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German Pages 270 Year 2014
Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens
Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 4
Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt Medien des Wissens – Anstelle einer Einführung | 7 Georg Mein
Medialität und Interdiskursivität | 23 Rolf Parr
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der luxemburgischen Sprachengemeinschaft | 43 Peter Gilles
Zwischen Frömmigkeit und Politik Reliquien im Mittelalter. Das Beispiel Erzbischof Egberts von Trier | 65 Wolfgang Schmid
Gutenberg als Medienrevolution | 99 Heinz Sieburg
Vom Pergament zum Hypertext. Zur Medialität mittelalterlicher Rechtsquellen | 115 Andreas Gniffke
Schreib maschine und Handschrift: Drei Szenen zur Ethologie des Schreibens | 133 Martin Roussel
Tote leben länger. Sakralisierung, Vergemeinschaftung und Gesellschaftskritik durch Monumente | 153 Sonja Kmec
Lektionen in symbolischer Gewalt. Der Körper als Gedächtnisstütze | 169 Markus Rieger-Ladich
Stimme – Präsenz – Medialität. Dekonstruktion und Medientheorie | 187 Oliver Kohns
Sex, Sport, Splatter, Shoa, Shopping . Elfriede Jelineks Poetik der Medialität | 203 Alexandra Pontzen
Dämonen und Vampire. Der frühe expressionistische Stummfilm in der Medienkonkurrenz | 223 Joachim Pfeiffer
CSI and more. Negotiating Perceptions of Justice, Crime and Self in Contemporary Detective Fiction | 243 Agnès Prüm
Autorenverzeichnis | 261 R egister | 263
Medien des Wissens – Anstelle einer Einführung Georg Mein
I. Es gehört zu den populären Leitvorstellungen der gegenwärtigen Kultur, die sich selbst gerne als globalisierte Mediengesellschaft bezeichnet, dass ihre Wissensbestände durch die Nutzung elektronischer Medien, des Web 2.0 und sozialer Netzwerke eine neue Form der Präsenz erhalten haben. Was vom Einzelnen aktuell nicht gewusst wird, das kann, so das Glücksversprechen der sogenannten Neuen Medien, durch einschlägige Internetsuchmaschinen schnell gefunden werden. Das Leben ist eine Suche lautet denn auch der Slogan der aktuellen Google-Werbung, deren implizite Botschaft klar ist: Wir haben die Antwort!1 Diese neue elektronische und internetbasierte Omnipräsenz des Wissens – am sinnfälligsten vielleicht verkörpert durch das Wikipedia-App für das iPhone – schreibt den alten Mythos der Aufklärung fort, dem zufolge die Welt letztlich planbar und beherrschbar sein muss. Das von Gottfried Wilhelm Leibniz formulierte Vernunftprinzip des »zureichenden Grundes« (Principium rationis sufficientis) formulierte diesen Gedanken erstmalig mit allem luziden Scharfsinn der rationalen Philosophie. In seiner 1714 veröffentlichten Monadologie heißt es, »daß keine Tatsache wahr seiend oder existierend, keine Aussage wahrhaftig befunden werden kann, ohne daß ein zureichender Grund sei, warum es so und nicht anders ist.«2 Dem Wissen kommt jetzt die Aufgabe zu, das Kontingente zu beseitigen und auf alle – insbeson-
1 | Dass sich das Verb »googlen« als Synonym für ›suchen‹ mittlerweile in der Alltagssprache etabliert hat (und nicht nur in der deutschen und englischen), verwundert insofern wenig – eine Tatsache, die dem »Google«-Konzern übrigens keine Freude bereitet. Denn »Google« sieht seine Markenrechte gefährdet, wenn der Begriff »googlen« nicht länger das Produkt eines Anbieters bezeichnet, sondern ähnlich wie die Begriffe »Tempo« oder »Tesa« für ein Produkt sui generis steht. 2 | Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 32. Stuttgart 1979, S. 20.
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dere auf alle unangenehmen – Tatsachen eine einleuchtende Antwort zu formulieren. Es ist kein Zufall, dass gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts dem Wissen diese neue Qualität zugeschrieben wird, denn just zu dieser Zeit – so zumindest die Argumentation Michel Foucaults in Les mots et les choses – tritt die Abbildfunktion als Garant der Wahrheit der Zeichen in den Hintergrund. Jetzt, im Zeitalter der Repräsentation, sei es vielmehr umgekehrt so, dass die rationale Ordnung der Zeichen die Erkennbarkeit der Welt garantiere: »Von nun an«, so Foucault, »begann das Zeichen, seine Bedeutung im Innern der Erkenntnis zu haben: Dieser Erkenntnis entnahm es seine Gewissheit und Wahrscheinlichkeit.«3 Die Frage, welche konkrete Rolle der Einsatz von (Medien-)Technologien für die Konstitution und den Umschlag von Wissensformen hat, lässt Foucault allerdings unbeantwortet. Joseph Vogl hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass Kulturtechniken wie Alphabetismus, Bibliotheken, analoge Aufzeichnungsapparate oder digitale Rechenmaschinen nicht nur auf unterschiedlich effiziente Prozesse der Datenarbeitung verweisen, sondern als medienhistorische Sachverhalte ihre eigenen Demarkationslinien im Verhältnis von Sagbarem und Unsagbarem, Sichtbarem und Unsichtbarem, Ordnung und Differenzlosigkeit ziehen und auf diese Weise eben jene Grenze markieren, »die den historischen Stand eines Wissenszusammenhangs vom Außen seines Nicht-Wissens trennt.«4 Im Zeitalter der Neuen Medien suggeriert die skizzierte Omnipräsenz des Wissens allerdings, dass dieser dunkle und beunruhigende Bereich des Außens des Wissens beständig kleiner und damit auch das Ende jener – mit Nietzsche gesprochen – »schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls«5 bald erreicht werde. Dass diese Hoffnung trügerisch ist, muss nicht eigens betont werden. Der Wissensspeicher Internet erscheint auf chaotische Weise unstrukturiert, sodass die algorithmische Logik der Suchmaschinen nur eine neue Form der Kontingenz darstellt. Darüber hinaus ist das medialisierte Wissen der Gegenwart angereichert durch ein Imperium der Bilder auf der einen und durch eine statistisch selbst nicht mehr fassbare Inflation der Statistiken auf der anderen Seite. Die allgegenwärtigen Datencluster ermöglichen eine völlig neue Form der Verdatung der Subjekte, die das Normalisierungsdispositiv und die daran anschließenden Normalisierungsstrategien als zeitgemäße Antwort auf moderne exponentielle Dynamiken 3 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1999, S. 93. 4 | Joseph Vogl: Formationen des Wissens. Zur Einführung. In: Claus Pias u.a. (Hg): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 2002, S. 485-487, hier: S. 487. 5 | Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 5, S. 126.
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erscheinen lassen.6 Auf der anderen Seite führt die Flut der Bilder zu einer eigentümlichen Dominanz der Bildebene über die Sprachebene, die dem Wissen einen gleichsam freischwebend-aleatorischen Status verleiht. Einstein wird über eine Limonade als der bedeutendste Physiker der Epoche bekannt gemacht. Kate Moss posiert als Mona Lisa für Saint Laurent und der siegreiche Fußballer Cantona als auferstehender Christus nach Piero Della Francesca für eine Versicherung. Wer danach ein Museum besucht, hat den Eindruck, die Bilder bereits gesehen zu haben.7
Damit stellt sich die drängende Frage, wie sich der Status des Bildes am Ende der Gutenberg-Galaxis konkret bestimmen lässt. Die Frage ist nicht grundsätzlich neu – schon im 16. Jahrhundert fragte der italienische Jurist und Emblematiker Andreas Alciatus Quid est pictura? und lieferte die Antwort direkt hinterher: Veritas falsa.8 Das Bild ist eine gefälschte Wahrheit,9 ein Fake würde man heute sagen, ein ontologischer Trug, denn es stimmt niemals konkret mit dem überein, was es zeigt. Dieses grundsätzliche Misstrauen hinsichtlich der Wahrheit der Bilder gehört gegenwärtig gleichsam 6 | Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1996, S. 313. 7 | Andreas Gruschka: Bildung: Unvermeidbar und überholt, ohnmächtig und rettend. In: Zeitschrift für Pädagogik 47 (2001), S. 621-639, hier: S. 632. 8 | Andreas Alciatus: De notitia Dignitatum (1651), S. 190. Die juristische Formel des Alciatus steht in der Tradition der jüdisch-christlichen Bildtradition, deren zentraler Bezugspunkt die »Imago Dei«-Lehre des Alten Testaments darstellt (Gen I, 26-27): »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde.« Im Neuen Testament führt Paulus aus, dass der Mensch nicht nur nach dem Bild Gottes geschaffen sei, sondern sich kraft seines Geistes in ein Bild Gottes verwandeln soll. Im zweiten Korintherbrief heißt es: »Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Herrlichkeit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verwandelt in dasselbige Bild, von einer Klarheit zur anderen, als vom Geist des Herrn.« (2. Kor 3,18) Damit finden sich in der christlichen Tradition mindestens zwei divergierende Sichtweisen. Nach der alttestamentarischen Sicht ist der Mensch als »Imago Dei« geschaffen, wohingegen in der neutestamentarischen Perspektive der Mensch durch Christus in eine »Imago Dei« verwandelt wird. Das aus diesen beiden Positionen resultierende dialektische Spannungsverhältnis prägt nicht nur die theologische Diskussion um die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, sondern auch die daraus resultierende Semantik des Bild- und des Bildungsbegriffs. Allerdings lässt sich sowohl an die alt- wie neutestamentarische Fassung des »Imago Dei«-Konzepts eine radikale Lesart anschließen, der zufolge ›Bilden‹ und ›Abbilden‹ privilegierte Tätigkeiten darstellen. Das Bilderverbot aus dem Dekalog ist nicht ohne Grund deutlich formuliert und umfassend angelegt (Ex 20,2): »Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.« 9 | Vgl. zu diesen epistemologischen Aspekten von »Fälschung« und »Fake«: Martin Doll: Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens. Berlin 2011.
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zum Kernbestand einer kritischen Mediennutzung. Im Zeitalter digitaler Bildbearbeitungsprogramme stehen Bilder grundsätzlich unter dem Verdacht, dass sie zum Zwecke der Manipulation beeinflusst wurden. Freilich ist im Horizont popkultureller Theoriekonzepte die – durchaus als dekonstruktiv zu wertende – Dekomposition und Dekontextualisierung von Bildern längst zu einer eigenständigen Form der Ästhetik avanciert. Mit anderen Worten, durch die rasante medientechnologische Entwicklung rückt vermehrt die sinnkonspirative Montagequalität des Wissens in den Vordergrund. Simulation, so der französische Philosoph Jean Baudrillard, sei zum kennzeichnenden Schema für die Zeichenordnung der Gegenwart geworden. »Simulation ist jener unwiderstehliche Ablauf, bei dem die Dinge so miteinander verkettet werden, als ob sie einen Sinn hätten, während sie eigentlich nur durch eine künstliche Montage und durch den Unsinn organisiert werden.«10 Die durch die frei flottierenden Kodes, die Bilderwelten und Datencluster evozierte Hyperrealität der Medien stellt für Baudrillard insofern nichts anderes als eine medial simulierte Realität dar, die die Frage nach dem ›Original‹ längst ad absurdum geführt habe.
II. Im Kontext solcher Diagnosen gerät allerdings leicht in Vergessenheit, dass das Wissen einer Kultur noch nie anders als medialisiert zu haben war. Denn schon die Sprache selbst ist ein vermittelndes Medium – sie ist aber zugleich auch ein vermitteltes, d.h., sie muss in einem langjährigen und mühsamen Abstraktionsprozess erworben und verinnerlicht werden. Es wäre insofern falsch, die Mediengeschichte erst mit der ›Technologisierung des Wortes‹, d.h. der Erfindung der Schrift, beginnen zu lassen,11 wenngleich zugestanden werden muss, dass hier zum ersten Mal explizit auf die Medialität des neuen Wissensträgers reflektiert wurde. So erzählt Sokrates im Dialog Phaidros von einem ägyptischen Mythos, in dem der Erfinder der Schrift, der Gott Theut, mit dem König Thamus über die Vorund Nachteile der Buchstabenkunst diskutiert. Thamus bringt in diesem Gespräch seine Kritik an der Schrift wie folgt auf den Punkt: Denn diese Kunst wird Vergessenheit schaffen in den Seelen derer, die sie erlernen, aus Achtlosigkeit gegen das Gedächtnis, da die Leute im Vertrauen auf das Schriftstück von außen sich werden erinnern lassen durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch Selbstbesinnung. Also nicht ein Mittel zur Kräf tigung, sondern zur Stützung des Gedächtnisses hast du gefunden. Und von Weisheit gibst du deinen Lehrlingen einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie 10 | Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse. Berlin 1994, S. 30. 11 | Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987.
M EDIEN DES W ISSENS auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu Dünkelweisen geworden und nicht zu Weisen. 12
Die theoretische Reflexion auf das Phänomen des Medialen ist also keineswegs neu, und es fällt auf, wie zielsicher das entscheidende kulturelle Moment der neuen Medientechnologie erfasst wird, nämlich die Archivierung von Wissensbeständen. Im Medium Schrift wird das Wissen seiner interaktiv-personalen Gestalt entkleidet, es wird äußerlich und tritt in eine entscheidende Distanz zum Wissenden. Dieser muss nicht mehr ›nur‹ erinnern, also aus dem Eigenen schöpfen, sondern fortan auch das Äußere verinnerlichen. Die Schrift markiert in diesem Zusammenhang nicht nur die Demarkationslinie zwischen innen und außen, zwischen Welt und Subjekt, sondern führt diese Spaltung im Sinne eines Re-entry noch einmal in sich selbst ein. Denn Schrift ist eben nicht nur Archiv, sondern auch Medium des Wissens, also Träger und Substanz in einem. Und vielleicht war genau das die zentrale Intention von Platons Schriftkritik, dass nämlich die Doxa, jenes lebendige, beseelte und nur im Dialog erfahrbare Wissen, fortan an die Materialität des Schriftzeichens gebunden und damit der medialen Repräsentationsform der Buchstabenkunst gleichsam ausgeliefert sein wird. Kein Vernünftiger werde es daher wagen, so Platon im Siebenten Brief, »das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der Fall ist«.13 Die Schrift ist für Platon deshalb eine Bedrohung, weil sie die Bedeutung, die sie als Ausdrucksmittel doch bloß repräsentieren soll, durch ihre materielle Form beeinflussen könnte. Daher wird ihr als Medium von vornherein die Fähigkeit abgesprochen, das, was der Philosoph allein durch die Schau der Ideen zu vergegenwärtigen im Stande ist, auch nur annähernd angemessen wiederzugeben.14 Die Frage lautet also, auf welche Art und Weise das Medium das Wissen prägt und wie umgekehrt die kulturellen Anforderungen an das Wissen als Ressource auf die Medien zurückwirken.
III. 2 500 Jahre nach Platon hat der Vater aller Medientheorie, der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan, die dialektische Spannung zwischen dem Medium und der – nur vermeintlich ›neutral‹ – durch es 12 | Platon: Sämtliche Dialoge. Hg. v. Otto Apelt. Hamburg 1988, Bd. II: Phaidros, S. 103. 13 | Ebd., Bd. VI: Briefe, S. 74. 14 | Was von Jacques Derrida als das Linearitätsdogma der Schrift kritisiert wurde, meint ja nichts anderes, als dass das Wissen im Medium der Schrift sich einer spezifischen Organisationsform zu unterwerfen hat.
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transportierten (Wissens-)Botschaft auf eine bündige Formel gebracht: The medium is the message. Diese Nobilitierung der Form- vor der Inhaltsseite ist die logische Konsequenz aus McLuhans anthropologischem Medienverständnis. Schon Ernst Cassirer hatte betont, dass der Mensch so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken und in mythischen Symbolen lebt, dass er ohne diese Zwischenschaltung künstlicher Medien nichts erfahren oder erblicken könne.15 McLuhan folgt dieser apriorischen Medienauffassung. Auch für ihn ist ›Wirklichkeit‹ immer schon medial vermittelt, ist Wirklichkeitswahrnehmung immer schon medial präformiert. Die Wirklichkeit an sich ist dem Menschen nach McLuhans Überzeugung überhaupt nicht zugänglich. Stets muss zwischen Mensch und Welt ein Kopplungsstück, ein Vermittlungsorgan treten, durch das dem Menschen sein Außen überhaupt erst zugänglich wird. Zu solchen medialen Kopplungsstücken a priori zählt McLuhan auch Sprache in ihrer Phänomenalität: Alle Medien sind mit ihrem Vermögen, Erfahrungen in neue Formen zu übertragen, wirksame Metaphern. Das gesprochene Wort war die erste Technik, die es dem Menschen möglich machte, seine Umwelt loszulassen und sie in neuer Weise zu ›begreifen‹. Wörter sind eine Art Informationsspeicher, mit welchem man mit großer Geschwindigkeit die ganze Umwelt und Erfahrung wiedererwecken kann. [...] Durch Übertragung der unmittelbaren Sinneserfahrung in Lautsymbole kann die ganze Welt in jedem Augenblick gebannt und wiedererweckt werden. 16
In diesem Sinne kann McLuhan Medien als Extensionen des menschlichen Körpers – Prothesen gewissermaßen – und damit als anthropologisch unverzichtbare Technologien interpretieren, durch die der Mensch erst in die Lage versetzt wird, seinen durch die gegebene ›natürliche‹ Ausstattung beschränkten Weltzugriff zu kompensieren bzw. auszudehnen.17 McLuhans 1964 erschienenes – und mittlerweile zum Klassiker avanciertes – medientheoretisches Hauptwerk bringt dieses Medienverständnis schon im Titel auf den Begriff: Understanding Media: The Extension of Man. Medien mutieren in McLuhans Ansatz wortwörtlich zu einer zweiten Haut, deren Existenz so selbstverständlich ist, dass der Mensch dem durch sie vermittelten Wissen gleichsam unhintergehbar ausgeliefert ist. Denn auf sublime Art und Weise scheinen Medien selbst zu erzeugen, was sie doch nur vermitteln sollen, und ebenso unaufdringlich wie machtvoll 15 | Vgl. Ernst Cassirer: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur. Stuttgart 1960, S. 39. 16 | Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Dresden/Basel 1995, S. 97. 17 | »In den Jahrhunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben.« Ebd., S. 9.
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setzen sie ihre spezifische Realitätsdefinition durch. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen«, schreibt Niklas Luhmann, »wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Platon über Atlantis weiß: Man hat davon gehört.«18 In der gegenwärtigen Kultur – so der Tenor der aktuellen Mediendebatten – scheint sich die Medialität des Wissens immer mehr in Richtung einer Dominanz des Medialen zu verlagern. Mit anderen Worten, der Minimalkonsens der durchaus heterogenen medientheoretischen Strömungen lautet, dass Medien das, was sie vermitteln, verarbeiten oder speichern, unter Bedingungen stellen, die sie selbst erst schaffen oder sind.19 Im Vordergrund steht somit ein relativ autonomes bzw. apriorisches Medienkonzept, das die Vorstellung verabschiedet, Medien hätten lediglich eine neutrale Übermittlungsfunktion von Botschaften – wobei ja gerade diese Vorstellung mit dem populären Medienverständnis am ehesten zur Deckung kommt. Vielmehr tritt an die Stelle der neutralen Mittlerfunktion die Eigendynamik des Mediums, seine verfälschende, aber zugleich auch schöpferische Kraft. Die Transparenz des Mediums wird aufgegeben zugunsten einer Opazität,20 die schon Nietzsche antizipierte, als er schrieb: »[U]nser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.«21 Vor allem Sybille Krämer hat klar herausgearbeitet, welchen Preis diese avantgardistischen, dem Medienapriori verpflichteten Theorien für die Prononcierung des Eigengewichts der Medien zu zahlen haben: Denn in 18 | Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996, S. 9. 19 | Vgl. Lorenz Engell/Joseph Vogl: Vorwort. In: Pias (Hg.), Kursbuch Medienkultur (Anm. 4), S. 8-11, hier: S. 10. 20 | Um nur die wichtigsten dieser medientheoretischen Positionen zu nennen: McLuhan, Die magischen Kanäle (Anm. 16); Eric Alfred Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990; ders.: Als die Muse schreiben lernte Frankfurt a.M. 1992; Jack Goody (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1981; Jack Goody/Ian Watt/Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt a.M. 1986; Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987; Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 2002; Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1983; ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1997; Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978; ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982; Paul Virilio: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung. München/Wien 1989; ders.: Rasender Stillstand. München 1992; Friedrich A. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986; ders.: Aufschreibesysteme. 1800/1900. München 2003. 21 | Friedrich Nietzsche: Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition. Faksimiles und kritischer Kommentar. Aus dem Nachlass hg. v. Stephan Günzel u. Rüdiger SchmidtGrépály. 3., korrigierte Aufl. Weimar 2009, S. 19.
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all diesen Theorien werden Medien zu quasi souveränen Instanzen stilisiert, zu nichtpersonalen Agenten der Kultur und/oder hypostasiert zu unhintergehbaren Strukturen kultureller Erfahrung.22
IV. Ein ganz offensichtliches Problem der gegenwärtigen Debatten ist die ebenso unscharfe wie inflationäre Verwendung des Medienbegriffs selbst. Schon die Liste dessen, was McLuhan alles als Medium ansah, ist beeindruckend: das gesprochene, geschriebene und gedruckte Wort, Straßen, Zahlen, Kleidung, Häuser, Geld, Uhren, Spiele, Buchdruck, Comics, Fotografien, die Presse, das Rad, das Fahrrad, das Auto, das Flugzeug, den Telegraphen, Telefone, Schreibmaschinen, Plattenspieler, Kinofilme, Radio, Fernsehen, Waffen und Automatisierung. Ansatzweise verständlich wird diese Liste erst, ruft man sich McLuhans Basisdefinition der Medien noch einmal in Erinnerung: Medien werden als Extensionen des Menschen, insbesondere der menschlichen Sinne verstanden; sie sind Prothesen bzw. Werkzeuge, die körperliche Beschränkungen des Menschen überwinden, zugleich aber auch neue Wahrnehmungsformen und -umgebungen selber schaffen.23 Medientheoretische Ansätze, die in der Tradition von McLuhans technikorientiertem Medienverständnis stehen, können insofern alle natürlichen oder künstlichen Dinge, alle Zustände, alle Entwicklungen, alle Energieformen usw. als Medien auffassen, wenn sie nur in irgendeiner Weise als Ausweitungen der menschlichen Sinne, als Verstärkungen oder Simulationen körperlicher oder organischer Leistungen interpretiert werden können. Damit aber wäre jedes Ding, das mit Blick auf menschliches Tun und Lassen irgendwie als Stütze, Prothese oder Werkzeug in direkter oder übertragener Weise bestimmt werden kann, ein Medium. Mit anderen Worten: Alles kann sich in ein Medium verwandeln, wenn es nur in geeigneter Weise perspektiviert wird. Was ein Medium ist, erweist sich als das Resultat einer bestimmten Betrachtung, die die Dinge daraufhin abtastet, ob sie dazu geeignet sein könnten, die Sinneserfahrungen oder KommunikationsMöglichkeiten zu modifizieren, zu transformieren oder zu substituieren. Der damit einhergehende Verlust an Trennschärfe wird auf der anderen Seite aber aufgewogen durch eine Reihe überraschender Einsichten. So war McLuhan einer der ersten, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass auch das Geld als eine Extension des Körpers interpretiert werden muss. Deshalb und aufgrund seines ubi-
22 | Vgl. Sybille Krämer: Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt a.M. 2008, S. 65-90, hier: S. 68. 23 | Vgl. George Sanderson/Frank Macdonald (Hg.): Marshall McLuhan. The Man and His Message. Golden 1989, S. 218.
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quitären Charakters kann das Geld als eines der wirkungsmächtigsten Massenmedien der Gegenwart begriffen werden. In anderen medientheoretischen Konzepten sieht es hinsichtlich der Präzisierung des Medienbegriffs nicht viel besser aus. So bleibt auch in systemtheoretischen Ansätzen luhmannscher Prägung das, was ein Medium konkret sein soll, eigentümlich unscharf. Luhmann schließt in seinen Überlegungen explizit an die Arbeiten von Fritz Heider an,24 für den ein Ding genau deshalb wahrnehmbar ist, weil immer auch ein diese Wahrnehmung vermittelndes Medium existiert. Und weil sich jedes Ding einer medial vermittelten Wahrnehmung verdankt, kann folglich kein Ding außerhalb eines Mediums sein. Mit anderen Worten, das Medium ist bei Heider die immer schon vorausgesetzte Trägersubstanz von Wahrnehmung. Luhmann selbst geht über Heiders Unterscheidung von Medium und Ding noch hinaus. Sein Ziel ist es, mittels der Unterscheidung von Medium und Form den systemtheoretisch unplausiblen Begriff der Übertragung zu ersetzen.25 Medium in diesem Sinne ist jeder lose gekoppelte Zusammenhang von Elementen, der für Formung verfügbar ist, und Form ist die rigide Kopplung dieser Elemente, die sich durchsetzt, weil das Medium keinen Widerstand leistet. Die Unterscheidung setzt im Bereich des Mediums identifizierbare Elemente (insofern also wieder Form) voraus und unterscheidet sich dadurch vom alteuropäischen Begriff der (von sich her gänzlich unbestimmten) Materie. Das Medium muß (digital) eine gewisse Körnigkeit und (analog) eine gewisse Viskosität aufweisen. Es muß außerdem in der Bindung durch Form als Medium erhalten bleiben, wenngleich es durch die Form gewissermaßen »deformiert« wird.26
Anders ausgedrückt: Was sich einer Form als Disposition anbietet, ist ein Medium. Medien sind in systemtheoretischer Fassung nichts anderes als eine Gelegenheit für Form, »eine offene Mehrheit möglicher Verbindungen.«27 Medien, so könnte man pointiert formulieren, sind Bedingungen der Möglichkeit von Form – wobei betont werden muss, dass sich darin auch schon die Leistung des Mediums erschöpft. Denn das mediale Substrat selbst ist im System operativ überhaupt nicht anschlussfähig. »Man sieht nicht das Licht, sondern die Dinge […]. Man hört nicht die Luft, sondern Geräusche.«28 Insofern sind Medien überhaupt nur »an der Kontingenz der Formbildung erkennbar, die sie ermöglichen.«29 Werden Medien also systemtheoretisch als lose Kopplungen zwischen Elementen 24 | Fritz Heider: Ding und Medium [1926]. Berlin 2005. 25 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 195. 26 | Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1994, S. 53. 27 | Ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 168. 28 | Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 25), S. 201. 29 | Ders.: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 27), S. 168.
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aufgefasst, in denen sich Formen als rigidere Kopplungen durchsetzen können, so ist unmittelbar einsichtig, dass mit dieser Bestimmung auch das Einfallstor für das, was ein Medium nun konkret sein könnte, weit offen steht. Neben Sprache, Licht und Luft kann letztlich alles, was sich als Möglichkeitsraum für Form anbietet, als Medium begriffen werden – Sand zum Beispiel. Denn die Spur eines Fußes im Sand, so argumentieren Corsi und Esposito, setzt zwischen den Sandkörner eine rigidere Kopplung durch, der sie (da sie keine starke Verbindung miteinander aufweisen) keinen Widerstand leisten können. Je schwächer die stabilen Verkopplungen zwischen den Elementen des Mediums sind, desto besser eignet es sich, Formen anzunehmen.30
Etwas anderes sind die sogenannten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die nach Luhmanns Auffassung entstanden sind, um Kommunikation wahrscheinlicher zu machen.31 Zwar wird auch hier die Differenz von loser und strikter Kopplung vorausgesetzt, doch handelt es sich hier um einen Medientypus anderer Art. Zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zählen so heterogene Dinge wie Geld, Liebe, Macht, wissenschaftliche Wahrheit, Kunst und Werte. Wie ist das zu verstehen? Nach Luhmanns Überzeugung kann die Sprache aus sich selbst heraus nur einen geringen Teil des linguistisch Möglichen realisieren. In vielen Fällen ist der Misserfolg der Kommunikation vorhersehbar, weil die – an sich schon unwahrscheinliche – Kommunikation mit spezifischen Forderungen an den Adressaten herantritt: unwahrscheinliche Behauptungen, Abgabezumutungen, willkürliche Verhaltensanweisungen und Ähnliches mehr. In solchen Fällen stellen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Werkzeuge bereit, die Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten transformieren, beispielsweise, indem sie etwa für Güter oder Dienstleistungen, die man erhalten möchte, Bezahlung anbieten. Luhmann definiert die Leistung dieses spezifischen Medientyps daher als »laufende Ermöglichung einer hochunwahrscheinlichen Kombination von Selektion und Motivation.«32 Und es ist dieser Aspekt, nach dem alle symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bei aller Verschiedenheit als funktional äquivalent betrachtet werden können. Symbolisch sind die Kommunikationsmedien insofern, 30 | Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M. 1997, S. 59. 31 | »Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien […] sind eigenständige Medien mit einem direkten Bezug zum Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Sie setzen jedoch die Ja/Nein-Codierung der Sprache voraus und übernehmen die Funktion, die Annahme einer Kommunikation erwartbar zu machen in Fällen, in denen die Ablehnung wahrscheinlich ist.« Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 25), S. 316. 32 | Ebd., S. 320.
M EDIEN DES W ISSENS als sie Kommunikation benutzen, um das an sich unwahrscheinliche Passen herzustellen. Sie sind zugleich aber auch diabolisch insofern, als sie, indem sie das erreichen, neue Differenzen erzeugen. Ein spezifisches Kommunikationsproblem wird durch ein Neuarrangieren von Einheit und Differenz gelöst: Wer zahlen kann, bekommt, was er begehrt; wer nicht zahlen kann, bekommt es nicht. 33
Als ›generalisiert‹ werden solche Kommunikationsmedien bezeichnet, weil sie Schemata bereitstellen, die auf mehr als nur eine Kommunikationssituation applizierbar sind. Man kann sich dies gut am Beispiel der Liebe klar machen, die Luhmann ja auf eine sehr spezifische Weise interpretiert, nämlich als einen semantischen Kode, »nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikationen realisiert werden.«34 Liebe in diesem Sinne als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium verstanden, ist ein zunächst partnerunabhängiges Verhaltensmodell, das gespielt werden kann, das einem vor Augen steht, bevor man sich einschifft, um Liebe zu suchen; das also als Orientierung und als Wissen um die Tragweite verfügbar ist, bevor man den Partner findet, und das auch das Fehlen eines Partners spürbar macht, ja zum Schicksal werden lässt.35
In ganz anderer Weise und im deutlichen Gegensatz zu solchen Medienkonzepten, die auf eine klare Abgrenzung der Sphäre des Medialen gegenüber anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen verzichten – hat Hartmut Winkler versucht den Medienbegriff zu definieren. Seine Definition verläuft über sieben Basisthesen und stellt den technischen Charakter der Medien in den Mittelpunkt: 1. 2.
3. 4.
›Kommunikation‹ Medien sind Maschinen der gesellschaftlichen Vernetzung. Symbolischer Charakter Von anderen Mechanismen gesellschaftlicher Vernetzung – z. B. dem Warentausch, Arbeitsteilung, Politik, Sex oder Gewalt – unterscheiden die Medien sich durch ihren symbolischen Charakter. Technik Medien sind immer technische Medien. ›Form‹ und ›Inhalt‹ Medien erlegen dem Kommunizierten eine Form auf.
33 | Ebd. 34 | Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. 1996, S. 23. 35 | Ebd.
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6. 7.
Medien überwinden Raum und Zeit Die Überwindung geographischer Distanzen (Telekommunikation) ist für Medien ebenso typisch wie die Überwindung der Zeit, also der Aspekt von Speicherung und Traditionsbildung. Zeichen und Code Medien sind Zeichenmaschinen und arbeiten mit Codes. Medien sind unsichtbar Je selbstverständlicher wir Medien benutzen, desto mehr haben sie die Tendenz zu verschwinden. Mediennutzung ist weitgehend unbewusst.36
Ohne an dieser Stelle auf die Diskussionen einzugehen, die in der Folge von Winklers Mediendefinition entstanden, sei hier nur angemerkt, dass die Stärke seiner Definition ohne Frage in der Eingrenzung liegt. Damit wird freilich die philosophische Dimension des Medialen – bzw. und um an Winklers zweite These anzuschließen: die anthropologische Dimension des Symbolischen, die im Medialen zumindest latent immer virulent ist – weitestgehend ausgeblendet. Der Germanist und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat genau hier angesetzt, indem er die drei »tiefenstrukturalen Leitmedien« identifiziert, die hinter der »schönen und neuzeitlich rasant zunehmenden Vielfalt der phänomenalen Medienwelt« situiert sind: das Abendmahl, das Geld und die neuen elektronischen Medien.37 Gemeinsam ist diesen – auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlichen – Phänomenen, dass sie ontosemiologische Leistungen erbringen. Ontosemiologisch meint nun nach der Auffassung von Hörisch nichts anderes, als daß sie systematisch die Logik des Seins (Ontologie) und die des Sinns beziehungsweise der Zeichen (Semiologie) aufeinander beziehen. Abendmahl, Geld und elektronische Medien ermöglichen Zugänge zu der knappen Ressource Sinn.38
So bringe beispielsweise das Medium Geld, wie auch die anderen ontosemiologischen Leitmedien, ein »soziokulturelles Teppichmuster hervor, 36 | Hartmut Winkler: Basiswissen Medien. Frankfurt a.M. 2008, S. 11. Eine erste Version seiner Basisdefinition, die allerdings nur sechs Basisthesen umfasst, hat Winkler bereits 2004 vorgelegt: Hartmut Winkler: Mediendefinition. In: MEDIENwissenschaft 1 (2004), S. 9-27. 37 | Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt a.M. 2004, S. 218. Hörisch hat seine These allerdings noch in weiteren Publikationen detaillierter ausgearbeitet: Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M. 1992; ders.: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a.M. 1996; ders.: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien. Frankfurt a.M. 1999, ders.: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt a.M. 2004. 38 | Hörisch, Eine Geschichte der Medien (Anm. 37), S. 219.
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das alle Einzelereignisse mit einem orientierenden Fundament versieht.«39 Dies gelingt unter anderem deshalb so gut, weil das Geld von geradezu »skandalöse[r] semantische[r] Armut« ist,40 sodass es alle gesellschaftlichen Bezüge durchdringen und noch in den entferntesten Winkeln der Sozialstruktur Zusammenhänge auf rein funktionaler Ebene stiften kann. Die Informationen, die Geld weiterreicht, sind gegen Interpretationsabgründe weitestgehend gefeit.41
V. In den skizzierten Ansätzen wird Medialität letztlich relativ abstrakt konzipiert. Das Interesse liegt hier auf dem Zusammenspiel von Form und Inhalt, der wechselseitigen Beeinflussung von Medium und Botschaft oder dem Zusammenspiel von Sein und (Zeichen-)Sinn. Freilich kann man den Blickwinkel auch verschieben – etwa, indem man die Geschichte eines einzelnen Mediums verfolgt, und hier kann ja vieles in den Blick geraten, neben manchem Klassischen (die Schrift, der Brief, die TV-Serie usw.) auch manches Überraschende wie z.B. die Reliquie, deren medialer Gehalt erst sichtbar wird, wenn man sie zum Gegenstand einer solchen Untersuchung macht. Man kann darüber hinaus aber auch die Frage stellen, welche konkrete Rolle Medien in sozialhistorischen Prozessen spielen, welche Funktion ihnen bei der Konstitution und Evolution von Kultur und Zivilisation zukommt. Eine solche Fragestellung resultiert aus einem Paradigmenwechsel, der als Technological turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften beschrieben werden kann. Kennzeichnend für diesen Turn ist die Verabschiedung eines eher subjektzentrierten Geschichtsmodells und die Hinwendung zu der Frage, wie neue Technologien – und hier insbesondere Medientechnologien der Kommunikation und des Transports – die jeweilige Kultur einer Gesellschaft historisch prägen.42 Insbesondere die Arbeiten des kanadischen Medientheoretikers 39 | Ders.: Kopf oder Zahl (Anm. 37), S. 27. 40 | Ebd., S. 66. 41 | Vgl. ebd., S. 63. 42 | Das Bewusstsein für die gesellschaftsprägende Kraft neuer Medientechnologien war sicher in allen Epochen der Menschheit latent vorhanden. Platons Schriftkritik ist hier nur ein prominentes Beispiel. Interessant ist allerdings, dass mit Blick auf das elektronische Zeitalter Walther Rathenau schon sehr früh, nämlich im Februar 1900, die fundamentalen Veränderungen antizipierte, die die Elektrotechnik für die Gesellschaft mit sich bringen wird: »Große Aufgaben harren der Zukunft: solange nicht unsere Ströme und Wasserläufe ihre Kräfte hergeben, um Licht und Wärme in die Hütten zu senden, um das Land zu bebauen, um zu pflügen und zu dreschen – solange die Kräfteübertragung nicht so weit gefördert ist, daß der Handwerker den Elektromotor als ein vertrautes Werkzeug betrachtet wie Hobel und Feile – solange die elektrische Traktion die Entfernung von Tilsit nach Konstanz nicht in einer halben Tagesreise durchmißt –:
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Harold Adams Innis müssen hier genannt werden. Während Innis’ Schüler McLuhan in seinem Werk primär nach den Auswirkungen fragt, die Kommunikationstechnologien auf die Wahrnehmung und das Denken haben, fragt Innis nach den Auswirkungen dieser Technologien auf soziale Organisation, Zivilisation und Kultur. Ihm geht es, pointiert formuliert, um den Zusammenhang von Medien und Institutionen, da sein Ansatz erstmalig in umfassender Weise die Interdependenz von politischer Organisation, Transportlogistik und Wissenstechnologien von Gesellschaften in den Blick nimmt. Hatte Innis zunächst die konkreten Handelswege der Waren (Trade-routes of the external world) am Beispiel des Eisenbahnnetzes, des Pelzhandels und der Kabeljaufischerei in Kanada und Nordamerika in den 1930er und 40er Jahren untersucht, so wurden diese Arbeiten in den 50er Jahren im Sinne einer technologisch fundierten Kulturgeschichte bzw. einer Mediengeschichte der Zivilisation ergänzt durch Analysen der Trade-routes of the mind.43 Innis’ ebenso schlichte wie einleuchtende These lautet, dass Territorien nur solange beherrschbar und kultivierbar sind, wie man ihnen eine funktionierende mediale Infrastruktur gibt.44 In dieser Perspektive ist jeder Versuch, geografische Räume kulturell, politisch oder national zu kodieren – was ja nichts anderes meint, als hegemoniale Deutungsmuster zu etablieren und Demarkationslinien zu errichten, die eine Unterscheidung von innen und außen erlauben, – durch den spezifischen Charakter eben der Medientechnologien geprägt, die diese Kodierungsbemühungen ermöglichen. Es geht somit um die Rolle, die Medien als materielle Träger von Kommunikation bei der Distribution des Wissens in Zeit und Raum spielen – eine Distribution, die diesen Raum im eigentlichen Sinne des Wortes erst hervorbringt. Die Zivilisation in ihren verschiedenen Stadien, so Innis’ Annahme, ist von jeweils unterschiedlichen Kommunikationsmedien – Medien des Wissens – beherrscht worden, wie z.B. Ton, Papyrus, Pergament, und dem zunächst aus Stofflappen und später aus Holz erzeugten Papier. Jedes dieser Medien ist für die jeweilige Schriftart von großer solange ist nur ein kleiner Teil der Pflichten erfüllt, die in den nächsten Jahrzehnten der Elektrotechnik obliegen. Denn sie ist berufen, unserer Epoche das Siegel aufzudrücken als dem Zeitalter der Energie«. Walther Rathenau: Elektrische Alchymie (Elektrochemie und verwandte Gebiete). In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Berlin 1928, S. 285-403, hier: S. 403. 43 | McLuhan hat diese Verschiebung der Forschungsperspektive ein Jahr nach Innis’ Tod präzise auf den Punkt gebracht: »If one were asked to state briefly the basic change that occurred in the thought of Innis in his last decade, it could be said that he shifted his attention from the trade routes of the external world to the trade routes of the mind.« Zitiert nach: Tara Brabazon: Trade routes of the mind. http://www.timeshighereducation.co.uk/story.asp?storycode=414097 (28.02.2011) 44 | Vgl. dazu insbes. das zentrale Werk von Harold A. Innis: Empire and Communications [1950]. Lanham 2007.
M EDIEN DES W ISSENS Bedeutung, und daher auch für die jeweilige Form des Bildungsmonopols, das immer wieder entsteht und die Voraussetzungen für kreatives Denken zerstört, um dann von einem neuen Medium abgelöst zu werden, das wiederum seine eigene Art von Bildungsmonopol nach sich zieht.45
Medien des Wissens sind somit einer ständigen Dynamik unterworfen, die nicht nur aus der internen Dynamik im Bereich des Medialen bzw. im Bereich des Wissens resultiert, sondern auch und vor allem aus dem unauflösbaren Verhältnis dieser beiden Bereiche zueinander.
45 | Harold A. Innis: Die Presse, ein vernachlässigter Faktor in der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts (1952). In: Karlheinz Barck (Hg.): Harald A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Wien 1997, S. 234.
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Medialität und Interdiskursivität Rolf Parr
1. M EDIEN , (E INZEL-)M EDIUM , M EDIALITÄT Beschäftigt man sich mit Medialität, dann ist die heikelste Frage die nach einer Definition von Medium bzw. Medien, denn die inzwischen stark ausdifferenzierte medientheoretische Forschung ist sich, wenn überhaupt in irgendeinem Punkt, dann darin einig, dass ihre Überlegungen bisher noch nicht zu einem einheitlichen Verständnis des Begriffs ›Medien‹ geführt haben. So stellen die in Umlauf befindlichen Definitionen jeweils ganz unterschiedliche Aspekte des Medialen in den Vordergrund: mal die technische Basis von Medien (von Pyramide über Buchdruck zu Telegrafenmast und Internet), mal ihre Funktion (Zeichenvorräte oder Kanäle für Kommunikation bereitstellen, Informationen speichern und damit über Zeit und Raum hinweg verfügbar machen, Interaktion in sozialen Teilsystemen ermöglichen), mal sind es aber auch gesellschaftliche Bezüge (wie etwa die Konstruktion kultureller Gegenstände oder die Manipulation der Mediennutzer), die favorisiert werden.1 Da die Medienwissenschaften aus so verschiedenen Bezugsfächern wie den Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften, der Semiotik, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Informationstheorie oder Kybernetik stammen, ist das auch nicht allzu verwunderlich. Eine Wesensbestimmung des Medialen schlechthin, also von ›Medium‹ allgemein, ist dabei so wenig in Sicht, dass sich niemand ernsthaft an einer singulären Medientheorie mit vielleicht sogar historisch übergreifendem Geltungsanspruch abarbeitet. Deren Stelle nehmen bisher noch additiv verfahrende Überblicke ein, wie die von Werner Faulstich,2 Daniela Kloock und Angela Spahr3 oder Die-
1 | Vgl. Daniela Kloock/Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. 2., korr. u. erw. Aufl. München 2000, S. 8. 2 | Werner Faulstich: Medientheorien. Einführung und Überblick. Göttingen 1991. Ders. (Hg.): Grundwissen Medien. München 1998, S. 21-28 (Kap. »Medientheorie«). 3 | Ebd.
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ter Mersch,4 bzw. reine Textsammlungen zur Medientheorie.5 Nützlich scheint mir allerdings der Vorschlag von Jochen Schulte-Sasse zu sein, zunächst einmal eine ›starke‹ und eine ›schwache‹ Variante des Medienbegriffs voneinander zu unterscheiden: Die schwache sieht das Medium als einen Informations- oder Kommunikationsträger, der auf das Übertragene nicht zwangsläufig einwirkt. Das Medium bleibt hier Instrument. […] Die starke Bedeutungsvariante betrachtet das Medium als einen Träger von Informationen, der diese nicht mehr oder weniger neutral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt, sich ihnen medienspezifisch einschreibt und dadurch dem menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit Form verleiht. Den Medien wird hier eine nicht steuerbare, von ihrer Form stärker als ihrem Inhalt beeinflußte Wirkung zugeschrieben […]. 6
Aber selbst mit dieser Aufteilung in zwei Gruppen von Medienbegriffen steht die Medientheorie, soweit sie nicht nur hochsektorielle Einzelmedientheorie ist, heute vor einem ganz ähnlichen Dilemma wie die Literaturwissenschaft Ende der 1960er Jahre, als sie einen Ausweg aus den bis dato stets gescheiterten Versuchen einer ontologischen Wesensbestimmung von Literatur suchte und die von Roman Jakobson entwickelte Vorstellung einer Vielzahl von genuin literarischen Verfahren aufnahm, die je nach Dichte abgestufte Grade von Literarizität zu beschreiben erlauben. Parallel zu diesem Literarizitätskonzept (und seiner unter den Stichworten ›Theatralität‹ bzw. ›Performativität‹ dann in der Theaterwissenschaft der frühen 1990er Jahre ein zweites Mal erfolgreichen Adaption7) könnte ein möglicher Weg auch für die Medientheorie darin liegen, zumindest probeweise nicht nur nach spezifischen Eigenschaften von (Einzel-)Medien, sondern auch nach spezifischen Verfahren von Medialität überhaupt zu fragen. Sie wären zwar unterhalb der Ebene umfassend ausformulierter Theorien angesiedelt, müssten aber dennoch so breit und sinnfällig im Material sichtbar sein, dass ihnen eine auch empirisch verifizierbare Signifikanz zukäme. Mit der Erforschung solcher durchgehenden Eigenschaften und Verfahren könnten dann zugleich Querstrukturen zwischen den einzelnen Medien und ihren Einzelmedientheorien sichtbar gemacht werden. Gegenüber dem Status quo medientheoretischer Reflexion wäre 4 | Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006. 5 | Günter Helmes/Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart 2002. 6 | Jochen Schulte-Sasse: Art. »Medien/medial«. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart/Weimar 2002, S. 1-38, hier: S. 1. 7 | So erfolgreich, dass der Berliner Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« 2002 seine Jahrestagung unter das Thema »›performing media‹ – Medien im Vollzug« stellte. Der Eröffnungsvortrag der Philosophin Sybille Krämer lautete dann entsprechend »Was hat ›Performativität‹ mit ›Medialität‹ zu tun?«. Vgl. auch Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 323-346.
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damit bereits eine ganze Menge gewonnen, denn die vorliegenden Theorien nehmen bisher – wie es in den einschlägigen Lexikon- und Handbuchartikeln ziemlich einhellig heißt – »in aller Regel […] kaum aufeinander Bezug«.8 Als Parallelbegriff zu ›Literarizität‹ würde ›Medialität‹ dann die Menge der genuin medialen Eigenschaften und Verfahren meinen (siehe Schema 1). In diesem Sinne wird von Medialität beispielsweise von Knut Hickethier gesprochen, der den Begriff auf zwei Ebenen des Medialen bezieht: Erstens bezeichnet Medialität spezifische Eigenschaften, die »für alle Medien in gleicher Weise determinierend« sind, also »etwas Grundsätzliches, das die mediale Kommunikation insgesamt bestimmt«. Zu denken ist hier etwa an sämtliche Formen von Wiederholung, die technische Reproduzierbarkeit und damit Medialität voraussetzen.9 Zweitens »meint der Begriff das als typisch genommene Set von Eigenschaften, das für einzelne Medien als konstitutiv angesehen wird«,10 sodass nach einer spezifischen Medialität des Films (etwa der »technische[n] Wahrnehmungsanordnung des Kinos« und den filmischen »Produktions- und Distributionsformen«), des Radios (dem »Radiophonen«), des Fernsehens (dem »Audiovisuellen« bzw. noch spezifischer dem »Televisuellen«), der neuen »Netzmedien« usw. zu fragen wäre.11 Die medialen Eigenschaften auf beiden Ebenen werden dabei gleichermaßen durch die jeweils zugrunde liegende Technik hervorgebracht wie auch durch den kulturellen Gebrauch der Medien bestimmt.12 So weit könnte man die Begrifflichkeit für halbwegs aufgeräumt erachten,13 wenn in den Sprachwissenschaften und -didaktiken sowie der empirischen Bildungsforschung nicht seit der ersten PISA-Studie verstärkt von Literalität die Rede wäre, was nicht allein die spezifischen Eigenschaften geschriebener Sprache meint, sondern auch diejenigen Kompetenzen, über die Einzelindividuen verfügen müssen, um an schriftsprachlichen Kulturen sinnvoll teilhaben zu können.
8 | Faulstich, Medientheorien (Anm. 2), S. 23. 9 | Vgl. Rolf Parr: ›Wiederholen‹. Ein Strukturelement von Film, Fernsehen und neuen Medien im Fokus der Medientheorien. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 47 (Juni 2004), S. 33-39. 10 | Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart/Weimar 2003, S. 26. 11 | Ebd., S. 357-359. 12 | Vgl. ebd., S. 27 u. 29. 13 | Unberücksichtigt bleibt hier die Verwendung des Begriffs für Personen (›Medien‹) mit übernormalen Fähigkeiten, die als Instanzen der Vermittlung (des ›medialen Kontakts‹) zwischen Diesseitigem und Jenseitigem fungieren.
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Schema 1: Kleine Synopse relevanter Begriffe Bezeichnung des Gegenstandes Literatur
Bezeichnung für die spezifischen Verfahren bzw. Eigenschaften Literarizität
Literalität
(Roman Jakobsen; Begriff zielt auf die Summe spezifisch literarischer Verfahren)
(engl.: Reading-Literacy; Begriff zielt auf die nötigen Kompetenzen der Rezipienten zur Teilhabe an literalen Kulturen)
Literalität (vs. Oralität) (Walter Ong; Begriff zielt auf die Summe spezifischer Eigenschaften geschriebener Spache) Medien
Bezeichnung für die nötigen Rezeptionskompetenzen
Ø
Medialiät
[Medialität] oder Medienkompetenz
(Knut Hickethier; erstens spezifische Eigenschaften, die für alle Medien in gleicher Weise determinierend sind; zweitens das für einzelne Mediene als typisch angesehene Set von Eigenschaften)
(engl.: Media-Literacy oder Digital-Literacy; Begriff zielt auf die nötigen Kompetenzen der Rezipienten zur Teilhabe an medialen Kulturen)
Einzelmedium Theater
Theatralität, Performativität
./.
Einzelmedium Fernsehen
Audiovisualität, Televisualität
./.
Einzelmedium Film
Filmzitat, das Filmische
./.
Gegenüber eher medientheoretischen Beschreibungen der Unterschiede zwischen Literalität und Oralität bei Walter J. Ong und anderen Literalitätsforschern14 bedeutet das eine Verschiebung hin auf die Rezipienten und ihre Kompetenzen. Für die Sprach- und Literaturwissenschaften ist das halbwegs unproblematisch, da man Literarizität von Literalität ja trotz der doppelten Besetzung von Literalität als Verfahren und als Rezeptionskompetenz noch recht gut voneinander unterscheiden kann. Schwieriger sieht es jedoch für die Medienwissenschaften aus, denn da heißt es für das Ensemble der typischen Verfahren ja nicht etwa ›Mediarizität‹ oder ›Medializität‹, sondern nur Medialität, sodass man in Analogie zur Sprach- und Literaturwissenschaft denken könnte, Medialität sei für Medien das, was Literalität für die Rezeption von Schriftsprache sei, nämlich eine User-Kompetenz. Die Fähigkeiten der Rezipienten sind aber gerade nicht gemeint, wenn der Blick auf die ›Medienhaftigkeit‹ gelenkt werden soll und damit auf die Frage, wie durch verschiedene Medien verschiede14 | Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London 1982 [dt.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987]. – Vgl. als ›Klassiker‹ auch Jack Goody (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften. Frankfurt a.M. 1981.
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nes Wissen und verschiedene »Kulturen der Kommunikation«15 konstituiert werden. Nimmt man die englischen Begriffe hinzu, dann entspräche dem sprachwissenschaftlichen Literalitätsbegriff – englisch Literacy bzw. Reading-Literacy – derjenige der Media-Literacy bzw. eingeschränkter der Digital-Literacy oder im deutschsprachigen Raum der zwischen medienwissenschaftlicher und medienpädagogischer Akzentuierung changierende und daher enorm komplexe Begriff der Medienkompetenz, meist gebraucht im Sinne derjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, über die Individuen oder Gruppen verfügen müssen, um »Massen- und Individualmedien zu handhaben, sich in der Medienwelt zurechtzufinden, Medieninhalte aufzunehmen, zu verarbeiten und gestalterisch in den Medienproduktions- und -distributionsprozeß eingreifen zu können«.16 Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, dann kann man sagen, dass die »Beschäftigung mit Medien« nicht »von einer gesicherten Definition ihres Gegenstandes« ausgehen kann. Daraus hat das Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation an der Universität Köln die Konsequenz gezogen, die Frage nach dem Wesen des Medialen umzuformulieren in die sehr viel operativere Frage danach, wie Medialität funktioniert,17 wie sich »›Mediation‹ im Sinne von Vermittlung, Darstellung und Kommunikation«18 in, mittels und zwischen den verschiedenen Medien als Prozess konkretisiert. Das ist vielfach auch das Ziel der Beiträge dieses Bandes, nämlich die mediale Konstitution, Transformation und Tradierung von Wissen in und durch ganz unterschiedliche Medien in den Blick zu nehmen und zu zeigen, wie diese nicht nur auf technisch differente Weise operieren, sondern auch verschiedenes Wissen modellieren, es auf ganz unterschiedliche Weise kommunizieren, in Umlauf bringen und schließlich ebenso differente Wahrnehmungsgewohnheiten etablieren, die synchron der Medienkonkurrenz, diachron dem Medienwandel unterliegen. Die meisten Beiträge setzen dementsprechend einzelne Medien (wie Stimme, Körper, Reliquien, Pergament, Literatur, Buchdruck, Stummfilm oder neue Medien) mit mal historischen, mal aktuellen Themen (wie Nibelungen-Stoff, Dämonen und Vampire, Nation, Luxemburger Sprachraum, Frömmigkeit oder Shopping) und theoretischen Konzepten (wie Präsenz, Intermedialität, Medienkonkurrenz, Kybernetik, kollektives Gedächtnis oder symbolische Gewalt) in Verbindung. Die Fragestellung ist also vierteilig angelegt: Welche Medien konstituieren mit Bezug auf
15 | Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation«. Forschungsprogramm online unter http://www.fk-427.de/Profil/Projekte [31.03. 2011]. 16 | Klaus Neumann-Braun: Art. »Medienkompetenz«. In: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München 2005, S. 173-175, hier: S. 173. 17 | Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg (Anm. 15). 18 | Mersch, Medientheorien (Anm. 4), Klappentext.
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welche Themen welches Wissen und unter Rückgriff auf welche Theoreme lässt sich das analysieren? Demgegenüber soll das Problem der Medialität hier etwas anders angegangen werden und vom Ort der Interdiskurs-Theorie aus gefragt werden, ob es nicht auch solche materiell bestimmbaren und theoretisch beschreibbaren Phänomene von Medialität gibt, die quer dazu liegen, die sich also quer durch die Einzelmedien finden lassen, die zudem über ganz verschiedene Themen hinweg eine Rolle spielen und die möglicherweise auch noch für mehrere theoretische Zugriffe von Interesse sind bzw. mit diesen ein Stück weit kompatibel. Ein solches, weder einfach als ›Hard-‹ noch als ›Software‹ fassbares Phänomen scheint das der Interdiskursivität zu sein. Was Interdiskursivität mit Medialität zu tun hat und wie moderne Medien-Interdiskurse als ein Medium sui generis mit ganz eigener Medialität funktionieren, soll im Folgenden gezeigt werden.
2. ›I NTERDISKURSIVITÄT‹? Über so verschiedene theoretische Ansätze wie Niklas Luhmanns Systemtheorie, Reinhart Kosellecks historische Semantik, Michel Foucaults Diskurstheorie und eine ganze Reihe daran anschließender Kultur-, Literaturund Medientheorien hinweg hat sich als Konsens herausgebildet, dass moderne Gesellschaften etwa seit Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch funktionale Ausdifferenzierung gekennzeichnet sind, das heißt durch die Entwicklung spezieller Praxis- und Wissensbereiche, die wiederum relativ geschlossene Spezialdiskurse ausgebildet haben, nämlich spezielle Formen der Rede mit eigener Operationalität. Demnach besteht die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse (z.B. naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen, kultur- und geisteswissenschaftlichen), aber auch aus Interdiskursen, die diese ausdifferenzierten Spezialdiskurse wieder re-integrieren. Denn würde es bei Spezialisierung allein bleiben, wäre Verständigung über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg heutzutage kaum mehr möglich. Genau das müssen viele Medien wie Presse, Rundfunk und Fernsehen aber leisten. Die modernen Gesellschaften haben sich daher nicht nur in arbeitsteilige Spezialbereiche ausdifferenziert, sondern als kompensatorische Antwort auf das immer weitere Auseinanderdriften der Spezialwissensbereiche auch solche diskursiven Verfahren entwickelt, die zwischen den Spezialisierungen wieder neue Verbindungen herstellen, also gleichsam Brücken schlagen; daher die Bezeichnung ›Inter‹-Diskurse.19 Dazu gehören beispielsweise alle Formen von Analo19 | Die einschlägige Forschungsliteratur verzeichnet: Rolf Parr/Matthias Thiele: Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten »Interdiskurs«, »Kollektivsymbolik« und »Normalismus« sowie einigen weiteren Fluchtlinien. Zweite, stark erw. u. überarb. Aufl., Heidelberg 2010.
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gien, Metaphern, Symbolen, Mythen und narrativen Stereotypen, wie sie bereits im Alltag (als einem solchen nicht-speziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in Literatur und den verschiedenen (Massen-)Medien anzutreffen sind. Einige noch recht einfach strukturierte Beispiele für solche Analogien aus einer einzigen Ausgabe der Financial Times Deutschland, einer Tageszeitung also, von der man eher auf Eindeutigkeit abzielendes, denotiertes Wirtschaftsspezialwissen als Interdiskurs-Elemente erwarten würde, können schnell deutlich machen, wie das ›Ins-Spiel-Bringen‹ verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche allein schon in den Überschriften der Artikel funktioniert. Abb. 1: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 6)
Abb. 2: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 8)
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Abb. 3: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 9)
Abb. 4: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 16)
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Abb. 5: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 17)
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Abb. 6: Financial Times Deutschland (8. Februar 2007, S. 24)
Solche auf Symbolisierung beruhenden Interdiskurs-Elemente bilden in ihrer Gesamtheit den allgemeinen Artikulationsrahmen eines Diskurssystems. Interdiskurse insgesamt stellen von daher eine Art Reservoir von Anschauungsformen für die notwendige Kodierung spezialdiskursiver Sachverhalte bereit, vor allem auch für diejenige aktueller Ereignisse (in den Beispielen u.a. für eine Wirtschaftskooperation, einen politischen Verhandlungserfolg über die Restlaufzeiten der Kohleförderung, für den Klimakonsens zwischen Europa und Amerika, das Anlageverhalten von Firmen und die Finanzierung von Aktien-Rückkäufen durch die Deutsche Börse AG). Rechnet man das, was hier nur einer Tageszeitungsausgabe entnommen ist, einmal hoch auf Rundfunk- und Fernsehsendungen, aber auch auf Kino, Werbung, Internet und Literatur, dann hat man es täglich mit einigen Dutzend, wenn nicht sogar einigen Hundert Symbolen in der Funktion von Interdiskurs-Elementen zu tun. Zu solchen nicht-speziellen, Kopplungen schaffenden Wissensbereichen gehören neben der Literatur als verbreitetem Interdiskurs auch philosophische, religiöse und weltanschauliche Interdiskurse und – als heute vielleicht wichtigster – der
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moderne Medien-Interdiskurs. Die Gesamtheit der diese Interdiskurse konstituierenden Verfahren ließe sich daher als die integrierende Kultur moderner Gesellschaften verstehen (das heißt so nebenbei liefert die Interdiskurs-Theorie auch noch eine originelle Definition von Kultur). Der Medien-Interdiskurs, verstanden als das gesamte Ensemble der medial produzierten und distribuierten ›Brückenschläge‹ zwischen Spezialwissensbereichen, ermöglicht es den Individuen, in hochgradig arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaften zu leben und zurecht zu kommen, ohne dabei ständig in verschiedenste Spezialisierungen und Professionalisierungen auseinandergerissen zu werden, das heißt Interdiskursivität »verwandelt die praktisch geteilte Arbeit imaginär in Lebenstotalität«, in Ganzheit.20 Dabei kann es natürlich nicht um vollständige Integration aller gesellschaftlichen Teilbereiche und aller menschlichen Fähigkeiten gehen, wie sie beispielsweise Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen21 entworfen hat und wie sie die Pädagogen des 19. Jahrhunderts dann für Schule (Stichwort ›Allgemeinbildung‹) und Universität (Stichwort ›Studium generale‹) vielfältig weitergesponnen haben, sondern nur um einzelne, in der Regel fragmentarisch bleibende ›Brückenschläge‹. Sie sind vor allem im Alltagswissen, in der Literatur, aber eben auch in den modernen Medien-Interdiskursen zu finden.22 Die Interdiskurs-Analyse versteht die modernen Medien-Interdiskurse daher als Orte, an denen sich solche verbindenden, der Re-Integration des in den Spezialdiskursen arbeitsteilig organisierten Wissens dienenden Elemente und Verfahren häufen.23 Sie bilden ein auf einer speziellen Form von Medialität beruhendes soziales Band der Integration. An einem weiteren Beispiel kann man sich das besonders gut klar machen. Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende November 2006 beim Parteitag der CDU in Dresden eine Bilanz ihrer Politik vorlegen musste, da stand sie vor der Situation, ganz verschiedene Sachverhalte von Sozialpolitik über Globalisierung, Gesundheitsreform, Arbeitslosigkeit und Auslandseinsätze der Bundeswehr bis hin zu mangelndem 20 | Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse (mit einem Beitrag v. Jochen Hörisch u. Hans-Georg Pott). München 1983, S. 27. 21 | Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen. Mit e. Nachw. v. Käte Hamburger. Stuttgart 1977, bes. 19. bis 22. Brief, S. 75-92. 22 | Ich folge hier Jürgen Link: Zur Frage, was eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturdidaktik »bringen« könnte. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 45/46 (Mai 2003), S. 71-78. 23 | Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 284307. Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), H. 77, S. 88-99.
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Wirtschaftswachstum bündeln und zu ihrer Politik in Beziehung setzen zu müssen. Dazu hätte sie einen Bereich nach dem anderen mit Expertenwissen und in -sprache extensiv abhandeln können, was in sechs bis acht Stunden eventuell zu schaffen gewesen wäre. Das hätte aber erstens viel zu lange gedauert, zweitens hätten es nicht alle Zuhörer im Saal verstanden und drittens hätten die vielen Medienberichterstatter von Zeitungen, Rundfunksendern und nicht zuletzt Fernsehanstalten kein prägnantes und zitierfähiges Ergebnis in der Tasche gehabt, auf das sie in einer halben Spalte einer Zeitung, einer Sendeminute des Radios als O-Ton und einer halben Sendeminute des Fernsehens als O-Ton und -Bild hätten zurückgreifen können. Gerade das Fernsehen zielt aber »in besonders ausgeprägter Weise auf Reduktion von Komplexität und auf Anschlussfähigkeit an die elementare Soziokultur und die Alltagssprache«.24 Für eine Parteivorsitzende wie Angela Merkel wäre daher die Nicht-Anschlussfähigkeit der politische ›Super-Gau‹ gewesen, nämlich über besonders wichtige Dinge zu reden, aber in der Öffentlichkeit damit überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. In dieser Situation griff sie bzw. ihr Ghostwriter-Stab mit intuitiver Sicherheit auf das genuin interdiskursive Verfahren der Symbolisierung zurück, genauer gesagt auf ein kollektiv verbreitetes Symbol, das prinzipiell von jedermann/-frau verstanden und auch selbst produziert werden kann, nämlich das des Fußballs, und sagte gegen Ende ihrer Rede: Nach der Weltmeisterschaft im eigenen Land, nach diesem einzigartigen Erlebnis der Gemeinschaft, des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls, der Freude und der Weltoffenheit sage ich es einfach in der Sprache des Fußballs: Ein Jahr nach der Bundestagswahl befinden wir uns in der 23. Minute eines Fußballspiels. Ja, wir haben schon einige tolle Tore geschossen. Ja, wir hatten einige gute Chancen, aber gewonnen ist noch gar nichts. Weitere 67 Minuten Spielzeit liegen vor uns. Es gibt viele weitere Möglichkeiten, Chancen für Deutschland herauszuholen und sie zu nutzen. Wir müssen uns weiter anstrengen, nicht nur die ersten 23 Minuten zu gewinnen, sondern das ganze Spiel. Als Teamchefin habe ich dabei die Aufgabe, dass wir möglichst viele Chancen für Deutschland und für die Menschen in diesem Land nutzen. 25
24 | Matthias Thiele: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen. Konstanz 2005, S. 20. 25 | Rede der Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel MdB. Auszug aus dem Stenografischen Protokoll. Dresden, 27. November 2006. 20. Parteitag der CDU Deutschlands, online unter http://www.dresden2006.cdu.de/download/061127_parteitag_rede_merkel.pdf [31.03.2011]. – Zur Fußball-Symbolik im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2006 vgl. Rolf Parr: Anpfiff für spannende 90 Minuten Unterricht. Die Kollektivsymbolik des Fußballs. In: Praxis Deutsch 196 (März 2006), S. 45-51.
M EDIALITÄT UND I NTERDISKURSIVITÄT
Genau das war dann auch die Passage der insgesamt 27 Druckseiten umfassenden Rede, die in den Medien wieder aufgenommen und kommentiert wurde, sodass das Ziel medialer Wahrnehmung erreicht war.
Kollektivsymbole und ihre Systeme Kollektivsymbole wie das bei der Parteitagsrede verwendete des Fußballs stellen diskurstheoretisch betrachtet Kopplungen von Spezialdiskursen und -wissensbereichen dar, hier konkret von ›Sport‹ und ›Politik‹. Zeichentheoretisch betrachtet sind es komplexe, ikonisch motivierte und paradigmatisch expandierte Zeichen, die eine Bildseite (Pictura) und eine Seite des eigentlich Gemeinten (Subscriptio, ›Sinn‹) vereinen.26 Von daher lassen sie sich am einfachsten mit Hilfe eines Zwei-Kolonnen-Schemas analysieren, in das man fortlaufend zunächst einmal alle im Text realisierten Bild- und Sinn-Elemente einträgt und dann die fehlenden ›SinnElemente‹ ergänzt (hier durch eckige Klammern markiert). Das sieht für das Beispiel umgesetzt so aus: Schema 2: Zwei-Kolonnen-Schema Pictura
Subscriptio
P1:
wir befinden uns in der 23. Minute eines Fußballspiels
S1:
ein Jahr nach der Bundestagswahl
P2:
wir haben schon tolle Tore geschossen
S2a:
[wir haben einige unserer politischen Vorhaben durchgesetzt] [wir haben Deutschland weiter gebracht] [wir haben der Opposition Abstimmungsniederlagen beigebracht]
S2b: S2c:
P 3:
wir hatten einige gute Chancen
S3:
[politische Möglichkeiten]
26 | Die Terminologie wird entwickelt bei Jürgen Link: Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literarischer und pragmatischer Symbole. München 1978. – Ein Verortung der Kollektivsymbolanalyse im Feld der Bildlichkeitsforschung und zugleich einen historischen Überblick bieten Axel Drews/Ute Gerhard/ Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie (Teil I). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 1. Sonderh. Forschungsreferate (1985), S. 256-375. Frank Bekker/Ute Gerhard/Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 22 (1997), H. 1, S. 70-154.
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R OLF P ARR P4:
gewonnen ist noch gar nichts
S4:
[es ist noch nicht sicher, dass wir das nächste Mal wiedergewählt werden]
P5:
67 Minuten Spielzeit liegen S5: noch vor uns
[noch drei Jahre bis zur nächsten Wahl]
P6: viele weitere Möglichkeiten, S6: Chancen für Deutschland herauszuholen
[weitere politische Vorhaben verwirklichen]
P7:
nicht nur die ersten 23 Minuten gewinnen, sondern das ganze Spiel
S7:
[weiter machen Leute!]
P8:
Teamchefin
S8a:
[Parteivorsitzende Merkel]
S8b:
[Bundeskanzlerin Merkel]
S9:
[Politik wirklich umsetzen]
Chancen für Deutschland nutzen
P9:
Bereits an diesem noch sehr einfach strukturierten Beispiel lassen sich einige Definitionsmerkmale von Kollektivsymbolen festmachen: –
–
–
–
–
Erstens sind sie offensichtlich zweigliedrig aufgebaut. Sie besitzen eine Bildseite (Pictura) und eine des ›eigentlich Gemeinten‹, des Sinns (Subscriptio). Zweitens besteht die Bildseite aus mehreren zusammengehörigen Teil-Bildern, die sogar komplexere Text-/Bild-Korrelate fortlaufend strukturieren können. ›Horizontal‹ gesehen ist also ein Pictura- jeweils einem Subscriptio-Element zugeordnet, während die beiden Reihen ›vertikal‹ zu einer zumindest rudimentären Isotopie expandiert sein müssen. Das unterscheidet Kollektivsymbole von klassischen Ein- bzw. Zweiwort-Metaphern. Drittens lässt sich die Beziehung zwischen Pictura und Subscriptio näher bestimmen. Sie ist nicht völlig willkürlich, sondern semantisch motiviert. Eine Niederlage hätte man nicht so gut nutzen können. Viertens erfüllen Kollektivsymbole das Kriterium der Ikonizität, das heißt die Pictura-Elemente können bildlich dargestellt werden. Eine einfache Probe darauf, ob man es mit einem Kollektivsymbol zu tun hat, ist daher die Frage, ob sich ein entsprechender Text in eine Karikatur überführen lässt. Fünftes Merkmal ist die Tendenz zur Polysemie, zur Mehrdeutigkeit, das heißt unter einem Bild können durchaus verschiedene sinnvolle ›Bedeutungen‹ gebildet werden. So lassen sich im Beispieltext für das Pictura-Element P2 (»wir haben schon tolle Tore geschossen«) die Subscriptio-Elemente S2a bis S2c gleichermaßen sinnvoll bilden (ebenso sieht es bei S8a und S8b aus). Es ist diese
M EDIALITÄT UND I NTERDISKURSIVITÄT
Mehrdeutigkeit von Symbolen, die oftmals auch diejenige ganzer Texte und erst recht komplexerer Text-/Bild-Korrelate ausmacht, was emphatisch (und ebenfalls symbolisch) dann meist ›Tiefe‹ genannt wird. Der Medien-Interdiskurs produziert nun solche Kollektivsymbole nicht ständig neu, sondern es lassen sich einige Dutzend relativ stabile, immer wiederkehrende Symboliken empirisch identifizieren, z.B. ›Organismus‹, ›Körper‹, ›Schiff‹, ›Auto‹, ›Deich/Flut‹, ›Sport‹ usw., Symbole, die zwar mit verschiedenen Spezialdiskursen verbunden sein können (so z.B. ›Organismus‹ und ›Körper‹ mit der medizinischen Wissenschaft), die aber jenseits solcher Spezialität in ganz verschiedenen Diskursen vorkommen und zugleich durch ganz unterschiedliche soziale Träger verwendet werden können. So wird der politische Berichterstatter vielleicht vom ›Abstieg Deutschlands in die zweite Liga‹ sprechen und schon nach einem neuen ›politischen Nationaltrainer‹ Ausschau halten, der Wirtschaftsjournalist vom ›immer noch stotternden‹ oder gerade ›rund laufenden Konjunkturmotor‹, der Kulturphilosoph vom ›kranken Patienten Deutschland‹ sprechen und die Bundeskanzlerin sich eben die gute Fußballstimmung des Sommers 2006 zu Nutze machen. In ihrer Gesamtheit bilden solche Kollektivsymbole ein sich historisch zwar modifizierendes, synchron jedoch relativ stabiles und in sich kohärentes System. Dieser Systemcharakter resultiert daraus, dass Kollektivsymbole sowohl auf Seiten der Pictura als auch der Subscriptio zu paradigmatischen Äquivalenzklassen tendieren, das heißt sich wechselseitig ersetzen können. Zum einen können Pictura-Elemente (Bildlichkeiten) aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bei gleich bleibendem ›Sinn‹ untereinander ausgetauscht werden. So lässt sich ein Gesellschaftssystem mal als Fahrzeug (z.B. Auto, Boot, Flugzeug, Zug oder Fahrrad) symbolisieren, dann aber auch als Organismus (mit Kopf, Herz, den verschiedenen Gliedmaßen, dem Blutkreislauf usw.). Daraus ergeben sich Ketten von verschiedenen Bildern bei gleich bleibendem ›Sinn‹, etwa: ›Politik‹ ist wie ›Fußball‹, ist wie die ›Regiearbeit an einer Oper‹, ist wie der ›Kopf‹ des Volks-›körpers‹. Nimmt man etwa die Situation einer Vorlesung zum Thema Medialität, dann könnte man genauso gut sagen ›wir sitzen alle zusammen im Boot der Medialitätsfrage‹, wie auch ›wir stricken alle zusammen am Pullover der Medialität‹ oder ›wir bauen alle zusammen am Haus der Medialität‹. Zum anderen können nun aber auch verschiedene Sachverhalte unter einem Bild subsumiert werden. ›Flut‹Symbole stehen z.B. gleichzeitig sowohl für Wassermassen, Flüchtlinge und Fußballfans wie auch Autokolonnen bei Beginn der Sommerferien; ›Fundamentalisten‹ können grün, islamisch, serbisch oder orthodox sein. Aus diesen beiden Strukturachsen resultiert insgesamt der Charakter der Kollektivsymbolik als ein komplexes, synchrones System, das zwar aus vielen einzelnen, etwa 100 bis 150 relevanten Symbolen besteht, die aber untereinander in Beziehung gesetzt sind und immer wieder herangezo-
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gen werden, um Ereignisse jeglicher Art in der öffentlich-medialen Darstellung zu kodieren. Sehr viel öfter als das Sprechen und Schreiben in einer einzigen kohärent durchgehaltenen Symbolik ist in Presse, Rundfunk und Fernsehen jedoch der fortlaufende Bildbruch (Katachresenmäander) anzutreffen, der den eigentlichen Normalfall des integrierenden ›Ins-Spiel-Bringens‹ verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche darstellt. Hier ein besonders instruktives Beispiel aus dem Wirtschaftsteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Wenn die Preise ins Kraut schießen, müssen sie einen Dämpfer erhalten. Und wenn dem Konjunkturmotor Überhitzung droht, muss frisches Kühlwasser her. Zur Abwehr der Inflationsgefahren sind die Hüter der Preisstabilität aufgerufen, ihre Instrumente einzusetzen. Gestern hat die Europäische Zentralbank (EZB) gehandelt. Und die Leitzinsen für den Euro erhöht. Doch an der Preisfront lodern gar keine Feuer. Es gab nichts zu löschen. Und so bestand auch kein Anlass, wegen gestiegener Preise die geldpolitischen Zügel zu straffen. Es ist wohl eher der Sturzflug des Euro, der die EBZ an der Zinsschraube drehen ließ. Sozusagen in der Rolle als Währungshüter. […] Auch nach der Erhöhung der Leitzinsen ist kein Ende der Talfahrt abzusehen. […] Der schwache Eurokurs wird von einigen Politikern und Wirtschaftsfachleuten sogar insgeheim begrüßt. Denn ohne Zweifel wirkt jeder Euro-Cent, den die europäische Währung gegenüber dem Dollar und dem englischen Pfund verliert, wie eine Konjunkturspritze zugunsten der europäischen Exportwirtschaft. 27
Ähnliches bietet jeden Tag die Kürzestsendung Börse im Ersten in der ARD vor der Tagesschau. Dieses Fernsehformat versucht, einen Wust von tagesstatistischen Entwicklungen, FirmenNachrichten, weltpolitischen Vorkommnissen und Börsenergebnissen in eineinhalb bis höchstens dreieinhalb Minuten anschaulich auf den Punkt zu bringen und greift dabei mit traumwandlerischer Sicherheit auf solche Mäander von ineinandergeschachtelten Kollektivsymbolen zurück, die Spezialwissen anschaulich machen und zugleich nahezu das gesamte Spektrum der Spezial- und Interdiskurse der bundesdeutschen Kultur ins Spiel bringen. Hier ein exemplarischer Textausschnitt aus der Sendung vom 11. Juli 2005, in der mehr als 30 Kollektivsymbole und Metaphern (kursiv gekennzeichnet) auf allerengstem Raum miteinander verschnitten wurden:28 Guten Abend! Zeichnungsgewinne?, werden sie vielleicht sagen – nie gehört. Stimmt nicht! Vor fünf Jahren war das noch das Einzige, worauf die Anleger scharf waren. Jetzt 27 | Lothar Noll: Zins hilft nicht. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 28.04.2000, S. 2 (Hervorh. d. Verf.). 28 | Vgl. dazu Rolf Parr: Börse im Ersten: Kollektivsymbole im Schnittpunkt multimodaler und multikodaler Zeichenkomplexe. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), H. 1 (»Medialitiät und Sprache«), S. 54-70.
M EDIALITÄT UND I NTERDISKURSIVITÄT sind wieder viele freudig erregt. Teflon-Börse nennt man sie, weil viele schlechte Nachrichten an ihr einfach abtropfen. Spaß muss sein. Der Dax auf Jahreshoch, plus 65, so stark war das Aktienbarometer seit drei Jahren nicht mehr. Vorne ein Sensibelchen, Infinion, Speicherchips werden teurer, schön für die Münchener. Auch Autos fahren vor. VW profitiert von der Hoffnung, dass in dem Laden jetzt uffgeräumt wird. Jubel um Mobilcom und Freenet, beide wollen gemeinsam wachsen, na denn. Die Anschläge von London – sofort wieder verdaut. Die wirtschaftlichen Schäden gering, allein das ist, was zählt. Und noch gibt’s Schwung auf der Orgel, wegen der Bundestagswahl.
Den modernen Medien-Interdiskursen, wie sie uns das Fernsehbeispiel in kondensierter Form vorgeführt hat, kommt aus interdiskurs-theoretischer Sicht ein quasi paradoxer Status zu: Einerseits sind sie als Spezialdiskurse zu beschreiben, da sie eigenen Formationsregeln unterliegen (z.B. dem tendenziellen Gesetz der ästhetischen Innovation im Falle der Literatur und dem der Aktualität im Falle von Fernsehen und Presse). Andererseits greifen sie, da sie kein eigenes genuines Thema haben, in besonders hohem Maße auf diskursübergreifende Elemente zurück und bringen im Extremfall das gesamte Spektrum der Spezial- und Interdiskurse einer Kultur ins Spiel. Eine interdiskurs-theoretisch orientierte Medienanalyse stellt daher nicht nur einen ausgesprochen operationalen Zugriff bereit, sondern ist zudem in der Lage, die verschiedenen Dimensionen des Medialen, im Falle des Fernsehens etwa Bild, Ton, Text, Programm, Serialität usw. einzubeziehen. Insgesamt wäre der moderne Medien-Interdiskurs dann als ein Spezialdiskurs zu beschreiben, dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, nicht-spezialistische, interdiskursive Elemente und als deren kohärente Vernetzung ganze Interdiskurse zu produzieren. ›Kultur‹ wäre analog dazu als das durch Interdiskurse immer wieder neu integrierte Ensemble ausdifferenzierter moderner Wissensbereiche zu verstehen und ›elementare Kultur‹ als das Integralwissen des Alltags. Zusammenfassend kann man sagen: Interdiskurse generell und insbesondere der moderne Medien-Interdiskurs mit seinem System der Kollektivsymbole »sind die Lösungsfunktion für das Grundproblem hochdifferenzierter Gesellschaften: Sie decken den zunehmenden Bedarf an Kopplungen zwischen« den – in der systemtheoretischen Terminologie Niklas Luhmanns gesprochen – »einzelnen Teilsystemen sowie zwischen den funktionsspezifischen Kodes und den ›interpenetrierenden‹ […] psychischen Systemen«.29 Die Interdiskurs-Theorie selbst stellt ein theoretisches Modell für die Beschreibung des Prozesses der kulturellen Zusammenführung von Wissensbeständen über ein Ensemble von im weitesten Sinne analogiebildenden Verfahren bereit. Damit gibt sie zugleich eine Antwort auf die Frage nach dem Funktionszusammenhang von Alltag, Mediendiskursen, Spezialdiskursen und Kultur einer Gesellschaft. 29 | Benno Wagner: Im Dickicht der politischen Kultur. Parlamentarismus, Alternativen und Mediensymbolik vom »Deutschen Herbst« bis zur »Wende«. München 1992 [= Materialität der Zeichen A 8], S. 341.
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3. M EDIUM I NTERDISKURS ? Da Kollektivsymbole und Interdiskurse insgesamt eine vermittelnde Funktion erfüllen, Themen und soziale Gegenstände sowie das Wissen über sie mit konstituieren, stellen sie der Fragestellung des Bandes entsprechend ein Medium sui generis mit eigener Spezifik, sprich eigener Medialität dar, die quer durch die Einzelmedien anzutreffen ist. Macht man sich beispielsweise noch einmal klar, dass für die sogenannten Massenmedien Zeitung, Radio und Fernsehen gleichermaßen das strikte Gebot der Platz- bzw. Zeitökonomie gilt (man hat nur eine halbe Spalte an Text oder nur eine Sendeminute zur Verfügung), dann können alle diese Medien das Problem im Rückgriff auf solche Interdiskurs-Elemente wie Kollektivsymbole lösen. Und sie werden es tun, wie die Beispiele gezeigt haben. Die spezifische Medialität von Zeitung, Radio und Fernsehen geht also in diesem Punkt Hand in Hand mit der Vermittlungsleistung von Interdiskursivität. Wenn Medientheoretiker immer wieder festgestellt haben, dass Medien ihre Existenz einem Problem der Abwesenheit verdanken, und daher eine Distanz oder Differenz überbrücken müssen, dann leisten Interdiskurse dies in ganz spezifischer Weise und in besonderem Maße.30 Auch das, was anscheinend die spezifische Medialität eines Einzelmediums ausmacht, ist häufig interdiskursiv basiert. Nimmt man etwa als mediale Besonderheit des Fernsehens den Anschluss an die elementare Sozialkultur (symbolisch den ›kleinen Mann auf der Straße‹), dann zieht dies fast automatisch interdiskursive Formen der Äußerung und der Darstellung nach sich. Der häufigste von Moderatoren an sogenannte Experten gerichtete Satz ist wahrscheinlich: ›Können Sie das auch einfacher sagen?‹ Schließlich kommen überall da, wo man es mit hybriden Mischformen aus Text und Ton (z.B. Rundfunk) bzw. Text, Bild und Ton (z.B. Fernsehen) zu tun hat, häufig auch Kollektivsymbole ins Spiel, die auf diesen zwei bzw. drei Ebenen arbeitsteilig durchgespielt werden. So kann im Fernsehen beispielsweise die Subscriptio zu einer per Text eingebrachten Symbolik via Bild geliefert werden, wobei alle nur denkbaren Verteilungen von Pictura und Subscriptio auf Text, Bild und Ton denkbar sind.31 Damit wird ein spezifisches mediales Potential des Fernsehens in Verbindung mit der Medialität von Kollektivsymbolen als InterdiskursElementen deutlich, das über die eingeschränkteren Möglichkeiten allein schriftsprachlicher oder allein ikonografischer Präsentation hinausgeht. Das Fernsehen kann nämlich Pictura und Subscriptio nicht nur auf verschiedene Kodes verteilen, sondern das sowohl nacheinander als auch simultan. Das gilt ähnlich auch für das Verhältnis von Text und Bild bei Internetseiten, die ebenfalls sehr häufig im Verhältnis von Pictura und 30 | Vgl. dazu Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt a.M. 2001, S. 34. 31 | Vgl. dazu Parr, Börse im Ersten (Anm. 28).
M EDIALITÄT UND I NTERDISKURSIVITÄT
Subscriptio zueinander stehen. Gegenüber dem Fernsehen eröffnet die Hypertextstruktur dabei die zusätzliche Möglichkeit, die Subscriptio ›hinter‹ die auf erster Ebene realisierte Pictura zu legen (und umgekehrt), sodass man durch Anklicken zwischen den beiden Seiten des Symbols wechseln kann. Interdiskursivität spielt weiter auch für die Frage nach Intertextualität und Intermedialität eine wichtige Rolle. Denn fragt man genauer nach, worin das ›inter‹ wirklich materialiter besteht, dann wird man sehr schnell sehen, dass Intertextualität bzw. Intermedialität als das, was materiell dann wirklich gemeinsam ist, Interdiskursivität immer schon voraussetzt.32 Das gilt auch für rein literarische Formen von Intertextualität. »Avancierte Intermedialitätskonzepte«, so Uwe Wirth, »fassen die mediale Transformation« als eine immer hybride bleibende Form der Verschmelzung auf, bei der die Differenz zwischen den beteiligten Medien ein Stück weit erhalten bleibt.33 Das trifft aber auch für Interdiskursivität zu: Sie lässt sich trotz aller Brückenschläge und Kopplungen immer noch auf die in sie eingehenden Spezialdiskurse zurückführen (das haben etwa die Beispiele aus der Financial Times Deutschland klar gemacht), stellt aber als ein auf Nicht-Spezialität spezialisierter Diskurs zugleich etwas Eigenes dar. Eine spezifische Form von ›Medium‹ bilden Kollektivsymbole und andere Interdiskurs-Elemente schließlich auch insofern, als sie einen nicht zu unterschätzenden Faktor für das kollektive Gedächtnis von Kulturen darstellen. Die Teilnehmer des merkelschen ›Fußball‹-Parteitags werden sich nach einiger Zeit kaum noch an die speziellen Fachinformationen erinnern, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber an die fußballerische SchlussSymbolik, und sie werden sie womöglich aufgreifen und in abgewandelter Form selbst wieder anwenden. Auf diese Weise entsteht ein kultureller Reproduktionskreislauf, der einerseits Prognosen hinsichtlich des Rückgriffs auf bestimmte Symboliken in dieser oder jener Situation, bei diesem oder jenem Ereignis erlaubt, der umgekehrt aber auch die Möglichkeit zur Intervention in Diskurse eröffnet, zum strategischen Einsatz von Kollektivsymbolen und zum Entwurf komplexer alternativer, kritischer oder gar gegen-hegemonialer Interdiskurse.
32 | Vgl. dazu Jürgen Link: Neue lange Märsche durch den Interdiskurs. Zu Neuerscheinungen von Jacques Ranciere, Renate Lachmann, Manfred Schneider, Rolf Kloepfer, Hanne Landbeck und Siegfried Jäger. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 28 (April 1993), S. 80-86, bes. 82f. (»Intertextualität und Interdiskurs [Renate Lachmann]«). 33 | Uwe Wirth: Art. »Intermedialität«. In: Roesler/Stiegler, Grundbegriffe (Anm. 16), S. 114-121, hier: S. 115.
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Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der luxemburgischen Sprachengemeinschaft Peter Gilles
1. E INLEITUNG Kennzeichen multilingualer Sprachgemeinschaften ist die domänenspezifische Verwendung verschiedener Sprachen, deren Verhältnis zueinander mittels der Konzepte ›Bilingualismus‹ und ›Diglossie‹ beschrieben werden können. Im Fall des dreisprachigen Luxemburgs kann gar von einer Triglossie gesprochen werden, in der die drei Amtssprachen Luxemburgisch (gleichzeitig auch die Nationalsprache), Französisch und Deutsch in einer charakteristischen Art und Weise die kommunikativen Domänen bedienen. Schon zu Beginn der Diglossie-Forschung1 wurde deutlich, dass zur Erfassung solcher di- oder polyglossischen Verhältnisse der Bezug auf die Medialität der jeweiligen Sprache, verstanden als die entweder mündliche oder schriftliche Realisierungsweise, erforderlich ist. Diese ›mediale Diglossie‹ findet sich z.B. in der Westschweiz, wo sich Schweizerdeutsch als mündliche Alltagssprache und Standarddeutsch als Schriftsprache gegenüberstehen, und auch in Luxemburg, obwohl sich die mediale Diglossie hier deutlich schwerer erfassen lässt.2 In starker Vereinfachung lässt sich sagen, dass Luxemburgisch (unter Luxemburgophonen) als ausschließliche Sprache der Mündlichkeit gilt, wohingegen Deutsch und Französisch als Schriftsprachen gelten. Das ausschlaggebende Steuerungskriterium für die Sprachwahl ist damit das Medium (›gesprochen‹ versus ›geschrieben‹). Dass es sich hierbei um eine – aus heuristischen Gründen gerechtfertigte – Vereinfachung handelt, wird deutlich, wenn die Bevölkerungszusammensetzung Luxemburgs berücksichtigt wird: Mit einem Ausländeranteil von 41,6 % (2007) stellen die Luxemburger eine ›kleine Mehrheit‹ und die Kommunikation im Alltag 1 | Etwa Charles A. Ferguson: Diglossia. – In: Word 15 (1959), S. 325-340. 2 | Fernand Fehlen: BaleineBis: une enquête sur un marché linguistique multilingue en profonde mutation = Luxemburgs Sprachenmarkt im Wandel (Luxembourg: SESOPI Centre intercommaunitaire, 2009).
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und im Berufsleben gestaltet sich deutlich komplexer. Dabei spielt das Französische als Lingua franca eine prominente Rolle.3 Es ist ein Gemeinplatz in der Luxemburgistik, dass das Luxemburgische in der trilingualen Situation nach und nach einen gleichberechtigten Platz neben dem Französischen und Deutschen errungen hat, historisch betrachtet seit dem 19. Jahrhundert in immer mehr Kommunikationssituationen verwendet wird und zu dem wurde, was Heinz Kloss (1978) eine ›Ausbausprache‹ genannt hat. Der Ausbau fand und findet in dreierlei Hinsicht statt: –
– –
Sprachstrukturell: Reduktion der regionalen Variation einhergehend mit der Herausbildung einer überregionalen Varietät,4 Kodifizierung des Wortschatzes und der Orthografie. Sprachfunktionell: Übernahme von Domänen, die ehedem dem Französischen und Deutschen vorbehalten waren. Sprachsoziologisch: erfolgreiche Abgrenzung vom Standarddeutschen, aber auch Ausgrenzung aus dem Gefüge der moselfränkischen Dialekte.
Diese forschungsgeschichtlichen Entwicklungen haben dazu geführt, dass das Luxemburgische einerseits zwar als Forschungsobjekt sui generis 3 | Für ausführliche Vorstellungen der Luxemburger Mehrsprachigkeit sei verwiesen auf die Arbeiten von Nico Weber: Sprachen und ihre Funktionen in Luxemburg. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 66 (1994), S. 129-169. Ders.: The Universe under the Microscope: the Complex Linguistic Situation of Luxembourg. In: Cees de Bot u.a. (Hg.): Institutional Status and Use of Languages in Europe. Sankt Augustin 2001, S. 179-194. Michael Clyne: Ende oder Umfunktionalisierung der Di- bzw. Triglossie? Luxemburg und die deutsche Schweiz als Beispiele. In: Joseph Kohnen/Hans-Joachim Solms/KlausPeter Wegera (Hg.): Brücken schlagen … »Weit draußen auf eigenen Füßen«. Festschrift für Fernand Hoffmann. Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 261-272. Fernand Fehlen u.a.: Le Sondage »Baleine«. Une étude sociologique sur les trajectoires migratoires, les langues et la vie associative au Luxembourg, Recherche Etude Documentation, Hors Série 1. Luxembourg 1998. Ders.: A Multilingual Society at the Romance-Germanic Language Border. In: Jeanine Treffers-Daller/Roland Willemyns (Hg.): Language Contact at the Romance-Germanic Language Border. Clevedon u.a. 2002, S. 80-97. Ders.: Sprachpolitik in einem vielsprachigen Land. In: Wolfgang H. Lorig/Mario Hirsch (Hg.): Das politische System Luxemburgs. Wiesbaden 2007, S. 45-61. Ders., BaleineBis (Anm. 2). François Schanen/Jérôme Lulling: Lëtzebuergesch: La langue nationale du Grande-Duché de Luxembourg. In: Lengas. Centre d’Études Occitanes Montpellier 29/60 (2006), S. 1348. 4 | Peter Gilles: Dialektausgleich im Lëtzebuergeschen. Zur phonetisch-phonologischen Fokussierung einer Nationalsprache. Tübingen 1999 [= Phonai 44]. Ders.: Dialektausgleich im Luxemburgischen. In: Claudine Moulin/Damaris Nübling (Hg.): Perspektiven einer linguistischen Luxemburgistik. Studien zu Diachronie und Synchronie. Heidelberg 2006 [= Germanistische Bibliothek 25], S. 1-27.
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etabliert wurde, andererseits aber allzu häufig auch als ein homogener, variationsfreier, monolithischer Block angesehen wurde. Man spricht von Luxemburgisch im Parlament, im Schulunterricht, als Alltagssprache, als Comicsprache usw. mit der impliziten Annahme, dass es sich immer um die gleiche Varietät handelt, die mit den jeweils gleichen linguistischen und kommunikativ-funktionalen Merkmalen ausgestattet ist. Noch nicht in der Luxemburgistik etabliert ist also eine Text- und Diskurslinguistik, in der das linguistische und funktionale Variationsspektrum des Luxemburgischen untersucht und mit den entsprechenden Spektren anderer Sprachen kontrastiert wird. Ein vielversprechender theoretischer und methodischer Rahmen sollte die Aspekte der medialen Ausgestaltung der Kommunikation in der Mehrsprachigkeit in den Vordergrund stellen, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit manifestiert. Spätestens seit dem Aufkommen der sogenannten ›Neuen Medien‹ (E-Mail, SMS, Chat, internetbasierte Kommunikationsformen usw.) lässt sich die Grenzziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht mehr ohne Weiteres ziehen: So sind eine Privat-E-Mail oder ein Gesetzestext zweifelsohne als geschriebene Texte anzusehen. Aber handelt es sich in beiden Fällen um die gleiche Art von Schriftlichkeit? Ohne Schwierigkeiten lassen sich eine ganze Reihe von ›konzeptionellen‹ Unterschieden zwischen diesen beiden Textsorten herausarbeiten, die weitere Differenzierungen der Dimension ›geschriebene Sprache‹ notwendig machen. Gleiches gilt für die vielfältigen Formen im Bereich der ›gesprochenen Sprache‹. Durch das in der Romanistik von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entwickelte und in der Folgezeit weiter ausgebaute Modell der Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist es möglich, die unterschiedlichen Manifestationen dieser beiden Dimensionen theoretisch adäquat zu erfassen.5 Für die Sprachgeschichte einer historischen Einzelsprache wurde dies von Mathilde Hennig6 in folgender These zusammengefasst: »Jede Sprachgemeinschaft befindet sich zu jedem Zeitpunkt in einem kulturell
5 | Peter Koch/Wolf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. Dies.: Schriftlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther/Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Berlin 1994, S. 587-604. Dies.: Gesprochene Sprache und geschriebene Sprache/ Langage parlé et langage écrit. In: Günther Holtus/Michael Metzeltin/Christian Schmitt (Hg.): Lexikon der Romanistischen Linguistik. Bd. I/2. Tübingen 2001, S. 584-627. 6 | Mathilde Hennig: Thesen zur Erforschung historischer Nähesprachlichkeit. In: Maria Balaskó/Petra Szatmári (Hg.): Sprach- und Literaturwissenschaftliche Brückenschläge. Vorträge der 13. Jahrestagung der GESUS-Tagung in Szombathely, 12.-14. Mai 2004. München 2007 [= Edition Lingusitik 59], S. 13-26 (These 1).
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bedingten einzelsprachlich-historischen Beziehungsgefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.«7 Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die Überlegung, dass eine differenzierte Analyse von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht nur die sprachliche Variation innerhalb einer historischen Einzelsprache betrifft, sondern prinzipiell auf die gesamte Kommunikationsökologie einer Sprachgemeinschaft angewendet werden muss, das heißt es muss gegebenenfalls der Mehrsprachigkeit Rechnung getragen werden. Im Fall der Mehrsprachigkeitskonstellation Luxemburgs muss damit eine kombinierte Betrachtung der Dimensionen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die drei Amtssprachen des Landes erfolgen.
2. M EDIALITÄT UND K ONZEP TION G RUNDSTRUK TUREN DES M ODELLS DER M ÜNDLICHKEIT UND S CHRIF TLICHKEIT Das folgende Modell stellt einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen im Idealfall alle mündlichen und schriftlichen Sprachverwendungsformen Luxemburgs eingeordnet werden können. Für die heutige Sprachensituation erlaubt dieses Modell auch eine genauere Beschreibung der Diglossie-Situation. Bevor auf die Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Kommunikation näher eingegangen werden kann, werden zunächst einige Begriffsklärungen vorausgeschickt. Der schillernde, häufig nicht explizierte Begriff ›Medium‹ ist im Folgenden ausschließlich für die materiellen Hilfsmittel reserviert, die die Kommunikation möglich machen (z.B. Faxgerät, Telefon, Computer, Papier); streng genommen sollte man hier von ›Kommunikationsmedien‹ sprechen.8 Durch den Einsatz der Kommunikationsmedien kommt es zur Herausbildung und Habitualisierung von ›Kommunikationsformen‹ (z.B. Telefongespräch, E-Mail, Brief). Die Kommunikationsformen selbst stellen jedoch nur spezifische Nutzungen eines Mediums dar, sie werden über Text-externe Kriterien (das heißt situative Aspekte der jeweiligen Kommunikationsform) definiert.9 Die tatsächliche kommunikative Struktur z.B. eines Telefongesprächs oder einer E-Mail wird dadurch noch nicht erfasst. Folglich ist hier weiter zu 7 | Für eine grundsätzliche Diskussion der Dimensionen Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit bzw. Oralität vs. Skribalität vgl. Utz Maas: Übergang von Oralität in Literalität in soziolinguistischer Perspektive. In: Ulrich Ammon u.a. (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch. Berlin 2005. 8 | Vgl. Werner Holly: Zur Rolle von Sprache in Medien. Semiotische und kommunikationsstrukturelle Grundlagen. In: Muttersprache 1 (1997), S. 64-75. 9 | Christa Dürscheid: Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 38 (2003), S. 37-56, hier: S. 4.
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differenzieren zwischen verschiedenen ›Textsorten‹ bzw. ›Diskursen‹. Textsorten weisen eine bestimmte thematische Fokussierung auf, sie sind ›monologisch‹ und sind ohne Rekurs auf die Umstände ihrer Entstehung vom Rezipienten verstehbar (›situationsgebunden‹). Diskurse hingegen sind geprägt durch ihre Bindung an die aktuelle Sprechsituation (›situationsentbunden‹) und grundsätzlich ›dialogisch‹. Ein Beispiel für eine Textsorte ist der Gesetzestext, der unabhängig von seinen Entstehungsbedingungen verstanden und interpretiert wird. Hingegen sind viele Arten des Chats als Diskurse zu bezeichnen, da durch die dialogische Struktur offensichtlich wird, dass sie ohne Bezug auf die raumzeitliche Entstehungssituation nicht verständlich sind. An diesem Punkt der Diskussion kommt nun das Begriffspaar ›Mündlichkeit/Schriftlichkeit‹ ins Spiel: In welcher Beziehung stehen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu den verschiedenen Textsorten und Diskursen? In diesem Kontext hat sich das in den 1980er Jahren von Koch und Oesterreicher entwickelte Modell bis heute als sehr einflussreich erwiesen und wurde in den letzten Jahren u.a von Christa Dürscheid und Vilmos Ágel/Mathilde Hennig10 kritisiert und weiterentwickelt. Grundlegend für das Modell ist die Beobachtung, dass es zwei verschiedene Lesarten von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt. Darunter kann nämlich erstens verstanden werden die sogenannte Medialität sprachlicher Äußerungen, – die nicht mit ›Medium‹ im oben eingeführten Sinne zu verwechseln ist. Damit ist die (dichotomische) Unterscheidung zwischen mündlicher (phonisch) und schriftlicher (grafischer) Realisierung sprachlicher Äußerungen gemeint. Die Merkmale ›mündlich‹ bzw. ›schriftlich‹ können sich aber zweitens auch »auf den Duktus, auf die in der Äußerung gewählte Ausdrucksweise«11 beziehen. Diese Dimension wird entsprechend ›Konzeption‹ genannt und damit wird der Umstand erfasst, dass wir Texten – unabhängig davon, ob sie mündlich oder schriftlich realisiert werden – einen eher mündlichen, informelleren oder einen stärker schriftlichen, formelleren Charakter verleihen können. Demnach finden sich konzeptionell-mündliche Äußerungen bevorzugt dann, wenn externe Faktoren wie Dialogizität, Spontaneität und freie Themenentfaltung vorliegen (Beispiel: Frotzelei unter Freunden). Umgekehrt sind konzeptionellschriftliche Äußerungen eher dann zu finden, wenn die Kommunikationssituation durch Monologizität, Reflektiertheit oder Themenbindung gekennzeichnet ist (Beispiel: Predigt). Die Dimension der Konzeption ist im Gegensatz zur Medialität als ein Kontinuum aufzufassen. Auf diesem Konzeptionskontinuum lassen sich dann Äußerungsformen relativ zueinander einordnen.
10 | Vilmos Ágel/Mathilde Hennig: Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Dies. (Hg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen 2007 [= Germanistische Linguistik 269], S. 179-214. 11 | Dürscheid, Medienkommunikation (Anm. 9), S. 2.
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Im ursprünglichen Konzept von Koch/Oesterreicher wurden die Endpole mit den Begriffen ›Distanzsprache‹ (= konzeptionell schriftlich) und ›Nähesprache‹ (= konzeptionell mündlich) belegt, um die situative Bedingtheit der Dimension der Konzeption anzudeuten: Raumzeitliche und soziale Nähe bewirken nach ihrer Auffassung eine Sprechweise, die stärker durch Merkmale der konzeptionellen Mündlichkeit geprägt ist. In ihrer Kritik weist Dürscheid darauf hin, dass diese Begrifflichkeit insbesondere zur Analyse der Kommunikation in den neuen Medien ungeeignet ist, da sich die einzelnen konstitutiven Merkmale für Nähe und Distanz nicht immer voneinander trennen lassen.12 Nähesprachliche und distanzsprachliche Merkmale können nämlich durchaus in Kombination auftreten. Sie plädiert daher dafür, dieses Begriffspaar aufzugeben und stattdessen von einem (konzeptionellen) ›Mündlichkeitspol‹ bzw. ›Schriftlichkeitspol‹ zu sprechen. Diese Sichtweise wird auch im Folgenden übernommen. In der Kombination der Dimensionen Konzeption und Medialität ergibt sich dann die folgende Kreuzklassifikation: – – – –
medial mündlich und konzeptionell mündlich (z.B. informelle Alltagsgespräche), medial schriftlich und konzeptionell schriftlich (z.B. Fachtexte, Gesetzestexte), medial mündlich und konzeptionell schriftlich (z.B. Predigt) und medial schriftlich und konzeptionell mündlich (z.B. Privat-EMails).
In jüngster Zeit ist insbesondere durch das Aufkommen der Neuen Medien eine weitere Dimension notwendig geworden, die sich auf das bezieht, was Konrad Ehlich den Grad der »Zerdehnung der Sprechsituation« genannt hat.13 Wenn die Kommunikationspartner einen gemeinsamen Kommunikationsraum etablieren, wie bei einem Face-to-Face-Gespräch oder einem Telefonat, dann findet die Kommunikation synchron statt, also ohne Zerdehnung der Sprechsituation. Wird dagegen kein gemeinsamer Kommunikationsraum hergestellt, wie dies z.B. bei E-Mail, SMS oder Gesetzestexten der Fall ist, so liegt asynchrone Kommunikation vor. Als eine Neuentwicklung ist schließlich noch die quasi-synchrone Kommunikation zu nennen, die sich zurzeit nur bei der Chat-Kommunikation zeigt. Hier existiert zwar auch ein gemeinsamer, technisch vermittelter Kommunikationsraum, allerdings werden die einzelnen Nachrichten der Chatter immer mit einer Zeitverzögerung übertragen, wodurch neue,
12 | Ebd., S. 14f. 13 | Konrad Ehlich: Text, Mündlichkeit, Schriftlichkeit. In: Hartmut Günther (Hg.): Geschriebene Sprache – Funktion und Gebrauch, Struktur und Geschichte. München 1981, S. 23-51.
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charakteristische kommunikative Muster entstanden sind. Die Grundstruktur des Modells ist in Abbildung 1 dargestellt. Abb. 1: Grundstrukturen des Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsmodells
Für die Sprachgemeinschaft Luxemburg müssen die beschriebenen Grundstrukturen des Modells noch um den Faktor ›Mehrsprachigkeit‹ erweitert werden, das heißt für jede Kommunikationsform, die in diesem mehrdimensionalen Systems lokalisiert werden soll, muss zusätzlich angegeben werden, ob sie in Luxemburgisch, Französisch oder Deutsch realisiert wird. Das Modell setzt sich damit aus folgenden Beschreibungsdimensionen zusammen: 1. 2. 3. 4.
Medialität (mediale Realisierungsweise): medial schriftlich versus medial mündlich (Dichotomie), Konzeption: konzeptionell schriftlich bis konzeptionell mündlich (Kontinuum), Synchronizität: synchron – quasi-synchron – asynchron, Sprache: Luxemburgisch – Deutsch – Französisch.14
Mit diesem mehrdimensionalen Modell ist es nun grundsätzlich möglich, alle Kommunikationsformen der luxemburgischen Sprachgemeinschaft relativ zueinander anzuordnen und zu klassifizieren. Zuverlässig können diese Zuordnungen nur dann vorgenommen werden, wenn eine ausführliche Analyse der text-/diskursinternen und -externen Merkmale durchgeführt wird. Detaillierte Vorschläge dazu wurden von Ágel/Hennig vorgelegt.15 Diese komplexe Aufgabe ist für die luxemburgische Sprachgemeinschaft noch nicht geleistet worden und im Folgenden soll daher eine erste, vorläufige (teilweise auch impressionistische) Einordnung vorgenommen werden, die sich primär auf die text-/diskursexternen Merkmale bezieht. Die Beschreibung wird ergänzt durch eine exemplarische Analyse einiger ausgewählter text-/diskursinterner Merkmale. 14 | Streng genommen müssten hier auch noch Portugiesisch und Italienisch aufgenommen werden, die in Luxemburg als die Sprachen der größten Migrantengruppen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen (vgl. Fehlen, Sprachpolitik in einem vielsprachigen Land [Anm. 3]). 15 | Vgl. Anm. 10.
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3. Ü BERTR AGUNG AUF DIE LUXEMBURGISCHE S PR ACHGEMEINSCHAF T Im Folgenden wird nun das oben beschriebene Modell mit den Kommunikationskonstellationen der luxemburgischen Sprachgemeinschaft gefüllt. Aus Raumgründen sind in Abbildung 2 (s.u.) die konzeptionell mündlichen Textsorten/Diskursarten eingetragen, während sich in Abbildung 3 (S. 59) die konzeptionell schriftlichen Textsorten/Diskursarten befinden. Die beiden Tabellen zusammen spannen das konzeptionelle Spektrum für die mündliche und schriftliche Medialität auf.
3.1. Konzeptionelle Mündlichkeit Abb. 2: Teilmodell für das Kontinuum der konzeptionellen Mündlichkeit
Am äußersten Pol der konzeptionellen Mündlichkeit befindet sich die Diskursart ›Alltagsgespräch‹, das unter Luxemburgophonen natürlich immer und ausschließlich auf Luxemburgisch geführt wird (angezeigt durch die Sigle ›L‹). Es ist dies gleichzeitig bis heute auch die wichtigste Domäne für das Luxemburgische. Diese Diskursart dürfte für die bisherige Forschung auch immer der implizite Bezugspunkt gewesen sein, wenn von ›Luxemburgisch‹ die Rede ist. Es ist jedoch auch möglich, formellere Register im Luxemburgischen zu realisieren. Wenn z.B. ein Bewerbungsgespräch auf Luxemburgisch oder mit einem Politiker ein Radiointerview geführt wird, kann davon ausgegangen werden, dass sich hier bestimmte Merkmale in Richtung auf die konzeptionelle Schriftlichkeit verschieben. In Abbildung 2 sind diese formelleren Diskursarten folglich auch weiter rechts lokali-
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siert. Mit welchen sprachlichen, also diskursarten-internen Mitteln diese Formalität jedoch erreicht wird, ist ein Forschungsdesiderat. Für die medial mündlichen Textsorten, also ›Monologe‹, lassen sich einige Beispiele finden, die ebenfalls überwiegend auf Luxemburgisch realisiert werden. Relativ nahe am Mündlichkeitspol befinden sich der Ansagetext auf einem privaten Anrufbeantworter und Moderatorenansagen im Radio oder im Fernsehen. Aufgrund ihrer Geplantheit sind diese beiden Textsorten weniger konzeptionell mündlich als ein Alltagsgespräch und daher weiter rechts angeordnet. Eine noch stärkere Planung weisen (schriftlich vorbereitete) Parlamentsreden und offizielle, öffentliche Ansprachen auf. Gemeinsam ist allen vorgestellten Textsorten und Diskursarten, dass sie praktisch immer auf Luxemburgisch realisiert werden (können). Im medial-schriftlichen Bereich ist nicht nur die klassische Schriftlichkeit verortet, sondern auch die Vielzahl der durch die Neuen Medien entstandenen schriftbasierten Textsorten und Diskursarten. Der auffälligste und innovativste Kommunikationstyp dürfte hier der (private) Chat sein, der einem ›getippten Gespräch‹16 ähnelt und daher nahe am konzeptionellen Mündlichkeitspol angesiedelt ist. Die präferierte Sprache für diesen Diskurstyp ist das Luxemburgische.17 Wie auch in anderen Sprachgemeinschaften erfreut sich auch in Luxemburg das private Chatten besonders bei Jugendlichen großer Beliebtheit und stellt damit auch eine wichtige Sprachgebrauchsdomäne dar.18 Einige Beispiele sollen den konzeptionell-mündlichen Charakter des Chats belegen.19 Das wichtigste Merkmal des Chat ist seine Dialogizität, 16 | Zu allgemeinen Kennzeichen der Kommunikationsform »Chat«: Elke Hentschel: Communication on IRC. Linguistik online 1 (1998), online unter http://www.linguistikonline.de/irc.htm [31.03.2011]. Angelika Storrer: Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation. In: A. Lehr u.a. (Hg.): Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven der Linguistik. Berlin u.a. 2001, S. 439-466. 17 | Der größte luxemburgische Chat-Provider, »Luxusbuerg«, schreibt in seinen Regeln sogar explizit vor, dass nur auf Luxemburgisch ›gechattet‹ werden darf. »Wei den Numm et schon seet, ass Luxusbuerg een letzebuergeschen Chat. Aus deem Grond wellen mier am #flirt dass am Channel och just letzebuergesch geschwriwen get vun 6h-24h. Duerno kennt der dann och englesch, franseisch an deitsch schreiwen, mee eeben an Moossen. Waat mer op allenfall wellen vermeiden, ass dass am Channel 4 verschidden Sprochen geschwaat gin, oder dass eng aaner Sprooch wei letzebuergesch d‘Iwerhand hellt. Daat get einfach zevill Chaos an Gedeesems. Fier dei wou franseisch wellen schwetzen, get et den #francophone, oder den Privat.« (zit. n. http://www.luxusbuerg.lu/index.php ?tab=content&channel=flirt&ContentID=67 [30.09.010]). 18 | Vgl. die hohe Aktivität in den Chat-Kanälen von »Luxusbuerg« (www.luxusbuerg. lu). 19 | Alle luxemburgischen Beispiele wurden in der Originalschreibung belassen. Rechtschreibfehler wurden nicht korrigiert.
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die im folgenden Beispiel (1) durch das Aufeinanderbezogensein der einzelnen Beiträge zum Ausdruck kommt. So finden sich eindeutig rückbezügliche Einheiten (z.B. Zeilen 2, 3 u. 6), die teilweise Reaktionen auf Fragen sind (z.B. Z. 5 »virwaat baerwolleff«, Z. 11 »fierwat brarwolleff«). Im Chat wird so die zum ›Text‹ geronnene zeitliche Emergenz sichtbar. (1) Ausschnitt aus einem luxemburgischen Chat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
[16:02] nee sreca mee ech gin lo [16:02] :))) [16:02] ahhhhhh [16:02] :) [16:02] virwaat baerwolleff [16:02] huns es erem genuch [16:02] ok marzipan:) [16:02] egaaal [16:02] naicht [16:02] oh nee baerwolleff [16:02] fierwat brarwolleff
Die Kürze der Beiträge verweist auf den stark elliptischen Charakter dieser Interaktion. Viele Diskursmerkmale sind durch die Kommunikationssituation gegeben und müssen nicht extra verbalisiert werden. So nimmt z.B. die Frage in Zeile 5 elliptisch Bezug auf die Aussage in Zeile 1. An solchen dialogischen Merkmalen ist damit trotz der schriftlichen Verfasstheit die mündliche Konzeption des Chats unverkennbar. Zur Wiedergabe von parasprachlichen (Mimik, Gestik u.a.) und prosodischen Merkmalen (Intonation, Lautstärke u.a.), die in direkter Interaktion eine besondere Wichtigkeit besitzen, muss im Chat ebenfalls auf schriftsprachliche Zeichen zurückgegriffen werden. Dazu haben sich bestimmte, größtenteils international verbreitete20 Verfahren herausgebildet. So lassen sich natürlich auch im Luxemburgischen die sogenannten Smilies beobachten (2a.). Prosodische Merkmale wie Lautstärkedynamiken, Dehnungen u.ä. lassen sich ebenfalls durch Buchstabenwiederholungen ausdrücken (vgl. den emotionalen Ausdruck » herziiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii« in 2b. oder das Gähnen in 2c.). Interessanterweise lassen sich zur Umschreibung von emotionalen Zuständen auch deutsche Einsprengsel beobachten (vgl. das möglicherweise aus deutscher Comicsprache entstammende »heul … schnieff« in 2d.). Schließlich besteht auch die Möglichkeit der metasprachlichen Kommentare, die durch eine spezifische grafo-stilistische Kennzeichnung von der eigentlichen Chat-Interaktion abgesetzt ist; in 2d. geschieht dies durch Großschreibung des qualifizierenden Adjek20 | Sprachliche Verfahren mit internationaler Reichweite sind ein charakteristisches Merkmal von (europäischen) Jugendsprachen (vgl. Jannis Androutsopoulos/Arno Scholz: Jugendsprache – langue des jeunes – youth language. Linguistische und soziolinguistische Perspektiven. Frankfurt a.M 1998).
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