischen Hauptmittel. Einige Male genannt wurde Baptisia, das vielen als Genius epidemicus der Grippepandemie 1889/90 bekannt gewesen war, sich jedoch während der »Spanischen Grippe« offenbar weniger effektiv zeigte. Ein Vorgehen nach dem Genius epidemicus nahm im Ländervergleich neben Schweden einen hohen Stellenwert bei der Behandlung ein. Analog zum Wechsel des Genius epidemicus wurden bei einem erneuten Influenzaausbruch im Jahr 1922 überwiegend andere Homöopathika eingesetzt als in den Jahren zuvor. Zum Einsatz als epidemische Heilmittel kamen jetzt einige eher unbekannte Arzneien.106 Gelegentlich wurden drei bis vier homöopathische Heilmittel gleichzeitig verordnet, aus Sorge, eines allein würde nicht die gesamte Symptomatologie abdecken.107 Der Wechsel von einer 102 Anonym: Insurance Companies (1918); Wells (1918); Dienst (1919); Waterman (1919); Leopold (1920); Skinner (1920). 103 Anonym: Influenza (1919); Green (1920). 104 Bartlett (1920); Anonym: Influenza and Tuberculosis (1920); Wilson (1920); Anonym: Pulmonary Sequels (1921). 105 Leopold (1920). 106 Anonym: Influenza Bulletin (1922). 107 Wells (1922).

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eigentlich angezeigten Arznei auf eine andere wurde mitunter mit einem veränderten Genius epidemicus begründet. Insgesamt gingen die Homöopathen in den USA unterschiedlich vor. Während einige nach dem Ähnlichkeitsgesetz oder nach epidemischen Faktoren behandelten, bevorzugten andere eine Behandlung mit dem jeweiligen Konstitutionsmittel oder nach dem Miasma. Wieder andere verabreichten eine Nosode. Manche behandelten – vornehmlich aus Zeitgründen – nach einem bestimmten Schema.108 Ebenso vielfältig wie die Anzahl der homöopathischen Arzneien war die Auswahl der verwendeten Potenz. Auch hier ist eine einheitliche Vorgehensweise zu verneinen. Die Potenzangaben reichen von verschiedenen D- und C-Potenzen bis zur 1M, 40M und CM. Es wurde mit verschiedenen Potenzen experimentiert, wobei den Angaben zufolge unterschiedliche Wirkungsweisen festgestellt wurden. So soll ein und dasselbe Homöopathikum in einer bestimmten Potenz gut gewirkt haben, während es in einer anderen Potenz nahezu effektlos geblieben sei.109 Bisweilen wendete man Urtinkturen an, einzeln und in Kombination mit Hochpotenzen. Selten wurden homöopathische Arzneimittel subkutan injiziert oder inhaliert. Einzelne Homöopathen verabreichten zudem eine standardisierte Mittelabfolge. Wie in anderen Ländern wendeten auch die US-amerikanischen homöopathischen Ärzte zusätzliche Maßnahmen an, die sich im Wesentlichen auf ausreichende Bettruhe, diätische, abführende sowie hygienische Anordnungen und Empfehlungen konzentrierten. Pflegerischen Maßnahmen sowie psychohygienischen Aspekten – dem Vermeiden von Angst – wurde eine große Bedeutung beigemessen. Zum Tragen von Gesichtsmasken und zu Quarantänemaßnahmen gab es unterschiedliche Ansichten. Wärmezufuhr bei Pneumonie wurde empfohlen, was bei den damals üblichen Kälteanwendungen bei Lungenentzündung nicht selbstverständlich war. Neben der ergänzenden Anwendung schulmedizinischer Wirkstoffe und Verfahren wurden Versuche zu Impfungen und »Autotherapien« mit eigenen Körpersekreten zwecks Immunisierung durchgeführt.110 Thematisiert wurde auch die Anwendung von Kampfer, die bereits Hahnemann bei Grippe empfohlen hatte.111 Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass eine erfolgreiche homöopathische Behandlung der »Spanischen Grippe« in einer Zeit, in der die Homöopathie bedroht war, als willkommene Propaganda eingesetzt wurde. So versuchten US-Homöopathen, mit Hilfe der Seuche und ihrer homöopathischen Behandlung Anhänger und Unterstützer für die Homöopathie zu 108 Calhoun (1919); Green (1920); Anonym: Symposium (1920). 109 Anonym: Symposium (1920), S. 819. 110 Anonym: Announces (1919); Clement (1920); Green (1920); Skinner (1920). 111 Haines (1919); Haman (1920).

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gewinnen und ihre Anerkennung erneut zu forcieren.112 Zahlreiche Aussagen von unterschiedlicher Qualität über eine erfolgreiche Behandlung der »Spanischen Grippe« wurden veröffentlicht. Neben unpräzisen Angaben gab es konkrete Auswertungen. Oftmals bleibt jedoch unklar, wie die Behandlung durch Homöopathen konkret aussah. Ein Konzept oder eine einheitliche Behandlung existierte nicht. Vielmehr schien jeder Homöopath seine individuelle Behandlungsform zu praktizieren. Gelegentlich wurden sogar homöopathische Arzneien nicht verabreicht oder, in schweren Fällen, in toto auf schulmedizinische Präparate zurückgegriffen. Nicht wenige ließen – teils auch in Ermangelung (homöopathischer) Arzneien – jegliche Therapie weg, mit einem positiven Ergebnis. Vielfach wurde erwähnt, dass bereits der Verzicht auf eine schulmedizinische Wirkung gute Resultate erbrachte. Eine weitere Auswertung kam zu dem Ergebnis, dass es egal sei, welche homöopathische Arznei verwendet wurde; die Resultate seien ähnlich gewesen.113 Etwaige Erfolge können demnach nicht auf eine bestimmte Behandlungsart zurückgeführt werden. Vielmehr scheint ein positives Abschneiden das Resultat mehrerer Faktoren gewesen zu sein: einem Zusammenspiel aus der Gabe homöopathischer Arzneien, einer zusätzlichen Begleittherapie aus naturheilkundlichen und hygienischen Maßnahmen sowie dem Verzicht auf schulmedizinische Medikamente und insbesondere ihren Abusus. Generell berücksichtigt werden muss die Schwere der behandelten Fälle. Deutlich wird eine mitunter eklatante Differenz zwischen ambulanten und stationären Fällen. Vereinzelte Stimmen, insbesondere von in Krankenhäusern tätigen homöopathischen Ärzten, die mit schweren Verläufen konfrontiert gewesen waren, zeigten sich nicht befriedigt von der Wirksamkeit homöopathischer Therapie und entsetzt über die hohen Todeszahlen. Ebenso wie in Großbritannien und den Niederlanden zeigte sich, dass die homöopathische Behandlung von schweren Komplikationen wie Pneumonie, Lungenödem und Sepsis nicht immer erfolgreich, die Mortalität z. T. sogar sehr hoch war und zwischen 45 und 70 Prozent lag. Hier deutet sich somit ein partielles Versagen auch der homöopathischen Therapie an.114 Während späterer Wellen scheint es indes in homöopathischen Krankenhäusern befriedigende Behandlungsergebnisse gegeben zu haben.115 Zu bedenken ist jedoch, dass die »Spanische Grippe« in mehreren Wellen auftrat, wobei die Zeit im Herbst/Winter 1918 am virulentesten war. Ab Frühjahr 1919 war die Seuche bereits im Abklingen begriffen und ihre Virulenz insgesamt geringer. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Seuche generell an verschie112 Stearns (1919); Anonym: College Contest (1921); Anonym: Miscellaneous Notes (1922); Anonym: The only Hope (1922); Anonym: Pneumonia leading (1921). 113 Anonym: Influenza (1919). 114 Wells (1918); Bartlett: The Influenza Epidemic (1919); Clement (1920); Haman (1920); Hinsdale (1920); Raynor/Murphy (1920); McCann (1922); Murdy (1922). 115 Winans (1920); Johnston (1921).

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denen Orten unterschiedlich virulent auftrat. US-amerikanische homöopathische Ärzte führten neben britischen und schwedischen Homöopathen die meisten statistischen Erhebungen durch. Ein Problem beim Erstellen der Statistiken war die Ungenauigkeit, mit der Angaben bisweilen gemacht wurden. So kritisierte man, dass es zwar befriedigende Behandlungsresultate gegeben habe, Ergebnisse jedoch unzureichend dargestellt worden seien.116 Insgesamt muss das Zustandekommen der Zahlen genau betrachtet werden. Oftmals handelte es sich um durch Fragebögen ermittelte Daten, die keinen oder wenigen Kriterien und Kontrollen unterworfen waren. Eventuell gingen einige der Zahlen mehrfach in Auswertungen ein, da der entsprechende Befragte womöglich verschiedene Fragebögen erhalten hatte oder sich öfters äußerte. Manche homöopathischen Ärzte bekannten zudem, aufgrund der Arbeitsüberlastung während der Pandemie nicht genügend Zeit für das Archivieren der Falldaten gehabt zu haben. Entsprechend mussten sie sich auf die subjektive Erinnerung verlassen. Andererseits gab es einige homöopathische Ärzte, die ihren Aussagen zufolge ihre Fallzahlen regelmäßig dem zuständigen Gesundheitsamt melden mussten. Zur Anwendung schulmedizinischer Medikamente ist festzustellen, dass USamerikanische Homöopathen einerseits zwar heftige Kritik an der Gabe regulärer Arzneien übten, andererseits selbst mitunter verschiedene Präparate anwandten. Versuche homöopathischer Ärzte, die den Einsatz von Impfstoffen und anderen Medikamenten testeten, waren nicht selten. Auch in homöopathischen Krankenhäusern wurden Vakzine angewandt. Die regulären Arzneien werden vermutlich nicht in den immens hohen Mengen verschrieben worden sein, wie es die schulmedizinischen Kollegen mitunter zu tun pflegten. Nicht selten wurde der Gebrauch dieser Medikamente von den homöopathischen Ärzten für den Tod vieler an Grippe Erkrankter verantwortlich gemacht und nicht die Seuche selbst. Insbesondere Aspirin, in den USA oftmals prophylaktisch eingenommen, wurde abgelehnt. Das Betrachten der teils exorbitanten Blutungsneigung vieler an »Spanischer Grippe« Erkrankter und der vermutlich bisweilen überdosierten Einnahme der Acetylsalizylsäure lässt hier einen Zusammenhang vermuten. Der Einsatz schulmedizinischer Medikation verursachte nach Ansicht vieler homöopathischer Ärzte zudem eine schlechtere Wirksamkeit der homöopathischen Arzneien.117 Insgesamt befürworteten die homöopathischen Ärzte in den USA eine Forschung zur Seuche und ihrer Therapie; entsprechende Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Literatur wurden oftmals dargestellt und übernommen. Auch eigene Forschungen wurden zur Zeit der »Spanischen Grippe« angestellt und waren ein wichtiger Bestandteil der USamerikanischen Homöopathie.118 Gemäß der damaligen naturwissenschaftlichen Entwicklung versuchten homöopathische Ärzte, belastbare Daten zu 116 Rabe (1919); Williams (1919). 117 Ward (1918). 118 Baker: Research Work (1920); Baker: Bryonia (1920).

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liefern. Summa summarum profitierten die US-amerikanischen Homöopathen vom wissenschaftlichen Forschungsgeist, der sie ihrerseits zu Experimenten anregte und das Erstellen statistischer Erhebungen förderte. Hierbei war die US-amerikanische Homöopathie ein Vorreiter weltweit. Trotz vieler Beispiele von positiven Behandlungsresultaten gab es jedoch keinen nachhaltigen Aufschwung der Homöopathie durch die Behandlung der »Spanischen Grippe«. Gründe werden in der bereits geschwächten internen Struktur sowie in der expandierenden Schulmedizin und Pharmaindustrie zu finden sein. Zusammenfassung Die Analyse der Behandlung der »Spanischen Grippe« durch Homöopathen zeigt, dass Ätiologie und Diagnose der Seuche von diesen weltweit als relevant erachtet wurden. Diese Themen nahmen einen großen Teil der homöopathischen Fachdiskussion ein. Hieraus lässt sich nicht nur die Unsicherheit ableiten, die Homöopathen mit ihren schulmedizinischen Kollegen teilten, sondern auch ein großes Interesse daran, gut informiert zu sein, den damals aktuellen schulmedizinischen Forschungsstand zu rezipieren und bei eigenen Therapieansätzen zu berücksichtigen. Dieses Wissen war zudem Voraussetzung, um in Diskussionen mit Schulmedizinern bestehen zu können. Aber es lassen sich auch eigene Forschungsansätze und mit der Homöopathietheorie übereinstimmende Erklärungsmodelle feststellen. Vielfach werden das Selbstverständnis und der Willen von Homöopathen deutlich, sich wissenschaftlich mit der Seuche auseinanderzusetzen. Neben der Verabreichung homöopathischer Arzneien wurden regelmäßig naturheilkundliche, diätetische, hygienische und selbst, wenngleich seltener, schulmedizinische Therapien und Präparate adjuvant verwendet. Ein einheitliches Konzept oder eine gemeinsame Vorgehensweise der Homöopathie im Kampf gegen die Seuche ist weder national noch international zu erkennen. Es gab keine allgemeine oder autorisierte Instanz, die Therapieempfehlungen aussprach. Vielmehr wurde individuell und in Abhängigkeit von der jeweiligen Schule nach verschiedenen Theorien vorgegangen. Darunter fallen der Genius epidemicus, das Simillimum und das jeweilige miasmatische homöopathische Heilmittel sowie Nosoden. Bisweilen war es offenbar schwierig, den Genius epidemicus zu bestimmen. Per definitionem kann er während ein und derselben Epidemie von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit wechseln. Diese Problematik macht eine objektive und qualitative Bewertung äußerst schwierig. Insgesamt ist festzustellen, dass die Behandlung der »Spanischen Grippe« durch Homöopathen keine eindimensionale und monotherapeutische Behandlung war, sondern vielmehr ein komplexes therapeutisches Vorgehen. Die von Homöopathen dokumentierten Ergebnisse deuten darauf hin, dass ihre Therapie bisweilen einen Überlebensvorteil erbrachte und die Ausprägung von Komplikationen und Folgeerkrankungen reduzierte. Dabei scheint ein entscheidender und limitierender Faktor gewesen zu sein, in welchem Stadium die Patienten sich befanden, als mit

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der Therapie begonnen wurde. Zur Beurteilung der Therapieerfolge durch Homöopathen muss des Weiteren unterschieden werden zwischen ihrer Anwendung im privaten und hausärztlichen Bereich einerseits und andererseits den zum Teil schwer und an Komplikationen Erkrankten in homöopathischen Krankenhäusern. Während bei Ersteren durchaus positive Ergebnisse im Vergleich zu regulären Behandlungsweisen festgestellt werden können, scheint die Letalität bei Schwer- und Schwersterkrankten ähnlich derjenigen der Schulmedizin gewesen zu sein. Generell bedacht werden muss, dass Schulmediziner ungleich mehr Patienten behandelten als ihre homöopathischen Kollegen. Zudem gab es weder eine einheitliche schulmedizinische Therapie noch lässt sich verifizieren, wie viele Menschen der Seuche an sich oder aber ihrer Behandlung zum Opfer fielen. Vermuten lassen sich jedoch gesundheitliche Nachteile durch den Gebrauch und Abusus einiger Medikamente, die zur Zustandsverschlechterung der Patienten beigetragen haben können. Sowohl homöopathisch als auch schulmedizinisch tätige Ärzte stellten fest, dass bereits beim Verzicht auf die reguläre schulmedizinische Medikation weniger Komplikationen und Todesfälle auftraten. Etwaige Erfolge homöopathischer Ärzte können somit zumindest teilweise auf den Verzicht auf schulmedizinische Therapie zurückzuführen sein. Trotz möglicherweise besserer Behandlungsergebnisse der homöopathischen gegenüber der schulmedizinischen Therapie in einigen Bereichen erfolgte in den meisten Ländern kein expliziter politischer Akzeptanzschub für die Homöopathie. Entsprechende Versuche der damaligen Homöopathenschaft, mit positiven Behandlungsergebnissen zu werben und eine langfristige positive Reputation zu erreichen, schlugen fehl. Der Homöopathie konnte durch ihre Therapieresultate bei der »Spanischen Grippe« höchstens kurzzeitig eine positive Aufmerksamkeit verschafft werden. Die Therapieergebnisse scheinen insgesamt den bereits existenten Auf- oder Abwärtstrend in den verschiedenen Ländern höchstens marginal beeinflusst zu haben.

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ISSN 0939-351X